Das Humane lernen: Glaube und Erziehung bei Sören Kierkegaard 9783666551475, 3525551479, 9783525551479

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Das Humane lernen: Glaube und Erziehung bei Sören Kierkegaard
 9783666551475, 3525551479, 9783525551479

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V&R

MICHAEL HEYMEL

Das Humane lernen Glaube und Erziehung bei Sören Kierkegaard

„Was auch ein Geschlecht vom anderen lernen mag, das eigentlich Humane lernt kein Geschlecht von einem vorhergehenden." (FuZ 323 - S.V. III, 166)

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Band 40

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Heymel, Michael: Das Humane lernen : Glaube und Erziehung bei Sören Kierkegaard / Michael Heymel. Göttingen : Vandenhoeck u. Ruprecht, 1988 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte ; Bd. 40) ISBN 3-525-55147-9 NE: GT

© 1988 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen.

Inhalt Vorwort 1. Glaube und Erziehung - Versuch einer theologischen Verhältnisbestimmung mit ständiger Rücksicht auf Kierkegaard . . . . 2. Die religiöse Erziehung Sören Kierkegaards und ihre Bedeutung für sein schriftstellerisches Werk 3. Das Verhältnis zum Vater als religiösem Erzieher 4. Religiöse Erziehung im Spannungsverhältnis zwischen humaner und christlicher Existenz 5. Die conditio humana religiöser Erziehung: Sich-selbst-in-Existenz-verstehen . 6. Religiöse Erziehung als Existenzmitteilung: christlich verstanden existiert der religiöse Erzieher in dem, was er. mitteilt . . . . 7. Wird der Lernende nur ,auf das Religiöse aufmerksam' oder auch darin erbaut? 8. Die Wiederholung humaner Existenzmöglichkeiten als Aufgabe religiöser Erziehung (Sich selbst als Sünder verstehen)

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8.1 Im Glauben lernt ein Mensch, Angst zu haben 8.2 Im Glauben lernt ein Mensch, schuldig zu werden und seine Schuld zu bereuen

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8.3 Im Glauben lernt ein Mensch, an sich selbst zu verzweifeln

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9. Der religiöse Erzieher nimmt das Kind als Kind ernst und hält an seinem Vater gegen den Vater fest (Im Glauben erwachsen werden) 91 10. Die Antizipation der Möglichkeit des Christwerdens - Zum Problem der Kindertaufe 103 11. Religionsunterricht als Sozialtherapie? Zum therapeutisch-sozialisationsbegleitenden Konzept des Religionsunterrichts . . . . 108 12. Zeitgemäßes Christentum in der bürgerlichen Gesellschaft oder der Christ als unzeitgemäßer Einzelner? Hegels und Kierkegaards Sicht des Christentums in der Moderne 117 13. Der .Dichter des Religiösen' als religiöser Erzieher oder: Wie ein Mensch lernt, zu glauben 148 14. Kierkegaard und ,Der junge Mann Luther'(Ε. H. Erikson) . . . 168

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Inhalt

15. Die Gleichzeitigkeit mit Christus und die erzieherische Bedeutung des Erzählens (Im Glauben kommt ein Mensch ins Gespräch mit sich selbst und seinem Unglauben) 16. Die religiöse Rede als Heilmittel für den dämonisch Verschlossenen 17. Glaube als Urvertrauen - Glaube an Jesus Christus? 18. Der Lehrer des Glaubens

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18.1 Im Glauben lernt ein Mensch, sich an seinem Menschsein genügen zulassen

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18.2 Im Glauben lernt ein Mensch, daß Gottes zu bedürfen des Menschen höchste Vollkommenheit sei

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18.3 Im Glauben lernt ein Mensch, um Christi willen zu leiden 18.4 Im Glauben lernt ein Mensch den Ernst, seines eigenen Todes zu gedenken

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18.5 Im Glauben lernt ein Mensch beten

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18.6 Im Glauben lernt ein Mensch, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst

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19. Zusammenfassung und Schluß: Kierkegaard als notwendiger Durchgang und Korrektiv evangelischer Religionspädagogik . .

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Thesen

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Nachwort

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Literaturhinweise und Abkürzungen

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Literaturverzeichnis

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Register

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Vorwort „II faut qu'il emboive leurs humeurs, non qu'il aprenne leurs preceptes. Et qu'il oublie hardiment, s'il veut, d'ou il les tient, mais qu'il se les stäche approprier." (Michel de Montaigne, Essais 1,26)

Die vorliegende Arbeit entstand neben meiner Tätigkeit als Vikar und Pfarrer. Sie wurde im Sommersemester 1984 von der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karl-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen und für den Druck geringfügig verändert. Leben und Werk Sören Kierkegaards (1813-1855) beschäftigen mich seit meiner Schulzeit. Die Begegnung mit der volkskirchlichen Gemeindepraxis und die Auseinandersetzung mit religionspädagogischen und funktional-kirchentheoretischen Konzeptionen, die ich in der Pfarrerausbildung kennenlernte, veranlaßten mich, Kierkegaards Schriften unter dem Gesichtspunkt religiöser Erziehung zu lesen. Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß ich erst in der Gemeinde zu einer sowohl dogmatisch wie praktisch-theologisch weiterführenden Fragestellung gekommen bin, während die Universität mich nur zu akademisch relevanten Fragestellungen gelangen ließ. Erst in der Gemeinde habe ich - entgegen den im akademischen Theologiestudium wie in der Pfarrerausbildung vorherrschenden Trends - Theologie als kirchliche Wissenschaft verstehen können und dabei gelernt, wie wichtig es ist, humanwissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse nicht nur anzuwenden, sondern auch in ihrer Anwendung theologisch zu verantworten. Wo freilich die Stabilität der Institution Volkskirche zum erkenntnisleitenden Interesse wird, verkommt Theologie zur Ideologie volkskirchlicher Funktionäre. Humanwissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse werden dann einfach eingesetzt', wobei die theologische Verantwortung dieses Einsatzes sich erübrigt. Auf diesen kümmerlichen, positivistisch reduzierten Begriff von Praxis habe ich mich nicht einlassen können, nicht nur, weil die spannungsvolle Wirklichkeit der Kirche zwischen Glaube und Erfahrung sich nicht ungebrochen in empirisch-funktionale Theorien integrieren läßt, sondern vor allem, weil es mir darauf ankommt, die Frage nach dem Humanen als genuin theologische Frage (Ps 8,5) zu stellen. Ich hoffe, durch meine Arbeit etwas zum .Lernen des Humanen' beizutragen und in ihr zeigen zu können, daß dieses Lernen sich fundamental vom empirisch-analytischen Erkennen des Humanen unterscheidet, welches die Grundlage humanwissenschaftlicher Theorien bildet.

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Vorwort

Die Frage nach dem Humanen, biblisch verstanden, hat ihren ,Sitz im Leben' nicht in wissenschaftlicher Reflexion, sondern im Gebet, im Gespräch des Menschen mit Gott. Der Psalmbeter fragt Gott: Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst? (Ps 8,5). Seine Frage erwächst aus religiösem Verhalten und drückt selber das Religiöse aus, daß Gott des Menschen gedenkt, indem der Fragende sich zu diesem Gott verhält. Vor ihm wird der Mensch sich selbst zur Frage bzw. das Humane wird ihm an ihm selbst fraglich. Er erfährt: Was der Mensch ist, das ist er durch Gott (V. 6 + 7). Diese Antwort findet der Beter, indem er Gottes gedenkt als des Schöpfers des Menschen. In der Antwort, daß der Mensch durch Gott Mensch ist, versteht der Beter sich selbst, so wie jeder andere, der den Psalm betet, darin sich selbst verstehen kann. Ich habe, ausgehend von der theologischen Einsicht, daß das Humane nur dort gelernt werden kann, wo Gott es dem Menschen zu lernen gibt, nämlich in seiner Offenbarung, versucht, das Lernen des Humanen an einem homo religiosus darzustellen, der sein Leben lang alle Anstrengung darauf konzentrierte, ein Christ zu werden, und dies von demjenigen Menschen lernen wollte, in dem Gott selbst als Lehrer erscheint. Meine Fragestellung ging hervor aus der Beschäftigung mit der Theorie des sozialtherapeutischen RU. Wenn es Aufgabe des RU ist, Jugendliche von den Schäden religiöser Erziehung zu heilen, dann scheint ein Fall extremer Schädigung am besten geeignet, um zu zeigen, was der sozialtherapeutische RU leisten kann. Im Horizont dieser religionspädagogischen Konzeption entdeckte ich Kierkegaard als Fall einer Schädigung durch religiöse Erziehung. Zugleich entdeckte ich die durch jene Konzeption nicht erklärbare Besonderheit, daß der Geschädigte gleichwohl in Dankbarkeit an seinem religiösen Erzieher festhielt und seinen Schaden als religiöser Schriftsteller verarbeitete, indem er seinen Fall allgemein als Existenzproblem aller ausdrückte. Eben dies - so lautet meine Hauptthese - deutet darauf hin, daß der Geschädigte sich selbst religiös, im Glauben an die Vergebung der Sünden verstehen und dadurch seinen Schaden verarbeiten konnte. So entstand der Plan zu einer Untersuchung über Glaube und Erziehung bei Sören Kierkegaard, in der an einem Menschen gezeigt werden sollte, was alle zu lernen haben: das Humane oder die Menschwerdung des Menschen. Das Allgemeine am Besonderen zu erkennen - das ist freilich ein anderes Vorgehen als das der Humanwissenschaften, die die Phänomene unter der hypothetischen, jeweils neu zu überprüfenden Voraussetzung einer ihnen zugrundeliegenden allgemeinen Gesetzmäßigkeit betrachten. Solche erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis muß sich anhand von Beobachtungen zu jedem Zeitpunkt verifizieren oder falsifizieren lassen. Beim Lernen des Humanen geht es jedoch nicht um eine zeitneutrale Verifikation oder Falsifikation anhand von Beobachtungen, sondern darum, sich in der

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Zeit als Existierender zu verstehen, der sein Wesen zur Erscheinung bringen muß. Existieren, sein Wesen zur Erscheinung bringen schließt a priori aus, eine Beobachterrolle einzunehmen, weil Existieren nicht bedeutet, eine Erkenntnis bewahrheiten, sondern ein Selbstverhältnis vollziehen. Ein Existierender kann sich nicht qua Existierender zum Gegenstand seiner Erkenntnis machen. Ich kann mich nicht zu mir selbst verhalten und zugleich objektiv beobachten, weil die Beobachtung mich nur so erfaßt, wie ich anderen erscheine, während das Selbstverhältnis unverwechselbar mich auszeichnet. Erfahrungswissenschaftliche Erkenntnis des Humanen muß, wenn sie verifizierbar oder falsifizierbar sein soll, von der individuellen Bestimmtheit jedes Menschen absehen. Das Lernen des Humanen erfordert aber gerade die Verwirklichung des Allgemeinen im Individuellen; sie erfordert, daß ich ein wesentlicher Mensch werde. Daß das Humane am einzelnen Menschen erscheint, entzieht sich der empirisch-analytischen Erkenntnis, die lediglich Aussagen über das Humane im allgemeinen machen kann. Es ist vielmehr eine Einsicht des Glaubens, die nur narrativ, im Zusammenhang erzählbarer Geschichten sich aufzeigen läßt. Deswegen komme ich im folgenden immer wieder auf die Lebensgeschichte Kierkegaards zurück und versuche, die an ihm gewonnene Erkenntnis erzählend zur Sprache zu bringen. Mein Ziel ist es nicht, eine allgemeingültige Theorie religiöser Erziehung aufzustellen. Ich möchte nur ein Korrektiv zu bestimmten Tendenzen der gegenwärtigen Religionspädagogik geltend machen, das die Aufmerksamkeit auf das Religiöse lenkt. Dieses Vorgehen entspricht nicht nur der Pädagogik Kierkegaards, sondern ist auch in der Sache der Theologie begründet. In Entsprechung zur Menschwerdung Gottes in Jesus Christus wird allererst erkennbar, daß das Humane am einzelnen Menschen erscheint. Es wird erkennbar, daß das Humane nicht das ist, was dem Menschen unmittelbar als human erscheint, sondern das, was Gott als human offenbart. Theologisch wird der Mensch also bestimmt durch die Offenbarung, d. h. durch das Verhältnis Gottes zum Menschen. Vom Menschen vor Gott reden heißt aber: vom Sünder reden, dessen wahres Menschsein aus dem Verborgenen zur Erscheinung kommen soll. Wenn ein Mensch sich vor Gott als Sünder erkennt, dann erkennt er, daß er der Menschlichkeit Gottes widerspricht. Deshalb kommt der dogmatischen Bestimmung ,Sünde' fundamentale Bedeutung zu für Kierkegaards phänomenologische Beschreibung menschlicher Existenz. Wie bei Kierkegaard selbst führt auch der Erkenntnisweg der vorliegenden Arbeit von der Dogmatik zu den Phänomenen. Form und Methode meiner Untersuchung sind aus der Aneignung Kierkegaards erwachsen. Daß ich über sie nicht eigens Rechenschaft ablege, kann man bemängeln. Indessen wird jeder, der Kierkegaard mit Ernst gelesen hat, unschwer erkennen, welche Methode ich gewählt habe und daß

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meine Wahl mit guten Gründen erfolgt ist. Theologie als Wissenschaft muß ihre Methode verantworten können. Ein Theologe soll aber nicht über der Reflexion des Wie die Aneignung des Was vergessen. In der gegenwärtigen Theologie, auch in der wissenschaftlichen Literatur über Kierkegaard, mangelt es nicht an reflektierter Methodik. Es fehlt die Aneignung, in der Theologie und das Christliche überhaupt lebendig werden. Im folgenden wird sich zeigen, daß Kierkegaard im Zuge seiner Aneignung des Christlichen die Sünde als Grundschaden des Menschen entdeckt, dem es wesentlich um sich selbst geht. Seinen Schaden religiös verarbeiten heißt also, christlich verstanden, seine Sünde als Erbschaft übernehmen, sich in seinem Selbstverhältnis als krank und von Grund auf heilungsbedürftig verstehen. Am Ende der Untersuchung wird die evangelische Religionspädagogik nachdrücklich daran erinnert, das Heilsame christlicher Religion, den Glauben an die Vergebung, wahrzunehmen und zu vollziehen. Bei einigen Religionspädagogen kommt Religion nur noch als Sozialisationsfaktor und fragwürdiges Mittel humaner Selbstverwirklichung in den Blick. Die Verwechslung des Menschlichen und des Christlichen verhindert, daß das Humane gelernt wird. Man bleibt bei sich selbst statt an sich selbst zu verzweifeln. In der Selbstvergeßlichkeit jener Religionspädagogen spiegelt sich letztlich die Selbstvergeßlichkeit volkskirchlicher Christen wider, denen gemeinhin die Freiheit fehlt, sich als auf Vergebung angewiesene Sünder zu verstehen. Die mitmenschliche Annahme und Zuwendung werden viel beschworen, jedoch selten wirklich eingelöst. Weil Vergebung kaum geglaubt und praktiziert wird, kommt es zu gegenseitiger Uberforderung. Christsein in der Volkskirche bedeutet deshalb gemeinhin, abhängig sein von den Verhaltenserwartungen der anderen. Wo Christsein solchermaßen zu einer Frage der Gewohnheit und des sozialen Ansehens wird, gerät die Aufgabe, sich das Christliche anzueignen und es in Existenz zu realisieren, allmählich in Vergessenheit. Man wird abhängig von dem, was die anderen für christlich halten. Die religiösen Erzieher bleiben in derselben Abhängigkeit, wenn sie nur die Freiheit eines sich aus allen Lebensverhältnissen herausreflektierenden Subjekts kennengelernt haben, das der Gemeinde wie dem Einzelnen distanziert gegenübersteht. Von Kirche und Gesellschaft nach ihrem Proprium gefragt, ist die subjektivitätstheologisch fundierte Religionspädagogik, sofern sie sich über ihre dogmatischen Vorentscheidungen keine Rechenschaft gibt, dazu gezwungen, sich auf eine der Religionskritik preisgegebene Unmittelbarkeit religiösen Gefühls zurückzuziehen. In dieser Situation, herausgefordert durch die Schäden religiöser Erziehung wie durch die heillosen Heilungsangebote pädagogischerseits, scheint es mir nötig zu sein, sich von Kierkegaard an das nicht anerziehbare Sündenbewußtsein erinnern zu lassen, durch das ein Mensch lernt,

Vorwort

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mit seinem Erziehungsschaden zu leben. Die Beschäftigung mit dem Ausnahmefall Kierkegaard hat mir geholfen, meine Aufgabe des Christwerdens in der so überaus reformbedürftigen Volkskirche wahrzunehmen, und mich aufmerksam gemacht auf die das ganze Leben dauernde und in Anspruch nehmende Aneignung des Christlichen. Ich habe von ihm gelernt, daß für diejenigen, die sich Christen nennen, niemals die Forderung abgegolten ist, ihr Wesen zur Erscheinung zu bringen und ihren Glauben im Tun der Liebe zu bewahrheiten. In diesem Sinn ist Kierkegaard für mich zu einem religiösen Erzieher oder besser: zu einem ,Vater im Glauben' geworden. Durch ihn ist mir aufgegangen, wie sehr Christen - und Theologen zumal - auf solche Vaterfiguren angewiesen sind und daß sie nicht anders das Humane lernen als im Gespräch mit ihren Vätern. Als religiöser Erzieher ist Kierkegaard schon vor längerer Zeit entdeckt worden. Doch es war eine Entdeckung im Stillen, ohne große Wirkungen, wie die spärliche Literatur zum Thema belegt. Als erster im deutschen Sprachraum hat der katholische Forscher Theoderich Kampmann sich in einer kleinen Studie mit .Kierkegaard als religiösem Erzieher' (Paderborn 1949) beschäftigt. Er arbeitet zunächst Kierkegaards geistesgeschichtliche Wirkungen in Deutschland auf (S.7-14), weist dann auf seine vernachlässigte Bedeutung für die Pastoraltheologie hin (S. 14-18) und stellt schließlich Kierkegaard als religiösen Erzieher dar (S. 18-54), der, um das ewige Heil jedes Menschen besorgt, innerhalb der zeitgenössischen Christenheit eine genaue .Unterscheidung des Christlichen' einführt, damit niemand mehr die spezifisch christlichen mit den normal-menschlichen Existenzkategorien verwechselt (S.29). Bei seinem Bemühen, diejenigen, die sich für Christen halten, zu wahren Christen zu erziehen, seien ihm allerdings einige Übertreibungen und Irrtümer unterlaufen, die Kampmann auf Kierkegaards .Reformationstheologie' zurückführt und mit der katholischen Gnadenlehre nicht vereinbaren kann (S.30). Man könne auch nicht behaupten, kritisiert Kampmann, im Christentum komme es nicht auf die Wahrheit der Lehre, sondern nur auf den Ernst der Nachfolge an, denn die Kirche stehe unfehlbar für die Wahrheit der Lehre ein (S.36). Überhaupt sei die Kirche als communio sanctorum für Kierkegaard „mehr ein abstrakt erfaßter Glaubenssatz als eine konkret erfahrene Glaubenswirklichkeit" (S. 51 f.) gewesen. Kierkegaards Angriff auf die dänische Staatskirche wird daher als ,sachlich ungerecht und religiös unerlaubt' beurteilt (S· 52). Sieht man davon ab, daß Kampmann Kierkegaards erzieherische Wirksamkeit ganz undialektisch am Maßstab des katholischen Dogmen- und Kirchenverständnisses mißt (wer mit Kierkegaard im Gespräch ist, wird so nicht verfahren können, denn für die unendliche Reflexion des um seine ewige Seligkeit besorgten Einzelnen bietet die Kirche keinen objektiven Halt [vgl. U N 162ff. - S.V. VII, 24ff.]), so enthält seine Studie doch ei-

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nige gute und treffende Einsichten, die sie zur Einführung in das Thema empfehlen. Das Verdienst, Kierkegaards Beitrag zur religiösen Erziehung erstmals unter einer systematischen Fragestellung erforscht zu haben, gebührt Helmut Schaal, der das ,Aufmerksammachen auf das Religiöse' als pädagogische Kategorie untersucht hat (Heidelberg 1958). Da der Auseinandersetzung mit seiner Arbeit im folgenden ein ganzes Kapitel gewidmet wird, soll hier nicht weiter auf ihn eingegangen werden. Aus dem angelsächsischen Sprachraum stammen zwei neuere Arbeiten zum Thema: die Untersuchung von Ronald J. Manheimer über .Kierkegaard as Educator' (Berkeley-Los Angeles-London 1977) und das Buch von Mark C. Taylor Journeys to Selfhood: Hegel & Kierkegaard' (Berkeley-Los Angeles-London 1980), das einen Abschnitt über .Aesthetic Education' (S. 72-104) enthält. Manheimer versteht Kierkegaard als erzieherischen Autor, der seinen Leser indirekt zu erziehen sucht (S.XII). Erziehen und erbauen bedeuten dasselbe (S.XIII), behauptet Manheimer, obwohl er sich später auf Erziehung im ethischen Bereich beschränkt und das Problem religiöser Erziehung nicht berührt. Er untersucht zunächst Kierkegaards sokratische Haltungen (S. 3-58), dann ,Entweder-Oder' als Erziehungsdrama (S.61-141) und schließlich Erziehung als Mitteilung von Möglichkeit (S. 145-207). Taylor vertritt die interessante These, daß Hegel und Kierkegaard die gleiche grundsätzliche Frage beschäftigt habe, wie die Geistlosigkeit ihrer Zeit geheilt werden könne (S.72). Beide hätten versucht, dieser Not vermittels ästhetischer Erziehung abzuhelfen (S. 72 f.), um dadurch die Individuen von Geistlosigkeit zu Geist zu erziehen (S. 74). Hegel freilich betreibe ästhetische Erziehung in der Sphäre der Theoria, Kierkegaard in der Sphäre der Poiesis (S. 79.90). Meine Arbeit wäre so nicht zustande gekommen, hätten Lehrer und Freunde mich nicht immer wieder angeregt und ermutigt und mich nicht mit Zustimmung und Kritik auf meinem Forschungsweg begleitet. Prof. Dr. Lothar Steiger (Heidelberg) hat als Lehrer und Doktorvater mein Interesse an Kierkegaard nachhaltig gefördert und mir rechtzeitig den Weg in die Gemeinde gezeigt. Prof. Dr. Michael Theunissen (Berlin) hat mir wesentlich zu genauem und verantwortlichem Denken verholfen. Prof. Dr. Helmut Harsch (Friedberg) ermutigte mich während der Pfarrerausbildung dazu, existentiellen Fragen auch dann nachzugehen, wenn sie für mich unbequem waren. Meine beiden Kollegen, Dekan Hartmut Clotz (Rosbach) und Pfarrer Fritz Dahmen (Rodheim), haben mich zu Beginn meiner Tätigkeit als Pfarrer in der Burgkirchengemeinde Rosbach von manchen Aufgaben entlastet und mir dadurch die Fertigstellung meiner Arbeit ermöglicht. Pfarrer Dr. Ulrich Becke (Bad Nauheim) und Wiss. Ass. Hellmut Zschoch (München) sahen das Kapitel über Kierkegaard und Luther durch und teilten mir dazu ihre Ansichten mit. Prof. Dr. Diet-

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rich Ritsehl und Prof. Dr. Walther Eisinger (beide Heidelberg) haben die Zweit- und Drittgutachten zur Dissertation übernommen. Ihnen allen danke ich herzlich. Mein besonderer Dank gilt schließlich meiner Frau und meinem Sohn, die auf ihre Weise dazu beitragen, daß ich das Humane lerne. Ich widme dieses Buch meinem Sohn Christian Sören, in der H o f f nung, daß er nicht resigniert, wenn es einst gilt, am Vater gegen den Vater festzuhalten. Rosbach, im November 1984

„Als das Christentum in die Welt kam, war man nicht Christ, und die Schwierigkeit war die, es zu werden; jetzt ist die Schwierigkeit beim Christwerden die, daß man ein erstes Christsein selbsttätig in eine Möglichkeit verwandeln muß, ein wahrer Christ zu werden." ( U N 534 - S.V. VII,317) „... man kann wohl en masse getauft, aber niemals en masse wiedergeboren werden." (PhB 29 - S.V. IV, 189)

1. Glaube und Erziehung Versuch einer theologischen Verhältnisbestimmung mit ständiger Rücksicht auf Kierkegaard Daß ein Mensch im Christentum erzogen und doch noch lange kein Christ sein könne, mag trivial erscheinen. Gleichwohl ist der damit umschriebene Sachverhalt alles andere als selbstverständlich. Denn erst seitdem das Christentum nicht mehr die offizielle Religion des Staates ist, also seit Beginn der Neuzeit, wird bewußt und als Problem thematisiert, wie wenig Christsein mit der äußeren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Traditionsgestalt von Christentum identifiziert werden kann. In dem Maß, wie die bürgerlich-liberale Gesellschaft sich ausbreitet, die verschiedene christliche Konfessionen und außerchristliche Religionen toleriert, fallen offizielle Religion (repräsentiert durch die Kirchen) und private Frömmigkeit (repräsentiert durch die einzelnen Christen) auseinander. Weder die Zugehörigkeit zu einer der Konfessionskirchen, noch die spezifische Form der Frömmigkeit, weder Reinheit der Lehre, noch sittliche Vorbildlichkeit des Lebens weisen bündig und eindeutig aus, daß der Einzelne ein Christ sei. Wo Christentum und Christsein aufhören, unmittelbar (am Äußeren) kenntlich und damit eine soziale Selbstverständlichkeit zu sein, werden der Begriff und der lebensweltliche Sinn des Christlichen problematisch 1 . Seit der Reformation können Christen wählen, welcher Konfessionskirche sie angehören wollen, und seitdem die Weltreligionen sich begegnen und mit nichtreligiösen Weltanschauungen (z.B. dem Darwinismus, dem Positivismus, dem Marxismus-Leninismus usw.) konkurrieren, ist es, zumindest in westlichen Kulturen und Gesellschaften, sogar möglich gewor1 Vgl. dazu W.Fischer, Sinnkonstruktion. Die Legitimität der Religion in der sozialen Lebenswelt, in: W.D.Marsch (Hrsg.), Plädoyers in Sachen Religion. Christliche Religion zwischen Bestreitung und Verteidigung, Gütersloh 1973, 192-212.

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den, zwischen christlicher und nichtchristlicher Religionszugehörigkeit einerseits und nichtreligiöser (bzw. atheistischer) Weltanschauung andererseits eine Wahl zu treffen. Christen sind in dieser für die Moderne charakteristischen Situation geradezu zur Häresie (griech. hairesis = Wahl) g e zwungen' 2 . Sie müssen sich entscheiden, ob sie in der Kirche, der sie traditionellerweise angehören (zugeschriebene Mitgliedschaft), bleiben wollen oder nicht, und werden dazu herausgefordert, ihre Entscheidung zu begründen 3 . Die Mitgliedschaft in der Religionsgemeinschaft Kirche muß in einer säkularisierten Umwelt neu verantwortet werden, auch wenn diese Einsicht sich im volkskirchlichen Mitgliederbewußtsein noch nicht allgemein durchgesetzt hat. Christliche Existenz und Lebenspraxis wird in der Moderne zunehmend zu einer Gewissensentscheidung, die einem niemand, kein Staat und keine Kirche mehr abnehmen können. In der Bundesrepublik Deutschland und anderen westlichen Gesellschaften führt freilich das nach wie vor herrschende System zugeschriebener Kirchenmitgliedschaft (auf dem Weg der Kindertaufe), das für die Volkskirche charakteristisch ist, meist dazu, daß diese Entscheidung mehr oder weniger unreflektiert, in Ubereinstimmung mit Brauch und Herkunft vollzogen wird. Die Möglichkeitsbedingung von Christsein in der modernen Gesellschaft wird einfach als gegeben vorausgesetzt, ohne ins Bewußtsein zu treten oder gar Verhaltensänderungen zu provozieren 4 . Ein 1 Vgl. dazu P. L. Berger, D e r Z w a n g zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, F r a n k f u r t / M a i n 1980, der den Begriff der Häresie undogmatisch zur empirisch-soziologischen Erklärung dieses Phänomens verwendet. 3 Wenn es in der Volkskirche, die auf dem System zugeschriebener Mitgliedschaft beruht, vielfach nicht zu einer selbständig begründeten Entscheidung kommt, sondern f ü r die Mehrheit der Mitglieder G r ü n d e der Tradition und des sozialen Ansehens bestimmend bleiben, so bedeutet dies, d a ß die Verantwortung kirchlicher Mitgliedschaft faktisch an die Institution bzw. deren Repräsentanten (Pfarrer und Theologen) delegiert wird. Die Pfarrer sollen stellvertretend die Mitgliedschaft der Kirchenmitglieder (theologisch) verantworten. Diese durch das System zugeschriebener Mitgliedschaft begünstigte Erwartung f ü h r t dazu, daß der Zusammenhang von Christsein und Kirchenmitgliedschaft f ü r die Hälfte der Mitglieder der E K D immer noch unproblematisch ist (vgl. H . H i l d [Hrsg.], Wie stabil ist die Kirche?, Gelnhausen-Berlin 1974, 139), während viele Pfarrer und Theologen ihn problematisch finden und damit in ein widersprüchliches Verhältnis zur Institution Volkskirche geraten. Langfristig wird sich die Volkskirche insgesamt der modernen T e n d e n z zur Wahl der Religion stellen und ihren Mitgliedern zu verantwortlichen Entscheidungen helfen müssen. Dazu gehört, daß man der Notwendigkeit, seine Religion zu wählen, nicht ausweicht bzw. die Wahl nicht unreflektiert vollzieht, indem man andere f ü r sich wählen läßt. 4 Das gilt besonders f ü r die westlichen Gesellschaften. In den Ostblockländern können Christen dies schon deshalb nicht voraussetzen, weil dort die marxistische Religionskritik als offizielle Doktrin des Staates Gültigkeit beansprucht. Kirche im real existierenden Sozialismus entbehrt daher die f ü r die Volkskirche in westlichen Gesellschaften selbstverständliche staatliche Privilegierung und soziale Anerkennung. Christsein ist zwar möglich, aber mit erheblichen Einschränkungen und Nachteilen verbunden. Wie weitgehend z.B. die evangelischen Christen in der D D R unter solchen Bedingungen zu existieren gelernt haben, zeigt R.

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Folgeproblem davon ist die fundamentale Unklarheit, was eigentlich christliche Erziehung ausmacht, die volkskirchliche Lebens- und Taufordnungen den Eltern getaufter Kinder abfordern, ohne inhaltlich konkret bestimmen zu können, was sie damit meinen. Viele Religionspädagogen versuchen, dieser Unklarheit abzuhelfen, indem sie die Aufgabe christlicher Erziehung vermittels des allgemeinen Religionsbegriffs definieren4*. Sie reden dementsprechend lieber von religiöser Erziehung, ohne sich bewußtzumachen, worauf das Verfahren der allgemeinreligiösen Bestimmung christlicher Erziehung dogmatisch beruht: auf der Übernahme der natürlichen Theologie altprotestantischer und römisch-katholischer Provenienz, die den Religionsbegriff einst in die christliche Dogmatik eingeführt hat, um der aufklärerischen Rede von einer .natürlichen' Vernunftreligion zu begegnen. Indem die christliche Religion eingezeichnet wird in den Rahmen der als natürlich geltenden Vernunftreligion, verliert die theologische Rede von Gottes Offenbarung ihren Sinn bzw. gerät in Gegensatz zum Vernünftigen. War die natürliche Theologie, ursprünglich als pädagogisches Mittel zur Hinführung auf die Offenbarungstheologie konzipiert, unter den Denkvoraussetzungen der Aufklärung durchaus plausibel5, so wird sie auf dem Hintergrund neuzeitlicher Religionskritik (v. a. im 19. Jh. durch Feuerbach und Marx) verdächtig, nichts anderes als uneigentliche, noch nicht zu sich selbst gekommene Anthropologie zu sein, die es von ihren religiösen Überresten zu befreien gilt. Wie diesem Verdacht zu begegnen, wie er theologisch zu widerlegen sei, kann eine Religionspädagogik, die die Vorentscheidungen altprotestantischer Dogmatik unbedenklich übernimmt, nicht zeigen - und muß es, gemäß ihrem Selbstverständnis als empirisch-funktionale Theorie, auch nicht, denn daß das Christliche zu einem Prädikat des allgemein Menschlichen geworden ist, welches nur bestätigt, „was der Mensch auch ohne Offenbarung von

Henkys (Hrsg.), Die evangelischen Kirchen in der D D R . Beiträge zu einer Bestandsaufnahme, München 1982. 41 Zu dem seit Schleiermacher üblichen Verfahren, die Religion in der Allgemeinheit eines formalen anthropologischen Prinzips für die christliche Religionspädagogik zu beanspruchen, vgl. M.Weinrich, Geschichtsproblem und Problemgeschichte in der Religionspädagogik, in PTh 72 (1983), 228 ff. In welche Aporien die Religionspädagogik gerät, wenn ihre Grundlegung in einem allgemeinen Religionsbegriff versucht wird, zeigt ausführlich Κ. E. Nipkow, Grundfragen der Religionspädagogik, Bd. 1: Gesellschaftliche Herausforderungen und theoretische Ausgangspunkte, Gütersloh 3.Aufl. 1984, 129-168. 5 Vgl. etwa ihre Würdigung in der Pädagogik J. J. Rousseaus in ,Emil oder Über die Erziehung' (Schöningh UTB 115, Paderborn-München-Wien-Zürich 1981, 312ff.). Bei G.E. Lessing (,Die Erziehung des Menschengeschlechts') und I. Kant (,Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft') wird die Offenbarung bzw. der Kirchenglaube dann zum Vehikel humaner Erziehung bzw. reiner Vernunftreligion, d. h. das altprotestantisch-theologische Bildungsschema wird von den aufgeklärten protestantischen Philosophen einfach umgekehrt.

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G l a u b e und E r z i e h u n g

sich selbst und damit von Gott wissen kann" 6 , stellt für sie kein Problem mehr dar. Für eine sich als empirisch-funktionale Theorie verstehende Religionspädagogik ist das Christliche nichts anderes als ein Prädikat des allgemein Menschlichen; darin besteht das fundamentum inconcussum veritatis, die unbezweifelbare Grundlage, von der sie ausgeht 7 . Auf solche Weise wird die Wahrheitsfrage des Christentums, d.h. die Frage, was christliche Religion zur wahren Religion macht 8 , aus dem Bereich religionspädagogischer Überlegungen von vornherein ausgeklammert - zum Schaden der Erziehung als kirchlicher Praxis. Nicht nur für die Religionspädagogik, sondern für die Praktische Theologie überhaupt gilt, was R. Bohren geschrieben hat: „Die Wahrheitsfrage ist die Grundfrage, die an die kirchliche Praxis zu stellen ist. Nicht die Frage nach den Methoden ist das bedrängende Problem der Praktischen Theologie, sondern die Frage nach der Wahrheit, und das ist die Frage nach Gott selbst in der kirchlichen Praxis und in ihren Methoden." 9 Nach der Wahrheit christlicher Religion fragen heißt zugleich, nach der Wahrheit des allgemein Menschlichen fragen. Was einen Christen zum Christen macht bzw. wie ein Mensch innerhalb der Christenheit Christ wird, ist unabtrennbar verbunden mit dem, wodurch sein Menschsein allererst wahr wird. Man kann also die Frage nach der methodischen Vermittelbarkeit nicht isoliert von der Wahrheitsfrage beantworten, weil es in der säkularen bürgerlichen Gesellschaft in besonderer Weise um die Bewahrheitung des im Glauben Gelernten geht und weil der Glaube selber ein Interesse daran hat, zwischen dem, was vermittelbar (lernbar), und dem, was nicht vermittelbar ist, zu unterscheiden. Ein Mensch wird Christ und bewahrheitet sein Christsein durch den Glauben an Jesus Christus, der aller theologischen Erkenntnis vorgeordnet ist, sofern Theologie es in Jesus Christus mit dem „Anfänger und Vollender des Glaubens" (Hebr 12,2) zu tun hat. Diese (christologisch begründete) These besagt zunächst nicht mehr als eine dogmatische Richtigkeit, über die erst noch die Erfahrung gemacht werden muß. Wenn der Glaube « So K.Barth, KD 1/2, 315. Bezeichnenderweise sind sich fast alle neueren Religionspädagogen darin einig, mit K. Barth (den man mit der rechtsbarthianischen Evangelischen Unterweisung schlicht identifiziert) nichts zu tun haben zu wollen. Wie kein anderer weist aber gerade K. Barth auf das unverarbeitete dogmatische Problem der Religionspädagogik hin. Soweit ich sehe, hat M. Josuttis als einziger praktischer Theologe festgestellt, daß evangelische Religionspädagogik menschliche Existenz erhellt, indem sie den Anspruch eines Besonderen (des Evangeliums von der Rechtfertigung des gottlosen Sünders) geltend macht. Vgl. ders., Praxis des Evangeliums zwischen Religion und Politik, 2. Aufl. 1980, 235. 8 Vgl. K. Barth, KD 1/2, § 17, und G.Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd.I, Tübingen 1979, §6. ' R.Bohren, Daß Gott schön werde. Praktische Theologie als theologische Ästhetik, München 1975, 32. 7

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die entscheidende Bestimmung des Christlichen ist10, wenn also ein Mensch dadurch in Wahrheit Christ wird, daß er glaubt (womit ein besonderes Lebensverhältnis gemeint ist und kein bloßes Meinen oder Fürwahr-Halten), dann gilt es gerade auch in pädagogischem Interesse nach der Vermittlung des Glaubens zu fragen. Ist christlicher Glaube lehrbar und lernbar? Kann ein Erzieher einen anderen Menschen zum Glaubenden erziehen? Befragt man dazu die neuere Religionspädagogik, so ergibt sich folgender Befund. H. J. Fraas etwa schreibt, eine Erziehung zum Glauben könne es nicht geben 11 , meint aber andererseits, von einer Glaubensvermittlung ,in, mit und unter' den allgemeinen Lern- und Sozialisationsbedingungen 12 reden zu können, und kann sogar Glauben und Lernen in der Weise identifizieren, daß er den Glauben als radikale Lernzumutung und Motivation lebenslangen Lernens13 begreift. W. Neidhart unterscheidet, Glaube sei

10 Diese Einsicht ergibt sich aus der reformatorischen Rechtfertigungslehre, derzufolge ein Mensch vor G o t t allein durch den Glauben gerechtfertigt wird (vgl. dazu Luthers Galaterkommentar von 1519 und die Disputationen über Rom 3,28 von 1535 ff.). Dieser rechtfertigende Glaube kommt aus dem W o r t Christi (WA 2,490) und ist durch die Aneignung des in Christus Geschehenen - f ü r die die Kategorie ,pro me' bzw. ,pro nobis' steht - bestimmt (WA 39/1, 4 4 f f . Vgl. bes. These 24). D e r Glaube allein macht gerecht, weil er uns aus der Predigt von Christus (ex auditu Christi) durch den Heiligen Geist eingegossen wird und selber Christus ergreift (WA 39/1, 82 ff. Vgl. bes. These 28 und 29). D a r u m hat der Glaubende alles mit Christus gemeinsam (WA 2,504).

K. Barth ( K D IV/1, 679-718) hat den Glauben in seiner Rechtfertigungslehre vor allem als Analogie zum Verhalten Jesu Christi herausgestellt (709) und betont, daß Rechtfertigung allein durch den Glauben keinesfalls bedeutet, der Mensch könne sich selbst durch seinen Glauben rechtfertigen (687ff.). Der Glaube rechtfertigt vielmehr, indem er darauf vertraut, „daß Jesus Christus des Menschen Rechtfertigung ist" (704). Die Verzweiflung des Glaubenden kann daher nur eine getroste Verzweiflung sein (693). Unter Berufung auf Luther behauptet jedoch C. H . Ratschow, D e r angefochtene Glaube. Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik, Gütersloh 1957, es gebe keinen Glauben ohne Anfechtung: „Die Anfechtung vollzieht sich am Glauben und macht seine Lebendigkeit aus. Dem Glauben, der wahr und lebendig sein und bleiben will, ist diese Anfechtung konstitutiv." (247). Ratschow hat sicher recht, wenn er in der Anfechtung ein wichtiges M o m e n t der Glaubenserfahrung sieht. Zur Grundlage und entscheidenden Bestimmung des Christlichen läßt sie sich aber nicht erheben (vgl. dagegen Ratschows Kritik an Barth, 268-271), weil Christus die Anfechtung überwunden hat. N u r deshalb vermag der angefochtene Glaubende seine Anfechtung als M o m e n t des Glaubens zu erfahren. " H . J . Fraas, Glauben und Lernen. Ein theologisch-didaktischer Leitfaden f ü r die Elementarerziehung, Göttingen 1978, 31. So auch K.Frör, G r u n d r i ß der Religionspädagogik, Konstanz 1975, 31: „Zum Glauben kann man nicht erziehen." Gleichwohl sieht auch Fror eine enge Verbindung von Glaubens- und Erziehungspraxis. 12 Fraas, aaO., 35. 13 Ebd., 20 f. Was Fraas vom Glauben behauptet, gilt nach I. Baldermann, Die Bibel Buch des Lernens. Grundzüge biblischer Didaktik, Göttingen 1980, von der Bibel: „Die biblische O f f e n b a r u n g bietet uns keine Lehre über jenseitige Geheimnisse, aber sie setzt einen P r o z e ß des Lernens in Gang, der in seiner Intensität und Weite seinesgleichen sucht. Eine

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lernbar, sofern er im Ablauf seelischen Lebens eine bestimmte Funktion habe, jedoch nicht lernbar, sofern er mit Gott selbst und nicht nur mit Gottesvorstellungen zu tun habe 14 . Soweit der Mensch sich objektivieren lassse, könne man sagen, der Glaube sei lernbar, doch werde damit nie der ganze Mensch erfaßt, der gegenüber allen Bemühungen, ihm den Glauben als Lernvorgang zu vermitteln, frei sei, sich so oder so zu verhalten 15 . Wichtig ist Neidharts Feststellung, die Erforschung der religiösen Sozialisation zeige, „daß der christliche Glaube meistens nicht durch die theologische Reflexion gelernt wird, sondern durch Identifikation mit glaubenden Menschen und durch Schritte der eigenen Glaubenspraxis in Gruppen" 1 6 . K. Dienst schließlich meint, christlicher Glaube sei zwar nicht lehrund lernbar, manifestiere sich aber in Lernprozessen 17 . Alle genannten Religionspädagogen kommen in der Feststellung überein, daß Glaube zwar etwas mit Lernen zu tun hat, jedoch im Lernbaren und Gelernten nicht aufgeht. Eine präzise Verhältnisbestimmung findet sich dagegen nirgends. So wichtig der Hinweis von Fraas ist, daß der Glaubende ein lebenslang Lernender sei, so wenig erklärt er, was und wie da eigentlich gelernt wird, weil Fraas 18 sich von vornherein auf die Manifestationen des Glaubens, also auf das empirisch Erfaßbare beschränkt 19 . Daß der Glaube durch Identifikation mit glaubenden Menschen (so Neidhart) gelernt wird, war schon den Vertretern der Evangelischen Unterweisung (EU) bewußt. So schrieb ζ. B. O. Hammelsbeck: „Es kommt darauf an, daß die Kinder aufwachsen in einem Elternhause, in einer Gemeinschaft, in der im Glauben gelebt wird. Es kommt darauf an, daß die Eltern und die Lehrer Christen sind, die an Christus glauben und ihr Leben danach einrichten." 20 Wie ein Mensch lernt, im Glauben zu leben, welche Rolle der Erzieher dabei spielt, wird allerdings von der E U anders beantwortet als von neueren Konzeptionen. Während die E U die Gemeinde als Voraussetzung und Ziel aller Lehre ansieht 21 und den Unterricht daraufhin abstellt, „hören zu lehren auf das gepredigte Wort Gottes" 2 2 , treten in Lehre verlangt eine in sich abgeschlossene Darstellung; mit dem Prozeß des Lernens an der Bibel aber ist noch keine Generation bisher ans Ende gekommen" (14). 14 W. Neidhart, Glauben lernen - kann man das?, in: Schönberger Hefte 2/81, 15f. 15 Ebd., 16. " Ebd., 15. 17 K.Dienst, Glauben - Religiöse Erfahrung - Erziehung. Religionspädagogische Beiträge, Gütersloh 1979, 77. 18 Ahnlich auch Dienst, aaO., 72. " Vgl. Fraas, aaO., 36 ff. 20 O. Hammelsbeck, Glaube und Unterweisung, in: K. Wegenast (Hrsg.), Religionspädagogik I. Der evangelische Weg, Darmstadt 1981, 190. Was es bedeutet, ,im Glauben' zu leben und ,an Christus' zu glauben, bleibt allerdings unklar. 21 Ebd., 192. 22 Ebd., 193.

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neueren Konzeptionen eher die Familie bzw. die Schule als Agenturen religiöser Sozialisation an die Stelle des gemeindlichen Rahmens, und der Bezug zur Verkündigung verschwindet völlig. Das bedeutet: der Zusammenhang von Glauben und Erziehen oder Glauben und Lernen wird rein empirisch verstanden und eine theologische Verhältnisbestimmung aufgegeben. Geht man aus von der These, daß ein Mensch Christ wird und sein Christsein bewahrheitet durch den Glauben an Jesus Christus, so ist zu unterscheiden: a) das zwischenmenschliche Verhältnis Erzieher-Educandus/ Lehrer-Schüler und b) das Verhältnis Glaubender-Christus, das kein unmittelbar zwischenmenschliches (empirisch erfaßbares), sondern ein durch Gott vermitteltes ist. Zu untersuchen bleibt, ob es zwischen beiden Verhältnissen eine Entsprechung im Widerspruch gibt. Christus ist gemäß der Zwei-Naturen-Lehre wahrer Mensch und wahrer Gott und gemäß 1 Tim 2,5 der Mittler. Geht es im Verhältnis Erzieher-Educandus um den Glauben an Jesus Christus, so kann das Verhältnis kein unmittelbar zwischenmenschliches mehr sein (mithin nicht mehr allgemein-pädagogisch verstanden werden), sondern nur ein durch Christus als menschgewordenen Gott vermitteltes. Der Erzieher kann folglich dem Educandus nicht den Glauben vermitteln, aber er kann - aus Glauben und auf Glauben hin (Rom 1,17) - den Educandus auf den Mittler, in dem das Wort Gottes sich inkarniert ( J o h l , 14), .aufmerksam machen' 22 ". Im Verhältnis zum Mittler sind der Erzieher wie der Educandus ja gleichermaßen zu Erziehende bzw. Schüler, die der Selbstmitteilung Gottes nur entsprechen, indem sie in Widerspruch zur Unmittelbarkeit des Humanen geraten 23 . Das Verhältnis Erzieher-Educandus ist somit ein geistliches Verhältnis: der Erzieher und der Educandus verhalten sich zueinander als Menschen, deren Menschsein gleichermaßen problematisch geworden ist, weil in ihrer Mitte der Mensch Jesus erscheint, d. h. sie verhalten sich zueinander und erscheinen als Mitmenschen und Schüler dieses besonderen Menschen 24 . Der Erzieher kann dem Educandus zeigen, daß sie beide des Mittlers be-

222 Das Aufmerksammachen als pädagogische Katgorie entdeckt zu haben, ist das Verdienst von H.Schaal, Erziehung bei Kierkegaard. Das ^Aufmerksammachen auf das Religiöse' als pädagogische Kategorie, Heidelberg 1958. 23 Hält man die Einmaligkeit der Inkarnation als eines Ereignisses in der Zeit für alle Zeiten (vgl. Gal 4,4) fest, dann ist es post Christum natum unmöglich, allgemein von der Natur des Menschen (oder dem biblisch-christlichen Menschenbild) zu reden und das LehrerSchüler-Verhältnis auf diesem anthropologischen Fundament zu verstehen, so als ob das Humane unmittelbar gegeben und für jedermann evident sei. 24 Ich nehme damit eine Einsicht K. Barths auf: „Die ontologische Bestimmung des Menschen ist darin begründet, daß in der Mitte aller übrigen Menschen Einer der Mensch Jesus ist" (KD III/2,158). Theologische Anthropologie geht davon aus, „daß jeder Mensch als solcher der Mitmensch Jesu ist" (ebd., 159).

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dürfen, und zwar sowohl in ihrem jeweiligen Verhältnis zu Christus wie in ihrem Verhältnis zueinander. Darin entsprechen sich beide Verhältnisse, während der Widerspruch darin liegt, daß das erste durch Gott vermittelt und das zweite unmittelbar zwischenmenschlich ist, vermöge des ersten aber mittelbar wird. Sich zu Christus verhalten heißt, sich zum Mittler verhalten, der sich selbst durch sein Wort mitteilt. Glauben heißt, für sich selbst Christus den Mittler sein lassen (wodurch er mein Selbst- und Weltverhältnis vermittelt). Einen anderen auf Christus als den Mittler aufmerksam machen kann nur, wer selbst auf ihn aufmerksam geworden ist. Ist er selbst auf den Mittler aufmerksam geworden, so zugleich auf das Widersprüchliche im zwischenmenschlichen Verhältnis: das Selbstverhältnis. Für das Selbstverhältnis erweist sich die zwischenmenschliche Unmittelbarkeit als Schein, der dem wahren Sein des Menschen nicht entspricht. Handelt der Erzieher aus Glauben und auf Glauben hin, so ist klar, daß der Glaube nicht direkt von Mensch zu Mensch vermittelt werden kann (etwa als Inhalt oder Gegenstand eines Wissens). Der Erzieher respektiert dann das Selbstverhältnis des anderen (Educandus), indem er ihn auf Christus aufmerksam macht. Worauf ich den anderen aufmerksam mache, dazu kann er sich so oder so verhalten bzw. er kann sich entscheiden, wie er sich verhalten will. Indem ich einen anderen auf Christus aufmerksam mache, mache ich ihn zugleich aufmerksam auf sich selbst. Doch wie geschieht das? Mit Kierkegaard sprechen wir hier von .indirekter Mitteilung'. Der Erzieher kann nicht einfach sagen: „Christus ist der Mittler" (dies wäre eine direkte Mitteilung), d. h. er kann nicht so tun, als ob nur die Zustimmung zu einer Behauptung gefordert wäre, sondern er muß sich zu Christus als dem Mittler verhalten, der sein Selbst- und Weltverhältnis vermittelt. Wie sein Selbstverhältnis, so wird auch sein Verhältnis zum anderen (alles, was er dem Educandus redend, schweigend, handelnd und leidend mitteilt) ein vermitteltes sein. Seine Mitteilung reflektiert einmal die Mitteilung der Gottheit Jesu Christi an seine Menschheit (communicatio idiomatum) und zum anderen die Vermittlung des Selbstverhältnisses durch den Mittler als geistliche Aufhebung der zwischenmenschlichen Unmittelbarkeit. Der Erzieher reflektiert bei allem, was er dem Educandus mitteilt, zugleich auf Christus als inkarniertes Wort Gottes und auf sich selbst als den, in dessen Selbstverhältnis die Inkarnation sich bezeugt. Sören Kierkegaard hat entdeckt, daß sich das Verhältnis eines Menschen zu Christus als pädagogisches, d.h. als Lehrer-Schüler-Verhältnis verstehen und beschreiben läßt. Seine Schrift .Philosophische Brosamen' von 1844 geht aus von der Frage: „Inwiefern kann die Wahrheit gelehrt und gelernt werden?" 25 Kierkegaard unterscheidet zwischen dem sokrati25

PhB 17 - S.V. IV, 179.

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sehen (als Inbegriff des Humanen) und dem christlichen Verhältnis zur Wahrheit. Sokratisch gilt die Voraussetzung, daß der Mensch die Wahrheit schon hat, die er sucht, und nur noch durch den Lehrer daran erinnert werden muß. Christlich gilt dagegen die Voraussetzung, daß der Suchende bis zum entscheidenden Augenblick die Wahrheit nicht gehabt hat. Er befindet sich nicht nur in Unwissenheit, sondern in Unwahrheit schlechthin 26 . Gleichwohl besteht eine wichtige Analogie zwischen dem Christlichen und dem Sokratischen: hier wie dort kann nämlich der Lehrer den Schüler nur veranlassen, seine Unwahrheit zu entdecken, „denn meine eigene Unwahrheit kann ich nur durch mich selber entdecken .. ." 27 Christlich verhält es sich so, daß der Lehrer dem Schüler die Wahrheit gibt und zugleich die Bedingung, die Wahrheit zu verstehen, d. h. er muß den Schüler umschaffen, um ihn lehren zu können. Ein solcher Lehrer kann nur Gott selbst sein und kein Mensch. Gott selbst veranlaßt den Menschen, zu erkennen, daß er durch eigene Schuld in der Unwahrheit ist. Indem er ihm die Wahrheit gibt, befreit er ihn aus selbstverschuldeter Unfreiheit 28 . Wie kommt es nun zur Selbstmitteilung Gottes in Christus? Dieses Selbstmitteilung hat ihren Grund und ihr Ziel in der Liebe 29 . Kierkegaard beschreibt daher das Verhältnis Gott-Mensch als ein unglückliches Liebesverhältnis. Die Liebe Gottes zum Menschen ist unglücklich, weil Gott und Mensch einander ungleich sind. Das Problem besteht darin, wie Gott sich verständlich machen bzw. die Gleichheit von Gott und Mensch zustande bringen kann 30 . Das geschieht dadurch, daß Gott sich in der Gestalt des geringsten Menschen, d. h. als Knecht zeigt. Seine Gleichstellung vollzieht sich als Erniedrigung 31 . Sein ganzes irdisches Leben ist eine Leidensgeschichte 32 . Daß Gott als Mensch da ist, an des Menschen endlicher Existenz teilhat, ist ein absolutes Paradox, an dem der Mensch seiner Sünde bewußt wird, d. h. dessen bewußt, daß er durch eigene Schuld in der Unwahrheit ist 33 . Der menschliche Verstand ärgert sich an diesem Paradox, weil es die absolute Verschiedenheit der Sünde zum Vorschein bringt (Sündenbewußtsein entsteht am Paradox) und die absolute Verschiedenheit in der absoluten Gleichheit aufheben will 34 . Das Paradox ist auf leidenschaftliches Einverständnis aus, in dem der Verstand untergeht bzw. sich entäußert. Die glückliche Leidenschaft, in der der Lernende versteht, daß Gott als Mensch das Paradox ist, die Leidenschaft also, in der der Verstand und das Paradox im Augenblick zusammenstoßen, ist der Glaube 35 . Gegenstand des Glaubens ist nicht die Lehre, sondern der Leh» PhB 22 17 PhB 23 29 PhB 26 " PhB 34f. 10 PhB 38 -

S.V. IV, 183f. S.V. IV, 184. S.V. IV, 187. - S.V. IV, 193f. S.V. IV, 196.

31 32 33 31 35

PhB PhB PhB PhB PhB

42 43f. 59f. 60 72 -

S.V. IV, 199. - S.V. IV,200. - S.V. IV,214, S.V. IV,214. S.V. IV,224.

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rer36. Der Lernende wird ein Glaubender, wenn der Verstand entäußert ist und im Augenblick die Bedingung erhält, das Ewige zu verstehen 37 . Der Glaube ist ebenso paradox wie das Paradox. Innerhalb des Glaubens verhalten sich nun die mit Christus Gleichzeitigen sokratisch zueinander: keiner verdankt dem anderen etwas, sondern beide verdanken alles Gott 38 . Der Glaube ist mittelbare Gleichzeitigkeit mit Christus39, sofern der Glaubende vom Lehrer die Bedingung empfängt, ihn zu verstehen 40 . Der erhöhte Christus praesens gibt die Bedingung, ihn selbst im erniedrigten (irdisch-geschichtlichen) Jesus zu erkennen. Kierkegaard betont, daß die unmittelbare Gleichzeitigkeit nur Veranlassung sein kann a) für ein historisches Wissen, b) für ein sokratisches Sichin-sich-selbst-Vertiefen, c) für das Empfangen der Wahrheitsbedingung und das Sehen der Herrlichkeit, zu welchem es nicht kraft unmittelbarer Augenzeugenschaft, sondern kraft der Autopsie des Glaubens kommt 41 . Der Glaubende entspricht dem Geschichtlichen qua Gewordenen 42 , indem er glaubt, d. h. wiederholt, daß es geworden sei43, und so die Ungewißheit des Werdens aufhebt 44 . Das Geschichtliche, daß Gott Mensch geworden sei, glauben heißt mithin: wiederholen, daß er es geworden sei45. Den dialektischen Zustand, in dem die Entscheidung zwischen Ärgernis und Glaube sich deutlicher zeigt, nennt Kierkegaard Aufmerksamkeit 46 . Als 36

PhB 75 - S.V. IV,227. PhB 77f. - S.V. IV,228. 38 PhB 79f. - S.V. IV,230. In dogmatischer Hinsicht gilt also: nur im Glauben entspricht ein Mensch dem Paradox (d.h. entspricht er dem, was der gängigen Vormeinung und dem Augenschein widerspricht), daß Gott als Mensch, der H e r r als Knecht erscheint. Und in pädagogischer Hinsicht gilt: Erzieher und Educandus verhalten sich im Glauben zueinander als gleiche Schüler desselben Lehrers. Das Verhältnis zu Gott als Lehrer (Glaube) kehrt demnach das empirische Lehrer-Schüler-Verhältnis um und erweist sich in dieser Umkehrung als wirksam. So qualifiziert der Glaube allererst die Erziehung als religiös. Das religiöse Moment der Erziehung ist die paradoxe Umkehrung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, die sich der methodischen Verfügbarkeit durch den Erzieher entzieht, weil sie die Wahrnehmung seiner selbst wie des Educandus von Grund auf verändert. Nicht auf eine möglichst plausible Theorie religiöser Erziehung, die dann möglichst effizient in der Praxis angewendet wird, kommt es zunächst an, sondern darauf, ob der Erzieher sich selbst und den Educandus anders als nur im Horizont seiner eigenen Vormeinungen und Beobachtungen wahrnehmen und verstehen kann, d. h. es kommt darauf an, ob der Glaube (der glaubt, was er nicht sieht [Hebr 11,1]) oder eine allgemeine Theorie (die sich auf das unmittelbar Wahrnehmbare gründet) ihn sehen lehrt (vgl. PhB 120 - S.V. IV,264). 57

" PhB 8 I f f . - S.V. I V , 2 3 I f f . 40 PhB 83 - S.V. IV,232f. 41 PhB 84 - S.V. IV,233. 42 Vgl. PhB 117 - S.V. IV,262 („... der Glaube und das Geschichtliche entsprechen einander völlig ..."). 43 PhB 102 - S.V. IV,249. 44 PhB 97 - S.V. IV,245. 45 Vgl. PhB 103 - S.V. IV,251 („Das Geschichtliche ist, daß der Gott geworden ist ..."). 46 PhB 110. Vgl. 112 - S.V. IV,256. Vgl. 258.

