Das gelingende Gutsein: Über Liebe und Anerkennung bei Kierkegaard 9783110226874, 9783110226867

A detailed reconstruction of Kierkegaard's concept of recognition has been lacking until now in Kierkegaard researc

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Das gelingende Gutsein: Über Liebe und Anerkennung bei Kierkegaard
 9783110226874, 9783110226867

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
I. Moralisches Selbstverständnis: Die Anerkennungsproblematik in Entweder/Oder
II. Liebe und Anerkennung
III. Die Frage nach dem gelingenden Gutsein: Kierkegaards Anerkennungsbegriff im Lichte der heutigen Anerkennungsdebatte
Backmatter

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Kierkegaard Studies Monograph Series 23

Kierkegaard Studies Edited on behalf of the

Søren Kierkegaard Research Centre by Niels Jørgen Cappelørn and Hermann Deuser

Monograph Series 23 Edited by Hermann Deuser

De Gruyter

Sergio Mun˜oz Fonnegra

Das gelingende Gutsein Über Liebe und Anerkennung bei Kierkegaard

De Gruyter

Kierkegaard Studies Edited on behalf of the Søren Kierkegaard Research Centre by Niels Jørgen Cappelørn and Hermann Deuser Monograph Series Volume 23 Edited by Hermann Deuser

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ISBN 978-3-11-022686-7 e-ISBN 978-3-11-022687-4 ISSN 1434-2952 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Arbeit ist im Frühjahr 2007 abgeschlossen und an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen worden. Prof. Dr. Axel Honneth und Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Deuser möchte ich zuallererst für die freundliche Betreuung, die Unterstützung und die Anregungen, die mich ständig motiviert und auf den richtigen Weg in der Entwicklung meiner Überlegungen gebracht haben, sehr herzlich danken. Prof. Dr. Arne Grøn, bei dem ich einen Forschungsaufenthalt am Center for Subjectivity Research der Universität Kopenhagen absolvieren und einen Teil meiner Arbeit schreiben konnte, und Prof. Dr. Dan Zahavi, dem Direktor des Centers, möchte ich ebenfalls danken. Wichtige Hinweise habe ich von Dr. Martin Saar und meinem Freund Carlos Ramírez erhalten; ihnen bin ich sehr dankbar. Insbesondere bin ich Paula Mira sehr zu Dank verpflichtet, ohne deren Gespräche, Hilfe und uneigennützige Unterstützung diese Arbeit nicht gut zu Ende gekommen wäre. Der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), deren Förderung meine Arbeit ermöglichte, sei auch gedankt. Besonders dankbar bin ich den Ansprechpartnern der Ausländerförderung Berthold Gees und Dr. Detlev Preuße. Schließlich möchte ich dem Instituto de Filosofía der Universidad de Antioquia herzlich danken, wo ich im letzten Jahr am Manuskript arbeiten konnte.

Nur im freien Akt, wo die ganze Seele sich wieder aufrafft, werden wir wieder einfach, leidenschaftlich und durchscheinend. Wie sollte die Freiheit [libert] nicht selbst Befreiung [libration] sein? Wie sollte sie nicht den Sklaven das Bedürfnis eingeben, frei zu sein? Die edle Freiheit gewährt nicht dies oder das, tut nicht dies oder jenes, sondern sie schenkt die Freiheit, das heißt sich selbst. Die Freiheit ist ganz Erlösung [dlivrance], und sie ist nichts als Erlösung. Vladimir Jankélévitch Das Verzeihen Wer da ethisch lebt, hat allezeit einen Ausweg: läuft alles ihm zuwider, hängt des Unwetters Düsternis so dicht über ihm, daß sein Nachbar ihn nicht mehr sehen kann, so ist er dennoch nicht untergegangen, es gibt immer noch einen Punkt, an dem er sich hält, und das ist – er selbst. Søren Kierkegaard Entweder/Oder Der Glaube an die Möglichkeit der Liebe als einem gesellschaftlichen Phänomen und nicht nur als einer individuellen Ausnahmeerscheinung ist ein rationaler Glaube, der sich auf die Einsicht in das wahre Wesen des Menschen gründet. Erich Fromm Die Kunst des Liebens

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Moralisches Selbstverständnis: Die Anerkennungsproblematik in Entweder/Oder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zeitdiagnose und indirekte Mitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kritik der ästhetischen Dimension: Das Problem der Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Selbstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Selbstwahl und Sozialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das gelingende Gutsein im Ethischen: Versöhnung und Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Liebe und Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von der Gegenseitigkeit zur Einseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Sollenscharakter der Forderung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Einseitigkeit in der Anerkennung und die Praxis der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Innerlichkeit und Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Frage nach dem gelingenden Gutsein: Kierkegaards Anerkennungsbegriff im Lichte der heutigen Anerkennungsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erkennen und Anerkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstwahl und die Gegenseitigkeit in der Anerkennung . . 3. Selbstliebe und die Einseitigkeit in der Anerkennung (Schlussbemerkung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur- und Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

Einleitung In der Kierkegaardforschung ist der Versuch, Kierkegaards Begriff der Anerkennung ausführlich zu rekonstruieren, noch nicht unternommen worden. Es gibt zwar einige Aufsätze, in denen das Verhältnis von Liebe und Anerkennung ausgearbeitet wird, sie beschränken sich jedoch auf die Auseinandersetzung zwischen der einseitigen Forderung der Liebe und der gegenseitigen Forderung der Anerkennung, ohne dass deutlich dargestellt wird, um welche Art von Anerkennungsbegriff es bei Kierkegaard geht. Dass in der Kierkegaardforschung bisher kein großes Interesse an der Artikulierung eines systematischen Anerkennungsbegriffes zu finden ist, hängt damit zusammen, dass Kierkegaard den Begriff der Anerkennung praktisch nicht verwendet, und dass ein solcher Begriff aus verwandten Begriffen nicht einfach abzuleiten ist. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Versuch, Kierkegaards impliziten Anerkennungsbegriff in Entweder/ Oder und in Die Taten der Liebe aus den Begriffen der Wahl und der Liebe zu gewinnen. Meine Absicht ist, zu zeigen, dass die Selbstwahl und die Selbstliebe als elementare Formen der Anerkennung zu verstehen sind. Damit ist gemeint, dass die Fähigkeit zur Selbstwahl und zur Selbstliebe Voraussetzung der gegenseitigen Anerkennung ist. Zu diesem elementaren Begriff der Anerkennung gelange ich aus der systematischen Rekonstruktion der Wahl- und Liebesbegriffe in den ersten Hauptteilen meiner Arbeit. Im ersten Hauptteil stelle ich in einem ersten Schritt die zentralen Aspekte der kritischen Diagnose der modernen Zeit und der Theorie der indirekten Mitteilung dar, welche meiner Meinung nach den Kern in Kierkegaards argumentativer Strategie bilden. Wichtig ist dabei, dass Kierkegaard sich mit der Bestimmung von negativen Phänomenen – Angst, Verzweiflung, Schwermut – beschäftigt, die als Formen falscher Anerkennung gelten, und dass er in der indirekten Mitteilung eine Art Therapie dieser negativen Tendenzen in der Moderne sieht. In der Konstruktion des Ästhetischen, auf die ich in einem nächsten Schritt eingehe, spiegelt sich der geistige Zustand der Zeit negativ wider. Weil im Ästhetischen der Mensch entfremdet ist und die Selbstanerkennung und die Anerkennung des anderen permanent scheitern, kommt Kierkegaard zu seinem Hauptgedanken, dass erst mit der Überwindung des Ästheti-

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Einleitung

schen durch die radikale Wahl des Selbst das Leben des Menschen ein festes Fundament erhält. Der Weg zur Selbstwahl durch die Überwindung des Ästhetischen ist ein Weg der gegenseitigen Anerkennung. In diesem Zusammenhang vertrete ich die These, dass die Selbstwahl eine Doppelfunktion hat: Sie ist die Voraussetzung sowohl eines positiven Verhältnisses zu sich selbst und zum anderen als auch der positiven Aufrechterhaltung der sozialen Praxis. Was meine Interpretation der Wahl von den klassischen Interpretationen differenziert, ist, dass ich die Wahl mit Hilfe von Aristoteles und Habermas in Verbindung mit dem pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft verknüpfe und erweitere. Im zweiten Hauptteil versuche ich mit der Rekonstruktion des Liebesbegriffes zu zeigen, dass es eine ergänzende Kontinuität zwischen der früheren Auffassung der Ethik in Entweder/Oder und der späteren Auffassung der Ethik in Die Taten der Liebe gibt. So behaupte ich, dass der Weg zur Selbstliebe die konsequente Erweiterung des Weges zur Selbstwahl ist. Begründet die Selbstwahl positiv gegenseitige Anerkennungsbeziehungen, so ist die Forderung der Liebe das normative Programm, um diese Anerkennungsbeziehungen in ihrer positiven Form zu bewahren. Der Weg von der Selbstwahl zur Selbstliebe ist somit ein Weg der Einseitigkeit in der Anerkennung. Kierkegaard versteht diesen Weg als ein Korrektiv gegen die negative Form von Gegenseitigkeit in zwischenmenschlichen Verhältnissen. Es wird sich zeigen, dass mit der systematischen Rekonstruktion der Wahl- und Liebesbegriffe ein umfassender Begriff der Anerkennung gewonnen wird. Im dritten und letzten Hauptteil meiner Arbeit, bei der es mir um den Anerkennungsbegriff Kierkegaards im Lichte der heutigen Anerkennungsdebatte geht, wird schließlich deutlicher, wie weit wir mit Kierkegaard gehen können. Das Potenzial dieses Begriffes betrifft vor allem die Präzisierung der elementaren Form der Anerkennung, die in der heutigen Debatte im Zentrum der Diskussion steht, sowie seine Reichweite für die Bestimmung von negativen Phänomenen, die die individuelle Selbstverwirklichung verhindern.

I. Moralisches Selbstverständnis: Die Anerkennungsproblematik in Entweder/Oder 1. Zeitdiagnose und indirekte Mitteilung Es ist allgemein bekannt, wie wichtig die biographischen Aspekte aus Kierkegaards Leben – das Verhältnis zu seinem Vater, seine strenge Erziehung, seine Verlobung und spätere Entlobung mit Regine und der Kampf der letzten Jahre seines Lebens mit der staatlichen Kirche und mit der Presse – für die Struktur und das Verständnis seines Werkes sind.1 Denn alle diese persönlichen Ereignisse bilden einen entscheidenden Kern seiner Taktik und Position innerhalb der philosophischen Tradition, die seine ganze Wirksamkeit als existentieller Denker ohne Zweifel wesentlich prägen. Man kann jedoch von diesen biographischen Aspekten absehen und eher auf einen anderen in der Literatur oft vernachlässigten Ausgangspunkt aufmerksam machen, der sein Werk von Anfang an bestimmt, artikuliert und ihm eine systematische Einheit gibt, nämlich seine kritische Diagnose der modernen Zeit und die ihr sozialphilosophisch und ethischreligiös zugrundeliegenden Aspekte. Denn in dieser Diagnose, so möchte ich argumentieren, werden seine wichtigsten Begriffe systematisch und mit einer klaren Intention entwickelt: Den Leser darauf aufmerksam zu machen, dass er ein Selbst ist, ihn dazu zu bewegen, die Möglichkeit der Verwirklichung der eigenen Freiheit in einer Zeit zu ergreifen, die durch ihre negativen Phänomene das gelingende Gutsein permanent zum Scheitern bringt. Wie dem Leser dazu verholfen werden soll, hängt von einem maieutischen Verhältnis zu ihm ab, durch das er zu seinem Zustand und zum geistigen Zustand seiner Zeit erwachen soll. Die Formel für dieses Verhältnis hat, wie es Kierkegaard immer wieder betont, folgende Struktur: Das Individuum soll dazu gebracht werden, „allein zu stehen – mit der Hilfe eines Anderen“ (Pap. VIII 2 B 82,15), wobei der Gedankenstrich zeigt, dass die Hilfe – das Maieutische – verborgen ist, dass die Mitteilung im Verhältnis zum Empfänger indirekt ist. Diese Absicht, den Leser indirekt zur Selbstwirksamkeit zu provozieren, ist das, was Kier1

Vgl. dazu A. Hannay Kierkegaard (The Arguments of the Philosophers), London, New York 1982, Kap. I und V.; R. Purkarthofer Kierkegaard, Leipzig 2005, S. 13 – 28.

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I. Die Anerkennungsproblematik in Entweder/Oder

kegaards Werk eigentlich motiviert. Wie er aber dazu kommt, kann erst genau verstanden werden, wenn man sich klar macht, dass die indirekte Mitteilungsmethode mit jener kritischen Diagnose der modernen Zeit, verstanden als kritische Diagnose des Sozialen, zusammenhängt. Diese Diagnose wird mit der Bestimmung der Fehlentwicklungen der modernen Welt sozialphilosophisch (1), und in einer weiteren Stufe mit der pathologischen Beschreibung der Bildung von Bewusstsein durch die Angstund Verzweiflungsabhandlung phänomenologisch charakterisiert (2). Was den ersten Punkt der Diagnose anbelangt, werden vor allem in der Schrift Eine literarische Anzeige und in dem Vorlesungsentwurf Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiçsen Mitteilung die wichtigsten Züge der Kritik entwickelt. Der zweite Punkt der Diagnose wird insbesondere in den Schriften Entweder/Oder, Der Begriff Angst und Die Krankheit zum Tode thematisiert. Im Folgenden möchte ich mich dem ersten Punkt der Diagnose zuwenden. Zum zweiten Punkt werde ich später mit der Analyse der ästhetischen Dimension und deren Pathologien kommen. In Eine literarische Anzeige versucht Kierkegaard das Wie seiner Zeit näher zu erhellen, ausgehend von ihren Bestimmungen, welche als negative Phänomene der Freiheit zu verstehen sind. Die Anzeige bezieht sich auf das Buch von Thomasine Gyllembourg Zwei Zeitalter, in dem das Leben in der Revolutionszeit in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts und das Leben in der Gegenwart in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts – Kierkegaards Zeit – beschrieben und miteinander konfrontiert werden. Das Grundproblem in der Moderne, nämlich die permanente Auflösung der Persönlichkeit durch die zunehmende Macht der Abstraktion in allen Lebensbereichen und der damit zusammenhängende Mangel an Innerlichkeit, wird zum Kern seiner Diagnose der modernen Zeit durch die Unterscheidung zwischen beiden Zeitaltern, welche Kierkegaard sich in der Anzeige aneignet. In den ersten zwei Teilen der Anzeige wird u. a. über den Inhalt des Buchs referiert; in dem dritten und wichtigsten Teil wird eine Analyse der zwei Zeitalter geliefert, welche den Kern von Kierkegaards Diagnose der modernen Zeit bildet. Was das Leben in beiden Zeitaltern grundsätzlich unterscheidet, wird anhand der Begriffe Leidenschaft und Reflexion thematisiert. Im positiven Sinne wird unter Leidenschaft die Energie der Entschiedenheit zum Offenbarwerden verstanden, unter Reflexion das tatsächliche Stattfinden der Freiheit, d. h. dass die Möglichkeit der Verwirklichung der Freiheit ergriffen wird. Im negativen Sinne ist die Reflexion das Gegenteil von Handeln und damit die Unmöglichkeit der Freiheit, die Leidenschaftslosigkeit.

1. Zeitdiagnose und indirekte Mitteilung

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Wenn Kierkegaard beide Zeitalter anhand von den zwei genannten Begriffen vergleicht, stellt er fest, dass das, was der Revolutionszeit eigen ist, sich als Mangel in der Gegenwart widerspiegelt. Während die Revolutionszeit, so Kierkegaard, wesentlich leidenschaftlich ist, so dass sich in ihr die Macht der Leidenschaft in ihrem Übergewicht über das Ethische äußert, ist die Gegenwart wesentlich leidenschaftslos, in ihr äußert sich das leidenschaftslose ausschließlich reflektierende So-Sein und der Mangel an Innerlichkeit: „Das Leben in der Gegenwart kennt nicht die Unruhe einer kraftvollen Leidenschaft, die eben an ihrer Energie, ja sogar an ihrer Heftigkeit ihre Form hat, wirft keine Decke über die Macht einer verbotenen heimlichen Leidenschaft. Vielmehr, das Ganze ist offenbar Mangel an Bestimmtheit und dadurch Alltäglichkeit, Formlosigkeit, Halbgelehrtheit, Liebelei, und ist in diesem seinem So-Sein offenbar. Hier ist keine machtvolle Offenbarung, und keine tiefe Verstecktheit, aber umso mehr Oberflächlichkeit“ (LA, 28). Es ist nicht Kierkegaards Absicht, die Revolutionszeit zu würdigen bzw. sie als eine Zeit darzustellen, deren Bedingungen wiederherzustellen man sich wünschen sollte. Denn das Übergewicht des natürlichen Verhältnisses gegenüber dem Ethischen in der Revolutionszeit ist das, was sie negativ prägt. Vielmehr verweist Kierkegaard, wenn er von dem Mangel an Bestimmtheit spricht, auf einen in der modernen Zeit stattfindenden Prozess des Sinnverlustes, dessen Realität den Individuen nicht bewusst ist. Sie leben in dem Glauben, dass sie eine Identität besitzen, die sie sich eigentlich noch nicht angeeignet haben. Entzweit sind sie außerhalb ihrer selbst, so distanziert von sich selbst wie noch nie. Dass sie ihren geistigen Zustand verkennen, liegt an einer Illusion, nämlich daran, dass sie glauben, gleich und frei zu sein. In der Gegenwart sind die Individuen aber nicht sie selbst, sondern ein Teil der zustimmenden Menge, sie sind in der Menge nivelliert, gleichzusetzen mit einer Nummer. Statt dass die Individuen als Individuen vereinigt sind, werden sie in der Gegenwart durch ihre numerische Vereinigung zerstreut. Anhand der Kritik des „Prinzip[s] der gesellschaftlichen Verbindung“ wird dies auf folgende Weise erläutert: „[I]ndem es [das Prinzip] die Individuen stärkt, entnervt es sie, es stärkt durch das Numerische, den Zusammenhalt, dies aber ist ethisch eine Schwächung. Erst wenn das einzelne Individuum in sich selbst ethische Haltung gewonnen hat, der ganzen Welt zum Trotz, erst dann kann davon die Rede sein, daß man in Wahrheit sich vereinigt, ansonst wird die Vereinigung derer, die in sich selbst schwach sind, etwas ebenso Unschönes und Verderbliches, wie wenn Kinder sich heiraten“ (113). Das Individuum

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I. Die Anerkennungsproblematik in Entweder/Oder

„wird bloß ein wesentlicher Mensch im Sinne der völligen Gleichheit des Maßes“ (94). Kierkegaard versteht die Illusion, in der die moderne Zeit ruht, als das Werk einer abstrakten Macht. Dies drückt er folgendermaßen aus: „[…] die Nivellierung ist der Sieg der Abstraktion über die Individuen […] die Gegenwart ist dialektisch in Richtung auf die Gleichheit des Maßes, und deren in Verkehrtheit folgerichtigste Durchführung ist das Nivellierungswerk, als die negative Einheit der negativen Gegenseitigkeit der Individuen“ (90). „Das Nivellierungswerk ist nicht eines Einzelnen Handlung, sondern ein Reflexionsspiel in der Hand einer abstrakten Macht“ (92).2 Kierkegaard benennt diese abstrakte Macht Publikum. Publikum ist Kierkegaards Schlüsselbegriff in der Diagnose der Moderne. Was Publikum will und von den Individuen fordert, hängt mit dem von Individuen nicht wahrgenommenen Sinnverlust, als „Sieg der Abstraktion über die Individuen“ ausgedrückt, zusammen. Kierkegaard gelangt zu Publikum als Motor der Nivellierung, wenn er versucht, sich klar zu machen, wie die moderne Zeit zu diesem Sinnverlust kommen konnte: „Damit die Nivellierung eigentlich zustande kommen kann, muß erst einmal ein Phantom zuwege gebracht werden, ihr Geist, eine ungeheuerliche Abstraktion, ein allumfassendes Etwas, welches Nichts ist, eine Luftspiegelung – dies Phantom heißt Publikum“ (96).3 Hinzu kommt: „Publikum ist alles oder nichts, ist von allen Mächten die Gefährlichste und die nichtssagendste; man kann in Publikums Namen zu einer ganzen Nation sprechen, und doch ist Publikum weniger als ein einziger noch so geringer wirklicher Mensch. […] Publikum ist das Märchen des Zeitalters des Verstandes, welches phantastisch* die Einzelnen dazu erhebt, noch mehr zu sein als König eines Volkes; dann aber ist Publikum wieder die grausame Abstraktion, mit der die Individuen religiös erzogen werden 2

3 *

Zum Begriff Nivellierung vgl. H. Deuser Sçren Kierkegaard. Die paradoxe Dialektik des politischen Christen. Voraussetzungen bei Hegel. Die Reden von 1847/48 im Verhltnis von Politik und sthetik, München 1974, S. 189 – 193; B. K. Poulsen Die Zweideutigkeit der Reflexion bei G. W. F. Hegel und Søren Kierkegaard in Kierkegaardiana 23, S. 44 – 47. Wie Emanuel Hirsch in seiner Übersetzung der LA in der FN 147 bemerkt, „[wird] Publikum von Kierkegaard im Folgenden vielfach wie ein Eigenname ohne Artikel gebraucht“. Im Folgenden sind alle Hervorhebungen von Kierkegaard. [Fußnote Kierkegaards] „Glücklicherweise habe ich als Schriftsteller Publikum weder gesucht noch gehabt, sondern mir froh an ,jenem Einzelnen‘ genügen lassen, weshalb ich um dieser Einschränkung willen beinahe zum Sprichwort geworden bin“.

1. Zeitdiagnose und indirekte Mitteilung

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sollen – oder untergehen“ (99 – 100). Zu diesem letzten Satz, in dem sich eine Antwort auf das Problem in der Moderne profiliert, d. i. dass Publikum aber auch der Weg zu sich selbst ist, werde ich später kommen. Ich möchte kurz bei der Forderung der Zeit durch Publikum bleiben. Das Zeitalter der Nivellierung erfordert grundsätzlich Anpassung, wie die anderen zu sein, und diese Anpassung ist der Maßstab der gegenseitigen Anerkennung in den Lebensverhältnissen der modernen Zeit geworden, in der eine permanente Abschaffung der Individualität stattfindet. Die Bedingungen einer solchen Anpassung sind das, was das Leben in der Gegenwart charakterisiert: „Die Gegenwart ist wesentlich verstndig, reflektierend, leidenschaftslos, flchtig in Begeisterung aufflammend und gewitzt in Indolenz ausruhend“ (72). Wie oben angedeutet, herrschen negative Verständigkeit und negative Reflexion in allen Lebensbereichen, welche das Individuum zu nichts machen, obwohl das Individuum durch sie glaubt, etwas zu vollbringen. Denn das Individuum handelt nicht mit Verständigkeit und Reflexion, sondern bleibt durch Verständigkeit (Klugheitsregel) und Reflexion stehen. Die Reflexion ist für ihn wie ein Gefängnis und hemmt ihn in einer doppelten Hinsicht: Zum einen durch die eigene Reflexion, zum anderen durch den Reflexionswiderstand der Umgebung. Falls das Individuum die erste Hürde überwindet, wird es von der zweiten festgehalten. Die verständige endlose Reflexion über die Handlungsmöglichkeiten ist mit einer Handlung ohne Entschluss, d. h. mit einer Handlung als Produkt des Umgebungseinflusses, gleichzusetzen. Für Kierkegaard bedeutet dies, die Gegenwart sei „in Richtung auf Klugheit und negative Kraftanwendung“ (73) bestimmt, in ihr bleibe das Individuum in der negativen Reflexion verhaftet, also in der „diplomatische[n] Aufgabe, die Zeit hinzuhalten, so daß es fort und fort verhindert würde, daß etwas geschehe, und es doch so aussähe als ob etwas geschehe“ (73 – 74). Während die Revolutionszeit eine Zeit der Handlung ist, ist die Gegenwart die Zeit der „Anzeige“ und „Bekanntmachung“ sowie die Zeit der „Vorwegnahme“. Was geschehen soll, wird auf die Weise antizipiert, dass Entscheidung und Handlungen auf die nächste Generation verschoben werden. Wird in der leidenschaftlichen Revolutionszeit, die alles zunichte machen und verändern will, die „Lebensgefahr der Entscheidung“ als Maßstab des Handelns zelebriert, wird sie in der leidenschaftslosen und reflektierenden Zeit, die alles so lassen will, wie es ist, als Zeitverschwendung verachtet: „Alles würde verständig in gegenseitiger Anerkennung der gegenseitigen Klugheit miteinander darüber einig werden, es sei der Mühe schon nicht wert, sich so weit hinaus zu wagen, ja, es sei unverständig und lächerlich; und alsdann würde man das

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I. Die Anerkennungsproblematik in Entweder/Oder

Wagestck der Begeisterung verwandelt in die Schaustellung von Kunstfertigkeit – um doch etwas zu tun, ,denn etwas muß man ja tun‘“ (76). Zwar produziert die Gegenwart eine Veränderung, welche aber die der Unentschiedenheit ist. Das ganze Dasein ist zweideutig, da das Individuum zu keinem Entschluss kommen kann. Und die Zweideutigkeit am Dasein ist ein Zeichen des Mangels an Charakter oder, was dasselbe ist, an Innerlichkeit. In einer langen Passage, in der der Begriff Leidenschaft in seiner positiven Form – d. h. als Prinzip der ideellen Vereinigung von Menschen – und in seiner negativen Form – d. h. als allumstoßende gewaltige Bewegung – beschrieben wird, erläutert Kierkegaard, was es heißt, dass im Verhältnis zueinander die Innerlichkeit auf Grund der Zweideutigkeit am Dasein fehlt: Wenn die Individuen (ein jedes im Besonderen) sich zu einer Idee wesentlich in Leidenschaft verhalten, und sodann im Verein sich zu der gleichen Idee wesentlich verhalten: so ist das Verhältnis das vollkommene und normale. Das Verhältnis ist individuell besondernd (ein jeder besitzt sich selbst für sich selbst) und ideell vereinigend. In der wesentlichen Gekehrtheit nach innen ist die schamhafte Scheu zwischen Mann und Mann, welche rohe Zudringlichkeit verhindert; in dem einträchtigen Verhältnis zur Idee ist die Erhabenheit, welche die Zufälligkeit der Einzelnen wieder vergißt über dem Ganzen. Dergestalt treten die Individuen einander niemals zu nahe in bestialischem Sinne, eben weil sie vereinigt sind in ideeller Fernheit. Die Eintracht der Besonderung ist das wohl instrumentierte volle Orchester. Sollen hingegen die Individuen sich lediglich en masse (mithin ohne die nach innen gekehrte ideelle Besonderung) zu einer Idee verhalten: so bekommen wir Gewaltsamkeit, Steuerlosigkeit, Zügellosigkeit; gibt es aber keinerlei Idee für die Individuen en masse und auch keinerlei individuell besondernde wesentliche Gekehrtheit nach innen: so haben wir Roheit. Die Harmonie der Sphären ist die Einheit davon, daß jeder Stern sich zu sich selbst und zum Ganzen verhält. Nimmt man eines der beiden Verhältnisse fort, so haben wir das Chaos (65 – 66).

Damit ist klar: Zweideutigkeit am Dasein bedeutet, dass man sich weder zu sich selbst noch zum anderen positiv verhält. Es fehlt da etwas, das das Individuum festhält – sein positives Selbstverhältnis. Damit meint Kierkegaard, dass „[d]ie Individuen sich nicht nach innen in Innerlichkeit von einander fort [kehren], nicht nach außen in Eintracht hin zu einer Idee, sondern gegenseitig widereinander in aufhaltender und trostlos zudringlicher nivellierender Wechselseitigkeit. Der Durchgang zur Idee ist versperrt, die Individuen sind sich selbst und eines dem andern wechselseitig in die Quere gekommen, der selbstische und der gegenseitige Reflexionswiderstand ist wie Schlick – und man sitzt nun darin fest“ (66 – 67). Die Grundfrage, die Kierkegaard in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob

1. Zeitdiagnose und indirekte Mitteilung

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Freiheit unter den Prämissen der wechselseitigen Gleichheit, wie die Moderne sie versteht, möglich ist. Denn in den zwischenmenschlichen Beziehungen herrscht die Einbildung einer wechselseitigen Gleichheit, über die vergessen wird, dass es prinzipiell eher um ein Verhältnis zwischen Verschiedenen geht. Die Anerkennung dieser Verschiedenheit, die der Moderne fehlt, bedeutet, dass man sich zuerst als jemand verstehen sollte, der ein Selbst ist und sich zum anderen als einem Selbst verhält. Wechselseitige Gleichheit ohne diese Selbsterkenntnis verwirrt das Verhältnis von Anfang an. Die Konsequenz daraus ist, dass man sich der Verantwortung entzieht, das Gesetz für das Handeln aus sich selbst entspringen zu lassen. Wenn man, so Kierkegaard, das Verhalten des Jünglings, welches hier die Haltung der Menschen in der modernen Zeit darstellt, mit dem des Weisen vergleicht, versteht man am besten die beschriebene Situation: Während der Weise sich selbst in das einbezieht, was er tut, fordert der Jüngling etwas, in das er sich selbst nicht einbeziehen will. Der Jüngling erhebt eine Forderung – und dies hat er vom Publikum gelernt –, die außerhalb seiner selbst liegt, eine Forderung, in der er sich nicht zum anderen verhält, sondern auf den anderen aufpasst: „[D]as Verhältnis ist sozusagen vorwurfsfrei, denn es ist eher im Begriff, aufzuhören, weil sie sich nicht wesentlich zu einander verhalten in dem Verhältnisse, sondern das Verhältnis ist ein Problem geworden, in welchem die Partner gleich wie im Spiel auf einander passen, anstatt sich zu einander zu verhalten, die Äußerung des Verhältnisses sich gegenseitig, wie man so sagt, in den Mund zählen, anstelle der entschlossenen Hingebung in dem Verhältnis […]“ (84).4 Das Verhältnis als Problem in der Moderne wird auch in den von Kierkegaard geplanten Vorlesungen über Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiçsen Mitteilung ausgearbeitet. In diesem Vorlesungsfragment versucht Kierkegaard im Anschluss an die in der Anzeige dargestellte Diagnose, die Lebensverhältnisse in der modernen Zeit im Lichte eines Kommunikationsproblems kritisch darzustellen. Der Ausgangspunkt seiner Analyse in dem Vorlesungsfragment verweist auf ein Charakteristikum der Zeit, und zwar dass sie unredlich und verwirrt ist. Die Unredlichkeit 4

Vgl. dazu auch A. Grøn Angst bei Søren Kierkegaard. Eine Einfhrung in sein Denken, Stuttgart 1999, S. 182ff.; W. v. Kloeden Sozialphilosophische Probleme im Denken Søren Kierkegaards in A. Cortese (Ed.) Liber Academiæ Kirkegaardiensis annuarius, Tom. II-IV 1979/81, København, Milano 1982, S. 55; A. Künzli Die Angst des modernen Menschen. Søren Kierkegaards Angstexistenz als Spiegel der geistigen Krise unserer Zeit, Zürich 1947, Kap. II.

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I. Die Anerkennungsproblematik in Entweder/Oder

und die Verwirrung werden erklärt als Konsequenzen einer Zeit, in der alles objektiv geworden ist und man daher nicht mehr weiß oder wissen will, was es heißt, Mensch zu sein, was es heißt, zu existieren (Pap. VIII 2 B 81,3; EC, 136).5 Eine solche Zeit fördert und fordert die Gleichgültigkeit gegenüber der Existenz. Anhand der Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Denken wird dies so veranschaulicht: „Während das objektive Denken gegen das denkende Subjekt und dessen Existenz gleichgültig ist, ist der subjektive Denker als existierender wesentlich an seinem eigenen Denken interessiert und existiert in ihm“ (AUN 1, 65). Das objektive Denken zielt auf das Was, auf das Resultat, das subjektive auf das Wie, d. h. auf das Werden. Die Wissenschaft hat zwar einen Bereich, innerhalb dessen ihre Fragen gerechtfertigt sind und die Mitteilung eines Wissens notwendig ist. Sobald sie ihre Grenze aber überschreitet und das Existieren in eine Sache des Wissens verwandeln will, verwirrt sie das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu den anderen. Das Existentielle hört auf im Werden zu sein und wird ein Produkt der Wissenschaft. Diese Gefahr der Gleichgültigkeit gegenüber der Existenz sieht Kierkegaard in der philosophischen Spekulation, die mit ihrem logischen System im Namen des Allgemeinen den Einzelnen vergessen hat.6 Diese Vergessenheit, spürbar in allen Lebensverhältnissen der modernen Zeit, in der wissenschaftlichen Literatur, in den früheren Prozessen der Demokratisierung und der Entstehung der Massenmediengesellschaft, diese Vergessenheit, dass man ein Selbst ist, ist das, was Kierkegaard mit dem Begriff „Verwirrung der modernen Zeit“ verbindet. Der Mensch befindet sich in Masse auf dem Weg zu seiner Auflösung, es fehlt ihm die Verbindung mit sich selbst, verwirrt bewegt er sich in die entgegengesetzte Richtung. Kierkegaard lässt den Gerichtsrat in Entweder/Oder diesen Zustand der Zeit 5 6

Vgl. dazu H. Diem Søren Kierkegaard. Spion im Dienst Gottes, Frankfurt am Main 1957, S. 18 – 22. Wie Theunissen bemerkt, geht es dabei um eine Kritik an Hegels Stellung als Denker. „Aber demgemäß, daß Kierkegaard überall primär am Verhältnis des Denkers selbst zu seinem Denken interessiert ist, geht es ihm in erster Linie nicht um die Kritik an inhaltlichen Positionen Hegels, von denen er nicht wenige teilt, sondern um eine Kritik an dessen existentieller Beziehung zu seinem eigenen System. Diese elementare Kritik kommt beispielhaft in der Bemerkung zum Ausdruck, daß Hegel einen prächtigen Palast erbaut habe, aber nicht darin wohne, sondern in einer Hundehütte vor dem Palast. Damit ist gemeint: Hegel lebt nicht in seinem Denken. Als einer, der sich mit dem Absoluten verwechselt, hat er eine Philosophie, die er gar nicht in sein Leben überführen kann [Hervorhebung von Theunissen – SMF]“ (vgl. M. Theunissen Kierkegaards philosophisches Profil in Kierkegaardiana 18, S. 11).

1. Zeitdiagnose und indirekte Mitteilung

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genau beschreiben, wenn dieser sich mit dem Problem beschäftigt, was es für das positive Selbstverhältnis des Individuums heißt, dass die moderne Zeit das Fundament der romantischen Liebe vernichtet: Unsere Zeit erinnert sehr an die Auflösung des griechischen Staatswesens: alles besteht weiter, und doch gibt es niemand, der daran glaubt. Das unsichtbare geistige Band, das ihm Giltigkeit verleiht, ist verschwunden, und so ist denn die ganze Zeit gleichermaßen komisch und tragisch; tragisch, weil sie am Untergehen ist, komisch, weil sie weiter besteht, denn stets wird doch das Verwesliche von dem Unverweslichen getragen, das Leibliche vom Geistigen, und wofern es sich denken ließe, daß ein entseelter Leib eine kleine Weile die gewohnten Funktionen üben könnte, würde er ebenso komisch wie tragisch sein. Doch laß nur die Zeit weiter zehren: je mehr sie von dem substantiellen Gehalt, der in der romantischen Liebe gelegen hat, verzehrt haben wird, mit um so größeren Schrecken wird sie auch dermaleinst, wenn diese Vernichtung nicht mehr gefällt, sich dessen bewußt werden, was sie verloren hat, und mit Verzweiflung ihr Unglück empfinden (EO2, 20).

Diese Art der Zeit, weiter zu bestehen, ist wiederum die Verwirrung, welche Kierkegaard auch „Selbstbetrug“ nennt und welche darin besteht, dass das Leben der modernen Menschen sich durch den Mangel an Naivitt und Primitivitt charakterisiert. Denn der moderne Mensch ist unfähig zwischen dem zu unterscheiden, was er versteht und dem, was er nicht versteht (Mangel an Naivität), unfähig, sich in ein ursprüngliches Verhältnis zu sich selbst zu bringen, aus dem er einen Eindruck von sich selbst bekommen und die wichtigsten Fragen stellen kann (Mangel an Primitivität).7 Der Mensch leidet an Selbstbestimmung in einer Zeit, die ihn glauben lässt, dass er – in Eile – viel wissen muss, um Mensch zu sein, die ihn den verschiedenen Formen der Massengesellschaft unterwirft. Dieser Zustand der Unredlichkeit geht darüber hinaus mit einem Demoralisationsprozess des Sozialen einher, der sich unter der Form des „Traditionellen“ etabliert hat. Dazu trägt, um eine der Formen des Traditionellen zu nennen, die Presse mit ihrer „abstrakten unpersönlichen Mitteilung“ bei, mit dieser Macht des Unpersönlichen, die sich aller Verantwortung entzieht: „[…] die Anonymität, als der höchste Ausdruck des Abstrakten, Unpersönlichen, Reulosen, Unverantwortlichen, [ist] ein Hauptquell der 7

„Jede menschliche Existenz muß Primitivität haben. Aber die primitive Existenz enthält immer eine Revision des Fundamentalen“ (Pap. VIII 2 B 89). Es handelt sich dabei darum, „das Allgemein-Menschliche, die fundamentalen Fragen zu revidieren. Dieses ist in tiefstem Sinne Redlichkeit. Und ganz der Primitivität und folglich des Revidierenden zu ermangeln, ganz ohne weiteres alles als gegebene Sitte und Brauch zu nehmen, folglich sich der Verantwortung dafür, daß man ebenso handelt, zu entziehen: ist Unredlichkeit“ (ebd.).

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modernen Demoralisation“ (SS, 51). Der einzelne existierende Mensch wird in der Mitteilung so abgeschafft, dass nur die Mitteilung selbst, das Objektive, das Was, das wichtigste ist (51 – 52). Der Mitteiler verschwindet mit der Macht des Unpersönlichen aus der Kommunikation, es findet permanent eine Aufopferung der Primitivität statt. Diese Demoralisation bringt das Phänomen mit sich, dass Menschen in „Masse“ und „samt Familie“ die Forderung der modernen Zeit befriedigen (59 – 64 und 84 – 85), sich sofort durch Wissen an den Augenblick anzupassen. Diese neue Art, mit den Weltverhältnissen umzugehen – „die Macht des Augenblicks und die Macht der Verbreitung“, in der „[d]ie Menge gar nichts [versteht], und die Journalisten verstehen für die Menge zu schreiben“ (Pap. VIII 2 B 87), bezeichnet eine Tendenz der modernen Zeit: „Alles wird herrsüchtig.“ (ebd.). „Die Mitteilung geschieht wie durch ein ungeheures Sprachrohr […]“ (82,10). Wie in der Anzeige hervorgehoben wurde, wird der Mensch durch die erforderte Anpassung und durch Wissen zur Menge, eine phantastische Abstraktion (82,9), er lebt in einer Zeit, die von ihm fordert, wie die anderen zu sein: „Mit der steigenden oberflächlichen Bildung und Kultur drängen sich die Menschen in den großen Städten zusammen. Gleich von der frühesten Kindheit an bekommt der Mensch keinen Eindruck von sich selbst. In den großen Städten hat man einen stärkeren Eindruck von einer Kuh als von einem Menschen, denn auf dem Lande kommen 2 bis 3 Kühe oder mehr auf einen Menschen, aber in den großen Städten kommen 1000 Menschen auf eine einzige Kuh. […] Solcherart ist die Verwirrung der modernen Zeit; entsetzlich schleppt sie die Masse des Traditionellen mit sich, das Geschlecht ist gefangen in der Verwirrung des Daseins wie nie zuvor. Das ist die Unredlichkeit dieser Zeit“ (87). In einer solchen Situation gilt es, als Gegenmittel gegen den Sinnverlust und gegen den Sinnentrug der Einzelne zu werden, die Individualität zu stärken.8 Dazu 8

Vgl. K. Löwith Von Hegel zu Nietzsche. Der Revolutionre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg 1986. Der Begriff des Einzelnen ist „ein Korrektiv gegen die sozial-demokratische ,Menschheit‘ und gegen die liberalgebildete ,Christenheit‘“ (269). Das Grundproblem in der Moderne besteht darin, dass mit der Idee der Assoziation in negativem Sinne, d. h. als „massenhafter Zusammenschluss“ verstanden, die Dimension der Individualität geschwächt wird. Die Konkretion des Selbst hängt nicht von Klassifizierungen, von dem „Gattungswesen-Werden“ ab. Vielmehr findet die Selbstverwirklichung in den bürgerlichen Lebensverhältnissen statt, „aber so, daß alle äußerliche Verhältnisse verinnerlicht werden sollen“ (ebd.). Vgl. auch dazu B. Henningsen Die Politik des Einzelnen. Studien zur Genese der skandinavischen Ziviltheologie. Ludvig Holberg, Sçren

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gelangt man aber erst durch das Negative. Oben wurde dies antizipiert, als gezeigt wurde, dass Publikum der Weg zu sich selbst ist, der Weg, durch den jeder erzogen werden soll. Kierkegaards Analyse der Gegenwart enthält damit auch ein positives Moment. Es handelt sich um die Herausforderung für das Individuum, seine Zeit in ihren negativen Lebensverhältnissen so zu übernehmen, dass es sich aus der Zerstreutheit sammeln kann, um zum Bewusstsein seiner selbst zu kommen, um sich zu sich selbst und zur Welt positiv zu verhalten. Zwar trägt die Gegenwart sowohl die negativen als auch die positiven Züge der Freiheit; die Gegenwart befindet sich aber noch nicht vom Negativen befreit, sondern von ihm bestimmt. Kierkegaard teilt mit Gyllembourg eine Art Optimismus in Bezug auf die therapeutische Funktion des Lebens in der Gegenwart für das Individuum. Am Ende ihres Buchs lässt Gyllembourg die Berührung von beiden Zeitaltern positiv oder zumindest hoffnungsvoll in einem Dialog herstellen, in dem zum einen die Idee einer Wiederkehr des Gleichen, und zum anderen der damit zusammenhängende Glaube an die Entwicklung des Menschengeschlechts hin zu seiner Vollkommenheit hervorgehoben werden. Ich möchte einen kleinen Teil dieses Dialogs am Ende des Buches zitieren: „Ja“, bemerkte Ferdinand, „und wenn man bedenkt, daß mittlerweile doch nur ein halbes Jahrhundert verflossen ist seit der Zeit, von der wir sprechen, ist es dann nicht so, als ob die Welt in diesem Zeitraum in vieler Hinsicht eine andre geworden wäre?“ „Ach“, sagte Lusard, „in eben dem Augenblick, da du dies sagst, ergreift mich gerade der Gedanke, daß im Leben alles sich so auffallend wiederholt. Wir sitzen hier an einem Septemberabend bei Mondenschein in einer mit Lichtern und Blumen geschmückten Laube und lesen jenes Buch, dessen erstes Erscheinen, nach dem, was mir meine Eltern berichtet haben, von ihnen auf ganz ähnliche Weise gefeiert worden ist, in einer Laube gleich dieser, an einem Abend gleich diesem […] Hier haben nun auch wir eine Wiederholung jener meinen Eltern so unvergeßlichen Abende gefeiert, jedoch – wie es immer im Leben ist – unter einer andern Gestalt; und in diesem Sinne scheint mir im Großen wie im Kleinen alles sich zu wiederholen. Ich gestehe, ich glaube nicht an ein neues goldenes Zeitalter hienieden in unserm irdischen Dasein, nicht an ein tausendjähriges Reich, in dem alle streitenden Mächte miteinander versöhnt werden. Das Menschengeschlecht bleibt im Grunde das gleiche, die gleichen Leidenschaften, die gleichen Ideen kehren wieder, aber in veränderten Gestalten“. „Aber doch“, rief Ferdinand aus, „in schöneren, klareren, freieren Gestalten. Ich freue mich in einem Zeitalter zu leben, welches, seinen Mängeln Kierkegaard, N. F. S. Grundtvig (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 26), Göttingen 1977, S. 129ff.

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zum Trotz, in so mancher Richtung so gewaltige Fortschritte macht. Ich bekenne mich zu dem Glauben, daß das Menschengeschlecht zwar unter Schwankungen, aber doch mit stetigem Schritt, sich jenem Ziel der Vollkommenheit annähert, das für ein irdisches Dasein denkbar ist“. „Amen!“, sagte Lusard, „nun ja, wir wollen es hoffen. Wir wollen, wackeren Seeleuten gleich, voller Vertrauen auf die starke Hand blicken, die das Steuer führt, obwohl wir sie allein durch Nebelschleier hindurch zu gewahren vermögen; und wir wollen den Anker festhalten, mögen die Wogen gleich wild wider ihn schlagen und drohen, ihn uns zu entreißen.“9

Die Hoffnung auf diese positive Entwicklung des Menschengeschlechts, kurz: auf ein gelingendes Gutsein, wird auch von Kierkegaard optimistisch ausgedrückt: Die Verhältnisse der begeisterten Handlung sind ja folgende: zuerst kommt die unmittelbare Begeisterung, dann folgt die Zeit der Klugheit, welche, vermöge des Sinnreichen der Berechnung, weil die unmittelbare Begeisterung keine Berechnungen anstellt, den Schein höheren Seins annimmt; und dann folgt endlich die höchste und intensivste Begeisterung, die hinter der Klugheit kommt und daher einsieht, was das Klügste ist, aber es zu tun verschmäht und eben damit die Intensität gewinnt in der Begeisterung der Unendlichkeit (LA, 118 – 119).

Dass die Struktur der Welt auch den Zugang zu sich selbst erlaubt, ist von großer Bedeutung. Als existentieller Denker versteht Kierkegaard seine Aufgabe, auf die Möglichkeit der Verwirklichung der Freiheit hin zu der genannten positiven Entwicklung des Menschengeschlechts aufmerksam zu machen. Dies erfordert aber eine neue Kommunikationsform, welche den Einzelnen von dem Sinnentrug entbinden und vor den Sprung zu sich selbst führen kann. Diese neue Kommunikationsform, Kierkegaards maieutische Methode, ist die indirekte Mitteilung. Sie versucht, wie sich gleich zeigen wird, eine Antwort auf die fundamentale Frage zu geben, ob das mitgeteilt werden kann, was permanent im Werden ist, seinen Ursprung in der Innerlichkeit des Existierenden hat und daher im Grunde genommen nicht kommunizierbar ist. Genauer gesagt geht es um die Frage, ob es eine Mitteilung des Unmitteilbaren geben kann. Dieses Unmitteilbare nennt Kierkegaard die Innerlichkeit, die Aneignung. Die Schwierigkeit, die damit zusammenhängt, wird so ausgedrückt: „[D]ie Wahrheit ist die Innerlichkeit; es gibt objektiv keine Wahrheit, sondern die Aneignung ist die Wahrheit“ (AUN 1, 69). Hinzu kommt: „[…] daß nicht 9

Abschluss des Buches Zwei Zeitalter übersetzt aus den Dänischen in Vorbericht des bersetzers ber Thomasine Gyllembourg: „Zwei Zeitalter“ 1845 in Eine literarische Anzeige, S. XXXI-XXXII.

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die Wahrheit die Wahrheit [ist], sondern daß der Weg die Wahrheit [ist], d. h. daß die Wahrheit nur im Werden [ist], im Prozeß der Aneignung, daß es also kein Resultat [gibt]“ (70).10 Was Kierkegaard hier meint, ist, dass es in Bezug auf die Existenz keine Mitteilung von Wahrheit im Sinne der Wissenschaft geben kann, dass das objektive Denken nichts mit der Subjektivität zu tun hat. Eine solche Mitteilung wäre das Unterbrechen der Aneignung, die Objektivierung der Wahrheit. Unter zwei Gesichtspunkten ist diese Problematik als Kritik am spekulativen Denken zu fassen: „a) ein logisches System kann es geben; b) aber ein System des Daseins kann es nicht geben“ (101). Die Mitteilung muss daher indirekt sein. Dass Kierkegaard überhaupt von Mitteilung spricht, scheint auf Grund der genannten Schwierigkeit der Mitteilung des Unmitteilbaren widersprüchlich zu sein. Wie die maieutische Methode der indirekten Mitteilung und ihre therapeutische Funktion11 zu verstehen sind, möchte ich jetzt näher betrachten. Zuerst soll die Struktur des Mitteilens, wie Kierkegaard sie versteht, in Betracht gezogen werden. Nach dieser Struktur besteht das Mitteilen aus vier Elementen: 1) Dem Gegenstand, 2) dem Mitteiler, 3) dem Empfnger, und 4) der Mitteilung. In Bezug auf diese vier Elemente werden folgende Distinktionen gemacht: Wird in der Mitteilung die Reflexion auf den Gegenstand gerichtet, handelt es sich dabei um Wissens-Mitteilung, welche immer direkt ist. Die anderen Elemente des Mitteilens treten in den Hintergrund, da das Objektive das Wesentliche ist. Wird die Reflexion dagegen auf die Mitteilung gerichtet, so dass es keinen Gegenstand für die Reflexion gibt, handelt es sich um Kçnnens-Mitteilung, welche indirekt ist. Der Mitteiler verhält sich maieutisch zu dem Empfänger. Das Können, das hier mitgeteilt wird, kann ein ästhetisches Können (wesentlich indirekte Mitteilung von Fertigkeiten), ein ethisches Können (unbedingt indirekte Mitteilung eines Können-Sollens) oder ein religiöses Können (wesentlich direkt-indirekte Mitteilung eines KönnenSollens, d. i. in der Mitteilung gibt es zuerst ein Wissensmoment) sein: Wenn in der Reflexion auf die Mitteilung gleichmäßig auf Mitteiler und Empfänger* reflektiert wird, dann haben wir Könnens-Mitteilung im allgemeinen Sinne, Unterricht in Kunst, und alles was dazugehört.** 10 Zitat leicht geändert. 11 Zum Verständnis des Verhältnisses von Diagnose und Therapie vgl. A. Honneth Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualitt der Sozialphilosophie in ders. Das Andere der Gerechtigkeit. Aufstze zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 2000, S. 11 – 69. * [am Rand im Vorlesungsfragment] „Empfänger und Mitteiler stehen gleichrangig einander gegenüber, z. B. der Lehrer in einer Kunst und der Lernende“. ** [am Rand im Vorlesungsfragment] „Mitteilung ästhetischen Könnens“.

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Wenn in der Reflexion auf die Mitteilung auf den Empfänger reflektiert wird, so haben wir ethische Mitteilung*. Maieutik. Der Mitteiler verschwindet gleichsam, macht sich nur dienend, um den anderen zum Werden zu verhelfen. Ethische Mitteilung ist Könnens-Mitteilung, doch näher bestimmt: Können-Sollen, aber die Mitteilung ist nicht in Richtung auf Wissen, sondern auf Können. Wenn die ethische Mitteilung zugleich ein Wissensmoment in sich als ihr Erstes hat, haben wir ethisch-religiöse**, in specie christliche Mitteilung. Durch dieses Wissensmoment unterscheidet sie sich von ethischer Mitteilung im strengeren Sinne, aber hauptsächlich gehört sie doch nicht unter die Wissens-Mitteilung, sondern unter die Könnens-Mitteilung, näher bestimmt unter das Können-Sollen, die Mitteilung geschieht nicht in Richtung auf Wissen, sondern auf Können, das Wissen, welches mitgeteilt wird, ist in dieser Mitteilung ein Vorläufiges (Pap. VIII 2 B 89).

Während also die direkte Mitteilung eine Wissens-Mitteilung in der Betrachtung eines Gegenstandes ist, ist die indirekte Mitteilung, als gegenstandslose Mitteilung, Könnens-Mitteilung in Aneignung.12 Dort handelt es sich vor allem um das Was, das doziert werden kann und allen zugänglich ist; hier um eine Realisation, um etwas, das nicht mitgeteilt werden kann, weil es nur den Einzelnen betrifft. Wichtig ist dabei auch, dass die Mitteilung von Wissen im Phantasie-Medium stattfindet, die Mitteilung von Können dagegen im Medium der Wirklichkeit. Der wesentliche Unterschied beider Formen der Mitteilung liegt in der Distinktion zwischen dem Quantitativen – viel Wissen – und dem Qualitativen – der Selbsterkenntnis. Beide Kommunikationsformen haben, wenn alles in Ordnung ist, ihren eigenen Geltungsbereich und die Kenntnis und Aufrechterhaltung dieser Ordnung ist, wie oben gezeigt, ein Zeichen des gesunden geistigen Zustands einer Zeit. Im Gegensatz dazu ist eine Zeit, die diese * [am Rand im Vorlesungsfragment] „ethisches Können“. ** [am Rand im Vorlesungsfragment] „religiöses Können“. 12 Wir haben es hier mit einem hermeneutischen Problem zu tun, nämlich dem der Mitteilung eines Kçnnen-Sollens; es geht „weder um die direkte Übermittlung eines bestimmten Sachwissens, das in objektiver Einstellung zur Sache gewonnen wird und präsent ist, noch auch um die Vermittlung einer bestimmten Geschicklichkeit (eines bloßen ,Könnens‘), zu der ich mich aufgrund von Unterweisung und im praktischen Umgang je nach vorhandenen Anlagen und Interessen durchbilden kann, sondern um ein ,Können‘, in das ich mich bringen ,soll‘, sofern ich zu ihm verpflichtet bin“ (vgl. H. Fahrenbach Kierkegaards ethische Existenzanalyse als „Korrektiv“ der Kantisch-idealistischen Moralphilosophie in M. Theunissen / W. Greve Materialien zur Philosophie Sçren Kierkegaards, Frankfurt am Main 1979, S. 232).

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Distinktion vergisst, eine desorientierte Zeit. Kierkegaards Methode der indirekten Mitteilung lässt sich verstehen als Korrektiv gegen diese Vergessenheit, genauer gesagt gegen die Macht des Unpersönlichen in der modernen Zeit. Erst wenn man sich klar macht, dass es eine KönnensMitteilung gibt, wird deutlich, dass das Selbstwerden keine Sache des Wissens ist, sowie es auch keine „Wissenschaft des Ethischen“ und der Existenz geben kann. Um der existierende Einzelne zu werden, braucht der Mensch kein Wissen, sondern muss sich zu sich selbst verhalten, um darauf aufmerksam zu werden, dass er ein Selbst ist. Und dieses Sichverhalten zur Existenz, als Aufgabe des Menschen verstanden, ist das Ethische. „Das Ethische setzt voraus, daß jeder Mensch weiß, was das Ethische ist, und weshalb? Weil ja das Ethische fordert, daß jeder Mensch es in jedem Augenblick verwirklichen soll, aber dann muß er es ja wissen.* Das Ethische beginnt nicht mit Unwissenheit, die in Wissen verwandelt werden soll, sondern beginnt mit einem Wissen, und fordert ein Realisieren“ (81,10).13 Die Herausforderung für eine Theorie der Mitteilung, die sich an einem solchen Anspruch orientiert, ist, den Empfänger zum Bewusstsein seiner selbst und zum Sichverhalten zur Existenz zu provozieren.14 Es geht, so möchte ich stark akzentuieren, um das Provozieren zur ethischen Intentionalitt und die damit zusammenhängende Befreiung von den negativen Phänomenen der Freiheit.15 Um diese These eines Provozierens zur ethischen Intentionalität plausibel zu machen, müssen wir uns dem Verhältnis des Mitteilers zum Empfänger, also der Strategie des indirekten Mitteilungsverfahrens, zuwenden. Die Mitteilung enthält in sich ein Moment des Maieutischen und der Doppel-Reflexion.16 Das Maieutische * [am Rand im Vorlesungsfragment] „Prometheus, der allen Menschen gleichermaßen das Ethische gab“. 13 Zum Verhältnis von Wissen und Anerkennen s. unten III. Teil, Kap. 1. 14 Vgl. W. Greve Das erste Stadium der Existenz und seiner Kritik. Zur Analyse des sthetischen in Kierkegaards Entweder/Oder II in M. Theunissen / W. Greve, a.a.O., S. 24ff. 15 S. unten II. Teil, Kap. 3 und III. Teil, Kap. 1. 16 Zum Verständnis des Maieutischen und der Doppel-Reflexion vgl. B. Daise Kierkegaard’s Socratic Art, Macon, Georgia 1999, S. 1 – 35; W. Anz Die platonische Idee des Guten und das sokratische Paradox bei Kierkegaard in R Wiehl (Hg.) Die antike Philosophie in ihrer Bedeutung fr die Gegenwart. Kolloquium zu Ehren des 80. Geburtstagen von H. G. Gadamer, Heidelberg 1981, S. 23 – 36; H. Deuser Kierkegaard. Die Philosophie des religiçsen Schriftstellers, Darmstadt 1985; W. Greve Kierkegaards maieutische Ethik, Frankfurt am Main 1990; H. Fahrenbach, a.a.O., S. 232 – 234.