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Glaubender schuldet ein Mensch nichts dem anderen, aber alles dem Gott 47 . Der Gleichzeitige bzw. Glaubende kann dem Späteren a) erzählen, daß er selbst das absolute Faktum der Menschwerdung Gottes geglaubt habe; b) er kann den Inhalt dieses Faktums für den Glauben erzählen 48 . Stets glaubt der Spätere vermittels des Berichts des Gleichzeitigen kraft der Bedingung, die er selbst von Gott empfängt 49 . Kierkegaard hat uns gezeigt, daß die Wahrheitsfrage konstitutiv ist sowohl für die Bestimmung des Verhältnisses Mensch-Christus als auch für die Unterscheidung zwischen humaner (allgemein-menschlicher) und christlich-religiöser Erziehung. Erzieherisches Handeln kann von der Wahrheitsfrage, der Frage nach dem, was den Menschen zum wahren Menschen macht, nicht abgelöst werden. Für das Christentum ist es entscheidend, daß die Wahrheit nicht schon vom Menschen gewußt wird, sich also der Vergegenständlichung in einem Wissen entzieht, sondern in der Zeit in einem besonderen Menschen erscheint, dessen Wahrheitsanspruch universale, alle Menschen betreffende Gültigkeit hat. Weil er sich zum Wahrheitsanspruch eines Menschen (nicht einer Theorie oder Lehre) verhält, darum ist der Glaube auf Gespräch und Erzählen aus, darum bewahrheitet er sich gesprächsweise, in Reden, Geschichten und Gleichnissen. Ferner hat Kierkegaard uns gezeigt, daß es darum geht, in die mittelbare Gleichzeitigkeit mit Christus zu kommen. Die Bedingung des Einverständnisses mit Christus vermag nur er selbst zu geben. Gleichwohl kann ein Mensch einen anderen darauf aufmerksam machen, daß dieses Einverständnis nur zu gewinnen ist durch das Ärgernis hindurch, das die Verschiedenheit von Gott und Mensch anzeigt 50 . Ein Christentum, das niemandem mehr Ärgernis bereitet, wäre ein Christentum, das die Paradoxie der Menschwerdung Gottes leugnet. Es wäre ein Christentum, das die Menschwerdung zu einer vernünftigen Entwicklung gemacht, das Faktum sozusagen .naturalisiert' hat 51 und den fatalen Anschein erweckt, jeder Mensch in der Christenheit würde mit dem Glauben geboren. Kierkegaard macht gerade ein solches vernünftiges Christentum darauf aufmerksam, daß das Ärgernis die Kehrseite des Glaubens ist und nur der zum Glauben kommt, der erkennt, daß er in der Unwahrheit lebt. Wo Christen nicht mehr Sünder sein, wo sie sich nicht mehr als Sünder verstehen wollen, ist Kierkegaards Hinweis aktuell. Religionspädagogisch bedeutsam ist sowohl die Konsequenz, mit der Kierkegaard daran festhält, daß allein durch Christus Menschen in ein Entsprechungsverhältnis zu Christus (Glaube) kommen, wie auch die von 47

PhB 120. Vgl. 79f. - S.V. IV,264. Vgl. 230. » PhB 120f. - S.V. IV,264f. Vgl. dazu Kap. 15 dieser Arbeit. 4 ' PhB 123 - S.V. IV,266. 50 Vgl. PhB 67 - S.V. IV,220. 51 Vgl. PhB 113 - S.V. IV,259. 4

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ihm herausgestellte Analogie zum Humanen, daß jeder Mensch nur durch sich selbst seine Unwahrheit entdeckt. Religiöse Erziehung bzw. Erziehung zum Christwerden kann also nicht selber die Entsprechung im Verhältnis zu Christus herstellen. Sie kann die Entsprechung nicht direkt mitteilen, aber sie kann im Bereich des H u m a n e n jenem Verhältnis durch die Weise ihrer Mitteilung zu entsprechen suchen. So wie im Glauben sollen auch in der Mitteilung Verstehen und die Anwendung des Verstandenen auf sich selbst zusammenfallen: wer sich auf etwas versteht, kann es tun. Der Erzieher hat demnach auf das (unverfügbare) Entsprechungsverhältnis zu Christus und auf sich selbst als Mitteilenden (der sich zu Christus und zum Educandus verhält) zu reflektieren, so daß seine Mitteilung indirekt (in bezug auf das Entsprechungsverhältnis) und doppelt reflektiert wird. Indem der Erzieher sich auf diese Weise mitteilt, wird der Educandus veranlaßt, sein Selbstverhältnis zu entdecken. Er wird darauf aufmerksam, daß es darum geht, die Lehre (von Christus als dem Mittler) existierend auszudrücken. Der Educandus wird also dazu veranlaßt, sich selbst als denjenigen zu betrachten, der zu Christus in ein Verhältnis kommen soll. Er soll sich selbst zu Christus verhalten, wohlgemerkt unter der Voraussetzung, daß Christus sich zuvor zu ihm verhält. Denn die Erkenntnis, daß Christus die Wahrheit seiner Existenz ist, kann ihm nur durch Christus und nicht durch den Erzieher zuteil werden. Die pädagogische Aufgabe besteht folglich darin, zur Aneignung des bereits allgemein Bekannten, zur Ü b e r f ü h r u n g von objektiver Lehrwahrheit in Existenzwahrheit zu verhelfen. Zu lernen ist das Christwerden im Horizont menschlicher Existenz, der Glaube im Vollzug des Existierens. Da der Glaube zugleich eine bestimmte Existenzweise und hermeneutischer Schlüssel der Existenz im ganzen ist, gibt die Geschichtlichkeit des Glaubens (die Menschwerdung Gottes) den Leitfaden ab f ü r die Geschichtlichkeit der Existenz. In seinem schriftstellerischen Werk beschreibt Kierkegaard als Christ f ü r Christen der Moderne den Weg zum Glauben als einen Weg durch verschiedene Existenzstadien. Dieser Weg f ü h r t aus der (ästhetischen) Unmittelbarkeit zur (ethischen) Selbstvermittlung bzw. zum Versuch, die ethische Forderung als das Allgemeine zu realisieren, und schließlich - nach der Einsicht ins Scheitern dieses Versuchs - zur neuen Unmittelbarkeit des Glaubens, in der der Einzelne sich selbst zurückbekommt und frei wird für den Nächsten. Das Ziel des Weges auf allen seinen Stadien ist das Sich-zu-sich-selbst-Verhalten in allem, was man sagt und tut.

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2. Die religiöse Erziehung Sören Kierkegaards und ihre Bedeutung für sein schriftstellerisches Werk Im folgenden soll Kierkegaard als Fall einer Schädigung durch religiöse Erziehung betrachtet werden, in dem der Geschädigte seinen Schaden (Schwermut, Verschlossenheit, Schuldbewußtsein) durch den christlichen Glauben verarbeitet. Als religiöser Schriftsteller drückt Kierkegaard die Gültigkeit seines Falles allgemein, als Existenzproblem aller aus, um so darauf hinzuweisen, daß jeder Mensch dazu bestimmt ist, als Einzelner das Allgemeine zu verwirklichen 1 . Seine eigene religiöse Erziehung (zuerst durch den Vater, später durch seine Lehrer, durch die ,Väter im Glauben' und schließlich - vermittels des ganzen schriftstellerischen Werkes durch die Vorsehung Gottes) hat sich in seiner Lebensgeschichte niedergeschlagen und äußert sich in einem bestimmten Verständnis von der Religiosität des Kindes und einem bestimmten Verständnis von der Religiosität des erwachsenen Christen. Kierkegaard hat seine Erziehung in seinem schriftstellerischen Werk zu verarbeiten versucht und dieses Werk, in dem er sich zu sich selbst (seiner Geschichte) als zu verschiedenen fiktiven Figuren (Pseudonymen) verhält, retrospektiv als das Mittel verstanden, durch das die Vorsehung Gottes ihn erzogen habe 2 . Sein Werk ist also in mehrfachem Sinn Ausdruck eines Erziehungsprozesses: erstens handelt es (in der Form indirekter Mitteilung) von Kierkegaards eigener religiöser Erziehung, zweitens ist es im ganzen ein Mittel, durch das die Vorsehung Gottes ihn erzogen hat, und drittens ist es erzieherisch wirksam für andere, sofern sein Autor sich (als einer, der nicht prätendiert, ein Christ zu sein) zum Leser (als einem, der prätendiert, ein Christ zu sein) verhält, indem er ihn durch indirekte Mitteilung aufmerksam machen will auf die Problematik seiner, des Lesers eigener Existenz und ihn im Christentum ,einüben' bzw. in ein innerliches Verhältnis zu Christus bringen möchte. Sowohl die Pseudonymen Schriften (ästhetische Schriftstellerei) wie die unter eigenem Namen veröffentlichten religiösen Schriften (Reden), die sich beide der indirekten, auf die kirchliche Lehre und Verkündigung als direkte bezogenen Mitteilung bedienen, verfolgen eine pädagogische Absicht: sie wollen den existierenden Einzelnen darauf aufmerksam machen, was es heißt, als Christ (im Ver1 Vgl. L.Steiger, Vätger und Vaterschaft, in: H.Teilenbach (Hrsg.), Das Vaterbild im Abendland II, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1978, 165 f. 2 Vgl. GWS 73 - S.V. XIII,562. In einer seiner letzten Tagebuchaufzeichnungen schrieb Kierkegaard: „Ein Christ sein heißt glauben an eine Providentia specialissima, nicht in abstracto, sondern in concreto" (Pap. XI 2 A 259 - Ubers, zit. nach: H. Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, Zollikon-Zürich 1950, 202).

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hältnis zu Christus) zu existieren. Im Verfolgen dieser Absicht entwickelt Kierkegaard seine Theorien der Existenzstadien und der (indirekten) Existenzmitteilung und entdeckt den besonderen Sinn religiöser Rede im Erbaulichen. Die Fragestellung unserer Arbeit geht aus vom Vorverständnis des schriftstellerischen Werkes als Erziehungsprozeß und fragt innerhalb dieses Zusammenhangs danach, was das Werk ingesamt über religiöse Erziehung sagt und was sich aus ihm im Blick auf eine allgemeine Theorie religiöser Erziehung lernen läßt. Nicht zuletzt sollen einige Theorien der neueren Religionspädagogik an diesem - in der Tat extremen - Fall einer Schädigung durch religiöse Erziehung auf ihre allgemeine Gültigkeit hin überprüft werden. Als hermeneutische Grundregel gilt: die Kategorien der Interpretation müssen aus dem zu interpretierenden Werk gewonnen werden. Insbesondere ist die Bestimmung des Verhältnisses von Glaube und Erziehung bzw. dogmatischer Wahrheitsfrage und pädagogischer Praxis aus dem Werk zu gewinnen. Welche Bedeutung biblische Geschichten für die Lebensgeschichte Kierkegaards haben, sei exemplarisch an der Schrift .Furcht und Zittern' (1843) gezeigt, in der er, ausgehend von seiner eigenen Erfahrung, Gen 22 (das Abraham-Isaak-Opfer) nacherzählt. Wie Abraham Gott das Liebste opfern soll, was er hat, seinen einzigen Sohn, und den Sohn und in ihm die eigene Zukunft zurückbekommt, weil er sich vor Gott als gehorsam erwiesen hat, so versteht auch Kierkegaard sich als einer, der das Liebste, seine Verlobte Regine Olsen, nach Gottes Willen opfert, und zugleich als einer, der von seinem Vater geopfert wird. Kierkegaard verarbeitet durch die (gleichsam autobiographisch gelesene) Geschichte Gen 22 seine eigene religiöse Erziehung, indem er die Beziehung zum Vater und die Beziehung zur Verlobten zusammensieht mit seinem Gottesverhältnis, d.h. er versteht sich vor Gott als Geopferter und Opfernder zugleich 21 . Indem er dies tut, begrieft er, daß der, der Gott gehorsam ist, das Verlorene doppelt zurückbekommt. Der Sohn, durch den Vater unglücklich geworden, kann den Vater dennoch lieben, der Liebende, der sich von der Geliebten trennt, kann ihr dennoch treu bleiben, indem er die Geschichte seiner unglücklichen Liebe dichtet und eben dadurch auf das Religiöse aufmerksam macht. Kierkegaard bekommt sich selber als Dichter zurück, indem er sich religiös versteht: das Dichtersein, die Existenz und Wirksamkeit als Schriftsteller ist die Verarbeitung seines Lebenskonflikts, seiner Schädigung durch religiöse Erziehung. Ausgehend von seiner Lebenserfahrung entdeckt er die biblische Geschichte, findet in ihr sein Leben wieder und begreift: er war Isaak und ist Abraham geworden. Durch die Aneignung 2 1 Die Einsicht, ein Geopferter zu sein, bleibt auch später bestimmend. Vgl. GWS 77 S.V. XIII,566.

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seiner Väter bekommt ein Mensch eine Geschichte. Zu solcher Aneigung befreit der Glaube, den es an Abraham zu lernen gilt. Eben dadurch, daß Kierkegaard sich als Abraham versteht, gewinnt er die Möglichkeit, als Isaak geheilt zu werden, vermag er an die Liebe Gottes - seines Vaters im Himmel - zu glauben, auch wenn dieser fordert, das Liebste zu opfern. Die Grundkonflikte seines Lebens werden im Werk sowohl ästhetisch (mit dichterischen Mitteln) wie religiös (im Rückbezug auf die biblischchristliche Tradition) dargestellt. Andererseits behauptet Kierkegaard im Rückblick, sein ganzes Werk behandle das Problem des Christwerdens 3 . Einerseits also spiegelt sein Werk eine besondere Lebensgeschichte wider, andererseits entfaltet es ein allgemeines Problem, das sich freilich konkret für jeden Einzelnen stellt und insofern als Existenzproblem zu verstehen ist. Inwiefern ist nun gerade diese besondere Lebensgeschichte von allgemeiner Bedeutung? Der unglücklich im Christentum erzogene Kierkegaard will andere, die sich für Christen halten, darauf aufmerksam machen, was es in Wahrheit heißt, ein Christ zu sein. Es in Wahrheit zu sein heißt nämlich, es zu werden. Als einer, der diese Erfahrung gemacht hat, begreift Kierkegaard sich selbst als von der Vorsehung vermittels des schriftstellerischen Werkes religiös Erzogener, d.h. das Werk insgesamt wird für ihn zum Ausdruck der glücklichen Wiederholung religiöser Erziehung durch den Glauben. So entdeckt der unglückliche, an seinem Christentum leidende Schriftsteller, daß es gerade darauf ankommt, das zu werden, was man schon zu sein meint bzw. sich anzueignen, was man schon zu haben meint 4 . Es kommt darauf an, als Glaubender zu existieren, seiner individuellen Bestimmung (das Allgemeine zu verwirklichen) zu folgen und so mit dem Dasein versöhnt zu leben. Kierkegaard entdeckt, daß das Unglück der Christenheit gerade darin besteht, zu meinen, alle seien schon irgendwie Christen bzw. zu meinen, es genüge, das Christentum zu begreifen und weiterzugehen (Hegel). Bei der Verarbeitung seines persönlichen Schadens findet er den allgemeinen Schaden seiner Zeitgenossen. Das Aufmerksam-Werden und Aufmerksam-Machen, die Erkenntnis, daß christlich nur der Heilung findet, der zuvor in Wahrheit krank gewesen ist bzw. sich als Sünder verstanden hat, und ihre Mitteilung durch das Werk ist es, die Kierkegaard selber dazu verhilft, gesund zu werden. Er wird von seinem Schaden geheilt, indem er anderen dadurch Heilung bringt, daß er sie auf ihre Krankheit aufmerksam macht. Den Gesichtspunkt, unter dem er sein schriftstellerisches Werk verstanden wissen will, hat Kierkegaard im Rückblick so bezeichnet: ,„Ohne Voll3

Vgl. WS 6 - S.V. XIII,496; GWS 50 - S.V. XIII.543; GWS 87 - S.V. XIII,575. Dieser Grundsatz wird zuerst gegenüber der falschen Begeisterung der Hegelianer geltend gemacht und auf die Philosophie Hegels angewendet (vgl. BI 332 - S.V. XIII,391). Später wird er für das Sich-in-Existenz-Verstehen überhaupt gültig, wie es die verschiedenen Pseudonyme vorführen (vgl. U N 843f. - S.V. VII,549). 4

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macht' aufmerksam zu machen auf das Religiöse, das Christliche, das ist die Kategorie für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, als ein Ganzes betrachtet." 5 An anderer Stelle schreibt er, seine gesamte Wirksamkeit als Schriftsteller stehe im Verhältnis zum Christentum, genauer: „zu dem Fragmal: ein Christ werden, mit mittelbarer und unmittelbarer polemischer Sicht auf den ungeheuerlichen Sinnentrug: die Christenheit, oder daß in einem Lande so alle soso Christen sind" 6 . Weil die Christenheit in ästhetischen Bestimmungen lebt, verhält sich auch der religiöse Schriftsteller, dem es um das Christwerden geht, zunächst ästhetisch zu ihr. Kierkegaard bedient sich also des Ästhetischen in religiös motivierter maieutischer Absicht, um Menschen, die in der Einbildung befangen sind, sie seien schon Christen, „in das Wahre hineinzutäuschen" 7 . Daß es sich dabei um eine überaus schwierige erzieherische Aufgabe handelt, ist Kierkegaard bewußt. Die Schwierigkeit der Aufgabe besteht darin, sich in den anderen hineinzuversetzen und zu verstehen, was er versteht, um ihn überhaupt aus seiner Einbildung herausführen zu können. Dies gilt nun aber nicht allein, wenn das Problem das Christwerden ist, sondern es gilt grundsätzlich für jedes pädagogische Handeln. „Lehrer sein, das heißt nicht sagen: so ist es, es heißt auch nicht, Lektionen aufgeben und dgl., nein, Lehrer sein heißt in Wahrheit der Lernende sein. Die Unterweisung fängt damit an, daß du, der Lehrer, lernest vom Lernenden, dich hineinversetzest in das was er verstanden hat, und wie er es verstanden h a t . . ."8 Wenn Kierkegaard seiner Zeit die Diagnose stellt, es fehle ihr an religiöser Erziehung 9 , dann bedeutet das nicht, daß er selber mit seiner eigenen 5

WS 10 - S.V. XIII,501 (Hervorh. von mir). < GWS 21 - S.V. XIII,517f. 7 GWS 48 - S.V. XIII,541 (Hervorh. von mir). 8 GWS 40 - S.V. XIII,534. Sich in den anderen hineinversetzen und verstehen, was er versteht, ist etwas anderes als den anderen besser zu verstehen als er sich selbst versteht, wie es seit Schleiermacher zur - oft mißbrauchten - hermeneutischen Regel geworden ist (vgl. dazu H. G.Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 4. Aufl. 1975, 180-184). Kierkegaard will allererst verstehen, wie der andere sich selbst versteht, aber er prätendiert nicht, dies schon verstanden zu haben. ' Vgl. GWS 73 f. - S.V. XIII,563. Das Fehlen religiöser Erziehung ist symptomatisch dafür, daß die zeitgenössische Christenheit krank ist, ohne auf ihre Krankheit aufmerksam geworden zu sein. Auf wahnsinnige Weise im Christentum erzogen - denn es ist Wahnsinn, ein Kind zum wahren Christen machen zu wollen (vgl. Pap. VIII A 663 - TB 11,241) - , sieht Kierkegaard sich inmitten einer Christenheit, in der alle meinen, von Kindheit an Christen zu sein, in der also alle wahnsinnig das sein wollen, was Kierkegaard selbst (als Kind) zu sein genötigt wurde und in Freiheit (als Erwachsener) als sein väterliches Erbe übernimmt. Die moderne bürgerliche Christenheit, in der Kierkegaard zu seiner Diagnose kommt, nimmt im Unterschied zu ihm ihren eigenen Wahnsinn jedoch nicht wahr, d. h. sie nimmt nicht wahr, daß ihr Christentum etwas Wahnsinniges ist, und hält daher jeden, der in ihrer Mitte Christ werden will, für wahnsinnig. Gerade Kierkegaards Bemühen, ein Christ zu werden, muß einer Gesellschaft wahnsinnig erscheinen , die Religion medizinisch als Ursache von Geistes-

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Erziehung vollkommen fertig geworden wäre 10 , sondern im Gegenteil, daß auch er durch sein Werk erzogen wurde, demnach nicht Lehrer der Zeit, sondern Mitschüler der Zeit war 11 . Betrachtet man sein schriftstellerisches Werk unter diesem Gesichtspunkt, so zeigt sich, daß Kierkegaard in der Tat im Streitgespräch mit seiner Zeit sich selbst zunehmend als einen Lernenden auf dem Weg des Christwerdens versteht, der auf diesem Weg immer weiter von sich selbst wegkommt, sich immer weiter ins Allgemeine vertieft, das es zu erlernen bzw. zu verwirklichen gilt12. Er hat seine eigene religiöse Erziehung verarbeitet, indem er sein Verhältnis zum Vater als ein anzueignendes Schuldverhältnis verstand 13 , das Verhältnis zu Gott als das ihn selbst mit dem Vater Verbindende und zugleich von ihm Trennende begriff (er schuldet sich selbst Gott und hat doch die Schuld des Vaters gegenüber Gott zu übernehmen) und die Wechselbeziehung zwischen Gottesverhältnis und Vater-Sohn-Verhältnis in der Nachdichtung der biblischen Geschichte von Abraham und Isaak (Gen 22) darstellte. Kierkegaard reflektierte und schrieb also sich selbst mit seiner Lebensgeschichte in die biblische Geschichte hinein und entdeckte so in ihr die glückliche Wiederholung seines Opfers durch den Glauben. Er verarbeitete seine religiöse Erziehung durch den Vater, indem er religiöser Schriftsteller wurde, dessen Werk zur religiösen Erziehung anderer dient. Die Verdoppelung seiner selbst in Isaak und seines Vaters in Abraham ermöglicht ihm, sich in seiner existentiellen Bestimmtheit durch diesen Vater anzunehmen. So wie er sich selbst in die Vätergeschichte hineinschreibt (Furcht und Zittern), schreibt er sich auch in die Urgeschichte (Der Begriff der Angst) und die Christusgeschichte (Krankheit zum Tode, Einübung im Christentum) hinkrankheit betrachtet (vgl. M.Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/Main 1969, 375 ff. 514) und Geisteskranke gemeinsam mit Verbrechern zum Zweck der Heilung interniert (ebd., 454). Im Sinne des 19. Jahrhunderts läge es nahe, Kierkegaard als geisteskrank anzusehen, weil sein Verständnis von Christsein durch das familiäre Milieu und eine pathologische Konstitution geprägt erscheinen. Wie Foucault gezeigt hat, käme darin aber nur ,die andere Art von Wahnsinn' zum Ausdruck, mit der die Gesellschaft bzw. die in ihr herrschende Vernunft eine Minderheit für .verrückt' erklärt, um sich der Normalität der bürgerlichen Mehrheit zu vergewissern. Kierkegaard re-flektiert genau diesen gesellschaftlich eingelebten und daher verborgenen Wahnsinn, wenn er das Christentum der meisten für eine Mischung von Kindlichkeit und Verbrechen erklärt (vgl. Pap. XI 1 A 124 - TB V, 188). 10 WS 10 - S.V. XIII,501. 11 GWS74 - S.V. XIII,563f. 12 Zu beachten ist, daß die Pseudonyme Victor Eremita (Entweder-Oder) bis Johannes Climacus (Unwissenschaftliche Nachschrift) sich nicht als Christen verstehen, während AntiClimacus (Krankheit zum Tode, Einübung im Christentum) in ausgezeichneter Weise Christ ist, was Kierkegaard selbst nie zu sein beansprucht hat. 13 In der .Unwissenschaftlichen Nachschrift' nennt Kierkegaard seinen verstorbenen Vater den Menschen, dem er am meisten schuldet (UN 843 - S.V. VII, 549). Vgl. auch die religiöse Rede über das Bleiben in der Liebe Schuld, LT 193-225 - S.V. IX, 167-194.

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ein. Die Schuldgeschichte der Väter, bestimmt vom Wiederholungszwang der Schuld, wird erfahrbar als eine durch Gottes lieben Sohn gewendete Geschichte der Versöhnung und glücklichen Wiederholung, in die es durch den Glauben, d. h. durch persönliche Aneigung (die das Geschehene für mich geschehen sein läßt) hineinzukommen gilt. Weil es bei der religiösen Erziehung wesentlich um Aneignung geht, weist Kierkegaard den Anspruch, Lehrer zu sein, beharrlich ab. Gerade dadurch dient sein Werk zur .Erziehung im Christentum', daß sein Verfasser sich konsequent als einer versteht, der erzogen worden ist14.

3. Das Verhältnis zum Vater als religiösem Erzieher Im Rückblick schreibt Kierkegaard über seine Erziehung durch den Vater: „Als Kind ward ich strenge und mit Ernst im Christentum erzogen, menschlich gesprochen, auf wahnsinnige Weise erzogen: bereits in der frühesten Kindheit hatte ich mich verhoben an den Eindrücken, unter denen der schwermütige alte Mann, der sie auf mich gelegt hatte, selber zusammensank - ein Kind, auf wahnsinnige Weise dazu verkleidet ein schwermütiger alter Mann zu sein. Fürchterlich! Was Wunder denn, daß Zeiten kamen, da mir das Christentum vorkam als die unmenschlichste Grausamkeit Spät geborener Sohn eines schwermütigen Vaters, war Kierkegaard in einem Christentum erzogen worden, das mehr von göttlicher Strenge als von göttlicher Liebe bestimmt war und damit ein so tiefes Sündenbewußtsein schuf, daß die kindliche Unmittelbarkeit und Unbefangenheit zerstört wurde 2 . In seinen Tagebüchern erwähnt er öfter, wie der Va14 Vgl. Pap.X 5 Β 207 (Anhang zu: Die Schriften über sich selbst, hrsg. v. E.Hirsch, 143) und die Vorreden zu den religiösen Reden. 1 GWS 75 - S.V. XIII,564. Vgl. Pap.VIII A 663 - TB II,240f.; Pap.IX A 70 - TB 111,16. Mit Bezug auf frühere, aus dem Jahr 1839 stammende Tagebuchaufzeichnungen meint W. Lowrie: „We have reason to believe that during his childhood he did not suffer from melancholy in the strictest sense, but that this malady emerged after the Great Earthquake" (A Short Life of Kierkegaard, Princeton 5. Aufl. 1974, 37). Ich kann diese Annahme jedoch nicht überzeugend finden, zumal andere Texte, in denen Kierkegaard von seiner Kindheit - wenn auch in pseudonymer Verfremdung - erzählt, unmißverständlich die schwermütige Grundstimmung seines Wesens als väterliches Erbe von frühester Kindheit an erscheinen lassen (vgl. z.B. St 210 - S.V. VI,189, und dazu Pap.II A 485 - zit. ebd., Anm.220). Auch Lowrie hält diese Geschichte mit dem Titel ,Die stille Verzweiflung' für autobiographisch (aaO., 53), zieht aber keinen Schluß daraus über die Gemütsverfassung des Kindes. 2 M.Theunissen, Kierkegaards Werk und Wirkung, in: M.Theunissen/W.Greve, Materialien zur Philosophie Seren Kierkegaards, stw 241, Frankfurt/Main 1979, 17. Ähnlich H. Gerdes, Sören Kierkegaard. Leben und Werk, Berlin 1966, 5 f.

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ter ihm Christus vor Augen stellte und dessen Leiden, das Verspottetwerden von der Menge, schilderte. Der Vater sagte dann mit Nachdruck zu ihm: „Siehe zu, daß du Jesum recht liebhaben kannst!"3 Geht man davon aus, „daß die Religiosität des Erwachsenen in hohem Maß von seinen frühkindlichen Erfahrungen geprägt ist"4, dann ist die Religiosität Sören Kierkegaards durch außergewöhnliche frühkindliche Erfahrungen geprägt. Die für ihn entscheidende Beziehung war nicht die zur Mutter, sondern die zum Vater4", die sein weiteres Leben bestimmende Grunderfahrung die Schwermut und nicht das Urvertrauen. Da die Vater-Sohn-Beziehung in diesem Fall einer Großvater-Enkel-Beziehung entspricht - der Vater war 56 Jahre alt, als Sören geboren wurde -, ist sie stark emotional besetzt und tendiert dazu, daß der Sohn sich weitgehend mit dem Vater identifiziert. Als religiöser Erzieher spricht der Vater vor allem die Phantasie und die Einbildungskraft des jungen Sören an und vermittelt ihm ein Gottesbild, dessen wesentliche Kennzeichen das Leiden und die Mißachtung durch die Menge, aber auch die unnachsichtige Bestrafung menschlicher Schuld sind. Dieses Gottesbild wird auch der erwachsene Kierkegaard in seinen Grundzügen festhalten und, veranlaßt durch die Schuld des Vaters, sich später immer wieder in menschliche Schulderfahrungen vertiefen 5 . ' Vgl. A. Paulsen, Sören Kierkegaard. Deuter unserer Existenz, Hamburg 1955, 25 (Pap. IX A 6 8 - T B 111,16). 4 H . J . Fraas, Religiöse Erziehung und Sozialisation im Kindesalter, Göttingen 3. Aufl. 1978, 107. 41 Was insofern ungewöhnlich ist, als die Väter erstmals im 19. Jahrhundert beginnen, ein mehr als nur gelegentliches Interesse an ihren Kindern zu zeigen (so L. de Mäuse, Evolution der Kindheit, in: ders. [Hrsg.], Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, stw 339, Frankfurt/Main 1980, 84). 5 Wenn P.P.Rohde, S.K. in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 7.Aufl. 1969, 8, behauptet, der Vater habe aus Kierkegaard einen Glaubenden gemacht, und ein ganzes Kapitel seiner Biographie mit ,Der Vater - oder der Glaube' (ebd., 8-45) überschreibt, vereinfacht er eine wechselvolle Geschichte zu einer einlinigen Entwicklung. Kierkegaard kam durch den Vater nicht geradewegs zum Glauben, sondern verzweifelte zunächst am Christentum und an der Liebe Gottes, als er entdeckte, daß der Vater mit seiner Schuld nicht fertig wurde. Erst mit des Vaters Tod (1838), den der Sohn als ein letztes Opfer verstand, beginnt die Aneignung des Christlichen, das ihm vom Vater überliefert worden war (vgl. Pap. IX A 71 - TB 111,17). Das väterliche Gottesbild bzw. die Problematik des väterlichen Gottesverhältnisses scheint für Kierkegaards späteres Leben, insbesondere für das Scheitern seiner Liebesbeziehung zu Regine Olsen entscheidend gewesen zu sein. Seine Angst vor allzu großer Nähe zum anderen Geschlecht ist zweifellos eine Angst vor der Möglichkeit, die Schuld des Vaters zu wiederholen bzw. selber Vater zu werden (vgl. Pap. VII A 126 - TB 11,61-63, und St 292 ff. S.V. VI,259ff.), und nicht nur Ausdruck eines Beziehungsverlusts. Wenn man erkannt hat, daß das Schuldproblem des Vaters auch das Problem des Sohnes ist und die Vaterbeziehung alle weiteren Beziehungen Kierkegaards bestimmt, wird man mit der allgemeinen Erklärung seiner Vereinsamung als Beziehungsverlust kaum zufrieden sein können (gegen H. Harsch, Das Schuldproblem in Theologie und Tiefenpsychologie, Heidelberg 1965, 146. 204).

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Betrachtet man den väterlichen Einfluß auf die Religiosität Kierkegaards und seine Auswirkungen auf dessen späteres Leben, dann erscheint das Urteil des Religionspädagogen plausibel, der hier einen Fall extremer Fixierung auf das Uber-Ich des Vaters mit der Folge übertriebener Skrupulosität auf Seiten des Kindes sieht, in dem der Betreffende „sowohl in seinem erotischen Schicksal als auch in seinen religiösen Beziehungen an seiner Vaterproblematik" gescheitert sei6. Aus psychoanalytischer Sicht bestätigt sich dieser Befund. Ihr erscheint der Vater als „begabter Melancholiker, der von religiösen Skrupeln gequält wurde" 7 . Das Leiden des Sohnes habe sich verstärkt durch „seine symbiotische Identifikation mit dem melancholischen Vater" 8 . Im Rahmen einer Theorie .normaler' Religiosität kann Kierkegaard offenbar nicht anders denn als pathologischer Fall erklärt werden 9 . Es fragt sich jedoch, ob eine solche Erklärung, die das singulare und auffällige Phänomen als krankhafte Abweichung von einem allgemein bekannten und anerkannten Maßstab definiert, dem Phänomen selber gerecht wird oder ob der Erklärende sich damit nicht eher dem Wahrheitsanspruch des Besonderen entzieht. Gibt Kierkegaard dem Leser seines schriftstellerischen Werkes nicht mehr zu verstehen als der objektivierenden Betrachtungsweise des Religionspädagogen und der Psychoanalytikerin zugänglich ist? In der T a t hat der kleine Sören, der zwar durch seine körperliche Schwäche und Mißbildung anderen Kindern unterlegen, aber durch seine ungewöhnliche Einbildungs- und Reflexionskraft, die der Vater eigens förderte, ihnen überlegen ist, selber einen angeborenen H a n g zur Schwermut, den die väterliche Erziehung, das Gefühl, anders als die anderen zu sein, und das Vorbild des schwermütigen Vaters bestärkten 10 . Kurz vor dem T o d des Vaters - im Jahre 1838 - erfährt er das Geheimnis der väterlichen Schwermut: als armer Hirtenjunge von zehn Jahren hatte der Vater einst den Gott verflucht, der ihn in seinem Elend sich selbst überließ. Diese Verzweiflungstat der Kindheit hatte der tiefgläubige und schwermütige Mann nie mehr vergessen können 1 1 . In ihr sah er den Grund aller

' So Fraas, Religiöse Erziehung, 182f. 7 E. Weigert, Sören Kierkegaards Gemütsschwankungen, in: A. Mitscherlich (Hrsg.), Psycho-Pathographien des Alltags. Schriftsteller und Psychoanalyse, st 762, Frankfurt/Main 1982, 203. 8 Ebd., 204. ' Zur Unterscheidung zwischen ,normal' und pathologisch' vgl. G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, Ullstein-TB 3317, Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1977. 10 Vgl. dazu und zum folgenden Theunissen, aaO., 16-19, und Paulsen, aaO., 19-31. 11 Vgl. Pap. VII A 5 - TB 11,28. Rohde berichtet außerdem von einer sexuellen Verfehlung des Vaters vor dessen zweiter Ehe (aaO., 24-28), von der der Sohn zumindest andeutungsweise erfahren habe. Die von Rohde zitierten Dokumente können aber seine Vermutungen nur unvollkommen belegen. Lowrie stellt ähnliche Vermutungen an (aaO., 74 ff.),

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folgenden Lebensereignisse, die er als Strafe des zornigen Gottes begriff. Sein schneller Aufstieg zum wohlhabenden Kaufmann, der frühe T o d von fünf seiner sieben Kinder und der T o d seiner zweiten Frau bezeugten ihm die göttliche Bestimmung, als letzter seiner Familie zu sterben. Er gelobt, den jüngsten Sohn Gott als O p f e r darzubringen. Der Sohn übernimmt diese Deutung: „Eine Schuld mußte auf der ganzen Familie liegen, eine Strafe Gottes über ihr sein; sie sollte verschwinden, ausgestrichen werden von Gottes gewaltiger H a n d , ausgelöscht wie ein mißglückter Versuch "12

Kierkegaard hat nun beständig den nahen T o d vor Augen und glaubt, nicht älter als 34 Jahre zu werden. Zweifel an der Wahrheit des Christentums, in dem er erzogen worden ist, führen ihn zur Auflehnung gegen den Vater. Er bricht das Theologiestudium ab, das er auf väterlichen Wunsch hin begonnen hat, beschäftigt sich mit anderen, philosphischen und literarischen Studien und gibt sich einem leichtsinnigen Lebenswandel hin. Schließlich versöhnt er sich wieder mit dem Vater und kehrt zum Christentum zurück. Er versteht nun sein Leben als Buße 13 . Wie eng die Liebe zum Christentum sich bei Kierkegaard mit der Liebe zum Vater verbindet, bekennt er im Rückblick: „So liebte ich das Christentum in gewisser Weise: es war f ü r mich ein Ehrwürdiges - mich hatte es allerdings, menschlich gesprochen, höchst unglücklich gemacht. Das hing zusammen mit dem Verhältnis zu meinem Vater, dem Menschen, den ich am höchsten geliebt - und was will dies sagen? Dazu gehört gerade daß er der ist, der einen unglücklich gemacht hat - aber aus Liebe. Sein Fehler lag nicht in Mangel an Liebe, sondern darin einen alten Mann und ein Kind zu verwechseln." 14 Das Christentum und die Gestalt des Vaters fallen hier nahezu in eins zusammen. Die Beziehungen zum Christentum wie die zum Vater werden jeweils als ein unglückliches Liebesverhältnis verstanden, dessen Preis der Verlust kindlicher Unmittelbarkeit - und damit des M ü t terlich-Weiblichen - ist. „Ich habe keine Unmittelbarkeit gehabt, habe daher, schlecht und recht menschlich verstanden, nicht gelebt; ich habe alsogleich mit Reflexion begonnen .. ,"15 Den Vorzug seiner Erziehung sieht Kierkegaard im Rückblick gerade darin, daß sie ihn dazu befähigte, sich zu vergewissern, „wie selten das Christentum in seiner wahren Gestalt dargestellt wird, wie die, welche es verteidigen, es am öftesten verraten, und wie selten die Angreifer es eigentlich zu treffen wissen, indessen sie . . . o f t ohne daß die von ihm angeführte Tagebucheintragung (Pap. II A 20 - TB 1,115) dafür eine hinreichende Grundlage bietet. 12 Pap. II A 805 - TB 1,221. 13 Vgl. GWS 78. 80 - S. V. XIII, 567f. Zu Kierkegaards religiöser Entwicklung vgl. Gerdes, aaO., 25-35. 14 GWS 76 - S.V. XIII,565. 15 GWS 79 - S.V. XIII,567.

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vortrefflich die bestehende Christenheit zu treffen wissen .. ,"16. Bedingt durch seine Erziehung ist Kierkegaards Verhältnis zum Christentum ein dialektisches Reflexionsverhältnis, in dem er sich als Verteidiger des Christentums und zugleich als Angreifer der bestehenden Christenheit versteht. Nach dem überraschenden T o d des Vaters macht Kierkegaard das theologische Examen und löst damit ein dem Vater gegebenes Versprechen ein. Er verlobt sich mit der siebzehnjährigen Regine Olsen, löst aber die Verlobung elf Monate später wieder auf, ohne jeden f ü r die Gesellschaft und f ü r die Braut selbst ersichtlichen Grund. Seine Schwermut läßt es ihm unmöglich erscheinen, eine Ehe einzugehen, zu der völlige Offenheit erforderlich sei. Weil er sich seiner Verlobten nicht direkt mitteilen kann, sucht er sie von sich abzustoßen, indem er vor ihr - sich selbst verleugnend - die Rolle eines Lebemannes und Betrügers spielt. Seine Identifikation mit dem Vater geht dabei so weit, daß er „sich durch seine Entlobung eine Schuld konstruiert, um von der Schuld des Vaters, die er dadurch übernimmt, abzulenken" 1 7 . Er, der sich davor ängstigt, Vater eines Kindes zu werden 18 , entschließt sich, seine Vaterschaft als Autorschaft zu vollbringen 19 . „Seine Unfähigkeit zur Heirat gibt ihm die letzte Gewißheit, ein besonderer Einzelner zu sein, eine ,Ausnahme' von der Regel des Allgemein-Menschlichen, das er nicht nur als die allgemein gültige, sondern auch als die vom Menschen im allgemeinen erfüllbare ethische Forderung auffaßt." 2 0 Kierkegaard folgt seinem inneren Drang und wird Schriftsteller, Autor dichterischer Werke, um so das Allgemeine auf außerordentliche Weise zu verwirklichen. Die Fähigkeit, seine Gedanken im inneren Dialog zu entwickeln, die er im Gespräch mit dem Vater ausbildete 21 , dient ihm zur D u r c h f ü h r u n g einer neuen schriftstellerischen Form und Mitteilung 22 . Die ,Wirksamkeit als Schriftsteller' wird f ü r ihn das Mittel, sich selber durchsichtig zu werden, die einzige Möglichkeit, die der Schwermütige f ü r sich sieht. „Indem er die in ihm liegenden existentiellen Möglichkeiten dichterisch darstellt, klärt er sie f ü r sich selbst und gewinnt darin eine Distanz zu ihnen, die es ihm ermöglicht, sie abzustreifen oder im persönlichen Da-

" GWS 76 - S.V. XIII,565. 17 Steiger, Väter und Vaterschaft, aaO., 161. 18 Pap.IV A 65 (fehlt in TB). " So Steiger, Väter und Vaterschaft, aaO., 162. 20 Theunissen, aaO., 19. 21 Vgl. De omnibus dubitandum est, 11 Iff. - Pap. IV Β 1,104 ff. 22 Kierkegaards Existenzdialektik ist im Ansatz wie die sokratische eine Dialektik des Gesprächs und nicht wie die hegelsche eine Dialektik der Denkbewegung (vgl. H.Diem, Methode der Kierkegaardforschung, in: ZZ 6 [1928], 141 ff.). Sie zielt ab auf das Selbstgespräch des Existierenden, nicht auf die Einsicht in die Selbstbewegung des Gedankens.

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sein bewußt zu realisieren." 23 Nicht die Darstellung der Existenzmöglichkeiten, sondern ihre Verwirklichung, nicht das Poetische als Selbstzweck, sondern das ,poetische Leben' im Endlichen ist es, worauf es ihm von Anfang an ankommt 2 4 . Kierkegaard verhält sich nun aber im Werk nicht nur als Autor zu seinem Leser, sondern auch als Sohn zu seinem verstorbenen Vater, was schon daran ersichtlich wird, daß er die religiösen Reden zwischen 1843 und 1845 sämtlich seinem Vater widmet. Wie eine Tagebucheintragung belegt, soll dieses Verhältnis eines Lebenden zu einem Toten nicht nur als zufällige persönliche Besonderheit, sondern als wesentlich menschliches Verhalten verstanden werden: „Wenn ein Menschenleben ordentlich anfangen soll, so muß auch erst ein Ende ausgeworfen werden - d. h. es muß ein Verstorbener da sein, der behilflich ist, dieses Leben in Gang zu bringen. Jede Existenz, die nicht einen geliebten Verstorbenen zur Hilfe hat, wird eine unbedeutende oder bloß weltlich große Existenz." 25 Im Gespräch mit seinem Vater findet die Aneignung der Väter statt, bekommt ein Mensch allererst seine Geschichte - diese These bringt Kierkegaard durch sein schriftstellerisches Werk ins Gespräch, indem er sich mit seinem Leser über die Aneigung der Väter unterredet und ihn durch das Kunstmittel indirekter Mitteilung dazu veranlaßt, sich selber seine Väter gesprächsweise anzueignen. Die Stufen dieser Aneignung sind am Pseudonymen Werk und den religiösen Reden ablesbar: in ,Entweder-Oder' geht es um die beiden Grundmöglichkeiten menschlicher Existenz, entweder (ästhetisch) unter der Schuld der Väter zu leiden oder sie (ethisch) zu übernehmen; in ,Furcht und Zittern' wird die Vater-Sohn-Beziehung (religiös) als Opfergang verstanden und der Glaube als Heilmittel gegen die beim Verlust der kindlichen Unmittelbarkeit aufkommende Verzweiflung entdeckt; in ,Der Begriff der Angst' wird das Verhältnis des Einzelnen zu den voraufgehenden Generationen im H o r i z o n t des Erbsündendogmas 23

Theunissen, aaO., 19. Schon in der Magisterarbeit (1841) heißt es: „... was da von der Existenz des Dichters gilt, das gilt in einem gewissen Maße vom Leben eines jeden einzelnen Menschen. Nicht dadurch nämlich, daß er ein Dichtwerk schafft, lebt der Dichter poetisch - denn wenn sein Dichten nicht in einem bewußten und innerlichen Verhältnis zu ihm selber steht, so ist in seinem Leben nicht jene innere Unendlichkeit, welche schlechthin Bedingung dafür ist, daß man poetisch lebe . . . - sondern er lebt erst poetisch, wenn er selbst in der Zeit, in der er lebt, sich zurechtfindet und also in sie eingeordnet ist, positiv frei ist in der Wirklichkeit, der er angehört. Aber daß er auf diese Art poetisch lebt, das kann auch jeder andre einzelne Mensch erreichen" (BI 330 - S.V. XIII,389. Hervorh. von Kierkegaard). 24

25 Pap.VIII A 306 - TB 11,165. Vgl. auch die dem Vater gewidmete Rede ,Αη einem Grabe', in: Erbauliche Reden 1844/45, 173-205 - S.V. V,226-253. In dieser Rede erscheint der Tod als ,Lehrmeister des Ernstes' (178. 205 - S.V. V,230. 252), welcher einen Menschen lehrt, an seinen eigenen Tod bzw. sich selbst tot zu denken (vgl. dazu unten Kap. 18.4 dieser Arbeit).

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verstanden; in den religiösen Reden - vor allem der Rede A n einem Grabe' (1845) und der Rede über ,Der Liebe T u n , eines Verstorbenen zu gedenken' (1847) - k o m m t im Gedenken an den Vater z u r Sprache, was es heißt, eines Verstorbenen zu gedenken. In der ,Unwissenschaftlichen Nachschrift' (1846) hat Kierkegaard erklärt, er verfolge in seinen Schriften die Absicht, „die Urschrift der individuellen, h u m a n e n Existenz-Verhältnisse, das Alte, Bekannte und von den Vätern Uberlieferte solo noch einmal wieder, womöglich auf eine innerlichere Weise zu lesen 26 . Dabei zeigt sich, d a ß das Vaterproblem eigentümlich verschränkt ist mit dem Problem der Mitteilung. D e r durch die Schwermut seines Vaters z u r Ausnahme gewordene Kierkegaard, dessen Versuch, das Allgemeine als E h e m a n n zu verwirklichen, mißlingt, weil er sich seiner z u k ü n f t i g e n Frau nicht mitteilen kann, versucht sich in seiner schwermütigen Verschlossenheit, die er mit dem Vater teilt, zu verstehen. In der alttestamentlichen Geschichte von der O p f e r u n g Isaaks durch Abraham entdeckt er sich selbst wieder im schweigenden Einverständnis mit dem Vater. In den neutestamentlichen Geschichten, die von Begegnungen Jesu mit Besessenen erzählen, erkennt er seine eigene Verschlossenheit wieder als dämonische Angst vor dem Guten. So ermöglichen ihm die biblischen Geschichten, sich über sein Nicht-mitteilen-Können mitzuteilen u n d es als eine Existenzmöglichkeit zu verstehen. V o n daher erweisen sich Erklärungen, die Kierkegaard als pathologischen Fall außerhalb der normalen Religiosität ansiedeln, als bedenkliche Reduktionen. Sie setzen voraus, d a ß nur derjenige, der sich wohlfühlt, als gesunder Mensch in Betracht kommt, und d a ß normale Religiosität mit einer so (im Sinne vollkommenen Wohlbefindens) verstandenen Gesundheit einhergeht. Ein solcher Gesundheitsbegriff, der letztlich auf die Beseitigung aller Krankheiten u n d Leiden abzielt, ist aber theologisch und anthropologisch nicht haltbar, weil er weder der Schuldverfallenheit des Menschengeschlechts u n d der davon bestimmten Sozialität der Krankheit, noch der Polarität des menschlichen Lebens gerecht wird, zu dem stets W o h l b e f i n d e n und Mißbefinden, Gesundheit und Krankheit gehören. Gesundheit läßt sich nicht als Zustand verstehen, in dem Krankheit gänzlich abwesend ist, sondern m u ß als eine Fähigkeit des Menschen, die die Leidensfähigkeit einschließt, angesehen werden. „Gesundheit ist d a n n nicht m e h r die Abwesenheit von Störungen biologischer, psychischer u n d sozialer Art, sondern die Fähigkeit und K r a f t der Person, solche Störungen anzugehen, abzuwehren o d e r mit ihnen so zu leben, d a ß der Mensch dadurch nicht daran gehindert wird, Sinn im Leben zu erfahren und sein Menschsein zu verwirklichen. Krank wäre demnach der Mensch, der unfähig oder auch unwillig ist, das Leben als spannungsvolles Geschehen 26

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zwischen Erleiden und Tun durchzustehen, und damit unfähig ist, Leiden anzugehen, zu ertragen und zu bewältigen." 27 Daß es Kierkegaard gelungen ist, eine unabänderliche Störung seines Wohlbefindens, d.h. die Schwermut in sein Leben zu integrieren, ist ein Zeichen von Gesundheit. Zu dieser Integration verhelfen ihm gerade diejenigen biblischen Geschichten, die von Begegnungen Jesu mit Besessenen erzählen. Indem der Kranke sich selbst in seiner Krankheit religiös versteht, entdeckt er seine eigene schwermütige Verschlossenheit in den von Dämonen Besessenen 28 . Sich selbst religiös verstehen bedeutet in diesem Zusammenhang: sich selbst im Verhältnis zu dem verstehen, der die bösen Geister austreibt, d.h. zu Jesus Christus. Er bringt den dämonisch Verschlossenen dazu, sich unfreiwillig zu offenbaren 2 9 . Als der Erlöser wird er, nach Kierkegaards phänomenaler Einsicht, eben dadurch offenbar, daß er andere dazu erlöst, sich zu offenbaren, wobei die Sprache sich als das Erlösende erweist. Das Dämonische kommt also erst in der Begegnung mit Jesus Christus zum Vorschein; es wird als Ausdruck der Unfreiheit oder der Angst vor der Freiheit 30 erst evident, wenn dem Kranken die Freiheit in Person begegnet 31 . In der kommunikativen Beziehung zwischen Jesus und den Besessenen entdeckt Kierkegaard die für ihn heilsame Möglichkeit indirekter Mitteilung: sowohl die Besessenen teilen sich indirekt mit, denn nicht sie selber, sondern die Dämonen sprechen aus ihnen, als auch Jesus, der die Dämonen anredet und nicht die Besessenen 32 . Die religiöse Erfahrung seiner Krankheit als dämonisch hat Kierkegaard allererst Heilung eröffnet. Diese Einsicht ist m. E. nicht nur von pädagogischer, sondern auch von medizinischer Bedeutung, widerspricht sie doch der gängigen Ansicht, das Religiöse vertiefe nur die Schwermut bzw. bewirke seelische Krankheit 33 . Wenn religiöse Erfahrung dazu verhelfen kann, LeiU . E i b a c h , Gesundheit und Krankheit, in: Z E E 22 (1978), 174f. (Hervorh. von Eibach). Daß darin eine von mythologischen Vorstellungen unabhängige und ernst zu nehmende psychologische Einsicht liegt, betont Harsch, aaO., 54. 29 BA 592 - S . V . IV,392. 30 BA 590 - S . V . I V , 3 9 0 f . 31 BA 585 - S . V . IV,387. 32 Vgl. dazu K. Seybold/U. Müller, Krankheit und Heilung, S t u t t g a r t - B e r l i n - K ö l n - M a i n z 1978, 9 7 f f . , 109 ff. 33 So z . B . P.Kutter, Psychiatrie. Eine Einführung, Kindler-TB 2188, München 1977, 138. 151. In einem autobiographischen Rückblick auf seine religiöse Erziehung, der sich in direkter Rede an den Gott seiner Kindheit wendet, schreibt der Psychoanalytiker T . Moser: „ D u bist in mich eingezogen wie eine schwer heilbare Krankheit . . . " (Gottesvergiftung, Frankf u r t / M a i n 1976, 10), um dann die H o f f n u n g zu bekunden, sich selbst „ein Stück weit von dir heilen zu können" (ebd., 11). O b dieses Vertrauen auf Selbstheilung realistisch ist, sei dahingestellt. An der Diagnose, Religion sei depressionsfördernd und schlechthin seelisch kränkend (neurotisierend), sind jedoch Zweifel angebracht. U. Eibach hat gezeigt, „daß wahrscheinlich weniger die Religion als vielmehr die dem Menschen als Grundphänomen innewohnende Tendenz, sich selbst durch die eigene Leistung zu bestätigen, und die entsprechen27

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den zu bewältigen und ins eigene Menschsein zu integrieren, läßt sich auch die pauschale These, religiöse Erziehung mache einen Menschen schwermütig, nicht aufrechterhalten. Vielmehr wird man prüfen müssen, welche Momente religiöser Erziehung zu (endogenen) Depressionen führen. In welcher Weise Kierkegaard seine - wie er selbst bekennt: wahnsinnige - religiöse Erziehung durch den Vater verarbeitet, wie er sich als religiöser Schriftsteller zu seinem Vater als religiösem Erzieher verhält und dabei seinen Leser veranlaßt, sich im Verhältnis zu Christus zu verstehen, läßt sich an einem Beispiel aus der .Einübung im Christentum' (1848) verdeutlichen. Kierkegaard beschreibt dort, welche Wirkung die Leidensgeschichte Jesu Christi auf ein Kind ausübt, dem diese Geschichte zum ersten Mal erzählt wird 34 . Ein Kind, dem man verschiedene Bilder von weltgeschichtlichen Heldenfiguren (Napoleon, Wilhelm Teil) zeigt, unter denen auch eine Darstellung des Gekreuzigten ist, wird zunächst „befangen werden und sich wohl eigentlich darüber wundern, wie du darauf gekommen seist, ihm ein solches häßliches Bild unter all den andern schönen zu zeigen" 35 . Das Kind wird wißbegierig fragen, wer auf dem Bild abgebildet sei und was er getan habe. „Erzähle dem Kinde dann, daß dieser Gekreuzigte der Heiland der Welt sei. Damit wird aber das Kind keine rechte Vorstellung verbinden können; erzähle ihm deshalb nur, daß dieser Gekreuzigte der liebevollste Mensch gewesen sei, der je gelebt habe." 36 Wenn ein Erwachsener dies einem Kind zum ersten Mal erzähle, stehe er als Sünder und Ankläger vor ihm, der sich selbst und das ganze Menschengeschlecht anklage. Das Kind wird daraufhin fragen, warum man so schlecht gegen jenen Menschen war. Der Erwachsene soll ihm dann die Geschichte des Lebens, Leidens und Sterbens Jesu Christi erzählen. „Erzähle all das dem Kinde recht lebendig, als hättest du es selber noch nie gehört oder erzählt; erzähle es, als hättest du selber all dies erdichtet, aber vergiß keine Einzelheit, die uns überliefert ist, doch darfst du gern beim Erzählen Verden moralischen und sozialen Forderungen depressionsfördernd sind" (Depression und Glaube, in: PTh 72 [1983], 10). Mit Recht wendet sich auch Harsch gegen das Vorurteil, christlicher Glaube sei neurotisch oder neurotisierend, und fordert, „lebendigen und erstarrten Glauben voneinander zu unterscheiden" (aaO., 178). 34 Ε 231-236 - S.V.XII, 197-202. Vgl. Pap. IX A 395 - TB III, 107 (zit. bei Rohde, aaO., 14) und: Darf ein Mensch sich für die Wahrheit totschlagen lassen?, in: Einübung im Christentum und anderes, hrsg. von H.Diem/W.Rest, 335f. - S.V. IX,71 f. Mit Bezug auf die in der .Einübung' ausführlich erzählte Geschichte meint Th. Kampmann: „Was Kierkegaard vorschwebt, ist eine in der frühen Kindheit einsetzende und durch das Leben hindurch sich fortsetzende Erziehung auf Christus hin" (Kierkegaard als religiöser Erzieher, Paderborn 1949, 47). Die Erzählung stellt jedoch kein allgemein gültiges pädagogisches Ideal dar, sondern schildert nur, was ein starker Eindruck bei einem Menschen zu bewirken vermag. " Ε 232 - S.V. XII, 198. " Ε 233 - S.V. XII, 199.