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besteht darin, den anderen von seinem Standort her zum Bewusstsein seines falschen Wissens, zum absoluten Ausgangspunkt „ich weiß, das ich nichts weiß“ zu bringen, aber so, dass die Hilfe verborgen bleibt. Der Empfänger soll so provoziert werden, dass er kein Anhänger oder Schüler wird. Der Mitteiler muss die Kunst beherrschen, sich in der Mitteilung auf eine Art unsichtbar zu machen, so dass er inkognito bleibt. Diese Kunst, dem anderen zum Werden zu verhelfen, hat als Ausgangspunkt eine Täuschungsbewegung. Kierkegaard beschreibt diese Bewegung als ein „[H]ineintuschen in das Wahre“ (SS, 6), als ein notwendiges Täuschen, um sich dem Empfänger zu nähern, und ihn glauben zu lassen, dass er im Besitz der Wahrheit ist. „Täuschen“ heißt, „daß man nicht unmittelbar mit dem beginnt das man mitteilen will, sondern damit beginnt die Einbildung des andern für bare Münze zu nehmen“ (49). Ferner, „[d]aß man, wenn es einem in Wahrheit gelingen soll, einen Menschen an einen bestimmten Ort zu führen, vor allen Dingen darauf achten muß, ihn dort zu finden, wo er ist und allda zu beginnen hat“ (38). Um zu helfen, muss man sich in die Situation des anderen versetzen – „verstehen, was er versteht“ (ebd.), statt herrschen, dienen zu wollen. Denn das direkte Verfahren, die Nötigung und der Zwang produzieren das entgegengesetzte Resultat, nämlich, dass der Empfänger neue Wege findet, um in seinem So-Sein zu bleiben: Nimm einen Verliebten, der unglücklich wurde in seiner Liebe, nimm an, es sei wirklich unverantwortlich, unfromm, unchristlich, wie er sich seiner Leidenschaft hingibt – wo du nicht so mit ihm beginnen kannst, daß er eine wahre Linderung darin findet, mit dir vom seinem Leiden zu reden, so, daß du, mit dem was du hinsichtlich seines Leidens hinzufügst, ihn beinahe reich machst durch dichterisches Erfassen, du, der du doch nicht in dieser Leidenschaft bist und ihn gerade von ihr losmachen willst: kannst du das nicht, so kannst du ihm auch nicht helfen; er verschließt sich vor dir, er schließt sich ein in sein Innerstes – und dann predige du nur auf ihn ein. Du wirst vielleicht mit der Gewalt deiner Persönlichkeit ihn zwingen können, dir zuzugestehen, daß er unrecht habe: o, mein Lieber, im nächsten Augenblick schleicht er von dannen auf anderm, auf heimlichem Wege zum Stelldichein mit der versteckten Leidenschaft, nach der er sich nun desto mehr sehnt, ja, es ist ihm beinahe angst geworden, ob sie etwa etwas von ihrer verführerischen Hitze verloren habe, denn nun hast du durch dein Gebaren ihm dazu geholfen noch einmal mehr verliebt zu sein, nämlich in seine unglückliche Leidenschaft – und dann predige du nur! (39).

Kierkegaard ist der Überzeugung, dass die Selbsterkenntnis, welche die Indirektheit provozieren soll, nicht ein Eingeständnis im intersubjektiven Dialog sein soll, sondern dem Einzelnen als eigene Leistung erscheinen soll. Man kann sehr wohl sagen, dass das, was hinter der Mitteilung steht, die

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„Reflexion“ in ihrer negativen Form ist.17 Wo der Mensch durch eine solche dialektische Methode des Entbindens aus seiner Einbildung bzw. seinem Sinnentrug hingebracht wird, ist vor seine Selbstbestimmung. Ob er diese Möglichkeit ergreift oder nicht, wird ihm überlassen. Die hier provozierende Intentionalität ist damit die ethische Intentionalität des Handelnden, der sich allein für eine Lebensform entschließt und frei wird. Das maieutische Moment hängt außerdem mit dem Moment der DoppelReflexion zusammen. Darunter soll die Einbeziehung des Mitteilenden in seine Mitteilung verstanden werden, d. h. dass der Mitteiler in dem existiert, was er lehrt (EC, 135ff.). Denn der Mitteiler als subjektiver Denker ist im Werden, in der Innerlichkeit, in der Reflexion, die ihn konstituiert: „Die Doppelreflexion liegt schon in der Idee der Mitteilung selbst, daß nämlich die in der Innerlichkeit der Isolation existierende Subjektivität […] sich mitteilen will, also daß sie zu gleicher Zeit ihr Denken in der Innerlichkeit ihrer subjektiven Existenz haben und doch sich mitteilen will“ (AUN 1, 65, FN Kierkegaards). Eine gut gelungene Mitteilung setzt ein Sichverhalten zu sich selbst und zum anderen im Verhältnis voraus. Die Forderung an den Mitteilenden, um dies nochmals zu betonen, ist, mit dabei zu sein, in dem, was man mitteilt: Jemanden erziehen bedeutet, sich selbst erziehen (EC, 135 – 139). Nach dieser Logik ist die provozierende Intentionalität nicht nur die ethische Intentionalität des Handelnden, sondern auch das permanente Aktualisieren der eigenen ethischen Intentionalität: Im Werden und Aneignen kommt man ständig zum absoluten Ausgangspunkt, nämlich in jedem Augenblick das Ethische verwirklichen zu wollen. Mit anderen Worten, es wird eine Intentionalität provoziert, die sich ethisch betrachtet im Leben des Mitteilenden ebenfalls herauskristallisiert, da er auch ein existierender Mensch ist.18 Zusammenfassend sind die Bestimmungen der indirekten Mitteilung folgende: 1) Dass es bei der ethischen Mitteilung nicht um eine Wissensmitteilung, sondern um eine Könnensmitteilung geht, 2) dass dies voraussetzt, dass der Mensch um das Ethische weiß und er deshalb durch 17 „Der dialogischen Dialektik entspricht als Haltung des Gesprächspartners die Ironie, hinter welcher der Fragende seine eigene Positivität verbirgt, um jedes direkte Verhältnis zwischen Mensch und Mensch zu verhindern, damit der andere frei gemacht wird zur Selbstwirksamkeit. Auf diese Weise wird die Idealität in der Existenz des Gesprächspartners ausgelöst. Die Ironie ist das Incognito, hinter der sich die totale Umwandlung vollzieht, welche von der Idealität gefordert wird [Hervorhebung von Diem – SMF]“ (H. Diem, a.a.O., S. 20). 18 Dies wird genau im I. Teil, Kap. 2 bis 5, im II. Teil, Kap. 3 und im III. Teil, Kap. 1 betrachtet.

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Erziehung indirekt zur Selbsterkenntnis gebracht werden kann, und 3) dass sich dafür der Mitteiler hinter der Mitteilung, in die er sich auch einbezieht, maieutisch verstecken soll, um den Empfänger darauf aufmerksam zu machen, dass er ein Selbst ist, um ihm zu helfen, den Mängeln der modernen Zeit zum Trotz frei zu werden. Das Buch, in dem Kierkegaard seine Methode meisterhaft gemäß diesen Bestimmungen anwendet, ist Entweder/Oder, welches als das anspruchsvolle Projekt beschrieben werden kann, den Leser durch alle möglichen fiktiven und dichterischen Mittel zum Erwachen seiner selbst zu provozieren. Kierkegaard perfektioniert die Fiktion, wenn er das Buch im Kopenhagener Buchhandel in zwei Bänden (Entweder/Oder 1 und Entweder/Oder 2) unter dem Pseudonym Victor Eremita veröffentlicht, der im Vorwort behauptet, der Herausgeber von den in der Schublade seines Sekretärs versteckten Papieren eines Ästhetikers A und eines Gerichtsrats B zu sein. Das Inkognito, die gewünschte Distanz zu dem Leser, nach der die indirekte Mitteilung strebt, wird durch das Pseudonym und durch die Papiere von A und B gewonnen. Darüber hinaus zielt die Form des Buchs strategisch darauf, zum einen den Leser durch die Papiere von Ästhetiker A dort zu finden, wo er ist (EO1), und zum anderen den Leser durch die Papiere von Gerichtsrat B auf die ethische Mitteilung aufmerksam zu machen (EO2).19 Die Papiere von A sind eine Sammlung von ästhetisch-lyrischen Aufsätzen und von Reflexionen über die Kunst, sowohl im Sinne einer Theorie der Kunst und des Schönen als auch im Sinne der Kunst als Lebensform. Durch sie versucht Kierkegaard, den Leser dazu zu bringen, sich mit der von Ästhetiker A beschriebenen Welt zu identifizieren, damit er sich sozusagen wie zu Hause fühlt. Alles was Kierkegaard über die moderne Zeit kritisch festgestellt hat, kommt hier mit der Maske des richtigen Lebens vor. Diese Identifizierung mit dem ästhetischen Leben nimmt den Leser gefangen und bringt ihn – hineintu19 Kierkegaards Werk ist, wie er selbst sagt, von Anfang an von dieser maieutischen Aufgabe bestimmt. „Dies Maieutische liegt in dem Verhältnis zwischen ästhetischer Schriftstellerei als Anfang, und der religiösen als Ziel und Ende. Der Anfang wird gemacht mit dem Ästhetischen, darin vielleicht die meisten ihr Leben haben, und nunmehr wird das Religiöse so geschwinde angebracht, daß die, welche, vom Ästhetischen bewogen, sich entschließen mitzugehn, plötzlich mitten in den entscheidenden Bestimmungen des Christlichen stehen, dazu veranlaßt zum mindesten aufmerksam zu werden“ (SS, 6). Zur Rolle der Pseudonymität vgl. J. Sløk Die Anthropologie Kierkegaards, Kopenhagen 1954, S. 12ff.; J. Schmidt Vielstimmige Rede vom Unsagbaren. Dekonstruktion, Glaube und Kierkegaards pseudonyme Literatur (Kierkegaard Studies: Monograph Series, Bd. 14), Berlin/New York 2006, S. 107 – 135.

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schend in das Wahre – zu einem bestimmten Ort, zum Existentiellen. Dieser Ort wird durch die Papiere von B beschrieben, zwei an den Ästhetiker A gesendete Briefe, in denen der Gerichtsrat B sich als Vertreter einer höheren Lebensanschauung gegenüber der des Ästhetikers vorstellt. Ziel des Gerichtsrats B ist, dem Ästhetiker A mitzuteilen, wie diese höhere Daseinsstufe zu übernehmen ist, indem er ihm bewusst zu machen versucht, dass jede ästhetische Lebensanschauung unvollständig und daher eine verfehlte Lebensform ist, und dass sie ihre Vollständigkeit nur im Ethischen erreichen kann. Das Ziel, das Individuum zu dieser Erkenntnis, also zu der Selbstreflexion über sein eigenes Leben zu führen, steht im Zentrum der indirekten Mitteilung als Kommunikationstechnik. In diesen Briefen werden alle beschriebenen Mittel der indirekten Mitteilung in Bezug auf den Leser benutzt, der als Beobachter an der Mitteilung teilnimmt. Indem der Leser darauf aufmerksam wird, dass die ästhetische Lebensanschauung von A ethisch betrachtet ein Selbstbetrug ist, soll er, so die Strategie, zu diesem Eingeständnis gelangen, da er sich von Anfang an mit A identifiziert hatte. Was die provozierende Intentionalität durch die Indirektheit leistet, ist eben das In-Kraft-Setzen dieser Bewegung zu sich selbst, welche den Leser vor die Möglichkeit der Verwirklichung der Freiheit stellt. Ob er diese Möglichkeit ergreift oder nicht (er könnte sich auch von As Betrachtungen leiten lassen), soll seine freie Entscheidung sein. Am Schluss des Vorworts lässt Kierkegaard Victor Eremita deutlich betonen, dass in der dargestellten Auseinandersetzung der Lebensanschauungen von A und B der Entschluss20 beim Leser liegt: Man trifft zuweilen auf Novellen, in denen bestimmten Personen entgegengesetzte Lebensanschauungen vortragen. Das endet dann gerne damit, daß der eine den andern überzeugt. Anstatt daß also die Anschauung für sich sprechen muß, wird der Leser mit dem historischen Ergebnis bereichert, daß der andre überzeugt worden ist. Ich sehe es für ein Glück an, daß in solcher Hinsicht diese Papiere eine Aufklärung nicht gewähren. Ob A seine ästhetischen Abhandlungen verfaßt habe nach dem Empfang der Briefe von B, ob seine Seele nach jener Zeit fortgefahren habe, sich in ihrer wilden und wirren Unbändigkeit zu tummeln, oder ob sie zur Ruhe gekommen sei, darüber sehe ich mich nicht imstande eine einzige Aufklärung mitzuteilen, sintemal die Papiere keine enthalten. Auch ist keinerlei Wink zu finden, wie es B ergangen sei, ob er die Kraft besessen habe, an seiner Anschauung festzuhalten oder 20 In Einbung im Christentum heißt es: „Es gibt kein unmittelbares Mitteilen und kein unmittelbares Empfangen: es gibt eine Wahl“ (EC, 143) und deshalb ist die Aufgabe des Maieutikers, „den andern Menschen von sich fortzuwenden, um zu machen, daß er sich nach innen kehre, um ihn frei zu machen, nicht um ihn an sich zu ziehen“ (145).

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nicht. Wenn das Buch gelesen ist, sind A und B vergessen, lediglich die Anschauungen stehen einander gegenüber und erwarten keine endliche Entscheidung in bestimmten Persönlichkeiten (EO1, 15 – 16).

Das Stattfinden der Entscheidung wird in Entweder/Oder die Wahl genannt. Die Wahl als das, was am Anfang des moralischen Handelns steht, und als Voraussetzung eines gut gelungenen und geführten Lebens in Kommunikation mit den anderen, hat einen normativen Charakter: Sie fundiert positive zwischenmenschliche, gegenseitige Beziehungen. Der Weg der Befreiung ist somit ein Weg der Anerkennung, der vom Ästhetischen zum Ethischen führt, ein Weg, dem ein positives Selbstverhältnis zugrunde liegt. Im Folgenden möchte ich diesem Weg mit der Absicht nachgehen, zum einen Kierkegaards impliziten Begriff der Anerkennung in Entweder/Oder zu rekonstruieren,21 und zum anderen seine Intention, den Leser zur Selbstwirksamkeit zu provozieren, als eine Form der Anerkennung22 darzustellen.

2. Kritik der ästhetischen Dimension: Das Problem der Selbstbestimmung Die Darstellung des Ästhetischen soll wie bereits angedeutet im Kontext der Strategie der indirekten Mitteilung verstanden werden. Einerseits wird das Ästhetische als Lebensform aus der Perspektive von Ästhetiker A künstlerisch inszeniert. Die Papiere von A beschäftigen sich nicht nur mit Reflexionen über die schöne Kunst, sondern auch mit der Entfaltung und Erfassung des eigenen Lebens als Kunstwerk unter ästhetischen Kategorien. Das Glück des Lebens wird im Genuss und dessen Steigerung gesucht, wofür Ironie, Kreativität und Selbstbegrenzung notwendig sind.23 Das ästhetische Leben entspricht in jedem seiner Stadien dem durch den Mangel an Naivität und Primitivität bestimmten Leben in der modernen Zeit. Aus der Perspektive des Gerichtsrats B wird das Ästhetische andererseits mit der Appellation an ethische Kategorien kritisch dargestellt. Zwar versteht B das Ästhetische als einen Bestandteil der menschlichen 21 S. I. Teil, Kap. 2 bis 5. 22 S. III. Teil. 23 Ironie, Kreativität und Selbstbegrenzung sind das, was Friedrich Schlegel für die Poetisierung des eigenen Lebens als Kunstwerks verlangt. Vgl. dazu F. Schlegel, Gesprch ber die Poesie, in: ders., Werke in zwei Bnden, Zweiter Band, Berlin, Weimar 1980, S. 159 – 166.

2. Kritik der ästhetischen Dimension: Das Problem der Selbstbestimmung

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Existenz, der das Leben bereichert; das Ästhetische als Lebensform bedeutet aber, das Leben nach einem Prinzip zu führen, das einen permanenten Bruch mit der Umwelt impliziert. Die anderen sind da, um die Lust zu potenzieren, nicht aber als Mitmenschen, denen gegenüber eine Verantwortung zu übernehmen ist. Die Papiere von B machen auf die Fehlentwicklungen bzw. auf die negativen Phänomene innerhalb des Ästhetischen aufmerksam und stellen das ethische Leben als Korrektiv dar. Werden die Perspektiven von A und B, d. i. die kontemplativ teilnahmslose Haltung und die inklusiv verantwortliche Haltung, in Betracht gezogen, so kann das Ästhetische als Existenzform, die durch ihre Übernahme im Ethischen zu überwinden ist, im Rahmen der Kommunikationsstrategie genau verstanden werden. Mit der Darstellung von verschiedenen ästhetischen Lebensanschauungen in Entweder/Oder werden unvollständige Existenzformen bzw. Lebensstadien innerhalb des Ästhetischen thematisiert, in denen ein falsches oder unvollständiges Selbstverständnis zu finden ist. Der Mangel an Selbstverständnis und an Selbstbezug wird im Prinzip unter den Figuren der Verzweiflung, der Schwermut und der Angst als pathologisch dargestellt, so dass das Nichtselbstseinkönnen als eine Krankheit, die Unfähigkeit ein soziales Wesen zu sein, postuliert wird. Die Analyse der ästhetischen Existenz vertieft in das beschriebene Leben der modernen Zeit, in der jeder Existenzform permanent die Gefahr des Scheiterns innewohnt und in der die Fragen nach dem guten Leben und nach dem richtigen Verhalten nicht angemessen zu beantworten sind. Der Ausgangspunkt der Argumentation ist damit negativ, d. i. das Fortschreiten aus dem Ästhetischen und Unvollständigen und dessen Bestimmungen bis zum Ethischen an sich selbst.24 Dass die Analyse gerade mit dem Ästhetischen als unvollständiger Lebensform beginnt, heißt, dass jene vorherige Dimension aller Sozialstruktur in Betracht gezogen wird, in der die Selbstbeziehung und die zwischenmenschlichen Beziehungen einen entzweiten Charakter haben. 24 Kierkegaards Analyse der ästhetischen Dimension und ihrer Erscheinungsformen liefert die notwendigen Elemente, um vom Ästhetischen zum Ethischen fortzuschreiten und um die Notwendigkeit eines solchen Übergangs zu erklären. Die Darstellung von verschiedenen Existenzsphären – dem Ästhetischen, dem Ethischen und dem Religiösen – richtet sich im Prinzip strategisch darauf aus, eine statische Reflexion der menschlichen Existenz zu geben, als ob die Entwicklung nur innerhalb jedes Stadiums ohne Verbindung mit den anderen wäre. Tatsächlich aber ist die Untersuchung jeder Dimension progressiv, so dass es nur in dem ständigen Fortschreiten eines Stadiums zum anderen möglich ist eine vollständige Existenzauffassung zu erhalten.

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Das Ästhetische bezeichnet jedoch keinen ursprünglichen Zustand von ständiger Unsicherheit im Sinne des Hobbesschen Modells eines Naturzustandes. Die Verhältnisse innerhalb des Ästhetischen sind auch nicht dem Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen entsprechend gekennzeichnet, in dem Sinne, dass im Ästhetischen das eigentliche menschliche Unmoralische enthalten wäre. Das Ästhetische ist vor allem eine Lebensform, welche die Unfähigkeit bezeichnet, sich ein bedeutsames Selbstverständnis zu bilden. Das Fehlen an Kompromissen und an Durchsichtigkeit, die permanente Flucht vor der Wirklichkeit, die Entwicklung der Persönlichkeit im Zusammenhang mit äußeren Bedingungen, die Verdeckung des eigenen sozialen Zustandes vor sich selbst, das Fehlen eines Zusammenhangs im Leben und das willkürliche oder kontingente Handeln, alle diese Aspekte möchte ich mit der Grundthese verbinden, dass sich in Kierkegaards Konstruktion des Ästhetischen alle Entwicklung als Mangel an Selbstbestimmung interpretieren lässt. Um diesen mangelhaften Charakter der Selbstbeziehung und der zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb des Ästhetischen angemessen zu verstehen, soll die dem Ästhetischen zugrundeliegende Struktur genau dargestellt werden. Kierkegaard definiert das Ästhetische als das unmittelbare Stadium der Existenz und die Verhältnisse innerhalb dessen nämlich so, dass das Individuum innerhalb des Ästhetischen unmittelbar ist, was es ist, dass sein Handeln nicht vom Bewusstsein vermittelt ist, dass die äußeren Bedingungen in jedem Augenblick seine Situation bestimmen und es deswegen nicht frei sein kann.25 Das Ästhetische als das Unmittelbare bezeichnet 25 Wenn der Gerichtsrat erklärt, dass im Ästhetischen „der Geist nicht bestimmt ist als Geist, sondern als unmittelbar bestimmter“ (EO2, 192), und dass daher der Geist sogar in seinem höchsten Geistigkeitsgrad der Unmittelbarkeit, dem Natürlichen, verhaftet bleibt, wird die Verbindung zu Fichtes und Hegels Deutung des Begriffs Unmittelbarkeit als Abhängigkeit von der Natur (Fichte) oder als Unbestimmheit (Hegel) deutlicher. So erklärt Fichte, „dass sie [die Menschen, die nicht nach der Vernunft handeln] überhaupt nicht unter ihrer eignen Botmäßigkeit, sondern unter der Gewalt der Natur stehen, und dass nicht sie selbst es sind, sondern diese Natur in ihnen, die das erstere mit aller ihrer Macht sucht, und das letztere flieht, ohne Rücksicht, ob es übrigens gut oder böse sei. Ich weiß, dass sie, nachdem sie nun einmal sind, was sie sind, nicht um das mindeste anders handeln können, als sie handeln; und ich bin weit entfernt, gegen die Notwendigkeit mich zu entrüsten, oder mit der blinden und willenlosen Natur zu zürnen. Allerdings liegt darin eben ihre Schuld und ihre Unwürde, dass sie sind, was sie sind, und dass sie, anstatt frei, und etwas für sich zu sein, sich dem Strome der blinden Natur hingeben“ (vgl. J. G. Fichte Die Bestimmung des Menschen, Hamburg 2000, S. 155). Auch Hegel

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deshalb die Sphäre des Natrlichen, wo die Affekte, Neigungen und Leidenschaften über das Leben des Menschen ohne die Vermittlung des Bewusstseins herrschen. Die eigene Selbsterhaltung und Selbstentfaltung ist das Ziel der unmittelbaren Existenz, in der jede Beziehung zu etwas und jedes Handeln nach Selbstbefriedigung streben, anstatt nach Selbstndigkeit und Selbstttigkeit, und in der die individuelle Identität weder von einer inneren Bewegung vermittelt wird, noch von der Reflexion darüber, was man ist und wer man ist. Man ist unmittelbar, was man ist. Diese Idee eines unmittelbaren Seins geht andererseits mit einer Lebensanschauung einher, nach der es das Wichtigste im Leben ist, das Leben zu genießen. Der Genuss als ästhetische Kategorie impliziert die schon genannte Notwendigkeit der Selbstbefriedigung und vor allem die Überzeugung, dass in der Befriedigung der Lust der Schlüssel aller gelungener Existenz und des guten Lebens enthalten ist. Die Formen der Lustbefriedigung sind vielfältig und der Bezug auf einen Gegenstand ist die Bedingung, welche die angestrebte Daseinsform erlaubt. Mit der Darstellung von verschiedenen Daseinsformen bzw. Stufen von Bewusstsein wird versucht, das Verhältnis vom Genuss zum versteht die Unmittelbarkeit als das natürliche Bewusstsein, das im Bildungsprozess durch seine Übernahme zu überwinden ist, wenn das Individuum zum Bewusstsein seiner selbst gelangen und frei sein will (G. W. F. Hegel Phänomenologie des Geistes (Werke 3), Frankfurt am Main 2003, S. 31 – 38). In den Nürnberger und Heidelberger Schriften und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts erläutert Hegel dies wie folgt: „Der Mensch ist einerseits ein natürliches Wesen. Als solches verhält er sich nach Willkür und Zufall, als ein unstetes, subjektives Wesen. Er unterscheidet das Wesentliche nicht vom Unwesentlichen. – Zweitens ist er ein geistiges, vernünftiges Wesen. Nach dieser Seite ist er nicht von Natur, was er sein soll. Das Tier bedarf keiner Bildung, denn es ist von Natur, was es sein soll. Es ist nur ein natürliches Wesen. Der Mensch aber muß seine gedoppelte Seite in Übereinstimmung bringen, seine Einzelheit seiner vernünftigen Seite gemäß zu machen oder die letztere zur herrschenden zu machen [Hervorhebungen von Hegel – SMF]“ (vgl. ders. Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse in ders. Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808 – 1817 (Werke 4), Frankfurt am Main 2003, § 41, S. 258). „Die Pädagogik ist die Kunst, die Menschen sittlich zu machen: sie betrachtet den Menschen als natürlich und zeigt den Weg, ihn wiederzugebären, seine erste Natur zu einer zweiten geistigen umzuwandeln, so daß dieses Geistige in ihm zur Gewohnheit wird [Hervorhebungen von Hegel – SMF]“ (vgl. ders. Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke 7), Frankfurt am Main 1986, § 151, Zusatz; vgl. auch § 187). Damit ist klar, und dies verhält sich so bei Fichte, Hegel und Kierkegaard, Unmittelbarkeit ist der Ausgangspunkt zum Selbstbewusstsein und daher nicht unbedingt negativ konnotiert. Es ist vielmehr das Bleiben in der Unmittelbarkeit, das Herrschen des Natürlichen über das Vernünftige, was hier in Frage gestellt wird.