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gessen, daß uns all das überliefert ist."37 Erzählt man weiter von der Auferstehung des Gekreuzigten, so wird das Kind dies zuerst völlig überhören, weil es ganz von der Erzählung des Leidens beeindruckt ist. Es wird die anderen Bilder vergessen und sich darüber wundern, daß Gott nicht alles getan hat, um das Geschehene zu verhindern. Nach längerem Nachdenken würde das Kind beschließen, alle gottlosen Menschen totzuschlagen, die so mit dem Liebevollen gehandelt hätten. Zum Jüngling geworden, würde er einsehen, daß seine Absicht sich nicht verwirklichen ließe, aber gleichwohl gegen die Welt streiten wollen. Wäre er noch älter und reif geworden, so wollte er nur noch eines: annäherungsweise so leiden, wie Christus in der Welt gelitten hat. Wen der Anblick des Erniedrigten derart bewege, der werde Christ, der liebe Christus und erkenne, daß Christus gelitten hat, weil er die Liebe war 38 . Kierkegaard will seinen (erwachsenen) Leser veranlassen, sich vom Anblick des Erniedrigten zur Nachfolge im Leiden bewegen zu lassen. Weil der Leser jedoch befangen ist in einem „gewohnheitsmäßigen Wissen" 39 , soll er sich ein Kind vorstellen, das die Erzählung vom Leiden und Sterben Jesu Christi zum ersten Mal hört. Der Leser wird nun nicht etwa dazu aufgefordert, sich mit diesem Kind zu identifizieren, sondern als Erwachsener angeredet, der dem Kind die Leidensgeschichte erzählen soll. So als ob er sie selber erfunden habe, als eine mögliche Geschichte, soll der Leser sie erzählen. Der Autor (Kierkegaard) entwirft vor ihm als Möglichkeit, was er selber erfahren hat, als sein Vater ihm das Bild des leidenden und von der Menge verspotteten Christus vor Augen führte. D. h. er läßt seine eigene Geschichte mit dem Bild des Erniedrigten zu einer Existenzmöglichkeit des Lesers werden, damit dieser die Erfahrung darüber macht, wie einer vom Anblick des Erniedrigten bewegt werden kann. Am Schluß der Beispielerzählung wird der Leser direkt angesprochen: „So kann also der Anblick des Erniedrigten bewegen - kann er dich nicht auch so bewegen?"40 Indem der Autor sich als Kind zum Leser verhält, der Erzähler also dem Erzählten gleich wird - was freilich, wie schon der junge Kierkegaard erkannte, nur derjenige Erzähler vermag, der es „versteht, Kind sein zu können" 41 - , verhilft er dem Leser zur Möglichkeit, Vater bzw. Erzähler zu werden. Erzählend wiederholt der Autor sein Kindsein und gewinnt so im Leser den Vater wieder. Erzählend kann der Leser die Wahrheit einholen, die der Autor ihm in der Rolle des Kindes zu verstehen gibt: daß nämlich 37

Ε 234 - S.V. XII,200. Vgl. Ε 236f. - S.V. XII,201 f. " Ε 231 - S.V. XII, 197. 40 Ε 236 - S.V. XII,202. 41 Uber die Kunst, Kindern Geschichten zu erzählen (1837), in: Erstlingsschriften, hrsg. von E.Hirsch, 142 - Pap.II A 12, p. 10. 38

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der Erwachsene als Sünder vor dem Kind dasteht, wenn er ihm das Bild des Erniedrigten zeigt und die Leidensgeschichte vergegenwärtigt. Entscheidend ist f ü r Kierkegaard nicht, daß dem Leser ein bestimmtes Christusbild vermittelt wird, sondern daß der Leser sich selbst in seinem Verhältnis zu Christus versteht. Der Autor will nicht primär sein Christusbild bzw. das seines Vaters vermitteln (obschon er dies auch tut), sondern auf das Bewegtwerden von diesem Bild aufmerksam machen, indem er sich zugleich zum Leser (als dem zu Bewegenden) wie zu sich selbst (als Bewegten) verhält und sich in der Rolle des Kindes dem zu bewegenden Leser angleicht. Wie wir gesehen haben, ist das Verhältnis zum Vater als religiösem Erzieher f ü r die schriftstellerische Wirksamkeit Sören Kierkegaards von entscheidender Bedeutung. Die Schwermut und die von einem starken Sündenbewußtsein bestimmt Religiosität des Vaters prägen auch den Sohn, der wie der Vater sein eigenes Leben und das der Familie f ü r vom Fluch der väterlichen Schuld gezeichnet hält. Das Bild des leidenden Christus, an dem sich die Mißachtung der Liebe Gottes in der Welt erweist, und die Liebe zu diesem leidenden Christus wird der Sohn vom Vater übernehmen. Die Erklärung, Kierkegaards Leiden sei lediglich durch seine Identifikation mit dem Vater bzw. durch seine Fixierung auf das väterliche Uber-Ich verursacht, greift allerdings zu kurz. Denn sosehr sich f ü r Kierkegaard das Christentum mit der Gestalt des Vaters verbindet, sowenig ist sein Werk bloßer Reflex einer intensiven Vaterbindung. Sein ungewöhnliches, dialektisch-reflektiertes Verhältnis zum Christentum ist zwar durch den erzieherischen Einfluß des Vaters bedingt, die Wahrheitsfrage des Christentums jedoch, die ihn so leidenschaftlich interessiert, wie auch der eigentümliche Versuch, die Wahrheitsfrage als .Dichter des Religiösen' zu stellen, lassen sich aus der Beziehung zum Vater nicht erklären. Die Wirksamkeit als religiöser Schriftsteller ist vielmehr die Form, in der Kierkegaard seine eigene Vaterschaft vollbringt und in der er sich als Sohn zu seinem verstorbenen Vater verhält. Die Aneignung der Väter vollzieht sich im Gespräch mit dem Leser und in der Verinnerlichung der von den biblisch-christlichen Vätern überlieferten Geschichten, die hinführen zur Geschichte des Menschensohns. Sie ermöglichen es Kierkegaard, das väterliche Erbe seiner schwermütigen Verschlossenheit als eigene Existenzmöglichkeit zu verstehen und mitzuteilen. Die pädagogische Absicht, die er mit seinem schriftstellerischen Werk verfolgt, geht aber über die Verarbeitung seiner individuellen Vaterproblematik insofern hinaus, als Kierkegaard dadurch, daß er sich (als Dichter) mitteilt, zugleich dem Leser etwas über sich mitteilt, nämlich eine Existenzmöglichkeit, zu der er sich so oder so verhalten kann. Alle im Werk eröffneten Existenzmöglichkeiten zielen letztlich darauf ab, daß der Leser sich selbst in seinem Verhältnis zu Christus versteht. Daraus ergibt sich

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eine schwerwiegende Konsequenz für den Interpreten. Wir hätten dann nämlich Kierkegaards pädagogische Absicht solange nicht verstanden, wie wir uns ausschließlich auf seine Vaterproblematik konzentrieren und nicht erkennen, daß es eigentlich darum geht, mit dem Autor Kierkegaard ins Gespräch über unser Existenzproblem als Christen zu kommen. Nicht seine Erziehung durch den Vater steht dann in Frage, sondern dies, ob wir in unserem Christsein ohne seine Vaterschaft auskommen können bzw. ob er uns denn schon zu einem Vater im Glauben geworden ist. Kierkegaard diagnostizierte seiner Zeit schlichtweg Mangel an religiöser Erziehung 42 . Ob dieses Urteil auch unserer Zeit gilt oder ob wir - wie es heute in Volkskirche und Gesellschaft vielfach herrschende Meinung ist - in religiöser Hinsicht keine Erziehung mehr nötig haben, ist zumindest eine offene Frage. Im folgenden wird es darauf ankommen, sie festzuhalten und die grundlegenden Bestimmungen religiöser Erziehung bei Kierkegaard im Bewußtsein dessen herauszuarbeiten, daß wir von ihm - und nicht allein er von uns - gefragt sind, wie es mit unserer religiösen Erziehung steht.

4. Religiöse Erziehung im Spannungsverhältnis zwischen humaner und christlicher Existenz Kierkegaard verarbeitete, so sagten wir, seine religiöse Erziehung durch den Vater, indem er religiöser Schriftsteller wurde, dessen Werk zur religiösen Erziehung anderer dient. Unglücklich im Christentum erzogen, lehrt er seine Zeitgenossen, die sich für Christen halten, was es heißt, Christ zu sein, indem er selbst ein Lernender auf dem Weg des Christwerdens wird. In diesem Zusammenhang entdeckt Kierkegaard, daß alle religiöse Erziehung nur darauf aufmerksam machen kann, daß ein Mensch lernen müsse, als Einzelner zu existieren; nur indem er dies lerne, könne er auch lernen, Christ zu werden. Der religiöse Erzieher (der in diesem Fall als religiöser Schriftsteller wirkt) kann also nur zeigen, daß es auf die persönliche Aneignung (den Glauben) ankommt; er kann aber dem educandus deren Vollzug nicht abnehmen. Grundsätzlich gilt: niemand kann die ihm durch sein Dasein gestellte Aufgabe, zu existieren (d.h. sich verstehend zu sich selbst verhalten), einem anderen abnehmen, da jedem seine Existenz für sich aufgegeben ist. Insofern ist menschliche Existenz ursprünglich ethisch bestimmt, d.h. der Selbstbestimmung des Einzelnen überantwortet. Aber auch der christliche Glaube bleibt ethisch bestimmt, sofern er stets Auf42

Vgl. GWS 74 - S.V. XIII,563.

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gäbe des Existierens bleibt 1 . Keiner kann dem anderen den Selbstvollzug des Existierens oder die Realisierung des christlichen Glaubens im Existieren abnehmen; jedoch kann einer dem anderen indirekt mitteilen, daß es eben auf das Existieren ankommt, indem er ihm mögliche Existenzweisen gegenüberstellt und durch den Dialog möglicher Existenzweisen an ihn appelliert, sich zu einer solchen zu entscheiden und sie existierend zu verwirklichen. Dies ist das Entscheidende, das ein Mensch dem anderen mitteilen kann: er kann ihn dazu veranlassen, „seine ganze Aufmerksamkeit darauf (zu) richten, daß er existierend ist" 2 . Da jeder Mensch wesentlich dadurch bestimmt ist, existierend zu sein, sich verstehend zu sich selbst zu verhalten, ist und bleibt das Ethische „die höchste Aufgabe, die jedem Menschen gestellt ist" 3 , weil sie ihn vor sich selbst bringt. „Um das Ethische zu studieren, ist jeder Mensch auf sich selbst angewiesen. Er selbst ist sich in dieser Hinsicht mehr als genug, ja, er ist der einzige Ort, wo er es mit Sicherheit studieren kann." 4 Im Existenzbereich des humanen Selbstverständnisses (als dessen Inbegriff Sokrates erscheint), der vom Ästhetischen bis zur Religiosität Α in den .Philosophischen Brosamen' reicht, gilt die Voraussetzung, daß jeder Mensch um die Wahrheit seiner Existenz weiß und daher imstande ist, existierend sich selbst zu verwirklichen. Im Existenzbereich des christlichen Selbstverständnisses, der mit der Religiosität Β beginnt und in den AntiClimacus-Schriften (Die Krankheit zum Tode, Einübung im Christentum) endet, gilt dagegen die Voraussetzung, daß kein Mensch um die Wahrheit seiner Existenz weiß, weil er in der Unwahrheit (Sünde) existiert und der Bedingung bedarf, die es ihm allererst ermöglicht, existierend sich selbst zu verwirklichen. Diese Bedingung, die Mitteilung der Wahrheit, vermag nur Jesus Christus ihm zu geben. Innerhalb des Christlichen geht es nun aber übereinstimmend mit dem Humanen darum, zu existieren, wenngleich erst vom Christlichen her das H u m a n e als Existenzproblem durchsichtig wird. D. h. über Wahrheit und Unwahrheit des Humanen entschei1

Vgl. dazu H.Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, Frankfurt/Main 1968, 54-59. Das Ethische ist also primär Aufgabe des Existierens und nicht Gegenstand einer Theorie. F. Hauschildt, Die Ethik S0ren Kierkegaards, Gütersloh 1982, will demgegenüber Kierkegaards ethische Theorie rekonstruieren, um sie als fundamental für dessen Deutung des Christentums zu erweisen (vgl. ebd., 14. 239). Da Hauschildt Kierkegaards Ethik ideengeschichtlich betrachtet, erscheint ihm die Theorie über das Ethische als das Bestimmende, wogegen das Ethische bei Kierkegaard eine Weise des Sich-in Existenz- Verstehens bezeichnet, die im Nachhinein in theoretischen Reflexionen bestimmt wird. Wenn Kierkegaard das Christliche ethisch versteht, dann nicht aufgrund einer vorgängigen ethischen Theorie, sondern aufgrund des Glaubens, der sich auf eine Existenzmitteilung gründet und dessen Wahrheit im Existieren allererst zum Vorschein kommt. 2 U N 254 - S.V. VII,99. 3 U N 286 - S.V. VII, 125. 4 U N 274 - S.V. VII, 115.

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det nicht ein vorgängiges Wissen, sondern der Vollzug des Existierens zu dieser erst post Christum natum möglichen Einsicht 4 " gelangt ein Mensch nur, indem er als Christ existiert bzw. sich existierend zu Christus verhält. Der Unterschied zwischen dem Christlichen und dem H u m a n e n besteht darin, daß im H u m a n e n vorausgesetzt wird, jeder könne existierend sich selbst verwirklichen, sofern er nur sich selbst verstehe, während im Christlichen das Selbstverhältnis durch Christus vermittelt ist, so daß das Sich-selbst-Verstehen in Wahrheit allererst einzuholen ist 5 . Erst wenn einer sich als Sünder versteht, kann er sich selbst verstehen. Die Voraussetzung des H u m a n e n beruht somit auf Unwissenheit des natürlichen Menschen: der natürliche Mensch weiß nicht, was Sünde ist, weil er in der Sünde lebt; er rechnet nicht damit, daß der Mensch das Gute nicht verstehen und nicht tun will 6 . So kann der religiöse Erzieher zwar wie im Bereich des H u m a n e n durch indirekte Mitteilung jeden auf die Aufgabe des Existierens (das Ethische) aufmerksam machen, jedoch nicht voraussetzen, jeder wisse als Christ schon so wie als Mensch überhaupt um die Wahrheit seiner Existenz. Was der natürliche Mensch f ü r den Inbegriff des Menschseins hält, nämlich das Vermögen, das Gute, das man erkannt hat, auch zu tun, ist christlich verstanden nur der Schein des Menschlichen (das Ästhetische). Das Sündenbewußtsein als conditio sine qua non christlicher Existenz kann der religiöse Erzieher nicht mitteilen, sondern nur (dogmatisch) voraussetzen. Er setzt voraus, daß nicht er selbst, sondern Christus dem educandus die Bedingung d a f ü r mitteilt, existierend sich selbst verwirklichen zu können. Die dogmatische Bestimmung Sünde ist also nötig, a) um den Sinn religiöser Erziehung in bezug auf den christlichen Glauben zu ermitteln, und b) um zwischen Erziehung im Bereich des H u m a n e n und im Bereich des Christlichen zu unterscheiden. Der Grenzbegriff, der das H u m a n e und das Christliche miteinander verbindet und zugleich voneinander scheidet,

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Wenn M. Heidegger schreibt: „Das ,Wesen' des Daseins liegt in seiner Existenz" (Sein und Zeit, Tübingen 13. Aufl. 1976, 42), so bringt er nur diese Einsicht auf den Begriff, d.h. er bestimmt den Menschen existential als Dasein, das sich zu seinem Sein (Existenz) verhält (vgl. ebd., 12), ohne auf den Glauben als existentiellen Vollzug zu reflektieren. Die Tatsache, daß Heideggers Existentialien zum größten Teil aus Kierkegaards Schriften und Reden gewonnen sind, kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß Heidegger im Unterschied zu Kierkegaard streng innerhalb des Humanen denkt, sofern er das Wissen um die allgemeine Struktur von Existenz als Möglichkeitsbedingung des Existierens versteht. 5 Vgl. KzT 126 - S.V. XI,202 (Etwas in Wahrheit verstehen heißt, es in seinem Leben ausdrücken). Ahnlich Ε 266 - S.V. XII,228 („... nur dann erkenne ich die Wahrheit in Wahrheit, wenn sie in mir ein Leben wird"). Zu dieser Bestimmung von Wahrheit gelangt Kierkegaard dadurch, daß er johannäisch Christi Leben als Wahrheit versteht und auslegt (vgl. Ε 262ff. - S.V. XII,225ff.). < Vgl. KzT 125. 131 - S.V. IX,201. 205f.

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ist der Begriff des Religiösen 7 . Religiosität kann human verstanden werden als die Erfahrung des Absurden, kraft dessen das Ethische bzw. Allgemeine aufgehoben wird 8 , und markiert dann die Grenze menschlicher Selbstverwirklichung durch Selbsterkenntnis. Religiosität kann aber auch christlich verstanden werden als die Erfahrung des absoluten Paradox' (Gott als Mensch in der Zeit), an welchem der Verstand sich ärgert oder die Möglichkeit des Ärgernisses durch den Glauben (daß Gott in Christus Mensch geworden sei) überwindet 9 , und markiert dann die Grenze menschlicher Selbstverwirklichung durch Sündenerkenntnis (derzufolge das Ärgernis sich als Sünde des .gesunden' Menschenverstands erweist). Erziehung im Bereich des Humanen geht allemal aus von menschlicher Selbsterkenntnis9*, für die das Allgemeine (was man jeweils unter Menschsein versteht, d. h. das Menschliche als Verallgemeinerung einer Selbstdefinition) der höchste Maßstab und das Ziel ist. Erziehung im Bereich des Christlichen jedoch geht aus von der Sündenerkenntnis, für die das eminent Besondere bzw. das concretissimum maßgeblich ist, daß Gott in einem Einzelnen, Jesus Christus, Mensch geworden, das Menschliche also an dieser Selbstmitteilung Gottes ablesbar sei10. Wird das Menschliche des Menschen erst durch die Selbstmitteilung Gottes erkennbar, gibt Gott sich selbst in diesem einen Menschen zu erkennen, dann erweist sich an diesem concretissimum das, was Menschen im allgemeinen sonst für das Menschliche halten, als bloße Verallgemeinerung einer Selbstdefinitinon, die sie gerade davon abhält, selber in Wahrheit Mensch zu werden, d. h. ihre faktische Existenz als dieser Einzelne unter der Bedingung der Sünde zu wiederholen. Was Menschsein ausmacht, ist dann gar nicht allgemeingültig

7 Vgl. dazu Kierkegaards Unterscheidung zwischen einer .Religiosität der Immanenz' ( U N 781 - S.V. VII,501) und der .paradoxen Religiosität' ( U N 760 - S.V. VII,486), deren Paradox sich wesentlich zum Menschsein verhält (vgl. U N 772 - S.V. VII,494). » Vgl. FuZ 237ff. - S.V. III, 104ff. ' Vgl. PhB 61 ff. - S.V. IV,215 ff. ,a W. Flitner, Art. Erziehung, in: RGG 3. Aufl., Bd. II, Sp. 634, weist darauf hin, daß „in jeden pädagogischen Akt eine Auslegung der menschlichen Bestimmung (eingeht)." Insofern läßt sich Erziehung als ein personales, auf die Menschwerdung des Menschen bzw. die Verwirklichung seiner Personalität abzielendes Geschehen verstehen (so I.Bock, Kommunikation und Erziehung, Darmstadt 1978, 7. 25), in dem jeweils neu das Menschsein bzw. die Person von Erzieher und educandus auf dem Spiel steht. Das fundamentale (theologische) Problem solcher humaner Pädagogik besteht darin, was einen Menschen als Person konstituiert. Ist ein Mensch vermöge seiner Subjektivität bzw. seines Selbstbewußtseins Person oder vermöge der Relation coram deo, in der er sich selbst als Sünder erkennt? Darüber ist zwischen Pädagogik und Theologie zu streiten. 10 Vgl. PhB 59f. - S. V. IV,214f. Daß Gott vom Menschen absolut verschieden ist, hat seinen Grund in dem, was der Mensch sich selbst schuldig ist, d. h. in der Sünde des Menschen. Das Bewußtsein seiner Sünde ist es, das ihn vor Gott erst der Wahrheit seines Menschseins innewerden läßt. Mensch sein heißt in Wahrheit Sünder sein. Eben dies wird dem Menschen dadurch bewußt, daß Gott Mensch wird.

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aussagbar, sondern erst noch am Besonderen zu entdecken, und zwar dadurch, daß jeder vor Gott als ein Einzelner existiert, existierend das Allgemeine auszudrücken versucht (ethisches Stadium), daran scheitert (religiöses Stadium) und sich selbst neu zurückbekommt in der glücklichen Wiederholung des Glaubens. Das Humane ist in Christus zwar schon erfüllt, steht aber für jeden Einzelnen als Verheißung noch aus, die angeeignet (geglaubt) sein will11. Die im Humanen erstrebte Selbstverwirklichung gelingt daher nicht vermittels menschlicher Selbsterkenntnis, wohl aber gelingt sie in Christus, in dem ich mich als (auf Vergebung angewiesener) gerechtfertigter Sünder erkenne und an mir selbst Möglichkeiten humaner Existenz entdecke. Kierkegaard setzt Sünde näherhin als eine Bestimmung der Predigt, d. h. der kirchlichen Verkündigung voraus, „wo der Einzelne als der Einzelne zum Einzelnen spricht" 12 . In der Predigt wird der Einzelne auf Glauben hin angesprochen 13 . Er soll glauben, daß ihm um Christi willen seine Sünden vergeben sind, und nicht an der Vergebung der Sünden verzweifeln 14 . An die Vergebung der Sünden glauben heißt aber, sich selbst als Sünder verstehen, d. h. als Mensch, der vor Gott verzweifelt er selbst oder nicht er selbst sein will15. Sich selbst verwirklichen kann darum christlich nur bedeuten, an sich selbst verzweifeln. Eben dies ist im Bereich des Humanen undenkbar, weil Selbstverwirklichung im Bereich des Humanen an das menschliche Selbst gebunden ist. „Der Heide und der natürliche Mensch haben nur das menschliche Selbst als Maßstab." 16 Daß es dem Menschen immer um sich selbst geht, ist der Grund-Satz menschlicher (humaner) Selbsterkenntnis und zugleich der Grund-Satz christlicher Sündenerkenntnis 17 . Doch was im einen Fall als ,Natur des Menschen' ver11 In diesem Sinn gründet K. Barth die Anthropologie auf die Christologie und kehrt damit den üblichen Erkenntnisweg um, indem er zunächst nach diesem einen Menschen und sodann nach dem Menschen im allgemeinen fragt (vgl. K D 111/2,50 f.). Die Existenz des Menschen Jesus wird so bei Barth zum Kriterium aller anthropologischen Aussagen (vgl. ebd., 53). 12 BA 455 - S.V. IV,288. K.Barth hat in seiner .Christlichen Dogmatik im Entwurf' (München 1927) die Predigt ganz im Sinne Kierkegaards definiert, wenn er schreibt, nicht der Mensch als Publikum höre in der Predigt von Gott, sondern der Mensch als Einzelner (ebd., 66). „Die Predigt wendet sich an den Menschen in seinem Verhältnis zu Gott, sie trifft ihn ... an den Grenzen oder wenn man will: im Zentrum seiner Humanität, in seiner nackten Menschlichkeit, in jener völligen Einsamkeit vor Gott, deren notwendiges Korrelat eben nur die Gemeinschaft der Kirche sein kann" (ebd. 66 f. Hervorh. von Barth). 13 Der Erzieher ist also kein Verkündiger, wie man es in der Evangelischen Unterweisung fälschlich angenommen hat, sondern genauso wie der educandus Hörer der Verkündigung. 14 Vgl. KzT 156f. - S.V. XI,225f. 15 Vgl. KzT 114 - S.V. IX,193. " KzT 114 - S.V. IX, 193. 17 Deswegen bestimmt Luther den Menschen als ,homo incurvatus in se ipse', der im Glauben allererst aus sich herausgeht (exire de se ipso) (vgl. WA 1,140).

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Im S p a n n u n g s v e r h ä l t n i s zwischen h u m a n e r u n d christlicher Existenz

allgemeinert wird, das wird im anderen Fall als ,Sünde Adams' bestimmt. In seiner Schrift über den .Begriff der Angst' (1844), die das dogmatische Problem der Erbsünde behandelt, zeigt Kierkegaard, daß die Sünde Adams zugleich die des Einzelnen und des Geschlechts (des unbestimmten Allgemeinen) ist. Jeder Einzelne ist in seinem Dasein als Mensch durch den Widerspruch bestimmt, daß die Sünde des Geschlechts (der Menschheit) durch einen Menschen in die Welt kommt 18 . Das Allgemeine erhält seine entscheidende Bestimmung durch das Besondere, d. h. jeder Mensch ist dadurch, daß er ins Dasein kommt, als besonderes Allgemeines bestimmt, ein existierender Widerspruch, den keine menschliche Selbstdefinition (mithin keine Definition des Humanen) zu lösen vermag. Das Wesentliche in der menschlichen Existenz besteht darin, daß „der Mensch Individuum ist und als solches zugleich er selbst und das ganze Geschlecht, und zwar in der Weise, daß das ganze Geschlecht am Individuum und das Individuum am ganzen Geschlecht partizipiert ... In jedem Augenblick verhält es sich so, daß das Individuum es selbst und das Geschlecht ist. Das ist die Vollkommenheit des Menschen als Zustand gesehen. Zugleich ist es ein Widerspruch; ein Widerspruch aber ist stets Ausdruck für eine Aufgabe .. ,"19 Jedem Menschen ist es aufgegeben, existie-

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Vgl. BA 472-479 - S.V. IV,302-307. " BA 470f. - S.V. IV,300f. D a ß die Sünde durch eine Sünde in die Welt k o m m t und jeder Mensch zugleich er selbst und das Geschlecht ist, sind die beiden fundamentalen Bestimmungen f ü r Kierkegaards Interpretation der Erbsündenlehre. So gelingt es ihm, jene .Dialektik von Bestimmtheit durch Sünde und Selbstbestimmung zur Sünde' (G. Freund) zu denken, die die aufgeklärte Kritik des Begriffs .Erbsünde' gewöhnlich übersieht, wenn sie nur die Seite der Bestimmtheit erfaßt (vgl. G. Freund, Sünde im Erbe. Erfahrungsinhalt und Sinn der Erbsündenlehre, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1979, 10). Die ,als Geschichte total erfaßte Wirklichkeit der Sünde', die das Christentum als Erbsünde bezeichnet, kann - wie Freund im Anschluß an Kierkegaard zeigt - nur verstanden werden, wenn man die Dialektik des geschichtlichen Verhältnisses (jeder Mensch ist zugleich bestimmt durch die Menschheit und sich selbst bestimmendes Individuum) festhält. W o diese Dialektik mißachtet wird, „zerreißt der Begriff .Erbsünde' und verliert sich entweder an eine Sünde ohne Erbe (Adams Sünde) oder an ein Erbe ohne Sünde (die Sünde der N a c h k o m m e n Adams)" (ebd., 194 Anm.6. H e r vorh. von Freund). Vielmehr gilt es, Erbsünde als Sünde im Erbe zu denken (vgl. ebd., 156ff.). Alle Menschen haben Schuld im Erbe, bevor sie durch sich selbst schuldig werden (ebd., 172). Insofern ist alle Sünde Erb-Sünde (ebd., 173; vgl. Röm 5,12ff.). Adams Nachkommen gelangen zum tiefsten Verständnis ihrer Sünde, indem sie sich zurückerinnern in den Anfang der Sünde in Adam (ebd., 178). Doch erst der T o d Christi spricht allen M e n schen das Erbe Adams als selbstverschuldete Vergangenheit zu, indem er ihnen als den Schuldigen das Leben Christi zuspricht (ebd., 189). In der Befreiung zum Leben liegt die Bedingung der Möglichkeit, sich zur Sünde als dem selbstverschuldeten Erbe zu verhalten und es ineins mit dem Erbe Christi, der glücklichen Gotteskindschaft, zu übernehmen (ebd., 189 f.). W. Pannenberg geht davon aus, d a ß Kierkegaard den SUndenfall existential „im Sinne einer in jedem Menschenleben sich wiederholenden Geschichte des Menschen schlechthin" interpretiert (Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 99). Nach seiner

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rend eine Geschichte und darin Anteil an der Geschichte der Menschheit zu bekommen. In seiner individuellen Geschichte wiederholt der Einzelne die Geschichte des Geschlechts. Er wird Mensch, indem er das Allgmeine verwirklicht und sich in die Schuld seiner Väter vertieft. Daß die Sünde ihren Ursprung hat in der Angst des Menschen vor der Möglichkeit der Freiheit 20 , daß die Angst vor der Sünde die Sünde allererst hervorbringt 21 und das Individuum schuldig wird aus Angst davor, für schuldig gehalten zu werden 22 - dies alles kann hier nur angedeutet werden. Bedeutsam für das Verhältnis des Humanen und des Christlichen im Zusammenhang religiöser Erziehung ist zunächst, daß Kierkegaard die Angst als Grundbefindlichkeit des unerlösten Menschen versteht. Angst wird bestimmt einmal als Verhältnis des Geistes zu sich selbst und zu dem ihn bedingenden Verhältnis von Leib und Seele23, zum anderen als Verhältnis der Freiheit zur Schuld 24 . Angst haben und schuldig werden zu können erscheinen als spezifisch menschliches Vermögen 25 . Jeder Mensch, so heißt es im abschließenden Kapitel des .Begriffs der Angst', müsse lernen, Angst zu haben, „damit er nicht verloren sei, entweder dadurch, daß ihm nie angst gewesen ist, oder dadurch, daß er in der Angst versinkt; wer daher gelernt hat, auf die rechte Weise Angst zu haben, der hat das Höchste gelernt" 26 . „Wer durch die Angst gebildet wird, der wird durch die Möglichkeit gebildet, und erst wer durch die Möglichkeit gebildet wird, wird nach seiner Unendlichkeit gebildet." 27 Was nun den Menschen allein in dieser Weise zu bilden vermag, ist der Glaube, d. h. „die innere Gewiß-

Ansicht ist es Kierkegaard nicht gelungen, den Ursprung der Sünde durch die .Zwischenbestimmung' Angst zu erklären, da die Angst bereits Ausdruck der Sünde sei (ebd., 100. 128). Kierkegaard habe lediglich Auswirkungen der Sünde im Selbstbewußtsein beschrieben (ebd., 101. 128) und die Sünde nur scheinbar auf eine ursprüngliche Tat der Freiheit zurückführen können (ebd., 128). Zu diesem Urteil gelangt Pannenberg, weil er das Selbstische, das Kierkegaard als Wesen der Angst versteht, mit der Sünde identifiziert (ebd., 99 Anm.68). Sein Ziel ist es, so die Allgemeinheit der Sünde empirisch aufzuweisen (ebd., 134), die zugleich „im Lichte der in Jesus Christus offenbaren Bestimmung des Menschen" (ebd., 135) erkannt wird. Die biblische Offenbarung bestätigt also nur, was sich empirisch aufweisen läßt. Damit subsumiert Pannenberg das Besondere unter das vorgängig erkannte Allgemeine, während die Offenbarung gerade ein Erkennen des Allgemeinen am Besonderen ermöglicht, das den Horizont empirischer Erkenntnis überschreitet. Kierkegaards psychologische Erklärung setzt dogmatisch voraus, was sich als Tat der Freiheit nicht erklären läßt, um so darauf hinzuweisen, daß ein Mensch die Aufgabe hat, die Sünde als selbstverschuldetes Erbe im Glauben zu übernehmen. Pannenbergs anthropologische Erklärung bringt dagegen gerade das Wesentliche der menschlichen Existenz, die dem Einzelnen aufgegebene Aneignung, zum Verschwinden. 20 22 24 26

BA 491 BA 529 BA 573 BA631

-

S.V. S. V. S.V. S.V.

IV,315. IV, 343. IV,378. IV,421.

21 25 25 27

BA 527 - S.V. IV,342. BA 490 - S. V. IV, 315. Vgl. dazu unten Kap. 8.1 und 8.2. BA632 - S.V. IV,422.

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heit, die die Unendlichkeit vorwegnimmt" 28 . Im Glauben lernt ein Mensch, Angst zu haben und schuldig zu werden. Weil der Glaube sich gründet auf Christus, der freiwillig die Sünde des Geschlechts auf sich genommen hat, wird dem Glaubenden Vergebung der Sünden zuteil: obwohl er als Sünder erkannt ist (vor Gott Unrecht hat), darf er als Gerechter existieren (bekommt er vor Gott Recht). Nicht die Selbsterkenntnis sagt mir, daß ich Sünder bin, sondern die Erkenntnis Jesu Christi als desjenigen, der für mich gestorben und auferstanden ist, damit ich durch ihn zu neuem Leben komme. Sündenerkenntnis vollzieht sich, indem ich erkenne, daß ich Sünder bin, daß ich - mit Kierkegaard zu reden - verzweifelt ich selbst sein oder nicht ich selbst sein will. Verzweiflung ist der Ausdruck f ü r das mißlingende Bemühen, sich durch seine Selbsterkenntnis zu verwirklichen bzw. ein anderer sein zu wollen als der, der man vor Gott ist. Ist Christus wirklich f ü r mich gestorben, damit ich f ü r ihn lebe, so kann ich mich in Christus als gerechtfertigter Sünder verstehen, an mir selbst verzweifeln und im Glauben neu mich selbst zurückbekommen. Ihm schulde ich nun mich selbst. Im Glauben an Jesus Christus sich selbst als Sünder erkennen heißt, erkennen, daß ich mich selbst dem schulde, der meine Schuld auf sich genommen hat, und daher allezeit auf seine Vergebung angewiesen bleibe. Christ werden vollzieht sich also, wie Kierkegaard übereinstimmend mit Luther lehrt, in täglicher Buße, in der Verzweiflung an sich selbst und in der Erfahrung des Sich-selbst-neuWiederbekommens durch Christus. Glaube ist lebendiger Vollzug der Sündenerkenntnis und bedeutet, sich existierend als Sünder zu verstehen, der täglich neu der Rechtfertigung durch Christus bzw. der Vergebung seiner Schuld bedarf. Damit läßt sich auch der Sinn religiöser Erziehung bestimmen. Christlich verhält sich der Erzieher zum educandus wie zu sich selbst als Sünder. Denn nur wer sich als der Vergebung der Schuld bedürftigen Sünder versteht und an sich selbst verzweifeln kann, versteht in Wahrheit sich selbst 29 . Dieses Selbstverständnis christlicher Existenz ist aber vom Erzieher wie vom educandus allererst einzuholen, da die Bewahrheitung des Glaubens im Existieren kraft der Sündenvergebung beiden aufgegeben bleibt. Verhält sich der Erzieher zum educandus wie zu sich selbst als Sünder, dann setzt er voraus, daß sie beide der Rechtfertigung durch Christus bedürfen. D a ß der educandus an Christus glaubt und sich existierend als Sünder versteht, kann der Erzieher ihm nicht vermitteln. Insofern bleibt die religiöse Erziehung stets bezogen auf die Verkündigung des Evange28

BA 633 - S.V. IV, 423. ' Der Grundirrtum der Christenheit und ihre konkrete Schuld besteht darin, nicht an sich selbst, sondern an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln (vgl. KzT 158 - S.V. IX, 2

226 L).

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liums von der Rechtfertigung des Sünders als desjenigen Urteils, das Gott in Christus über die Existenz jedes Menschen gesprochen hat. Der Erzieher kann den educandus aber durch indirekte Mitteilung darauf aufmerksam machen, daß ihm der existentielle Vollzug der Sündenerkenntnis aufgegeben ist. Er kann ihm zu verstehen geben, daß es gerade auf das Verhältnis zu Christus ankommt, mithin darauf, das Geglaubte (fides quae) existierend auszudrücken (fides qua). Religiöse Erziehung dient also der existentiellen Bewahrheitung des Glaubens 30 . In bezug auf die Verkündigung als direkte Mitteilung ist sie indirekte Mitteilung. Ihr Gegenstand ist die menschliche Religiosität in der Spannung zwischen humaner Selbsterkenntnis und christlicher Sündenerkenntnis. Sofern in dieser Spannung das H u m a n e selber problematisch wird, geht es der religiösen Erziehung zugleich um die Möglichkeit und die Wirklichkeit gelingenden Menschseins. Da sie es mit getauften Christen zu tun hat, kann sie sich nicht mit einer Erörterung humaner Religiosität im allgemeinen zufriedengeben, sondern sie stellt die Wahrheitsfrage innerhalb der christlichen Religiosität, ob diejenigen, die sich Christen nennen, auch Christen sind. Indem sie die W a h r heitsfrage an Menschen stellt, die meinen, Christen zu sein, sucht sie nach der gelebten Antwort, an der das wahrhaft Menschliche zur Erscheinung kommt. Religiöse Erziehung versteht das H u m a n e als in Christus schon erfüllte Verheißung, die es im Selbstvollzug des Existierens anzueignen gilt. Wie Kierkegaard selbst erklärt hat, dient sein schriftstellerisches Werk insgesamt dazu, auf das Religiöse bzw. auf das Christliche aufmerksam zu machen 31 . Als ,Dichter des Religiösen' will er denen, die schon Christen zu sein meinen, dazu verhelfen, es zu werden. Um seine pädagogische Absicht zu realisieren, setzt er humane und christliche Existenz so zueinander in Beziehung, daß es in beiden Bereichen darum geht, existierend sich selbst zu verwirklichen. Die Selbstverwirklichung im Bereich humaner Existenz (ästhetisches, ethisches, religiöses Stadium) erscheint einmal als Vorbedingung des Christwerdens (propädeutisch), zum anderen als diejenige Existenzweise, die im Vollzug der Unwahrheit überführt und unter der Bestimmung Sünde wiederholt werden soll. In der Wiederholung kommt heraus, wie es in Wahrheit um den Menschen (als Existierenden) steht. Die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Selbstverwirklichung, die Wahrheit der eigenen Existenz, erweist sich dabei als der Verfügung des Menschen entzogen. Der Mensch weiß nicht um die Wahrheit seiner Existenz. Allein Christus kann ihm diese Wahrheit mitteilen. Es gilt nun aber, 30

Wobei zu beachten ist, daß die Wahrheit selber dem Erzieher sowenig wie dem educandus verfügbar ist, im Bereich des Humanen (d. h. vom Ästhetischen bis zur Religiosität A) jedoch als verfügbar erscheint. » Vgl. WS 10 - S.V. XIII,501. Dazu oben S.29f.

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die allein durch Christus mitteilbare Wahrheit (die in der kirchlichen Verkündigung direkt und vollmächtig mitgeteilt wird) unter der Bestimmung Sünde existierend anzueignen. Eben dies vollzieht sich im Glauben als Wiederholung: „im Glauben beginnt die Wiederholung, und der Glaube ist das Organ f ü r die dogmatischen Probleme" 3 2 . Wer sich in seiner faktischen Existenz unter der Bestimmung Sünde versteht, wiederholt die Wirklichkeit des Geschehenen als Möglichkeit menschlicher Selbstverwirklichung und lernt dabei, an sich selbst zu verzweifeln. Sofern die Wiederholung der faktischen Existenz als Möglichkeit im Glauben an Christus bzw. an die Vergebung der Sünden geschieht, wird der an sich selbst Verzweifelnde auch mit sich selbst versöhnt. D a ß sie im Glauben geschieht, kann der religiöse Erzieher allerdings nicht bewirken. Er kann aber sich selbst in seiner Existenz als Sünder verstehen und eben dadurch, daß er an sich selbst (d. h. in unserem Fall: am Phänomen Sören Kierkegaard) dem educandus menschliche Existenzmöglichkeiten vor Augen führt, auf das Religiöse (nämlich den Vollzug der Wiederholung) aufmerksam machen. Problematisch an diesem Vorgehen erscheint vor allem das Verständnis des educandus. Kierkegaard wendet sich mit seinem schriftstellerischen Werk an die zeitgenössische Christenheit, d.h. an Leser, die in einem ,Sinnentrug' befangen und deshalb in das Wahre ,hineinzutäuschen' sind. Die Leser werden angesprochen als Publikum bzw. Menge, die zu Einzelnen werden soll; sie leben in der Unwahrheit und sollen erfahren, „was die Forderung des Christentums in Wahrheit ist" 33 . Das Mittel, das Kierkegaard dabei anwendet, durch welches er sich zum Leser verhält, ist ein ästhetisches, das als solches der Situation der Christenheit entsprechen soll. Die Diagnose lautet: der modernen Christenheit fehle es an religiöser Erziehung. Die geeignete Therapie soll darin bestehen, Christen innerhalb der Christenheit mit dem ästhetischen Mittel der Pseudonymen Dichtung religiös zu erziehen. Welches Verständnis von Christsein in der Moderne und vom Christentum in der bürgerlichen Gesellschaft liegen der Diagnose und der Therapie zugrunde? Was soll die Christenheit, was soll der Leser von Kierkegaards Schriften lernen? Bedenkt man überdies, daß Kierkegaard von Menschsein aus der Erfahrung eines Mannes redet (der Inbegriff des Humanen ist f ü r ihn ein Mann!), so wird darauf zu achten sein, wie das wahrhaft Menschliche in seinen Schriften zur Sprache kommt und wie insbesondere das Menschsein der Frau darin verstanden wird. Religiöse Erziehung, so hatten wir festgestellt, dient dazu, den christlichen Glauben durch die Wiederholung humaner Existenzmöglichkeiten unter " BA 459f. Anm.2 zu 456 - S.V. IV,292. » WS 12 - S.V. XIII,506.

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der Bestimmung Sünde existentiell zu bewahrheiten. Es k o m m t ihr nicht darauf an, d a ß der educandus etwas über das Religiöse zu wissen bek o m m t (dieses Wissen wird vielmehr vorausgesetzt), sondern darauf, d a ß er religiös existiert. Kierkegaard wendet sich an Menschen, die über ihrem vielen Wissen den Sinn f ü r das Existieren verloren haben: „ H a t t e man vergessen, was Religiös-Existieren heißt, so hatte man wohl auch vergessen, was Menschlich-Existieren ist. Dies mußte also an den T a g gebracht werden." 3 4 W i r verstehen Kierkegaard daher als einen Autor, der seinen Leser z u r existentiellen Bewahrheitung des Glaubens erziehen will. Wie er an sich selbst h u m a n e Existenzmöglichkeiten wiederholt, wie der, der sich als Sünder versteht, sich selbst versteht, wie er die Wirklichkeit des Menschen unter der Bestimmung Sünde entdeckt und so auf das Religiöse a u f m e r k sam macht, soll im folgenden an seinen Schriften untersucht werden.

5. Die conditio humana religiöser Erziehung: Sich-selbst-in-Existenz-Verstehen Sich-selbst-in-Existenz-Verstehen ist f ü r Kierkegaard sowohl das griechische als auch das christliche Prinzip 1 , mithin Inbegriff des Humanen ante et post Christum natum. In seinen Pseudonymen Schriften, beginnend mit ,Entweder-Oder' (1843) und endend mit der .Einübung im Christentum' (1850), denkt Kierkegaard Existenz in einer Reihe von Stadien, die jeweils verschiedene Existenzweisen beschreiben. Zu unterscheiden sind: a) das ästhetische, b) das ethische, c) das religiöse Stadium 2 . In ihnen geht es durchweg um das Selbst des Einzelnen. D a s Selbst ist ein Verhältnis, das vollzogen und ausgedrückt werden soll; es vollziehen und ausdrücken heißt existieren. D a es wesentlich auf den Vollzug des Selbstverhältnisses ankommt, wird in den Stadien nicht n u r Existenz beschrieben, sondern zum Existieren als Sich-zu-sich-selbst-Verhalten angeregt. W a s Existenz ist, lernt einer nur, wenn er sich in Existenz versteht. Deshalb sind die Stadien der Existenz zugleich solche des Sich-selbst-Verstehens. Existenz k a n n n u r von einem existierenden Einzelnen gedacht werden. Die kategoriale Bestimmung der Existenz als einer diskontinuierlichen Folge von Stadien und Konfinien ist aus Kierkegaards eigener Lebensgeschichte zu verstehen. Hervorgegangen aus persönlicher E r f a h r u n g , halten 34 1 2

U N 398f. - S.V. VII,210. Vgl. U N 520f. - S.V. VII,305 f. Vgl. St 507 - S.V. VI,433, und U N 694 - S.V. VII,436.

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D i e conditio humana religiöser Erziehung

die Stadien einen Erfahrungsweg fest, indem sie ihn auf eine allgemeine Anschauungsform bringen. Die Stadienlehre umfaßt und rekonstruiert Möglichkeiten des Selbstseins, die der subjektiv-existierende Denker selbst durchlebt hat 3 . Diese Stadienauffassung beruht auf einer Neubestimmung der Idee, die Kierkegaard in Auseinandersetzung mit Hegel gewonnen hat 4 . Wie Hegel bestimmt Kierkegaard die Idee als Einheit des Endlichen mit dem Unendlichen. Während jedoch f ü r Hegel das Einzelne (Endliche) bloß eine Konkretion des Allgemeinen (Unendlichen) ist, ist f ü r Kierkegaard das Einzelne das Allgemeine. „Nicht das unendliche Leben des Weltgeistes, der sich im Geschichtsprozeß verwirklicht, sondern der individuelle Geist, der eine eigene Lebensgeschichte hat, ist die Synthese des Endlichen und des Unendlichen oder die Verwirklichung der Idee." 5 Gleichwohl ist Existenz Verwirklichung der Idee im Hegeischen Sinn, sofern sie das Wesen zur Erscheinung bringt. „Das Wesen muß erscheinen . . . Dieses Sein aber, zu dem das Wesen sich macht, ist das wesentliche Sein, die Existenz .. ."6 Aus diesem in Hegels Logik vorgedachten Zusammenhang ist Kierkegaards Leidenschaft f ü r den Begriff der Existenz erwachsen. „Das Problem des Existierenden, der seine Idealität existierend darstellt, ist ihm von Hegel gestellt worden." 7 Kierkegaard hat nun Hegel produktiv weitergedacht, indem er dessen begriffslogische Dialektik existential als Dialektik des Selbst entfaltet. Die Entwicklung des Begriffs vom reinen Sein, das in Nichts übergeht und zum Werden bzw. zum Dasein wird 8 , übersetzt er in die Bedingungen der Zeit, unter denen der endliche Geist nach Hegel notwendig erscheint 9 . Existieren heißt also Selbstwerden in der Zeit, Erscheinen des Wesens in 5 Die Behauptung von J.Holl, Kierkegaards Konzeption des Selbst, Meisenhain am Glan 1972, 2, die Stadienlehre sei eine vom Leben des Denkers unabhängige Konstruktion der Möglichkeiten des Selbst, scheint mir in dieser Form nicht haltbar. 4 Zum Verhältnis Kierkegaard-Hegel vgl. grundsätzlich: N.Thulstrup, Kierkegaards Verhältnis zu Hegel und zum spekulativen Idealismus, Stuttgart 1972; ders., Kommentare zur vierbändigen Kierkegaardausgabe bei Hegner 1951 ff. (Nachdruck bei dtv 1974ff.); W.Anz, Kierkegaard und der deutsche Idealismus, Tübingen 1956; W. Joest, Hegel und Kierkegaard. Bemerkungen zu einer prinzipiellen Untersuchung, in: H.H.Schrey (Hrsg.), Sören Kierkegaard, Darmstadt 1971, 81-89. 5 W.Anz, Art. Kierkegaard, in: RGG 3.Aufl., Bd.III, Sp. 1267. 4 Hegel, Wiss. d. Logik II (ThWA Bd. 6), 124. 7 L. Steiger, Det er jo meine zuthat. Kierkegaards Erfahrung über Hegel oder Etwas über des Johannes Climacus Philosophische Bissen, in: EvTh 38 (1978), 382. J. Ringleben, Aneignung. Die spekulative Theologie S0ren Kierkegaards, Berlin-New York 1983, übersieht in seiner spekulativen Kierkegaarddeutung völlig, daß Kierkegaard mit Hegel gegen Hegel gedacht, d.h. mit Hegels Begriff der Existenz die Wirklichkeit des existierenden Denkers gegen die hegelische Spekulation geltend gemacht hat. 8 Vgl. Hegel, Wiss. d. Logik I (ThWA Bd. 5), 82 ff., und Enz. d. Wiss. I (ThWA Bd.8), §89. 9 Vgl. Hegel, Phän. d. Geistes, Ullstein TB 2762, 442.

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der zeitlichen Wirklichkeit, wobei die Zeit als eigentliche A u f g a b e des Lebens zu erkennen ist 10 . Die Wahrheit der Existenz - ihr ,Begriff', um mit Hegel zu sprechen - ist gerade die Verzeitlichung des ewigen Wesens. „ D i e Zeit", so heißt es in der .Phänomenologie des Geistes', „ist der Begriff selbst, der da ist, und als leere Anschauung sich dem Bewußtsein vorstellt; deswegen erscheint der Geist notwendig in der Zeit, und er erscheint so lange in der Zeit als er nicht seinen reinen Begriff erfaßt, das heißt, nicht die Zeit tilgt. Sie ist das äußere angeschaute vom Selbst nicht erfaßte reine Selbst, der nur angeschaute Begriff; indem dieser sich selbst erfaßt, hebt er seine Zeitform auf, begreift das Anschauen, und ist begriffnes und begreifendes Anschauen." 1 1 Ist aber nur der vollendete Begriff ohne Zeit, so ergibt sich daraus für das endliche Dasein in der Zeit die Konsequenz, letztlich unvermittelt zu bleiben. Denn eine rein reflexive Vermittlung würde die Zeit vergehen lassen, statt ihr wesentliche Bedeutung zu geben. Während die Dialektik H e gels auf eine Synthese des Denkens hinzielt, ist Kierkegaards Dialektik ein Schluß aus der Thesis des Denkens und der Antithesis des Seins auf den Sprung, d. h. die Nichtidentität 1 2 . Kontinuität der Existenz gibt es nur aufgrund einer Diskontinuität. Genau hier wird das Hegeische System durch die Entdeckung des nichtidentischen Restes der Existenz bzw. ihrer prinzipiellen Unabgeschlossenheit gesprengt 1 3 , so daß Kierkegaard erklärt, es könne zwar ein logisches System, aber kein System des Daseins geben 1 4 . An die Stelle der rein reflexiven, begriffslogischen Selbstvermittlung tritt bei ihm die (ethische) Selbstvermittlung der Wiederholung aufgrund der Selbstwahl, die allererst Existenz - im Unterschied zum unmittelbaren (ästhetischen) Dasein - konstituiert 1 5 . D e r Begriff der Existenz ist konstitutiv f ü r alle (existentiellen) Erfahrungen, die ein Mensch mit sich und anderen macht, und bezeichnet somit die formale Struktur von Menschsein schlechthin. Die Existenz ist eine Vgl. U N 301 - S.V. VII, 136. Hegel, Phän. d. Geistes, 441 f. Vgl. dazu Chr. Frey, Reflexion und Zeit. Ein Beitrag zum Selbstverständnis der Theologie in der Auseinandersetzung vor allem mit Hegel, Gütersloh 1973, 408 Anm.53. 12 Vgl. M.Bense, Hegel und Kierkegaard, Köln-Krefeld 1948, 80, und D. Ritsehl, Kierkegaards Kritik an Hegels Logik, in: Schrey, aaO., 248 ff. 13 Daß Kierkegaard, ähnlich wie Marx, das Hegeische System sprengt, weil er mit ihm ernstgemacht hat, zeigt L.Steiger, Unzeitgemäßer Kierkegaard, in: EvTh 29 (1969), 244-266, bes. 257. 14 Vgl. U N 241 - S.V. VII,89. 15 Wie Hegel versteht Kierkegaard Existenz als vermitteltes Sein (vgl. z . B . Wiss. d. Logik I [ThWA Bd. 5], 96: „Für das Sein, welches vermittelt ist, werden wir den Ausdruck Existenz aufbehalten."). Zu unterscheiden bleibt indessen, daß Hegel eine Vermittlung durch das Denken meint, während Kierkegaard sie ins Existieren verlegt und als Wiederholung bezeichnet, um sicherzustellen, daß sie Resultat eines ,Sprunges' und nicht einer logischen Entwicklung ist (vgl. W 351 - S.V. III, 189). 10

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Synthese von Denken und Sein qua Existieren. Die für die Struktur von Existenz konstitutiven Momente sind reine Denkkategorien, die a priori, d.h. unabhängig von einem bestimmten Existenzvollzug gewonnen sind, während die Existenzkategorien im Nachhinein aus dem praktischen Vollzug der Existenz erhoben sind und insofern gedachte Existenzmöglichkeiten bezeichnen, die erst dann verstanden werden, wenn man sie nicht nur denkend nachvollzieht, sondern in ihnen existiert15*. Die Existenzkategorien sind also praktische Denkkategorien, die anders als die reinen Denkkategorien, welche Möglichkeitsbedingungen logischer Reflexion angeben, selber Möglichkeiten bezeichnen, welche durch den praktischen Vollzug von Existenz verwirklicht werden können. Insofern erst durch den Vollzug entschieden wird, wie einer existiert, ist Geschichte existentiell gesehen wesentlich ethisches Handeln. Geschichte kann, eben weil sie sich jeweils aus einem Akt der Freiheit (Selbstwahl) heraus realisiert, erst begriffen werden, nachdem sie geschehen ist, d.h. nur die vollzogene Existenzwirklichkeit kann verstanden werden. Für welche Existenzmöglichkeit ich mich entscheiden soll, welches Faktum ich mir verstehend anzueignen habe, beantwortet Kierkegaard nicht. Er gibt keine Kriterien dafür an, wie einer konkret existieren soll, sondern Kriterien dafür, zu verstehen, wie einer faktisch existiert, indem er grundsätzlich verschiedene Existenzweisen (ästhetische, ethische, religiöse) veranschaulicht, in denen ein Mensch existieren kann. Die faktische Entscheidung für eine bestimmte Existenzmöglichkeit wird allemal in einer vorreflexiven Evidenz, nämlich im Glauben vollzogen. Der Glaube (im allgemeinen, nicht im spezifisch christlichen Sinn) ist die eigentlich geschichtliche Weise des Verstehens. Davon unterschieden ist der Glaube im strengen (spezifisch christlichen) Sinn, der sich zum Faktum der geschichtlichen Offenbarung Gottes verhält, welche die ethische und ästhetische Existenzweise neu qualifiziert 16 . Insofern zielt das Sich-selbst-in-ExistenzVerstehen auf eine Umkehr im Verstehen selber. Um den paradoxen Charakter des Glaubens vor Mißverständnissen zu schützen, hat Kierkegaard die Methode der Existenzdialektik ausgebildet 17 . Diese Dialektik wird aus dem Gegensatz von quantitativem und qualitativem Denken entfaltet. Quantitatives Denken zielt auf Objektivität ab, indem es meßbare Größen im Verhältnis von Ursache und Wirkung einander zuordnet. Seine Wahrheit liegt in der gegenständlichen Sachwelt

1Sa Vgl. A.Pieper, Die Bedeutung des Begriffs .Existenzkategorie' im Denken Kierkegaards, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 25 (1971), 187-201. 16 Zur Unterscheidung zwischen Glaube im allgemeinen und Glaube im christlichen Sinn vgl. PhB 103f. - S.V. IV,250f. 17 Vgl. dazu die grundlegende Arbeit von H. Diem, Die Existenzdialektik von Sören Kierkegaard, Zollikon-Zürich 1950.