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Gegenstand zu erläutern; „Die Unterschiede können außerordentlich sein, angefangen von vollkommener Geistlosigkeit bis hin zum höchsten Maß des Geistreichen […]“ (EO2, 192), veranschaulicht der Gerichtsrat. In jedem der ästhetischen Stadien, die der Gerichtsrat beschreibt, ist der Genuss eine Bedingung, die außerhalb des Individuums oder in ihm liegt, ohne dass der Wille sie unter seiner Gewalt hat. Gemäß der unmittelbaren Bestimmung der Persönlichkeit können die ästhetischen Stadien wie folgt ausdifferenziert werden: (a) Dort, wo die Persönlichkeit unmittelbar physisch bestimmt ist, so die Argumentation, ist das Verhältnis des Genusses zum Gegenstand direkt, wie es in Situationen der Fall ist, in denen z. B. die Gesundheit, die Schönheit, der Reichtum, das Ansehen usw. das Hçchste ist. Erreicht man dies nicht, dann hat man das Gefühl, dass das Leben kein gutes Leben ist. Ist man gesund oder schön, reich oder angesehen, glaubt man, indem dies das höchste Ziel im Leben war, man habe sich selbst verwirklicht. Wie gesagt, hier bestimmt im Gegensatz zur Wirklichkeit der Gegenstand die Persönlichkeit und das Selbstbefriedigungsgefühl; (b) andererseits ist die Einheit von Genuss und Gegenstand dort nicht so einfach zu sehen bzw. nicht anwesend, wo die Persönlichkeit unmittelbar als Talent bestimmt ist. „Es gibt handwerkliches Talent, kaufmännisches Talent, mathematisches Talent, dichterisches Talent, Talent für bildende Künste, philosophisches Talent. Die Lebensbefriedigung, der Genuss wird gesucht in der Entfaltung solch eines Talents“ (195). Hier hängt wiederum die Persönlichkeit von einer äußeren Bedingung und vor allem von der Überzeugung ab, die Entfaltung eines Talents sei Ziel des Lebens. Wie im Fall der unmittelbaren physischen Bestimmung der Persönlichkeit, bezieht sich das gelingende Leben auf den erreichten Genuss; (c) die letzte Form der unmittelbaren Bestimmung der Persönlichkeit benötigt eine große Aufmerksamkeit, weil aus ihr der Begriff der Verzweiflung abzuleiten ist, die jeder Konzeption des Ästhetischen zugrunde liegt. Die Persönlichkeit ist unmittelbar geistig bestimmt, wenn die Befriedigung der Lust das einzige Ziel ist, nach dem man strebt, sei es, dass die Lust ein Gegenstand im Individuum selbst wird – „genieße dich selbst; du sollst im Genuß selbst genießen“ (Epikureismus) –, sei es, dass die Lust sich in den Verzicht auf allen möglichen Genuss übersetzt – „genieße dich selbst, indem du ständig die Bedingungen fortwirfst“ (Zynismus) –, oder sei es, dass die Lust mit der Forderung, das Leben poetisch zu leben, übereinstimmt (203). Diese letzte Form entspricht der kontemplativ teilnahmslosen Haltung des Ästhetikers, die wichtige Hinweise für das Verständnis des Ästhetischen liefert. Wie hervorgehoben wurde, ist der Ästhetiker vor allem ein Kunsttheoretiker,

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der sich an der romantischen Forderung poetischen Lebens orientiert.26 Diese Forderung, so der Gerichtsrat, stellt im Vergleich zu den anderen ästhetischen Lebensanschauungen den vollkommenen „Bruch mit der Wirklichkeit“27 dar, da sie die Willkür und die Bindungslosigkeit gegenüber der Wirklichkeit voraussetzt. Der Ästhetiker handelt damit außerhalb der Wirklichkeit und kann sich auf sie nur ironisch beziehen, weil sie für ihn nicht das Ernste, das Ausdrucksmedium des Allgemein-Menschlichen, ist, sondern nur „Anlass und Stoff zur dichterischen Bearbeitung“.28 Genauer gesagt geht es beim Ästhetiker darum, die Wirklichkeit in ein Kunstwerk zu transformieren. Genuss exemplifiziert hier, wie in den anderen Fällen, die Vollendung einer solchen Umgestaltung.29 Auf diese Haltung des Ästhetikers möchte ich im Lichte seiner kunsttheoretischen und philosophischen Betrachtungen jetzt näher eingehen. Zunächst soll die Methode für ein ästhetisch gut geführtes Leben in Betracht gezogen werden, wie sie der Ästhetiker in dem Aufsatz Die Wechselwirtschaft darstellt und die an Friedrich Schlegels romantische Forderung poetischen Lebens erinnert. Es geht um eine soziale Klugheitslehre, welche Anweisungen gibt, wie das Leben unter Ausschluss jeglichen Kompromisses zu genießen sei. Der Ästhetiker vertritt die These, dass der Mensch und die Welt, in der er seine Lebenspläne durchführt, langweilig sind, und dass die Überwindung der Langeweile nicht in der Übernahme einer Aufgabe im Leben oder in einem stabilen Verhältnis zum anderen, sondern in der Unterhaltung liegt: Das Verfahren, das ich vorschlage, liegt nicht darin, sondern wie bei der echten Wechselwirtschaft im Wechseln des Anbauverfahrens und der Samenarten. Hier ist alsogleich der Grundsatz der Begrenzung gegeben, der in der Welt das einzig Rettende ist. Je mehr man sich selbst begrenzt, umso erfinderischer wird man. […] Hier ist die äußerste Zuspitzung jenes Prinzips, das nicht durch Extensität, sondern durch Intensität Befriedigung erstrebt (EO1, 311 – 312).

26 Vgl. dazu F. Schlegel Gesprch ber die Poesie, a.a.O; ders. Kritische Fragmente in ders. Werke in zwei Bnden, Erster Band, Berlin, Weimar 1980, S. 165 – 186. 27 Vgl. M. Theunissen / W. Greve Kierkegaards Werk und Wirkung in dies. a.a.O., S. 25. Zur Kritik der romantischen Ironie vgl. G. W. F. Hegel Vorlesungen ber die sthetik I (Werke 13), Frankfurt am Main 1986, S. 93 – 99; S. Kierkegaard BI, 245 – 335. 28 Vgl. M. Theunissen / W. Greve Kierkegaards Werk und Wirkung in dies. a.a.O., S. 25. 29 Zum Kierkegaardschen Begriff reflektierten Genusses vgl. A. Pieper Glckssache. Die Kunst gut zu leben, München 2003, S. 52ff.

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Dieses Sichbegrenzenkönnen impliziert als Grundvoraussetzung eines künstlerisch durchgeführten Lebens zum einen eine gewisse Rationalität und zum anderen einen gewissen Grad an Willkürlichkeit in Bezug auf das Handeln. Rationalität, weil man sich von den Emotionen nicht beherrschen lässt und stets auf das Resultat des Handelns achtet, so dass man genau kalkulieren kann, wann das Genuss produzierende Verhältnis zum anderen oder zur Welt unterbrochen werden soll.30 Durch die Methode der Wechselwirtschaft lernt man, rechtzeitig Abstand zu nehmen. Und Willkürlichkeit, weil man sich von den außerhalb der eigenen Macht erscheinenden Weltverhältnissen so intensiv wie möglich überraschen lassen will: „In der Willkürlichkeit liegt das ganze Geheimnis. […] Man genießt etwas ganz und gar Zufälliges, man betrachtet das ganze Dasein von diesem Standpunkt, läßt die Wirklichkeit des Daseins daran scheitern“ (319). Es handelt sich genau genommen um das, was der Ästhetiker die Kunst des Sicherinnern- und Vergessenwissens nennt, nämlich die Kunst, sich an das Erlebte poetisch zu erinnern und es so zu vergessen, oder was dasselbe ist, das Erlebte so zu vergessen, dass es in der Erinnerung bewahrt wird. Das Erlebte, die Wirklichkeit, wird nie aktuell oder Gegenwart, also etwas, das mit einer Verantwortung zusammenhängt, sondern ein Vergangenes, das man in der Erinnerung genießt. Das Sichbegrenzenkönnen bedeutet somit gleichzeitig, dass dem Genuss Grenzen gesetzt werden, damit die Wirklichkeit das Leben nicht erreicht: „Es gibt kein Mittel, das es einem sicherer unschmackhaft macht, zu lange fortzufahren. Man hält von Anfang an das Steuer des Genusses fest in der Hand; setzt nicht bei jeglichem Entschlusse gleich alle Segel“ (313). Dem Genuss Grenzen zu setzen ist der Methode der Wechselwirtschaft nach die Kunst, sich dem Verhältnis zum anderen oder zu etwas zu entziehen, wenn das Verhältnis zu etwas Beständigem wird. Jede Form von Sittlichkeit, die es im Leben zu übernehmen gilt, tötet die eigene Freiheit und die intensiv poetische Entfaltung des Lebens. So soll die Freundschaft abgebrochen werden, welche in der gegenseitigen Erwiderung fest wird und vom anderen abhängig macht. Das Gleiche gilt für die Liebe, die zur Ehe führt und bloße Gewohnheit wird. Auch auf die Ausübung eines Berufs soll verzichtet werden, denn man läuft Gefahr, als diese oder jene Person, welche diesen oder jenen Titel, diese oder jene Fähigkeiten besitzt, klassifiziert zu werden. Jede Form von Sittlichkeit steht einem im Weg, da sie einen mit Verpflichtungen gefangen hält. Jedes Lebensverhältnis soll daher auf pragmatische Weise geführt werden, nämlich in der vorübergehenden Intensität um der Unterhaltung 30 Vgl. F. Schlegel Kritische Fragmente, a.a.O., Fragment 37, S. 169 – 170.

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willen. Das Wechseln ist ein Garant dafür, dass die flüchtige Ausübung eines Berufs, das Wiedersehen mit der Geliebten oder mit dem Freund unter neuen Umständen wiederum intensiv und poetisch erlebt werden kann. Das Wechseln erfordert, immer wieder von neuem anzufangen, das Leben auf die Intensität des Unerwarteten und des im Augenblick erlebten Genusses zu orientieren. In einer von seinen Diapsalmata drückt der Ästhetiker letzteres wie folgt aus: Ich habe jetzt längere Zeit darüber nachgesonnen, welcher Grund mich eigentlich bewogen hat, meine Hilfslehrerstelle aufzugeben. Denke ich jetzt darüber nach, so kommt es mir vor, als ob eine derartige Verwendung für mich eben das Richtige wäre. Heute ist mir ein Licht aufgegangen, der Grund ist eben der gewesen, daß ich mich als ganz und gar geeignet für diese Stellung ansehen mußte. Wäre ich also in meinem Amte verblieben, so hätte ich alles zu verlieren gehabt, nichts zu gewinnen. Um deswillen hielt ich es für richtig, meine Stellung aufzugeben und bei einer umherreisenden Theatergesellschaft aus dem Grunde eine Anstellung zu suchen, daß ich kein Talent und somit alles zu gewinnen hatte (35).

Das Ideal eines auf dem Genuss beruhenden, poetischen Lebens wird auch durch kunsttheoretische Erwägungen und Gedankenspiele inszeniert. So wird z. B. in der Einleitung des Tagebuchs des Verfhrers, dessen Herausgeber der Ästhetiker ist, die Figur des reflektierten Verführers auch unter dem Motto eines poetischen Lebens charakterisiert: „Sein Leben ist ein Versuch gewesen zur Lösung der Aufgabe, poetisch zu leben“ (327), und poetisch zu leben heißt wiederum, das Erlebte so darzustellen, dass die Wirklichkeit durch dichterische Mittel zum Fiktiven wird. Alles was geschehen ist, wird der Wirklichkeit fremd. Das Ziel des Lebens besteht in der dichterischen Wiedergabe des Erlebten als Möglichkeit, nicht aber als Konkretion: Wie läßt es sich nun erklären, daß das Tagebuch trotz alledem einen solchen dichterischen Anstrich empfangen hat. Die Antwort ist nicht schwer, es läßt sich erklären aus der dichterischen Natur, die dem Schreiber eigen ist, und die, je nachdem wie man will, nicht reich genug oder nicht arm genug ist, um Poesie und Wirklichkeit von einander zu scheiden. Das Poetische ist das Mehr gewesen, das er seinerseits mitbrachte. Dies Mehr war jenes Poetische, das er in der poetischen Situation der Wirklichkeit genoß; und dies Mehr empfing er wieder zurück in der Gestalt dichterischer Reflexion. Dies war der zweite Genuß und auf Genuß ist sein ganzes Leben gerechnet gewesen. In der ersten Stellung genoß er persönlich das Aesthetische, in der zweiten Stellung genoß er aesthetisch seine Persönlichkeit. In der ersten Stellung war es die Pointe, daß er egoistisch persönlich das genoß, womit teils die Wirklichkeit ihn beschenkte, teils er die Wirklichkeit geschwängert hatte; in der zweiten Stellung verflüchtigte sich seine Persönlichkeit, und er genoß also die Situation und sich selbst in der Situation. In der ersten Stellung bedurfte er ständig der

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Wirklichkeit als Veranlassung, als Moment; in der zweiten Stellung war die Wirklichkeit im Poetischen ertrunken. Frucht des ersten Stadiums ist somit jene Stimmung, aus welcher das Tagebuch als des zweiten Stadiums Frucht hervorgegangen ist, wobei das Wort Frucht im letzteren Falle in etwas andrer Bedeutung genommen ist als im ersten Falle. Er hat das Poetische somit ständig besessen vermöge der Zweideutigkeit, in der sein Leben hinging (327 – 328).

Auch in dem Aufsatz Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das MusikalischErotische beschäftigt sich der Ästhetiker, indem er eine musikalische Interpretation von Mozarts Don Juan gibt, mit der Idee eines Lebens als Kunstwerk unter der Figur des durch sein Werk unsterblichen Genies. Mozart und Homer wären Beispiele eines solchen Lebens als Kunstwerk, da bei ihnen Stoff, Produktion und Mensch, also das, was die Figur des Genies bestimmt, übereinstimmen. Der Ästhetiker kommt zu dieser Auffassung, weil er die Sinnlichkeit in der Moderne nicht mehr als Harmonie versteht, sondern als das, was ausgeschlossen werden soll und dadurch als Prinzip, als Kraft, als Macht, als System bestimmt wird (65). Die Ausschließung des Sinnlichen und seine Konzentration in einem einzigen Individuum ist das, was der Ästhetiker sinnlich-erotische Genialität nennt, deren Ausdrucksmedium die Unmittelbarkeit – hier die Musik – ist (68). Die unmittelbaren erotischen Stadien sind Erscheinungsformen des Sinnlichen und dessen Elements, nämlich des Begehrens. Der Ästhetiker beschreibt drei Stadien, innerhalb derer eine Metamorphose und Potenzierung des Begehrens stattfindet. Im ersten Stadium kommt das Begehren als ein Traum-Zustand vor, dessen man sich nicht bewusst wird: „Das Sinnliche erwacht, jedoch nicht zu Bewegung, sondern zu stillem Verweilen, nicht zu Freude und Wonne, sondern zu tiefer Melancholie. Das Begehren ist noch nicht erwacht, es ist schwermütig geahnt“ (80). Im zweiten Stadium erlebt das Begehren eine Transformation, welche es vom Traum-Zustand zu einem Zustand der permanenten Suche bewegt. Das Begehren erwacht und vertieft sich zwar in die „Lust des Entdeckens“, es wird aber nur für einen Augenblick erahnt. In dem dritten und letzten Stadium findet die letzte Metamorphose statt, das Begehren ist als Begehren bestimmt und als Prinzip in einem einzigen Individuum verkörpert: „Don Juan ist mithin der Ausdruck für das Dämonische, das als das Sinnliche bestimmt ist […]“ (96), er befindet sich in einem Zwischenzustand, „zwischen Idee sein, d. h. Kraft, Leben sein, – und Individuum sein“ (98). Das Dämonische hier ist das ununterbrochene Streben, „die Naturgewalt“, die nie müde wird, die Verführung. In der Interpretation des Don Juan wird das Erotische daher als Verführung verstanden, „[s]eine Liebe ist nicht seelisch sondern sinnlich, und sinnliche Liebe ist nach seinen Begriffen

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nicht treu sondern schlechthin treulos, sie liebt nicht eine sondern alle, will heißen, sie verführt alle. Sie ist nämlich allein im Augenblick da, aber der Augenblick ist, begrifflich gedacht, Summe von Augenblicken, und damit haben wir den Verführer“ (100). Die Sorge um die Erfüllung in der Liebe als gemeinsam gelungenes Lebensprojekt kann nicht Gegenstand der sinnlichen Liebe sein. Die Zweifel, die Unsicherheit und alle Emotionen, die zur Liebe gehören und mit Vorstellungen des Zukünftigen zusammenhängen, spielen dabei auch keine Rolle, weil das Augenblickliche das Wichtigste im Leben ist. Deswegen muss Don Juan immer fort neu beginnen, seinen Sieg bestätigen durch einen neuen Sieg (101). Im Fall von Don Juan kann das Wort Verführen nicht im Sinne von Reflexion und Bewusstsein verstanden werden, denn Don Juan mangelt es daran. Er kann nicht darüber reflektieren, dass sein Handeln z. B. unmoralisch sei. Er verfügt auch weder über einen Plan, noch über eine Macht zum Verführen, nämlich die des Wortes, denn so „hört er auf, musikalisch zu sein“ (106). Bei Don Juan handelt es sich eher, so der Ästhetiker, um die Kraft des Begehrens, „des sinnlichen Begehrens Energie. Er begehrt in jeglichem Weibe das Weibliche insgesamt […]“ (107) und damit werden alle möglichen Unterschiede aufgehoben: „[A]lles, was Weib ist, ist seine Beute“ (ebd.). Das Begehren ist Befriedigungsbegehren. Sein Leben ist ein poetisches Tun, durch die Kunst der Verführung begehrend entfaltet.31 Auch das Leben des Kaisers Nero illustriert eine auf einem permanenten Genießen beruhende, ästhetische Existenz. Dieses Mal ist es der Gerichtsrat, der uns an die Faszination des Ästhetikers für Neros Lebensform erinnert, und der Neros Verfassung als pathologisch beschreibt. Denn seine Verfassung ist die Schwermut. Nero gibt nicht nur seiner Vorstellungskraft Nahrung, um alle seine Lüste zu befriedigen, er ist ihrer auch überdrüssig.32 Sein Geist will die Unmittelbarkeit zwar verlassen, die Angst aber, alles zu verlieren, seine Kraft und despotische Macht, die Angst, sich verkleinert zu sehen, bringt ihn dazu, in der Lust Trost zu suchen: 31 Der Ästhetiker unterscheidet zwischen dem reflektierten Verführer ( Johannes in Das Tagebuch des Verfhrers) und dem musikalischen Verführer (Mozarts Don Juan in Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische). Der erste als reflektierte Persönlichkeit steht im Konflikt mit der Welt und misst jedem Verführungsschritt eine besondere Bedeutung bei; der zweite ist keine Person, sondern eine Macht, bei ihm geht es um den Genuss der Befriedigung. 32 „Erst im Überfluß, nicht im Mangel an Bedingungen zeigt sich nach Wilhelm [dem Gerichtsrat – SMF] das wahre Schicksal des Genussstreben“ (vgl. W. Greve Kierkegaards maieutische Ethik, a.a.O., S. 69).

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Da greift er [Nero] zur Lust, der ganzen Welt Klugheit muß ihm neue Lüste erdenken, denn allein im Augenblick der Lust findet er Ruh, und ist dieser vorüber, so keucht er vor Mattigkeit. Der Geist will immer fort durchbrechen, aber vermag nicht zum Durchbruch zu gelangen, immerfort wird er betrogen, und Nero will ihm die Sättigung der Lust bieten. Da sammelt der Geist in Nero sich als eine finstre Wolke, des Geistes Grimm brütet über Neros Seele, und wird zu einer Angst, die selbst in des Genusses Augenblicke nicht versiegt. Siehe, deshalb ist des Kaisers Auge so düster, daß niemand seinen Anblick zu ertragen weiß, sein Blick so blitzesschwanger, daß er ängstigt, denn hinterm Auge birgt die Seele sich als finstre Nacht. Einen kaiserlichen Blick, so nennt man diesen Blick, es bebt davor die ganze Welt, und dennoch ist des Kaisers innerstes Wesen Angst. Ein Kind, das anders auf ihn sieht als er gewohnt, eines Auges Zufallsblick kann ihn entsetzen, es ist, als ob ihn dieser Mensch besäße; denn der Geist will an den Tag in Nero, will, daß Nero sich selber in seinem Bewußtsein zu eigen habe, aber das kann er nicht und preßt den Geist zurück und der häuft neuen Grimm. Nero besitzt sich selber nicht, und nur, wenn eine Welt vor ihm erbebt, ist er beruhigt, denn alsdann ist doch niemand da, der es wagte, ihn zu packen (EO2, 198 – 199).

Die Angst ist so Neros Medium: In der Angst und die Angst bei anderen erweckend wird seine Lust befriedigt. Die Unterdrückung der Unmittelbarkeit und das Durchdringen des Geistes ist das, was die Schwermut konstituiert. Nach jeder Anstrengung, um zu sich selbst oder zum Vergessen durch die Lustbefriedigung zu gelangen, bleibt die Schwermut als das, für das keine Erklärung gegeben werden kann, denn die Schwermut ist der „Verlust des Vertrauens in das Lebensprinzip des Genusses“.33 Das letzte Stadium des Ästhetischen ist das Leben, dessen Anschauung die Verzweiflung selbst ist, das Leben, in dem dem Individuum die Nichtigkeit einer solchen Anschauung bewusst ist. Damit gelangen wir zur Haltung des Ästhetikers, welcher diese Lebensform veranschaulicht, beschrieben aus der Perspektive des Gerichtsrats. Mit dem Bewusstsein der Sinnlosigkeit im Leben wird die Verzweiflung eine „Verzweiflung im Gedanken“ (207). Eine solche Verzweiflung ist die Müdigkeit am Endlichen, mit dem man kaum Zeit verbringen will, denn jedes Verhalten, jedes Projekt, jede Leidenschaft und jeder Kontakt mit der Welt beginnt mit dem Bewusstsein der Nichtigkeit: Nichts hat einen Sinn, jeder neue Versuch beginnt und endet mit dem Nichts. Die Angst, zum Bewusstsein seiner selbst als der, der man ist, zu gelangen und dem eigenen Leben Kontinuität zu geben, geht einher mit einer zweideutigen Existenz, die sich zwischen der Verneinung des Lebens und seines Sinns und der scheinbaren Bejahung des Genusses in der künstlerischen Teilnahme am Endlichen 33 Ebd.

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bewegt (EO1, 234). Die Verzweiflung als ästhetisch vollzogene Lebensform gibt den Eindruck, dass man den Menschen gegenüber überlegen ist, „[s]ie bringt ein leichtes Wippen des Hutes, ein Federn des ganzen Leibs, sie bringt einen stolzen trotzigen Blick. Die Lippe lächelt voll Übermut. Sie bringt eine unbeschreibliche Leichtigkeit des Lebens, eine königliche Überschau über das Ganze“ (EO2, 207 – 208). Dieses ganze Spektakel des Glamours und Scheins reduziert sich aber auf eine kontemplative Tätigkeit, die sich im Augenblick der Schöpfung erfreut und in der Energie des Tuns erschöpft, welche nur unvollständige Lebensprojekte lässt (EO1, 162). Dem Ästhetiker fehlt das Gedächtnis seines eigenen Lebens, das Gedächtnis seiner Existenz in ihrem Lebensvollzug, so der Gerichtsrat: Wärest Du jederzeit so stark wie Du im Augenblick der Leidenschaft bist, so wärest Du, ich kann es nicht leugnen, der stärkste Mann, den je ich gekannt (EO2, 210). Was von Deinen Studien gelten dürfte, das gilt von Deinen sämtlichen Handlungen, Du lebst im Augenblick, und im Augenblick bist Du von übernatürlicher Größe, Du versenkst Deine ganze Seele in ihn, sogar mit Tatkraft des Willens; denn für einen Augenblick hast Du Dein Wesen schlechthin in der Gewalt (214).

Diese Transformation des Lebens in ein Kunstwerk auf dem Gipfel des Augenblicks hängt zudem mit der Ironie, mit einem destruktiven, die Falschheit der Welt und die Abwesenheit von Sinn anzeigenden Gemüt und mit der Selbstdarstellung als Autorität zusammen. Dafür ist die Sprache, sowie jede Kunstfertigkeit, die den Schein – den Schleier des Selbst – hervorruft, fundamental. Denn das Leben wird vom Ästhetiker als ein Maskenspiel verstanden (168), und deshalb geht es darum, die richtige Maske zu tragen, also diejenige, die die eigene Natur vor den anderen versteckt. So kann man im Leben alles – Dichter, Philosoph, Mathematiker, usf. – sein, nicht aber man selbst. Das Leben besteht aus dem permanenten Spott des Lebens, der Zersplitterung der Persönlichkeit in die Mannigfaltigkeit des Sinnlichen, dem Mangel an Durchsichtigkeit und der Angst, offenbar zu werden. Die Sprache muss daher ironisch, verführerisch, reine Täuschung sein. Dazu schreibt der Gerichstrat: „Du übst Dich in der Kunst, allen ein Rätsel zu werden“ (171), und das heißt, der Ästhetiker übt sich in der „Leidenschaft der Vernichtung“ (ebd.) und in einer solchen destruktiven Tätigkeit liegt der Genuss, der dem sinnlosen Leben einen Sinn gibt. Wie im Fall von Nero, beruht der Geist am Ende jeder Bewegung auf der Schwermut. Diese Leidenschaft der Vernichtung ist wie gesagt gleichzeitig eine romantische Kontemplation des Lebens und seiner Erscheinungen. Der

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Ästhetiker beschäftigt sich z. B. mit der Kontemplation des Ganzen und vor allem mit der lyrisch-poetischen Analyse des Unglücklich-Seins in der Welt; oder er liebt den Zufall, er liebt z. B. die zufällige Erscheinung eines Mädchens, das die phantastische Spekulation motiviert und die Lust erweckt, aus ihr einen Gegenstand der Liebe und Quelle eines ununterbrochenen poetischen Tuns zu machen; oder er wird auf die Jugend und das Moment der Wahl, das in ihr vorkommt, dichterisch aufmerksam. Und während der junge Mensch durch jede Wahl reif und er selbst wird, definiert der Ästhetiker das Schöne in dieser Bewegung nicht als Wahl, das das Selbst erlaubt, sondern als das Verbleiben bei der Wahl. Die Wahl ist für ihn eher eine ununterbrochene Deliberation, oder besser gesagt, das Unterbrechen der Persönlichkeit. Die Deliberation wird so eine hemmungslose Leidenschaft, indem die Unfähigkeit zu wählen und die Verschwendung von Energie den Ästhetiker in einen leidenschaftlichen Kritiker des Ganzen verwandeln: „Du bist witzig, ironisch, ein Beobachter, ein Dialektiker, im Genuß erfahren, Du weißt den Augenblick zu berechnen, Du bist empfindsam, herzlos, je nach den Umständen; bei alledem aber lebst Du immerfort nur im Augenblick, und daher löst sich Dein Leben auf, und es ist Dir unmöglich, es zu erklären“ (191). Für den Gerichtsrat wird in einer solchen kontemplativen Einstellung und Lebensform alles als Möglichkeit statt als Realisation und Konkretion im Leben thematisiert. Dieser Mangel an Stabilität im Leben, an einem Ort in der Welt und an einem Bezugspunkt, an dem sich die Handlungen orientieren, macht aus dem Ästhetiker einen Wanderer, „ein[en] Gast und Fremdling in der Welt“ (89), der sich ins grenzenlose Meer wirft, dessen Tiefe man kaum ahnen kann. Und er wirft sich, die anderen zu diesem Schicksal auch bewegen wollend, da er denkt, dass unsere Zeit eine Zeit der Auflösung ist, mit der alle zugrunde gehen sollen: „Dies Leben ist voller Gefahr, aber man ist vertraut mit der Vorstellung, es zu verlieren; denn der eigentliche Genuß ist es ja, in dem Unendlichen zu vergehen und dabei nur eben so viel übrig zu behalten, daß man dies Vergehen genießt“ (ebd.). Dass die Lebensverhältnisse in der modernen Zeit negativ bestimmt sind und den Charakter eines Selbstbetrugs haben, ist dem Ästhetiker auch bewusst. Man könnte sogar sagen, dass er der Diagnose der modernen Zeit zustimmt (EO1, 151 – 153). Seine Antwort auf den geistigen Zustand der Zeit ist jedoch, seiner Zeit gemäß, indolent: „Nachlässigkeit, Indolenz möchte ich die Genialität nennen, die wir hochschätzen, Trägheit (vis inertiæ) das Naturgesetz, das wir verehren“ (164), so erklärt er in einer seiner berühmten Reden vor den Symparanekromenoi („Mitversterbende[n], Mitbegrabene[n]“). Der Ästhetiker verwechselt die positive Teilnahme an der

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Gemeinde und an den sozialen Verhältnissen mit der Teilnahme an Publikum (EO2, 107), daher wählt er das Nichtwollen. Dieser Mangel an Selbstbezug und an Sichzuanderenverhalten, der in allen ästhetischen Formen bzw. bloßen Daseinsformen enthalten ist, erlaubt dem Gerichtsrat, das ästhetische Leben als Krankheit, als Mangel an Selbstbestimmung, darzustellen, das nach ihrem Grad das Individuum allmählich in den Zustand der Verzweiflung führen kann, einem Zustand, in dem es mit seiner unmittelbaren Existenz konfrontiert wird. Diese Konfrontation mit sich selbst und mit den äußeren Umständen kann als die permanente Gefahr der Unzufriedenheit bezeichnet werden, da das Leben in der unbekümmerten Unmittelbarkeit weder stabil ist, noch ein fortdauerndes Glück sichern kann. Wie Jaspers in Anlehnung an Kierkegaard zeigt, ist die Unbefriedigung am Dasein als Ausdruck möglicher Existenz „nicht das Unvermögen des Wissens, nicht die Leere am Ende aller meiner Leistung in der Welt, wo ich vor dem Abgrund des Nichts stehe, sondern sie wird als Unzufriedenheit zum Stachel meines Werdens“,34 d. i. zur Überwindung dieses Zustandes. Diese Überwindung findet jedoch nicht unmittelbar statt, wie es sich im Fall der Verzweiflung des Nichtselbstseinkönnens als Schwermut zeigt. Im Grunde genommen ist die Schwermut eine Krankheit, die den allgemeinen Zug der Zeit beschreibt, nämlich „die Sünde, nicht tief und innerlich zu wollen“ (201), also „daß kein Mensch sich selbst durchsichtig zu werden vermag“ (202).35 In der Tat impliziert die 34 Vgl. K. Jaspers Existenzerhellung in ders. Philosophie, Berlin 1932, S. 6. 35 Die in diesem Gedanken implizite Idee ist die einer Bestimmung vor Gott, wie sie in der späteren Schrift Die Krankheit zum Tode dargestellt wird. Davon ausgehend wird die Frage gestellt, wie die Stufen des Bewusstseins des Selbst vor Gott als Maß verstanden und interpretiert werden können, und wie sich damit ein theologisches Selbst konstituiert. Ausgangspunkt der ganzen Argumentation ist die Idee, dass alle Sünde Verzweiflung an Gott ist, und dass nicht die Tugend, sondern der Glaube das Gegenteil der Sünde ist. Dies stellt die Argumentation auf der Ebene der sokratischen Definition der Sünde dar, und macht damit auf den Unterschied zwischen einem „nicht verstehen Kçnnen“ und einem „nicht verstehen Wollen“ aufmerksam (KT, 95). Denn nur wenn dieser Unterschied angemessen gemacht werden kann, kann die Sünde statt sokratisch am Verstehen des Menschen eher christlich an dessen Willen gemessen werden. Nach Kierkegaard besteht das Problem der sokratischen Definition der Sünde darin, dass sie den Begriff der Sünde nicht thematisieren kann, da sie die Sünde als Unwissenheit, als den Mangel an Verstehen, beschreibt. Als Unwissenheit kann somit die Sünde nur bedeuten, dass der Mensch nicht verstehen kann, was es heißt, das Rechte zu tun. Wenn die Sünde nur Unwissenheit ist, ist die Sünde als Zustand nicht mehr da, indem sie immer das Bewusstsein dieses Zustandes miteinbezieht. Die Kategorie, die in dieser Definition fehlt, und die als Korrektiv einbezogen werden muss, ist die des Willens. Das

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Anwesenheit der Schwermut, dass das Leben des Menschen in Bewegung steht, dass in ihm immerfort eine Metamorphose stattfindet, die ihn in Bewegung setzt, selbst sein zu können, die ihn in Bewegung setzt, in die Welt hineinzukommen und seinen Ort in ihr zu finden. Mit der Schwermut wird darüber hinaus das Selbstseinkönnen des Geistes und dessen Ungeduld bezeichnet, weil er sich in einer Situation befindet, in der er die Ketten nicht zerbrechen kann, die ihn an die Unmittelbarkeit binden. Außerdem wird eine kritische Situation beschrieben, die ethische Geburt, die in jedem Menschenleben auftritt. Die Schwermut drückt daher genauer gesagt die Unmöglichkeit des Übergangs zum Ethischen aus. In einer berühmten Passage aus Entweder/Oder wird sie folgendermaßen definiert:

Grundproblem ist die Beziehung vom Verstehen zum Handeln. Obwohl es in der sokratischen Definition eine direkte Beziehung zwischen beiden gibt, indem das rechte Tun mit dessen Verstehen und dessen Unschuld einhergeht, fehlt dieser Definition eine Übergangsbestimmung, die beide Momente aufeinander bezieht; diese Kategorie ist die des im Christentum und in der Offenbarungslehre begründeten Willens. Andererseits, auch wenn in der Philosophie der reinen Idealitt die Notwendigkeit eines solchen Übergangs zwischen Verstehen und Handeln berücksichtigt würde, ist dieser Übergang unabhängig vom einzelnen wirklichen Menschen etabliert worden, wie es zum Beispiel auf idealer Ebene mit der einfachen Identität zwischen Denken und Sein der Fall war (AUN 2, 32ff.). Kierkegaards Kritik richtet sich darauf, zu zeigen, dass in der „Welt der Wirklichkeit“, die mit dem „einzelnen Menschen“ zu tun hat, ein solcher Übergang nicht ohne die ungeheure Anstrengung zustande kommen kann, den Willen mit dem Verstehen auf eine mittelbare Weise konvergieren zu lassen. Mit dem Unterschied zwischen verstehen können und verstehen wollen hat das Christentum diese Problematik auf eine neue Weise präsentiert, wenn es betont, dass der Mensch die Sünde nur durch die Offenbarung vor Gott verstehen kann. Mit dem Christentum „[liege] die Sünde […] ja doch nicht darin, daß der Mensch das Rechte nicht verstanden habe, sondern darin, daß er es nicht verstehen will, und daß er das Rechte nicht will“ (KT, 94). Mit dieser Wendung wird ein neuer Ausgangspunkt fixiert: Es geht nicht mehr um Verstehen, was die menschlichen Sachen betrifft, sondern um den Glauben, was den Menschen auf Gott bezieht. Nach dieser Wendung hat die Sünde eine neue Auslegung, die in dem Bewusstsein der Sünde und in der Verzweiflung des Nichtselbstseinwollens oder des Selbstseinwollens vor Gott besteht. Die Sünde ist also der Zustand, in dem man sich vom Glauben entfernt und an der Sünde verzweifelt. Sie ist keine Bewegung zum Glauben, sondern das Verweilen in diesem Zustand. Deswegen ist die Sünde das Gegenteil des Glaubens, und der Glaube ist der Akt, durch den das Selbst sich nicht nur zu sich selbst verhält, sondern auch durchsichtig selbst sein will, in der Abhängigkeit von dieser Macht, die es gründet.

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Was ist also Schwermut? Sie ist des Geistes Hysterie. Es kommt da im Leben des Menschen ein Augenblick, da die Unmittelbarkeit gleichsam reif geworden ist, und da der Geist eine höhere Form heischt, da er sich selber als Geist ergreifen will. Als unmittelbarer Geist hängt der Mensch mit dem gesamten irdischen Leben zusammen, und jetzt will der Geist sich gleichsam sammeln aus dieser Zerstreutheit heraus und sich in sich selbst erklären; die Persönlichkeit will sich ihrer selbst bewußt werden in ihrer ewigen Giltigkeit. Geschieht dies nicht, kommt die Bewegung zum Stehen, wird sie verdrängt, dann tritt Schwermut ein (201).36

Trotz der ständigen Gefahr der Unzufriedenheit und des Auftretens der Schwermut wäre es möglich, ein Leben zu denken, in dem diese nicht symptomatisch erscheinen und ein ästhetisches gelungenes Leben erlauben könnten. Man könnte sehr wohl annehmen, dass sich die Kontingenz des Gewonnenen bis zum Ende des Lebens verbreitet hat, und dass das Individuum das Leben mit dem Gefühl einer Selbstverwirklichung und eines in der Welt erreichten Glücks verlassen hat. Dies alles könnte angenommen werden, wie der Gerichtsrat ironisch betont: So nehme ich denn an: jener Mann, der allein seiner Gesundheit lebte, sei, um einen Ausdruck von Dir [vom Ästhetiker] zu brauchen, bei seinem Tode so munter gewesen wie nur je; jenes gräfliche Ehepaar habe bei seiner goldnen Hochzeit getanzt, und es sei ein Flüstern durch den Saal gegangen ganz ebenso wie einst, da sie auf ihrer Hochzeit getanzt; ich nehme an: die Goldgruben des reichen Manns seien unerschöpflich gewesen, Ansehen und Würde hätten des Glücklichen Wanderung durchs Leben bezeichnet; ich nehme an: die junge Maid habe ihren Geliebten bekommen, das kaufmännische Talent habe mit seinen Verbindungen alle fünf Erdteile umspannt und alle Börsen der Welt in der Tasche gehabt, das mechanische Talent habe die Brücke zwischen Himmel und Erde geschlagen – ich nehme an, Nero habe nie zu verschmachten brauchen, sondern in jedem Augenblick habe neuer Genuß ihn überrascht, jener schlaue Epikuräer habe sich in jedem Augenblick an sich selber ergötzen können, der Cyniker habe fort und fort Möglichkeiten gehabt, die er fortwerfen konnte, um sich seiner Leichtheit zu erfreuen – das alles nehme ich an, 36 Auch Fichte beschreibt diesen Zustand des Nichtselbstseins als eine Art von Verzweiflung, als eine unerträgliche Daseinsform, die die eigene Freiheit und das eigene Handeln verhindert: „Das System der Freiheit befriedigt, das entgegengesetzte töte und vernichte mein Herz. Kalt und tot dastehen, und dem Wechsel der Begebenheiten nur zu sehen, ein träger Spiegel der vorüberfliehenden Gestalten – dieses Dasein ist mir unerträglich, ich verschäme und verwünsche es. Ich will lieben, ich will mich in Teilnahme verlieren, mich freuen und mich betrüben. Der höchste Gegenstand dieser Teilnahme für mich bin ich selbst; und das einzige an mir, womit ich dieselbe fortdauernd ausfüllen kann, ist mein Handeln“ (vgl. J. G. Fichte, a.a.O., S. 32). Zum Verständnis von Fichtes Begriff der Handlung s. W. Schulz Johann Gottlieb Fichte. Vernunft und System, Pfullingen 1977, S. 12ff.

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und somit wären denn alle diese Menschen glücklich gewesen. […] Von alledem geschieht nichts. Was dann? Dann verzweifeln sie (204).

Auch wenn man dies alles annehmen und es tatsächlich passieren könnte, will der Gerichtsrat vor allem hervorheben, so seine ironische Betrachtung, dass jede ästhetische Lebensanschauung auf etwas Einfachem und Instabilem fußt, auf etwas, das sobald man es nicht mehr hat, die Zersplitterung des Lebens und die Notwendigkeit immer wieder von vorne anzufangen nach sich zieht. Wenn die Lebensanschauung auf dem Genuss des Lebens beruht, hängt das Glück von einer Bedingung ab, die sobald sie nicht befriedigt wird, zur Verzweiflung führt. Der Hauptgedanke lautet, dass jede ästhetische Lebensanschauung Verzweiflung ist, auch wenn sich das Individuum dessen nicht bewusst ist. In der Verzweiflung als ästhetischer Lebensanschauung befindet sich die Persönlichkeit noch in der Unmittelbarkeit. In einem solchen Zustand besitzt das Individuum zwar noch nicht die Kraft, den Mut, es selbst sein zu können; in der Verzweiflung als höhere Daseinsform betrachtet, ist aber die Möglichkeit des Übergangs anwesend, oder, die Verzweiflung ist der Wendepunkt, der Stachel, der schon die Bedingungen für den Übergang zum Ethischen beinhaltet.

3. Selbstsein Jeder ästhetischen Lebensform mangelt es an Wirklichkeit und Lebenskontinuität. Von keinem ihrer Verhältnisse lässt sich etwas Fortdauerndes und Stabiles erwarten wie die Einstellung des Ästhetikers, immer auf jeden Kompromiss und jegliche Verantwortung zu verzichten, gezeigt hat. Die Analyse des Gerichtsrats ist eindeutig: Der Ästhetiker hat ständig Angst vor der Wirklichkeit und befindet sich auf der permanenten Flucht vor dem Fortdauernden. Was soll dann in einer solchen Situation unternommen werden? Die Antwort des Gerichtsrats lautet: Verzweifle (EO2, 221). „So verzweifle denn, von ganzer Seele und mit allen Deinen Gedanken […]“ (222). Die Verzweiflung ist zwar eine Krankheit im Geist, ist aber allein durch den Akt der Verzweiflung zu überwinden. Verzweifle bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass man einfach verzweifelt und so ein Verzweifelter ist, sondern dass man die Verzweiflung absolut wählt und sich zum Ursprung seiner selbst so verhält, dass man sich seines Verzweiflungszustands bewusst wird. Sie hängt mit Primitivitt zusammen und impliziert deshalb eine Revision des Fundamentalen, die ernste Konfrontation mit dem, was man unmittelbar ist. Der Gerichtsrat drückt diese

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absolute Wahl der Verzweiflung durch die folgende Formel aus: „Die Wahl der Verzweiflung ist somit ,ich selbst‘“ (232). Sie ist der Wendepunkt, und setzt den Geist in Bewegung damit dieser die Unmittelbarkeit verlassen und das Absolute, das Selbst, wählen kann. Anders ausgedrückt, was mit dem Akt der Wahl der Verzweiflung zustande kommt, kann man als Aussonderung, als Durchbruch des Weltdaseins, als Loslçsung von den Lebensverhältnissen, von der Lebenswelt, verstehen, indem das Selbst nicht mehr auf das Endliche fixiert ist und sich so bewegt, dass es sich selbst bewusst wird.37 Der Begriff des Setzens hilft dabei, diese Bewegung genau zu verstehen. Wenn ich absolut wähle, „wähle [ich] das Absolute, das mich wählt, ich setze das Absolute, das mich setzt“ (227). Wählen heißt damit sowohl Setzen als auch Gesetzt-Sein. Man wählt also etwas, das schon als Voraussetzung da ist, aber das nur durch die Wahl gesetzt wird, so dass es im menschlichen Dasein als verbindlich verstanden werden kann.38 Mit der Wahl des Selbstseins wird sich der von der Last der Unmittelbarkeit befreite Geist in die Welt der Freiheit emporschwingen (233). Der Gedanke der freien Selbstbestimmung ist in dieser Behauptung klar zu spüren: „Nunmehr hat er [der Mensch] also sich selbst zu eigen als durch sich selbst gesetzt, das will heißen als gewählt von sich selbst, als frei“ (237). Dass die Wahl eine Tat der Freiheit oder, wie wir es später sehen werden, der Anfang der Freiheit ist, zeigt, dass sie sich nicht auf die Formel ich bin der ich bin reduzieren lässt, also auf die bloß abstrakte, ja metaphysische Wahl außerhalb meiner selbst. Denn der Akt der Wahl besteht aus einer doppelten dialektischen Bewegung, in der sich das Individuum erst als abstraktes und danach als konkretes verstehen soll. In der ersten Bewegung findet die Loslçsung von den Lebensverhältnissen statt, in der zweiten die Überwindung der Schwermut und die Bindung des Selbst an die Wirklichkeit, von der es sich abgesondert hat. Dort geht es um Selbstbewusstsein, hier um Selbstbestimmung. In ihrer abstrakten Form bleibt die absolute Wahl Selbstreflexion als inneres Handeln, d. h. ein Sichverhalten zu sich selbst, das, weil noch nicht konkretisiert, nur die Möglichkeit des Selbstseins ist. In ihrer konkreten Form ist die Wahl die permanente Aneignung des gewonnenen Selbst. Man kann mit Jaspers sagen: „Am Ende der Selbstreflexion steht also als Möglichkeit die Verzweiflung, und diese als Drang, sich selbst aufzugeben an die Autorität [Kierkegaard zufolge an das ethische 37 Vgl. dazu K. Jaspers, a.a.O., S. 26 – 35. 38 Mit der Wahl der Verzweiflung wird das Selbst „als Ursprung verbindlichen Wählens überhaupt gewählt“ (vgl. H. Fahrenbach, a.a.O., S. 228).

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Leben – SMF] oder an das Dasein [das ästhetische Leben – SMF]“.39 Selbst wenn man sich für ein ästhetisches Leben entscheidet, selbst wenn man nicht wählt, findet eine Wahl statt, sei sie nun aktiv oder passiv. In beiden Fällen ist sie als Verschwendung der Möglichkeit des Selbstseins zu verstehen. Um verstehen zu können, in welchem Sinne das Setzen eine Selbstbestimmung impliziert, ist es wichtig, die Theorie der Konstitution des Selbst als Sichzusichverhalten kurz zu rekonstruieren, welche Kierkegaard in der Krankheit zum Tode entwickelt und die die dargestellte Ansicht in Entweder/Oder 2 ergänzt. Im Vorwort der Krankheit zum Tode kommt Kierkegaard auf die in den früheren Schriften vorgestellte Idee zurück, dass es wichtig ist, zu wagen, zu wollen und zu können, man selbst zu werden, „dieser bestimmte einzelne Mensch, einsam Gott gegenüber, einsam in dieser ungeheuren Anstrengung und dieser ungeheuren Verantwortlichkeit“ (KT, 3). Das Ein-Selbstwerden geht dann mit einer inneren Bewegung einher, in der das Individuum sich selbst vor Gott und vor sich selbst bestimmt, indem es im Verhältnis zu sich selbst und zur Welt konkret wird. Diese Bewegung wird von der Verzweiflung und deren Dialektik begleitet, wobei die Verzweiflung als Krankheit zum Tode verstanden wird. Wie dieser Prozess des Selbstseinkönnens [als Bestimmung vor Gott] stattfindet, ist das, was in der Krankheit zum Tode zu erklären versucht wird. Durch die Beschreibung der verschiedenen Manifestationsformen der Verzweiflung und deren zugrundeliegenden Bewusstseinsgrade wird, wie es in den frühen Schriften der Fall war, die Gestaltung der Verzweiflung in erster Linie pathologisch als ein Zustand des ständigen Scheiterns des Selbstseins dargestellt. Die Verzweiflung ist aber auch die Möglichkeit der Überwindung dieses Zustands. Damit diese Möglichkeit wirklich stattfindet, damit also das Individuum sich selbst sein kann, muss zuerst ein fundamentales Problem in der Bildung des Selbst gelöst werden, d. i. das Problem, dass das Individuum sein Selbst in der Verzweiflung verkennen oder verzweifeln kann, weil es dieses Selbst sein oder nicht sein will (8).40 Erst wenn in der Verzweiflung das Selbst positiv gesetzt wird, wird sie überwunden. Die Art, in der dieses Selbst hier gesetzt wird, bezeichnet 39 Vgl. K. Jaspers, a.a.O., S. 43 (hervorhebung von Jaspers). Vgl. auch J. G. Fichte, a.a.O., S. 116. 40 Vgl. dazu M. Theunissen Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt am Main 1993, S. 13 – 42; J. Holl Kierkegaards Konzeptionen des Selbst. Eine Untersuchung ber die Voraussetzung und Formen seines Denkens (Monographien Zur Philosophischen Forschung, Bd. 81), Meisenheim am Glan 1972, S. 109 – 173.

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Kierkegaard als ein Sichzusichverhalten, als eine Synthesis von Seele und Leib, die vom Selbst, vom Geist, getragen wird, der sowohl das Verhältnis ist, als auch das Medium, durch das das Verhältnis gesetzt wird. In der berühmten Formulierung der Krankheit zum Tode heißt es: Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält (ebd.).41

Der Mensch als Synthesis (Kierkegaard zufolge Synthesis von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von Freiheit und Notwendigkeit, von Seele und Leib) kann nur ein Selbst sein, wenn sein Selbst positiv als das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, verstanden wird.42 Dieses Verhältnis, so Kierkegaard, kann von sich selbst oder von einem anderen gesetzt werden. Im ersten Fall tritt die Verzweiflung auf, die aus dem Nichtselbstseinwollen besteht. Das Selbst bleibt hier der Verzweiflung verhaftet, da es sich zu sich selbst verhält, ohne sich zum Verhältnis zu verhalten. Im zweiten Fall tritt die Verzweiflung als ein Selbstseinwollen in Abhängigkeit von einem Dritten auf, d. h. durch das Selbstverhältnis und das Verhältnis zu diesem anderen. Die Bemühung, diesen Zustand zu verlassen, um selbst sein zu können, ist ein Missver41 Tugendhat versteht dieses Verhältnis wie folgt: „[D]as, wozu die Person sich verhält, indem sie sich zu sich verhält, ist weder sie selbst als Entität noch die mannigfaltigen Verhaltensweisen, Bestimmungen, Handlungen von ihr, sondern das diesen Bestimmungen zugrundeliegende Sichverhalten, das man als Existieren oder Leben der Person bezeichnen kann […] als mein Verhalten dazu, daß ich existiere“ (vgl. E. Tugendhat Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt am Main 1997, S. 160). 42 Im Unschuldszustand, den Kierkegaard von dem Zustand der Unmittelbarkeit differenziert, ist das Individuum noch nicht als Geist bestimmt worden und kann nur „träumend im Menschen“ existieren (BA, 39). In diesem Zustand projiziert der Geist sich nur als Möglichkeit, und die Wirklichkeit, die er erreichen kann, ist das Nichts, in dem die Angst gründet. Die Angst ist da, wie wir oben im Fall der Schwermut beschrieben haben, wenn die Bewegung des Geistes, der sich selbst sein will, statt sich selbst zu besitzen, nur das Nichts erreicht. „Angst hat hier die gleiche Bedeutung wie Schwermut an einem weit späteren Punkte, wo die Freiheit, nachdem sie die unvollkommenen Gestalten ihrer Geschichte durchlaufen, im tiefsten Sinne zu sich selber kommen soll“ (41). Was den Geist dazu bewegt, sich zu sich selbst und zu seinen Bedingungen zu verhalten, ist die Angst, die in ihm die Möglichkeit seiner Freiheit, die Mçglichkeit des Kçnnens und damit die des Whlens erweckt (43).

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hältnis, auf dem das Verhältnis beruht und durch das das Individuum zu sich selbst zurückkommt: Der Verzweiflung Mißverhältnis ist nicht ein einfaches Mißverhältnis, sondern ein Mißverhältnis in einem Verhältnisse, das sich zu sich selbst verhält, und durch ein Andres gesetzt ist, so daß das Mißverhältnis in jenem für sich seienden Verhältnis sich zugleich unendlich reflektiert in dem Verhältnis zu der Macht, welche es gesetzt hat (KT, 9 – 10).

Wenn also die Verzweiflung beseitigt worden ist, befindet sich das Selbst im folgenden Zustand: Als Sichzusichverhalten und Selbstseinwollen „gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat“ (10). Dieser Zustand, so Habermas in Anlehnung an Kierkegaard, „bewegt den endlichen Geist zur Transzendierung seiner selbst und zur Anerkennung der Abhängigkeit von einem Anderen, worin die eigene Freiheit gründet“.43 Diese Transzendierung und Anerkennung drückt Kierkegaard im Begriff des Sichzusichverhaltens aus. Die letztere Formel umfasst die ganze in Entweder/Oder 2 vorgestellte Problematik: Einerseits die Problematik der Konstitution des Selbst als Verhältnis und als Medium des sichzusichverhaltenden Verhältnisses und andererseits die Problematik der Verzweiflung des Selbst, das an Geistlosigkeit leidet (42). Mit dieser Formel beschreibt Kierkegaard auch ein Grundverhltnis, „welches Selbstsein als die Form des richtigen Lebens möglich macht“.44 Denn Selbstsein als Bestimmung des Menschen ist darauf ausgerichtet, sich selbst verwirklichen zu können als diese bestimmte Person gegenüber Gott und gegenüber anderen.45 Wenn die Allgemeinheit dieser Krankheit dargestellt wird, wird hervorgehoben, dass sie für alle gleichermaßen zutrifft. Kierkegaard insistiert, dass die Verzweiflung ein allgemeines Phänomen ist, welches dadurch erklärt werden kann, dass der Mensch Geist ist und die Verzweiflung sich in ihm als dialektisches Phänomen darstellt. Dies geschieht in dem Sinn, dass die Manifestation der Verzweiflung im Geist mitein43 Vgl. J. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2001, S. 23. 44 Ebd., S. 24. 45 Die Krankheit zum Tode, so Theunissen und Greve, „[stellt] die Problematik des Christseins in den Kontext der allgemeinen Problematik des Selbstseins“ (vgl. M. Theunissen / W. Greve, a.a.O., S. 45). Mit der Darstellung der verschiedenen menschlichen Existenzformen etabliert Kierkegaard die verschiedenen Stufen des Bewusstseins vom Selbst und erklärt den christlichen Glauben zur einzig gelingenden Daseinsweise. In dieser Vorstellung impliziert das Defizit einer Form eine höhere Daseinsform, deren Vollendung diejenige des gläubigen Zustands ist.

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bezieht, dass man daran schon gelitten hat (eventuell ohne sich dessen bewusst zu sein), gelitten in allen Augenblicken, die die Lebensgeschichte des Individuums konstituieren (101). Genau wie in Entweder/Oder 2 etabliert Kierkegaard in Die Krankheit zum Tode durch den Begriff der Verzweiflung zwei fundamentale Momente in der Bildung des Selbst: Zum einen das Moment der abstrakten Verzweiflung, von dem ausgehend sich die Konstitution des Selbst als Synthesis erklären lässt, zum anderen das Moment der konkreten Verzweiflung, von dem ausgehend sich die Steigerung des Bewusstseins vom Selbst erklären lässt.46 In Entweder/Oder 2 heißt es, ergreift das Individuum seine Möglichkeit und findet die Selbstwahl statt, isoliert sie als abstrakter Akt das Individuum von seiner Wirklichkeit und von seinen sozialen Bindungen; aber weil die Selbstwahl als konkreter Akt gleichzeitig mit einem Bewusstwerden der eigenen 46 Nach der abstrakten Bestimmung verzweifelt das Individuum, wenn es sich auf einen der Pole der Synthesis konzentriert, und an dem Mangel dessen leidet, was die Synthesis als solche konstituiert. Zum Beispiel erreicht das Individuum nach der Bestimmung der Möglichkeit-Notwendigkeit sein Selbst nicht, wenn es einerseits sich an der Möglichkeit orientiert, ohne seine Notwendigkeit in Betracht zu ziehen. Aus Mangel an Selbstbezug entfernt sich das Individuum immer weiter von sich selbst, da es nichts Notwendiges gibt, auf das es zurückgreifen kann. Das Individuum muss als Möglichkeit werden, wobei es sich nicht um ein Werden außerhalb seiner selbst handelt, sondern um ein Manselbstwerden. Andererseits leidet wer sich nur an der Notwendigkeit orientiert an einem Bezug, dessen Ausdruck eine Weiterentwicklung von sich selbst ist, und der Blick auf die beständige Verwirklichung seiner Aufgabe ist verstellt. Dies heißt, man selbst zu werden. Nach der konkreten Bestimmung determiniert der Grad des Bewusstseins den Grad der Verzweiflung des Individuums. Dieses entwickelt sich von der Unkenntnis darüber, dass es Geist ist, über seine passive Kenntnis des Selbst, fort zu dem Bewusstsein, dass es ein ewiges Selbst besitzt. Im ersten Fall, dem der Geistlosigkeit, befindet sich das Individuum außerhalb der fundamentalen Struktur des Menschen, welche Kierkegaard als die auf „Geistsein“ angelegte „leib-seelische Synthesis“ bezeichnet. Die Unwissenheit manifestiert sich sodann in dieser Unkenntnis der eigenen Verzweiflung und dass man sich im „Irrtum“ statt im Besitz der Wahrheit befindet. Im zweiten Fall, der Verzweiflung des Nichtselbstseinwollens, lässt die Verzweiflung einen Hauch von Bewusstsein des Selbst erahnen, das sich an die Passivität des an die Unmittelbarkeit gefesselten Selbst verliert. Im dritten Fall schließlich, dem der Verzweiflung des Selbstseinwollens, ist die Verzweiflung ein „Trotz“, der darin besteht, handelnd oder leidend das eigene abstrakte Selbst sein zu wollen, unabhängig von jener Macht, die das Fundament des Selbst darstellt. Nach dieser Form der Verzweiflung unterscheidet Kierkegaard zwischen einem „handelnden“ und einem „leidenden Selbst“. Während im ersten Fall das Selbst sich selbst konstituieren will, indem es die Macht, der es entspringt, herausfordert, konstituiert es sich im zweiten Fall dadurch, dass es seine eigene Existenz hasst und ständig sein eigenes Unglück anstrebt.