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(Realität). Qualitatives Denken bezieht sich demgegenüber auf das menschliche Dasein 18 . Das Dasein des Menschen ist durch Freiheit ausgezeichnet, die sich selbst voraussetzt. Es besteht in seiner Subjektivität als einem nicht zu vergegenständlichenden Selbstverhältnis. Freiheit ist daher nur zu erreichen durch den .Sprung' der Entscheidung zu sich selbst, durch den Übergang von der Quantität zur Qualität, in dem sich erst erweist, als wer und wie der Einzelne existiert. „Während das denkende Subjekt und seine Existenz dem objektiven Denken gleichgültig ist, ist der subjektive Denker als Existierender wesentlich an seinem eigenen Denken interessiert... Während das objektive Denken alles im Resultat ausdrückt ..., setzt das subjektive Denken alles ins Werden und läßt das Resultat weg, teils weil dies gerade dem Denker gehört, da er den Weg hat, teils weil er als Existierender beständig im Werden ist .. ,"19 Das Christentum qualifiziert die menschliche Existenz durch das Faktum der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, das als ,Existenz-Mitteilung' 20 Gegenstand des Glaubens ist. Für den Verstand ist es paradox, da er diesen Gegenstand weder als objektives Faktum feststellen, noch durch allgemeine Lehren stützen kann. Christus, der ,Gott in der Zeit', ist dem Verstand ein ,absolutes Paradox', an dem er Ärgernis nimmt, ein geschichtliches Faktum zwar, aber als Offenbarung ein in seiner Gegenständlichkeit objektiv ungewisses. Gewißheit gibt es nur im Glauben, durch den der Glaubende im Augenblick der Aneignung seinem Gegenstand gleichzeitig wird, weil er das Verhältnis zu Gott als seine eigene zeitliche Möglichkeit wählt. Die Wahrheit des Glaubens besteht gerade darin, die objektive Ungewißheit in leidenschaftlicher Innerlichkeit festzuhalten 21 . Entsprechend dieser Doppelbewegung der Existenz des Glaubenden muß die Form der Mitteilung sein. „Uberall, wo im Erkennen das Subjektive von Wichtigkeit, die Aneignung also die Hauptsache ist, da ist die Mitteilung ein Kunstwerk, sie ist doppelt-reflektiert, und ihre erste Form ist gerade das Hintergründige, daß die Subjektivitäten gottesfürchtig auseinandergehalten werden müssen .. ,"22 Darin folgt Kierkegaard der somatischen Einsicht, daß die Existenzwahrheit nicht objektiv erkannt und somit auch nicht direkt mitgeteilt werden kann wie ein positives Wissen 23 . 18 Vgl. Pap. VII A 84 - TB 11,42, wo Kierkegaard zwischen quantitativer und qualitativer Dialektik unterscheidet. » U N 200 - S.V. VII,55f. 20 U N 550 - S.V. VII,329. 21 Vgl. U N 345 - S.V. VII, 170. 22 U N 207 - S.V. VII,60. 23 Die sokratische Existenzdialektik beruht allerdings auf der Einsicht, daß der Mensch die Wahrheit in sich selbst finden und durch die Vertiefung in sich selbst in der Wahrheit sein kann. Mit der Einführung des absoluten Paradox', an dem die Subjektivität sich als Sein

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Die conditio h u m a n a religiöser E r z i e h u n g

Die Überlieferung der Glaubenswahrheit kann innerhalb der Christenheit nur in der Form der .indirekten Mitteilung' geschehen, die von Wahrheit als einem Anzueignenden, Geheimen und immer noch Ausstehenden redet, um die Existenz einerseits als Möglichkeit offenzuhalten und andererseits gegen das quantitative, auf Objektivität ausgerichtete Denken zu sichern. Das Ärgernis am absoluten Paradox ist solcher indirekten Mitteilung der Garant dafür, daß die Christenheit nicht einer falschen securitas verfällt, sondern nach wirklicher certitudo strebt. Im Verhältnis zur Subjektivität will die Existenzdialektik auf das Negative im Dasein überhaupt aufmerksam machen, das verschwinden muß, damit das Dasein neu entstehen kann. Sie verweist auf das Gottesverhältnis als absolute Grenze der Subjektivität. W o aber das Gottesverhältnis vollzogen wird, verhält sich der Mensch nicht mehr dialektisch, sondern anbetend. Die Dialektik „ist in ihrer Wahrheit eine wohlwollend dienende Macht, die entdeckt und finden hilft, wo der absolute Gegenstand des Glaubens und der Anbetung, wo das Absolute ist - dort nämlich, wo der Unterschied zwischen Wissen und Nicht-Wissen in der absoluten Anbetung der Unwissenheit zusammenstürzt, da wo sich die objektive Ungewißheit dagegen stemmt, um die leidenschaftliche Gewißheit des Glaubens hervorzuzwingen, da wo der Streit um Recht und Unrecht in der absoluten Anbetung der absoluten Unterwerfung zusammenbricht. Die Dialektik selbst sieht nicht das Absolute, aber sie f ü h r t das Individuum gleichsam zu ihm hin und sagt: hier muß es sein, dafür stehe ich ein; wenn du hier anbetest, dann betest du Gott an. Aber die Anbetung selbst ist nicht Dialektik."" Ziel des Sich-selbst-Verstehens (Existierens) ist das Christwerden. Die Offenbarung leitet aber schon den Anfang dieses Verstehens im ästhetischen Stadium, da das Selbstverhältnis des Existierenden immer schon in einem .Anderen' (d.h. nicht-offenbaren, der Welt verborgenen Gott) gesetzt ist, von dem her Verstehen allererst möglich ist und wirklich werden kann. Die Bewegung der Existenzstadien ist eine unendliche Bewegung des Sich-Verstehens aufgrund dessen, worin der Einzelne sich immer schon verstanden hat. In ihr werden unter drei verschiedenen Perspektiven bestimmte Phänomene des menschlichen Daseins (Schwermut, Schuld, Reue, Angst, Verschlossenheit, Verzweiflung) erhoben und ausgelegt. Jeweils im Nachhinein, aus der faktisch vollzogenen Existenz (aus dem gelebten Lein der Unwahrheit (Sünde) erweist, ist die sokratische Dialektik zu revidieren (vgl. Diem, Existenzdialektik, 62). In der christlichen Existenzdialektik wird das Ärgernis zum entscheidenden Moment auf dem Weg von der Sündenerkenntnis zum Glauben und zum Ausdruck der Möglichkeit des Widerstandes gegen das Paradox des Gottmenschen (vgl. Diem, ebd., 72). 24 U N 681 - S.V. VII,426f. Vgl. U N 589 - S.V. VII,358 („Anbetung ist das Maximum für das Gottes-Verhältnis eines Menschen ...").

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ben) gewinnt Kierkegaard Existenzkategorien, d.h. Erfahrungsbegriffe, welche eine Geschichte abkürzen und an prototypischen Existenzvollzügen (Geschichten) erdichteter Figuren veranschaulicht werden. Die verschiedenen Stadien sind jeweils durch einen Sprung getrennt. Die Kategorie des Sprungs weist darauf hin, daß der Wechsel der Perspektive unvermittelt bleibt, um sicherzustellen, daß es sich nicht um eine kontinuierliche Stadienfolge handelt, sondern um eine Diskontinuität, die nur vom Existierenden selber zusammengehalten werden kann. So entspricht die Stadienlehre der eigentümlichen zeitlichen Struktur der Existenz in der praktischen Absicht, unter jeweils neuer Perspektive auf das Wesentliche des Existierens aufmerksam zu machen. Der Leser wird dazu veranlaßt, das in der Existenzkategorie implizierte Handeln (Verhalten) existentiell nachzuvollziehen und sich in einem geschichtlich-konkreten Verhältnis zum Allgemeinen (d. h. in einem Stadium) zu verstehen. Durch das absolute Paradox des Gott-Menschen Christus wird der Horizont des Sich-Verstehens neu bestimmt als Existenz im Widerspruch von Glaube und Unglaube (Ärgernis) 243 . Dieser Widerspruch, unter dem der Gesamtzusammenhang von ästhetischer, ethischer und religiöser Existenzweise steht, wird als zeitlicher Widerspruch zwischen zwei fundamental verschiedenen Verhaltensweisen zur Wahrheit entfaltet. In allem SichVerstehen geht es nun um den Grundwiderspruch menschlicher Existenz, der allein im Glauben an Jesus Christus entschieden wird 25 . So ist die Bewegung der Stadien insgeheim und von Anfang an vom Motiv der Umkehr (metanoia) bestimmt, welche allererst ein wahrheitsgemäßes Erkennen der Lebenswirklichkeit des Menschen ermöglicht. Erst vom Glauben her kommt der Einzelne zur Einsicht, daß jeder Augenblick des Existierens das Sich-Entscheiden zwischen Wahrheit und Unwahrheit bedeutet. Glauben heißt anerkennen, daß die Entscheidung für die Wahrheit in Christus ein für allemal gefallen ist und durch eben dieses Anerkennen auch für die eigene Existenz hier und jetzt fällt. Solcher Glaube ist die existentielle Antwort auf die Wahrheitsfrage meiner Existenz, die nicht anders als durch die Weise des Existierens beantwortet werden kann. Die Absicht des subjektiv existierenden, seine Existenzstadien und -kategorien in Geschichten veranschaulichenden Denkers besteht darin, zu zeigen, daß und wie die Wahrheitsfrage durch meinen Existenzvollzug beantwortet wird. Er macht den Einzelnen darauf aufmerksam, indem er ihn in die Be2 4 a Vgl. dazu PhB 61 ff. - S.V. IV,215ff.; K z T 116ff. - S.V. X I , 195ff.; Ε 132ff. - S.V. XII, 102ff. Das Christliche (entweder glauben oder sich ärgern [ K z T 136 - S.V. X I , 2 0 9 ] ) ist strukturell schon bestimmend für die ethische Selbstwahl, welche Existenz konstituiert (das absolute Entweder-Oder: entweder wählen oder nicht wählen [ E O II 728 f. - S.V. II, 161 f.]). 25 Glaube und Ärgernis sind stets dialektisch aufeinander bezogen; es gibt keinen Glauben ohne die Möglichkeit des Ärgernisses.

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Religiöse Erziehung als Existenmitteilung

wegung des Sich-selbst-in-Existenz-Verstehens hineinnimmt und zur Erkenntnis hinführt, daß nur dasjenige, was einer in seinem Leben ausdrückt, in Wahrheit verstanden ist26. Solches Verstehen existierend vollziehen heißt glauben bzw. sich von der in Christus offenbar gewordenen Wahrheit in seinem Verhalten bestimmen lassen. Allein der gläubig sich in Existenz Verstehende, der die humanen Existenzmöglichkeiten unter der Bestimmung Sünde wiederholt, vermag das ethische Problem der Vermittlung in der Wiederholung zu lösen, sofern er dazu befreit ist, sich selbst als Sünder vor Gott zu verstehen und seine Schuldgeschichte in Reue anzueignen 27 . Sich-selbst-in-Existenz-Verstehen ist die Voraussetzung und die Aufgabe religiöser Erziehung. Dabei geht es in allen Existenzstadien letztlich um die Existenz im Widerspruch von Glaube und Unglaube und um den Glauben als Antwort auf die Wahrheitsfrage der eigenen Existenz.

6. Religiöse Erziehung als Existenzmitteilung: christlich verstanden existiert der religiöse Erzieher in dem, was er mitteilt In allen Existenzstadien geht es um Sich-selbst-in-Existenz-Verstehen unter der (hypothetischen) Voraussetzung, daß die Wahrheit der Existenz in dieser selbst, d. h. durch bloße Auslegung des Existenzvollzugs (so wie er sich selbst versteht) zu finden und mitzuteilen sei. Demgemäß ist jedes Stadium primär Auslegung eines bestimmten Selbstverständinsses. In allen diesen Stadien zielt die Auslegung auf Existenzmitteilung ab, in allen differieren Mitteilungsweise und Existenzweise. Das Christliche, das keinem besonderen Stadium zuzuweisen ist, weil es in keinem Selbstverständnis, keiner Auslegung der Existenz aufgeht, ist wesentlich Existenz mitteilung, die sich zum Ganzen des in den verschiedenen Stadien Ausgelegten verhält: zur Existenz als solcher 1 . Auch im Bereich des Christlichen geht es um Sich-selbst-in-Existenz-Verstehen, jedoch unter der (dogmatischen) Voraussetzung, daß die Wahrheit der Existenz schon gefunden und durch die Existenz eines besonderen Menschen (d. h. Jesus Christus, dessen Besonderheit darin besteht, daß Gott selbst in ihm Mensch wurde) ausgelegt » Vgl. KzT 126 - S.V. XI,202. 27 Deswegen nimmt Kierkegaard sich von ,Entweder-Oder' bis zu den .Stadien auf des Lebens Weg' in immer neuen Anläufen das Ganze seiner Biographie vor. 1 Vgl. U N 770 - S.V. VII,492 („Das Christentum ist eine Existenz-Mitteilung, die das Existieren paradox macht ...").

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ist, dem Existierenden aber allererst mitgeteilt werden muß, damit dieser sich in Wahrheit versteht. Diese Voraussetzung stellt die erste (des humanen Selbstverständnisses) in Frage, indem sie das Offenbargewordensein bzw. Gefundensein der Existenzwahrheit behauptet, und sie bestätigt jene Voraussetzung, indem sie wie diese die Aufgabe des Sich-selbst-in-Existenz-Verstehens geltend macht, jedoch so, daß es nun nicht mehr auf die Auslegung allein ankommt, sondern auf die Mitteilung und deren Aneignung im Existenzvollzug. Das Christentum teilt nichts Neues über die Existenz mit, es ist keine neue Lehre, sondern es verändert das Verhältnis des Existierenden zur Existenz im ganzen, das Verhältnis des einzelnen Menschen zum Menschsein schlechthin 2 . Alle Existenzauslegung zielt ab auf Existenzmitteilung, um den Menschen auf seine eigenste Aufgabe, die des Existierens, aufmerksam zu machen, aber nur christlich (im Gehorsam des Glaubens) entspricht die Weise der Mitteilung derjenigen des auszulegenden und zu vollziehenden Existierens, bringt sie das Existieren, um das es ihr geht (das Christwerden), mitteilend so zur Sprache, daß es zugleich vollzogen wird. Die Grenze der bloß ästhetischen Mitteilung besteht darin, daß sie nur von Möglichkeiten, nicht von der Wirklichkeit der Existenz redet; die Grenze der ethischen Mitteilung besteht darin, daß sie nur allgemein, aber nicht konkret vom Existieren redet (d.h. sie redet vom Ethischen als dem für alle Gültigen, nicht davon, wie der Einzelne es realisieren kann); die Grenze der humanreligiösen Mitteilung schließlich besteht darin, daß sie nur unethisch vom Göttlichen als dem Paradoxen zu reden vermag (also wider das Allgemein-Menschliche, wider-vernünftig). Die christlich-religiöse Mitteilung jedoch redet menschlich vom Göttlichen und christlich vom Menschlichen, weil Gott selbst Mensch geworden ist. Christlich verstanden hat religiöse Mitteilung den Sinn, jeden Menschen als besonderen Einzelnen auf gläubige Aneignung dieses Faktums hin anzureden und so vor die Wahrheitsfrage seiner Existenz zu stellen. Daher gibt es für die christlich-religiöse Mitteilung keine Grenze, da sie alle Grenzen menschlichen Selbstverständnisses durchbricht. So aber wird die Mitteilung selber zum Entscheidenden: es geht nunmehr darum, auf die Weise der Mitteilung zu reflektieren, damit sie dem Wort Gottes, der Fleischwerdung des Wortes in Christus, entspreche und alles Menschliche ihr zum Gleichnis des Göttlichen werde 3 . 2 Vgl. U N 740 - S.V. VII,471 („Im Christentum gibt es nichts in dem Sinne Neues, daß es dem Anschein nach nicht vorher in der Welt gewesen wäre, und doch ist alles neu.") und U N 490 - S.V. VII,281 („Der Gegenstand des Glaubens ist . . . die Wirklichkeit Gottes in Existenz ... Das Christentum ist daher keine Lehre, sondern das Faktum, daß der Gott dagewesen ist."). 3 Kierkegaards Versuch, die Menschwerdung Gottes dichterisch darzustellen (vgl. PhB 32ff. - S.V. IV, 192ff.), zielt nicht darauf ab, dieses Geschehen zu einer menschlichen

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R e l i g i ö s e E r z i e h u n g als Existenmitteilung

Die Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus - um mit Hegel und K. Barth zu reden - soll durch Existenzauslegung des Menschlichen an der Existenz eines Menschen bezeugt werden, welche Auslegung wiederum auf Mitteilung f ü r jeden Menschen als Existierenden abzielt. Die kommunikative Wahrheit der Existenzauslegung Kierkegaards kommt erst heraus, wenn beachtet wird, daß dieser selbst mit seiner Existenz Zeugnis ablegt f ü r die Liebe Gottes, die allen Menschen sich mitteilen will. Durch seine eigene Existenz als religiöser Schriftsteller wird Kierkegaards Existenzauslegung zu einem Wahrheitszeugnis. Von dieser Beobachtung her wird verständlich, was sie mitteilt. Existenzmitteilung im christlichen Sinn ist nur solche Mitteilung, f ü r die einer (um Gottes und des Nächsten willen) durch sein Leben, durch die Ubereinstimmung von Reden und H a n deln einsteht, d. h. bei der der Mitteilende nicht nur etwas über das Existieren mitteilt (wie in aller humanen Existenzauslegung), sondern es an sich selbst ausgelegt und vollzogen hat, also zugleich durch sein eigenes Existieren bewahrheitet, was er mitteilt: Jesus Christus als die Wahrheit meiner, des Lesers Existenz, als .erbauliche' Wahrheit f ü r mich, die mir etwas anzueignen gibt und im Verhältnis zu der ich mir selber durchsichtig werde. Christlich-religiöse Existenzmitteilung macht mich auf die Aneignung aufmerksam, die nicht direkt mitgeteilt werden kann, weil nur ich selber sie vollziehen kann. Die Aneignung, die ich vollziehe, das Sich-Verstehen in der Bewegung der Existenzstadien, das mein Leben verändert, kurz: das Christwerden, das sich durch meine Existenz ausdrückt, ist es, worauf Kierkegaard hinaus will und was er dem Leser zu verstehen gibt, indem er existiert in dem, was er mitteilt, d. h. die Mitteilung in seiner Existenz reflektiert. Seine Existenz ist die Auslegung und der Vollzug seiner Mitteilung. Eben dadurch wird sie zum Gleichnis f ü r das, was durch Christus f ü r alle Menschen geschehen ist. Kierkegaards Existenzdialektik ist insgesamt christlich-religiöse Existenzmitteilung, dialektisch bezogen auf die kirchliche Verkündigung. Sie legt die Botschaft dieser Verkündigung, die Geschichte des sich selbst verkündigenden Jesus Christus (H. Diem), die daraufhin vergegenwärtigt wird, daß in ihr auch über den H ö r e r und seine Geschichte entschieden ist, als Existenzmitteilung f ü r den Einzelnen aus, damit dieser in ein persönliches Verhältnis zu dieser Verkündigung komme. Die Existenzmitteilung der Pseudonymen Schriften und religiösen Reden ist also nur Auslegung des zu verkündigenden Evangeliums,

Möglichkeit zu machen, sondern will gerade die Unmöglichkeit, es zu erdichten, und damit seinen theopoietischen Charakter erweisen: „Zwar könnte es dem Menschen einfallen, sich selbst in Gleichheit mit dem Gott oder den Gott in Gleichheit mit sich zu dichten, aber nicht zu dichten, daß der Gott sich selbst in Gleichheit mit dem Menschen dichtete ..." (PhB 47 S.V. IV,203).

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nicht selbst Verkündigung, die Glauben fordert, freilich auch nicht irgendeine, sondern existentielle, durch die eigene Existenz bezeugte Auslegung des Glaubens als ausgezeichneter Existenzmöglichkeit (deren wirklicher Vollzug dem Einzelnen jeweils neu aufgegeben bleibt). Insofern die Mitteilung auf den Vollzug des Glaubens nur ,aufmerksam' macht, und zwar so, daß sie den Existierenden auf den Gegenstand des Glaubens hinweist 4 , verhält sie sich dialektisch zur Verkündigung: sie steht ein f ü r die Wahrheit des Verkündigten, aber ob der Einzelne sie als Wahrheit f ü r sich aneignet, liegt bei ihm 5 . Die Verkündigung fordert vom H ö r e r die Anerkennung einer bereits gefallenen Entscheidung, Kierkegaards dialektische Existenzmitteilung macht ihn nur darauf aufmerksam, daß es auf die Aneignung ankommt. Ist das Christliche wesentlich Existenzmitteilung, dann bedeutet dies f ü r den religiösen Erzieher: er ist gefragt, ob er in dem existiert, was er mitteilt, ob seine Existenz Auslegung und Vollzug seiner Mitteilung ist. Differieren Mitteilungs- und Existenzweise (was nach Kierkegaard nur innerhalb des humanen Selbstverständnisses der Fall ist), dann zeigt dies an, daß der Erzieher nicht in Wahrheit sich selbst versteht bzw. noch nicht darauf aufmerksam geworden ist, daß er sich in der Unwahrheit befindet.

7. Wird der Lernende nur ,auf das Religiöse aufmerksam' oder auch darin erbaut? Besteht f ü r den religiösen Erzieher, der es mit dem Christlichen als Existenzmitteilung zu tun hat, die grundsätzliche, weil in seinem Menschsein begründete Schwierigkeit, in dem zu existieren, was er mitteilt, und ist diese Schwierigkeit innerhalb des humanen Selbstverständnisses nicht zu beheben, so wird man hier ins Gespräch mit der Pädagogik eintreten und fragen müssen, ob und wie sie sich dem Problem der Entsprechung von Existieren und Mitteilen stellt. Im folgenden soll dazu ein von der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts beeinflußter Pädagoge zu W o r t 4

Gegenstand des Glaubens ist „die Wirklichkeit des Gottes in Existenz" ( U N 490 - S.V. VII, 281). 5 Die Kategorie ,für dich' bezeichnet Wahrheit bei Kierkegaard von Anfang an als subjektive Existenzwahrheit (vgl. Pap.I A 75 - TB I, 16, und EO II 933 - S.V. 11,318). Entscheidend ist nicht die Wahrheit, die man objektiv wissen kann, sondern die Wahrheit, in der ich existiere. Wenn Kierkegaard die Wahrheit als Subjektivität bestimmt ( U N 328 - S.V. VII, 157), so ist diese Bestimmung von vornherein auf das Christentum bezogen, das insofern subjektiv ist, als die Innerlichkeit des Glaubens im Glaubenden die ewige Entscheidung der Wahrheit ist ( U N 369 - S.V. VII, 188).

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kommen, der Kierkegaards Beitrag zum Verständnis von Erziehung untersucht hat 1 . Die Arbeit von H. Schaal will „von Kierkegaard her zeigen, daß und in welcher Weise Erziehung gerade auch im existierenden Verhalten des Einzelnen geschieht" 2 . Ausgehend von der zentralen Absicht Kierkegaards, „ohne Vollmacht auf das Religiöse aufmerksam zu machen" 3 , untersucht Schaal die Strukturmomente der pädagogischen Kategorie .Aufmerksammachen'. Dabei ergibt sich ein vom traditionellen Verständnis von Erziehung abweichender neuer Erziehungsbegriff: „Erziehung ist für ihn (d.h. Kierkegaard, Μ. H.) somit nicht mehr ein zwischen Menschen organisierbares oder veranstaltbares Tun, sondern ein Geschehen, das sich jeder menschlichen Verfügbarkeit entzieht .. ."4, nämlich das Sich-Verhalten zum Absoluten im Vollzug des Existierens. Die Möglichkeit pädagogischer Hilfe besteht darin, „daß ein anderer Mensch am und durch seinen (des Aufmerksammachenden) Vollzug der existentiellen Bewegung selbst auf den diese Bewegung auslösenden Anspruch des Absoluten aufmerksam und dadurch der eigenen Freiheit gewahr werden kann, so daß er entweder, den Anspruch des Unbedingten an ihn selbst erkennend, sich ebenfalls existierend dazu verhält, oder aber, solche Anerkennung verweigernd, sich ärgert." 5 In Orientierung an Sokrates hält Kierkegaard daran fest, daß jeder nur bei sich selbst Wahrheit zu realisieren vermag 6 . Der Einzelne soll verbindlich unter den Anspruch des Christseins gestellt werden 7 . Indem der Aufmerksammachende die unter der Bestimmung Christenheit anstehenden Daseinsverhältnisse überprüft, „gibt er dem, der aufmerksam werden soll, die Möglichkeit, daß dieser selbst das Trügerische seiner Verhältnisse als ein - existentiell gesehen - Unwirkliches entdecken kann." 8 So beseitigt er, was die wahren Existenzverhältnisse verstellt und vom Religiösen trennt 9 . Schaal setzt nun voraus, „daß der, welcher aufmerksam gemacht werden soll, immer schon um das .Höchste' (die geoffenbarte Wahrheit) weiß .. ."10 Er hat jedoch nicht beachtet, daß diese Voraussetzung nur im Bereich des Sokratischen gilt, nicht im Bereich des Christlichen 11 . Christlich verstanden ist der Lernende die Unwahrheit, d. h. durch eigene Schuld von der Wahrheit ausgeschlossen. Die Wahrheit weiß er nur durch Offen1

H. Schaal, Erziehung bei Kierkegaard. Das .Aufmerksammachen auf das Religiöse' als pädagogische Kategorie, Heidelberg 1958. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch. 2 3 Schaal, ebd., 3. WS 10 - S.V. XIII,501. 4 5 Schaal, aaO., 16. Schaal, ebd., 16. 6 7 Schaal, ebd., 22. Schaal, ebd., 22. » Schaal, ebd., 29 f. ' Schaal, ebd., 32. 10 Schaal, ebd., 35. 11 Vgl. Diem, Existenzdialektik, 62, sowie oben S.44f. und S.60f. dieser Arbeit.

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barung, denn die Wahrheit ist eben, daß der Lernende ein Sünder ist. Deshalb betont Kierkegaard: „kein Mensch kann durch sich selbst und von sich selbst aus sagen, was Sünde ist, gerade weil er in der Sünde ist .. ."12.Schaal aber geht davon aus, der Mensch wisse immer schon um die geoffenbarte Wahrheit, d.h. er teilt und verallgemeinert die Voraussetzung des humanistischen Selbstverständnisses, wie es in Sokrates exemplarisch zum Ausdruck kommt. Aufmerksamwerden heißt für ihn daher, „den Anspruch solchen Wissens um das Höchste an die eigene Existenzwirklichkeit erfahren, heißt, das ,du sollst' des Religiösen als verbindliche Forderung vernehmen." 13 „Solange der Mensch lediglich darum weiß, solange ihn solches ,du sollst' nicht zu einer unausweichlichen Stellungnahme zwingt, solange verhält er sich auch noch nicht zum Religiösen .. ."14 Er befindet sich dann christlich verstanden durch eigene Schuld in der Unwahrheit. Die wesentliche Unaufhebbarkeit dieses Zustandes ist die Sünde, die jeder bei sich selbst im Gewissen mit Gott erfahre 15 . Hier zeigt sich deutlich, daß Schaal nicht verstanden hat, was Kierkegaard mit .Sünde' meint. Durch die Offenbarung erfährt ein Mensch ja nicht etwas, was er hätte wissen können, sondern er bekommt allererst zu wissen, daß er nicht tut, was er soll, d.h. erst die Offenbarung konfrontiert ihn mit dem göttlichen Anspruch. Seine Schuld besteht nicht darin, daß er hinter dem eigenen (ethischen) Gewissensanspruch zurückbleibt, sondern darin, daß er um sein Zurückbleiben hinter dem göttlichen Anspruch nicht weiß, weil er eben diesem Anspruch ausweicht. Wer um den göttlichen Anspruch bzw. das religiöse ,du sollst' weiß, wird gerade davon beansprucht und erkennt sich als Sünder, nicht bei sich selbst, sondern vor Gott. Die entscheidende Frage ist daher: wie kann einer den anderen auf das Religiöse aufmerksam machen, wenn der Mensch sich wesentlich in der Unwahrheit befindet? Schaal betont, der Aufmerksammachende müsse die Kategorie (d.h. Aufmerksammachen) selbst leben, die Richtung auf das Christliche selbst einschlagen, um beim anderen Menschen .anzukommen' 16 . Doch wie ist es möglich, in Wahrheit zu existieren, damit vom Religiösen, genauer: vom Christlichen die Rede sein kann? Die Lösung Kierkegaards besteht nach Schaal darin, daß der Anspruch des Erziehens einfür allemal an die Gottheit abgetreten wird 17 . Der Aufmerksammachende verhält sich folglich so zum anderen, „daß er selbst sich ganz in die Entscheidung gegenüber dem absoluten Anspruch hineingibt, denn dadurch allein kann es geschehen, daß er in einem Erziehungsvorgang der Gottheit - auf eine unerfindliche Weise von dieser selbst eingesetzt - zu einem von außen anstoßenden und die Glaubensforderung akzentuierenden dia12

13

14

1S

KzT 131 - S.V. XI,206. Schaal, ebd., 36 (Hervorh. von Schaal). " Schaal, ebd., 37.

17

Schaal, aaO., 35. Schaal, ebd., 36. Schaal, ebd., 111.

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W i r d der Lernende nur ,auf das R e l i g i ö s e aufmerksam'

lektischen M o m e n t wird." 18 Von daher wird zwar einsichtig, warum jeder Helfer oder Lehrer gezwungen ist, im Hinblick auf das Religiöse bzw. Christliche von jeder planmäßigen, gezielten, direkten Einwirkung auf einen anderen Menschen abzusehen und, in Innerlichkeit existierend, auf jenen absoluten Anspruch hinzuweisen, „der nur von der höchsten Erziehungsmacht selbst oder von ihr Bevollmächtigten angebracht werden darf." 1 9 Unklar bleibt jedoch, was es f ü r den Lehrer und f ü r den Lernenden bedeutet, durch eigene Schuld in der Unwahrheit zu sein (Sünder zu sein). Schaal verweist lediglich auf die Unmöglichkeit, das Ethische aus eigener Kraft zu realisieren 20 . „In der Erfahrung, daß er (der Einzelne) als Mensch wesentlich an seiner Selbstverwirklichung gehindert ist, offenbart sich ihm die Widersprüchlichkeit seiner Existenz, die den Menschen auf einen vermittelnden Ursprung verweist: auf das Religiöse in der christlichparadoxen Ausprägung." 2 1 Kierkegaard gestehe daher, so Schaal, pädagogische Hilfe nur bis zur Setzung des Ethischen in der Wahl zu 22 . Nach dieser Wahl sei der Mensch völlig auf sich selbst gestellt. Er habe sich dann „begriffen als die Synthesis, in welcher Endliches und Unendliches solchermaßen in ein Verhältnis zueinander gesetzt sind, daß dieses Verhältnis darauf angelegt ist, sich noch einmal zu sich selbst zu verhalten." 23 Davon, daß der Mensch hier auf sich selbst gestellt sei, kann aber bei Kierkegaard nicht die Rede sein. Wenn Kierkegaard vom Menschen als einem Verhältnis redet, das sich zu sich selbst verhält 24 , dann meint er den natürlichen Menschen, dessen Verzweiflung vor Gott Sünde ist. Ein gelingendes Selbstverhältnis liegt nicht im Bereich dessen, was der Mensch aus eigener Kraft vermag. Sein Selbstverhältnis mißlingt vielmehr immer wieder 25 . Der Einzelne, der verzweifelt er selbst (oder nicht er selbst) sein will, verfehlt sich und verwirklicht gerade nicht sich selbst. D a ß das sich zu sich selbst verhaltende Verhältnis von Gott gesetzt ist, wird erst im Glauben durchsichtig 26 und erweist, daß der Mensch nicht auf sich selbst gestellt ist. Denn vor Gott als Einzelner erkannt zu werden bedeutet eben: als Sünder erkannt zu werden. Insofern ist das Sündenbewußtsein conditio sine qua non des Christentums und Grenze aller religiösen Erziehung.

18

Schaal, ebd., 110. " Schaal, ebd., 112. 21 Schaal, ebd., 69. Schaal, ebd., 70. 22 23 Schaal, ebd., 74. Schaal, ebd., 74. 24 Vgl. K z T 31 - S.V. XI, 127. 25 Der Mensch, der sich selbst zu wählen versucht, verliert seine Freiheit aus Angst vor der Freiheit (vgl. BA 512 - S.V. IV, 33 t). Damit wird die Voraussetzung des Ethikers in ,Entweder-Oder', wonach der Mensch sich selbst wählen könne, aufgehoben, denn der schuldhafte Verlust der Freiheit ist der Verlust des ethischen Selbst (vgl. E O II 772 - S.V. II, 192: das Selbst ist die Freiheit). 26 Vgl K z T 177 - S.V. XI,241. 20

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Diese kann zwar voraussetzen, daß der Mensch Sünder ist, aber sie kann ihm kein Sündenbewußtsein vermitteln. Würde das pädagogische Handeln nach Kierkegaard tatsächlich beim Ethischen enden, wie Schaal annimmt, so wäre das Religiöse außerhalb aller pädagogischen Bemühungen und Erziehung nur als vor-religiöse Erziehung möglich. Eine .Einübung im Christentum' könnte es nicht geben. Der Glaube wäre dann etwas von der Existenzwirklichkeit des Erziehers Ablösbares und Unabhängiges, sodaß der Erzieher sich selbst nicht als Sünder verstehen könnte. Eben dies scheint mir aber die Konsequenz aus Kierkegaards Einsichten in das Lehrer-Schüler-Verhältnis zu sein: daß der Lehrer bzw. Erzieher sich selbst als Sünder versteht, denn nur so kann er den Lernenden bzw. educandus darauf aufmerksam machen, was es bedeutet, Christ zu werden - nämlich sich selbst als Sünder zu verstehen - , und in dem existieren, was er mitteilt. Erst wer darauf aufmerksam geworden ist, daß er nicht in dem existiert, was er mitteilt, und sich zu seinem Inder-Unwahrheit-Sein verhält, bekommt die Möglichkeit, Existieren und Mitteilen zur Entsprechung zu bringen und in Wahrheit als religiöser Erzieher wirksam zu werden 27 . Die Problematik der Untersuchung von Schaal besteht folglich darin, daß sie das Aufmerksammachen auf das Religiöse nur als ein - allerdings zentrales - Moment von Erziehung betrachtet und von jeder erzieherischen Methode abgrenzt, die religiöse Bestimmtheit des Aufmerksammachenden, d . h . des Erziehers aber vernachlässigt. Weil Schaal nicht erkennt, wie fundamental die Bestimmung ,Sünde' f ü r Kierkegaards Verständnis des Lehrers bzw. Erziehers ist, entgeht ihm, daß das pädagogische Verhalten nicht nur ethisch, sondern auch religiös bestimmt ist. Der Lernende soll aber nicht nur auf das Religiöse aufmerksam gemacht, sondern auch und sogar primär im Religiösen erbaut werden 2 8 . Als Sünder be27

D i e Sündenerkenntnis des religiösen Erziehers impliziert eine Kritik seiner Religiosität, sofern sie ihn zu unterscheiden veranlaßt, ob er sich human-religiös oder christlich-religiös versteht. In der humanen Religiosität ist das Existieren nur ein M o m e n t des ewigen Bewußtseins des Menschen, in der christlichen Religiosität dagegen wird es z u m absoluten Widerspruch gegen die Immanenz des Bewußtseins, so daß der Einzelne erst in seiner zeitlichen Existenz ewig wird und nicht durch ein spekulatives Sich-Erheben aus ihr (vgl. U N 7 7 6 - 7 8 0 - S.V. VII,497-500). 28

Zum Erbaulichen vgl. U N 7 6 5 f f . - S . V . VII,488 ff.; K z T 25 - S . V . XI, 117, und Kap. 16 der vorliegenden Arbeit. N a c h Abschluß des Manuskripts wurde mir das Buch von R. J. M a n heimer, Kierkegaard as Educator, Berkeley-Los A n g e l e s - L o n d o n 1977, zugänglich. Manheimer meint, daß Kierkegaard als religiöser Autor an einer erbaulichen Erziehung interessiert sei, die an die Grenzen der Sprache führe (ebd., 170 f.). Erbauliche bzw. christliche Rede kehre die gewöhnliche Bedeutung der Worte um (ebd., 172). Erbauliche Erziehung gründe in einer bestimmten Auffassung und Erfahrung von Liebe bzw. Nächstenliebe (ebd., 184). M a n heimers Beobachtungen führen einen wichtigen Schritt über Schaal hinaus. Leider werden sie nicht an Kierkegaards religiösen Reden verifiziert (vgl. dazu Kap. 18 der vorliegenden Arbeit).

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darf der Lernende der Heilung von der Krankheit zum T o d e (Verzweiflung). In den Spätschriften Kierkegaards, zumal in den religiösen Reden, wird der Lernende daher direkt auf Glauben hin angesprochen, denn allein der Glaube heilt von dieser Krankheit, indem er die Verzweiflung überwindet. Schaals Verdienst ist es, das Aufmerksammachen als pädagogische Kategorie bei Kierkegaard entdeckt und beschrieben zu haben. Seine Arbeit wird aber - darin liegt ihr Nachteil - den Kategorien ,Sünde' und ,das Erbauliche' nicht gerecht und kommt daher zu der irrigen Auffassung, der Lehrer könne dem Lernenden nur bis zum Stadium des Ethischen helfen. Diese Auffassung spricht zwar, wie wir gesehen haben, f ü r das humane Selbstverständnis des Pädagogen, kann aber f ü r religiöse Erziehung nach Kierkegaard nicht maßgebend sein, wenn das Christentum und damit jedes christlich verstandene Lehrer-Schüler-Verhältnis an die conditio sine qua non des Sündenbewußtseins gebunden ist.

8. Die Wiederholung humaner Existenzmöglichkeiten als Aufgabe religiöser Erziehung (Sich selbst als Sünder verstehen) 8.1 Im Glauben lernt ein Mensch, Angst zu haben Geht es in der religiösen Erziehung darum, humane Existenzmöglichkeiten unter der Bestimmung ,Sünde' zu wiederholen und sich selbst als Sünder zu verstehen, so wird man zunächst untersuchen müssen, wo und in welchem Zusammenhang Kierkegaard von Sünde redet, um sodann bestimmen zu können, inwiefern das Reden von Sünde erzieherisch bedeutsam ist. In seiner Schrift über den .Begriff der Angst' (1844) schreibt Kierkegaard, daß die Sünde eigentlich in keine Wissenschaft gehöre und wissenschaftlich nicht erklärt werden könne 1 . Am ehesten kann Sünde in der Ethik erörtert werden. Da die Voraussetzung der Ethik, jeder Mensch sei im Besitz der Bedingungen, um die als allgemeine Forderung aufgezeigte Idealität zu realisieren, jedoch nicht mit der Wirklichkeit der Sünde rechnet 2 , muß die Sünde dogmatisch vorausgesetzt werden. Auf dieser Voraus1

BA 455. 498 - S.V. IV,288. 321. „Eine Ethik, welche die Sünde ignoriert, ist eine ganz unnütze Wissenschaft, macht sie aber die Sünde geltend, so ist sie eo ipso über sich selbst hinaus" (FuZ 294 - S.V. 111,146). „Sobald die Sünde auftaucht, geht die Ethik zugrunde . . . an der Reue ..." (FuZ 295 Anm. S.V. III, 146f.). 2

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Setzung gründet die zweite Ethik 3 , die mit dem Scheitern der ersten Ethik an der Sünde rechnet und somit bestreitet, daß jeder Mensch die ethische Forderung verwirklichen kann. Die zweite Ethik macht die Idealität im Bewußtsein der Wirklichkeit der Sünde geltend 4 . Sie geht also nicht einfach von der Allgemeingültigkeit der ethischen Forderung aus, sondern von einer spezifischen Differenz im Menschsein (Sünde), die jeden Menschen als Selbst und das ganze Geschlecht zugleich bestimmt 5 . Im Grunde ist die Sünde aber Gegenstand der Predigt, d. h. eines auf Aneignung abzielenden Gesprächs, in dem der Einzelne als Einzelner zum Einzelnen spricht 6 . Das Wesentliche der Predigt besteht gerade nicht darin, ein Wissen über die Sünde mitzuteilen, sondern darin, daß der einzelne Mensch als Sünder auf seine Sünde hin angesprochen wird. Für den Menschen ist die Sünde Adams, der Einsicht Kierkegaards zufolge, nämlich primär eine sprachlich und nicht eine erkenntnismäßig bedingte Möglichkeit. Der Mensch (Adam) kann Sünder werden, weil er mit sich selber spricht, freilich ohne im unmittelbaren Selbstgespräch sich selbst zu verstehen, weswegen die Sprache hier den Einzelnen und das Geschlecht identifiziert und der Sprechende von außen erscheint 7 . Kierkegaard behauptet nun, wie die Sünde in die Welt komme, verstehe jeder Mensch allein mit sich selbst; durch einen anderen könne er es nicht lernen 8 . Es scheint so, als ob damit die Selbsterfahrung des existierenden Einzelnen zum Maßstab der Auslegung von Sünde würde bzw. die Bedingungen der Sünde aus einer Existenzanalyse vom Wesen des Menschen wie sie etwa Heidegger in ,Sein und Zeit' versucht und Bultmann von ihm übernommen hat - aufgeklärt werden sollten. Dieser Verdacht, der von philosophischer Seite immer wieder geäußert wird, findet an Kierkegaard freilich keine Bestätigung 9 . Denn Kierkegaard gibt ein dogmatisches Kriterium an, an dem seine .psychologische' - wir würden heute wohl eher sagen: anthropologische - Untersuchung zum Problem der Erbsünde sich orientiert: die Sünde ist durch eine Sünde in die Welt gekommen 10 , d.h. die Sünde setzt sich selbst voraus. Die biblische Geschichte vom soge3

4 BA 462 - S.V. IV, 294. BA 461 - S.V. IV, 293. 6 BA 470 - S.V. IV,300. BA 455 - S.V. IV,288. 7 8 Vgl. BA 492. 495 - S.V. IV,316. 319. BA 499 - S.V. IV,321. ' Eine solche existenzphilosophische Kierkegaardinterpretation findet sich bei H. Jonas, Die hermeneutische Struktur des Dogmas, in: Augustin und das paulinische Freiheitsproblem, 1930; W.Anz, Fragen der Kierkegaardinterpretation I, in: T h R 2 0 (1952), 27 ff.; ders., Philosophie und Glaube bei Sören Kierkegaard. Uber die Bedeutung der Existenzdialektik für die Theologie, ZThK 51 (1954), 50ff.; W.Schulz, Die Dialektik von Geist und Leib bei Kierkegaard (1968), in: M.Theunissen/W. Greve (Hrsg.), Materialien zur Philosophie Soren Kierkegaards, stw241, Frankfurt/Main 1979, 347 ff. Zur theologischen Kritik dieser Richtung vgl. H.Diem, Dogmatik und Existenzdialektik bei Sören Kierkegaard, in: EvTh 15 (1955), 492 ff. 10 BA473ff. - S.V. IV,303ff. 5

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nannten Sündenfall (Gen 3), an der Kierkegaard seine Einsicht gewinnt, erklärt diesen Sachverhalt ebensowenig, wie die Wissenschaft ihn zu erklären vermag, sondern entfaltet ihn in mythisch-erzählender Form. Die Fragestellung des ,Begriffs der Angst', wie die Sünde entstehen kann 11 , wird darum von Anfang an in Bezug auf die dogmatische Voraussetzung erörtert, obschon Kierkegaard sich der Problematik des psychologischen Vorgehens (welches die Sünde nicht in actu ernstnimmt, sondern in einen beobachtbaren Zustand verkehrt) 12 durchaus bewußt ist. Unter Voraussetzung ihrer Wirklichkeit fragt er nach der Möglichkeit der Sünde, wobei ihm klar ist, daß die wissenschaftliche Betrachtungsweise ihr im Grunde nur unangemessen sein kann 1 3 . Der Wirklichkeit der Sünde angemessen kann nur die Predigt sein, in der der Mensch auf die Sünde hin, d. h. als Sünder angeredet und in der ihm autoritativ - im Namen Jesu Christi - die Vergebung der Sünde zugesprochen wird 14 . Erst im H ö r e n und Glauben der vollmächtig verkündigten Vergebungsbotschaft bewahrheitet sich die dogmatische Voraussetzung. Sie bewahrheitet sich also, indem der auf seine Sünde hin angeredete Einzelne an die Vergebung der Sünde glaubt und sich selbst als Sünder versteht. Wenn ein Mensch sich selbst als Sünder versteht, dann versteht er sich im H o r i z o n t des Glaubens, im H o r i z o n t kirchlicher Verkündigung. In welchem Sinn kann Kierkegaard nun behaupten, daß jeder Mensch allein mit sich selbst verstehe, wie die Sünde in die Welt komme? Im .Begriff der Angst' will Kierkegaard zeigen, wie die Sünde entsteht, ohne durch seine Erklärung die Sünde zu einer Notwendigkeit zu machen (womit die menschliche Freiheit verleugnet würde) oder die Wirklichkeit der Sünde logisch .aufzuheben', d. h. in Wahrheit wegzuerklären. Es gilt also, ein Phänomen zu finden, aus dem sich einerseits die Vorbedingungen des Sündenfalls erklären lassen, das andererseits aber den Sündenfall nicht determiniert oder zum Verschwinden bringt. Dieses Phänomen ist die Angst, das Selbstverhältnis des träumenden, seiner selbst noch nicht bewußten Geistes 15 . In der Unschuld, dem Zustand vor dem Fall, ist der Geist träumend gegenwärtig und ängstigt sich vor seiner eigenen Wirk-

" BA 463 - S.V. IV,294. 12 BA 454 - S.V. IV,287. 13 Es ist also nicht so, daß Kierkegaard eine schiedlich-friedliche Arbeitsteilung von Theologie und Psychologie beabsichtigt oder betreibt (gegen H. Harsch, Das Schuldproblem in Theologie und Tiefenpsychologie, Heidelberg 1965, 11). Kierkegaards wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens Angst ist vielmehr von vornherein dogmatisch bestimmt, freilich ohne dogmatisch zu argumentieren. Eine neutrale, vom christlichen Glauben unabhängige Humanwissenschaft liegt nicht in seinem Interesse. Ob sie überhaupt von theologischem Interesse sein kann, ist m.E. sehr zu bezweifeln. 14 Vgl. Diem, Dogmatik und Existenzdialektik, aaO., 502. 15 BA 487. 490 - S.V. IV,313. 315.

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lichkeit als einem Nichts 16 . Unschuld bedeutet, daß der Mensch unwissend, noch nicht als Geist bestimmt ist, sondern „in unmittelbarer Einheit mit seiner Natürlichkeit" 1 7 lebt. Kierkegaard versteht den Menschen als eine Synthese von Leib und Seele, in der der Geist unmittelbar, d. h. träumend zugegen ist18. Der Geist verhält sich hier zu sich selbst und zu seiner Bedingung - dem Verhältnis von Leib und Seele - als Angst 19 . Was den Menschen in der Unschuld ängstigt, ist näherhin die Möglichkeit der Freiheit, zwischen gut und böse wählen zu können 2 0 . Diese zugleich verlokkende und abstoßende Möglichkeit führt den Menschen in Versuchung. Die Folge des Sündenfalls, der sich selber als qualitativer Sprung der psychologischen Erklärung entzieht, ist, daß die Sünde in die Welt kommt und das Sexuelle durch den Geist gesetzt wird 21 . Sünde qualifiziert die Sinnlichkeit des Menschen als Sündhaftigkeit. Die Sexualität ist das Äußerste des Sinnlichen; darum tritt die menschliche Sündhaftigkeit in besonderer Weise an ihr hervor. Indem der Geist sich selbst setzt, setzt er die Synthese und das Sexuelle als sein Extrem, d. h. er verhält sich zu seiner sexuellen Bestimmtheit als Mann oder Frau. So beginnt mit der Sündhaftigkeit allererst die Geschichte des Menschengeschlechts 22 . In den Individuen nach Adam ist die Angst, Folge der Erbsünde, reflektierter als in Adam, einmal aufgrund des quantitativen Zuwachses (die Geschichte des Geschlechts schreitet voran) 23 , zum anderen, weil der Geist nunmehr nicht latent gegenwärtig, sondern ausdrücklich gesetzt und somit seiner selbst bewußt geworden ist. Zugleich aber muß jeder Mensch (als Einzelner) sich die Voraussetzung der Sündhaftigkeit aneignen (das Individuum beginnt ständig von vorn, wiederholt folglich die Geschichte des Geschlechts) 24 . „Angst bedeutet nun also zweierlei: Die Angst, in der das Individuum die Sünde durch den qualitativen Sprung setzt, und die Angst, die mit der Sünde hineingekommen ist und ständig hineinkommt und insofern also auch quantitativ in die Welt kommt, jedesmal wenn ein Individuum die Sünde setzt." 25 Zwischen dem Zustand vor dem Sündenfall und dem Zustand nach dem Sündenfall besteht demnach ein wesentlicher Un" BA 488 - S.V. IV,313. 17 BA 487 - S.V. IV,313. 18 Die Bestimmung des Menschen als Synthese findet sich bei Kierkegaard mehrfach. Vgl. BA 490. 542 - S.V. IV,315. 355; K z T 3 1 . 50 f. - S.V. IX, 127. 143 f. " BA 490 - S.V. IV,315. 20 BA491 - S.V. IV,316. Ähnlich F.W.J.Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), stw 138, Frankfurt/Main 1975, 48, wo Freiheit als Vermögen des Guten und Bösen definiert wird. 21 BA496 - S.V. IV,319. 22 BA 501 - S.V. IV,323. 23 BA 471 - S.V. IV,301. 24 BA 471 - S.V. IV,301. 25 BA 503 - S.V. IV,325.

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terschied. War Menschsein vor dem Fall allein durch die Angst des Geistes vor sich selbst bestimmt, so ist es nach dem Fall sowohl durch die - nunmehr bewußt gewordene - Angst des Geistes vor sich selbst wie auch durch die Angst vor dem In-der-Welt-Sein, d. h. vor dem „Gegensatz zwischen welthaftem Leib und weltlosem Geist" 26 gekennzeichnet. Erst nach dem Sündenfall gibt es ein wirkliches Weltbewußtsein, ist das Weltverhältnis als etwas gesetzt, was quer durch den Einzelnen hindurchgeht, sofern dieser als Geistwesen weltlos ungebunden und zugleich als Leibwesen welthaft gebunden ist27. Durch den Sündenfall wird die menschliche Struktur umgewandelt, sodaß nun allererst von menschlicher Existenz die Rede sein kann: „erst nach dem Sündenfall gibt es überhaupt den Menschen als ein sich verstehendes Wesen." 28 Kierkegaard unterscheidet im folgenden zwischen der subjektiven Angst des Individuums, in der es die Sünde ,setzt', und der objektiven Angst als Reflex der Sündhaftigkeit der Generation in der ganzen Welt 29 . Subjektive Angst ist jene Angst vor der Sünde, die die Sünde gerade hervorbringt: 30 das Individuum wird schuldig aus Angst, für schuldig gehalten zu werden 31 . Objektive Angst ist die Angst in der Schöpfung, die nicht durch die Schöpfung entsteht, sondern dadurch, daß die Sünde fortwährend in die Welt kommt: „jedesmal, wenn die Sünde in die Welt kommt" durch jeden konkreten Akt der Sünde - „wird Sinnlichkeit zu Sündhaftigkeit ..." 32 . In der Ontogenese wie in der Phylosgenese gilt die Reihenfolge: je mehr Bewußtheit, desto mehr Angst, je mehr Angst, desto mehr Sinnlichkeit. Geschichtlich gesehen nimmt die Sündhaftigkeit des Geschlechts zu (quantitative Steigerung), psychologisch gesehen gilt aber gleichwohl, daß jedes Individum durch sich selbst33 und nicht aufgrund der Sündhaftigkeit des Geschlechts schuldig wird (qualitativer Sprung). Daß Sinnlichkeit zur Sündhaftigkeit wird, bedeutet nicht, daß sie es an sich ist, sondern - wie Kierkegaard mehrfach betont 34 - daß die Sünde sie dazu macht. Dieses Wissen ist eine neue Möglichkeit der menschlichen Freiheit, sich zur Sinnlichkeit zu verhalten, eine Möglichkeit, die erst durch das Christentum in die Welt gekommen ist35. Gleichwohl gilt auch im Christentum wie zuvor im Griechentum, daß das spätere Individuum wesentlich ebenso ursprünglich ist wie das erste36, obschon Sinnlichkeit und Angst zugenommen haben, weil die Freiheit nun größer geworden ist. Der wesentliche Unterschied des Christentums zum Heidentum besteht

26 27 29 31 33 35

W.Schulz, Die Dialektik von Geist und Leib, aaO., 354. 28 Vgl. Schulz, ebd., 354. Schulz, ebd., 356. 30 BA 506 - S.V. IV,327. BA 527 - S.V. IV,342. 32 BA 529 - S.V. IV,343. BA 509 - S.V. IV,329. 34 BA 503 - S.V. IV,325. BA 509. 528 - S.V. IV,329. 342. 36 BA 528 - S.V. IV,342. BA 515 - S.V. IV,334.

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im Verhältnis zur Schuld, das nun als durch die Freiheit gesetzt erkannt wird. Die Freiheit verhält sich zur Schuld, indem sie sich vor ihr ängstigt, und kommt als Reue wieder, sobald die Schuld gesetzt ist37. Dies vermag der Einzelne nur so zu erfahren, daß er sich vor der Schuld ängstigt und, schuldig geworden, seine Schuld bereut. „Nur duch sich selbst kann die Freiheit zu wissen bekommen, ob sie Freiheit ist oder ob die Schuld gesetzt ist."38 Seiner Freiheit gewiß wird das Individuum, indem es von ihr Gebrauch macht. Mit dem Bewußtsein der Freiheit wächst jedoch die Angst vor dem schuldhaften Verlust der Freiheit, in deren Vermögen das Schuldigwerden liegt. Den rechten Gebrauch von seiner Freiheit kann das Individuum nur in der Gewißheit und Innerlichkeit des Ernstes machen 39 . „Wenn die Ursprünglichkeit des Ernstes erworben und bewahrt wird, ist eine Sukzession und Wiederholung da; sobald die Ursprünglichkeit in der Wiederholung ausbleibt, ist die Gewohnheit da." 40 Um etwas mit Ernst zu tun, muß man freilich den Gegenstand des Ernstes kennen. Diesen Gegenstand hat jeder Mensch in sich selbst41. Daß das spätere Individuum wesentlich ebenso ursprünglich ist wie das erste, bedeutet: für jeden Menschen gehört die ängstigende Möglichkeit der Freiheit unabtrennbar zu seinem Menschsein. In ethischer Hinsicht ist darum jedem die ,Wahl der Freiheit' aufgegeben, sich selbst als dieses bestimmte Individuum zu wählen 42 . Daß jedes Individuum es selbst und das Geschlecht zugleich ist, bedeutet: jeder Mensch wird allererst dadurch Mensch, daß er diese Möglichkeit der Freiheit verwirklicht, d. h. dadurch, daß er im Vollzug der Selbstwahl schuldig wird und seine Schuld bereut. Der Mensch wird erst Mensch im Sündenfall 43 , der sich als „verallgemeinerte Form der ethischen Selbstwahl"44 begreifen läßt. Was ethisch allen aufgegeben ist, die Selbstwahl, erweist sich dogmatisch als Adams Fall, d. h. als Sünde des Einzelnen und des Geschlechts zugleich. Darin, daß der Mensch durch den Gebrauch seiner Freiheit schuldig wird, und erst recht darin, daß er es aus Angst wird, erweist er sich als Sünder, der die Geschichte des Geschlechts wiederholt 45 . In wissenschaftlicher Hinsicht er57

38 BA 573 - S.V. IV,378. BA 573 - S.V. IV,378. 40 " BA 620 - S.V. IV,412. BA 623 - S.V. IV,415. 41 BA 625 - S.V. IV, 416. M.Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, Freiburg-München 3. Aufl. 1982, bezeichnet den Ernst treffend als „die Ganzheitsstruktur des Selbstseins" (135), sofern der Mensch im Ernst zu sich selber kommt und seine Wirklichkeit findet. 42 EO II 816 - S.V. 11,225. 43 Darin ist Kierkegaard mit Hegel einig (vgl. dessen Phil. d. Rel. I [ThWA Bd. 16], 264 ff.). 44 So Schulz, aaO., 351. 45 Hier steht Kierkegaard in Widerspruch zu Hegel, für den Weltgeschichte ein in seiner Notwendigkeit einsehbarer Prozeß fortschreitenden Freiheitsbewußtseins ist (vgl. ders., Phil, d. Gesch. [ThWA Bd. 12], 32).

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gibt sich daraus: was Menschsein ausmacht, wird am einzelnen Menschen erkennbar*b, sofern dieser sich als er selbst zum Geschlecht (zur Menschheit) verhält. Die psychologische Untersuchung des Phänomens Angst in seinen mannigfachen Formen will darauf aufmerksam machen, daß es christlich gerade darum geht, sich ,in Adam' als Sünder sui generis zu verstehen, der die Sündhaftigkeit des Geschlechts ,erbt'. Sich selbst ,in Adam' zu verstehen heißt in der Sphäre der Wissenschaft eben, am einzelnen Menschen erkennen, was Menschsein im allgemeinen ausmacht. „Was Adam erklärt, erklärt auch das Geschlecht, und umgekehrt." 4 7 Der psychologische Beobachter muß sich darum eingestehen, daß er dem zu beobachtenden und zu erklärenden Phänomen - in diesem Fall der Angst - nur dann gerecht wird, wenn er es am Einzelnen aufsucht und sich in ihn hineinversetzen kann. Er muß sich eingestehen: „das, was einem einzelnen Menschen geschah, kann allen geschehen." 48 Dies gilt vor allem in Bezug auf die Angst, von der jeder auf besondere und ureigenste Weise betroffen ist. Wer sich selbst ,in Adam' versteht, wird die Angst nicht, ausgehend von einem spekulativen Begriff oder einer empirischen Vorstellung, als eine allgemein-menschliche Befindlichkeit des Daseins' verstehen 49 , sondern als „die innere Verfassung des unerlösten Menschen," 5 0 mithin als eine Bestimmung der Sünde. Der spekulative Denker wie auch der streng empirische Beobachter sehen von sich selbst, von ihrer eigenen Betroffenheit ab, d. h. sie verstehen sich nicht in ihrer Erklärung des Phänomens. Der psychologische Beobachter, der sich unter der Bestimmung Sünde versteht, versteht sich selbst in der Erklärung. Die Sünde vereinzelt den Menschen und setzt ihn ins Verhältnis zu sich selbst wie zum Geschlecht. Insofern vertieft ein Mensch, der sich als Sünder versteht, sich in die Sündhaftigkeit 46

So werden schon in .Entweder-Oder' (1843) die Stadien des Ästhetischen und des Ethischen an einem Ästhetiker und einem Ethiker dargestellt. G. Schultzky, Die Wahrnehmung des Menschen bei Seren Kierkegaard, Göttingen 1977, 135. 184. 228 ff., hat gezeigt, daß Kierkegaard den Menschen als Einzelnen zur Sprache bringt, weil hier die Sünde als absolute Differenz zwischen dem wirklichen und dem wahren Menschen anschaulich wird. „Der Einzelne ist der auf seine Differenz zum wahren Menschen hin Ansprechbare . . ( e b d . , 230), der in seiner Existenz zu bewähren hat, was der Mensch in Wahrheit ist (ebd., 232). 47 BA 472 - S.V. IV,302. 4S BA 503 - S.V. IV,325. 49 Wie es M. Heidegger in ,Sein und Zeit' § 40 (über die Angst als Grundbefindlichkeit des Daseins) tut, wo die Angst zum Widerschein des In-der-Welt-Seins ontologisiert wird (ebd., 186). Heideggers Kierkegaardinterpretation hat in der katholischen Religionsphilosophie Schule gemacht. Nach B.Welte ist der Mut zur Angst eine im Glauben zu ergreifende Möglichkeit des Menschen. Obwohl er sich auf Kierkegaard beruft, ist deutlich, daß er im Gegensatz zu Kierkegaard nicht vom Menschen post lapsum redet, der seine Freiheit verspielt hat und allererst dazu befreit werden muß, das Erbe der Angst zu übernehmen. Vgl. B.Welte, Dasein als Hoffnung und Angst, in: ders., Zwischen Zeit und Ewigkeit, Freiburg 1982, 72-95, bes. 85 ff. 50 A. Paulsen, Sören Kierkegaard, 209.

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des Geschlechts. Geht es nun darum, zu zeigen, wie die Sünde entsteht (wozu die ganze Abhandlung über den ,Begriff der Angst' dient), so kann dies nur so geschehen, daß der Erklärende bzw. der Wissenschaftler sich als Einzelner zu sich selbst und zum Geschlecht verhält. Als Einzelner verstehen, wie die Sünde in die Welt kommt, heißt für den Wissenschaftler wie für jeden Menschen nichts anderes als sich selbst als Sünder bzw. ,in Adam' verstehen. Dazu bedarf es der Ursprünglichkeit des Ernstes. Zur wissenschaftlichen Darstellung des Phänomens müssen freilich noch dichterische Ursprünglichkeit, d.h. Einbildungskraft auf Seiten des Beobachters 51 und ein geeignetes Individuum als Beobachtungsgegenstand 52 hinzukommen. Die von Kierkegaard phänomenal beschriebenen Formen der Angst indizieren Formen der Sünde im Verhältnis von Geist und Leib (innermenschlich), im Verhältnis von Mensch und Schöpfung (außermenschlich) und im Verhältnis von Mann und Frau (zwischenmenschlich). Besondere Aufmerksamkeit widmet er der Angst als Folge derjenigen Sünde, die im Ausbleiben des Sündenbewußtseins besteht 53 . Sie erscheint im Verhältnis von Mensch und Zeit, in der Verhältnislosigkeit des modernen Menschen gegenüber dem Geist, im Verhältnis des Griechentums zum Schicksal und im Verhältnis des Judentums zur Schuld. Die Angst als Folge der Sünde im Einzelnen äußert sich als Angst vor dem Bösen und als Angst vor dem Guten (das Dämonische). Diese Phänomenologie der Angst zielt darauf ab, dem Menschen in der Moderne zu wahrem Menschsein zu verhelfen. Denn obwohl durch den Sündenfall ausnahmslos alle Menschen zu Sündern geworden sind, ist doch erst durch das Christentum das Verhältnis des Menschen zur Sinnlichkeit und zur Sexualität in seiner ganzen Problematik erkannt. Das zeigt sich darin, daß im Christentum das Religiöse das Erotische suspendiert hat, „weil im Geiste kein Unterschied ist zwischen Mann und Frau." 54 Darum stellt sich im Christentum die Aufgabe, das Sexuelle in die Bestimmungen des Geistes hineinzugewinnen 55 . Daß Menschsein überhaupt durch den Geist bestimmt ist, ist dem geistlos, d. h. heidnisch lebenden Menschen jedoch fremd. Kierkegaard findet nun Anzeichen solcher Geistlosigkeit (die daran kenntlich wird, daß sie keine Angst hat) 56 sowohl ante als auch post Christum natum. In der Moderne wiederholt sich folglich das Heidentum im Christentum 57 . Die Problematik des Verhältnisses zur Sinnlichkeit verschärft sich, sofern man nun wieder in quantitativen Bestimmungen lebt und sich spekulativ aus dem existentiellen Zusammenhang zwischen Selbst und Geschlecht herausreflektiert. Wenn Kierkegaard seiner Zeit daher " BA 504 BA 505 54 BA 524 56 BA 556 52

-

S.V. S.V. S.V. S.V.

IV,326. IV,326. IV,340. IV,365.

" Vgl. BA 537ff. - S.V. IV,350ff. » BA 536 - S.V. IV,349. 57 BA 553 - S.V. IV,363.

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Geistlosigkeit und dämonischen Mangel an Gewißheit bzw. Innerlichkeit 58 diagnostiziert, so urteilt er vom Standpunkt des Geistes aus. Er verhält sich als Einzelner zu sich selbst und zum Geschlecht. Damit gibt er seiner Zeit zu verstehen, daß er sich als Sünder versteht, der sich die Voraussetzung der Sündhaftigkeit des Geschlechts angeeignet hat. Die eigentliche Sünde des Menschen in der Moderne besteht darin, sich nicht als Einzelner zu sich selbst und zum Geschlecht zu verhalten, d. h. darin, in einem unfreien Verhältnis zu der in Christus offenbarten Wahrheit zu leben - darauf will Kierkegaard den Leser aufmerksam machen. Wahres Menschsein ist nur unter der Voraussetzung möglich, daß der Mensch durch die Wahrheit allererst befreit wird 59 . Eben diese Befreiung aus der selbst verschuldeten Unfreiheit ist in Christus geschehen, denn er ist der einzige Mensch, „der unschuldig über die Sünde Leid trug ... als der, der es frei erwählte, die Sünde aller Welt zu tragen und ihre Strafe zu erleiden." 60 Durch ihn ist die Freiheit wiederhergestellt, das Gute somit verwirklicht. Wer sein Wesen davon durchdringen läßt, erkennt sich als Sünder und wiederholt die Angst (das Verhältnis der Freiheit zu sich selbst als Möglichkeit) als humane Existenzmöglichkeit. Die glückliche Wiederholung der Angst vollzieht sich im Glauben. Dem entspricht die Einsicht: Jeder Mensch muß lernen, Angst zu haben, d. h. seine Erfahrung über die Möglichkeit der Freiheit machen. „Die Angst ist die Möglichkeit der Freiheit; nur diese Angst ist durch den Glauben absolut bildend, indem sie alle Endlichkeiten verzehrt, alle ihre Täuschungen aufdeckt." 61 Durch die Angst wird der Mensch frei von der Endlichkeit für die Unendlichkeit. Um so durch die Möglichkeit gebildet zu werden, bedarf es des Glaubens als der inneren Gewißheit, die die Unendlichkeit vorwegnimmt 62 . Erst wer die Angst der Möglichkeit durchgemacht hat, ist so gebildet, daß er keine Angst mehr hat 63 . Im Glauben verhält sich ein Mensch zur Angst als Indiz der Sünde. So wird er durch die Angst dazu erzogen, ,in der Vorsehung zu ruhen', d.h. darauf zu vertrauen, daß bei Gott alles möglich ist63*. Er braucht sich nicht mehr davor zu ängstigen, daß er schuldig wird, sondern findet in der Versöhnung Ruhe 64 . Kierkegaards Phänomenologie der Angst will zeigen, daß wahres Menschsein nur gelingt, wenn ein Mensch lernt, Angst zu haben. Die Angst erscheint darin durchgängig als Indiz der Sünde, indiziert also ein 58

BA 553ff. 61 Iff. - S.V. IV,363ff. 405ff.; vgl. K z T 7 0 f f . - S.V. XI, 157ff. " Vgl. PhB 25f. - S.V. IV, 186f. BA 484 - S.V. IV,310. " BA631 - S.V. IV,421. " BA 633 - S.V. IV,423. " BA 634 - S.V. IV,423. "» Vgl. FuZ 226 - S.V. 111,97, und KzT 61 - S. V. XI, 151. " BA 638f. - S.V. IV, 426f.

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Verhältnis selbstverschuldeter Unfreiheit, weswegen ihre Überwindung nur im Ernst des Glaubens an die in Christus geschehene Befreiung (Erlösung) geschieht. Insofern ist Kierkegaards Phänomenologie nicht nur von Heideggers Daseinsanalytik, sondern auch von der Freudschen Psychoanalyse zu unterscheiden. Diese objektiviert die Angst zu einer Gefühlsreaktion, die entweder durch reale äußere oder innere (triebbedingte) Gefahren oder durch den Widerspruch zwischen verinnerlichten Normen und der äußeren Realität hervorgerufen wird. Realangst, neurotische Angst und moralische Angst 65 gehören nicht ursprünglich zum Menschsein, sondern sind innerhalb des Schemas von Reiz und Reaktion kausal erklärbar. Alle drei Formen der Angst reagieren auf Reize, die auf den menschlichen Organismus einwirken und sich objektiv lokalisieren lassen. Die erste und die dritte Form der Angst gehen auf Umwelteinflüsse bzw. erzieherischen Einfluß zurück und sind daher so weit zu bewältigen, wie man in diese eingreifen kann. Das Selbstverhältnis des Menschen wird hier nur von außen berührt. Die zweite Form (neurotische Angst) geht auf leib-seelische Einflüsse zurück, zu denen ein Mensch sich faktisch auf bestimmte Weise verhält. Das faktische Selbstverhältnis wird hier als zwanghafte (neurotische) Fixierung erklärt, deren Uberwindung durch die Erklärung möglich wird, sofern diese die zunächst unbekannte Gefahr in den Rahmen des Bekannten einordnet. Psychoanalyse ist auf Erklärung und Beseitigung krankhafter Angstgefühle ausgerichtet (zu denen nur die neurotische und die moralische Angst gehören). Kierkegaard will dagegen die Angst als conditio humana des unerlösten Menschen aufweisen, damit der Mensch sich selbst in seiner Angst religiös verstehe und auf das erlösende Moment der Angst aufmerksam werde.

8.2 Im Glauben lernt ein Mensch, schuldig zu werden und seine Schuld zu bereuen Wie wir gesehen haben, weist Kierkegaard an der Angst das Phänomen der Schuld auf 66 . Im Judentum äußert sich für ihn exemplarisch das Angstverhältnis zur Schuld. Der Jude versucht die Schuld durch wiederholte Opfer zu tilgen, ohne damit das Angstverhältnis aufheben zu können 67 . 65 Ich beziehe mich hier auf die Angsttheorie des späten Freud, wie sie dargestellt ist in den Schriften: Hemmung, Symptom und Angst (1926), in: Studienausgabe Bd. VI, Frankfurt/ Main 2. Aufl. 1972, 227-308; Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933), in: Studienausgabe Bd.I, Frankfurt/Main 5. Aufl. 1974, 448-608. Vgl. dazu M. Härtung, Angst und Schuld in Tiefenpsychologie und Theologie, Stuttgart-Berlin-KölnMainz 1979, 17-20. " Vgl. BA 565ff. - S.V. IV,372ff. " BA 566f. - S.V. IV,373f.

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Erst durch das Opfer Christi ist das wirkliche Verhältnis zur Schuld gesetzt, sodaß es keiner Wiederholung des Opfers mehr bedarf 68 . In der Sphäre des Religiösen ist Schuld zu einer Totalitätsbestimmung geworden, die das menschliche Dasein als Ganzes qualifiziert 69 . „Die Totalität der Schuld entsteht für das Individuum dadurch, daß es seine Schuld ... mit dem Verhältnis zu einer ewigen Seligkeit zusammensetzt." 70 Ein solches Schuldbewußtsein ist „die größtmögliche Vertiefung in die Existenz," 71 verharrt aber noch in der Immanenz, sofern die Identität des Subjekts gewahrt bleibt72. In der Sphäre des Christlichen kommt es zu einer paradoxen Verwandlung der Existenz: der Existierende bekommt mitgeteilt, daß er im Medium der Sünde lebt. „Existieren bedeutet sonst bloß, daß das Individuum dadurch, daß es geworden ist, da ist und im Werden ist; nun bedeutet es, daß es dadurch, daß es geworden ist, zu einem Sünder geworden ist."73 „Im Sündenbewußtsein wird sich das Individuum in seiner Verschiedenheit vom Allgemein-Menschlichen bewußt, das nur durch sich selbst sich dessen bewußt wird, was es heißt, qua Mensch zu existieren." 74 Im Sündenbewußtsein kommt es also zum Bruch mit der Immanenz des allgemein-menschlichen Selbstbewußtseins: das Subjekt selbst wird verändert 75 . Schuld ist stets ein Verhältnis der Freiheit zu sich selbst. Die Freiheit will das Gute realisieren und erfährt dabei, daß sie sich verfehlt hat, d. h. schuldig geworden ist. Mit Hegel versteht Kierkegaard unter Schuld nicht, daß einer etwas Böses getan hat, sondern daß dem Menschen sein ganzes Tun zurechenbar ist76. Sobald die Schuld gesetzt ist, kommt die Freiheit als Reue wieder 77 . „Reue ist ... das Verhältnis zwischen etwas Vergangenem und etwas, was sein Leben in der gegenwärtigen Zeit hat." 78 An der Reue zeigt sich, daß ein Mensch schuldig geworden ist. Die „unendliche Bewegung der Reue" 79 bringt die Schuld allererst zum Ausdruck, sofern der Einzelne sich bereuend in sich selbst vertieft. In den .Stadien auf des Lebens Weg' (1845) heißt es daher, es sei „das höchste innere Handeln eines Menschen," 80 zu bereuen. „Bereuen ist keine positive Bewegung von 68

BA 567 - S.V. IV,374. Vgl. Hebr9,25ff. " „Der Begriff der Schuld gehört als Totalitätsbestimmung wesentlich der religiösen Sphäre an" ( U N 737 - S.V. VII,468). 70 U N 728 - S.V. VII,462. 71 U N 730 - S.V. VII,463. 72 U N 731 - S.V. VII,464. 73 U N 792 - S.V. VII,508. 74 U N 793 - S.V. VII,509. " Vgl. U N 731 f. - S.V. VII,464f. 76 BA 511 - S.V. IV,331. Vgl. Hegel, Phil. d. Rechts, Ullstein-TB 2929, § 117. 77 BA 573 - S.V. IV,378. 78 Aus Anlaß einer Beichte, in: Erbauliche Reden in verschiedenem Geist (1847), übers, von H.Gerdes, 15 - S.V. VIII, 123. 7 ' FuZ 295 - S.V. 111,147. 80 St 506 - S.V. VI,442.

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etwas fort oder zu etwas hin, sondern eine negative Bewegung nach innen zu, nicht ein Tun, sondern ein durch sich selbst sich etwas widerfahren lassen." 81 Die Reue ist der höchste Ausdruck des Ethischen und zugleich der tiefste ethische Widerspruch 8 2 , da sie die Ethik an der Sünde stranden läßt 83 . Sie offenbart einerseits, daß der Einzelne an die Grenze des Ethischen stößt, wenn er schuldig wird, und will andererseits das Bewußtsein der Schuld verarbeiten, wodurch sie sich gerade als ethische Handlung erweist. Die im ethischen Stadium aufgegebene Selbstwahl ist mit der Reue identisch 84 . Wer nämlich sich selbst wählt, „bereut sich in sich selbst zurück, zurück in die Familie, zurück in das Geschlecht, bis er sich selbst findet in Gott." 8 5 Da die Reue aber nicht wegbekommt, was sie bereut, verstrickt sie sich immer tiefer in die Erinnerung der Schuld. So sehr ein Mensch aus eigener Kraft die unendliche Bewegung der Reue machen kann, so wenig kann er aus eigener Kraft in die Endlichkeit zurückkommen und die Wirklichkeit ergreifen 86 . Gerade weil die Reue die Totalität der Schuld entdeckt, kann sie sie nicht wirklich verarbeiten. Die Angst, das Erbe der Sünde Adams, verhindert, daß der Mensch durch die ethische Selbstwahl sich in Gott findet. Erst der Glaube an die Sündenvergebung ermöglicht es, die Schuld wirklich zu verarbeiten. Im Verhältnis zu Christus, dem ,Gott in der Zeit', erfährt das Individuum, daß es dadurch, daß es geworden ist, zu einem Sünder geworden ist 87 . Sofern es sich nun Christus schuldet, kann und soll es beständig Reue und Buße tun und die Schuld immer innerlicher bereuen 88 . Denn nur so vollzieht es die Wiederholung des Daseins, das dagewesen und durch die Sünde als Nichtseiendes qualifiziert ist, als eines qualitativ neuen 89 . In der Wiederholung wird der Mensch, was er ursprünglich ist, d. h. er wiederholt das ursprüngliche rechte Verhältnis zu Gott und zu sich selbst. Wer kraft der Sündenvergebung seine Schuld bereut, der erhält die Zeitlichkeit wieder als Geschichte, in der die Gegenwart des Ewigen Sein und Wirklichkeit schafft. Er wird aus der Vergangenheit der Sünde zur Z u k u n f t des Glaubens befreit, die wiederholte Vergangenheit ist. So zeigt Kierkegaard an den Phänomenen Schuld und Reue, daß nur ein Mensch, der sich als Sünder versteht, seine Schuld wirklich verarbeiten kann. Er ist durch Christus dazu befreit, die Schuld immer innerlicher zu 81

St 506f. - S.V. VI,442f. St 507 - S.V. VI,443. Vgl. FuZ 295 - S.V. III, 147. 83 BA457 - S.V. IV,289. 84 EO II 813 - S.V. 11,223. 85 EO II 774 - S.V. 11,194. 8 ' FuZ 296 - S.V. 111,147. 87 Vgl. U N 792f. - S.V. VII,508f. 88 Aus Anlaß einer Beichte, aaO., 17. 23 - S.V. VIII, 124. 129. 89 Vgl. BA 539 Anm.2 - S.V. IV,353.

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bereuen, ohne sie - sei es durch Reue, sei es durch Opfer - wegbekommen zu müssen, d. h. er ist frei geworden vom Wiederholungszwang der Schuld. Im Glauben an die Sündenvergebung erhält er sein endliches Dasein in der Zeit als neugewordenes zurück, das er nun dem schuldet, der das wirkliche Verhältnis zur Schuld gesetzt hat. Daß der Mensch sich in Schuld und Reue religiös bzw. daß er sein ganzes Dasein unter der Bestimmung ,Sünde' als schuldhaft verstehe - darum geht es Kierkegaard hier ebenso wie in der Phänomenologie der Angst. Die Freudsche Psychoanalyse unterscheidet demgegenüber ein falsches (weil unbewußt und zwanghaft wirkendes) und ein echtes Schuldgefühl bzw. Reue (die auf realer Schuld beruht) 90 . Wie bei der Analyse von Angstgefühlen beschränkt Freud sich auch bei der Analyse von Schuldgefühlen auf deren krankhafte (neurotische) Formen, insbesondere Zwangsneurose und Melancholie. Beide sind dadurch gekennzeichnet, daß der Patient sich beständig angeklagt fühlt bzw. sich beständig selbst anklagt 91 . Diese Anklagen und Selbstvorwürfe werden auf die dem Ich kritisch gegenüberstehende moralische Instanz des Uber-Ich zurückgeführt. „Das Uber-Ich legt den strengsten moralischen Maßstab an das ihm hilflos preisgegebene Ich an, es vertritt ja über. haupt den Anspruch der Moralität, und wir erfassen mit einem Blick, daß unser moralisches Schuldgefühl der Ausdruck der Spannung zwischen Ich und Uber-Ich ist."92 Sofern das Uber-Ich sich bildet im Zuge der Identifikation mit der elterlichen Autorität, ist das Schuldgefühl nicht nur Ausdruck einer individuellen Beeinträchtigung des Ich, sondern auch Folge des Niederschlags der Kulturentwicklung innerhalb der menschlichen Seele. Daher gelangt Freud von der Analyse des falschen, krankhaften Schuldgefühls zur Kritik des kulturellen Über-Ich, dessen Idealforderungen den Menschen im Grunde überfordern 93 . Die Beschränkung auf subjektiv-unbewußte Schuldgefühle (denen oft keine objektive Schuld entspricht) wird also nicht durchgehalten, sondern Freud versucht, „das ganze Phänomen der Schuld allein aus diesen innerpsychischen Vorgängen zu erklären." 94 Dementsprechend können Angst- und Schuldgefühle nur überwunden werden, indem man die ihnen zugrunde liegenden psychischen Konflikte bewußt macht und das geschwächte Ich gegenüber den Ansprüchen von Über-Ich und Es stärkt. In unserem Zusammenhang ist es nun bedeutsam, daß Freud die Religion nur als Ausdruck zwanghafter 90

Vgl. Härtung, Angst und Schuld, 22. Vgl. Harsch, Das Schuldproblem, 68. 92 Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933), in: Studienausgabe Bd.I, Frankfurt/Main 5.Aufl. 1974, 499f. 93 Vgl. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt/ Main 1974, 191-270. Zu diesen Idealforderungen gehört nach Freud auch das jüdisch-christliche Gebot der Nächstenliebe. 94 Harsch, Das Schuldproblem, 91. 91

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Schuldgefühle und nicht in ihrem Bezug zu realer Schuld und Reue wahrzunehmen vermag 95 . Kierkegaard weist dagegen auf die befreiende Kraft des Religiösen hin: wer sein ganzes Dasein Christus schuldet, der ihn aus selbstverschuldeter Unfreiheit befreite, versteht sich in jedem Augenblick als Schuldig-Werdender, ohne sich vor dem Schuldigwerden zu ängstigen. Der von Freud diagnostizierte zwangsneurotische Charakter ritueller Vollzüge spricht nach Kierkegaard für ein Angstverhältnis zur Schuld, das einer spezifischen Religiosität (nicht der Religion im allgemeinen) angehört und durch Christus aufgehoben wurde.

8.3 Im Glauben lernt ein Mensch, an sich selbst zu verzweifeln Hatte Kierkegaard bei der Beschreibung von Angst und Schuld eher nebenbei angedeutet, daß er diese Phänomene im Horizont des Glaubens untersucht, so geht er in seiner Schrift über ,Die Krankheit zum Tode' (1849) explizit vom Glauben als spezifisch christlicher Voraussetzung aus. Erst im Glauben weiß nämlich der Mensch, was die Krankheit zum Tode ist: Verzweiflung 96 . Während der natürliche Mensch den Tod als das Schlimmste ansieht, betrachtet der Christ die Verzweiflung als das größte Elend, sofern sie ihm im Glauben als Sünde offenbar wird. Der natürliche Mensch weiß nicht, was Sünde ist, eben weil er in der Sünde lebt97. Damit hat Kierkegaard von Anfang an klargestellt, daß er die Verzweiflung nicht neutral als allgemein menschliches Existenzproblem betrachtet, sondern im Glauben, der die Verzweiflung als Krankheit zum Tode aufdeckt und zugleich auf das Heilmittel verweist, das neues Leben schenkt. Das methodische Prinzip seiner Darstellung bzw. das Lebensverhältnis, aus dem jenes hervorgeht, ist das Erbauliche, denn christlich verstanden soll alles zur Erbauung dienen. „Alles Christliche muß in der Darstellung Ähnlichkeit mit den Ausführungen des Arztes am Krankenbett haben; ob sie auch nur der kundige Arzt versteht, so darf doch niemals vergessen werden, daß sie am Krankenbett gesprochen werden. Dieses Verhältnis zum Leben (im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen Ferne vom Leben), oder diese ethische Seite des Christlichen ist gerade das Erbauliche .. ."98 Der christliche Autor versteht seine wissenschaftliche Bemühung als Unterredung mit ,s Vgl. Freud, Zwangshandlungen und Religionsübungen (1907), in: Studienausgabe Bd. VII, Frankfurt/Main 1973, 11-21, wo die Religion als .universelle Zwangsneurose' bezeichnet wird. * KzT 29 - S.V. XI, 123. 97 KzT 131 - S.V. XI,206. ,e KzT 25 - S.V. XI, 117.

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dem Leser, in der er seine Wissenschaft anwendet. In Entsprechung zu Jesus Christus, wie er in den synoptischen Evangelien bezeugt ist (vgl. M k 2,17 par M t 9,12 f.; Lk 5,31 f) verhält er sich zum Leser nicht als Subjekt zum Objekt, sondern als Arzt zum Kranken, den es zu heilen gilt, wobei es f ü r die Heilung wesentlich darauf ankommt, daß Arzt und Kranker sich solidarisch in der Krankheit verstehen. D . h . der Autor vermag nur dann in der Anwendung seiner Wissenschaft erbaulich zu sein, wenn er nicht nur den Leser als Sünder anredet, sondern zugleich sich selbst als Sünder versteht". Die Diagnose der Krankheit und die Beschreibung ihrer verschiedenen Formen sind daher durchgängig von der hermeneutischen Einsicht bestimmt, daß es gilt, sich als Kranken, d. h. Verzweifelten zu verstehen. Der erste Abschnitt des Buches 100 beschreibt die Verzweiflung als eine Krankheit im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, der zweite Abschnitt 101 beschreibt sie als Sünde, d. h. als eine Störung im Verhältnis des Menschen zu Gott. Wie beides im Menschsein zusammenhängt, ergibt sich aus den einleitenden Bestimmungen, in denen der Mensch als Geist und als Selbst bestimmt wird. „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält." 102 Diese Definition ist insofern paradox, als sie gerade die Unmöglichkeit einer logischen Definition des Menschen zum Ausdruck bringt und zugleich den Grund dieser Unmöglichkeit angibt: der Mensch kann sich selbst nicht definieren, weil er ineins der Definierende und das Definierte ist. Die paradoxe Definition bestimmt Menschsein durch eine Relation: der Mensch ist einerseits ein Selbst, andererseits ein Verhältnis oder, wie Kierkegaard auch sagen kann, eine Synthese. „Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese. Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen Zweien. So betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst." 103 Das Verhältnis ist als solches zwar vorgegeben, aber noch kein Selbst. Ein Selbst wird es erst dadurch, daß es sich als Λκ/gabe ergreift, also sich zu sich selbst verhält. „Als Selbst ist der Mensch das reine Geschehen des Sich-zu-sich-Verhaltens." 104 Im Gegensatz zum " Daß Kierkegaard dies getan hat, zeigen vor allem seine Äußerungen über die geniale Existenz bzw. Dichterexistenz als Sünde (vgl. BA 560ff. - S.V. IV,368ff., und KzT 109ff. S.V. XI, 189ff.). Selbstkritisch gemeint ist auch die Äußerung, der weltliche Dichter sei kein Christ, sondern ein Heide (vgl. LT 52ff. - S.V. IX,47ff.). 100 KzT 31-108 - S.V. XI, 125-185. 101 KzT 109-177 - S.V. XI, 189-241'. 102 KzT 31 - S.V. XI, 127. 103 KzT 31 - S.V. XI, 127. 104 M.Theunissen, Das Menschenbild in der .Krankheit zum Tode', in: Theunissen/ Greve, Materialien, 498.

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Selbst ist das Verhältnis „das statisch Vorliegende, beständig Bestehende, dem keinerlei Tätigkeit anhängt .,." 105 . Gegenüber dem vorgegebenen Verhältnis hat das Selbst insofern Vorrang, als erst Selbstsein vollgültiges Menschsein ausmacht. Ein Mensch, der noch nicht er selbst ist, ist eigentlich noch kein Mensch, weil sein faktisches Dasein in Widerspruch zu seinem Wesen steht, d.h. weil er die Aufgabe, die ihm mit seinem Dasein als Geist gestellt ist, noch nicht übernommen hat. Insoweit stimmt Kierkegaards Analyse des Menschseins als Selbst (eigentliches Menschsein) und als Verhältnis oder Synthese (uneigentliches Menschsein) mit seinem Frühwerk überein, in dem diese beiden Weisen des Menschseins als ethisches und als ästhetisches Stadium dargestellt werden. In ,Entweder-Oder' (1843) heißt es: „das Ästhetische in einem Menschen ist das, wodurch er unmittelbar ist, was er ist; das Ethische ist das, wodurch er wird, was er wird." 106 Das ästhetische Leben erscheint als Leben in der Unmittelbarkeit, weil es abhängt von der individuellen Bestimmtheit und den zeitlichen Bedingungen des Daseins, während das ethische Leben durch die Vermittlung der Selbstwahl, d.h. die freiwillige Übernahme dieser Bestimmtheit und dieser Bedingungen konstituiert wird und sich die Verwirklichung des Allgemeinen zur Aufgabe gemacht hat. Ethisch verstanden ,macht' der Mensch sich durch den freien Akt der Selbstwahl zum Menschen, indem er das Allgemeine verwirklicht. Die Voraussetzung des ethischen Stadiums, jeder Mensch könne er selbst werden, indem er das Allgemeine verwirkliche, wird jedoch fragwürdig, wenn das Gottesverhältnis als etwas entdeckt wird, das den Einzelnen aus dem Allgemeinen aussondert 107 . Steht der Einzelne nämlich höher als das Allgemeine, kommt es zur .Suspension des Ethischen', sofern das Ethische sich ineins setzt mit dem Göttlichen 108 und davon ausgeht, daß das Selbst dem Menschen verfügbar sei. In der .Krankheit zum T o d e ' beschreibt Kierkegaard das Selbstverhältnis als etwas Unverfügbares: „Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muß sich entweder selbst gesetzt haben oder durch ein Anderes gesetzt sein. Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein Anderes gesetzt, so ist das Verhältnis zwar das Dritte, aber dieses Verhältnis, das Dritte, ist doch wieder ein Verhältnis, welches sich zu dem verhält, was das ganze Verhältnis gesetzt hat. Ein so abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und indem es sich zu sich selbst verhält, sich zu einem Anderen verhält." 109 N u r deshalb, weil das Selbst kein Verhältnis ist, 105

Theunissen, aaO., 498. EO II 729 - S.V. 11,162. 107 „Der Glaube ist eben dieses Paradoxon, daß der Einzelne als der Einzelne höher ist als das Allgemeine ..." (FuZ 239 - S.V. III, 106). 108 Vgl. FuZ 244 - S.V. 111,110. "" K z T 3 1 f . - S.V. XI, 128. 106

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das sich selbst gesetzt hat, sondern ein abgeleitetes, gesetztes Verhältnis, gibt es die beiden Grundformen der Verzweiflung: a) daß das Selbst verzweifelt nicht es selbst sein will, und b) daß das Selbst verzweifelt es selbst sein will. Das Selbst kann nicht durch sich selbst ins Gleichgewicht kommen - darin liegt der Widerspruch zum Ethischen - , sondern nur durch das Verhältnis zu dem, der das Selbstverhältnis gesetzt hat, d. h. es ist „das Gottesverhältnis, das einen Menschen zum Menschen macht." 110 Das Gottesverhältnis zeigt sich, indem die Faktizität des Selbst, also sein GesetztSein als Verhältnis, über die Welt hinaus auf ein Anderes verweist 111 . „Das Sich-zu-sich-Verhalten ist demnach eins mit dem Gottesverhältnis. Das Vor-Gott-Sein ist die Bedingung der Möglichkeit des Selbstseins und so auch des eigentlichen Menschseins." 112 Das Mißverhältnis der Verzweiflung muß darum nicht nur als ein Mißverhältnis des Menschen zu sich selbst, sondern primär als ein Mißverhältnis zu jenem Anderen angesehen werden, dem das Selbst sich allererst verdankt. Erst wenn das Selbst im Sich-zu-sich-Verhalten und Selbst-sein-Wollen .durchsichtig' in der Macht .gründet', die es setzte, ist die Verzweiflung ausgerottet. Dieser Zustand ist der Glaube 113 . Im folgenden unterscheidet Kierkegaard zwischen der (uneigentlichen) Verzweiflung über etwas, die nur das zeitliche Selbst bzw. Akzidentien des Menschen betrifft, und der (eigentlichen) Verzweiflung an sich selbst, die sein ewiges Selbst allererst zum Vorschein bringt. Wer über etwas verzweifelt, lebt in reiner Unmittelbarkeit und verwechselt sein Selbst mit der Äußerlichkeit 114 , d. h. er befindet sich in verzweifelter Unwissenheit über sein ewiges Selbst 115 . Diese Form der Verzweiflung ist nach Kierkegaard ,die allgemeinste' in der Welt; in ihr sieht er sowohl das Heidentum als auch den natürlichen Menschen in der Christenheit befangen 1 1 6 . Wer dagegen an sich selbst verzweifelt, ist sich des Ewigen im Selbst bewußt 117 , will aber

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U N 393 - S.V. VII,206. Eine strukturelle Entsprechung zu dieser Sicht des Menschen als einem abgeleiteten Selbstverhältnis findet sich in der Glaubenslehre Schleiermachers, wo' das fromme Selbstbewußtsein durch die Polarität von schlechthinnigem Abhängigkeitsgefühl (in Beziehung zu Gott) und relativem Freiheitsgefühl (in Beziehung zur Welt) gekennzeichnet wird (vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube, Bd. 1, §4). Daß Kierkegaard im ersten Abschnitt von ,dem Anderen' (in bezug auf das Selbst) und erst im zweiten Abschnitt explizit von Gott redet, verweist auf die dazwischen liegende Offenbarung. Analog redet Luther in ,De servo arbitrio' (1525) vom deus absconditus und vom deus revelatus bzw. deus incarnatus (vgl. R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. IV/1, Nachdruck Darmstadt 1974, 179 f.). 112 Theunissen, Das Menschenbild, aaO., 505. 113 Vgl. KzT 33. 177 - S.V. XI, 129. 241. 114 KzT 78. 81 f. - S.V. XI, 163. 165f. 115 K z T 6 7 f f . - S.V. XI, 155ff. >" KzT 70 - S.V. XI, 157. 117 KzT 92 - S.V. XI, 174. 111

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nicht sein konkretes Selbst aneignen, sondern sein Selbst konstruieren 118 . Er steht der Heilung insofern näher, als die Verzweiflung „der Durchgang auf den Glauben hin ist . . . vermöge des Ewigen .. ," 119 . Zwischen beiden Formen der Verzweiflung besteht ein dialektischer Zusammenhang. Wer nämlich über etwas verzweifelt, der verzweifelt eigentlich auch an sich selbst 120 . An sich selbst verzweifeln heißt aber nichts anderes als sich selbst lossein wollen 121 . Das gilt nicht nur für den, der verzweifelt nicht er selbst sein will, sondern auch für den, der verzweifelt er selbst sein will. „Das Selbst, das er verzweifelt sein will, ist ein Selbst, das er nicht ist ..., er will nämlich sein Selbst von der Macht losreißen, die es setzte .. ." 122 Der Verzweifelte will also von seinem wahren Selbst unabhängig werden und sich nicht jenem Anderen verdanken; indem er verzweifelt er selbst sein will, verzweifelt er an Gott 1 2 3 . Seine Krankheit ist zum Tode, da er zugleich todkrank ist und doch nicht sterben kann 124 . Diesen Zustand offenbart die Ewigkeit als Verzweiflung, denn ein Selbst zu sein ist die ,Forderung der Ewigkeit', der kein Mensch sich entziehen kann. Weil der Zustand des Menschen als Geist .allezeit kritisch' und Verzweiflung eine .Krankheit des Geistes' ist 125 , verhält es sich mit ihr so, daß die Krankheit nicht daran erkannt wird, ob jemand von sich selbst sagt, er sei verzweifelt, oder ob er es nicht sagt. Sie wird vielmehr dialektisch an der Erscheinung des Gegenteils erkannt: „Nicht verzweifelt zu sein, kann nämlich gerade bedeuten, verzweifelt zu sein, und es kann bedeuten, von der Verzweiflung erlöst zu sein." 126 Der Grundsatz, daß Verzweiflung sich nicht unmittelbar, als Meinungsäußerung des von ihr Betroffenen, zu erkennen gibt, gilt insbesondere gegenüber der potenziertesten Form der Verzweiflung, dem Dämonischen 127 . Denn „so ist es mit der Verzweiflung, je geistiger sie gerade ist, desto mehr ist sie darauf bedacht, in einer Äußerlichkeit zu wohnen, hinter der es gewöhnlich keinem einfallen würde, sie zu suchen." 128 Durch die Offenbarung Gottes wird die Verzweiflung des Menschen als Sünde qualifiziert. „Sünde ist: Wenn der Mensch vor Gott oder mit der Vorstellung von Gott verzweifelt nicht er selbst sein will oder verzweifelt er selbst sein will." 129 Durch das Bewußtsein, vor Gott da zu sein, wird das Selbstbewußtsein und damit die Verzweiflung potenziert, sofern das konK z T 100f. - S.V. XI, 179f. 120 K z T 38 - S.V. XI, 132. K z T 100 - S.V. XI, 179. 121 K z T 40 - S.V. XI, 134. 122 K z T 40 - S.V. XI, 134. 123 Wie Luther unterscheidet Kierkegaard zwischen der Verzweiflung an Gott und der Verzweiflung an sich selbst. Zu Luther vgl. H. J. Iwand, Rechtfertigungslehre und Christusglaube (1930), Nachdruck München 1966, 88-93. 124 K z T 37. 41 - S.V. XI, 132. 134f. 125 K z T 46. 44 - S.V. XI, 139. 138. 126 K z T 45 - S.V. XI, 138. 127 K z T 105ff. - S.V. X I , 1 8 2 f f . 128 K z T 107 - S.V. XI, 184. K z T 109 - S.V. XI, 189. 118

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krete Selbst vor Gott als unendliches bestimmt wird. „Der Heide und der natürliche Mensch haben nur das menschliche Selbst als Maßstab,"130 d. h. sie haben ihr Selbst nicht ,Gott gegenüber' 131 . Damit hat Kierkegaard klargestellt, daß die im ersten Abschnitt gegebene Analyse der Verzweiflung die Verfassung des natürlichen Menschen beschreibt132, während der zweite Abschnitt die Verfassung des Christen als Sünde aufweist. Beide Abschnitte untersuchen das Phänomen Verzweiflung unter Voraussetzung der Offenbarung, orientieren sich also nicht am humanen Selbstverständnis des Menschen. Gleichwohl besteht zwischen jener Voraussetzung und dem humanen Selbstverständnis eine Beziehung, die Kierkegaard anhand der sokratischen Definition der Sünde als Unwissenheit 133 verdeutlicht. Die sokratische Definition setzt voraus, der Fall komme nicht vor, daß ein Mensch, das Rechte sehend, dennoch das Unrechte tut134. Darin kommt zum Ausdruck, daß der natürliche Mensch nicht weiß, was Sünde ist, und insofern bestätigt sich die sokratische Definition. Sie erweist sich aber als ungenügend, da ihr die Bestimmung Wille bzw. Trotz fehlt. Sünde besteht nämlich darin, daß der Mensch das Rechte nicht verstehen und nicht tun will 135 . 130

K z T 114 - S.V. XI, 193. K z T 112 - S.V. XI, 192. 132 Insofern gilt hier wie in Kap. 8.1 und 8.2 die gleiche Voraussetzung f ü r die Auseinandersetzung mit humanwissenschaftlichen Erkenntnissen. Kierkegaard betrachtet die Verzweiflung nicht aus ,wissenschaftlicher Ferne', sondern betreibt seine Wissenschaft, die wir als Phänomenologie bezeichnet haben, zur Erbauung (vgl. K z T 25 - S.V. XI, 117). Für Psychoanalyse und Psychiatrie deutet Verzweiflung hin auf einen depressiven Zustand (Melancholie oder Schwermut), dessen Symptome zwar ausführlich beschrieben (vgl. H . Teilenbach, Melancholie. Problemgeschichte, Endogenität, Typologie, Pathogenese, Klinik, BerlinH e i d e l b e r g - N e w York 3. Aufl. 1976), dessen Ursachen aber kaum zureichend erklärt werden können. Während die klassische Psychiatrie eher nach organischen Ursachen forscht (vgl. P. Kutter, Psychiatrie. Eine Einführung, Kindler-TB 2188, M ü n c h e n 1977, 147), versucht die Freudsche Psychoanalyse, die Melancholie auf unbewußte innerpsychische Konflikte zurückzuführen (vgl. Freud, Trauer und Melancholie [1917], in: Studienausgabe Bd. III, F r a n k f u r t / Main 1975, 193-212, wo die Melancholie als Folge eines unbewußten Objektverlusts erklärt wird). Teilenbach, der das Phänomen Melancholie von Kierkegaard her zu verstehen gelernt hat, sieht Inkludenz (Eingeschlossenwerden oder Sicheinschließen) und Remanenz (Hintersich-selbst-Zurückbleiben) als typisch f ü r den Melancholiker an (aaO., 124. 133 f.). 131

Wenn Kierkegaard nun Menschsein im ganzen als mißlingendes Gottes- und Selbstverhältnis beschreibt, erscheint Verzweiflung nicht als bloßes M o m e n t einer Gemütskrankheit, sondern als anzueignende Wirklichkeit des Menschen vor Gott, in der der Einzelne sich glaubend versteht, wenn er sich als Sünder versteht. Von dieser durch das Sündenbewußtsein potenzierten Verzweiflung kann ein Mensch nicht medizinisch oder therapeutisch geheilt werden, da ein solches Bemühen gerade Ausdruck verzweifelten Selbst-sein-Wollens wäre. Die heilsame Möglichkeit, an sich selbst zu verzweifeln, e r ö f f n e t allein der Glaube, nicht die humanwissenschaftliche Erklärung. 133 K z T 122 - S.V. XI, 199. 134 K z T 1 2 4 - S . V . XI, 201. 135 K z T 131 - S.V. XI,206. Vgl. Rom 7,13ff.

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Das Problem, auf das die sokratische Betrachtungsweise nicht aufmerksam geworden ist, liegt im Ubergang vom Verstehen zum Tun 136 . Sie hat zwar recht, wenn sie annimmt, wer etwas verstanden habe, der tue es auch, aber sie erkennt nicht die Verderbtheit des Willens, welche verhindert, daß einer das, was er verstanden hat, auch verstehen und tun will. Kierkegaard weist nun darauf hin, daß der Übergang vom Verstehen zum Tun in der Idealität des Denkens keine Schwierigkeiten bereitet, wohl aber in der Wirklichkeit des Existierens137. In der Theorie kann ein Mensch die Notwendigkeit des Ubergangs dartun, ohne ihn in der Praxis vollzogen zu haben. Ein Mensch kann also etwas verstehen, ohne sich selbst darin zu verstehen, d.h. ohne sich selbst von dem, was er verstanden hat, bestimmen zu lassen. Genau dies geschieht im Zustand der Sünde. Weil der Mensch in der Sünde ist, geschieht der Ubergang nicht dadurch, daß er als notwendig gedacht wird, sondern dadurch, daß er geglaubt wird. Sowohl christlich wie sokratisch gilt die Einsicht: wer etwas in Wahrheit versteht, drückt es in seinem Leben aus und tut das, was er verstanden hat13*. Kierkegaard kritisiert an der Moderne, daß ihr diese Einsicht fehlt, und erkennt den Mangel daran, daß alles Wissen und Verstehen „gar keine Macht über das Leben der Menschen ausübt, so daß dieses nicht entfernt ausdrückt, was sie verstanden haben, sondern eher das Gegenteil davon." 139 Die neuere Philosophie ist ins Heidentum zurückgefallen, indem sie sich damit begnügt, die Denknotwendigkeit des Übergangs darzutun und ebendies für das Christliche auszugeben 140 , obwohl es christlich verstanden darauf ankäme, ihn in der Wirklichkeit zu vollziehen. Die Christenheit in der Moderne lebt in .heidnischer Sicherheit' 141 . Dies zeigt sich nach Kierkegaards Diagnose nicht nur an ihrem spekulativen Denken, das einfach unterstellt, es verhalte sich in der Wirklichkeit genauso wie in der reinen Logik142, sondern auch darin, daß sie an der Vergebung der Sünden verzweifelt 143 , d. h. im Ärgernis lebt, freilich ohne es zu merken. Man hat vergessen, daß an die Vergebung der Sünden geglaubt werden soll, und 134

KzT 129 - S.V. XI,204. Jedes Wissen um Wirklichkeit ist Möglichkeit; die einzige Wirklichkeit, um die ein Existierender nicht bloß weiß, ist seine eigene Wirklichkeit, daß er da ist; und diese Wirklichkeit ist sein absolutes Interesse" (UN 478 - S.V. VII,271). 138 KzT 126 - S.V. XI,202. KzT 125f. - S.V. XI,201 f. 140 KzT 129f. - S.V. XI,204f. 141 KzT 158 - S.V. XI,227. 142 KzT 135 - S.V. XI, 208. Mit Wirklichkeit meint Kierkegaard die Wirklichkeit des existierenden Einzelnen, wobei sein Begriff von Wirklichkeit durchaus mit dem Hegeischen übereinstimmt (vgl. Hegel, Wiss. d. Logik II [ThWA Bd.6], 186, wo Wirklichkeit als „Einheit des Wesens und der Existenz" bestimmt wird). Nur betont Kierkegaard, daß der Einzelne diese Wirklichkeit nicht bloß begreifen, sondern sich in ihr verstehen, d.h. existieren muß. 143 KzT 158 - S.V. XI,227. 137

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den .Qualitätsunterschied zwischen Gott und Mensch' 144 aufgehoben, indem man das Abstraktum Mensch an die Stelle Gottes setzte 145 . Demgegenüber macht Kierkegaard die Lehre von der Sünde geltend, die den Menschen als Einzelnen vor Gott stellt und dadurch den Qualitätsunterschied zwischen Gott und Mensch befestigt. „Der Ernst der Sünde ist ihre Wirklichkeit im Einzelnen ..." 146 „Als Sünder ist der Mensch von Gott durch abgründigste Tiefe der Qualität getrennt. Und selbstverständlich ist Gott wieder vom Menschen durch dieselbe abgründige Tiefe der Qualität getrennt, wenn er Sünden vergibt."147 Aufgrund dieses Qualitätsunterschiedes bildet die Möglichkeit des Ärgernisses die unumgängliche Kehrseite des Glaubens. Stets konfrontiert das Christentum den Einzelnen mit der Forderung: „du sollst glauben, daß heißt, du sollst entweder geärgert werden oder du sollst glauben." 148 Im Glauben ist die Möglichkeit des Ärgernisses als ,dialektisches Moment' gegenwärtig. „Wer sich ... nicht ärgert, der betet gläubig an. Aber anbeten, was der Ausdruck des Glaubens ist, heißt ausdrücken, daß eine unendlich gähnende Tiefe der Qualität dazwischen befestigt ist."149 Kierkegaards Einschätzung der Christenheit in der Moderne ist, wie noch genauer dargelegt werden soll, an der Philosophie Hegels orientiert 150 . Von ihr stammt nicht nur die Begrifflichkeit der Kierkegaardschen Phänomenologie der Verzweiflung. Die Philosophie Hegels gilt für Kierkegaard vielmehr als exemplarischer Ausdruck des modernen Selbstverständnisses und wird als solcher von ihm ernstgenommen. Daß der moderne Mensch in seinem Leben nicht ausdrückt, was er verstanden hat, ist Kierkegaard am Philosophen Hegel aufgegangen, der nicht in seinem System existiert151. Indem er seinerseits nachholt, was der Philosoph selber versäumte, indem er im Hegeischen System existiert, kritisiert er zugleich die auf Hegel sich berufenden Zeitgenossen, die dessen Philosophie vermeintlich verstanden haben, ohne sich selbst darin zu verstehen. Zumal die Religionskritik der Linkshegelianer Feuerbach und Strauß wird von Kierkegaard kritisiert, nicht so sehr deshalb, weil sie dem Religiösen ablehnend gegenüberstehen 152 , sondern vor allem, weil sie die Wirklichkeit des Menschseins verfehlen. Der wirkliche Mensch ist der sich zu sich selbst verhaltende, verzweifelt nicht er selbst oder er selbst sein wollende Einzelne, der vor Gott als Sünder dasteht. Damit gibt Kierkegaard indirekt zu verstehen, daß er die Wirklichkeit des Menschen von einer christologi144

KzT 159 - S . V . XI, 227. KzT 160 - S.V. XI,228. Hier dürfte Kierkegaard vor allem an L.Feuerbach und D.F. Strauß gedacht haben. 146 KzT 163 - S.V. XI,230. 147 148 KzT 165 - S.V. XI,231. KzT 166 - S.V. XI,232. 149 150 KzT 173f. - S.V. XI,238f. Vgl. dazu unten Kap. 12. 151 152 Vgl. U N 497 - S.V. VII,2 8 7. Vgl. St 481 f. - S.V. VI,421. 145

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sehen Voraussetzung her versteht: Gott wurde nicht Menschheit, sondern ein einzelner Mensch, weswegen am Einzelnen herauskommt, was Menschsein in Wahrheit ausmacht. In der Moderne wird dagegen die Menschheit in den Mittelpunkt gestellt. In dieser Höherschätzung der Gattung gegenüber dem Einzelnen äußert sich für Kierkegaard eine geheime Verachtung des Menschseins 153 . Man mißachtet, daß allererst Selbstsein wahres Menschsein ausmacht und jeder Begriff, jede Lehre vom Menschen den Menschen nur allgemein erfaßt, vom Vollzug des unverfügbaren Selbstverhältnisses jedoch abstrahiert. Darum geht das spekulative Denken so leicht über die Deformationen des Menschseins und seine innere Widersprüchlichkeit (die sich im Ubergang vom Verstehen zum Tun bemerkbar macht) hinweg, und darum täuscht es sich über ihren Grund, das gestörte Gottesverhältnis, weil es im vorhinein Denken des Absoluten sein will, d.h. das Subjekt des Denkens mit Gott ineins setzt 154 . Kierkegaard macht seine Zeit auf dasjenige Phänomen aufmerksam, in dem die Wirklichkeit des Menschseins, das Mißverhältnis zu Gott und zu sich selbst, sich gerade als etwas begrifflich nicht zu Vermittelndes zeigt. Indem er die Verzweiflung in ihren verschiedenen Formen darstellt und als Sünde qualifiziert, appelliert er an den Leser, sich als Sünder zu verstehen, der vor Gott verzweifelt nicht er selbst oder er selbst sein will. Kierkegaard macht also den Leser auf dessen eigenes Mißverhältnis zu Gott und zu sich selbst aufmerksam, damit der Leser nicht mehr an der Vergebung der Sünden verzweifelt, sondern an sich selbst155. Da das Selbstverhältnis jedoch unverfügbar im Gottesverhältnis gründet und dieses in jenem zum Ausdruck kommt, kann keine Rede davon sein, daß Kierkegaard - wie es im usus legis elenchticus sive paedagogicus des orthodoxen Luthertums geschieht 156 - dem Leser ein radikales Sündenbewußtsein bereitet, um ihn dadurch zum Glauben zu bewegen. Denn wie der Einzelne sich dazu verhält, daß er als verzweifelter Sünder angesprochen wird (was mit Vollmacht nur in der Predigt geschehen kann), läßt sich nicht vorherbestimmen. Der Einzelne soll nicht durch Verzweiflung zum Glauben kommen, sondern glaubend seine Verzweiflung als Wirklichkeit seines Menschseins verstehen. Im Glauben lernt er, an sich selbst zu verzweifeln, 153 KzT 161 - S.V. XI,229; U N 523 - S.V. VII,308. Der modernen Anschauung zufolge heißt Menschsein, „als Exemplar einem verstandesbegabten Geschlechte zugehören, so daß das Geschlecht, die Art, höher ist als das Individuum, oder so daß es bloß Exemplare, keine Individuen gibt" (GWS 100 - S.V. XIII,593). 154 Vgl. Hegel, Wiss. d. Logik I (ThWA Bd. 5), 44. 155 Vgl. dazu Luther, Heidelberger Disputation (1518), These 18, WA 1, 354. 156 Vgl. A. Peters, Gesetz und Evangelium, Handbuch systematischer Theologie Bd. 2, Gütersloh 1981, 44 ff. Zu Luthers Auffassung siehe den kleinen Galaterkommentar (1519), WA 2, 466ff., und die zweite Disputation gegen die Antinomer (1538), WA 39/1,446 („Evangelium facit ex lege paedagogum in Christum").

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und entdeckt zugleich die Möglichkeit, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln. D.h. im Glauben wird das Sich-nicht-als-Sünder-verstehenWollen gerade als äußerste Möglichkeit der Verzweiflung, mithin als Sünde entdeckt, die nur der Glaube selber überwindet. Heilung von der Krankheit zum Tode ist nur möglich, wenn der Kranke zu seiner Krankheit steht und von ihr geheilt werden will157. Ebendies aber, erkennen und sich eingestehen, daß er zum Tode krank ist, vermag ein Mensch nur vor Gott und nicht durch sich selbst. Die Krankheit zum Tode wird im Glauben erkannt, nicht vermöge menschlicher Selbsterkenntnis. Aber nur durch sich selbst und nicht vermittels eines anderen, d.h. nur im Durchgang seiner Verzweiflung erfährt ein Mensch, daß die Heilung im Absterben besteht 158 . Wir haben gesehen, daß die Existenzmöglichkeiten, die ein Mensch im Glauben unter der Bestimmung Sünde wiederholt, - die Angst, die in der Reue sich äußernde Schuld, die Verzweiflung - den Menschen allererst menschlich werden lassen, sofern der Einzelne durch die Wiederholung von Angst, Schuld und Verzweiflung er selbst wird und sofern diese Phänomene ihn auf die individuelle Bestimmtheit seines Daseins verweisen. In der Angst entdeckt er die Endlichkeit und leib-seelische Gebundenheit seiner Freiheit; in der Schuld erfährt er die Grenze des Ethischen und damit seiner Möglichkeiten, das Allgemeine zu verwirklichen; in der Verzweiflung wird er auf sein ,ewiges Selbst', d.h. das Gottesverhältnis aufmerksam, das dem zeitlichen Selbst' widerstreitet. Allen Phänomenen eignet jene Dialektik, welche das Menschsein insgesamt auszeichnet: sie können entweder anzeigen, daß der Mensch sich selbst verfehlt hat, oder sein wahres Selbst zum Vorschein bringen, erweisen sich somit als Möglichkeitsbedingungen gelingenden und mißlingenden Menschseins. In jedem Fall kann der Mensch in der Wirklichkeit als existierender Einzelner nicht unabhängig von Angst, Schuld und Verzweiflung er selbst sein. Er kann sich nicht in seiner Existenz verstehen, ohne Angst zu haben, schuldig zu werden, seine Schuld zu bereuen oder zu verzweifeln. Die Wiederholung solcher Phänomene als humaner Existenzmöglichkeiten glückt jedoch erst im Glauben, in dem ich mich als Sünder verstehe. Denn die Bestimmung ,Sünde' qualifiziert mein Dasein im Ganzen als Dasein eines Geängstigten, Schuldigen und Verzweifelten. Sie unterscheidet zwischen mir selbst (dem aktuellen Selbstverhältnis) und meiner Angst, Schuld und Verzweiflung (den phänomenalen Äußerungen des Selbstverhältnisses), setzt mich also zu mir selbst in ein neues Verhältnis, sofern diese Phänomene nun nicht mehr sinnlich, sondern geistig verstanden werden. So kann das gewesene, durch Angst, Schuld und Verzweiflung bestimmte Dasein als jetzt entste157 158

Vgl. Jesu Frage an den Gelähmten: „Willst du gesund werden?" (Joh 5,6). KzT 26 - S.V. XI, 118.