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Lebensgeschichte und der Anerkennung der eigenen Identität in ihr einhergeht, bezieht sich das Individuum durch diese Geschichte auf die anderen, so dass der individuelle Selbstwahlakt das Individuum nicht nur zu der Selbstanerkennung, sondern auch zur Anerkennung des anderen hinführt, der ein Teil seiner Identität ist: „Diese Geschichte ist unterschiedlicher Art, denn in dieser Geschichte steht er in einem Verhältnis zu andern Individuen des Geschlechts und zum ganzen Geschlecht, und diese Geschichte enthält etwas Schmerzhaftes, gleichwohl ist er der, der er ist, allein durch diese Geschichte. Darum gehört Mut dazu, sich selbst zu wählen; denn in eben der Stunde, da es scheint, daß er sich am allermeisten isoliere, in eben ihr senkt er sich am allertiefsten in die Wurzel, durch die er mit dem Ganzen zusammenhängt“ (EO2, 229 – 230).47 Es handelt sich hier aber nicht nur um die Anerkennung von sich selbst und um die Anerkennung von anderen in einer gemeinsamen Geschichte, sondern auch um den ständigen Kampf, sich selbst zu besitzen, ausgehend von dem, was man mit der Selbstwahl gewonnen hat. Dieser Argumentation liegt eine Kritik an der Spekulation und ihrem Begriff der Geschichte zugrunde, welche der Gerichtsrat anhand des Vergleiches zwischen der Haltung des Ästhetikers A und des spekulativen Philosophen konstruiert. Beide haben gemeinsam, dass ihnen fremd ist, was der Gerichtsrat die Realitt des Whlens nennt. Wie ist das zu verstehen? Ich möchte mich zuerst auf die Kritik der Haltung des Ästhetikers A beziehen. Der Ästhetiker A denkt „jede Kategorie als in einem Momente konkret, und dies ist das Poetische“ (136). Diese Haltung, das Leben im Augenblick knstlerisch und intensiv zu genießen, bedeutet für den Gerichtsrat, dass der Ästhetiker A „nicht geschichtlich“ denkt (ebd.) bzw. den Sinn der Zeit und des Geschichtlichen missversteht. Der Ästhetiker will erobern, nicht aber besitzen, er befindet sich außerhalb seiner selbst und interpretiert die Zeit vor dem Höhepunkt der Erfahrung als die 47 Da das Leben des Individuums im Ästhetischen zersplittert ist, muss es sich, wenn es sein Leben ethisch führen will, „sammeln und aus den Abhängigkeiten einer überwältigenden Umwelt“ lösen (vgl. J. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur, a.a.O., S. 18). Was es tun muss, wenn es sowohl es selbst als auch soziales Wesen sein will, stellt Kierkegaard als die Bemühung darum dar, sich seiner Individualität und Freiheit bewusst zu werden. Dieses ethische Selbstverständnis durch das Sich-Sammeln kann als Gewinn interpretiert werden, da das eigene Leben Kontinuität und Durchsichtigkeit gewinnt. Die zeitliche Dimension des Lebens wird ausgedrückt, indem die Person sich zu sich selbst und zu anderen verantwortlich verhält und durch „die Sorge um sich selbst ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit einer Existenz“ hat, „die sich in den simultan verschränkten Horizonten von Zukunft und Vergangenheit vollzieht“ (ebd., S. 19).

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absolute und wichtigste überhaupt. Denkt man hingegen geschichtlich, besitzt man das Eroberte durch dessen Aneignung, oder das Eroberte wird etwas, das man sich permanent anzueignen hat, um es so bewahren zu können. Wenn der Gerichtsrat die These vertritt, dass die Selbstwahl gleichzeitig eine abstrakte und eine konkrete ist, dann will er sagen, dass durch die Selbstwahl etwas erobert wird, das allein durch seinen Besitz bewahrt und zum Bewusstsein erhoben werden kann, also dass die Geschichte erst mit dem Besitz beginnt und eine wahre Bedeutung für das Individuum erlangt: Die wahre Kunst geht im Allgemeinen den der Natur entgegengesetzten Weg, ohne daß sie deshalb die Natur vernichtete, und so wird sich denn die wahre Kunst auch nicht im Erobern zeigen, sondern im Besitzen; Besitzen ist nämlich ein rückwärts gerichtetes Erobern (139). Wenn man erobert, vergißt man fort und fort sich selbst, wenn man besitzt, erinnert man sich seiner selbst, nicht zu eitlem Zeitvertreib, sondern mit allem möglichen Ernst. Geht man bergauf, so hat man nur das andre im Auge; geht man bergab, so muß man auf sich selbst achten, auf das richtige Verhältnis zwischen Stützpunkt und Schwerpunkt (140).

Aus diesem Verhältnis zwischen Erobern und Besitzen leitet Kierkegaard seine Auffassung der Geschichte ab, die er als Korrektiv gegenüber der spekulativen Philosophie bzw. gegenüber der Haltung des spekulativen Philosophen in Bezug auf die Existenz einführt. Diese Kritik wird in mehreren Schritten konstruiert. Im ersten Schritt wird auf die Aufhebung des Satzes von Widerspruch in der modernen Philosophie und deren Konsequenzen aufmerksam gemacht. Eine solche Aufhebung, die mit der Vermittlung der Gegensätze in einer hçheren Einheit stattfindet, impliziert, dass die Philosophie, um den Blick auf die Vergangenheit und auf die gelebte Geschichte der Welt zu werfen, und um eine Abstraktion von den diskursiven Elementen dieser höheren Einheit zu gewinnen, eine bloß kontemplative Einstellung übernehmen soll. In der Beschränkung ihres Handlungsfeldes auf die Vermittlung der Vergangenheit entzieht sich die spekulative Philosophie allen Fragen, die das Zukünftige betreffen, und reduziert ihre Reflexion nur auf das, was es ist, d. i. auf das, was sowohl die Vergangenheit als auch das Gegenwärtige umfasst. Nach dieser Logik interessiert sich der Philosoph nur dafür, wie alles bisher gewesen ist, so dass er die Frage nach der Pflicht, die Frage danach, wie man seine Aufgabe oder Funktion in der Welt zu erfüllen hat, nicht beantworten kann. Kierkegaard sieht, dass die Aufgabe der Philosophie vielmehr eine andere ist: Statt aus der Philosophie einen Akt der Vermittlung zu machen, die die Weltgeschichte in einer höheren Einheit präsentiert, und statt die Aufgabe der

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Philosophie auf die Kontemplation der Vergangenheit zu reduzieren, versetzt Kierkegaard seine Kategorie in den Bereich des Handelns, um damit anzudeuten, dass es sich vielmehr um eine praktische Sache handelt, die die Zukunft betrifft, d. h., dass es in erster Linie darum geht, die Fragen zu beantworten, „was man tun soll“, „wie man leben sollte“, wie man das wird, was man wird, ohne den Bezug zur Wirklichkeit, der Welt, zu der man gehört, zu verlieren (183). Im zweiten Schritt der Kritik wird die Auffassung der Geschichte als Ende problematisiert, also die Idee, dass die Voraussetzung eines solchen Endes nur die Vermittlung erlaubt. Der Aspekt, der hier wiederum hervorgehoben wird, ist der Mangel an Bezug auf das Zukünftige und dessen Konsequenzen: Ist des Lebens Gang angehalten und kann vielleicht die gegenwärtige lebende Generation vom Betrachten leben, wovon soll denn die folgende leben? Davon, das Gleiche zu betrachten? Die letztvorhergehende Generation hat ja nichts zustande gebracht, nichts hinterlassen, was da vermittelt werden könnte (ebd.).

Was der Gerichtsrat vor allem damit andeuten und kritisieren will, ist, dass man zu dieser Auffassung eines Endes der Geschichte nur gelangen kann, wenn man den gegenwärtigen Moment als absolute Zeit darstellt, und man aus der Vermittlung eine absolute macht. Diese Kritik an der spekulativen Philosophie und an ihrer Auffassung der Geschichte als Vermittlungsprozess der auseinandertretenden Momente zielt aber vor allem darauf ab, zu zeigen, wie mit der illegitimen Einmischung der Notwendigkeit in die Sphäre der Geschichte die Möglichkeit einer unbedingten Wahl in ihr und damit eines unbedingten Entweder/Oder ausgeschlossen wird. Dies bedeutet, dass Wahl und Vermittlung sich ausschließen würden, dass diese jene und damit die Fortsetzung der Geschichte verhindern würde. Was das betrifft ist die Antwort auf die Frage, wie die Begriffe der Notwendigkeit und der Geschichte sich aufeinander angemessen beziehen sollten, von großer Bedeutung, um verstehen zu können, welche Korrektive Kierkegaard gegenüber der spekulativen Philosophie einführt. Dass in der historischen Bewegung die Vermittlung anwesend ist, wird sehr wohl akzeptiert; dass die Vermittlung aber absolut statt relativ dargestellt wird, das ist das Problem. Wird die Vermittlung hingegen als relativ ausgelegt, so hört das Verhältnis Notwendigkeit-Geschichte auf, von dessen Ende abhängig zu sein. Orientiert sich die Philosophie ausschließlich an der „äußeren Tat“ des Individuums, um die absolute Vermittlung durchzuführen, und ordnet sie sie als Glieder des historisch notwendigen Prozesses, dann lässt sie die „inwendige Tat“ beiseite und schließt wie gesagt die Möglichkeit des Ent-

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weder/Oder, d. h. dessen, was Gegenstand der Wahl war, von dem historischen Prozess aus.48 Vielmehr hat alle menschliche Existenz einen doppelten Charakter gemäß der äußeren und der inwendigen Tat des Individuums, so dass das Individuum, das an der Geschichte teilnimmt, seine eigene Lebensgeschichte besitzt. Dieses Argument wird vor allem im Begriff Angst entwickelt, wenn Kierkegaard auf der Idee besteht, dass das Individuum immer es selbst und das Geschlecht sei. Darunter soll gemäß dieser doppelten Existenz verstanden werden, dass das Individuum sich eine Geschichte, seine Lebensgeschichte, im Kontext seiner Wirklichkeit aneignen soll.49 Anders formuliert, da das Individuum weder vom Geschlecht ausgenommen noch ausgeschlossen ist, ist es ihm nicht möglich, außerhalb der Geschichte zu sein, denn auch wenn jedes Individuum seine Lebensgeschichte besitzt, hat es immer Interesse an der Geschichte des anderen. Die Vollkommenheit des Individuums besteht darin, dass es an einer gemeinsamen Geschichte, derjenigen des Ganzen, teilnimmt, und dass es sich gleichzeitig seine eigene Geschichte aneignet. Dieser Dynamik entsprechend eignet der Mensch sich die Geschichte unaufhörlich an, aktualisiert sie und integriert sie als seine Lebensgeschichte. Dieses Verhältnis zwischen einer äußeren und einer inneren Geschichte wird von dem Gerichtsrat an der Dialektik des Eroberns und Besitzens mit dem Bild eines Kampfes um (Selbst)Besitz auf folgende Weise erläutert: Im Hinblick auf das individuelle Leben gibt es zwei Arten von Geschichte, äußere und innere. Es sind zwei Arten von Strömungen, deren Richtung 48 Es ist wichtig hervorzuheben, dass es sich hier in erster Stelle nicht um eine Kritik an Hegel, sondern an der dänischen Rezeption des Vermittlungsbegriffes handelt, wie Jon Stewart auf eindrucksvolle Weise erläutert hat. Zur Diskussion zu Kierkegaards Verhältnis zu Hegel vgl. J. Stewart Kierkegaard’s Relations to Hegel reconsidered, Cambridge 2003, S. 182 – 184 und 195 – 209; A. Grøn Ambiguous and Deeply Differentiated: Kierkegaard’s Relations to Hegel. A Critique of Jon Stewart Kierkegaard’s Relations to Hegel reconsidered in Kierkegaardiana 23, S. 177 – 200; N. Thulstrup Kierkegaards Verhltnis zu Hegel und zum spekulativen Idealismus 1835 – 1846. Historisch-analytische Untersuchung, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1972, S. 273ff; H. Schweppenhäuser Kierkegaards Angriff auf die Spekulation. Eine Verteidigung (Dialektische Studien), München 1993, S. 101. 49 Ausgehend vom diesem Postulat bzw. dieser Forderung versteht Kierkegaard, dass die Erklärung dessen, was Erbsünde heißt, gleichzeitig bedeutet, zu erklären, was Adam betrifft, nicht aber ihn als ein vom Geschlecht ausgeschlossenes Individuum, als außerordentlichen Menschen, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, zu verstehen. Vielmehr drückt was Adam betrifft auch die Partizipation des „ganze[n] Geschlecht[s] am Individuum“ und des „Individuum[s] am ganzen Geschlecht“ aus (BA, 25).

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entgegengesetzt ist. Die erste wiederum hat zwei Seiten an sich. Der Mensch hat nicht, danach er strebt, und die Geschichte ist der Kampf, in dem er es erwirbt. Oder der Mensch hat es, vermag aber nicht in den Besitz davon zu gelangen, weil fort und fort etwas Äußerliches da ist, welches ihn daran hindern will. Die Geschichte ist dann der Kampf, in dem er diese Hindernisse überwindet. Die andre Art von Geschichte hebt mit dem Besitz an, und die Geschichte ist die Entwicklung, durch die hindurch der Mensch den Besitz erwirbt. […] Die innere Geschichte ist erst die wahre Geschichte, aber die wahre Geschichte ringt mit dem, was in der Geschichte das Lebensprinzip ist, – mit der Zeit; ringt man aber mit der Zeit, so hat eben damit das Zeitliche und jeder einzelne kleine Augenblick seine große Wirklichkeit. Überall da, wo das innere Erblühen der Individualität noch nicht angehoben hat, wo die Knospe der Individualität noch geschlossen ist, wird von äußerer Geschichte die Rede sein. Sobald hingegen diese sozusagen aufspringt, hebt die innere Geschichte an. Denke nun an das, davon wir ausgegangen sind, an den Unterschied zwischen der erobernden und der besitzenden Natur. Die erobernde Natur ist ständig außerhalb ihrer, die besitzende in ihr selber, daher bekommt die erste eine äußere, die zweite eine innere Geschichte (142 – 143).50

Denkt man wie der Ästhetiker A nicht geschichtlich, so dass die Zeit des Erlebten immer verabsolutiert wird, lässt man die innere Tat bzw. die innere Geschichte, „der Freiheit wahres Leben“ (185), beiseite. Es gibt da keine Entwicklung, die auf Freiheit zurückzuführen wäre. Setzt man andererseits wie der spekulative Philosoph das Ende der Weltgeschichte so voraus, dass erstens alle Entwicklung mit Notwendigkeit statt mit Freiheit zustande kommt, und dass zweitens aus der Gegenwart die absolute Zeit und aus der relativen Vermittlung die absolute Vermittlung gemacht wird, lässt man so auch die innere Tat unthematisiert. Es ist gerade in diesem Zusammenhang, dass der Gerichtsrat behauptet, sowohl dem Ästhetiker als auch dem spekulativen Philosophen sei die Realitt des Whlens fremd. Es fehlt die Freiheit und ohne Freiheit kann es keine echte Selbstwahl geben. Es fehlt aber auch der Kampf um Selbstbesitz, durch den der Mensch sich selbst empfängt und sich positiv zu sich selbst und zur Welt verhält. Dieser Kampf ist ein ununterbrochenes Tätigsein, ein Kampf, in dem der Besitz „ein stetes Erwerben“ ist (140), ein Kampf schließlich, der dem Menschen sein Verweilen in der Unmittelbarkeit rettet und ihn in eine neue Situation versetzt, in der er nicht auf das Gewonnene verzichten kann, da er Gefahr läuft, sich selbst zu verlieren. Diese Situation drückt der Gerichtsrat wie 50 Der Gerichtsrat unterscheidet zwischen einer erobernden Natur – dem natürlichen Menschen, der an der Unmittelbarkeit verhaftet bleibt und die Bedeutung des Geschichtlichen verkennt – und der besitzenden Natur – dem konkreten Menschen, der sich zu sich selbst und zur Welt positiv verhält.

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folgt aus: „Er [der Mensch] kann von alledem, das dazugehört, nichts aufgeben, auch nicht das Schmerzhafteste, auch nicht das Lastendste; gleichwohl ist der Ausdruck für diesen Kampf, dies Erwerben – Reue“ (230). Von ihrem theologischen Inhalt abgesehen wird die Reue hier als der Verknüpfungspunkt des Selbstseins mit seiner Umwelt und mit seiner Konkretion definiert, d. h., wenn der Mensch sich selbst wählt, wählt er damit seine Geschichte auf eine Weise, in der die Reue ihn mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Er befindet sich, so Greve, „am Ende eines universalen Schuldzusammenhangs […] Ihn hat [er] deshalb zu übernehmen“.51 Selbstwahl wäre also das, was das Anerkennen in ihrer authentischen Bedeutung – das Anerkennen des anderen und seiner selbst als ein Selbst – positiv fördert.52 Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück: „Die Wahl der Verzweiflung ist somit ,ich selbst‘“ und die Selbstwahl ist zugleich die Taufe, die die Geburt des ethischen Individuums bestätigt (232). Mit dieser Formulierung, wenn man sie recht verstehen will, wird, wie ich unten erläutern werde,53 ein Prozess beschrieben, der die Lebensgeschichte des Einzelnen und seine Aneignung betrifft und zur Anerkennung des Verzweiflungszustands führt. Darin, „sich als endliches und nach Endlichem strebendes Selbst als verzweifelt anzuerkennen, ,ja‘ zu sagen zum eigenen Verzweifeltsein, darin besteht die gewollte Verzweiflung“.54 Was mit der Wahl des Selbst zustande kommt, ist die Anerkennung des Selbst in seiner Konkretion, in seiner Lebensgeschichte, eine Anerkennung, die sich nur durch ihre Aneignung und die Übernahme von Verantwortung aktualisieren lässt.55 Dieser Prozess des ethischen Werdens durch die Verzweiflung soll aber nicht als vollkommener Bruch mit dem ästhetischen Leben, sondern als Verklrung interpretiert werden. Der Prozess des ethischen Werdens in diesem absoluten Sinne ist keine Vernichtung des Ästhetischen und der schöpferischen Tätigkeit, sondern dessen verantwortliche Aneignung, durch die das Ästhetische dienlich gemacht und so in einer höheren Form, in ihrer Verklärung, aufbewahrt wird. Die dialektische 51 Vgl. W. Greve Kierkegaards maieutische Ethik, a.a.O., S. 90. 52 Das Provozieren zum ethischen Werden geht somit mit Intersubjektivität einher: Indem der Mensch indirekt zur Selbsttätigkeit geführt wird, konstituiert er sich in einem Aneignungsselbstverhältnis, das den anderen sichtbar und auch zu einem Teil seiner Selbsttätigkeit macht. Er gelangt zur Selbsterkenntnis, dass er der einzelne Existierende in Kommunikation mit den anderen ist. 53 S. I. Teil, Kap. 4. 54 Vgl. W. Greve Kierkegaards maieutische Ethik, a.a.O., S. 83. 55 Ebd., S. 95.

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Wahlbewegung vom abstrakten zum konkreten Selbst hat ein Selbst zur Folge, dem als solchem eine Reihe von Bestimmtheiten und Eigenschaften entsprechen. Es ist daher, so der Gerichtsrat, kein isoliertes Selbst, sondern „das ganze ästhetische Selbst, welches ethisch gewählt worden ist“ (237). Wie oben erläutert wurde, haben die an den Ästhetiker gesendeten Briefe die Intention, auf das Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in der Bildung der Persönlichkeit aufmerksam zu machen, und zu zeigen, dass das Ethische eine Erweiterung des Ästhetischen auf einem höheren qualitativen Niveau ist. Der Gerichtsrat spricht z. B. über die ästhetische Gültigkeit der Ehe und darüber, wie das Ästhetische – das Erotische – in ihr bewahrt ist, also wie die erste Liebe, die erotische Liebe, in der Ehe bewahrt und erweitert wird. Die Ehe ist ein Zurückkehren in die Unmittelbarkeit in ihrer Verklärung (32 – 33). Gemäß dieser Verklärung wird die erste Liebe dank der Ewigkeit, die die Trauung ihr verleiht, ethisch. Mit anderen Worten bedeutet der Verweis der Liebe auf Gott, dem gemeinsamen Lebensprojekt und der Verpflichtung und Verantwortung, die damit zusammenhängen, einen ewigen Sinn zu geben. Durch die Ehe wird die Liebe Wirklichkeit (63) und Geschichte (64 – 65); „sie [die eheliche Liebe] ist mithin kein uninteressierter Zeuge dessen, was geschieht, sondern ist wesentlich beteiligt, kurz, sie erlebt ihre eigene Entwicklung“ (104). Wenn man ästhetisch lebt, hat deshalb eine Unmittelbarkeit Vorrang, die noch nicht in einem allgemeinen Bewusstsein verklärt worden ist. Man könnte aber wie der Ästhetiker einwenden, dass das Ästhetische sich nicht ethisch darstellen lässt, denn wie kann man das darstellen, was „sogar zur dichterischen Darstellung eine Unangemessenheit hat“? Und die Antwort des Gerichtsrats lautet: „Indem es gelebt wird“ (145). Seine Darstellung ist nichts anderes als seine Konkretion, sein Gelebt-Werden, seine Bestätigung in der Wirklichkeit des Lebens. Die Verklärung, die hier stattfindet, ist eine Versöhnung mit dem Leben. Der Fehler des Ästhetikers besteht darin, zu glauben, dass mit der Verklärung der Tod des Ersten gegeben sei (155), dass die Pflicht ein Feind sei. Deswegen gibt er sich der Verzweiflung hin, nämlich seiner Methode von Selbstvergessenheit. Wenn er aber zum Bewusstsein seines Verzweiflungszustandes erwacht, sein eigenes Selbst als seinen Zweck wählt und in seinem partikulären Leben das Allgemeine äußert, wird er zum Universum des Ethischen gelangen, ohne damit aufzuhören, er selbst zu sein. Er wird frei, indem er das Leben für den Genuss verlässt. Diese Idee eines Gleichgewichts im Leben ist sehr wichtig, sowohl um einen Begriff oder eine Konzeption des guten Lebens zu formulieren, als auch um das Problem des moralischen Handelns zu thematisieren. Ei-

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nerseits will der Gerichtsrat andeuten, dass ein Begriff vom guten Leben nicht aus dem Ästhetischen gewonnen werden kann, und dass das Glück und der Genuss, nach denen man im Leben strebt, gemäß ästhetischer Kategorien früher oder später zu scheitern haben. Ein gutes und gelungenes Leben lässt sich weder als Genuss noch als vorübergehender Gewinn interpretieren. Andererseits sollte nicht verkannt werden, dass ein gutes Leben in Verbindung mit dem Bereich des Emotionalen und mit dem Streben danach steht, glücklich zu sein und die Welt zu genießen. Kierkegaard versteht, dass der Bereich des Emotionalen nicht einfach beiseite gelassen und als empirisch eingeordnet werden kann und dass der moralische Gesichtspunkt als Maßstab des richtigen Verhaltens gegenüber dem menschlichen Streben nicht blind sein kann. Mit dem Gedanken eines Aneignens des Ästhetischen im Ethischen wird eher versucht, zu demonstrieren, dass es möglich ist, im Menschsein seine Instinkte mit seiner Moralität zu versöhnen, und dass die Grundlage dieser Versöhnung das richtige ethische Selbstverständnis des Menschen ist.56 Letzteres ist ein Gewinn der Selbstwahl im Prozess der Sozialisierung.

4. Selbstwahl und Sozialisierung Wahl und Sozialisierung sind in ihrem Verhältnis zueinander Momente desselben Prozesses, nämlich des Prozesses der Konstitution des Selbst. Durch jede Wahl tritt das Individuum an die Welt des Allgemeinen heran und steht in intersubjektiver Kommunikation mit den anderen. Das Individuum lernt, sich und die anderen als Personen wahrzunehmen, denen gegenüber es eine Verantwortung trägt. Jede Wahl im Prozess der Sozialisierung bereitet so den Weg zum gelungenen Leben vor. Mit diesem Verhältnis zwischen Wahl und Sozialisierung in der Herausbildung der Persönlichkeit versuche ich Kierkegaards Begriff der Selbstwahl als kontinuierlichen Prozess des Übergangs zum Ethischen als freie Entscheidung des Individuums darzustellen. Damit behaupte ich, dass die ethische Wahl eine doppelte Funktion besitzt: Mit dem Akt der Wahl wird sowohl der unterbrochene Prozess der individuellen Bildung – die Wahl im allgemeinen (erste Funktion) –, als auch das Moment bezeichnet, in dem die Wahl die Form eines Aktes annimmt, durch den das Individuum sich aktiv für eine konkrete Lebensform entschließt und sich auf dieser Grundlage positiv zu sich selbst und zur Welt verhält – die absolute oder radikale Wahl 56 Zum Begriff Versöhnung s. unten I. Teil, Kap. 5 und II. Teil, Kap. 3.

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(zweite Funktion). So gesehen gewinnt die allgemeine Wahl einen anderen Status. Denn die allgemeine Wahl ist nicht unbedingt eine ästhetische, sondern eine Art sozialer Praxis im Prozess der Sozialisierung.57 Erst wenn die allgemeine Wahl permanent zum Scheitern führt, kommen die Pathologien des Ästhetischen ins Spiel, die den korrekten Verlauf der sozialen Praxis zum ethischen Werden des Selbst – zur radikalen Selbstwahl – verhindern. Die erste Funktion der Wahl können wir zusammen mit Kierkegaard das Erlernen des Wählen-Könnens in der gelungenen Erziehung nennen (Pap. VIII 2 B 82,12). Die zweite Funktion der Wahl lässt sich als das positive Aufrechterhalten dieser sozialen Praxis in einem Leben voller Verantwortung und Freiheit verstehen. Wie beide Momente der Wahl sich zueinander in der Bildung eines positiven Selbstverständnisses verhalten, möchte ich im Folgenden darstellen. Im Grunde genommen ist die Wahl ein Akt, der in seiner einfachen Form in allen Fällen im Leben anwesend ist; von Fällen, in denen das Kind sich an der Wahl der Erwachsenen orientiert und einen allmählichen Eindruck davon gewinnt, was es tun soll und was nicht, über wenig bedeutsame Fälle, in denen es wiederum durch jede Wahl reifer wird, bis hin zu Fällen, die einen höheren Verantwortungsgrad implizieren. Jeder Fall oder jede Situation bestimmt sowohl den Grad von Reflexion und Ver57 Bisher habe ich über die Wahl im allgemeinen und in ihrer absoluten Form gesprochen, ohne die schon genannte Distinktion zwischen ästhetischer und ethischer Wahl zu berücksichtigen. Damit wollte ich zuerst andeuten, dass die allgemeine Wahl als soziale Praxis nicht mit der ästhetischen Wahl verwechselt werden sollte, weil nicht jede Wahl vor der absoluten Wahl ästhetisch ist. Zwar ist das Emotionale in jedem von uns anwesend und etwas, das uns von der Welt und von der Möglichkeit der Selbstbestimmung und der Selbstverwirklichung in Kommunikation mit anderen entfremden kann; die Form, wie Kierkegaard die ästhetische Existenz präsentiert, veranschaulicht aber verschiedene Lebensanschauungen, mit denen wir uns alle auf die eine oder andere Weise im Leben konfrontieren werden können, sowie besondere Fälle, in denen der Prozess der Individuation misslungen ist. Wir können mit Erich Fromm gut sagen, dass die Loslösung von unseren primären Bindungen, die uns Sicherheit und Orientierung geben, uns vor die neue Aufgabe stellt, allein zu stehen und unseren Platz in der Welt zu finden. Im Individuationsprozess findet sowohl „das Wachstum der Strke des Selbst“ innerhalb des Allgemeinen statt, das die Grenze dafür fixiert, als auch eine „zunehmende Vereinsamung“, welche zum Gefühl der Ohnmacht und der Angst führen kann (vgl. E. Fromm Furcht vor der Freiheit, München 2002, S. 24 – 33). Diese Angst vor dem Zusammenhängenden, vor der Vertiefung der eigenen Persönlichkeit durch die Übernahme von ethischen Kategorien, ist das, was Kierkegaard die Auszehrung der Persönlichkeit im Ästhetischen nennt (EO2, 168).

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pflichtung, die das Kind zu übernehmen lernen muss, als auch die positive Entwicklung einer praktischen Kenntnis dessen, was von seinen eigenen Akten in dem jeweiligen Handlungskontext von den anderen, von der Gemeinschaft und deren normativer Ordnung, zu erwarten ist. So gesehen ist das Wählen ein rationaler Akt, der den Sitten einer Gemeinschaft zugrunde liegt, und der sich durch seine Akzeptanz intersubjektiv bestätigen oder rechtfertigen lässt. Dieser Logik entsprechend lernt das Kind, sich gemäß einer vorherigen Wahl zu verhalten, die es sich danach in seinem Leben aneignet und die nach den Bedingungen und Umständen seiner Umwelt aktualisiert wird.58 Das Erlernen des Wählen-Könnens dient den Kriterien für die richtige Wahl in der jeweiligen Situation. Dieses Erlernen hängt mit der Erziehung des Kindes und dessen Lernprozessen zusammen, d. h. mit seiner Sozialisierung, die es durch das Erwachen aus der Unbekmmertheit zum Bewusstsein seiner selbst bringen soll.59 Kierkegaard spricht nicht von Sozialisierung, sondern von einem Erziehungsprozess, durch den die Eltern das Kind permanent ins Gleichgewicht bringen müssen. Das Etablieren von Gleichgewichten zielt darauf ab, zu ermöglichen, dass das Kind reif wird, dass seine Energie oder Intensitt geweckt wird. Dabei handelt es sich laut Kierkegaard weder um die Entwicklung einer reinen Doktrin der Pflicht, noch um Anweisungen, die einem Verhaltenskatalog zugrunde liegen; es geht nicht um die Mannigfaltigkeit der Pflicht, sondern um die Intensitt, nicht um die Aufzählung von Pflichten, sondern um das Erwachen des Bewusstseins im Individuum selbst, damit es aus einer Pflicht handelt, die aus ihm selbst kommt, also aus Normen, die es sich selbst in seinem Leben aneignet (EO2, 285). Die Erziehung des Kindes soll nicht durch die Überforderung von Pflichten und Verpflichtungen zustande kommen, sondern ihm erlauben, mittels einer Sache, die Idee einer Verantwortung reifen zu lassen, so dass diese gewonnene Energie zu jenem Alter transzendiert, in dem es ein vollständiges Bewusstsein von den Konsequenzen der eigenen Handlungen hat. „Darauf kommt es bei der Erziehung an, nicht darauf, daß das Kind dies oder jenes lerne, sondern daß der Geist reif werde, die Energie geweckt werde“ (ebd.). Dazu kommt, „daß die Hauptsache der Gesamteindruck der Pflicht ist, keineswegs die Vielfältigkeit der Pflicht“ (286), d. i. dass die Erziehung das Kind dazu 58 Hier findet ähnlicherweise das statt, was Piaget in seinen Untersuchungen zur moralischen Entwicklung des Kindes den Übergang von einem heteronomen zu einem autonomen Handeln nennt (vgl. J. Piaget Das moralische Urteil beim Kinde, Stuttgart 1983, I. Teil, Kap. 3 bis 6). 59 Vgl. K. Jaspers, a.a.O., S. 24ff.