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hendes erscheinen159. Als ausgezeichnete Momente des Daseins, in denen die Wiederholung als Sinn des Daseins im Ganzen hervortritt, werden die Phänomene Angst, Schuld und Verzweiflung erst im Glauben, d. h. unter der Bestimmung ,Sünde' entdeckt, da der Mensch ohne Sündenbewußtsein in der Immanenz des Denkens gefangen bleibt und an der Wiederholung scheitert bzw. sie unglücklich vollzieht, indem er ζ. B. aus Angst vor dem Schuldigwerden gerade schuldig wird oder sich aus Verzweiflung tötet. Im Hinblick auf die religiöse Erziehung ergibt sich daraus: der Erzieher kann den educandus auf Möglichkeiten gelingenden Menschseins160 aufmerksam machen, indem er sich in seiner Angst, seiner Schuld, seiner Verzweiflung versteht, also sich zu dem verhält, was Menschsein im allgemeinen immer wieder mißlingen läßt. So wird der educandus darauf aufmerksam, daß er in dem Maß er selbst werden, d. h. jene Möglichkeiten sich aneignen kann, wie er sich in seiner Angst, Schuld und Verzweiflung versteht. Der Erzieher kann ihn erbauen, indem er ihn als Sünder anspricht, der der Heilung bedarf, wobei das Erbauliche eben darin besteht, daß die ängstigende Möglichkeit der Freiheit entdeckt, die Schuld kraft der Sündenvergebung bereut und im Absterben die Verzweiflung an sich selbst als heilsam erfahren werden kann.

9. Der religiöse Erzieher nimmt das Kind als Kind ernst und hält an seinem Vater gegen den Vater fest (Im Glauben erwachsen werden) Im Glauben also lernt ein Mensch, Angst zu haben, schuldig zu werden und seine Schuld zu bereuen, an sich selbst zu verzweifeln. Diese Möglichkeiten gelingenden Menschseins hat Kierkegaard an sich selbst entdeckt, d.h. dadurch, daß er in Bezug auf das Humane ein Lernender wurde. Doch wer ist der Mensch, der auf solche Weise - im Glauben zum Lernenden wird? Das damit berührte Problem der Kierkegaardschen Auffassung religiöser Erziehung kommt deutlicher in den Blick, wenn man bedenkt, in welchem Lebensalter der educandus sich befindet, dessen Menschsein in der Erziehung auf dem Spiel steht. Kierkegaards Existenzdialektik bezieht sich durchweg auf den Erwachsenen·, nur gelegentlich Vgl. W 352 - S.V. 111,190; BA 539 Anm.2 - S.V. IV,353. Diese Möglichkeiten werden in den religiösen Reden als durch Christus eröffnete Möglichkeiten aufgezeigt. Vgl. dazu unten Kap. 18. 159 160

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wird auf Erfahrungen des Kindes Bezug genommen. Das erste Stadium der Existenz, das Ästhetische, gilt zwar auch als Stadium der Kindheit und Jugend, doch erscheint Menschsein hier nur in uneigentlicher Weise, als wesentlich einer unethischen Tendenz, dem Genußstreben verhaftetes Dasein. Das unmittelbare Leben in der natürlichen Bestimmtheit erscheint ontogenetisch wie phylogenetisch als Anfangsgestalt menschlicher Existenz 1 . Von daher ist zu fragen, inwieweit bei Kierkegaard von einer Religiosität und religiösen Erziehung des Kindes überhaupt die Rede sein kann. Wie problematisch Kierkegaards eigene frühkindlich-religiöse Erfahrungen waren und wie stark sie sein späteres Verständnis des Christentums bestimmt haben, ist uns bereits deutlich geworden 2 . Bevor wir weiter untersuchen, wie der erwachsene Kierkegaard diese Erfahrungen verarbeitet hat, soll uns sein Verhältnis zur kindlichen Religiosität beschäftigen. Interessant sind in diesem Zusammenhang seine Ausführungen im Schlußkapitel der .Unwissenschaftlichen Nachschrift' (1846). Kierkegaard schreibt hier, er habe es gerade den Gebildeten in der modernen Christenheit schwer machen wollen, ein Christ zu werden, da man in der spekulativen Reflexion schon über das Christentum hinausgegangen zu sein meinte 3 und dabei die Leidenschaft verloren hat 4 . Darin unterscheidet sich die Moderne von denjenigen Zeiten, in denen man als Erwachsener Christ wurde: damals hatte niemand das Bedürfnis, weiterzugehen und über das Christentum hinauszukommen, sondern jeder versuchte, die Leidenschaft des Christwerdens täglich zu bewahren 5 . Weil man in der Moderne gewohnt ist, ohne weiteres Christ zu sein, sind unversehens heidnische Lebensanschauungen innerhalb des Christentums zu Ehre und Anerkennung gekommen. Statt der indifferenten Haltung gegenüber dem Christentum sei das aufrichtige Eingeständnis vorzuziehen, daß man wünsche, nie im Christentum erzogen worden zu sein6. Mit einer indirekten Anspielung auf sein eigenes Schicksal läßt Kierkegaard sein Pseudonym Johannes Climacus sagen: „So kann eine strenge Erziehung im Christentum einem Menschen vielleicht das Leben zu schwer gemacht haben, ohne ihm wieder geholfen zu haben: in seinem stillen Sinn kann er vielleicht den gleichen Wunsch hegen wie jene Einwohner, die Christus baten, ihre Gegend zu verlassen, weil er sie entsetzte. Aber der Sohn, den der Vater unglücklich gemacht hat, wird, wenn er Großmut besitzt, fortfahren, den Va1 Vgl. W. Greve, Das erste Stadium der Existenz und seine Kritik, in: Theunissen/Greve, Materialien, 192. 2 Vgl. oben Kap. 3. 3 U N 796 - S.V. VII,511. 4 U N 825 - S.V. VII,533. 5 U N 797 - S.V. VII,512. ' U N 798 - S.V. VII,512.-

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ter zu lieben. Und wenn er unter den Folgen leidet, dann wird er wohl zuweilen mißmutig seufzen: wäre mir das doch nie geschehen, aber er wird sich nicht der Verzweiflung hingeben, er wird gegen das Leiden ankämpfen, dadurch daß er sich hindurchkämpft ... Und gelingt es, dann wird er in der Freude der Begeisterung gleichsam den Verstand verlieren; denn welcher Vater hat doch so viel für seinen Sohn getan, welcher Sohn kann doch dem Vater so viel schuldig werden! Und so auch mit dem Christentum. Hat es ihn auch unglücklich gemacht, deshalb gibt er es nicht auf; denn es fällt ihm niemals ein, das Christentum sollte dazu in die Welt gekommen sein, um den Menschen zu schaden; es bleibt ihm immer ehrwürdig." 7 Wie im Rechenschaftsbericht über seine .Wirksamkeit als Schriftsteller' 8 beschreibt Kierkegaard die Beziehung eines Menschen zum Christentum in Analogie zur Sohn-Vater-Beziehung. So wie der Sohn am Vater festhält, obwohl dieser ihn unglücklich gemacht hat, hält er auch am Christentum fest, das ihm das Leben erschwerte. Eine unglückliche Erziehung im Christentum ändert für Kierkegaard nichts an seiner Ehrwürdigkeit, im Gegenteil, sie fordert nur umso nachdrücklicher dazu heraus, sich das Christliche anzueignen. Dem Kind wird das Christentum freilich fremd sein, weil es damit (noch) nichts anfangen kann. Denn: „keiner beginnt damit, Christ zu sein, jeder wird es, wenn die Zeit erfüllt ist, - falls er es wird." 9 Konfrontiert man ein Kind mit dem Christentum, so bleibt dieses nicht, was es ist, sondern verwandelt sich in etwas Kindliches. „Das Christentum, das einem Kind vorgetragen wird, oder richtiger das Christentum, welches das Kind selbst zusammensetzt, wenn man ihm gegenüber keine Gewalt anwendet, um es existierend in entscheidende christliche Bestimmungen hineinzuzwingen," - wie es Kierkegaard selbst widerfahren ist - dieses Christentum „ist eigentlich kein Christentum, sondern idyllische Mythologie. Es ist die Idee der Kindlichkeit in zweiter Potenz, und das Verhältnis wird zuweilen so umgedreht, daß es mehr die Eltern sind, die vom Kind lernen, als das Kind von den Eltern, daß des Kindes liebenswertes Mißverständnis des Christlichen die Vater- und Mutterliebe in einer Frömmigkeit verklärt, die doch auch nicht eigentlich Christentum ist."10 Kierkegaard macht dem Kind keinen Vorwurf daraus, daß es das Christentum mißversteht und der ihm eigenen Religiosität anverwandelt, aber er kritisiert die Erwachsenen, die sich die kindliche Frömmigkeit zu eigen machen. Gerade Eltern, die ihr Kind lieben, neigen jedoch zu einer solchen Frömmigkeit. „Die Vaterund Mutterliebe haftet am Kind so fest, umschließt es so zärtlich, daß die 7 8 9 10

U N 798f. - S.V. VII,512f. Vgl. GWS 76 - S.V. XIII,565, und oben S.35 dieser Arbeit. U N 800 - S.V. VII,514. U N 800f. - S.V. VII,514f.

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Frömmigkeit geradezu selbst erfindet, was doch gelehrt wird: daß es einen Gott geben muß, der sich der kleinen Kinder annimmt." 11 Diesem ,Christentum' für Kinder fehlt das Entsetzen und somit auch das Erbauliche 12 ; bei seiner Anpassung an das kindliche Bewußtsein wird das Kind sentimental zum unschuldigen Wesen verklärt (obwohl christlich verstanden kein Mensch nach Adam unschuldig ist) und außer Acht gelassen, daß kein Mensch ohne Sündenbewußtsein in ein christliches Verhältnis zu Gott kommen kann 13 . Das Kind versteht Sünde unmittelbar als etwas Einzelnes, das in der Vergebung fortgenommen wird. Es „weiß somit nicht, was Sündenvergebung ist, denn das Kind glaubt, es sei im Grunde ein braves Kind, wenn bloß die Sache gestern nicht gewesen wäre, und die Vergebung nimmt diese Sache fort, und das Kind ist ein braves Kind." 14 Kierkegaard setzt sich nun eingehend mit denen auseinander, die unter Berufung auf Mt 19,13 ff. und 18,2 ff. dem Kind das Christsein zusprechen wollen. Er weist in seiner Auslegung darauf hin, daß Christus hier zu den Jüngern redet, die die Kinder von ihm fernhalten wollten, und das Kind gegen die (erwachsenen) Jünger gebraucht. Würde das Kind unmittelbar verherrlicht, so befänden sich die Jünger als Erwachsene in der traurigen Lage, vom Reich Gottes ausgeschlossen zu sein15. Die Wendung zu den Kindern schließt aber die Erwachsenen nicht aus, sondern ist paradoxer Ausdruck einer Anklage: „Das Paradoxe liegt darin, ein Kind zum Paradigma zu machen ,.." 16 Denn einerseits ist das Kind nur unmittelbar es selbst, zum anderen ist es Paradigma für einen Erwachsenen, „der in der Demut des Schuldbewußtseins der Demut der Unschuld gleichen soll."17 Indem er Erwachsenen zumutet, wie ein kleines Kind zu werden, stellt Christus sie als die Aufdringlichen hin und gibt ihnen zu verstehen, daß sie den Kindern gegenüber keinen Vorrang haben; indirekt, durch die Wendung zu den Kindern, wird so das Urteil über die erwachsenen Jünger zum Ausdruck gebracht. Das Kind seinerseits kann sich nicht zu dem Paradox verhalten, daß Christus in die Welt gekommen ist, um zu leiden18, sondern verkindlicht 11

U N 801 - S.V. VII,515. „Was nämlich ist das Erbauliche? Die erste Antwort darauf ist, was das Erbauliche zuerst ist: es ist das Erschreckende. Das Erbauliche ist nicht für den Gesunden sondern für den Kranken, nicht für den Starken sondern für den Schwachen; dem vermeintlich Gesunden und Starken muß es sich daher erst einmal erzeigen als das Erschreckende" (Das Frohmachende darin, daß man nur einmal leidet, aber ewig siegt, in: Christliche Reden 1848, hrsg. von E.Hirsch, 100 - S.V. X,102 [Hervorh. von Kierkegaard]). 13 U N 801 f. - S.V. VII,515f. 14 St 512 - S.V. VI,447. 15 U N 803 - S.V. VII,517. 16 U N 804 - S.V. VII,517 (Hervorh. von mir). 17 U N 804 - S.V. VII,517. 18 U N 808 - S.V. VII,520. 12

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Christus und macht ihn zum göttlichen Kind. „Die kindliche Auffassung von Christus ist wesentlich die der Phantasie-Anschauung, und die Idee der Phantasie-Anschauung ist die Kommensurabilität, und die Kommensurabilität ist wesentlich Heidentum . . . Die Kommensurabilität ist die unmittelbare Kenntlichkeit. Die Knechtsgestalt ist dann das Inkognito, aber das milde Antlitz ist die unmittelbare Kenntlichkeit." 19 Dem leistet eine ,kindische Orthodoxie' Vorschub, die das Christentum humoristisch mißversteht, weil sie Gott unmittelbar kenntlich machen bzw. durch Vergleiche relativieren will 20 . Solche unmittelbare Kenntlichkeit ist für Kierkegaard aber durch das Kreuz ein- für allemal ausgeschlossen 21 . „Das Kindesalter (direkt verstanden) ist also nicht das wahre Alter, um Christ zu werden. Umgekehrt, das höhere Alter, das Alter der Reife ist die Zeit, wo es sich entscheiden soll, ob ein Mensch Christ sein will oder nicht. Die Religiosität der Kindheit ist die universelle, abstrakte und doch phantasie-innerliche Grundlage für alle spätere Religiosität; das Christwerden ist eine Entscheidung, die einem viel späteren Alter angehört." 22 Auch die Kindertaufe vermag daran nichts zu ändern. Kierkegaard will sie zwar nicht ausschließen, wenn sie von christlichen Eltern als Antizipation der Möglichkeit des Christwerdens vollzogen wird 23 . Er bestreitet aber, daß das Kindesalter für das Christwerden entscheidend sei, weil das Christentum dadurch in eine schöne Erinnerung verwandelt würde und aufhörte, die Gegenwart des Menschen zu bestimmen 24 . Wer gar versucht, ein Kind existierend in die entscheidenden christlichen Kategorien ,hineinzuzwingen', der vergewaltigt es 25 . Damit lehnt Kierkegaard jeden Rigorismus in der religiösen Erziehung ab, der die kindliche Unmittelbarkeit mißachtet. Weder das Kindesalter, noch die T a u f e (!) und auch nicht eine rigoros .christliche' Erziehung (wie sie Kierkegaard an sich selbst erfahren hat) sind letztlich das Entscheidende im Hinblick auf das Christwerden, sondern die Aneignung, deren spezifische Form im Christlichen der Glaube ist 26 . Der Glaube ist die Aneignung ewiger Seligkeit, die sich in der Sphäre des Paradox-Religiösen (für den Humoristen Johannes Climacus " U N 8 1 0 - S . V . VII,522. U N 806f. 811 - S.V. VII,519. 523. 21 U N 811 f. - S.V. VII,523. Vgl. dazu die Thesen 19-21 der Heidelberger Disputation Martin Luthers, WA 1,354. 22 U N 812 - S.V. VII,523. 23 U N 813 - S.V. VII,524. Als solche hält er sie für verantwortbar. Die Kindertaufe geschieht dann aber primär um der Seligkeit der Eltern willen. 21 U N 813 - S.V. VII,524. „Sich selber ganz gegenwärtig sein, ist das Höchste und die höchste Aufgabe für das persönliche Leben ... sich selber ganz gegenwärtig sein in Selbstbekümmerung, ist das Höchste der Religiosität, denn nur so wird absolut gefaßt, daß ein Mensch Gottes absolut bedarf in jedem Augenblick . . . " (DBA 611 - Pap. VII 2 193). 25 U N 813 - S.V. VII,524. 26 U N 823f. - S.V. VII,532f. 20

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ein Synonym des Christlichen) auf das historische Faktum gründet, daß der ewige Gott ein einzelner Mensch in der Zeit geworden ist. Dieses paradoxe Faktum kann nicht unmittelbar verstanden, sondern nur ,wider den Verstand' geglaubt werden 27 . Darum ist die Taufe ohne Aneignung lediglich „die Möglichkeit, daß das getaufte Kind ein Christ werden kann, weder mehr noch weniger ... Für den Alteren, der nicht als Kind getauft ist, gilt, daß er durch die Taufe Christ wird, weil er in der Taufe die Aneignung durch den Glauben haben kann." 28 Es scheint, als habe Kierkegaard mit seiner scharfen Abgrenzung der kindlichen Religiosität vom Christwerden jede erzieherische Bemühung christlicher Eltern, ihr Kind im Glauben zu erziehen, ad absurdum geführt. Wenn das Kind zwar religiös, aber nicht Christ sein kann, weil es das Christliche mißversteht, und wenn es nur die durch seine Taufe von den Eltern bezeugte Möglichkeit hat, im ,Alter der Reife' bzw. ,wenn die Zeit erfüllt wird' Christ zu werden, dann können Eltern und Lehrer nichts dazu tun, daß es wirklich Christ wird. Denn die Möglichkeit des Christwerdens ist allein an die Aneignung, nicht an die Kindertaufe gebunden. Wer als Kind getauft wurde, muß nicht deshalb Christ werden; wer dagegen als Erwachsener sich taufen läßt, kann darin die Aneignung haben, d.h. er wird Christ, weil die Aneignung sich im Getauftwerden ausdrückt 29 . Indessen wird damit, daß das Kind weder unmittelbar, noch durch die Taufe Christ sein kann, nicht behauptet, religiöse Erziehung sei überhaupt unmöglich. Kierkegaards Äußerungen zielen vielmehr darauf ab, die unmittelbare Christlichkeit sowohl des Erwachsenen wie des Kindes als eine Sinnestäuschung, d. h. als ästhetisches Mißverständnis des Paradox-Religiösen aufzudecken. Im Unterschied zum Erwachsenen, der in christlichen Bestimmungen existieren kann, vermag das Kind dies nicht. Das unmittelbare Dasein in seiner natürlichen Bestimmtheit ist - anders als beim Erwachsenen - das ihm angemessene kindliche Existenzstadium. Kierkegaard will gerade nicht, daß Eltern ihr Kind so rigoros .christlich' erziehen, wie er selbst von seinem Vater erzogen worden ist, sondern im Gegenteil das Kind als Kind in seiner ihm eigenen ästhetischen Lebensweise und Religiosität ernstnehmen. Allerdings soll der Erwachsene, der ein Kind religiös erzieht, sich darüber im Klaren sein, daß diese Erziehung, nur weil 27

Vgl". U N 787-790 - S.V. VII,505-507. » U N 535 - S.V. VII,318. " Damit hat Kierkegaard einen Schritt von der reformatorischen Tauflehre weg in Richtung auf die Tauflehre K. Barths getan. Lehrten die Reformatoren, nur die Kindertaufe sei Christen erlaubt, so lehrt K.Barth, nur die Erwachsenentaufe sei christlich legitim. Kierkegaard hält die Kindertaufe immerhin für verantwortbar, allerdings nur als Ausdruck möglicher Aneignung, und er betont die Zusammengehörigkeit von Taufe und Aneignung, ohne sich direkt für die Erwachsenentaufe auszusprechen. In einer Tagebuchaufzeichnung von 1848 heißt es: „Die Kindertaufe kann man gern stehen lassen, aber die Konfirmation muß in das 25. Jahr gelegt werden" (Pap. IX A 461 - TB III, 119). 2

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sie sich innerhalb der Wirkungsgeschichte des Christentums vollzieht, noch keine christliche Erziehung ist30, sondern als religiöse Erziehung stehts auf das Christwerden abzielt und insofern stets ein Geschehen zwischen Menschen, die Christen werden oder werden können, bezeichnet. Der Erzieher kann nicht darüber verfügen, wann und wie der educandus Christ wird, aber er vertraut darauf, daß der educandus es werden kann. Entscheidend ist, daß der Erzieher sich um sein Christwerden bekümmert und, im Wissen um die Inkommensurabilität von Kindheit und Christentum, bei allem, was er dem Kind religiös mitteilt, darauf reflektiert, wie das Kind es versteht. O b der Erwachsene dem Kind einen wesentlichen Eindruck vom Christentum vermittelt, hängt wesentlich davon ab, ob er das Christliche existierend ausdrückt. Das Kind aber eignet sich eben das als Christentum an, was es von den Eltern als Christentum erfährt 3 1 ; was ihm christlich erscheint, das ist auch christlich. In jedem Fall also ist entscheidend, was die Erwachsenen bzw. die Eltern im Verhältnis zum Kind durch ihre Lebensweise darstellen. Der religiöse Erzieher im Sinne Kierkegaards wird sich dessen bewußt sein. Zugleich weiß er um die Differenz von Angeeignetem und Aneignung, d. h. er verwechselt nicht das Angeeignete mit dem Christentum (als ob es nur darum ginge, einem anderen Menschen sein eigenes Christentum zu vermitteln), sondern versteht das Christliche als eine Weise der Aneignung. Insofern ist der educandus zwar bestimmt durch das Christentum seiner Väter, jedoch nicht so, daß er schon durch die bloße Übernahme dieses Christentums zum Christen würde, sondern so, daß er entweder auf das Christliche (die Aneignung durch den Glauben) aufmerksam wird und zwischen jenem überlieferten Christentum und dem Christlichen differenziert, oder das Christliche mit dem Christentum seiner Väter identifiziert (wodurch das Christentum zur objektiven Lehre wird). Diese lehrhafte Auffassung des Christentums als etwas, dessen Wahrheit sich beweisen läßt, korrespondiert dem unmittelbaren Verständnis des Kindes, so30

Gegen Fraas, Religiöse Erziehung, 68. Vgl. U N 812 - S . V . VII, 523. Dies gilt nicht nur in b e z u g auf das Christentum, sondern in bezug auf Religion überhaupt. „Ein Kind wird an der Art, wie seine Eltern mit ihm leben und umgehen, herausfinden, was sie für wichtig halten im Leben, was sie an Menschen schätzen und lieben, was ihr Vertrauen und ihre Liebe findet und wie sie aussieht. U n d es wird sich daran allmählich sein eigenes Bild gestalten von dem, was für seine Eltern unbedingt gilt" (R.Tschirch, Gott für Kinder. Religiöse Erziehung - Vorschläge und Beispiele, G T B 83, Gütersloh 7.Aufl. 1981, 2 6 f . ) . D a ß die Religion der Eltern die Religion des Kindes bestimmt, setzt auch Kierkegaard voraus, w e n n er annimmt, ein Mensch könne „durch eine strenge christliche Erziehung bereits als Kind einen entscheidenden Eindruck vom Christlichen bek o m m e n . . . Soll dies geschehn, so müssen die Eltern selbst wesentlich Christen sein, so daß das Kind den fortwährenden Eindruck davon hat, wie die Eltern zum täglichen Gebrauch ein religiöses Leben führen, sich mit dem Christlichen beschäftigen, s o w o h l zu ihrer Erbauung, wie, um es in ihrem Wandel auszudrücken" ( D B A 649 - Pap. VII 2 227). 31

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fern beide das Christliche vergegenständlichen. Das Christliche, wodurch ein Mensch Christ wird, gerät auf solche Weise zur überlieferten Lehre; der Glaube an Jesus Christus wird verwechselt mit der Übernahme des Christentums der Väter bzw. dem Für-wahr-Halten ihrer Lehre. Gegenüber einem starren orthodoxen Traditionalismus ist Kierkegaard aber nicht weniger mißtrauisch gewesen als gegenüber der Spekulation der Hegelianer, da er selbst durch die religiöse Erziehung seines Vaters geschädigt war und am Vater nur in der Einsicht hatte festhalten können, daß es im Christentum nicht um das Für-wahr-Halten einer Lehre, sondern um das Verhältnis zu einem Lehrer geht, der selbst die Wahrheit zu sein beansprucht (Joh 14,6). Entscheidend für das Gelingen religiöser Erziehung ist nach Kierkegaard, daß der educandus bei dem kindlichen Verständnis vom Christentum, das dieses mit der von den Vätern überlieferten Lehre gleichsetzt, nicht stehen bleibe, sondern zu einem reifen Verständnis vom Christentum, mithin zur Aneignung durch den Glauben32 vordringe. Betrachtet man neuere religionspädagogische Arbeiten über religiöse Erziehung daraufhin, wie sie Kierkegaards Beitrag zum Verständnis der Religiosität des Kindes rezipiert haben, so stellt sich heraus, daß die Religionspädagogen sich der Provokation, die von Kierkegaard ausgeht, entweder entziehen oder allenfalls mit großer Mühe auszusetzen vermögen. Fraas etwa kann Kierkegaard nur in einer Reihe mit der dialektischen Theologie K. Barths und der existentialen Interpretation R. Bultmanns sehen, welche den Glauben durchweg als Entscheidungsvollzug akzentuieren33 und dem Kind damit eine unerfüllbare Bedingung stellen 34 . Nun 32 Bei Kierkegaard kommt es im Zuge dieser Aneignung zur Auseinandersetzung mit dem Vater, zur Einsicht in das wechselseitige Schuldverhältnis und schließlich zur Wiedergewinnung des Vaters als ,Vater im Glauben'. Dies ist kein zufälliges individuelles Schicksal, sondern liegt in der N a t u r des Glaubens, der einen Menschen seinen Eltern zunächst entfremdet. Von daher wird man Tschirch nicht zustimmen können, wenn er schreibt, der Sinn religiöser Erziehung bestehe darin, einem Kind die Gewißheit des Glaubens zu vermitteln, „daß unsere Person bejaht und angenommen ist, daß unser Bejahtsein alle menschliche Erfahrung überschreitet, daß es nicht aufgeht in dem, was uns an Liebe im Leben begegnet, und auch nicht a u f h ö r t da, wo uns Liebe versagt bleibt, ja, wir uns selbst nicht lieben und bejahen können" (aaO., 31). Vermitteln können Eltern einem Kind diese Gewißheit nicht; allenfalls können sie annähernd durch ihr Leben ausdrücken, daß sie selber dessen gewiß sind.

" So auch von katholischer Seite H . H u b e r t , Religiöse Früherziehung, München 1978, 63. Die Polemik gegen Barths Religionsverständnis ( K D 1/2, § 17) ist in der Religionspädagogik verbreitet. Sie b e r u f t sich gern auf P. Tillich, der freilich kaum genauer als Barth gelesen wird und dessen religions kritische Äußerungen (vgl. z.B. Systematische Theologie, Bd. III, Stuttgart 1966, 127, wo Tillich die Kritik an der Religion als ein Element in der Geschichte aller Religionen durchaus positiv würdigt, sofern diese Kritik der Heiligkeit des Heiligen gilt, und: Das Wesen der religiösen Sprache, in: Ges. Werke Bd.V, hrsg. von R. Albrecht, Stuttgart 1964, 213-222, wo Tillich u.a. die Vergötzung religiöser Symbole kritisiert und das Symbol des Kreuzes Jesu Christi als Wahrheitskriterium aller religiösen Symbole interpretiert) völlig ignoriert werden. 34

Fraas, Religiöse Erziehung, 72 ff.

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spricht Kierkegaard zwar vom Christwerden als einer Entscheidung des erwachsenen Menschen 3 5 , doch ist dies - was Fraas nicht beachtet hat antithetisch zu der Meinung formuliert, das Kindesalter sei f ü r das Christwerden entscheidend. D. h. Kierkegaard will das Kind gar nicht zu einer Entscheidung zwingen, die es schlechterdings nicht vollziehen kann, sondern er will zeigen, daß mit der unmittelbaren Gleichsetzung von Kindsein und Christsein die Aneignung beim Erwachsenen ausfällt. Kierkegaard wendet sich dagegen, das Kind als solches oder allein aufgrund seiner T a u f e zum Christen zu erklären, weil diese Erklärung das Kind gerade nicht in seiner Religiosität ernstnimmt, sondern nur dazu dient, die indifferente Haltung des Erwachsenen gegenüber dem Christentum zu rechtfertigen. Fraas hingegen befürchtet, wenn der Glaube als Entscheidung verstanden werde, komme es zu einer das Kind vom Glauben ausschließenden T r e n n u n g von Glaube und Religion; um diese Trennung zu vermeiden, hält er an der Christlichkeit des Kindes fest. Zu fragen ist, was er unter Glaube und Religion versteht. Warum wird dem Kind der Glaube zugesprochen, und in welchem Sinn ist hier von Glauben die Rede? Bezeichnenderweise setzt Fraas mit seiner Theorie religiöser Erziehung - wie viele andere Autoren 3 5 1 es ebenfalls tun - bei einem allgemeinen Religionsbegriff an, um so die Religiosität als menschliche Grundbefindlichkeit erweisen zu können, welche auch dem Kind eigen sei. Nach der anthropologischen Grundlegung kindlicher Religiosität werden die Strukturmomente der religiösen Haltung analysiert, deren Konditionierung' nach Fraas in der religiösen Erziehung erfolgt. Abschließend behandelt Fraas die verschiedenen Träger religiöser Erziehung in der pluralistischen Gesellschaft. Das Christentum wird dabei durchgängig als die traditionell vorgegebene Religion betrachtet, die sich in den Lebensformen dieser Gesellschaft gestaltet 36 . Dem entspricht das Ziel der religiösen Erziehung: sie soll ,sozial-integrativ' sein 37 . Leitbild des religiösen Erziehers ist der .mündige Christ', „der die ihm gemäße Form des Christseins sucht." 38 Sein Christsein besteht in „Haltungen und Lebensformen, die - mehr oder weniger bewußt - im Ausstrahlungsbereich christlicher Verkündigung ge35 Vgl. U N 812 - S.V. VII,523; DBA 642 - Pap. VII 2 220. Analog zum Christwerden wird der Glaube als Freiheitsakt und Willensäußerung bestimmt (vgl. PhB 99 - S.V. IV,247). 35a Ζ. B. Stoodt, Otto, Dienst, Tschirch von evangelischer sowie Halbfas und Hubert von katholischer Seite. Zwischen Glaube und Religion differenzieren nur Josuttis (Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion, München 2. Aufl. 1980) und Henkys (Handbuch der Praktischen Theologie, Bd. III, Berlin [Ost] 1978, 22). 36 Dieser Gesichtspunkt ist besonders für K. Dienst wichtig: Religionslehre bewegt sich nach seiner Ansicht „innerhalb der geschichtlichen Dimension der christlichen Tradition" und thematisiert „das, was Menschen glauben" (Glauben - Religiöse Erfahrung - Erziehung, GTB 750, Gütersloh 1979, 70. 72). 37 Fraas, Religiöse Erziehung, 40. 38 Fraas, ebd., 21.

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wonnen sind." 39 Fraas trifft nun eine wichtige Vorentscheidung: er geht nämlich davon aus, daß Glaube heute im M o d u s der Reflexion Gestalt gewinnt 40 und nicht das unmittelbare Erleben, sondern erst die Reflexion den umgreifenden Sinnhorizont zu vermitteln vermag 41 . Auf diese Weise verhilft Fraas dem modernen Menschen zu einer Deutung von Religion und Glaube, die es dem Erwachsenen auf der Grundlage der Faktizität christlicher Religion in der pluralistischen Gesellschaft einerseits ermöglicht, bestimmte .erworbene Verhaltensdispositionen' (R. Oerter) als religiös bzw. christlich zu verstehen, andererseits aber erlaubt, sich von vorgegebenen Formen christlich-religiösen Lebens zu distanzieren und den Heranwachsenden durch sein Beispiel zu derselben .Distanz der Reflexion' anzuleiten 42 . Aufgabe des religiösen Erziehers ist es demzufolge, ein strukturell bereits religiöses Kind zu derjenigen Selbstreflexion und Selbstbestimmung zu befähigen, die ihm zu der f ü r sein späteres Leben in der Gesellschaft erforderlichen Einheit von Rollenübernahme und Rollendistanz verhelfen 43 . Christsein wird so gänzlich in die Reflexion verlegt: sie nimmt die funktionale Einpassung des Heranwachsenden in die Gesellschaft als sinnhaft vorweg und gibt den kindlichen Haltungen einen christlich-religiösen Sinn. An dieser Konsequenz wird deutlich: Fraas' Theorie religiöser Erziehung ist wesentlich am modernen Selbstverständnis des Erwachsenen orientiert und schreibt dem religiösen Erzieher die Funktion zu, dieses Selbstverständnis durch eine religiöse Sinndeutung zu bestätigen. Das Kind erscheint als zukünftiger Rollenträger 44 . Zu glauben (Glaube im Sinne von Fraas verstanden!) vermag es der Theorie nach keineswegs; seine Religiosität ist lediglich f ü r den religiösen Erzieher da, der durch Reflexion über die Mutter-Kind-Beziehung zur Einsicht kommt, „daß die Mutterbeziehung des Kindes als Beziehung auf das ihm Unbedingte die Gottesbeziehung impliziert," 45 die Mutter also .erstes Gottessymbol' für das Kind ist 46 . Vermag das Kind aber nicht zu glauben, ist es auch nicht Christ. Dies gilt, 39

40 Fraas, ebd., 24. Fraas, ebd., 24. Fraas, ebd., 25. In diesem Bemühen um umfassenden Sinn folgt Fraas dem systematischen T h e o l o g e n W. Pannenberg, in dessen neueren Arbeiten nicht zufällig der Begriff der Sinntotalität eine zentrale Rolle spielt. D o c h wer nur noch nach dem Sinn im G a n z e n fragt, nimmt im Einzelnen nichts mehr wahr. Auf diese mit der Expansion der Sinnfrage einhergehende Reduktion der Wahrnehmung verweist kritisch G. Sauter, W a s heißt: nach Sinn fragen? Eine theologisch-philosophische Orientierung, M ü n c h e n 1982. 42 Fraas, Religiöse Erziehung, 21. 26. 43 Fraas, ebd., 206 f. 44 Ist das etwas anderes als die von Fraas, ebd., 72, kritisierte Sicht des Kindes als eines potentiellen Erwachsenen? Zu fragen ist jedenfalls, wer das Kind wirklich ernstnimmt: derjenige, der es in die Erwachsenengesellschaft integrieren will und diesem Ziel a posteriori einen religiösen Sinn gibt, oder derjenige, der davon ausgeht, daß das Kind kein Christ ist, aber zugleich darauf vertraut, es könne ein Christ werden? 45 46 Fraas, ebd., 79. Fraas, ebd., 93. 41

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obwohl Fraas den christlichen Glauben mit einer Reflexion über den Glauben verwechselt. Kierkegaards Einspruch gegen die Hegelianer, es komme nicht darauf an, den Glauben zu begreifen, sondern darauf, ihn existierend auszudrücken, trifft auch die Theorie von Fraas, die Christsein bruchlos ins moderne Selbstverständnis integriert und auf seine psychosoziale Funktion reduziert. Diese Integration und Reduktion des Christlichen verfehlt nicht nur die Aneignung durch den Glauben (der gar nicht als Existenzvollzug wahrgenommen wird), sondern auch die Wahrheit des Menschlichen, sofern die Theorie religiöser Erziehung keine Antwort auf die Frage geben kann, wie Erzieher und educandus die Erfahrungen mißlingenden Menschseins (Angst, Schuld, Reue, Verzweiflung) verarbeiten. Solche Erfahrungen sind eben nicht dadurch zu bewältigen, daß man über sie reflektiert und ihnen reflektierend einen Sinn zu geben versucht. Der durch seine eigene religiöse Erziehung geschädigte Kierkegaard k o n f r o n tiert die Religionspädagogik mit dem Fall eines Menschen, der Erfahrungen mißlingenden Menschseins religiös verarbeitet, indem er sie wiederholt und in der Wiederholung als humane Existenzmöglichkeiten entdeckt. Damit gibt er zu denken, ob die Theorie religiöser Erziehung christlich verantwortet und in der Praxis bewahrheitet werden kann, wenn sie die Wirklichkeit mißlingenden menschlichen Lebens ignoriert. Kommt erst an Erfahrungen mißlingenden Menschseins heraus, was in Wahrheit religiöse Erziehung heißen kann, dann läßt sich deren Aufgabe nicht mehr im Rahmen einer allgemein gültigen Theorie, sondern nur aus der Praxis, dem Lebensvollzug des Glaubens selber bestimmen, den ein Mensch allein durch sich selbst lernt. Da der Lebensvollzug des Glaubens als freier Selbstvollzug der Wiederholung aber an das Sündenbewußtsein gebunden ist, kann das eigentliche Problem religiöser Erziehung nicht der Glaube des Kindes, sondern nur der Glaube des Erwachsenen, die Aneigung des Christlichen im Zuge des Erwachsenwerdens sein, d.h. problematisch ist dann, in welcher Weise der Glaube einem Menschen hilft, erwachsen zu werden. Wird ein Mensch dadurch erwachsen, daß er bestimmte Haltungen von den Erwachsenen übernimmt und sich kritisch mit diesen Haltungen auseinandersetzen kann (entsprechend dem rollentheoretischen Sozialisationsbegriff, den Fraas von Habermas übernimmt 4 7 ), also durch soziales Lernen, so steht und fällt das Erwachsenwerden mit der Haltung des Erziehers und dessen Fähigkeit zur Selbstreflexion. Nicht der christliche Glaube ist dann f ü r das Erwachsenwerden bestimmend, sondern die Sozialisation 48 . Erfahrungen mißlingenden Menschseins sind nur eine Folge 47

Fraas, ebd., 44 f. Fraas spricht unbefangen vom ,Menschwerden in der Gemeinschaft' (ebd., 23), so als o b Kierkegaard niemals auf die Schwierigkeit hingewiesen hätte, als Einzelner das Allgemeine zu verwirklichen. 48

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mißlungener Sozialisation, d. h. der religiöse Erzieher hatte eben nicht die rechte Haltung gegenüber dem educandus und war sich der schädlichen Wirkungen seines erzieherischen Handelns, insbesondere seiner Religiosität, nicht bewußt. Als religiöser Erzieher hätte Kierkegaards Vater demnach vollkommen versagt, und sein Sohn wäre durch seine religiöse Sozialisation schlicht verdorben worden! So trivial und unerbaulich ist die Einsicht, die sich anhand der neueren Religionspädagogik in Kierkegaards Fall gewinnen läßt. Doch was ändert sich, wenn man annimmt, ein Mensch werde nicht durch soziales Lernen, sondern durch den Glauben an Jesus Christus erwachsen? Der Glaube, dies haben wir von Kierkegaard gelernt, eröffnet die Möglichkeit, diejenigen Erfahrungen mit anderen und mit sich selbst zu verarbeiten, in denen sich menschliches Leben verfehlt, weil ein Mensch im Glauben darauf aufmerksam wird, daß er sich zu sich selbst verhält und damit zugleich zu Gott, der das Selbstverhältnis gesetzt hat. Sich zu sich selbst verhalten heißt aber: nicht mehr bloß über sein Verhältnis zu anderen reflektieren, sondern sich zu dem verhalten, was Menschsein im allgemeinen mißlingen läßt, d . h . zum verzweifelten Selbstseinwollen. Der Glaubende verhält sich zu sich selbst konkret als Sünder: er unterscheidet zwischen sich selbst und der Sünde. Dadurch wird er frei zu einem solidarischen Verstehen des anderen als Sünder und versteht sich selbst in Schuldgemeinschaft mit dem anderen. Der Fall Kierkegaard dürfte f ü r die neuere Religionspädagogik von exemplarischer Bedeutung sein, weil hier ausgerechnet ein von religiöser Erziehung Geschädigter, der niemals Kind hatte sein dürfen, ihr vor Augen führt, was Erwachsenwerden christlich verstanden heißt: sich zu dem verhalten, der die eigene Kindheit bestimmt, also am Vater gegen den Vater festhalten. D a ß damit der Glaube an die Vergebung der Sünden und die Rechtfertigung des Sünders umschrieben und existentiell bewahrheitet sei, ist die These und der Gegenstand, die die vorliegende Arbeit beschäftigen. Wenn einer, der selber niemals Kind hatte sein dürfen, ein Kind dennoch als Kind ernstnehmen kann, dann gewiß nicht vermöge einer kindlichen Religiosität, sondern erst vermöge eines Glaubens, der die Kindheit glücklich wiederholt. Zu dieser glücklichen Wiederholung verhilft weder die Unmittelbarkeit des Gefühls, noch die Distanz der Reflexion. Der Glaube aber, der mich ins Gespräch mit mir selbst bringt, ins Gespräch mit meiner Angst, Schuld und Verzweiflung, läßt mich auch die Angst, Schuld und Verzweiflung meiner Väter entdekken. Im Glauben erwachsen werden heißt: durch die Väter seine Kindheit neu zurückbekommen, während der über seine Kindheit nur reflektierende oder sich in sie hineinfühlende Mensch in Wahrheit bei sich selbst bleibt. Ein solches unmittelbares verzweifeltes Selbstseinwollen ist vor Gott Sünde; es indiziert gerade das gottlose Erwachsensein des in sich selbst verkrümmten Sünders, der mit sich identisch bleiben will.

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10. Die Antizipation der Möglichkeit des Christwerdens Zum Problem der Kindertaufe Die evangelischen Kirchen haben die Praxis der Kindertaufe ungeprüft vom Katholizismus übernommen 1 und einen auf die Konfirmation zielenden nachgeholten Taufunterricht (Konfirmandenunterricht) eingeführt. „Eine eigentliche Kindertauflehre" - darauf weist K. Barth hin - „gibt es erst seit der Reformation, weil es erst in ihrem Raum zu einer ernstlichen Beanstandung und Bestreitung der schon damals längst schlechthin ehrwürdig gewordenen Institution der Kindertaufe gekommen ist . .." 2 Den Eltern wird bei der Kindertaufe die Verantwortung f ü r die religiöse Erziehung ihres getauften Kindes übertragen 3 . In der Folge ist die Bedeutung des Konfirmandenunterrichts als nachgeholter Taufunterricht durch das volkskirchliche Bewußtsein verdrängt worden, jedermann, Erwachsene und Kinder, sei von Geburt an Christ und zum Christsein sei nichts weiter nötig als die Zugehörigkeit zur Kirche qua Religionsgemeinschaft 4 . Das volkskirchliche Bewußtsein zeigt an, daß das Christentum in der modernen Gesellschaft eine öffentlich durch die Kirche repräsentierte und institutionalisierte Religion ist, während die christliche Lebenspraxis bzw. Frömmigkeit der Kirchenmitglieder f ü r die Gesellschaft zur Privatsache wird. Christsein im volkskirchlichen Sinne bedeutet somit: angepaßt an die Struktur der modernen bürgerlichen Gesellschaft leben. D a ß Kinder Christen sein können, erscheint wie zur Zeit Kierkegaards auch in der heutigen Volkskirche weithin selbstverständlich, a) weil sie getauft sind, b) weil das Christentum sozial anerkannt ist (d. h. weil es normal ist, getauft

1 Vgl. die Verurteilung der Wiedertäufer in CA IX, BSLK, 63. Der Heidelberger Katechismus befürwortet in der Antwort auf Frage 74 die Kindertaufe ebenso wie der Große Katechismus (im folgenden: GK) Martin Luthers, BSLK, 700-703. 2 KD IV/4 (Fragment), 183 f. 3 GK, De baptismo, BSLK, 699, betont Luther freilich, daß jeder Christ sein Leben lang an der Taufe genug zu lernen habe. 4 Dies belegt die empirische Untersuchung ,Wie stabil ist die Kirche?' (Hrsg. H.Hild, Gelnhausen-Berlin 1974). Uber den Sinn der Taufe befragt, äußerten 85% der Befragten, ein Kind werde getauft, damit es zur Kirche gehöre (ebd., 85). Jeder zweite evangelische Christ ist der Meinung: ,Ich bin in der Kirche, weil ich Christ bin (ebd., 138). Die Verfasser des Evangelischen Erwachsenenkatechismus' (EEK), Gütersloh 2. Aufl. 1975, knüpfen an das, was in der Volkskirche faktisch in Geltung steht, unbefangen an, wenn sie einerseits konstatieren: „Weithin gilt die Konfirmation - allen theologischen Beteuerungen zum Trotz - eben doch als eine Ergänzung der Kindertaufe ..." (ebd., 1090), und andererseits erklären: „Der Sinn der Konfirmandenzeit ist es, mit der Taufe leben zu lernen" (ebd., 1098). Hier wird das brutum factum zum Sinngeber gemacht: was ,im Volk' gilt, ist eo ipso sinnvoll!

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zu sein). Der Sinn der Kindertaufe liegt offenbar darin, das Kind zu einem Mitglied der Kirche und ineins damit zu einem normalen Mitglied der Gesellschaft zu machen 5 . D a ß es dadurch aber noch nicht Christ ist, erhellt schon daraus, daß es weder die Verkündigung des Evangeliums hören, noch das Herrenmahl empfangen kann. Das getaufte Kind hat also gerade an dem, was nach reformatorischem Verständnis Kirche zur wahren Kirche macht 6 , noch keinen Anteil, weil es noch nicht zum Glauben gekommen ist. Im N T wird ausdrücklich nur die T a u f e von Erwachsenen überliefert 7 . Die ersten christlichen Gemeinden kannten und praktizierten die T a u f e nur bei den zum Glauben an Jesus Christus bekehrten Heiden und Juden, also als der Bekehrung nachfolgendes Zeichen der Gemeinschaft mit Christus. Ihren Sinn hat die T a u f e daher nur im Rahmen des missionarischen Redens und Handelns der Kirche (wie im Taufbefehl M t 28,18-20 unmißverständlich zum Ausdruck kommt). Der irdische Jesus ließ sich als Erwachsener vom Bußprediger Johannes taufen, was die synoptischen Evangelien von Ostern her so verstehen, daß der Wassertaufe des Menschen Jesus die Geisttaufe des Sohnes Gottes bzw. des Christus korrespondiert 8 . Die T a u f e des Menschen Jesus ist also von den Christen als Zeichen seiner Gemeinschaft mit Gott (Gottessohnschaft) geglaubt worden. Dieser genuin christliche Sinn der T a u f e Jesu 9 , den die Gemeinde gegenüber Bekehrten bezeugt, indem sie sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes tauft, ist vom jesuanischen Sinn der T a u f e Jesu wohl zu unterscheiden. Weil Jesus seine T a u f e mit seinem Leben ausgelegt hat, darum ist nicht die Taufe, sondern der getaufte Jesus selbst das Sakrament 10 . Der irdische Jesus gab den Menschen die Bedingung der Möglich5

Die Zusammengehörigkeit beider Momente, eine Erbschaft, die sich der konstantinischen Wende verdankt, scheint nach K.Barth ( K D IV/4, 185) auch für die Reformatoren die unaufgebbare Voraussetzung ihres Festhaltens an der Kindertaufe gewesen zu sein. 6 Vgl. CA VII, BSLK, 61. 7 Vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 6. Aufl. 1968, 137, und H . Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, München 3. Aufl. 1976, 64, der darauf hinweist, daß die Kindertaufe erst um 200 n.Chr. aufkommt. 8 Vgl. Mk 1,9-11; par. Mt 3,13-17; Lk 3,21 f., w o diese Unterscheidung der Sache nach enthalten ist. Bei Joh 1,29-34 findet sich explizit die Unterscheidung zwischen ,mit Wasser taufen' und ,mit heiligem Geist taufen' (so auch Mk 1,8; Mt 3,11 f.; Lk 3,16 f.). D a z u kritisch E. Dinkier, D i e Taufaussagen des N e u e n Testaments. N e u untersucht im Hinblick auf Karl Barths Tauflehre, in: F.Viering (Hrsg.), Zu Karl Barths Lehre von der Taufe, Gütersloh 1971, 149 f. ' Wie ihn K. Barth in seiner Tauflehre neue herausgebracht hat (vgl. bes. K D IV/ 4,55-75). 10 So in Anlehnung an K.Barth ( K D IV/4, 112) E. Jüngel, Thesen zu Karl Barths Lehre von der Taufe, in: Viering, Zu Karl Barths Lehre von der Taufe, 161, und L. Steiger, Erschienen in der Zeit. Dogmatik im Kichenjahr: Epiphanias und Vorpassion nach den Evangelien, Kassel 1982, 42. 44.

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keit zur U m k e h r weiter, die er selbst in der T a u f e empfangen katte, und ging zu ihnen, um Kranke zu heilen und Sünden zu vergeben. „Mit Jesu Umkehr aus der T a u f e des Johannes kehren sich die Maßstäbe der Wirklichkeit um, kehrt selbst die Botschaft der U m k e h r um: geht nicht mehr von der Buße zum Heil, sondern vom Heil, das hier schon im Aufschein erfahren wird, zur Möglichkeit der Buße." 11 Jesus berief Jünger zur Nachfolge, ohne sie zu taufen oder zur T a u f e zu beauftragen. In ihm war die Gemeinschaft mit Gott gegenwärtig. Die christliche Gemeinde tauft auf den Namen Jesu Christi, um damit zu bezeugen, daß sie aus Menschen besteht, die durch Jesus Christus zur Gemeinschaft mit Gott gekommen sind. Darum setzt T a u f e die Bekehrung voraus 12 , darum auch erfolgt zugleich mit ihr ein Taufkatechumenat, das auf den geistlichen Sinn des Taufgeschehens, das Mitsterben und neue Leben in Christus 13 abhebt. „... in der T a u f e wird das Gestorbensein, das Totsein gegenüber der Sünde als Ereignis des gerechtfertigten Lebens gefeiert." 14 Wird ein Mensch hineingetauft in die Kirche Jesu Christi als Gemeinschaft gerechtfertigter Sünder, so beginnt mit der T a u f e ein Leben in täglicher Umkehr 1 5 . Gerade davon aber abstrahiert die Kindertaufe. Sie ist - jedenfalls dann, wenn vorausgesetzt wird, das Kind sei durch sie bereits Christ - eine T a u f e ohne geistlichen Sinn, in der so getan wird, als komme man durch die Kirche bzw. das gesellschaftlich etablierte Christentum zur Gemeinschaft mit Jesus Christus. Es wird dann der Anschein erweckt, als könne es diese Gemeinschaft ohne U m k e h r und folglich ohne Sündenbekenntnis geben und als seien hier Menschen versammelt, die der Rechtfertigung durch Christus nicht mehr bedürften 1 6 . Das Kind, so ließe sich Kierkegaards Kritik aufnehmen und zuspitzen, kann nicht Christ sein, weil die Erwachsenen, die es taufen, es nicht zum

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L.Steiger, Erzählter Glaube. D i e Evangelien, Gütersloh 1978, 19. Insofern ist die Wassertaufe Antwort auf die T a u f e durch den Heiligen Geist. D i e daraus sich ergebende Konsequenz, die Bestreitung ihres Sakramentscharakters, hat K. Barth in seiner Tauflehre g e z o g e n (vgl. K D I V / 4 , 1 1 2 - 1 4 0 ) . 13 Vgl. R o m 6 , 3 f. und Kol 2,12. Luther spricht in seiner Erklärung des Taufsakraments im Kleinen Katechismus (im folgenden: KK) davon, „daß der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden ..." (BSLK, 516). 14 E. Jüngel, Zur Kritik des sakramentalen Verständnisses der T a u f e , in: Viering, Zu Karl Barths Lehre von der Taufe, 41. 15 Vgl. Luthers T h e s e 1 der 95 T h e s e n von 1517, W A 1, 530. 16 Ein deutliches Indiz dafür ist heute der weitgehende Ausfall der Beichtpraxis in der evangelischen Christenheit. N i c h t die Freiheit zum Eingeständnis der eigenen Schuld, die Christen allein aus Glauben an die Vergebung nach Absolution begehren läßt, war zuvor hier herrschend geworden, sondern das gesetzliche Beichtverständnis der Orthodoxie. M i t ihm entledigte man sich zugleich der Aneignung des den gottlosen Sünder rechtfertigenden Freispruchs. Vgl. dazu E . B e z z e l , Frei z u m Eingeständnis. Geschichte und Praxis der evangelischen Einzelbeichte, Stuttgart 1982. 12

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Christen machen können. Sofern die Kindertaufe mit dem Anspruch geschieht, das Kind sei dadurch Christ, geschieht sie zu Unrecht. Nicht weniger fatal ist ihre Begründung durch Luther, wonach die Kindertaufe ein Zeichen für die Wirksamkeit der Gnade Gottes ohne menschliches Zutun sei17, weil hier implizit vorausgesetzt wird, die Erwachsenen könnten anstelle des Kindes glauben 18 . Kierkegaard hat jedoch die Kindertaufe - anders als Barth - nicht abgelehnt, sondern sie für verantwortbar gehalten, sofern sie als Antizipation der Möglichkeit des Christwerdens verstanden wird. Das Kind kann zwar nicht Christ sein, aber Christ werden; es kann sogar zum Christwerden erzogen werden, wenn religiöse Erziehung nicht etwa beansprucht, es zum Christen zu machen, sondern es nur darauf aufmerksam machen will, daß man zu Christus in ein Verhältnis kommen soll. Religiöse Erziehung kann auf dieses persönliche Verhältnis aufmerksam machen, wenn der religiöse Erzieher in christlichen Bestimmungen existiert, - aber sie kann es nicht vermitteln. Indem sie aber nur darauf aufmerksam macht, bezeugt sie Christus als den Mittler. Mit ihrer Entscheidung für die Kindertaufe hat die Kirche die Verantwortung christlicher Erziehung übernommen. Deshalb betraut sie bestimmte Personen (Eltern, Pfarrer, Lehrer) mit dieser Verantwortung. Zum Christwerden erziehen kann jedoch, wie Kierkegaard gezeigt hat, nur derjenige, der selber als Christ lebt. Und erfahren, was es heißt, als Christ zu leben, „kann man nur, wenn Christen unter uns leben. Erfahren, was es heißt, als Christ zu leben, kann man nur in der Gemeinschaft von

17 So sinngemäß in GK, De baptismo, wo Luther betont: in Gottes Namen getauft zu werden bedeute, von Gott selbst getauft zu werden (BSLK, 692). Die Taufe sei Gottes Werk (BSLK, 693. 698), von ihm selbst eingesetzt und geboten (BSLK, 692), und ihre Wirksamkeit beruhe allein auf Gottes Wort (vgl. KK, BSLK, 516). Darum verwerfe der, der die T a u f e verwirft, Gottes W o r t (BSLK, 697). In bezug auf die Kindertaufe behauptet Luther nun: Kinder würden allein auf Gottes Wort hin getauft (BSLK, 702). Weil an Gottes Wort und Gebot alles liege, komme es nicht darauf an, ob der, der getauft wird, glaube oder nicht glaube (BSLK, 701). Zuvor aber hatte er ausdrücklich erklärt: „... der Glaube macht die Person allein würdig, das heilsame, göttliche Wasser nützlich zu empfangen... Ohne Glauben ist es nichts nütz ..." (BSLK, 697. Hervorh. von mir). Dieser merkwürdige Selbstwiderspruch wird nur verständlich, wenn man bedenkt, daß Luther den Einwand der Wiedertäufer gegen die Kindertaufe, Kinder könnten nicht glauben, zu widerlegen sucht (vgl. BSLK, 700). Die Wiedertäufer setzen den Glauben als menschliche Disposition voraus. Luther argumentiert dagegen so: die Taufe geschieht allein im Vertrauen auf Gottes Wort, das von außen (extra nobis) auf uns zukommt, nicht weil irgendein Mensch, Erwachsener oder Kind, zum rechten Empfang der Taufe disponiert wäre. Die Argumentation richtet sich also gegen einen als fromme Grundhaltung mißverstandenen Glauben." In der modernen Volkskirche ist aber dieses Mißverständnis ebenso wie die damit einhergehende Wiedertaufpraxis nur ein marginales Problem. Gravierender ist, daß die Taufe vielfach im Leben der Getauften nicht ausgelegt wird bzw. nicht ihren - für Luther noch selbstverständlichen - Ausdruck in täglicher Umkehr findet. 18

Vgl. dazu K. Barths Widerlegung, K D IV/4, 204 ff.

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Christen. Das ist eine pädagogische und eine theologische Regel."18* Es ist also eine erzieherische Aufgabe, das Evangelium religiös erfahrbar und im Leben der Gemeinschaft Wirklichkeit werden zu lassen18b. „Christliche Gemeinschaft sollte geprägt sein durch die Weitergabe der Rechtfertigung des Sünders. In dieser Gemeinschaft ist der eine bereit, von der Rechtfertigung des anderen durch Gott her zu leben."18c Wer die Erfahrung macht, daß die Kirche eine Gemeinschaft gerechtfertigter Sünder ist, der wird auf den Mittler des Rechtfertigungsgeschehens aufmerksam, sofern diejenigen, die als Christen leben, ihm zeigen, daß sie durch Christus leben. Die Kindertaufe ersetzt diese Erfahrung nicht, sondern verweist gerade auf ihre Möglichkeit, d.h. darauf, zum Glauben zu kommen und darin erwachsen zu werden. Sofern das Christwerden sowohl eine Möglichkeit des Kindes wie des Erwachsenen ist, die allein an den Glauben gebunden ist, spricht der Erwachsene, der das getaufte Kind unmittelbar zum Christen erklärt, sich, selbst indirekt die Möglichkeit des Christwerdens ab und erklärt zugleich die Kindertaufe zur conditio sine qua non des Christseins. Daraus spricht der Unglaube, der es nicht für möglich hält, daß Christus einen Menschen dazu bewegen könne, sich taufen zu lassen. Der Glaube hingegen hält dies für möglich, weswegen der Glaubende sich taufen läßt, um im Gehorsam gegen Christi Gebot die Taufe Jesu zu wiederholen 1 '. Wenn Eltern ihr Kind im Glauben taufen lassen, ist die Taufe des Kindes nach Kierkegaard nichts anderes als die Antizipation dessen, was in der Taufe des Erwachsenen zum Ausdruck kommt, nämlich der Möglichkeit des Christwerdens. Die Kindertaufe ist für Kierkegaard somit aus seelsorgerlichen Gründen zulässig, aber eben nicht notwendige und hinreichende Bedingung des Christseins. 18a W. Eisinger, ,Quod pueri sint baptizandi ...' Aktuelle Anfragen des Augsburger Bekenntnisses und der pfälzischen Vereinigungsurkunde an unsere christliche Erziehung, in: Bewahren und erneuern. FS für Th. Schaller, hrsg. vom Protestantischen Landeskirchenrat der Pfalz, Speyer 1980, 131 f. ,,b Eisinger, ebd., 128 f. 18c Eisinger, Vom Mut, christlich zu leben. Plädoyer für eine neue Frömmigkeit, in: ZRP 35 (1980), 152 f.

" Vgl. Jüngel, Thesen, aaO., 162 f. (These 3.11), und Steiger, Erschienen in der Zeit, 49.

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Religionsunterricht als Sozialtherapie?

11. Religionsunterricht als Sozialtherapie? Zum therapeutisch-sozialisationsbegleitenden Konzept des Religionsunterrichts In der Auseinandersetzung mit Fraas wurde bereits auf die Problematik hingewiesen, die sich aus der Orientierung religiöser Erziehung am rollentheoretischen Sozialisationsbegriff ergibt 1 . Da in der neueren Religionspädagogik seit Ende der 60er Jahre ein von D. Stoodt entwickeltes Konzept therapeutisch-sozialisationsbegleitenden Religionsunterrichts (RU) 2 vertreten wird, das sich zum Verständnis des Falles Sören Kierkegaard in besonderer Weise anzubieten scheint, soll dieses Konzept etwas ausführlicher dargestellt und auf seine Sicht des Christseins in der Moderne befragt werden. Beeinflußt durch soziologische und psychologische Forschung, insbesondere der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, geht Stoodt bei seiner Konzeption von einer interaktionistischen Sicht der Gesellschaft und einem teils psychoanalytischen, teils soziologisch-funktionalen Verständnis von Religion aus. Dem interaktionistischen Ansatz (G. H . Mead, Τ. Parsons, J. Habermas) zufolge entstehen individuelle und gesellschaftliche Strukturen in menschlicher Interaktion, wobei Individuum und Gesellschaft dialektisch aufeinander bezogen sind. „Gesellschaftliche Wirklichkeit wird in einem unabschließbaren Prozeß im Alltag produziert, indem gesellschaftliche Strukturen vom einzelnen angeeignet werden und dieser selbst als strukturiertes Wesen seine Umwelt gestaltet." 3 T. Parsons definiert das stabile soziale System als einen „Prozeß komplementärer Interaktion zwischen zwei oder mehr individuell Handelnden, bei der jeder den Erwartungen des anderen entspricht ..." 4 . In diesem Interaktionsprozeß bilden sich soziale und persönliche Identität (E. Goffman), die das Individuum beständig ausbalancieren muß. „Die persönliche Identität kommt zum Ausdruck in einer unverwechselbaren Biographie, die soziale Identi1

Vgl. dazu J. Habermas, Stichworte zu einer Theorie der Sozialisation, in: ders., Kultur und Kritik, Suhrkamp TB 125, Frankfurt/Main 2.Aufl. 1977, 118-194. 2 Kritische Darstellungen dieses Konzepts finden sich bei G.Bockwoldt, Religionspädagogik. Eine Problemgeschichte, Urban TB 183, Stuttgart 1977, 109-113, und M.Josuttis, Praxis des Evangeliums, 213-219. Nützlich ist auch der Überblick im Arbeitsbuch von F. Wintzer, Praktische Theologie, Neukirchen 1982, 163-165. Aus den Beiträgen zum therapeutischen RU, die sich in der Zeitschrift ,Der evangelische Erzieher' 25 (1973), Heft 3, gesammelt finden, ist besonders hervorzuheben: R. Preul, Sozialisation und religiöse Entwicklung, 180-195. Preul weist darauf hin, „daß der Mensch nicht nur durch seine Erzieher erzogen wird, sondern ebenso durch mannigfache und meist unreflektierte Umwelteinflüsse und Erfahrungen und nicht zuletzt auch durch sich selbst" (aaO., 183). 3 K.Dienst, Glauben - Religiöse Erfahrung - Erziehung, 35. 4 Zit. nach Habermas, Stichworte, 119.

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tät in der Zugehörigkeit ein und derselben Person zu verschiedenen, oft inkompatiblen Bezugsgruppen. Während persönliche Identität so etwas wie die Kontinuität des Ich in der Folge der wechselnden Zustände der Lebensgeschichte garantiert, wahrt die soziale Identiät die Einheit in der Mannigfaltigkeit verschiedener Rollensysteme, die zur gleichen Zeit g e konnt' sein müssen. Beide ,Identitäten' können als Ergebnis einer ,Synthesis' aufgefaßt werden, die sich auf eine Folge von Zuständen in der Dimension der sozialen Zeit (Lebensgeschichte) bzw. auf eine Mannigfaltigkeit gleichzeitiger Erwartungen in der Dimension des sozialen Raums (Rollen) erstreckt." 5 Die Aufgabe der Person besteht folglich darin, persönliche und soziale Identität gleichzeitig zu bewahren bzw. miteinander auszubalancieren. Diese Balance, die von Stoodt wie Habermas als IchIdentität bezeichnet wird, ist beständig von zwei Seiten bedroht: „Wir müssen gleichzeitig unsere soziale Identität wahren und ausdrücken, ohne der Gefahr der ,Verdinglichung' zu erliegen; aber ebenso müssen wir unsere persönliche Identität zugleich wahren und ausdrücken, ohne .stigmatisiert' zu werden." 6 Angeleitet durch die Kritische Theorie diagnostiziert Stoodt in der modernen Gesellschaft eine krankhafte Fixierung an Autoritäten, unter der der heutige Mensch angeblich leide, ohne es zu wissen. An dieser Autoritätsfixierung trägt die christliche Religion erheblichen Anteil, sofern sie in real- und sozialgeschichtlichem Zusammenhang zur Entstehung paternalistischer Strukturen beigetragen hat. N u r scheinbar sei der moderne Mensch von heute glücklich und zufrieden; in Wahrheit aber werde dieser Anschein durch ein ausgeklügeltes System des Konsums, der Prämien und der Idolbildung erzeugt. „Sozialisation bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Schädigung des modernen Menschen bereits im frühen Lebensalter eintritt, insofern als das Kleinkind in die von der Erwachsenenwelt vorgegebenen Wertvorstellungen hineinwächst. Es hat gar keine Chance, sich seine Religion zu wählen, seine Freiheit besteht allenfalls darin, sie später abzulehnen, was aber unter dem nachhaltigen Einfluß frühkindlicher Gewöhnung nur noch bedingt möglich ist." 7 Stoodt setzt also die Ausbildung autoritärer Persönlichkeit und die Wirkung des Christentums als gesellschaftlicher Religion in direkte Beziehung zueinander und kommt so zu der sowohl sozial- wie religionskritisch gemeinten Diagnose: „Christliche Religion, traditionalistisch aufgefaßt, ökonomisch, politisch, naturwissenschaftlich und psychologisch in der Defensive - das ergibt das Syndrom der Angst und damit das Sekuritätsstreben, also den Charakter der autoritären Persönlichkeit." 8 5

6 Habermas, ebd., 131. Habermas, ebd., 131. Bockwoldt, Religionspädagogik, 110. 8 D. Stoodt, Religion und Emanzipation (1972), zit. bei Bockwoldt, aaO., 110, und Dienst, aaO., 37. 7

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Diese wirkungsgeschichtlich als religiös verstandenen Sozialisationsvorgänge will Stoodt aufarbeiten, um ihren zeit- und systembedingten Wert zu entlarven. Dazu muß der RU die Schäden der Einzelnen wie der Gesellschaft im ganzen zunächst einmal in .heilender Absicht' aufdecken. Das entscheidende Ziel der religiösen Erziehung ist ein aufklärerisch-therapeutisches, nämlich dem heranwachsenden Menschen zu einem von (unbewußten) Autoritätsfixierungen .emanzipierten Ich' zu verhelfen 9 , welches insbesondere die durch seine religiöse Sozialisation entstandenen Abhängigkeiten durchschaut und verarbeitet. Es gilt, das Ich zugleich durch kritisches Denken zu emanzipieren und durch entsprechende Methoden des Lehrer-Schüler-Verhaltens, die dem Schüler eine anerkannte Rolle in der Gruppe verschaffen, emotional zu stabilisieren. Diesem Ziel entsprechen die beiden Mittel der Information und der (symbolischen10) Interaktion als wesentliche Elemente des Unterrichts. „Die Aufarbeitung der Sozialisationsprozesse intendiert Stabilisation der beschädigten Menschen. Die Information zielt auf Sachkompetenz des Lernenden. Die symbolische Interaktion hat das Ziel, zur Selbstbestimmung der Menschen und zu deren Teilhabe am demokratischen Geschehen beizutragen; das verstehe ich unter Mobilisierung. Auf die Aufeinanderbeziehung dieser drei Tendenzen kommt es an. Sie gewährleisten einen RU als Therapie." 11 In der symbolischen Interaktion kommen sowohl das aufklärerische wie das therapeutische Anliegen zur Erfüllung, denn sie erzeugt jene Sphäre ,herrschaftsfreier Kommunikation' (J.Habermas), in der die Ich-Identität des beschädigten Menschen wiederhergestellt wird. Der von Stoodt angestrebte sozial-therapeutische Unterricht versteht sich als schülerorientiert und schreibt dem Lehrer die Rolle des einfühlsamen Gesprächsteilnehmers zu. Die sozialtherapeutische Funktion des Unterrichts soll aber nicht nur allgemein in einem partnerschaftlichen Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern konkret in Rollenspielen zum Ausdruck kommen, die das Erlernen von neuen Verhaltensmodellen durch Identifikation ermöglichen: „In psycho- und soziodramatischen Szenen werden eigene und andere gesellschaftliche Konfliktsituationen erhellt. Indem der Schüler im Spiel eine Rolle übernehme, könne viel eher und besser - so heißt es - die Identifikation mit sich selbst, mit anderen Personen erfolgen, was in einem vorwiegend kognitiv ausgerichteten Unterricht kaum möglich wäre" 12 . Die sym' .Religiöse Sozialisation und emanzipiertes Ich' lautet der bezeichnende Titel eines Aufsatzes von Stoodt in: K.W.Dahm/N.Luhmann/D.Stoodt, Religion - System und Sozialisation, Darmstadt 1972, 189-237. 10 Das Prädikat .symbolisch' verweist auf die sprachliche Vermittlung solcher Interaktion. Vgl. Habermas, Stichworte, 120 ff. 11 Stoodt, Information und Interaktion, in: K. Wegenast (Hrsg.), Religionspädagogik. Erster Band: Der evangelische Weg, Darmstadt 1981, 328. 12 Bockwoldt, Religionspädagogik, 111.

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bolische Interaktion des Rollenspiels geschieht also nicht zweckfrei, sondern dient zur Einübung alternativen gesellschaftlichen Verhaltens. Deshalb soll sie Fixierungen, sprachliche und schichtenspezifische Barrieren und vor allem Ängste abbauen. Wichtige Unterrichtsinhalte, anhand deren die Religion bzw. Sozialisation des Schülers aufgearbeitet wird, sind Kirchen-, Religions- und Traditionskritik. Wenn Stoodt die symbolische Interaktion als eine .religiöse Angelegenheit' bezeichnet, so kann er dies, weil nach seinem Verständnis der Religion emanzipative ebenso wie konservativ-autoritäre Züge eignen. Unter Religion versteht Stoodt die im Sozialisationsvorgang begegnende Religion der Gesellschaft, die er in Westeuropa und Amerika mit der biblischchristlichen Religion schlicht identifiziert 15 . Ihre wichtigste Funktion ist die Vermittlung von grundlegenden Sinn- und Wertzusammenhängen, welche die Gesellschaft integrieren. Religion will also die Welt deuten und den Menschen Wertmaßstäbe geben 14 . „Indem ... die Kinder in der Sozialisationsphase die Welt übernehmen, in der andere schon lebten, übernehmen sie auch den Wertezusammenhang, kurz: die Religion dieser Welt" 15 . Der sozialtherapeutische RU wird - was man m. E. zu wenig beachtet nicht so sehr dadurch zu einem religiösen Unternehmen, daß er ausdrücklich die Religion der Schüler thematisiert, sondern vielmehr dadurch, daß er selber indirekt den Schülern bestimmte Sinndeutungen und Wertmaßstäbe vermittelt. Ebenfalls bedeutsam ist die religiöse Funktion der emotionalen Stabilisierung bzw. der Reduktion von Angst 16 . Solche Stabilisierung hat, wie Stoodt versichert, nichts mit Antiaufklärung und Immobilismus zu tun, sondern „macht gerade auch für die Emanzipation stabil"17. Emotionale Stabilisierung hält Stoodt aber nicht nur für eine dem Fortschritt in der modernen, von Außenlenkung und Neurosen bestimmten Gesellschaft dienliche Funktion, sondern überdies für ein Kriterium genuin biblischer Religion, die die Menschen nicht ängstigt, sondern ihre Angst einschränken will18. Diese Koinzidenz von Modernität und biblischem Sinn der Religion ist für ihn nicht zufällig, sie hat vielmehr ihren Grund in der Sache der Religion selbst. Denn: „Mündigkeit des Menschen und der biblische Gott gehören zusammen" 19 . Die autoritäre Verzerrung 13 So in dem Aufsatz: Religion in religionssoziologischer Betrachtung, These 3, in: K. Heintz/R. Kaldewey (Hrsg.), Religion. Konzepte, Materialien für den R U in der Sekundarstufe II, Frankfurt/Main-München 1978, 27 (zuerst in: Schönberger Hefte 1/1970, 4-7). 14 Stoodt beruft sich dabei auf K.W. Dahm. Vgl. ders., Beruf Pfarrer, München 1971, 294 f. 15 Stoodt, Information und Interaktion, aaO., 323. 16 Vgl. Stoodt, Religion in religionssoziologischer Betrachtung, These 1, aaO., 27. 17 Information und Interaktion, aaO., 324. " Vgl. Religion in religionssoziologischer Betrachtung, These 1, aaO., 27. " Stoodt, zit. nach: H. J. Dörger/J. Lott/G.Otto, Einführung in die Religionspädagogik, Urban-TB 631, Stuttgart 1977, 163.

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R e l i g i o n s u n t e r r i c h t als S o z i a l t h e r a p i e ?

christlicher Religion, wie Stoodt sie im Fundamentalismus, Konservativismus und Dogmatismus verwirklicht sieht, hat offensichtlich in den vorbewußten Stadien der Kindheit ihren Ursprung, in denen Religion .vermittelt' wird. Die ,eingelebten Verhaltensmuster' und ,verfestigten religiösen Vorstellungen' der Kinder sind somit das eigentliche Problem religiöser Erziehung, weil in ihnen die Religion gleichsam als Zwang und unabänderliches Schicksal, d.h. die traditionelle Gestalt von Religion erscheint. Dieser Aspekt ist bei Stoodt f ü r Religion schlechthin bestimmend: „Religion ist auf jeden Fall zunächst etwas Vorgegebenes, das man sich nicht aussucht, in das man vielmehr hineingeboren wird und das einen grundlegend prägt, motiviert, einengt, jedenfalls eine grundlegende Prägung verleiht . . . Religion ist etwas, das man nicht wählt, an das man sich vielmehr gewöhnt" 2 0 . Obschon Stoodt sich „der großen dogmatischen Tradition der Kirche und der Theologie durchaus verpflichtet (fühlt)" 21 , wird man fragen müssen, inwieweit seine pauschale Berufung auf die biblische Tradition zu Recht erfolgt und das von ihm entwickelte Konzept überhaupt noch innerhalb der Kirche 22 verantwortet werden kann. G. Bockwoldt und im Anschluß an ihn K.Dienst haben vor allem die ideologische Orientierung des Konzepts kritisiert und den „Abbau angeblich falscher Sozialisation und die Forderung nach kritischem Denken bereits beim Kleinkind" f ü r „pädagogisch sehr bedenklich" 23 erklärt. In der T a t ist zu fragen, woher Stoodt den Maßstab f ü r seine Unterscheidung zwischen pathologischen, weil autoritätsfixierten Sozialisationsergebnissen und dem angeblich gelingenden Leben des emanzipierten Ich eigentlich gewonnen hat: aus der Bibel oder aus der Kritischen Theorie als moderner, Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre höchst zeitgemäßer Sozialphilosophie? Die biblische Tradition, so scheint es, wird von ihm lediglich unter dem Gesichtspunkt rezipiert, was sie zur Stabilisation und Emanzipation des Ich in der modernen Gesellschaft beiträgt. Dabei bleibt Stoodt den Nachweis schuldig, warum diese Tradition gegenüber den in dieser Gesellschaft faktisch geltenden 20 Stoodt, Religion in religionssoziologischer Betrachtung, T h e s e 7, aaO., 29. Wie die auf solche Weise vermittelte Religion des Kindes sich zur späteren Religion des Erwachsenen verhält, wird nicht gefragt. Mit Recht hält Preul „die Annahme, religiöse U b e r z e u g u n g entstehe allein auf dem W e g e früher Einübung, G e w ö h n u n g und Verinnerlichung", für „weder zeitgemäß noch christentumsgemäß" (aaO., 190). „ D e n n auf die Phase unreflektierter, überwiegend passiver Übernahme religiöser Normen, Werte und Symbole pflegt in aller Regel eine Phase aktiven Problematisierens zu folgen, in der sich erst entscheidet, ob die Sozialisation religiöser Vorstellung und Einstellung gelingt oder nicht" (ebd.). 21 Information und Interaktion, aaO., 327. 22 D e r RU, dem es dienen will, ist ja auf Übereinstimmung mit dem formulierten Bekenntnis der evangelischen Kirche angewiesen und nur legitim, sofern diese Übereinstimmung gewährleistet ist (vgl. das Grundgesetz der B R D , Art. 7 Abs. 3). 23 Bockwoldt, aaO., 112; D i e n s t aaO., 39.

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Maßstäben einen positiven Wert darstellt24. Vom sozialphilosophischen Standpunkt aus ist es überhaupt nicht einzusehen, weshalb es zur Verwirklichung herrschaftsfreier Kommunikation gerade der biblisch-christlichen Religion bedarf, solange diese lediglich funktional und nicht inhaltlichtheologisch bestimmt wird25. Wenn die frühkindliche religiöse Sozialisation vor allem eine pathologische Deformation des Menschen bewirkt, dann bleibt unklar, weshalb Religion den modernen Menschen überhaupt etwas angehen soll. Vielmehr erscheint es sinnvoll, sich gänzlich von ihr zu befreien und das Lernziel Emanzipation auf nicht-religiösen, säkularen Wegen zu verfolgen. Dieser naheliegende Schluß wird von Stoodt m. E. nur deshalb nicht gezogen, weil seine Ausweitung des Religionsbegriffs auf alle im Sozialisationsvorgang vermittelten Sinndeutungen und Wertmaßstäbe eine streng säkulare Deutung und Wertung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die vom Christentum absieht, im Grunde ausschließt 26 . Geradezu fatal wirkt sich bei Stoodt die unkritische Übernahme des Sozialisationsbegriffs auf das Verständnis von Religion aus, so wie wir dies schon bei Fraas27 beobachten konnten. Wenn nämlich Religion primär nicht etwas ist, das man sich wählt, sondern etwas, an das man sich gewöhnt, dann bedeutet dies, daß Religion wesentlich eine durch soziales Lernen erworbene Verhaltensdisposition ist, von der es durch Selbstreflexion Distanz zu gewinnen gilt. Abgesehen vom zweifelhaften Erfolg solcher 24

Darauf hat Josuttis, Praxis des Evangeliums, 219, hingewiesen. H a b e r m a s kann zwar im Anschluß an religionssoziologische Einsichten E. Dürkheims den religiösen Symbolismus „als Mittel f ü r eine spezielle Form der symbolisch vermittelten Interaktion" (Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.2, F r a n k f u r t / M a i n 1981, 84) würdigen, in der sich kollektive Identität in einem normativen Konsens bildet; er betrachtet aber den religiösen Symbolismus als vorsprachliche Wurzel kommunikativen Handelns (ebd., 96). Die ideale Kommunikationsgemeinschaft ist f ü r Habermas nur auf der Grundlage sprachlicher InterSubjektivität denkbar. „In dem Maße, wie das kommunikative Handeln zentrale gesellschaftliche Funktionen übernimmt, werden dem Medium der Sprache Aufgaben substantieller Verständigung aufgebürdet. Die Sprache dient . . . nicht mehr nur der Übertragung und Aktualisierung von vorsprachlich garantierten, sondern zunehmend auch der Herbeiführung von rational motivierten Einverständnissen . . . " (ebd., 163. Hervorh. von Habermas). Gerade f ü r die soziale Integration und Sozialisation kann und soll Religion in der modernen Gesellschaft keine zentrale Bedeutung mehr haben. In der Auseinandersetzung mit H a b e r mas müßte der Theologe m. E. zeigen, wo herrschaftsfreie Kommunikation religiös erfahrbar wird: im Herrenmahl. Denn dort teilt Christus in Brot und Wein sich selbst mit und vereinigt alle, die an seinem Mahl teilnehmen, zu ,einem Leib' (1 Kor 10,17). 25

26 So auch bei G . O t t o , in: ders. u.a., Neues H a n d b u c h des Religionsunterrichts, H a m burg 1972, 32. Die Religionskritik, gerade die der Kritischen Theorie (vgl. M . Horkheimer, Gedanke zur Religion, in: ders., Kritische Theorie I, F r a n k f u r t / M a i n 1968, 374-376) und der Freudschen Psychoanalyse (vgl. S. Freud, Die Z u k u n f t einer Illusion, in: Studienausgabe Bd. IX, F r a n k f u r t / M a i n 1974, 135-189) wäre dann allerdings nicht ernstgenommen, beanspruchen sie doch, den Sinn der Religion als eines sozialen und psychischen Phänomens nicht-religiös zu deuten! 27 Vgl. oben S. 101 f. dieser Arbeit.

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Distanzierung - es soll ja nicht nur in der Gruppe, sondern auch in der Gesellschaft zu Änderungen des Verhaltens kommen - scheint mir dieses Verständnis von Religion vor allem dadurch belastet zu sein, daß es religiöses Verhalten auf Rollenverhalten reduziert und zur Therapie daher folgerichtig gruppendynamische Methoden einsetzt. In bezug auf die kindliche Religiosität mag es zutreffen, daß religiöses Verhalten zunächst durch Nachahmung, also die Übernahme und das Sich-Versetzen in die Rolle der Eltern eingeübt wird. In Bezug auf Heranwachsende und Erwachsene gilt jedoch: eine Religiosität, die lediglich in eingeübtem Rollenverhalten besteht, verharrt auf der kindlichen Stufe und ist vollkommen äußerlich, bloße Gewohnheit ohne ein innerliches Verhältnis zum Religiösen (welches nicht mit den gefühlsmäßigen Bindungen zu verwechseln ist, die entstehen, wenn ein Kind sich mit dem äußeren Verhalten der Eltern identifiziert). Durch Selbstreflexion allein wird dieses Rollenverhalten vergegenständlicht, aber nicht wirklich verändert oder gar überwunden. Denn entscheidend ist, daß ein Mensch nicht nur Rollen von anderen übernimmt, sondern auch sich zu seiner Rolle verhält. Der rollentheoretische Sozialisationsbegriff sieht aber vom Verhältnis des Menschen zu seiner Rolle ab 28 . Die Reflexion über sich selbst als Rollenträger befreit einen Menschen nicht von seinem eingeübten Rollenverhalten, d.h. sie führt nicht zur Verhaltensänderung, weil er sich reflektierend nicht zu sich selbst verhält und damit auch nicht zu dem, was sein Verhalten bestimmt. „Wenn ich mein Verhalten zu meiner Rollenfunktion in mir selbst betrachte, dann reflektiere ich mich eben in bezug auf die Rollenerwartung anderer. Das Selbstverhalten ist soziologisch relevant nicht als meine private Introspek-

28

Vgl. dazu R. Dahrendorf, H o m o Sociologicus. Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle (1959), in: ders., Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie, München 1967, 128-194; H.Plessner, Soziale Rolle und menschliche Natur (I960), in: ders., Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie, Suhrkamp TB 148, Frankfurt/Main 1974, 23-35; W.Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 3. Aufl. 1976, 194-201. Dahrendorf bemerkt in seiner grundlegenden Arbeit, daß der Mensch als Rollenträger zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft steht (aaO., 133), und stellt fest: „Der ungeteilte, freie Einzelne ist empirischer Forschung zwar nicht zugänglich und kann es seinem Begriff nach nicht sein; dennoch wissen wir um ihn in uns selbst und in anderen" (ebd., 187). In diesem Dilemma entscheidet Dahrendorf sich bemerkenswerterweise dafür, durch soziologische Forschung zur ,Befr eiung des Einzelnen vom Ärgernis der Gesellschaft', zur Erweiterung seines Spielraums und zu politischen Veränderungen zu seinen Gunsten beizutragen (ebd., 194). Plessner zeigt nun, daß die Freiheit des Einzelnen sich nicht nur in der Privatsphäre verwirklicht, sondern auch öffentlich eine Rolle spielen muß (aaO., 34'f.). Schulz schließlich führt den Nachweis, daß auch das Selbstverhalten des Rollenträgers zu seiner Rolle soziologisch relevant ist (aaO., 200). Fazit: der Einzelne kann nicht ohne, sondern nur in der Gesellschaft, die ihm Rollen zumutet, er selbst sein, aber nicht durch seine Rollen, sondern dadurch, wie er sich zu seinen Rollen verhält.

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tion, sondern einzig und allein, insofern es auf andere hin sich veräußerlicht und damit objektiviert" 29 . Stoodts Verständnis von Religion und Gesellschaft drückt also eine vollkommen äußerliche, sowohl die Religiosität wie den Menschen vergegenständlichende Beziehung zu diesen Phänomenen aus, die sowohl vom spezifischen Inhalt des Christlichen wie vom Selbstverhältnis der Individuen abstrahiert. Wer religiöses Verhalten nur als Rollenverhalten, Religion nur als Produkt von Sozialisation begreift, betrachtet Religion allein mit den Augen der anderen bzw. aus der Perspektive der Gesellschaft, in der er lebt, und hat damit eo ipso aufgehört, sich selbst religiös zu ihnen bzw. zu ihr zu verhalten. Genau das, was nach Kierkegaard das Christliche ausmacht, die Innerlichkeit des Glaubens, die sich im paradoxen Verhältnis zum Paradox der Menschwerdung Gottes ausdrückt und dadurch, gemessen an den gesellschaftlichen Maßstäben und Erwartungen, aus der Rolle fällt, ist hier verschwunden. In der Konzeption des therapeutisch-sozialisationsbegleitenden R U spiegelt sich so getreulich die Entfremdung der modernen Gesellschaft vom Christentum wider, die Religion nur noch von außen, als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung, aber nicht als lebendige Wirklichkeit zu Gesicht bekommt. Der homo religiosus wird privatisiert und in den Bereich des Unwissenschaftlichen verbannt; es gibt nur noch Religion, so wie sie sich der Öffentlichkeit darstellt, als institutionell vermittelte Gefühlsbindung an Sinndeutungen und Werte, die mehr oder weniger gesellschaftlich anerkannt sind. Gerade das von Stoodt proklamierte Lernziel der Emanzipation - ein Ideal des neuzeitlichen Bürgertums, das auf Teilhabe des Bürgers an den öffentlich-politischen Entscheidungsprozessen abzielt - entspricht der Struktur der modernen Gesellschaft, ihrer Trennung von öffentlicher und privater Sphäre, die Religion zu einem gesellschaftlichen Teilsystem unter anderen werden läßt, nur daß Stoodt den Bezug der Gesellschaft im ganzen auf Sinndeutungen und Werte ins Religiöse umfunktioniert, statt sich der Besonderheit der M o derne, der partikularen Stellung christlicher Religion und ihrer Konkurrenz mit anderen religiösen oder säkularen Deutungs- und Wertungsansprüchen wirklich zu stellen. Indem Stoodt die Emanzipation zur religiösen Funktion erklärt (religiös im biblisch-christlichen Sinn), sanktioniert er die gesamtgesellschaftliche Tendenz zum sowohl anpassungs- wie kritikfähigen, flexiblen Rollenträger. Kierkegaards Kritik an der modernen Christenheit, sie lebe in ihrer Verbürgerlichung in heidnischen Bestimmungen, wird hier durch eine religiöse Verklärung des Bürgerlichen bestätigt, die Religion dadurch zu .modernisieren' meint, daß sie sie in Sozialtherapie transformiert. Ebensowenig wie Fraas vermag Stoodt den Phänomenen mißlingenden Menschseins " Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, 200.

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zu begegnen (Angst, Schuld, Verzweiflung), da sein Religionsverständnis im Grunde unvereinbar mit ihrer Wirklichkeit ist30. Diese Unfähigkeit neuerer Religionspädagogen scheint mir symptomatisch zu sein für eine allgemeine ,Unfähigkeit zu leiden' (Η. E. Richter), die sich in der Neuzeit aus noch zu erörternden Gründen zunehmend bemerkbar macht. Dem leidensunfähigen Religionspädagogen muß Kierkegaard als Fall der Schädigung eines Menschen durch religiöse Erziehung leicht erklärbar erscheinen. Seiner Theorie zufolge hätte eine hochgradige Autoritätsfixierung Kierkegaard in die Rolle eines Außenseiters gezwungen, d.h. dessen Leiden wäre durch eine autoritäre religiöse Erziehung verursacht gewesen. Die Tatsache jedoch, daß Kierkegaard seinen Schaden religiös, nämlich im Glauben verarbeitet und somit genau das getan hat, was nach Stoodt nicht sein kann, d. h. die Tatsache, daß er die ihn so schmerzlich prägende Religion seines Vaters gewählt und „die wesentliche Bedeutung des Leidens (!) für das Gottesverhältnis" 31 erkannt hat, wird der leidensunfähige Religionspädagoge schwerlich erklären können, weil sein interaktionistischer Ansatz von vornherein die Möglichkeit ausschließt, zur persönlichen und sozialen Identität eines Menschen könne die ,Stigmatisierung' unabdingbar - aufgrund des Gottesverhältnisses - hinzugehören. Daß der sozialtherapeutische RU blind ist für die religiöse Bedeutung des Leidens, ist ein Zeichen dafür, daß er auch blind ist für die therapeutische' Kraft des Glaubens. Mit ihr wird aber religiöse Erziehung rechnen müssen, wenn sie sich auf den beruft, der in die Welt kam, um zu leiden, und wenn sie sein Wort ,Dir geschehe, wie du geglaubt hast!' (Mt 8,13)32 ernst nimmt.

30 Wie sich exemplarisch an seinem Reden von der .Reduktion der Angst' zeigt, die offenbar durch die Einfühlung des Lehrers und die Heilungskraft der Gruppe geleistet werden soll. 31 U N 629 - S.V. VII,388. 32 Vgl. K z T 129 - S.V. XI,204, wo Kierkegaard dieses Wort dem cartesianischen .Cogito, ergo sum' gegenüberstellt.

Zeitgemäßes Christentum in der bürgerlichen Gesellschaft

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12. Zeitgemäßes Christentum in der bürgerlichen Gesellschaft oder der Christ als unzeitgemäßer Einzelner? Hegels und Kierkegaards Sicht des Christentums in der Moderne Die Darstellung des therapeutisch-sozialisationsbegleitenden R U nach D . S t o o d t hat uns gezeigt, welchen Schwierigkeiten religiöse Erziehung grundsätzlich in der Moderne ausgesetzt ist, wie immer sie im einzelnen konzipiert und begründet sein mag. Denn auch die übrigen in der BRD seit 1945 vertretenen Konzeptionen des R U (Evangelische Unterweisung, Biblisch-historisch-hermeneutischer RU, Thematisch-problemorientierter RU, Lernziel-orientierter RU, Religions- bzw. ideologiekritischer R U usw.) stehen unter dem Druck, die Einrichtung des R U als öffentliches Schulfach sowohl gegenüber der modernen Gesellschaft wie innerhalb der Kirche zu legitimieren 1 . Indem sie nach allgemein überzeugenden Argumenten suchen, wollen sie beiden Herren, der Gesellschaft und der Kirche dienen 2 und verfehlen so die spezifische Differenz zwischen dem Christlichen im besonderen (Evangelium) und dem Religiösen und Politischen im allgemeinen. Mit Recht weist M.Josuttis darauf hin, daß die Religionspädagogik den Anspruch dieses Besonderen nicht dadurch relativieren dürfe, „daß sie es als ein Allgemeines ausgibt oder mit Hilfe eines Allgemeinen legitimiert" 3 . D a ß religiöse Erziehung generell, ob sie von der evangelischen oder der katholischen Kirche, von einer christlichen oder einer anderen Religionsgemeinschaft (z.B. Judentum, Islam) verantwortet wird, in der modernen Gesellschaft der Legitimation bedarf, bezeichnet nur die Kehrseite des Sachverhalts, daß die Kirche heute nicht mehr - wie noch im mittelalterlichen corpus christianum - das gesellschaftliche M o nopol zur Verwaltung von Religion besitzt. Wir wollen im folgenden nicht die historischen Gründe des veränderten Kirche-Staat-Verhältnisses klären, die zu dieser Situation geführt haben 4 , sondern untersuchen, wie sich 1 Die Evangelische Unterweisung geriet in der Nachkriegszeit zunächst nur deshalb nicht unter Legitimationsdruck, weil sie faktisch von der Kooperation zwischen Kirche und Staat getragen war (vgl. M.Josuttis, Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion, 231). 2 Josuttis, ebd., 232. 3 Josuttis, ebd., 235. 4 Die wichtigsten Daten seien hier stichwortartig genannt: Der Westfälische Friede (1648) gewährt Protestanten und Katholiken im Römischen Reich deutscher Nation freie Religionsausübung. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776) und die Französi-

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die Problematik des Christseins in der Moderne bei Kierkegaard darstellt. Für Kierkegaards Wirksamkeit als religiöser Erzieher ist entscheidend, in welcher Situation sie erfolgt und wie er selbst diese Situation, die bürgerliche Gesellschaft und die Christenheit seiner Zeit, beurteilt hat. Da Kierkegaard sich in seiner Einschätzung der modernen Christenheit an der Philosophie Hegels orientiert 5 , soll uns zunächst das Hegeische Verständnis des Christentums in der Moderne beschäftigen. Sodann sollen im Vergleich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Hegel und Kierkegaards Verständnis von Christsein und Christentum in der M o d e r n e herausgearbeitet werden. In der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie, die „den Staat als ein in sich Vernünftiges" 6 begreifen und darstellen will, schreibt Hegel: „Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das, was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit .. ."7 D a ß Philosophie ihre Zeit sei, in Gedanken erfaßt, meint offenbar mehr als nur ein Nachdenken über die Zeit, dem Philosophie sich neben anderem widmet. Vielmehr wird Philosophie im ganzen dadurch bestimmt, daß sie das Gegenwärtige als vernünftig begreift und so ihre Zeit auf den Begriff bringt 8 , d. h. die Wirklichkeit in ihrer konkreten Bestimmtheit erfaßt. Erst vermöge der philosophischen Anstrengung des Begriffs kommt die Zeit zur wahren Einsicht in sich selbst, wird also evident, was an der Zeit ist. Hegel spricht nicht von der Zeit schlechthin als einem absoluten brutum factum, sondern von der Zeit der Philosophie, also einer von der Reflexion vorausgesetzten Größe 9 . „Philosophie, die sich in einen ausdrücklichen Bezug setzt zu ihrer Zeit, reflektiert darin nicht einfach Seiendes, sondern Gedeutetes" 10 . Die Zeit, die Philosophie erfaßt bzw. begreift, ist demnach strukturierte Zeit, deren wahre Struktur erst von der Philosophie zum Vorschein gebracht wird. Dann aber vermag Philosophie nicht die

sehe Revolution (erste Verfassung von 1791) führen zur Anerkennung des Grundrechts auf freie Religionsausübung als allgemeines Menschenrecht. 5 Vgl. oben S. 88 dieser Arbeit. 6 Phil. d. Rechts (Hrsg. H . Reichelt), Ullstein-TB 2929, Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1972, 12. D i e f o l g e n d e n Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe. 7 Phil. d. Rechts, 12 f. 8 D i e Zeit ist „der daseiende Begriff selbst" (Phän. d. Geistes, Ullstein-TB 2762, Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1972, 36; vgl. ebd., 441 f. D i e f o l g e n d e n Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe). 9 Vgl. R . B u b n e r , , P h i l o s o p h i e ist ihre Zeit, in Gedanken erfaßt', in: K . O . A p e l u.a., H e r meneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/Main 1977, 234. 10 Bubner, ebd., 235.

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unmittelbar gegenwärtige, sondern nur die vergangene Zeit zu begreifen: „Als der Gedanke der Welt erscheint sie (die Philosophie, Μ. H.) erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug" 11 . Was Hegel hier in einer an Goethe erinnernden Metaphorik 1 2 beschreibt, ist die Geschichtlichkeit des philosophischen Begriffs, der sich auf gewordene Wirklichkeit und gelebtes Leben zurückbezieht. Die Zeit der Philosophie ist somit die vergangene, im Medium der Reflexion vergegenwärtigte Zeit. Philosophie bringt durch die Bewegung der Reflexion, durch das Sich-zurück-beziehen auf eine ,Gestalt des Lebens' nur zum Ausdruck, daß die Zeit selbst im Gedanken sich reflektiert: was sie erfaßt, ist das Wesentliche des in der Zeit Gewordenen 1 3 . Eben dies, was sich im Verhältnis der Philosophie zu ihrer Zeit vollzieht, der Prozeß des Sich-Unterscheidens und Wieder-zu-sich-selbst-Kommens, ist die zugleich geschichtliche und dialektische 14 Bewegung des Geistes. Geist und Geschichte fallen f ü r Hegel ineins zusammen, ja, Geist wird bei ihm geradezu als Geschichte ausgelegt. Der Geist erscheint f ü r den Geist in der Welt, indem er sich entäußert, f ü r anderes ist und sich wieder mit sich zusammenschließt - ein Prozeß, der im Dreischritt von These-AntitheseSynthese begriffen werden kann. In der Erscheinung zeigt sich das Wesen

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Phil. d. Rechts, 14. „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie / U n d grün des Lebens goldner Baum" (J.W. Goethe, Faust I, V. 2038 f.). 13 Dieses Wesentliche bezeichnet H e g e l auch als das Wahre und ewig Gegenwärtige: „ . . . die Philosophie, als sich mit dem Wahren beschäftigend, hat es mit dem ewig Gegenwärtigen zu tun" (Phil. d. Gesch. [ T h W A Bd. 12], 105). Zum Problem der Reflexion bei H e g e l vgl. Chr. Frey, Reflexion und Zeit, 81 ff. D e n vollen Begriff der Reflexion als .Selbstbestimmung durch Riickbezug auf sich selbst' (Frey, ebd., 189) hat H e g e l erst in der .Wissenschaft der Logik' g e w o n n e n . 12

14 Dialektik ist für H e g e l das Prinzip einer bestimmten Bewegung, nämlich der B e w e g u n g des Begriffs (vgl. Phil. d. Rechts, §31). „Dialektik ist das Sichbestimmen eines Begriffs, der Idee ist; genauer des Begriffs, insofern er die absolute Idee als adäquater Begriff und letztes Subjekt der Begriffsentwicklung ist. Dieser Begriff ist die Ubereinstimmung mit sich in seiner Objektivität nun in der Weise, daß in diesem Begriff das Ubereinstimmendsein selbst begriffen ist. Deshalb kann H e g e l auch sagen, dieser Begriff sei sich wissender Begriff" (H. F. Fulda, H e g e l s Dialektik als Begriffsbewegung und Darstellungsweise, in: R. P. Horstmann [Hrsg.], Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, stw 234, Frankfurt/Main 1978, 132 f. Hervorh. von Fulda).

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des Geistes 15 : daß er nicht an sich, sondern f ü r den Geist ist. D . h . es zeigt sich, daß der Geist sich in sich und im anderen re-flektiert. Sein Wesen zur Erscheinung bringen heißt existieren 16 . Existierend verwirklicht der Geist sich selbst in der reflektierenden Bewegung als dem Absoluten 17 . Es ist also dem Geist wesentlich, das zu werden, was er in Wahrheit ist, nämlich absoluter Geist. Am Ende, als Resultat erweist sich, was das Absolute schon anfänglich gewesen ist 18 . „Erst am Ende . . . wird die Einheit, was sie in Wahrheit ist: Einheit von Einheit und Unterschied, Identität von Identität und Differenz" 1 9 . Erst vermöge der absoluten, auf ihre eigenen Bewegung gerichteten Reflexion erweist sich der Geist als das mit sich unvordenklich Identische und zugleich unendlich Differente, sofern die Reflexionsbewegung selber unendlich ist. Die Dialektik des sich entäußernden und wieder zu sich zurückkehrenden Geistes, der vom Ende her in seiner Wahrheit, d. h. als absoluter Geist erkennbar wird, bezeichnet f ü r Hegel nicht nur eine logische Denkform, sondern die materiale Struktur von Wirklichkeit überhaupt. Deswegen kann er sagen: „Der Geist allein ist das Wirkliche .. ."20 Und: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig" 2 1 . Vernünftig ist - entgegen einem unausrottbaren Mißverständnis - nicht die Wirklichkeit als solche in ihrer puren Faktizität, sondern die vom Geist begriffene Wirklichkeit, in der Begriff und Realität des Geistes einander entsprechen. Im alle Wahrheit f ü r sich beanspruchenden Absoluten „vollendet sich, was Wahrheit überhaupt kennzeichnet: eben das Entsprechen von Begriff und Realität" 22 , während die bestehende, endliche Wirklichkeit durch den Widerspruch gekennzeichnet ist, daß sie ihrem Begriff zugleich entspricht und nicht entspricht 23 . Sofern der Geist sich in der Zeit verwirklicht bzw. reflexiv seiner selbst vergewissert, gehören Zeit und Reflexion zusammen. Weil sie Philosophie des absoluten, in der Zeit erscheinenden Geistes ist, vermag die Hegeische Philosophie gemäß ihrem Selbstverständnis ihre Zeit, die Moderne, in Gedanken zu erfassen. Das Erfassen der Zeit in Gedanken geschieht aufgrund der allgemeinen Einsicht, daß Geschichte dazu bestimmt ist, den Geist zu verwirklichen. D. h. Geschichte wird teleologisch bestimmt durch 15

Vgl. Wiss. d. Logik II (ThWA Bd. 6), 124. Wiss. d. Logik II, 125. 17 Vgl. Wiss. d. Logik II, 193. 18 Vgl. Phän. d. Geistes, 22. 19 M.Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970, 63. 20 Phän. d. Geistes, 24. 21 Phil. d. Rechts, 11. 22 M.Theunissen, Begriff und Realität. Hegels Aufhebung des metaphysischen Wahrheitsbegriffs, in: Horstmann, Seminar: Dialektik, 337. 23 Vgl. Theunissen, ebd., 338 ff. 16

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die Entelechie des Geistes, welcher sich in der Zeit als Weltgeschichte auslegt24. So ist Geschichte der Wesenscharaker von Wirklichkeit überhaupt 25 . In seinem Frühwerk Phänomenologie des Geistes' (1807), das die verschiedenen Stadien der Erfahrung des Bewußtseins auf dem Weg zum absoluten Wissen beschreibt, unterscheidet Hegel drei Erscheinungsweisen des Geistes, die für sein philosophisches System insgesamt bedeutsam sind. Der Geist erscheint zunächst als subjektiver Geist im individuellen Bewußtsein, das von der unmittelbaren Wahrnehmung der Dinge zum Selbstbewußtsein und zur Vernunft fortschreitet, wobei es überall eine ihm fremde Außenwelt (Natur, Gesellschaft) vorfindet, an der es sich abzuarbeiten hat. So erfährt es an jedem Gegenstand, daß es in Wahrheit nur sich selbst begegnet. Der Geist erscheint sodann als objektiver Geist. Auf dieser Stufe vermag das individuelle Bewußtsein die Geschichte der menschlichen Gattung zu begreifen, sofern der Geist nun in seiner entäußerten Gestalt im Prozeß der Weltgeschichte als wahrer Geist (Sittlichkeit), sich entfremdeter Geist (Bildung) und seiner selbst gewisser Geist (Moralität) erscheint. Diese verschiedenen Sphären des objektiven Geistes werden jeweils auf einer bestimmten weltgeschichtlichen Entwicklungsstufe idealtypisch repräsentiert: die Sittlichkeit ist Inbegriff der griechischen Welt, die Bildung in der modernen bürgerlichen Gesellschaft verkörpert, während die Epoche der Moralität die Zeit nach der Französischen Revolution, also Hegels nächste Gegenwart sein soll. Schließlich erscheint der Geist als absoluter Geist, in dem Subjekt und Objekt vermittelt sind. Hier wird retrospektiv, vom Ende der zeitlichen Geschichte des Geistes her, von den Erscheinungen des Absoluten in der griechischen Kunst, der christlichen Religion und der neuzeitlichen Philosophie gehandelt. Die drei Stufen der Selbstverwirklichung des Geistes vom Subjektiven zum Absoluten lassen sich als Stufen der Bewußtwerdung und Verwirklichung der Freiheit verstehen. Freiheit bedeutet, daß der Geist im Anderen bei sich selbst ist, also Subjektives und Objektives miteinander vermittelt sind. Sie macht das Wesen des Geistes aus, das in der Kunst zur Anschauung kommt, in der Religion sich vorstellt und allein in der Philosophie begriffen wird 26 . Das Ziel der Hegeischen .Phänomenologie' ist „die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist"27. Die Philosophie, die ihre Zeit in Gedanken erfaßt, hat die Gestalt des absoluten oder begreifenden Wissens, in dem der Geist jene Einsicht erreicht. Als absolut wird dasjenige Wissen be24

Phil. d. Gesch. (ThWA Bd. 12), 96 f. W. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, 499. 26 Zum Aufbau der .Phänomenologie des Geistes' vgl. G.Lukacs, Nachwort (aus: ders., Der junge Hegel) in der Ullstein-Ausgabe, 470 ff. 17 Phän. d. Geistes, 27. 25

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zeichnet, in dem Meinen und Sein sich nicht mehr unterscheiden 28 . Auf dieser Stufe realisiert der Geist seinen Begriff, indem er im Anderen sich selbst weiß 29 , d. h. keinen Gegenstand mehr außer sich hat. Das absolute Wissen ist folglich „der sich . . . wissende Geist oder das begreifende Wissen"30. Es ist „die Wahrheit aller Weisen des Bewußtseins, weil, wie jener Gang desselben es hervorbrachte, nur in dem absoluten Wissen die Trennung des Gegenstands von der Gewißheit seiner selbst vollkommen sich aufgelöst hat und die Wahrheit dieser Gewißheit sowie diese Gewißheit der Wahrheit gleich geworden ist"31. Hegel behauptet nun, daß das Sich-wissen des absoluten Geistes nichts anderes als das Sich-wissen Gottes im Menschen sei. Als Philosophie des absoluten Wissens will Hegels Philosophie nicht nur die Moderne begreifen, sondern auch die christliche Religion .aufheben' 32 , und zwar in der Weise, daß sie die Idee des Christentums begreift, die Selbstoffenbarung Gottes als Geist: „Dieses Wissen des Geistes für sich, wie er an sich ist, ist das Anundfürsichsein des wissenden Geistes, die vollendete, absolute Religion, in der es offenbar ist, wer der Geist, Gott ist; dies ist die christliche Religion" 33 . „Die geoffenbarte Religion ist die offenbare, weil in ihr Gott ganz (!) offenbar geworden. Hier ist alles dem Begriff angemessen; es ist nichts Geheimes mehr an Gott"34. Vorausgesetzt wird dabei, daß Religion und Philosophie denselben Inhalt haben und nur der Form nach verschieden sind. Die vollendete Philosophie überführt das, was christliche Religion

28 Vgl. H. G. Gadamer, Die Idee der Hegeischen Logik, in: ders., Hegels Dialektik, Tübingen 1971, 57. " Vgl. Enz. d. Wiss. III (ThWA Bd. 10), §553. Statt von Sich-selbst-im-Anderen-wissen könnte Hegel auch von unendlicher Reflexion in sich selbst sprechen, worin die Substanz sich als Subjekt vollendet (Wiss. d. Logik II, 248 f.). 30 Phän. d. Geistes, 440. 31 Wiss. d. Logik I (ThWA Bd. 5), 43. 32 Vgl. dazu grundsätzlich K. Löwith, Hegels Aufhebung der christlichen Religion, in: ders., Zur Kritik der christlichen Uberlieferung, Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1966, 54-96; W. Weischedel, Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, Bd. 1, dtv 4322, München 1979, 283-377. 33 Phil. d. Rel. I (ThWA Bd. 16), 87. 34 Phil. d. Rel. I, 88. Weil Hegel davon ausgeht, daß Gott sich selbst als Geist dem Geist bzw. dem begreifenden Denken offenbart, kann er sagen, daß Gott vollkommen offenbar wird, denn Geist bedeutet eben, sich zu offenbaren oder zu manifestieren (Phil. d. Rel. I, 52; II, 217f.). „Die Religion also ist Beziehung des Geistes auf den absoluten Geist. N u r so ist der Geist als der Wissende das Gewußte" (Phil. d. Rel. I, 197). Kierkegaard und Schelling haben später gegen Hegels Begriff des vollkommen offenbaren Gottes die Dialektik vom sich offenbarenden und zugleich verbergenden Gott zur Geltung gebracht (vgl. M.Theunissen, Die Dialektik der Offenbarung. Zur Auseinandersetzung Schellings und Kierkegaards mit der Religionsphilosophie Hegels, in: Philosophisches Jahrbuch 1964, 134-160, bes. 143 ff., und A.Pieper, Geschichte und Ewigkeit bei Sören Kierkegaard, Meisenhain am Glan 1968, 174 f.).

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vorstellungsmäßig vor sich hat, in die Form des Begriffs. In Wahrheit ist die Philosophie als solche und im ganzen Religion und expliziert nur sich selbst, wenn sie die Religion expliziert35. Wenn Philosophie und Religion Gott erkennen wollen, so bedeutet das nichts anderes, als daß sie das Absolute erkennen wollen. „Dem philosophischen Begriff nach ist Gott Geist ,.." 36 Insofern ist im absoluten Wissen die Erkenntnis Gottes erreicht. „Gott ist so das Resultat der Philosophie (!), von welchem erkannt wird, daß es nicht bloß das Resultat ist, sondern ewig sich hervorbringt, das Vorhergehende ist"37. Als eine Teildisziplin des philosophischen Systems betrachtet die Religionsphilosophie die Idee Gottes, wie sie an sich ist und für die Vorstellung erscheint (nämlich als Geist), während die Philosophie im ganzen sich als absolutes Wissen des Geistes vollzieht. Diesen Begriff Gottes als Geist hält Hegel für genuin christlich: „Es ist das die vollendete Religion, die Religion die das Sein des Geistes für sich selbst ist, die Religion, in welcher sie selbst sich objektiv geworden ist, die christliche. In ihr ist unzertrennlich der allgemeine und der einzelne Geist, der unendliche und der endliche; ihre absolute Identität ist diese Religion und der Inhalt derselben"38. Mit der Bestimmung Gottes als Geist wie auch mit der Kennzeichnung christlicher Religion als einer Religion der Wahrheit und Freiheit39 kann Hegel sich vor allem auf das Johannesevangelium - namentlich Joh4,24 und 6,63 - berufen. Inwieweit er dies mit theologischem Recht tun kann, lassen wir einstweilen offen 40 . Das zentrale Ereignis des Christentums, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, versteht Hegel als Offenbarung der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur. Diese Einheit ist der absolute Geist als „der lebendige Prozeß, daß die an sich seiende Einheit der göttlichen und menschlichen Natur für sich hervorgebracht werde" 41 . Sofern Gott als Geist die Tätigkeit des reinen Wissens ist, wie Hegel in Ubereinstimmung mit Aristoteles 42 sagen kann 43 , ist die dialektische Struktur der unendli35

36 Phil. d. Rel. I, 28. Phil. d. Rel. I, 52. 38 Phil. d. Rel. I, 34 . Phil. d. Rel. II, 189. 39 Vgl. Phil. d. Rel. II, 203. 40 Der Geist der Wahrheit, der in alle Wahrheit führt (foh 16,13), vergegenwärtigt Jesu Worte und bewirkt (christologische) Erkenntnis der Wahrheit in der Verkündigung (vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 6. Aufl. 1968, 441 f.). Insofern wird man mit Johannes wohl vom Geist der Wahrheit, aber nicht von einer Religion der Wahrheit sprechen können, weil diese im Grunde ohne christologischen und kerygmatischen Bezug auskommt und nur auf den Selbstbezug des Geistes abhebt. 41 Phil. d. Rel. II, 205. Vgl. Phil. d. Gesch. (ThWA Bd. 12), 391, wo Hegel mit Christus die .Identität des Subjekts und Gottes' in die Welt kommen sieht. „Die Natur Gottes, reiner Geist zu sein, wird dem Menschen in der christlichen Religion offenbar" (ebd., 391). 42 Aristoteles, Metaphysik, Buch XII, 7. 43 Phil. d. Rel. II, 223. 37

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chen Bewegung des Geistes im Menschen keine andere als die Struktur der Menschwerdung Gottes: wie Gott sich in Christus seiner selbst entäußert und im Heiligen Geist sich mit sich selbst vermittelt, so entäußert sich der Geist in der Welt, um im Menschen zu sich selbst zurückzukehren 44 . Besonders deutlich wird dies an der Dialektik von Unendlichkeit und Endlichkeit. Gott ist seinem Wesen nach unendlich, der Mensch endlich. Die Menschwerdung Gottes bedeutet daher Verendlichung des an sich Unendlichen. Beide Momente, sowohl das der Unendlichkeit wie das der Endlichkeit, sind jedoch keine isolierten Gegensätze. In Wahrheit bilden sie eine untrennbare Einheit: „Das Endliche ist ... wesentliches Moment des Unendlichen in der Natur Gottes .. ,"45 Sofern das Endliche aber nur Erscheinung des unendlichen Gottes ist, wird sein Bestehen auch wieder aufgehoben. Indem der Mensch die Einheit des Unendlichen, in der das Endliche enthalten ist (vgl. das lutherische ,finitum capax infiniti'), als das Wahre weiß 46 , erhebt er sich vom Endlichen zum absolut Notwendigen bzw. zum Bewußtsein Gottes 47 . Der Mensch erhebt sich also denkend, vermöge des absoluten Wissens zu Gott. Er überwindet so seine Einzelheit und partikulare Subjektivität und löst sich auf ins Allgemeine, die göttliche Idee. Eben darin, daß sie die christliche Religion .aufhebt', d.h. als Selbstbewußtsein des absoluten Geistes begreift 48 , erweist Hegels Philosophie sich als Philosophie der Moderne. Weiß sich der absolute Geist im philosophi-

44 Die Menschwerdung Gottes wird damit zu einem Moment der weltgeschichtlichen Selbstverwirklichung des absoluten Geistes, innerhalb deren die christliche Religion zu ihrer notwendigen Aufhebung gelangt. Insofern ist Hegels Philosophie im ganzen zugleich Religions- und Geschichtsphilosophie (von dieser These geht M.Theunissen aus in seinem Buch: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970, 60-100). Insbesondere in der Hegeischen Begriffslogik lassen sich christologische Züge aufweisen (so Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegeischen Logik, stw 314, Frankfurt/Main 1980, 42ff.). Wenn Hegel z.B. sagt, das Allgemeine steige zur Einzelheit herunter (Wiss. d. Logik II, 296), dann begreift er die logische Bewegung des Begriffs als christologische Bewegung. Man muß jedoch sehen, daß das Resultat der Begriffsbewegung, der in der Einheit von Allgemeinem und Einzelheit vollendete Begriff, etwas anderes ist als der in Jesus Christus Mensch gewordene Gott. Dieser erscheint als Mensch in der Zeit, jener bestimmt sich als Urteil, das das Einzelne dem Allgemeinen subsumiert (vgl. Wiss. d. Logik II, 301 f. 308 f.), ohne daß die Zeit für das Urteilen bzw. Sich-Bestimmen des Begriffs wesentliche Bedeutung hat. Als .absolute Identität mit sich' (Wiss. d. Logik II, 274) ist der Begriff wesentlich zeitlos. 45 Phil. d. Rel. I, 191. 46 Phil. d. Rel. I, 192. " Phil. d. Rel. I, 165 f. 48 Phil. d. Rel. I, 197 f. Das Selbstbewußtsein des absoluten Geistes ist nach dem christologischen Modell von Entäußerung und Rückkehr zu sich selbst (vgl. Phil 2,7 ff.) konstruiert, welches nach Hegel freilich kein einmaliges, sondern ein immer wieder sich ereignendes, im spekulativen Denken kulminierendes Geschehen meint.