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führen sollte, in sich selbst diesen Gesamteindruck zu übernehmen, der als Grundlage aller motivationalen Quellen gilt. In diesem Prozess des allmählichen Erwachens und des Etablierens von Gleichgewicht hängen Wahl und Sozialisierung zusammen. Denn als Kind lernt das Individuum, richtig zu wählen (168), so dass seine weitere Wahl in jeder Situation sowohl Produkt seiner intersubjektiven Verhältnisse und der reziproken Anerkennung, als auch der Übernahme von normativen Inhalten ist. Kierkegaard lenkt die Aufmerksamkeit auf das Moment des Erwachens im Leben des jungen Menschen, auf jenes Moment, in dem sein Leben anfängt, eine wahre Bedeutung zu gewinnen, und in ihm die Idee eines Selbstseins auftaucht. In diesem wichtigen Sinne kommt es zu den ersten fundamentalen Konfrontationen, wenn man wissen will, „was man ist“ als Mensch, der zum Geschlecht (Gattung) und dessen Geschichte gehört, und „wer man ist“, also man selbst als Mensch, der eine Lebensgeschichte hat (BA, 25).60 In der Auseinandersetzung und Berührung beider Fragen bildet sich das richtige Selbstverständnis als Gleichgewicht 61 im Individuum selbst. Stellen sich in diesem Prozess die oben genannten Fragen, „was man ist“ und „wer man ist“, dann vertieft man sich in die konstitutive Dimension des Selbst und seiner Sozialisierung. Der Begriff einer absoluten bzw. radikalen Wahl erläutert das Wie des Selbstseins durch seine Konkretion oder Individuierung, sowie das Wie des Übergangs zum Ethischen. Die Bedingung dafür ist, wie gesagt, das Moment des Erwachens, ein Moment, das zum Selbstsein drängt. In ihrer absoluten Form oder zweiten Funktion ist die Wahl der Wendepunkt, an dem der Übergang von der Unmittelbarkeit oder Unbekümmertheit zum Konkreten stattfindet, sie ist der qualitative Sprung, durch den man ein ethisches Individuum mit dem Bewusstsein seines Zusammenhangs mit der Lebenswelt wird, ein Individuum, dessen ethisches Selbstverständnis sich mit dem Ganzen unter der Form einer verantwortlichen Individuierung in den konkreten Lebensverhältnissen 60 Man findet bei diesem Gedanken die Ausdifferenzierung zwischen einem historischen und einem geschichtlichen Bewusstsein. Während jenes „das Wissen von der Geschichte“ (ebd., S. 118), das Objektive in ihr ist, ist dieses das, „in dem das Selbst seiner Geschichtlichkeit, als die allein es wirklich ist, inne wird“ (ebd., S. 119), d. i. seine Lebensgeschichte. 61 Obwohl es bei Kierkegaard im Prinzip nicht um eudaimonia, sondern um Freiheit und deren subjektive Verwirklichung geht, ist in dieser in Entweder/Oder dargestellten Idee eines Gleichgewichts als Harmonie die gleiche Intention der Mesoteslehre von Aristoteles enthalten, nämlich die Bestimmung dessen, was es heißt, ein stabiles Leben durch die Übernahme einer mittleren Haltung zu führen.

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verbindet. Diese Idee einer absoluten oder radikalen Wahl verstanden als einziges Verhältnis, in dem die Wahl als kritisches Moment im Subjektwerden dargestellt wird, ist aus mehreren Gründen problematisch. Da die Wahl ein bloßer willkürlicher und voluntativer Akt zu sein scheint, dem es an Kriterien fehlt, ist es erstens schwierig, ihre Verbindung mit der Vernünftigkeit des wählenden Individuums zu etablieren. Es ist zweitens nicht einfach zu sehen, wie sie sich auf den Sozialisierungsprozess bezieht. Zuletzt könnte man einwenden, dass die Wahl eine künstliche Bewegung sei, welche außerhalb der sozialen Beziehungen stattfindet. Solche Einwände fußen meiner Meinung nach auf einem Missverständnis, nämlich, Kierkegaards Analysen auf den Begriff der Existenz in ihrer Verbindung mit dem Einzelnen, mit dem bloßen Selbstsein, zu reduzieren, seine Existenzphilosophie als einen Entscheidungsirrationalismus verstehen zu wollen, kurzum, die Wahl in ihrer doppelten Funktion zu verkennen.62 MacIntyre behauptet z. B., dass mit der radikalen Wahl die Tradition der rational moralischen Kultur in Frage gestellt, ja vernichtet werde, wenn die Pflicht zu handeln, nicht das Resultat eines rationalen Kalküls, sondern einer Selbstwahl wäre. MacIntyre zufolge ist es weder klar, über welche Kriterien man verfügen sollte, um zwischen diesem oder jenem zu wählen, noch wie die Gründe, die uns zum einen oder anderen hin bewegen Anziehungskraft und Autorität gewinnen. Es ist auch nicht klar, wie die innere Verbindung zwischen den Begriffen der absoluten Wahl und des 62 Betrachten wir nur die Frage nach der Freiheit, dann finden wir, dass es mehr als eine Frage ist, die lediglich mit dem isolierten existierenden Einzelnen zu tun hat. Die Frage wird gestellt, so Kim, „als Freiheit des Individuums einmal gegenüber sich selbst als leiblich-sinnliches Wesen, zum anderen gegenüber den anderen Menschen, in der Gemeinschaft mit ihnen, in der Gesellschaft, und zum dritten gegenüber seinem Schöpfer, Gott“ (vgl. M. Kim Der Einzelne und das Allgemeine. Zur Selbstverwirklichung des Menschen bei Sçren Kierkegaard, München 1980, S. 13). Da der zweite Aspekt der Frage nach der Freiheit in der Literatur häufig nicht in Betracht gezogen wird oder keine besondere Rolle spielt, kann man das Verhältnis zwischen dem voluntativen und dem rationalen Moment sowie das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen nicht angemessen verstehen. Wie Kim will ich darauf aufmerksam machen, dass Kierkegaards Intention sich nicht exklusiv um den Einzelnen allein, sondern vor allem um ihn in Kommunikation, in gesellschaftlichen Beziehungen mit den anderen dreht. Eine ähnliche Überlegung ist auch bei Henningsen zu finden, bei dem „die Konkretion im Selbst keineswegs, wie nur zu gerne angenommen wird, die Verabsolutierung der Innerlichkeit [ist], vielmehr wird die Individualität eben erst aus der Wechselwirkung von Inneren und Äußerem gewonnen […] Ethik und Innerlichkeit sind nicht auf Regression, sondern Progression, auf Handlung und Praxis angelegt“ (vgl. B. Henningsen, a.a.O., S. 119ff.).

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Ethischen herzustellen ist, woraus das Ethische seine Autorität ableitet, worin seine Idealität und seine Begründung besteht, und ob die Autorität und die Vernunft sich nicht ausschließen, wenn man nach einer Wahl handelt, deren Prinzipien nicht mit der Vernunft übereinstimmen, weil sie sie transzendieren. Die radikale Wahl intendiert nicht dazu, zu zeigen, so MacIntyre, „für welche ethischen Prinzipien wir uns entscheiden“, sondern nur, dass sie den Übergang zu dem unbestreitbaren Universum des Ethischen ermöglicht. Kierkegaard kombiniert, MacIntyre zufolge, „den Gedanken der absoluten Wahl mit einer nicht in Frage gestellten Konzeption des Ethischen. Versprechen-Halten, die Wahrheit-Sagen, in allgemeingültigen moralischen Prinzipien verkörpert, werden auf eine ganz einfache Weise verstanden; der ethische Mensch hat keine großen Auslegungsschwierigkeiten, wenn er einmal seine grundlegende Wahl getroffen hat“.63 Diese Fragen sind sehr wichtig und es lohnt sich, den Versuch zu unternehmen, mittels der Auslegung der Wahl und Sozialisierung in ihrem Verhältnis zueinander eine Antwort zu finden. Die erste Frage betrifft das Problem, ob es sich um einen bloß dezisionistisch kriterienlosen Wahlbegriff oder um einen rationalen Wahlbegriff handelt. Meiner Ansicht nach versteht Kierkegaard unter dem Begriff Wahl das, was Aristoteles unter dem Begriff prohairesis 64 versteht, nämlich 63 Vgl. A. MacIntyre Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt am Main, New York 1987, S. 65 – 66. Zu MacIntyres Kritik vgl. auch E. Tugendhat Vorlesungen ber Ethik, Frankfurt am Main 1993, S. 215ff. 64 Das griechische Wort prohairesis ist nicht einfach zu übersetzen, weil es verschiedene Aspekte in Bezug auf den Zeitpunkt der Handlung berücksichtigt. Franz Dirlmeier und Olof Gigon übersetzen prohairesis mit dem Begriff Entscheidung, Ursula Wolf in ihrer vor kurzem erschienenen Übersetzung der Nikomachischen Ethik mit dem Begriff Vorsatz. Die prohairesis, wie Aristoteles sie versteht, ist etwas Gewolltes, das eine Überlegung voraussetzt. So schreibt Franz Dirlmeier: Prohairesis „bedeutet: auf Grund von Überlegung einem Ding vor einem anderen den Vorzug geben (so Ar. selbst EN 1112a 17). Das Substantiv also bedeutet: ,überlegte Wahl‘. Es scheint eine Bildung erst des 4. Jh. zu sein […] und ist aus rationalem, nicht affektischem Geiste geschaffen“ (F. Dirlmeier, 1969, S. 327, FN 48,3). Was Aristoteles damit vor allem betonen will, so Dirlmeier, ist „das Wählen als Entwicklung“, also nicht die unendliche Überlegung, sondern der faktische Entschluss. Für Ursula Wolf umfasst der Begriff prohairesis viel mehr als eine Entscheidung oder eine überlegte Wahl: „Das im Deutschen übliche ,Entscheidung‘ für prohairesis scheint mir ähnlich wie der von den meisten englischen Übersetzern benutzte Ausdruck ,decision‘ zu leicht Assoziationen an einen dezisionistischen Freiheitsbegriff zu wecken, den Aristoteles nicht kennt. Ursoms Vorschlag ,choice‘ (London 1990, 141f.) berücksichtigt nicht, dass es Wählen auch ohne Überlegung gibt, etwa wenn man zwischen Himbeer- oder Aprikoseneis wählt,

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ein „Vorher-Bedachtes“, ein „freiwilliger Akt, dem Überlegung vorausgegangen ist“, also etwas, „was vorher überlegt (probebouleumenon) ist […]“ (1112a 15).65 Sie ist, wie oben angedeutet, das Resultat einer vorherigen Wahl. Dieses Verhältnis zwischen prohairesis und Überlegung wird von Aristoteles zuerst aus dem Begriff des Willentlichen (hekousion) gewonnen. Aristoteles beginnt nicht unmittelbar mit der Bestimmung der prohairesis, sondern mit der Bestimmung des Gewollten (Freiwilligen) und des Ungewollten (Unfreiwilligen). Seine Absicht ist, genau zu bestimmen, wann eine Handlung gewollt oder ungewollt ist, so dass sie als gut oder schlecht beurteilt werden kann. Seine Absicht ist es aber auch zu zeigen, dass die prohairesis etwas Gewolltes ist und als solches etwas Rationales und Überlegtes, das am Anfang des moralischen Handelns steht. Dem Kriterium für die Unterscheidung zwischen dem Gewollten und dem Ungewollten dient die Antwort auf die Frage, ob der „Ursprung (arche¯) des Handelns im Handelnden selbst liegt“ (1111a 21 – 24), ob es in seiner Macht steht, sich für eine bestimmte Handlung zu entschließen. Steht es nicht in der Macht eines Menschen, auf diese oder jene Weise zu handeln, so dass sein Handeln „durch Zwang (bia) oder aufgrund von Unwissenheit (agnoia) geschieht“ (1109b 35 – 1100a 1f.), oder von äußeren Faktoren bestimmt wird, dann hat er ungewollt gehandelt. Liegt hingegen der während zur prohairesis die Überlegung gehört. Natürlich findet in der Überlegung ein Abwägen zwischen Handlungsalternativen, also ein Wählen statt; man könnte dann an das Äquivalent ,überlegte Wahl‘ denken (Dirlmeier 1956, 327). Doch gibt Aristoteles am Ende von III 4 neben diesem Aspekt des ,pro‘, dass man etwas überlegt vor etwas anderem vorzieht, noch einen zweiten an, der das ,pro‘ zeitlich versteht und die prohairesis als das bestimmt, dem eine Überlegung vorausgegangen ist. Wenn man das zugehörige Verb prohaireisthai wörtlich mit ,sich etwas vornehmen‘ übersetzt, hat man einen neutralen, d. h. philosophisch nicht vorbelasteten Ausdruck, der alle diese Bedeutungsaspekte tragen kann. ,Vorsatz‘ ist das entsprechende Substantiv“ (U. Wolf, 2006, S. 362, FN 13). Zum Begriff prohairesis vgl. auch U. Wolf Aristoteles’ ,Nikomachische Ethik‘, Darmstadt 2002, Kap. V; T. H. Irwin Reason and Responsability in Aristotle in A. Rorty (Hg.) Essays on Aristotle’s Ethics, Berkeley, Los Angeles, London 1980, S. 117 – 155; A. Kenny Aristotle’s Theory of the Will, London, New Haven 1979; H. G. Gadamer Hermeneutik als praktische Philosophie in ders. Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Frankfurt am Main 1976, S. 81ff.; Ch. Rapp Freiwilligkeit, Entscheidung und Verantwortlichkeit (III 1 – 7) in O. Höffe (Hg.) Aristoteles. Die Nikomachische Ethik (Klassiker Auslegen, Bd. 2), Berlin 1995, S. 109 – 133. 65 Hier zitiere ich jeweils die Übersetzungsversionen dieser Passage von Olof Gigon, Franz Dirlmeier und Ursula Wolf, da sie die Bedeutung des Begriffs prohairesis in Verbindung mit der Überlegung gut ergänzen. Im Folgenden wird Aristoteles nach der neuen Übersetzung von Ursula Wolf zitiert.

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Ursprung des Handelns in dem Menschen selbst, so dass man sagen kann, dass er das Ziel des Handelns unabhängig von den äußeren Faktoren bestimmen kann, dann hat er gewollt gehandelt. Das Gewollte setzt diese Macht des Menschen voraus, die ihn für sein Handeln verantwortlich macht. Damit ist klar, dass das Gewollte in einer engen Verbindung mit der prohairesis steht, wie Aristoteles selbst betont: „Der Vorsatz ist nun offensichtlich etwas Gewolltes (hekousion), er ist aber nicht mit dem Gewollten identisch, das eine weitere Ausdehnung hat. Denn am Gewollten haben sowohl Kinder wie die anderen Tiere teil, am Vorsätzlichen aber nicht, und Handlungen, die wir aus einer Augenblickslaune tun, nennen wir zwar gewollt, aber nicht vorsätzlich“ (1111b 7 – 9). Die prohairesis ist etwas Gewolltes, das Gewollte ist hier aber eine durch Überlegung gewonnene Absicht, also, wie Ursula Wolf bemerkt, „das rationale, überlegte Wollen, und zwar das überlegte Wollen in der Weise, dass die Überlegung unmittelbar handlungsbezogen ist, also fragt, was hier und jetzt zu tun ist“.66 Dieses Verhältnis zwischen prohairesis und Überlegung beschreibt Aristoteles wie folgt: „Da nun Gegenstand des Vorsatzes etwas Erstrebtes und Überlegtes unter denjenigen Dingen ist, die in unserer Macht stehen, wird auch der Vorsatz ein mit Überlegung verbundenes Streben (orexis bouleutike¯) nach den Dingen sein, die in unserer Macht (ta eph’ he¯min) stehen. Nachdem wir nämlich als Ergebnis der Überlegung eine Entscheidung erreicht haben, streben wir der Überlegung entsprechend“ (1113a 10 – 15).67 Die Intention von Aristoteles ist, zu zeigen, dass unsere Handlungen 66 Vgl. U. Wolf, a.a.O., S. 126. „Erst das Handeln aufgrund einer prohairesis stellt für Aristoteles die spezifische Form des willentlichen Handelns dar. Dieser Begriff ist zumindest in dem Punkt stärker als die heutigen Begriffe der Freiwilligkeit, als er das tatsächliche Stattfinden der Überlegung impliziert und nicht nur die Möglichkeit des Überlegens“ (ebd., S. 117). 67 Das Verhältnis zwischen prohairesis und Überlegung wird noch deutlicher, wenn Aristoteles die prohairesis von der „Begierde“, der „Erregung“, dem „Wunsch“ und der „Meinung“ abgrenzt (1111b 11f.). Was die prohairesis von ihnen stark differenziert ist eben, dass sie der Überlegung ermangeln. Die prohairesis kann weder Begierde noch Erregung sein, denn wer mit Begierde oder Erregung handelt, lässt sein Handeln von äußeren Faktoren, nicht aber von einer Überlegung bestimmen. So sagt Aristoteles, dass „der Unbeherrschte (akrate¯s) zwar mit Begehren [handelt], aber nicht mit Vorsatz, während umgekehrt der Beherrschte (enkrate¯s) mit Vorsatz handelt, aber ohne Begierde“ (1111b 12 – 15). Die prohairesis ist auch kein Wunsch, da der Wunsch zu dem Unmöglichen tendieren und so ein unbegrenztes Streben werden kann. Zwar kann man sich Dinge wünschen, die realisierbar sind; der Wunsch kann aber Dinge betreffen, die nicht in der eigenen Macht stehen, wie z. B. die Unsterblichkeit zu wollen: „Der Wunsch bezieht sich mehr auf das Ziel

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als überlegte gewollt sind, so dass es in unserer Macht steht, moralisch handeln zu wollen oder nicht. Der Begriff der Verantwortung, welcher damit zusammenhängt, entspricht Kierkegaards Darstellung in Entweder/ Oder: Sowohl bei Aristoteles als auch bei Kierkegaard bedeutet Verantwortung, dass man sich als Ursprung des eigenen Handelns anerkennt und gemäß dieser Charakterdisposition überlegt handelt. Indem man sich für die eigene Existenzform entscheiden kann, trägt man die Konsequenzen der eigenen Wahl mit und genauso ist es in jeder Situation. Zwar tendiert man dazu, zu wählen, was man für gut hält; dies setzt aber die Verantwortung gegenüber dem eigenen Handeln voraus: „Wenn jeder für sich selbst in gewisser Weise für seine Disposition verantwortlich ist, wird er auch in gewisser Weise selbst verantwortlich dafür sein, wie die Dinge seiner Vorstellung erscheinen“ (1114b 1ff.). Die Verwandtschaft des Begriffs der Wahl bei Kierkegaard mit dem Begriff der prohairesis bei Aristoteles ist in dem Aufsatz Allerlei ber die Ehe, wider Einwnde von einem Ehemann der Schrift Stadien auf des Lebens Weg noch deutlicher zu sehen. Dort ist zwar nicht mehr von einer Wahl die Rede, sondern von einem Entschluss. Der Begriff Entschluss vertieft aber die praktische Dimension der Wahl und lässt, angemessener als der Begriff Wahl, die Reflexion als seine fundamentale Voraussetzung erkennen. Das Verhältnis zwischen Entschluss und Reflexion, welches an die Definition der prohairesis und ihre enge Verbindung zu dem Gewollten erinnert, wird wie folgt dargestellt: Ein Entschluß ist immer noch eine Idealität; ich habe den Entschluß, bevor ich in Kraft dieses Entschlusses zu handeln beginne. Auf welche Weise aber habe (telos), der Vorsatz mehr auf das, was zum Ziel führt (ta pros to telos) […] Überhaupt also scheint der Vorsatz zum Gegenstand zu haben, was in unserer Macht steht (ta eph= he¯min)“ (1111b 26 – 30). Schließlich ist die prohairesis keine Meinung. Während die prohairesis sich so auf die Qualifizierung des Handels bezieht, dass man zwischen gut und schlecht unterscheiden kann, richtet sich die Meinung an der Erkenntnis aus, deren Bereich zwischen falsch und wahr unterschieden wird. Die prohairesis berücksichtigt das Moralische, die Meinung das Intellektuelle: „Wir sind nämlich dadurch Menschen mit so und so beschaffenen Charakterdispositionen, dass wir uns das Gute oder Schlechte vornehmen, nicht aber dadurch, dass wir es meinen. […] Außerdem wird der Vorsatz eher deswegen gelobt, weil er das zum Inhalt hat, was er soll, oder weil er richtig ist, während die Meinung dafür gelobt wird, dass sie wahr ist. Weiter nehmen wir uns das vor, wovon wir am sichersten wissen, dass es gut ist, während wir Meinungen auch über das bilden, was wir nicht genau wissen. Man denkt auch nicht, dass es dieselben Menschen sind, die die besten Vorsätze und die besten Meinungen haben, sondern einige meinen das Bessere, wählen aber aus Schlechtigkeit nicht, was sie sollen“ (1112a 2 – 10).

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ich denn den Entschluß erlangt? Ein Entschluß ist stets reflektiert, achtet man nicht hierauf, so ist die Sprache verwirrt und der Entschluß gleichgesetzt mit einem unmittelbaren Antrieb, und alles was man vom Entschluß sagt ebenso wenig eine Begriffsentwicklung, als man es eine Reise nennen könnte, wenn einer die ganze Nacht hindurch fährt, aber falsch abbiegt, so daß er sich in der Morgenstunde an dem gleichen Flecke findet, von dem er losgefahren ist. In einer rein ideellen Reflexion hat der Entschluß die Wirklichkeit ideell ausgeschöpft, und der Abschluß dieser ideellen Reflexion (welcher etwas mehr ist als die summa summarum und, kurz und gut, eben der Entschluß ist), also der Entschluß, ist die durch eine rein ideelle Reflexion zustande gebrachte Idealität, welche das erworbene Betriebskapital der Handlung ist (SLW, 168).

Wie Aristoteles versteht Kierkegaard den Entschluss als das, was am Anfang des moralischen Handelns steht und der Reflexion Grenzen setzt. Erst im Entschluss gewinnt die Reflexion einen wahren Ausdruck, weil die Reflexion die Wirklichkeit erreicht. Kierkegaard lässt dies den Gerichtsrat am Verhältnis der Verliebtheit zur Ehe erklären: „Die Reflexion kehrt sich dem Verhältnis der Verliebtheit zur Wirklichkeit zu“ (ebd.), oder sie (die Reflexion) ist die Orientierung an der Wirklichkeit, was zum Handeln führt. Durch sie findet eine Transformation statt, so heißt heiraten, „in Beziehung auf eine gegebene Wirklichkeit in eine Wirklichkeit eintreten; heiraten schließt eine außerordentliche Konkretheit in sich. Diese Konkretheit ist die Aufgabe der Reflexion“ (ebd.). Genau das ist, was Aristoteles auch meint, wenn er sagt, dass der „Gegenstand der Überlegung aber nicht die Ziele [sind], sondern das, was zu den Zielen führt (ta pros to telos)“ (1112b 11f.).68 Denkt man über die Ziele nach, dann läuft man Gefahr, dass die Überlegung eine ununterbrochene Tätigkeit wird, eine Tätigkeit, in der der Gegenstand der Überlegung idealisiert werden kann und in der man zu keinem Entschluss kommt.69 Hat hingegen die Überlegung die Konkretheit zur Aufgabe, bezieht sie sich auf den „Prozess der Verwirklichung“ (1112b 23 – 24). Das methodische Ziel, welches Kier68 Alle Überlegung ist eine „Untersuchung (ze¯te¯sis)“, eine Analyse, und „[d]as, was in der Analyse das Letzte ist, wird dann im Prozess der Verwirklichung das Erste sein“ (1112b 23 – 24). Die prohairesis bezieht sich eben auf dieses durch Überlegung gewonnene Erste. 69 Ein Beispiel dafür sind die Schattenrisse in Entweder/Oder 1. Dort macht der Ästhetiker A auf dieses Phänomen aufmerksam, wenn er das psychologische Profil von drei Frauen (Marie Beaumarchais, Donna Elvira und Gretchen) rekonstruiert, die wegen einer Erfahrung von unglücklicher Liebe auf Erwartung ununterbrochen und reflektierend stehen, ohne dass sie die Wirklichkeit erreichen können. Unendliche Reflexion und Leiden gehören zusammen und lassen die Unruhe der Innerlichkeit erblicken, die der Ästhetiker A als Künstler inszenieren will.