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sehen Begriff, so ist das moderne Hegeische Selbstbewußtsein der eigentliche Ort des Christentums. Nach Hegels geschichtsphilosophischer Einsicht verdankt die Welt dem Christentum das Bewußtsein der Freiheit aller Menschen49. Darum ist Freiheit dasjenige Prinzip, „auf das die ganze Weltgeschichte ante Christum natum tastend hintendiert und das die ganze Weltgeschichte post Christum natum zu verwirklichen strebt" 50 . Daß Freiheit die eigenste Natur des Geistes ausmacht, ist dem Menschen erst durch das Christentum zum Bewußtsein gekommen. Allerdings hat sich die von Christus eröffnete Freiheit des Menschengeschlechts in der Geschichte noch nicht voll verwirklicht. Wenn Hegel die Geschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit bezeichnet, den es in seiner Notwendigkeit einzusehen gelte51, so ist damit die Verwirklichung der Freiheit selber durch die menschlichen Subjekte für notwendig erklärt. Die Hegeische Philosophie des absoluten Geistes ist insofern nicht nur ein religiös, sondern zugleich ein politisch motiviertes Unternehmen, sucht sie doch, indem sie ihre Zeit in Gedanken erfaßt, darauf hinzuwirken, daß alle Menschen die von Christus angebotene Freiheit nicht nur als Wesensbestimmung, sondern auch als faktischen Besitz erwerben 52 . Neuzeitliche Philosophie hat nach Hegel die Aufgabe, „die als objektive Wirklichkeit bezeugte Versöhnung im Element des Gedankens zu wiederholen" 53 . Dadurch dient sie gerade der Verwirklichung der Freiheit aller. Die Weltgeschichte ist die konkrete Wirklichkeit des absoluten Geistes, in der dieser als Weltgeist, welcher sich wiederum in verschiedene Volksgeister besondert, sein Wesen - die Freiheit - verwirklicht. Geistesgeschichte ist die Weltgeschichte nur, sofern sie philosophisch, von der Sebstverwirklichung des Geistes als dem .Endzweck der Welt' 54 her begriffen wird. Als solche ist sie Geschichte des Weltgeistes, der seine Wahrheit im absoluten Geist hat 55 . Die eigentümlichen Prinzipien jeder Entwicklungsstufe der Weltgeschichte, die Volksgeister, verwirklichen sich jeweils im Staat. Nur diejenigen Völker, die einen Staat gebildet haben, sind nach Hegel überhaupt weltgeschichtlich bedeutsam 56 . Die Freiheit als das We49

Phil. d. Gesch., 31. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, 97. Anhand der Hegeischen Logik hat Theunissen gezeigt, daß diese Freiheit als kommunikative Freiheit zu verstehen ist. „Kommunikative Freiheit bedeutet, daß der eine den andern nicht als Grenze, sondern als die Bedingung der Möglichkeit seiner eigenen Selbstverwirklichung erfährt"(Theunissen, Sein und Schein, 46). 51 Phil. d. Gesch., 32. Vgl. ebd., 77. 86. 52 Vgl. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, 99. SJ Theunissen, ebd., 99. 54 Phil. d. Gesch., 32 f. 55 Vgl. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, 71. " Ein wichtiges Indiz dafür wird in der Tatsache gesehen, daß Geschichtsschreibung erst mit der Staatenbildung beginnt (Phil. d. Gesch., 83). 50

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sen des Geistes verwirklicht sich darum im Gang der Weltgeschichte durch verschiedene Völker bzw. Volksgruppen, deren jeweiliges Freiheitsbewußtsein sich in ihren Staaten ausdrückt. Weil für Hegel „die verschiedenen Aspekte des Lebens eines Volkes durch seinen Geist zusammengefügt werden," ist es „das religiöse Bewußtsein, das diesen Völkern den treffendsten und deutlichsten Ausdruck sowohl dafür vermittelte, welche Entwicklungsstufe sie erreicht hatten, als auch dafür, in welcher Art sie versuchten, die ontologische Wirklichkeit, den Geist und dessen Beziehung zur Welt der Subjekte zu realisieren" 57 . „Die Orientalen wissen es noch nicht, daß der Geist oder der Mensch als solcher an sich frei ist ... In den Griechen ist erst das Bewußtsein der Freiheit aufgegangen, und darum sind sie frei gewesen; aber sie, wie auch die Römer, wußten nur, daß einige frei sind, nicht der Mensch als solcher ... Erst die germanischen Nationen sind im Christentum zum Bewußtsein gekommen, daß der Mensch als solcher frei ist, die Freiheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht" 58 . Die Anwendung dieses Prinzips (d. h. der Freiheit) auf die Welt ist Aufgabe der Weltgeschichte im ganzen. Eine besondere Bedeutung für die Verwirklichung der allgemeinen Idee der Freiheit kommt den .welthistorischen Individuen' zu, „deren eigene partikulare Zwecke das Substantielle enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist"59. Solche Individuen - Hegel nennt sie auch Geschäftsführer des Weltgeistes' - „hatten in diesen ihren Zwecken nicht das Bewußtsein der Idee überhaupt, sondern sie waren praktische und politische Menschen. Aber zugleich waren sie denkende, die die Einsicht hatten von dem, was not und was an der Zeit ist. Das ist eben die Wahrheit ihrer Zeit und ihrer Welt, sozusagen die nächste Gattung, die im Innern bereits vorhanden war. Ihre Sache war es, dies Allgemeine, die notwendige, nächste Stufe ihrer Welt zu wissen, diese sich zum Zwecke zu machen und ihre Energie in dieselbe zu legen" 60 . Die welthistorischen Individuen sind also nicht nur Werkzeuge des Weltgeistes, sondern „auch diejenigen Menschen, die als erste eine Empfindung davon haben, wie die neue historische Entwicklungsstufe beschaffen sein muß, und sie sind es auch, die dieser Vorstellung Ausdruck verleihen. Wenn sie dies tun, folgen ihnen die Menschen. In einer Epoche, in der eine geschichtliche Form erschöpft, an ihr Ende gekommen ist und der Geist die herrschende Form verlassen hat, zeigt das welthistorische Individuum den Weg zu dem, was alle Menschen instinktiv anstreben" 61 . Die ,List der Vernunft' besteht gerade darin, daß das Allge-

57

Ch.Taylor, Hegel, Frankfurt/Main 1978, 516 (Hervorh. von mir). Phil. d. Gesch., 31. " Phil. d. Gesch., 45. 60 Phil. d. Gesch., 46 (Hervorh. von mir). 61 Taylor, aaO., 514. 58

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meine sich nicht direkt, sondern indirekt, im Widerstreit des Besonderen verwirklicht; die besonderen Leidenschaften wirken im Dienst des Allgemeinen 62 . Die Vernunft gebraucht somit die Leidenschaften, um ihre eigenen Zwecke zu verwirklichen 63 . Was das welthistorische Individuum auszeichnet, die Einsicht dessen, was not und an der Zeit ist, vollzieht sich vorzüglich in der Hegeischen Philosophie, die ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Angesichts dieser merkwürdigen Ubereinstimmung liegt es nahe, zu vermuten, der Philosoph Hegel habe sich selbst in der Rolle des welthistorischen Individuums gesehen. Die Frage ist allerdings, wie der Philosoph als Individuum zugleich in und über der Weltgeschichte stehen kann. Hegels Lösung des Problems, die Vermittlung von geschichtlicher Erkenntnis und Geschichte durch den werdenden, sich selbst erkennenden absoluten Geist, der in den geschichtlichen Momenten seines Werdens sich selbst voraussetzt, ist nur dann überzeugend, wenn man die im Sich-selbst-Voraussetzen gegenwärtige absolute Reflexion wirklich mit vollzieht, also der Kierkegaardschen Forderung entspricht, sich dasjenige anzueignen, was Hegels Philosophie zur Wissenschaft macht. Dann aber zeigt sich alsbald, daß das so reflektierende Individuum zugleich überall und nirgends anwesend ist, also sich im Unendlichen verliert 64 . Sofern Geschichte als das Zu-sich-selbst-Kommen des absoluten Geistes begriffen wird, kommt letztlich alles darauf an, daß der Weltgeist seine Weltlichkeit abstreift und Weltgeschichte so in die zeitliche Geschichte des absoluten Geistes umschlägt: „Der denkende Geist der Weltgeschichte aber, indem er zugleich jene Beschränktheiten der besonderen Volksgeister und seine eigene Weltlichkeit abstreift, erfaßt seine konkrete Allgemeinheit und erhebt sich zum Wissen des absoluten Geistes, als der ewig wirklichen Wahrheit, in welcher die wissende Vernunft frei f ü r sich ist, und die Notwendigkeit, N a t u r und Geschichte nur seiner O f f e n b a r u n g dienend und Gefäße seiner Ehre sind" 65 . Das Sich-Erheben des denkenden Geistes zum Wissen des absoluten Geistes geschieht, der P h ä n o m e n o logie' zufolge, in Kunst und Religion, während Philosophie selber das absolute Wissen sein soll. Im absoluten Wissen hebt der Mensch die N a t ü r lichkeit und Endlichkeit seines Geistes auf und erhebt sich zu Gott, d. h. er " Vgl. Phil. d. Gesch., 49. " Vgl. Taylor, aaO., 513. 64 Vgl. W. Schulz, Das Problem der absoluten Reflexion, in: ders., Vernunft und Freiheit, Stuttgart 1981, 6-38. Die hier aufgezeigte Problematik stellt sich verschärft in neueren, ausdrücklich auf Hegel Bezug nehmenden theologischen Entwürfen universalgeschichtlicher Tendenz (W. Pannenberg, T. Rendtorff), die den Vollzug der absoluten Reflexion gerade schuldig bleiben. Vgl. dazu L.Steiger, Offenbarungsgeschichte und theologische Vernunft. Zur Theologie W. Pannenbergs, in: ZThK 59 (1962), 88-113; Chr.Frey, Reflexion und Zeit, 422 ff. " Enz. d. Wiss. III (ThWA Bd. 10), §552.

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vollzieht, was in der christlichen Religion allererst .gesetzt' wurde: die Einheit Gottes und des Menschen 66 . So bezeichnet neuzeitliche Philosophie, die die christliche Religion in sich .aufhebt', den Gipfel und die Vollendung der zeitlichen Geschichte der Bewußtwerdung des absoluten Geistes in der Welt. Was ergibt sich daraus im Hinblick auf Hegels Verständnis der Neuzeit und der modernen bürgerlichen Gesellschaft? Ganz allgemein sieht Hegel den Zweck der neuen Welt darin, die absolute Wahrheit als unendliche Selbstbestimmung der Freiheit zu realisieren 67 . Die Aufgabe der neueren Geschichte ist die politische Verwirklichung desjenigen Prinzips, das durch Christus, die Versöhnung des endlichen Subjekts mit dem Absoluten, in die Welt kam. Unter dieser Bestimmung erscheinen Hegel vor allem zwei Ereignisse der Moderne bedeutsam: die Reformation und die Französische Revolution. Luthers Lehre wird so zusammengefaßt, daß Christus, die .wahrhafte Geistigkeit 1 , nur im Glauben gegenwärtig und wirklich sei 68 , der Mensch also zu ihm ein .unmittelbares Verhältnis im Geiste' habe 69 . „In der lutherischen Kirche ist die Subjektivität und Gewißheit des Individuums ebenso notwendig als die Objektivität der Wahrheit. Die Wahrheit ist den Lutheranern nicht ein gemachter Gegenstand, sondern das Subjekt selbst soll ein wahrhaftes werden, indem es seinen partikulären Inhalt gegen die substantielle Wahrheit aufgibt und sich diese Wahrheit zu eigen m a c h t . . . So ist die christliche Freiheit wirklich geworden" 7 0 . In der Folge kommt es darauf an, dieses Prinzip in die Welt hineinzubilden und im allgemeinen Leben des Staates zu verwirklichen. Die Wirkung der Reformation sieht Hegel in einem neuen Verhältnis zur Weltlichkeit, die nun für fähig gilt, das Wahre in sich zu haben 71 . In der Französischen Revolution wird das Prinzip der Willensfreiheit, das zunächst theoretisch von der deutschen Philosophie (Kant) behauptet wurde, praktisch geltend gemacht 72 und gegen das vorhandene Recht ein neuer Begriff des Rechts gesetzt 73 . „Das Problem, das die Forderung politischer Freiheit durch die Revolution aufgeworfen hat, liegt darin, die Rechtsform der Freiheit zu finden und d. h. eine Rechtsordnung auszubil"

Phil. d. Gesch., 392. Phil. d. Gesch., 413. 68 Phil. d. Gesch., 494. 6 ' Phil. d. Gesch., 495. 70 Phil. d. Gesch., 496. 71 Vgl. Phil. d. Gesch., 502. Das mit dem Titel Säkularisierung' bezeichnete Phänomen der Emanzipation aller gesellschaftlichen Lebensverhältnisse von Kirche und Religion, zu dem die evangelische Theologie des 20. Jahrhunderts ein höchst ambivalentes Verhältnis hat (F. Gogarten ist dafür ein lehrreiches Beispiel), wird von Hegel positiv als legitime Folge und Bewahrheitung christlicher Religion gedeutet. 72 Phil. d. Gesch., 524 ff. 75 Phil. d. Gesch., 529. 67

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den, die der Freiheit des Selbstseins angemessen ist und ihr gerecht wird und es dem Einzelnen ermöglicht, er selbst zu sein und zu seiner menschlichen Bestimmung zu kommen" 7 4 . Die Revolution bringt zunächst aber nur die abstrakten Prinzipien der Freiheit und der Tugend zur Herrschaft, die zur .fürchterlichsten Tyrannei' führen 7 5 . Die Freiheit aller drückt sich nicht als allgemeiner Wille in einem sittlichen Gemeinwesen aus, sondern das liberalistische Prinzip der Einzelwillen setzt sich durch, das keine feste Organisation aufkommen läßt 76 . Insbesondere bemängelt Hegel, daß nach der Revolution in keinem Land mehr „Reflexion und öffentliches Besprechen über Freiheit stattgefunden (hat)" 77 . In Deutschland sind die Prinzipien der Freiheit des Eigentums und der Person in der Verfassung grundgelegt und durch die protestantische Kirche Religion und Recht versöhnt worden 7 8 . Das christliche Prinzip der Freiheit hat also im modernen preußischen Staat Religion und staatliche Verfassung miteinander versöhnt, sodaß kein Widerspruch mehr besteht zwischen dem religiösen Gewissen und der Anerkennung des vom Staat gesetzten Rechts. „Die philosophische Einsicht erkennt, daß Kirche und Staat im Inhalt der Wahrheit identisch sind, wenn beide auf dem Boden des Geistes stehen. Im christlichen Prinzip des absolut freien Geistes ist die absolute Möglichkeit vorhanden, ,daß Staatsmacht, Religion und die Prinzipien der Philosophie zusammenfallen - die Versöhnung der Wirklichkeit überhaupt mit dem Geiste, des Staates mit dem religiösen Gewissen, desgleichen mit dem philosophischen Wissen sich vollbringt'" 79 . Wenngleich es in Religion und Staat um denselben Inhalt geht, nämlich die Verwirklichung der Freiheit aller, so ist doch die Form dieses Geschehens in Kirche und Staat verschieden. „Die Religion hat die absolute Wahrheit zu ihrem I n h a l t . . ."80 Insofern ist sie auch Grundlage des Sittlichen und des Staates als des Geistes, der sich zur ,Organisation einer Welt' entfaltet 81 . Sie verhält sich zum Absoluten in Form des Gefühls, der Vor74 J.Ritter, Hegel und die Französische Revolution, edition suhrkamp 114, Frankfurt/ Main 1972, 27. " Phil. d. Gesch., 532 f. Vgl. dazu Phän. d. Geistes, 327-334 (Die absolute Freiheit und der Schrecken). 76 Phil. d. Gesch., 534. 77 Phil. d. Gesch., 536. 78 Phil. d. Gesch., 539. Vgl. Phil. d. Rel. I, 238. 79 K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Hamburg 7. Aufl. 1978, 62 (Zitat: Enz. d. Wiss. III, §552). 80 Phil. d. Rechts, §270, 228. 81 Phil. d. Rechts, 229. Uberhaupt ist Hegel der Ansicht: „Die Religion ist der Ort, wo ein Volk sich die Definition dessen gibt, was es für das Wahre hält" (Phil. d. Gesch., 70). In Vorwegnahme der modernen Religionssoziologie wird hier Religion als Produkt und Grundlage des Gemeinwesens angesehen, die die Individuen als etwas Vorgegebenes übernehmen. Vgl. auch Phil. d. Rel. I, 236, wo Hegel Religion und Staat für ,an und für sich identisch' erklärt,

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Stellung und des Glaubens. Wird diese genuine Form des Religiösen f ü r den Staat bestimmend, so ist er der Z e r r ü t t u n g preisgegeben. W a h r h a f t e Religion aber anerkennt und bestätigt den Staat so wie dieser die Religion anerkennt und bestätigt: „Es ist in der N a t u r der Sache, daß der Staat eine Pflicht erfüllt, der Gemeinde f ü r ihren religiösen Zweck allen Vorschub zu tun und Schutz zu gewähren, ja, indem die Religion das ihn f ü r das Tiefste der Gesinnung integrierende M o m e n t ist, von allen seinen Angehörigen zu f o r d e r n , d a ß sie sich zu einer Kirchengemeinde halten, - übrigens zu irgendeiner, d e n n auf den Inhalt, sofern er sich auf das Innere der Vorstellung bezieht, kann sich d e r Staat nicht einlassen" 8 2 . Sobald die Kirche jedoch eine Lehre ausbildet (die als solche der subjektiven Freiheit des Selbstbewußtseins anheimgestellt ist 83 ) „und ihr Lehren objektive G r u n d sätze, die G e d a n k e n des Sittlichen und Vernünftigen betrifft, so geht sie in dieser Ä u ß e r u n g unmittelbar in das Gebiet des Staats hinüber. Gegen ihren Glauben u n d ihre Autorität über das Sittliche, Recht, Gesetze, Institutionen, gegen ihre subjektive U b e r z e u g u n g ist der Staat vielmehr der Wissende .. ."84 D . h. mit allen allgemeine Gültigkeit beanspruchenden Äußerungen über öffentlich-politische Angelegenheiten begibt sich die Kirche auf das Gebiet des Staates, w o diesem a u f g r u n d seines Wissens der absoluten W a h r h e i t gegenüber der den Glauben repräsentierenden Kirche die höhere Autorität z u k o m m t . Damit verpflichtet Hegel den Christen als Staatsbürger wie auch jede theologische Ethik des Politischen zu strikter Loyalität gegenüber dem m o d e r n e n Staat. Er kann dies allerdings n u r tun unter der Voraussetzung, d a ß zwischen Kirche und Staat hinsichtlich der W a h r h e i t der G r u n d s ä t z e und der Gesinnung eine wesentliche Einheit besteht und beide sich lediglich in der Form ihres Bewußtseins unterscheiden. Dieser Unterschied tritt, wie Hegel bemerkt, erst hervor, „insofern die kirchliche Seite in sich selbst zur T r e n n u n g k o m m t ; n u r so, über den besonderen Kirchen, hat d e r Staat die Allgemeinheit des Gedankens, das Prinzip seiner Form, gewonnen und bringt sie z u r Existenz ,.." 8 5 N u r durch die T r e n n u n g von der Kirche hat der m o d e r n e Staat ,selbstbewußte Vernünftigkeit und Sittlichkeit' werden können. Im Zusatz zu §270 der Rechtsphilosophie heißt es dazu abschließend, der Staat unterscheide sich wesentlich d a d u r c h von der Religion, „daß, was er fordert, die Gestalt einer rechtlichen Pflicht hat u n d d a ß es gleichgültig ist, in welcher Gemütsweise sie geleistet wird. D a s Feld der Religion dagegen ist die Innerlich-

und Enz. d. Wiss. III, §552, w o es heißt: „Die wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität geht nur aus der Sittlichkeit hervor ..." (ebd., 354). 82 Phil. d. Rechts, 231. 83 Vgl. Phil. d. Rechts, 233. 84 Phil. d. Rechts, 235. 85 Phil. d. Rechts, 237 (Hervorh. von Hegel).

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keit... Wenn nun die Religiosität im Staate sich geltend machen wollte, wie sie gewohnt ist, auf ihrem Boden zu sein, so würde sie die Organisation des Staates umwerfen, denn im Staate haben die Unterschiede eine Breite des Außereinander; in der Religion dagegen ist immer alles auf die Totalität bezogen" 8 6 . Um die Rechtsforderungen des Staates zu erfüllen, bedarf es also nach Hegel keiner bestimmten Religion; insofern verhält sich der moderne Staat gegenüber den verschiedenen Religionen neutral. Das Problem des modernen Staates besteht darin, daß seine Verfassung einerseits die Gesinnung und Religion seiner Bürger als gleichgültig ansieht, andererseits aber die Staatsgewalt ζ. B. in der Rechtsprechung nicht ohne Rechtschaffenheit, mithin eine bestimmte Gesinnung und Religion auskommt 8 7 . In der Religion aber steckt ein staatsgefährdendes Potential, das wirksam würde, sobald sie sich im Staat unmittelbar geltend machte. Anders als in der griechischen Polis, in der jeder Bürger an den staatlichen Angelegenheiten beteiligt sein konnte und sich unmittelbar mit dem Staat identifizierte, ist im modernen Staat solche Teilhabe aller nicht mehr möglich, weil das Individuum sich seiner Universalität als Mensch schlechthin bewußtgeworden ist und daher nicht mehr einfach und ausschließlich Bürger seines Staates sein kann. Dieser Sachverhalt spiegelt sich in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft wider, in der nicht alle Bürger, sondern nur einige dazu befähigte sich ganz in den Dienst des öffentlichen Lebens stellen 88 . Als Bürger des Staates sind die Individuen Privatpersonen, die ihre eigenen Zwecke verfolgen 89 , d. h. ihre Identität wird nicht mehr wie in der Polis exklusiv durch die öffentlichen Erfahrungen der Gesellschaft bestimmt 90 . Sofern diese Personen je f ü r sich und in Beziehung zueinander ihre Bedürfnisse zu befriedigen suchen, läßt sich die bürgerliche Gesellschaft als ,System der Bedürfnisse' 91 beschreiben. Im Unterschied zu den traditionellen Gesellschaften hat die moderne bürgerliche Gesellschaft allein die Bedürfnisnatur des Menschen zum Inhalt, der seine Bedürfnisse durch gemeinschaftliche und geteilte Arbeit befriedigt 92 . Zur Arbeitsteilung kommt

86

Phil. d. Rechts, 239 (Hervorh. von mir). Kierkegaard stimmt sowohl darin mit H e g e l überein, daß er die Innerlichkeit für die genuine Sphäre des Religiösen hält, als auch darin, daß er es ablehnt, sie im Staat unmittelbar geltend zu machen. Anders als H e g e l bestreitet er aber auch die Möglichkeit, die Idee der Religion (d. h. kommunikative Freiheit als Freiheit aller Menschen) politisch zu verwirklichen. «' Vgl. Phil. d. Rel. I, 245. 88 Vgl. Taylor, aaO., 535. H e g e l denkt hier vor allem an die Staatsbeamten als .allgemeinen Stand' (Phil. d. Rechts, §205). 89 Phil. d. Rechts, §187. 90 Vgl. Taylor, aaO., 503. 91 Phil. d. Rechts, § § 1 8 9 - 2 0 8 . 92 Vgl. Ritter, aaO., 53.

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es dabei in dem Maße, wie die Bedürfnisse sich vervielfältigen. Die sozialen Beziehungen beschränken sich auf das, was die Individuen bei ihrer Bedürfnisbefriedigung durch geteilte Arbeit verbindet, d.h. auf Produktion und Konsumtion, während alles andere (insbesondere die Ausübung der Religion) in den Bereich individueller Freiheit bzw. des Privaten fällt. Indem verschiedene Stände sich ausbilden, wird das Individuum genötigt, sich ausschließlich auf eine der besonderen Sphären des Bedürfnisses zu beschränken 9 3 . Jeder trägt gerade dadurch, daß er zur Befriedigung seines Bedürfnisses arbeitet, zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen bei 94 . Das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft ist „die konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist .. ,"95 Eben die freie, unendliche Persönlichkeit ist aber die Idee, die durch das Christentum in die Welt gekommen ist. So verwirklicht sich das Christentum in der Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft, die ihrerseits die freie Selbstverwirklichung der Person begründet. Wir fassen zusammen! Hegels Philosophie will Philosophie der M o derne und als solche in der Gestalt des absoluten Wissens ,Aufhebung' der christlichen Religion sein. Sie beansprucht, die .Religion des Geistes' 96 , in der die Einheit des Göttlichen und des Menschlichen, der Subjektivität des absoluten und des endlichen Geistes sich offenbart hat, in der der modernen Zeit allein angemessenen Weise auszulegen und damit der Moderne zur tieferen Einsicht in das zu verhelfen, was an der Zeit ist: die Verwirklichung der Freiheit aller bzw. des Menschen als Menschen im Staat. Derjenige Staat, der den Menschen als Menschen in seiner individuellen Freiheit anerkennt, verwirklicht die Idee des Christentums. Religion und Staat sind hier vermöge der Philosophie versöhnt, die bürgerliche Gesellschaft als christliche begriffen. Auf der Grundlage der gemeinsamen absoluten Wahrheit begegnet den Kirchen im Staat eine selbstbewußte Vernunft und Sittlichkeit, während die Religion sich gegenüber dem Staat auf die Sphäre der Innerlichkeit (Gefühl, Vorstellung und Glaube) beschränken soll. Als christlich kann die bürgerliche Gesellschaft freilich nur aufgrund der religions- und geschichtsphilosophischen Reflexion gelten, die die sich in jener realisierende Freiheit als Prinzip auf das Christentum zurückführt. Das geschieht in praktisch-politischer Absicht: das Prinzip bezeichnet Anfang und Ziel eines in seiner Notwendigkeit erkannten, mithin vernünftigen Prozesses, nämlich der politischen Verwirklichung der christlichen Freiheitsidee, die der Moderne als Aufgabe allererst bewußt geworden ist. Die durch Christus prinzipiell vollbrachte Versöhnung des Geistig-Göttlichen und des Natürlich-Menschlichen soll als religiöse Bestimmung des 93 91 95 96

Vgl. Phil. d. Rechts, §207. Vgl. Phil. d. Rechts, §199. Phil. d. Rechts, §182, 168. Phil. d. Rel. II, 193.

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Menschen auch im Weltlichen, d . h . in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vollbracht werden 9 7 . Die Philosophie des absoluten Geistes antizipiert, worauf die Weltgeschichte abzielt, indem sie im M e d i u m des G e d a n k e n s wiederholt, von w o h e r diese als Freiheitsgeschichte beginnt: es geht ihr u m Aufhebung der religiösen in politische Freiheit™, gerade indem es ihr u m A u f h e b u n g des Inhalts christlicher Religion in den philosophischen Begriff geht. D a ß das Christentum seinem Begriff in der Realität entspreche, darauf k o m m t es Hegel an. D a n n aber ist die bürgerliche Gesellschaft nicht an sich christliche Gesellschaft, sondern n u r f ü r den Geist, der sie und in ihr sich selbst - begreift und so die M o m e n t e realisierter Freiheit in ihr aufdeckt. Als philosophisches Christentum ist Hegels Philosophie gerade zeitgemäß; als solches ermöglicht sie, zu bestimmen, was an der Zeit ist. U m Kierkegaards Verständnis der M o d e r n e und des Christentums in ihr zu erheben, setzen wir an bei seiner literarischen Anzeige der Novelle ,Zwei Zeitalter', deren Verfasserin den Widerschein der Zeit vor und der Zeit nach der Französischen Revolution in den privaten Verhältnissen zeigen will". An erdichteten Figuren und deren Schicksal zwischen 1794 und 1844 soll die ,Macht des Zeitgeistes' auf das menschliche Schicksal dargestellt werden 1 0 0 . Auffällig ist die methodische Übereinstimmung mit Kierkegaards eigenen Pseudonymen Schriften, die bestimmte Existenzstadien an fiktiven Einzelgestalten veranschaulichen. Kierkegaard beschäftigt sich also mit einem schriftstellerischen Werk, das wie die seinen das Allgemeine vom Besonderen her erfassen, die Zeit von den in der Zeit lebenden Individuen her verstehen will 101 . D a s jeweilige Zeitalter und das in ihm handelnde Individuum werden wechselseitig durcheinander bestimmt 1 0 2 . Das gegenwärtige Zeitalter erscheint als verständig, reflektiert und o h n e Leidenschaft 1 0 3 . D a s zeigt sich f ü r Kierkegaard am einzelnen Individuum, das nicht genug Leidenschaft besitzt, um sich von der Reflexion loszureißen 1 0 4 . M a n ist en passant mit dem ganzen Dasein und den Wissenschaften fertig. „Die Zeit der großen und guten H a n d l u n g e n ist vorüber, die Gegenwart ist die Zeit der Vorwegnahmen" 1 0 5 . Jedermann weiß, was man

97 Vgl. Phil. d. Rel. II, 330 f. " Vgl. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, 408. " Vgl. LA, Einleitung von E. Hirsch, XX. 100 Ebd., XXII. 101 Dieses Verfahren steht deutlich in Gegensatz zum Hegeischen, die Zeit auf der Grundlage einer allgemeinen, religions- und geschichtsphilosophischen Theorie zu erfassen. 102 LA 49 - S.V. VIII,44. 103 LA 72 - S.V. VIII,64. 104 LA 73 - S.V. VIII,65f. 105 LA 75 - S.V. VIII, 67.

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tun soll, aber niemand handelt 106 . Die Reflexion treibt das Bedürfnis nach Entscheidung aus, sodaß das Individuum an abnormer Verständigkeit leidet 107 . Für das Individuum wie f ü r die ganze Generation ist daher „keine Aufgabe und Anstrengung so schwierig wie die, sich aus den Versuchungen der Reflexion herauszuarbeiten .. ."108 Die Reflexion läßt zwar alles bestehen, entwindet ihm aber seine Bedeutung, sodaß die .innerliche Wirklichkeit der Verhältnisse' in einer Reflexionsspannung ermattet 109 . Indem man über das Bestehende reflektiert, hört man auf, sich zu ihm zu verhalten. So scheint alles weiter zu bestehen und ist doch nicht da 110 . Das eigentliche Problem der reflektierten Zeit ist nicht, daß sie reflektiert, sondern daß sie in der Reflexion stehenbleibt und deshalb nicht zur Entscheidung und zum Handeln gelangt. „Die Reflexion ist nicht das Böse, aber der innere Zustand in der Reflexion und der Stillstand in der Reflexion ist das Mißliche .. . " m Darum gilt es, sich durch die Reflexion hindurchzuarbeiten; dies ist die Bedingung dafür, intensiver zu handeln 112 . Worin man sich in dieser reflektierten Zeit einig ist, das ist die Nivellierung, „der Sieg der Abstraktion über die Individuen" 113 . Der Nivellierung vermag keine Zeit Einhalt zu gebieten. „Einhalt kann ihr nur dadurch getan werden, daß das Individuum in individueller Besonderung die Unerschrockenheit der Religiosität erringt" 114 . Die Abstraktion der Nivellierung verzehrt alles, doch gerade dadurch können die Individuen „religiös erzogen werden, kann ihnen in höchstem Sinne dazu geholfen werden, daß sie im examen rigorosum der Nivellierung die Wesentlichkeit der Religiosität in sich selber gewinnen" 115 . So wird es f ü r den Einzelnen „in Wahrheit bildend sein, in einer Zeit der Nivellierung zu leben" 116 . Obschon Kierkegaard betont, daß entscheidende religiöse Bestimmungen nicht zur .Forderung der Zeit' werden können 117 , schreibt er der Nivellie-

106

LA 78 - S.V. VIII,69. LA 80 - S.V. VIII,71. 108 LA 81 - S.V. VIII,72. 109 LA 82 - S.V. VIII,73. 110 „Unsere Zeit erinnert sehr an die Auflösung des griechischen Staates. Alles besteht zwar noch, doch glaubt niemand mehr daran" ( E O II 542 - S.V. 11,18). 111 LA 103 - S.V. VIII,90. 112 LA 118 - S.V. VIII, 103. 113 LA 90 - S.V. VIII, 79. K.Jaspers hat später (1931) in seiner existenzphilosophischen Zeitkritik, die sich auf Kierkegaard beruft, den Begriff der Nivellierung aufgenommen und zur Charakterisierung von Phänomenen der modernen Massengesellschaft verwendet (vgl. D i e geistige Situation der Zeit, Berlin 1971, bes. 74. 107). Dabei geht er allerdings von einer allgemeinen ,Daseinsordnung' aus und nicht von konkreten Individuen. 114 LA 92 - S.V. VIII,81. 115 LA 93 - S.V. VIII,82. 116 LA 93 - S.V. VIII,82. 117 LA 20 - S.V. VIII,20. 107

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rung eine pädagogische Funktion hinsichtlich des Religiösen zu 118 . Die Nivellierung bringt alles auf das gleiche M a ß und erzieht dadurch den Einzelnen dazu, ein wesentlicher Mensch zu werden. Der Einzelne lernt, „sich in der Wesentlichkeit vor Gott an sich selber genügen zu lassen ...", wodurch „die Gleichheit vor Gott und die Gleichheit mit allen" 119 ausgedrückt wird. In der Nivellierung erfolgt also ein Umschlag von der Q u a n tität zur Qualität, sofern sie dialektisch vom Einzelnen verstanden wird: indem sie alle gleich macht, ermöglicht sie jedem, als Einzelner er selbst zu werden 120 . „Das Individualitätsprinzip braucht die Abstraktion der Generation, ihr gleiches M a ß f ü r alle, als Nivellierungsmacht und entwickelt dadurch das Individuum unter dessen eigener Mitwirkung religiös zu einem wesentlichen Menschen" 1 2 1 . Kierkegaards Analyse des Zeitalters als Zeit der Nivellierung will zeigen, daß gerade diese alle Besonderheiten einebnende Macht dem Einzelnen dazu verhilft, er selbst und damit ein wesentlicher Mensch zu werden. Die Nivellierung, so behauptet Kierkegaard, erzieht sogar den Einzelnen dazu, sich religiös zu verstehen. Das Religiöse ist hier nicht wie bei Hegel ein sich im Allgemeinen verwirklichendes Prinzip, sondern die Sphäre radikaler Vereinzelung, in der sich nach Kierkegaard wesentliches Menschsein, d.h. Selbstsein vollzieht. In die religiöse Sphäre wesentlichen Menschseins gerät der Mensch merkwürdigerweise, indem er nivelliert wird, d.h. die Nivellierung läßt ihn auf sich selbst aufmerksam werden, eben weil sie Ausdruck des Sich-selbst-Verlierens in der beständigen Reflexion ist. Die Äußerungen beständiger Reflexion veranlassen den Einzelnen, indem sie ihn nivellieren, auf sich selbst zu reflektieren. Wer aber auf sich selbst reflektiert, gibt damit zu verstehen, daß er sich zugleich zu anderen und zu sich selbst verhält, d. h. er drückt durch sein Verhalten die Erfahrung des Reflektiertwerdens von anderen aus. Der Einzelne wird also nicht isoliert er selbst, sondern dadurch, daß er sich zu dem ihn nivellierenden Allgemeinen verhält bzw. sich in der Nivellierung versteht 122 . In118

Vgl. Schaal, aaO., 87-101. LA 9 4 f . - S.V. VIII,83. 120 In ,Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller' (1859) macht Kierkegaard auf die Dialektik des Einzelnen aufmerksam: ,„Der Einzelne' kann bedeuten der Einzige von allen, und der .Einzelne' kann bedeuten Jedermann" (GWS 109 - S.V. XIII,601). 121 LA 95 - S.V. VIII,83. 122 Sein Selbstwerden vollzieht sich nicht von allen gesellschaftlichen Bezügen abgesondert, sondern gerade im Verhältnis zum Allgemeinen, das wesentlich ein polemisch-kritisches ist (vgl. K. Löwith, Jener Einzelne: Kierkegaard, in: Theunissen/Greve, Materialien, 544). Wenn Kierkegaard an der bestehenden Christenheit kritisiert, jeder meine schon Christ zu sein, so deshalb, weil er sich als Einzelner zum Allgemeinen verhält. Darin, daß der Einzelne zum Vollbringer des Religiösen wird, spiegelt sich der allgemeine Sachverhalt, daß Christen für die subjektive Wirklichkeit des Christentums keine allgemeine Plausibilitätsstruktur in der modernen Gesellschaft mehr vorfinden (vgl. P. L. Berger/Th. Luckmann, Die gesellschaft119

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sofern geschieht die Erziehung zum Religiösen durch seine Mitwirkung. Was aber ist es, das ihn nivelliert? Das Organ, durch welches die Nivellierung sich vollzieht, ist das Publikum, bestehend aus allen und niemand, eine Abstraktion, ein allumfassendes Etwas und doch Nichts 123 . Kierkegaard sieht in ihm ein ,Blendwerk der Reflexion' 124 , denn obwohl man im Namen des Publikums sprechen kann, ist es eigentlich niemand. Publikum ist ein Phänomen der Moderne, das es im Altertum nicht gab125. Erst wenn es kein .kräftiges Gemeinleben' mehr gibt, entsteht die anonyme Masse des Publikums 126 . Die Gesamtheit ist dann nicht mehr wie im Altertum die den Einzelnen bildende und ihn stützende Konkretion, sondern eine ihn abstoßende und auf sich selbst zurückwerfende Abstraktion 127 . Man sieht, wie Kierkegaard aus der Perspektive des Einzelnen denselben Sachverhalt reflektiert, den Hegel in seiner Analyse des ,Systems der Bedürfnisse' gleichsam objektiv ins Auge faßt: die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre und die damit verbundene Privatisierung individueller Erfahrungen. Gleichwohl gibt es auch in einer Zeit der schrankenlosen Nivellierung durch das Publikum ausgezeichnete Individuen. Während sie jedoch in früheren, vor-modernen Lebensverhältnissen kenntlich waren, werden sie nun ohne Vollmacht und unkenntlich sein, „eben weil sie das diabolische

liehe Konstruktion der Wirklichkeit, Fischer-TB 6623, Frankfurt/Main 1980, 165 ff.; P.L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt/Main 1970, 57 ff.; W. Pannenberg, Signale der Transzendenz, in: EvKomm 3/1974, 151-154). Kierkegaard versucht jedoch nicht, dem Christentum wieder eine solche Plausibilitätsstruktur zu verschaffen, sondern sieht im Gegenteil das Problem darin, daß es für das subjektive Bewußtsein der Christen nach wie vor plausibel erscheint. Er bestreitet nicht, daß religiöse Gemeinschaft zur Religion gehört (vgl. Berger/Luckmann, aaO., 169), sondern behauptet, das Christentum gehe nicht darin auf, Religion einer Gemeinschaft zu sein; indem es Menschen vereinzele, transformiere es immer wieder die Gemeinschaft. 123 LA 96ff. - S.V. VIII,84ff. 124 LA 99 - S.V. VIII,87. 125 LA 97 - S.V. VIII, 85. Kierkegaard hat hier entdeckt, was für die moderne bürgerliche Öffentlichkeit überhaupt konstitutiv ist: Öffentlichkeit entsteht, wenn mehrere Privatleute ein Publikum bilden. Nach J.Habermas läßt sich demnach die bürgerliche Öffentlichkeit „als die Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute begreifen" (Öffentlichkeit - ein Lexikonartikel, in: Kultur und Kritik, 64). 126 LA 97 - S.V. VIII,85. 127 LA 98 f. - S.V. VIII, 86. Im Corsarenstreit (1846) hat Kierkegaard an sich selbst erfahren, wie die Massenpresse einen Menschen öffentlich verächtlich machen kann. So notierte er 1847 in seinem Tagebuch: „Der Umstand, daß die Frechheit Rückhalt in einer Zeitung hat, bringt es zuwege, daß die Frechen meinen, völlig Recht zu haben, ja Vollstrecker der öffentlichen Meinung zu sein" (Pap. VIII A 99 - Der Corsarenstreit, hrsg. von H.Gerdes, 214). Auf dem Hintergrund dieser Erfahrung sind Kierkegaards kritische Äußerungen über das Publikum zu verstehen.

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Prinzip der Nivellierung gottgemäß verstanden haben .,." 1 2 8 Ein solcher Unkenntlicher wird der Nivellierung durch eine leidende Handlung voran helfen 129 , d. h. er wird den Weg zum wesentlich Religiösen weisen 130 , indem er diesen Weg selber geht und wird, was alle sein können 1 3 1 . Der Weg zum Religiösen ist der Weg zum Humanen, den jeder Mensch zu gehen vermag, weil „jeder Mensch wesentlich im Besitz dessen ist, was wesentlich zum Menschsein gehört" 1 3 2 . Das Unglück der Zeit besteht gerade darin, daß sie ohne Leidenschaft wissend ist. bzw. darin, daß ihr Wissen keine Kraft über ihr Leben hatli}. „Ein jeder weiß viel, wir wissen alle, welchen Weg man gehen soll und die vielen Wege, die man gehen kann, aber niemand will gehen" 134 . Weil jeder den Weg wesentlicher Menschwerdung im Religiösen nur f ü r sich selbst gehen kann, vermag die Idee der Gesellschaft die Zeit nicht zu retten, denn alle gesellschaftlichen Verbindungen können dem Einzelnen nicht dazu verhelfen, in sich selbst Halt zu gewinnen 135 . Der Stillstand in der Reflexion, den Kierkegaard als ein Grundübel seiner Zeit ansieht, weil er die Menschen daran hindert, sie selbst d.h. wesentlich zu werden, wird nun vor allem in Bezug auf die Spekulation der Hegeischen Philosophie konstatiert. Schon in seiner Magisterarbeit über den .Begriff der Ironie' (1841) schreibt Kierkegaard: „So ist z.B. die Wissenschaft in unserer Zeit in den Besitz eines so ungeheuren Ergebnisses gelangt, daß es dabei schwerlich mit rechten Dingen zugehen kann; die Einsicht in die Geheimnisse nicht bloß des Menschengeschlechts, sondern auch der Gottheit wird so wohlfeil zu Markte gebracht, daß es recht bedenklich sich ausnimmt. Man hat in unserer Zeit vor Freude am Ergebnis vergessen, daß ein Ergebnis doch keinerlei Wert hat, wenn es nicht selbst erworben worden ist" 136 . Deshalb sei die Aufgabe der Zeit darin zu sehen, „die Ergebnisse der Wissenschaft in das persönliche Leben zu überführen, diese sich persönlich anzueignen"1*7. Kierkegaards Kritik trifft offenbar nicht Hegel selbst, sondern seine sich auf ihn berufenden Schüler, die sich der Aufgabe der Aneignung dessen, was Hegels Philosophie zur Wissenschaft macht, nicht gestellt haben. Kierkegaards Interesse besteht gerade 128

LA 114 - S.V. VIII,99. LA 117 - S.V. VIII,101. 130 „Die Innerlichkeit (das ethische und ethisch-religiöse Individuum) ... faßt das Leiden als das Wesentliche" (UN 615 - S.V. VII,377). Leiden aber ist „das Handeln der Innerlichkeit" ( U N 614 - S.V. VII,376). 131 LA 99 - S.V. VIII,86. 132 U N 524 - S.V. VII,309. 133 Vgl. KzT 125f. - S.V. XI,201 f., und oben S.87 dieser Arbeit. 134 LA 111 - S.V. VIII,97. 135 LA 113 - S.V. VIII,99. 136 BI 332 - S.V. XIII,391 (Hervorh. von Kierkegaard). 137 BI 333 - S.V. XIII,391 (Hervorh. von Kierkegaard).

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darin, sich Hegels Philosophie anzueignen, d. h. sich selbst als existierender Einzelner in ihr zu verstehen und sich so als wahrer Hegelschüler zu erweisen138. Gegenüber den auf Hegel sich berufenden, das Ergebnis seiner Wissenschaft nur vermeintlich, aber nicht wirklich besitzenden Schülern verhält Kierkegaard sich ironisch, darin ein Schüler des Sokrates, indem er die „Ironie als ein beherrschtes Moment" geltend macht, welche „lehrt, die Wirklichkeit zu verwirklichen, gerade dadurch, daß sie den gebührenden Nachdruck auf die Wirklichkeit legt"139. Er erkennt, daß die Hegelianer durch ihren beständigen Umgang mit weltgeschichtlichen Ergebnissen untauglich zum Handeln werden und sich nicht mehr um das Ethische bekümmern 140 . Gerade darin sind sie für Kierkegaard in einem fatalen Sinn Repräsentanten ihrer Zeit. Das Ethische ist aber nicht aus der Betrachtung der Weltgeschichte zu erlernen, sondern nur aus der Betrachtung des eigenen Lebens: „Um das Ethische zu studieren, ist jeder Mensch auf sich selbst angewiesen. Er selbst ist sich in dieser Hinsicht mehr als genug, ja, er ist der einzige Ort, wo er es mit Sicherheit studieren kann" 141 . Besonders problematisch erweist sich die spekulative Betrachtung des Christentums als historisches Phänomen, die objektiv nach dessen Wahrheit fragt 142 und seine Notwendigkeit begriffen zu haben vorgibt 143 . Diese Betrachtung wird aber weder der Geschichte im allgemeinen, noch dem Christentum im besonderen gerecht. Denn das Vergangene ist geworden, also aus dem Möglichen hervorgegangen und darum nicht notwendig 144 . Im Verhältnis zum Christentum geht es nicht um die objektive Wahrheit einer Lehre, sondern um die subjektive Wahrheit des Lernenden bzw. um das Christwerden. Zu diesem Ergebnis gelangt Kierkegaard im Zuge der Aneignung Hegels: was Hegel für die Phylogenese aufgewiesen hat, die Bestimmtheit der Moderne durch das Christentum, das versucht Kierkegaard an sich selbst für die Ontogenese zu verifizieren. Dabei macht er die Erfahrung über die Existenzwahrheit des Christentums. Die Wahrheit des Christentums ist an die Subjektivität gebunden, die Kierkegaard freilich weder transzendental (wie Kant), noch spekulativ (wie Hegel), sondern existentiell versteht 145 . In der Existenz kommt es aber nicht auf die Über-

158 Vgl. L. Steiger, Unzeitgemäßer Kierkegaard, in: EvTh 29 (1969), 244-266; ders., Det er jo meine Zuthat. Kierkegaards Erfahrung über Hegel oder Etwas über des Johannes Climacus Philosophische Bissen, in: EvTh 38 (1978), 372-386. » ' BI 333 - S . V . XIII, 392. 140 U N 267 - S.V. VII, 110. 141 U N 274 - S.V. VII, 115 (Hervorh. von Kierkegaard). 142 U N 180 - S.V. VII,37. 143 U N 184 - S.V. VII,40. 144 Vgl. PhB 86ff. (Zwischenspiel) - S.V. IV,235 ff. 145 Vgl. W. Struve, Die neuzeitliche Philosophie als Metaphysik der Subjektivität. Interpretationen zu Kierkegaard und Nietzsche, Freiburg-München 1948, 228 ff.

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einstimmung von Denken und Sein an (objektive Wahrheit), sondern darauf, daß der existierende subjektive Denker seine Existenz beständig denkend nachbildet und sein Denken ins Werden versetzt146, indem er darin existiert (subjektive Wahrheit) 147 . „Wird objektiv nach der Wahrheit gefragt, dann wird objektiv auf die Wahrheit als einen Gegenstand reflektiert, zu dem der Erkennende sich verhält. Es wird nicht auf das Verhältnis reflektiert, sondern darauf, daß es die Wahrheit ist, das Wahre, zu dem er sich verhält; wenn das, wozu er sich verhält, nur die Wahrheit, das Wahre ist, dann ist das Subjekt in der Wahrheit. Wird subjektiv nach der Wahrheit gefragt, dann wird subjektiv auf das Verhältnis des Individuums reflektiert; wenn nur das Wie dieses Verhältnisses in Wahrheit ist, dann ist das Individuum in Wahrheit, selbst wenn es sich so zur Unwahrheit verhielte"148. Objektive Erkenntnis reflektiert nicht auf den Erkennenden und beläßt die Reflexion darum im Unendlichen, sodaß der Erkennende selber unendlich wird. Subjektive Erkenntnis verhält sich hingegen zum Erkennenden, der wesentlich ein Existierender ist149. Mit einem solchen Erkennen, dessen Verhältnis zur Existenz wesentlich ist, hat es das Christentum zu tun. Wenn nun die moderne Spekulation die Wahrheit des Christentums zu begreifen sucht, dann geht sie davon aus, daß es objektiv wahr sei. D.h. sie sucht eigentlich nicht die Wahrheit des Christentums zu verstehen, sondern das spekulative Verständnis des Christentums als das wahre zu erweisen150. Auf diese Weise ist das spekulative Wissen selbst zur Wahrheit geworden, welche an die Stelle der Wahrheit des Christentums tritt. Zu diesem Mißverständnis zwischen der Spekulation und dem Christentum ist es nach Kierkegaards Ansicht deshalb gekommen, weil man über dem vielen Wissen vergessen hat, was Existieren heißt: „Hatte man vergessen, was Religiös-Existieren ist, so hatte man wohl auch vergessen, was Menschlich-Existieren ist. Dies mußte also an den Tag gebracht werden" 151 . Die spekulative Betrachtung des Christentums hat nicht nur von der Wirklichkeit menschlicher Existenz abstrahiert 152 , sondern zu einer heidnischen Verwechslung des Göttlichen und des Menschlichen geführt 153 . Was bei Feuerbach offen vollzogen wird, die Umkehrung der Theologie in Anthropologie, sieht Kierkegaard schon bei Hegel insgeheim vorbereitet: der spekulative Denker hat das Christentum in eine ewige Geschichte (des absoluten Geistes) und das Zeitlichwerden Gottes in ein ewi146

U N 215 - S.V. VII,67. „Es ist die Aufgabe des subjektiven Denkers, sich selbst in Existenz zu verstehen" ( U N 519 - S.V. VII,304). 148 U N 340 - S.V. VII, 166f. >4' U N 338 - S.V. VII, 165. 150 151 U N 368 - S.V. VII, 188. U N 398 f. - S.V. VII,210. 152 153 Vgl. U N 476 - S.V. VII,270. Vgl. U N 490 - S.V. VII,281. 147

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ges Gottwerden verwandelt, sodaß aus der Existenz-Mitteilung, die nur wider den Verstand geglaubt werden kann, eine .metaphysische Doktrin' und somit der Inbegriff des Vernünftigen wurde 154 . Die . A u f h e b u n g ' des Christentums ist nach Kierkegaard in Wahrheit eine Verabsolutierung und Vergöttlichung menschlicher Subjektivität. So kommt es zu weiteren Verwechslungen: der weltgeschichtlichen Entwicklung des Menschengeschlechts mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, des unmittelbaren Menschseins mit dem Christsein 155 . Die neuere Philosophie ist damit ins Heidentum zurückgefallen 156 , und die Christenheit der Moderne lebt weithin in .heidnischer Sicherheit' 157 . Kierkegaards Einschätzung der Moderne gipfelt in der Feststellung, daß sich im modernen Christentum das Heidentum wiederholt 158 . Die bürgerliche Christenheit ist zu einem ,Sinnentrug' geworden 159 , da man meinte, sich ins Christentum hinein reflektieren zu können 160 . Kierkegaards Urteil über das Christentum in der Moderne fällt für die bestehende Christenheit äußerst negativ aus: gerade ihre verständige Bürgerlichkeit, ihr ungebrochenes Verhältnis zur Welt zeigt an, daß sie das Christentum abgeschafft hat. Demgegenüber wird nun, durchaus im hegelisch verstandenen protestantischen Sinn161, das Religiöse als subjektive Wahrheit geltend gemacht 162 . Kierkegaard bestreitet entschieden, daß das Religiöse politisch verwirklicht werden soll. Denn „das Religiöse ist der Ewigkeit verklärte Wiedergabe des schönsten Traumes der Politik. Keine Politik hat es vermocht, keine Politik vermag, keine Weltlichkeit hat vermocht, keine Weltlichkeit vermag, bis in die letzte Folge hinein diesen Gedanken durchzudenken oder zu verwirklichen: daß Menschlichkeit Menschgleichheit ist"163. Der Grund für diese Unmöglichkeit, das Religiöse politisch bzw. weltlich zu verwirklichen, liegt darin, daß das Individuum religiös der Wirklichkeit in der Wirklichkeit fremd wird 164 bzw. durch das absolute Verhältnis zum Absoluten höher als das Allgemeine zu stehen kommt 165 . Die Menschwerdung Gottes bedeutet nicht die prinzipielle Einheit des Menschlichen und des Göttlichen, sondern ein absolutes Verhältnis, das einen absoluten Unterschied ausdrückt 166 . Nur der Einzelne kann in einem solchen Verhältnis zu Gott stehen, weil Gott selbst sich als einzelner Mensch in der Zeit bestimmt hat. Darum ist der Ein154

155 Vgl. U N 786f. - S.V. VII,504. U N 512 - S.V. VII,299. 157 KzT 129f. - S.V. XI,204f. KzT 158 - S.V. XI,227. 158 159 BA 553 - S.V. IV,363. GWS21 - S.V. XIII,518. 140 WS 5 - S . V . XIII, 495. 161 Vgl. Hegels Darstellung der Lehre Luthers oben S. 128 dieser Arbeit. 142 Wobei .subjektiv' nicht die Subjektivität des absoluten Geistes, sondern des in der Endlichkeit existierenden Geistes meint. 143 144 GWS 97 - S.V. XIII, 589. Vgl. LA 19 - S.V. VIII, 19. 145 144 Vgl. FuZ 239 - S.V. 111, 106. Vgl. U N 588f. - S.V. VII,357f. 156

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zelne f ü r Kierkegaard „die christlich entscheidende Kategorie" 167 , die auch f ü r die Z u k u n f t des Christentums entscheidend sein wird, und darum ist der Einzelne „die Kategorie, durch welche, in religiöser Hinsicht, die Zeit, die Geschichte, das Geschlecht hindurch muß" 168 . Kierkegaards Abneigung gegen die Menge ist nicht bloß subjektiv, in einer individualistischen Haltung begründet, wie man immer wieder gemeint hat, denn er bekämpft gerade den Subjektivismus des bürgerlichen Liberalismus von 1848. In einer Situation, in der die Individuen sich zur Menge zusammentun und in gesellschaftlichen Verbindungen Halt suchen, macht Kierkegaard den Einzelnen geltend, nicht als unpolitische, sondern als politische Größe. In seinem Spätwerk, beginnend mit den christlichen Reden über ,Der Liebe Tun', erinnert er die bürgerliche Christenheit daran, daß jeder ein Christ werden, den Glauben in entsprechenden Werken ausdrükken müsse, und fordert von der dänischen Staatskirche das Eingeständnis, sie verwirkliche nicht das Christentum des Neuen Testaments. Sowohl die Ermahnung zum T u n der Liebe als auch der Angriff auf das Staatskirchentum bringen die Nachfolge als Politikum zur Geltung in einer Gesellschaft, die die religiöse Praxis zur Privatsache erklärt. Die Menschwerdung des Menschen, die Bewahrheitung des Glaubens in der Nächstenliebe ist somit diejenige pädagogische und politische Aufgabe, die kein Christ von sich abweisen kann, vor die alle Christen unausweichlich gestellt sind. Wenn Kierkegaard diagnostiziert, es fehle der Zeit an Religiosität 169 bzw. an religiöser Erziehung 1 7 0 , so ist damit nichts anderes gesagt, als daß sie den Einzelnen ignoriert: „Alle sind eifrig mit dem beschäftigt, was die Zeit fordert, keiner scheint sich darum zu kümmern, was der Einzelne braucht" 171 . Die Ignoranz gegenüber dem Einzelnen drückt aus, daß man wesentliches Menschsein im Grunde verachtet: „Mitten in allen Jubel über unsere Zeit und das neunzehnte Jahrhundert klingt heimlich eine heimliche Verachtung des Menschseins hinein: mitten in der Wichtigtuerei der Generation gibt es eine Verzweiflung über das Menschsein. Alles, alles will mit, weltgeschichtlich will man sich vom Totalen betören lassen, keiner will ein einzelner existierender Mensch sein" 172 . Während es Hegel darum geht, daß Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt, kommt es Kierkegaard darauf an, seine Zeit und sich selbst als Einzelner in ihr zu verstehen1". Kierkegaard verhält sich zu seiner Zeit, indem er sich zu ,jenem Einzelnen' verhält, den er sich als seinen Leser wünscht, d . h . Kierkegaard unterredet sich mit seiner Zeit, indem er sich mit seinem 167 169 171 173

GWS 115 U N 667 U N 667 GWS 114

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