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kegaard hier vor Augen hat, ist, zu bestimmen, „wie der Entschluß hinzutreten kann, wie die Reflexion, die im Entschluß vorausgesetzt ist, einen Punkt erreichen kann, an dem sie mit der Unmittelbarkeit der Verliebtheit in eins zusammenfällt“ (SLW, 163). Wie in Entweder/Oder wird hier die These vertreten, dass das Unmittelbare im Entschluss auf eine solche Weise übernommen wird, dass es mit der Pflicht koinzidiert. Denn im Entschluss wählt man das du sollst oder, um beim Verhältnis der Verliebtheit zur Ehe zu bleiben, im Entschluss zu heiraten, wird die Verliebtheit Pflicht genannt. Nicht jeder Entschluss impliziert aber die tatsächliche Verwirklichung einer Aufgabe oder, wie unten näher erläutert werden wird, die Aneignung der Formen der Sittlichkeit. Zwar steht der Entschluss am Anfang des Handelns, jedoch man kann sich negativ entschließen und sich so der Möglichkeit der Verwirklichung der Freiheit entziehen. Man muss sich daher klar machen, dass Kierkegaard unter prohairesis den positiven Entschluss als den wahren Anfang der Freiheit versteht (168). Wie das zu verstehen ist wird deutlich, wenn man auf die Unterscheidung zwischen Handlungen, die ohne Entschluss zustande kommen, und Handlungen, die durch einen negativen oder einen positiven Entschluss stattfinden, aufmerksam wird. Im ersten Fall entscheidet das Individuum nicht selbst, was es will, sondern lässt seine Umgebung für sich entscheiden. Es will wie die anderen sein und passt sich an. Es ist nicht die Reflexion, die dem Individuum die Aufgabe zeigt und es zu dem Entschluss bewegt, sie verwirklichen oder nicht verwirklichen zu wollen. Vielmehr ist es ein „Entschluß aus dritter Hand“ (112), der das eigene Leben bestimmt: „Ein Entschluß, der sich frisch weg in Übereinstimmung mit andern bestimmt, und sich vermöge dessen entschließt, daß Nachbarn und Freunde sich auch entschlossen haben, ist eigentlich kein Entschluß, denn ob es Poesie aus zweiter Hand gibt, weiß ich nicht, aber ein Entschluß aus dritter Hand ist kein Entschluß“ (ebd.). Das Handeln ohne Entschluss ist eine Art sozial bestimmter Automatismus. Es ist keine Tat der Freiheit, die das Handeln des Individuums bestimmt. Im Fall der Handlungen, die durch einen negativen Entschluss stattfinden, handelt es sich um „ein[en] Entschluss, der nicht will“ (111). Man entschließt sich für das Nichtverwirklichenwollen einer Aufgabe, man will sich vom Allgemeinen emanzipieren. Die Reflexion, die beim Entschluss vorausgesetzt wird, ist eine Reflexion über die Ziele, die nicht zu Ende kommt. Im Gegensatz dazu hat „der positive Entschluß den großen Vorteil, daß er das Dasein fest gründet und den einzelnen Menschen in sich selbst hinein zur Ruhe bringt, der negative hält ihn fort und fort in der Schwebe. Ein negativer Entschluß ist stets weit anstrengender als ein positiver, er kann nicht habituell werden, und

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gleichwohl soll er fort und fort aufrecht erhalten werden“ (112). Bei einem negativen Entschluss gibt es nichts, das man tatsächlich verwirklicht, sondern etwas, das ständig auf die Probe gestellt werden soll, da er keine Sicherheit mit sich bringen kann. Auf die durch den negativen Entschluss angeblich erreichte Wirklichkeit kann man sich nicht verlassen, denn „[e]in negativer Entschluß hält nicht den Menschen, der Mensch muß ihn halten“ (113). Wie Aristoteles versteht Kierkegaard den negativen Entschluss als ein unendliches Streben, welches die Möglichkeit des Glücks als eines Gut-Lebens und eines Gut-Handelns verhindert (1098b 20 – 21). Der positive Entschluss dagegen ist das, was den Charakter bildet und dem Leben Beständigkeit gibt. Er ist das, was das gelingende Gutsein ermöglicht. Übersieht man nicht, dass Kierkegaard unter Wahl bzw. Entschluss die prohairesis in dem dargestellten Sinne versteht, dann ist es nicht mehr problematisch, ein Handeln aus Pflicht als Resultat einer Selbstwahl zu postulieren. Damit ist der erste Einwand MacIntyres, die Wahl wäre etwas Willkürliches, entkräftet. Was die Frage nach den Kriterien für die Wahl anbelangt, finde ich es sinnvoll, die doppelte Funktion der Wahl im Prozess des ethischen Werdens des Individuums im Lichte der von Habermas dargestellten Distinktion eines pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauchs der praktischen Vernunft zu interpretieren.70 Habermas bezieht sich dabei auf Aspekte des Zweckmäßigen, des Guten und des Gerechten, bei denen der Begriff prohairesis, wie ihn Aristoteles und Kierkegaard verstehen, auch eine wichtige Funktion erfüllt. Der ethische Gebrauch wie Habermas ihn darlegt, steht in einem besonders engen Zusammenhang mit Kierkegaards Erläuterungen, man könnte sogar sagen, dass dieser ethische Gebrauch stark davon inspiriert ist. Was den pragmatischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft anbelangt, behauptet ich nicht, dass Habermas sich auf Kierkegaard bezieht, sondern dass diese Distinktion die Theorie der Wahl Kierkegaards angemessen ergänzt, die Verbindung der Wahl mit der Rationalität erneut verstärkt und erlaubt, die Frage nach den Kriterien in einem geeigneten Kontext zu stellen. Mit einer kurzen Rekonstruktion der Distinktion von Habermas möchte ich darüber hinaus auf Aspekte zurückkommen, welche das Verhältnis der Wahl zur Sozialisierung näher erhellen. 70 J. Habermas Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft in ders. Erluterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991, S. 100 – 118.

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Habermas beginnt seine Distinktion mit der Beschreibung des pragmatischen Gebrauchs der praktischen Vernunft. In diesem Fall hat die rationale Wahl mit der Lösung von praktischen Problemen zur Befriedigung von bestimmten Wünschen zu tun. Die Wahl bezieht sich auf das Wollen und darauf, was vernünftigerweise in Betracht zu ziehen ist, um das Ziel des Handelns zu erreichen: „Es geht um eine rationale Wahl der Mittel bei gegebenen Zwecken oder um die rationale Abwägung der Ziele bei bestehenden Präferenzen […] Die praktische Überlegung bewegt sich hier im Horizont der Zweckrationalität mit dem Ziel, geeignete Techniken, Strategien oder Programme zu finden“.71 Nach einer Theorie der rationalen Wahl hat man es bei der Bestimmung der Mittel mit pragmatischen Imperativen zu tun, die als solche ein relatives Sollen implizieren. Wie man sich in der gegebenen Situation entscheidet, hat nur eine Wirkung auf die Verwirklichung einer Aufgabe am Horizont der genannten Zweckrationalität, und das heißt, die hier stattfindende Wahl stellt keine Werte in Frage, die das Selbstverhältnis oder das Verhältnis zur Gemeinschaft betreffen. Was die rationale Wahltheorie hier leistet, betrifft die rationale Fähigkeit, Gründe für eine angemessene Antwort auf praktische Probleme zu bestimmen. Der pragmatische Gebrauch der praktischen Vernunft entspricht, so mein Vorschlag, der ersten Funktion der Wahl, welche bei Kierkegaard mit dem Erlernen des Wählen-Könnens zusammenhängt. Es geht um eine rational zu erwerbende Fähigkeit, die sich später in Bezug auf die Bestimmung dessen, was dem Individuum als Gut erscheint, als etwas Fundamentales erweisen wird. Und das heißt, dass wir es, immer wenn sich die Frage „was soll ich tun“ in die Frage „wie sollte man leben“ übersetzen lässt,72 mit einer Sinnfrage zu tun haben, die das Individuum erst mit sich selbst und danach mit seiner Umwelt existentiell konfrontiert. In diesem Fall spricht Habermas von dem ethischen Gebrauch der praktischen Vernunft. Die Konfrontation betrifft grundsätzlich Probleme des Selbstverständnisses einer Person, also der Bestimmung der Lebensführung und der Bildung des Charakters: „Gravierende Wertentscheidungen werden seit Aristoteles als klinische Fragen des guten Lebens behandelt. Eine illusionäre Entscheidung – die Bindung an den falschen Partner, die Wahl der falschen beruflichen Alternative – kann ein verfehltes Leben zur Folge haben. Die praktische Vernunft, die in diesem Sinn nicht nur auf das Mögliche und das Zweckmäßige, sondern auf das Gute abzielt, bewegt sich, wenn wir dem 71 Ebd., S. 102. 72 Vgl. U. Wolf Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbeck bei Frankfurt 1999, S. 69ff.

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klassischen Sprachgebrauch folgen, im Bereich der Ethik“.73 Diese rationale Fähigkeit, existentiell richtig zu entscheiden, um so dem eigenen Leben Beständigkeit zu geben, ist von großer Bedeutung für den gelingenden Gebrauch der praktischen Vernunft in seinem pragmatischen und moralischen Sinn. Denn ein gelingendes Leben hat ein positives Sichverhalten zu sich selbst und zur Gemeinschaft zur Folge. Auch hier argumentiert Habermas ähnlich wie Kierkegaard, wenn er auf die Wichtigkeit der positiven, permanent zu aktualisierenden Aneignung der eigenen Lebensgeschichte und der Geschichte des Ganzen in der Bildung eines richtigen Selbstverständnisses aufmerksam macht: „Dieses existentielle Selbstverständnis ist im Kern evaluativ und trägt ein Janusgesicht wie alle Wertungen. In ihm sind beide Komponenten verwoben: die deskriptive der lebensgeschichtlichen Genese des Ich und die normative des Ich-Ideals. Darum verlangt die Klärung des Selbstverständnisses oder die klinische Vergewisserung der eigenen Identität ein aneignendes Verstehen – die Aneignung der eigenen Lebensgeschichte wie auch der Traditionen und Lebenszusammenhänge, die den eigenen Bildungsprozeß bestimmt haben“.74 Der ethische Gebrauch der praktischen Vernunft entspricht der zweiten Funktion der Wahl, welche bei Kierkegaard die radikale Wahl des Selbst ist. Was die Theorie der rationalen Wahl in diesem Sinne leistet, ist die Bildung eines richtigen Selbstverständnisses als Gleichgewicht im Leben des Einzelnen. Das daraus resultierende Sollen ist, Habermas zufolge, ein „am Telos des guten Lebens relativierte[s] Sollen“.75 Was dem Einzelnen hierbei als Gut erscheint, wird erst problematisch, wenn seine Handlungen und Interessen mit denen der anderen kollidieren. Wir haben es hier mit moralischen Problemen zu tun, die es notwendig machen, die eigene Egozentrizität zu transzendieren, um das gemeinschaftliche Leben zu ermöglichen. In dieser Situation wird die Motivationsfrage eigentlich auf eine kritischere Weise gestellt als je zuvor, wie Ursula Wolf zeigt, indem man nach den Gründen fragt, sich an die moralischen Normen zu halten, die fordern, „die Moral höher zu stellen als andere Interessen“.76 In diesem Fall spricht Habermas schließlich von dem moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft. Sind aus der Ich-Perspektive Maximen gut für den 73 J. Habermas Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, a.a.O., S. 103. Im Folgenden sind alle Hervorhebungen von Habermas. 74 Ebd., S. 104. 75 Ebd., S. 109. 76 Vgl. U. Wolf Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, a.a.O., S. 18.

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Einzelnen, sollen sie aus der Wir-Perspektive gut für alle sein. Es geht um die Bestimmung dessen, was für alle moralisch verbindlich ist. Das Sollen ist hierbei absolut, eine Pflicht, die unabhängig von subjektiven Zwecken und Präferenzen sowie von persönlichen Zielen zu erfüllen ist. Der moralische Gebrauch der praktischen Vernunft entspricht der zweiten Funktion der Wahl in ihrer Konkretion, welche bei Kierkegaard mit der Übernahme der Formen der Sittlichkeit (Arbeit, Beruf, Freundschaft, Ehe, etc.) in das eigene Leben einhergeht. Solche Formen besitzen eine Allgemeingültigkeit, welche das Leben in der Gemeinschaft reguliert. Durch sie erkennt der Einzelne an, was ihn mit den anderen als menschliches Wesen und mit dem Ganzen, zu dem er gehört, verbindet. So drückt es auch Habermas aus, wenn er sagt: „Nur wenn meine Identität und mein Lebensentwurf eine allgemeingültige Lebensform reflektierte, läge das, was aus meiner Perspektive gleichermaßen gut für alle ist, tatsächlich im gleichmäßigen Interesse aller“.77 Indem ich das Allgemeine realisiere und damit die Wir-Perspektive übernehme, ohne dabei aufzuhören, ich selbst zu sein, verwirkliche ich etwas, das nicht nur gut für mich, sondern auch gut für alle ist, die am Allgemeinen teilnehmen und sich zu dieser Teilnahme verpflichtet wissen. Es ist in diesem Sinne, dass Kierkegaard in Entweder/ Oder eine unbestreitbare Konzeption des Ethischen vertritt, die er aber auf die Weise voraussetzt, dass das Ethische die Sphäre der Allgemeingültigkeit des Handelns oder der Interaktionshorizont ist, von dem aus die fundamentalen Fragen im Leben zu stellen sind und alle Konkretion stattfindet. Die Nähe der Erläuterungen von Habermas zu Kierkegaards Auffassung der Wahl in den zwei von mir funktionalistisch vorgeschlagenen Perspektiven ist noch deutlicher zu sehen, wenn Habermas seine Distinktion eines pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauchs der praktischen Vernunft am Ende seines Aufsatzes kurz wie folgt zusammenfasst: Der pragmatische, ethische und moralische Gebrauch der praktischen Vernunft zielt also ab auf technische und strategische Handlungsanweisungen, auf klinische Ratschläge und moralische Urteile […] Das an subjektiven Zwecken und Werten relativierte Sollen der pragmatischen Empfehlung ist an die Willkr eines Subjekts gerichtet, das kluge Entscheidungen auf der Basis der Einstellungen und Präferenzen trifft, von denen es kontingenterweise ausgeht: das Vermögen rationaler Wahl erstreckt sich nicht auf die Interessen und Wertorientierungen selber, sondern setzt diese als gegeben voraus. Das am Telos des guten Lebens relativierte Sollen klinischer Ratschläge ist adressiert an 77 J. Habermas Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, a.a.O., 107.

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das Streben nach Selbstverwirklichung, also an die Entschlußkraft eines Individuums, das sich zu einem authentischen Leben entschließt: die Fähigkeit zu existentieller Entscheidung oder radikaler Selbstwahl operiert stets innerhalb des Horizonts der Lebensgeschichte, aus deren Spuren das Individuum lernen kann, wer es ist und sein möchte. Das kategorische Sollen moralischer Gebote ist schließlich an den im emphatischen Sinne freien Willen einer Person gerichtet, die nach selbstgegebenen Gesetzen handelt: einzig dieser Wille ist autonom in dem Sinne, dass er sich vollständig durch moralische Einsicht bestimmen lässt.78

Fragt man nach den Kriterien für die Selbstwahl, so ist klar, dass sie in der Mitteilungsform der klinischen Ratschläge enthalten sind. Die indirekt provozierte Konfrontation mit unvollständigen Lebensformen, die Pathologien, die diese Lebensformen charakterisieren und ein instabiles Leben zur Folge haben, kurz, die ganze Konstruktion des Ästhetischen als Verzweiflung in der Haltung des Ästhetikers A reflektiert, sind der Kriteriumskatalog, der der Selbstwahl zugrunde liegt. Beharrt man auf die Frage nach den Kriterien und fragt man wieder mit Nachdruck, „woher weiß ich eigentlich, ob ich richtig gewählt habe, ob dieses das Leben ist, das ich wirklich führen will“, kann man den Fragenden nur durch die mit den klinischen Ratschlägen indirekt provozierte Konfrontation mit sich selbst erneut vor die Selbstwahl führen. Die Selbstwahl setzt die rationale Fähigkeit des Individuums voraus, das Mitgeteilte auf Grund von Überlegung so zu übernehmen, dass es frei entscheiden kann, wie es leben will. Für Habermas heißt dies: „Indem ich einsehe, was gut für mich ist, mache ich mir den Ratschlag in gewisser Weise auch schon zu eigen – das ist der Sinn einer bewussten Entscheidung. Indem ich mich von der Richtigkeit eines klinischen Ratschlages überzeuge, entschließe ich mich auch schon zu der angeratenen Umorientierung meines Lebens“.79 Meiner Meinung nach sind Kriterien, die mit moralisch verbindlichen Maximen zusammenhängen, und die dementsprechend genau bestimmt werden müssen, nicht mit Kriterien zu verwechseln, die den Charakter eines klinischen Ratschlages haben. In dem ersten Fall kann ich erwarten, dass man mir genau sagt, was ich in der gegeben Situation des Handelns zu tun habe, weil sich das Handeln an einem allgemeinen Gesetz orientiert. Ich kann sicher sein, dass ich gemäß einer normativen Ordnung gehandelt habe, weil mein Handeln mit dieser Ordnung koinzidiert. Ideeller Weise werden solche Kriterien bzw. wird die normative Ordnung innerhalb eines deliberativen Prozesses von allen bestimmt. In dem zweiten Fall sind die 78 Ebd., S. 109. 79 Ebd., S. 112.

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Kriterien Anweisungen, die mir helfen, die richtige Lebensform für mich zu wählen. Eine absolute Gewissheit in Bezug auf die getroffene Wahl gibt es nicht. Daher spricht Kierkegaard von der Notwendigkeit einer permanenten Aktualisierung der Wahl, von Aneignung, Habermas seinerseits von einem evaluativen Prozess als Kern des existentiellen Selbstverständnisses, von einem „aneignende[n] Verstehen“.80 Das ist auch, was Gadamer unter dem Begriff Selbstverständnis versteht, nämlich einen Prozess, der das ganze Leben des Menschen betrifft: „,Selbstverständnis‘ kann nicht mehr auf eine vollständige Selbstdurchsichtigkeit hin bezogen werden, das heißt auf die volle Gegenwart unserer selbst für uns selbst. Selbstverständnis ist immer nur unterwegs, das heißt auf einem Wege, den zu vollenden eine klare Unmöglichkeit ist“.81 Der Sinn der radikalen Selbstwahl im Prozess des ethischen Werdens des Individuums wird missverstanden, wenn man nach Kriterien im Sinne der Moral fragt. Die Kriterien sind ethischer Ordnung und finden ihre Rechtfertigung in der therapeutischen Struktur des Diskurses. Legt man die radikale Selbstwahl als einen mit Sozialisierung einhergehenden Aneignungsprozess82 dar, so kann man glaubhaft argumentieren, dass Kierkegaard mit der radikalen bzw. absoluten Selbstwahl nicht zu verstehen geben will, dass es sich um eine endgültige Wahl des Selbst handelt.83 Mit der absoluten Wahl des Selbst wird auf das im Sozialisierungsprozess unbemerkte kritische Moment des Übergangs zu dem Zu80 Ebd., S. 104. 81 H. G. Gadamer, a.a.O., S. 97 – 98. 82 Im Gegensatz zu Greve behaupte ich, dass sich der Übergang zum Ethischen als freie Entscheidung des Individuums als Prozess verstehen lässt (vgl. W. Greve Kierkegaards maieutische Ethik, a.a.O., S. 128ff.). 83 Was die Bedeutung der Selbstwahl in Entweder/Oder betrifft, bin ich auch anderer Meinung als Theunissen, der behauptet, dass Kierkegaard das Selbstsein in Entweder/Oder nicht als Selbstwerden versteht. Andererseits stimme ich Theunissen zu, wenn er bemerkt, dass die spätere Existenzphilosophie bei der Idee geblieben ist, dass die Wahl des Selbst eine einzige, endgültige Wahl ist, die keiner Aktualisierung bedarf. „Was das Selbstsein angeht“, erläutert Theunissen, „also die Verwirklichung des sogenannten Selbst im Existieren, so war Kierkegaard nur am Anfang, in seinem Erstlingswerk Entweder/Oder, in dem Irrtum befangen, in dem die spätere Existenzphilosophie, jedenfalls die deutsche, oft hängengeblieben ist, in der Meinung nämlich, als bedürfe es nur einmal einer Wahl, um fortan sein Dasein in der stabilen Form des Selbstseins realisieren zu können. Kierkegaards philosophisch reifste Schrift hingegen, Die Krankheit zum Tode, löst das Selbstsein in ein bloß tentatives Selbstwerden auf, das jeden Augenblick neu geleistet werden muß [Hervorhebungen von Theunissen]“ (vgl. M. Theunissen Kierkegaards philosophisches Profil, a.a.O., S. 14).

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stand aufmerksam gemacht, in dem das Individuum sich auf positive Weise zu sich selbst und zur Welt verhält. In diesem kritischen Moment gelangt das Individuum durch die Loslösung von seinen primären Bindungen zum Bewusstsein seiner selbst und wird gleichzeitig selbstständig, indem es aus der absoluten Wahl des Selbst das Resultat seiner eigenen Lebensgeschichte macht. Das Individuum steht aber auch durch die Wiederherstellung des Gleichgewichts in seinem Leben in Kontinuität mit seiner Umwelt und verhält sich zum anderen ethisch. Weil Kierkegaard davon ausgeht, dass das tatsächliche Stattfinden der radikalen Wahl des Selbst konsequenterweise die Wahl des ethischen Lebens impliziert, kann er zu verstehen geben, wie MacIntyre es in seiner Kritik betont, dass „der ethische Mensch keine großen Auslegungsschwierigkeiten [hat], wenn er einmal seine grundlegende Wahl getroffen hat“.84 Die Erläuterungen des Gerichtsrats in Entweder/Oder sind tatsächlich zum Teil optimistisch. Er setzt voraus, dass wer sich sein Selbst mit Ernst gewählt hat, sich in einem Zustand befindet, in dem er nicht anderes tun kann, als das Ethische in seinem Leben zu äußern.85 Das bedeutet aber nicht, dass eine solche Äußerung problemlos, ohne Komplikationen, stattfindet. Denn obwohl es eine grundlegende Wahl geben kann, ist diese keine endgültige. Da das Individuum seine grundlegende Wahl immer wieder zu ratifizieren hat, wenn es selbst weiter sein will, hat es mit dem Problem zu kämpfen, dass die Möglichkeit einer Selbstverfehlung ständig da ist.86 Der Optimismus nämlich, dass die Wahl des Selbst zur Wahl des ethischen Lebens führen muss, findet seine Grenze an der Möglichkeit einer Selbstverfehlung, die das Individuum daran erinnert, dass das Selbstsein eine Aufgabe für das ganze Leben ist. Zu diesem Problem einer Selbstverfehlung trotz der Selbtswahl komme ich am Ende des nächsten Kapitels. MacIntyres Kritik trifft die Darstellung der Wahl von Kierkegaard auch nicht ganz, wenn man davon ausgeht, dass der zentrale Punkt seiner Argumentation in seinem Buch Der Verlust der Tugend darin liegt, zu veranschaulichen, wie nach dem Scheitern des Projekts der Aufklärung, der 84 Vgl. A. MacIntyre, a.a.O., S. 65 – 66. 85 Hegel vertritt eine ähnliche These, wenn er die Konsequenzen eines sittlichen Handelns im Kontext einer Zugehörigkeitsgemeinschaft in Betracht zieht: „Was der Mensch tun müsse, welches die Pflichten sind, die er zu erfüllen hat, um tugendhaft zu sein, ist in einem sittlichen Gemeinwesen leicht zu sagen, – es ist nichts anderes von ihm zu tun, als was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt ist [Hervorhebungen von Hegel – SMF]“ (vgl. G. W. F. Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke 7), a.a.O., § 150). 86 Vgl. dazu. A. Pieper Søren Kierkegaard, München 2000, S. 99ff.

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Moral eine rationale Begründung zu geben, sich die gegenwärtige Moralphilosophie in einer Situation befindet, die man als Verlust des theoretischen und praktischen Verständnisses der Vernunft darlegen kann. Mit anderen Worten, dass die individuelle Autonomie als Produkt der illustrierten Moral mit dem obligatorischen Charakter des Gesetzes, also mit der Allgemeinheit des moralischen Gesetzes, nicht angemessen konvergiert worden ist. Darüber hinaus zeigt MacIntyre in seiner Kritik am Emotivismus die gefährliche Tendenz der Erscheinung eines von seinen sozialen Bindungen freien Individuums, sowie des Bruchs mit der traditionellen Konzeption eines Handelns nach Zwecken und einer ihnen entsprechenden Verwirklichung eines Projekts. Dass damit das Selbst abstrakter geworden ist und sich in Unabhängigkeit von der Welt bestimmt, dass es am Zusammenhang leidet, darum geht es MacIntyre. Nach meiner Auffassung koinzidieren MacIntyres Erläuterungen mit der Intention Kierkegaards, die er kritisiert.87 Denn Kierkegaard, der durch seine Theorien der Wahl und der Konkretisierung der Ethik sowohl abstrakte als auch metaphysische Auffassungen des Selbst problematisiert, versteht auch, dass das Projekt der Aufklärung an Konkretion leidet, da es den Zusammenhang zwischen den Formen des richtigen Selbstverständnisses und dem moralischen Gesichtspunkt verkennt und daher nur das nackte Selbst ohne Kontinuität mit seiner Lebensgeschichte darstellen kann. Die mit metaphysischen Inhalten getragene Vernunft als das primäre Fundament des moralischen Handelns ist problematisch, wenn man die Kontinuität mit der Welt aufrechterhalten will. Kierkegaard lässt aber durchblicken, dass eine Begründung der Moral in erster Linie auf einem höheren Prinzip beruhen muss, bei ihm auf einer ethischen Lebensanschauung, einem Prinzip, in dem die Vernünftigkeit in dem richtigen ethischen Selbstverständnis verankert ist. Und das heißt, dass eine Begründung der Moral 87 In Geschichte der Ethik im berblick behauptet MacIntyre hingegen im Abschnitt über Kierkegaard, dass „nicht in der Moral, sondern in jedem Bereich, der die menschliche Existenz berührt, die relevanten Kriterien einer objektiven Rechtfertigung [ermangeln]. Eine solche Rechtfertigung kann an der Mathematik und den Naturwissenschaften am Platz sein, aber ansonsten vermag eine vernünftige Argumentation nichts anderes zu leisten, als uns Alternativen vorzuschlagen, zwischen denen wir unsere eigene Entscheidungen treffen müssen […] Aber dabei handelt es sich nicht um bloßen Irrationalismus, um ein willkürliches Hochspielen willkürlich zu treffender Entscheidungen. Denn Kierkegaard glaubt, rationale Argumentationen selber zeigen uns, daß die Entscheidung des Individuums am Ende souverän sein muß“ (vgl. A. MacIntyre Geschichte der Ethik im berblick. Vom Zeitalter Homers bis zum 20. Jahrhundert, Weinheim 1995, S. 199ff.).

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aus dem Verhältnis eines richtigen Selbstverständnisses zur Vernunft zu denken wäre. Die Art und Weise, wie dieses Verhältnis herzustellen ist, hängt von einem Verständnis des Handelns aus Pflicht ab, nach dem die Pflicht die Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen in der Handlung des Individuums ist. Dem widme ich mich im nächsten Kapitel.88 Die Wahl soll in beiden funktionalistischen Perspektiven – in ihrer einfachen und absoluten Form – betrachtet werden, um nicht aus den Augen zu verlieren, dass es vor allem um die Beschreibung eines Prozesses geht, von der individuellen Bildung in ihrem frühen Stadium bis zu ihrer höheren Form. Ich habe auch zu zeigen versucht, dass die Wahl in ihrer einfachen Form als intersubjektive Praxis im Bereich des Allgemeingültigen weder mit dem willkürlichen Wählen noch mit einem bloß voluntativen Akt verwechselt werden darf, weil wir es mit einer überlegten Wahl zu tun haben, auch bei der absoluten Wahl. Die Emphase, die Kierkegaard auf die Notwendigkeit setzt, die Wahl des eigenen Selbst mit Ernst zu übernehmen, ist nicht zufällig, denn nur mit der absoluten Wahl ist es möglich, den Zustand zu erreichen, den Kierkegaard Durchsichtigkeit 89 nennt, und aus dem her es Sinn ergibt, von einem verantwortlichen Verhalten zu reden. In der Forderung, richtig zu wählen, ist deshalb sowohl der bildende Charakter der Wahl in der Herausarbeitung der Persönlichkeit, als auch die Idee eines Selbstseins enthalten, die das Individuum selbst entdeckt und sich in seiner Lebensgeschichte permanent aneignet. Das Moralische wird dadurch zu etwas, das das Individuum in seinem Leben äußern können muss, ohne die Verbindung mit seiner Partikularität zu unterbrechen und auf sich selbst zu verzichten. Letzteres exemplifiziert Kierkegaard, wenn er den oben genannten Augenblick im Leben des Menschen beschreibt, in dem er sich einerseits mit der Moralität, und andererseits mit seinen Affekten konfrontiert sieht, so dass sein Entschluss entweder eine Vertiefung seiner Persönlichkeit durch die Übernahme von ethischen Kategorien oder die Auszehrung der Persönlichkeit im Ästhe88 Dazu komme ich auch unten im III. Teil, Kap. II. 89 Theunissen und Greve interpretieren den Begriff der Durchsichtigkeit als „das Ziel menschlicher Selbstverwirklichung“. Durchsichtig-Werden bezeichnet damit „den Zweck des Ethischen“, d. h. die Bewegung der Subjektwerdung „als Prozeß einer vom Individuum zu leistenden ,wählenden‘ Selbsterkenntnis, als aneignende Bewußtwerdung der eigenen konkreten persönlichen und sozialen Situation sowie der eigenen Vergangenheit, in der diese Konkretion heranwuchs“ (vgl. M. Theunissen / W. Greve Kierkegaards Werk und Wirkung in dies. a.a.O., S. 15). Vgl. auch dazu, M. Theunissen Der Begriff Ernst bei Sçren Kierkegaard, Freiburg [Breisgau] [u.a.] 1978, S. 95ff.

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tischen nach sich zieht. Der ethische Entschluss wird jedoch als Gleichgewicht zwischen dem sthetischen und dem Ethischen in der Herausarbeitung der Persçnlichkeit verstanden, und dies deutet an, dass es im Grunde genommen darum geht, die Harmonie im Menschenleben durch die Übernahme der ästhetischen Existenz in seine ethische Lebensanschauung herzustellen. Deshalb wird mit dem Ethischen (das Verantwortlich-Werden im Menschen) das Ästhetische (die Unmittelbarkeit im Menschen) nicht vernichtet, sondern bewusst im Kontext der Lebenswelt angeeignet.

5. Das gelingende Gutsein im Ethischen: Versöhnung und Anerkennung Die ethische Existenz ermöglicht das gelingende Gutsein. Sie fundiert ein positives Selbstverhältnis und positive gegenseitige Anerkennungsverhältnisse. Wer das Ethische recht verstanden hat, sich selbst ethisch gewählt hat und ein ethisches Leben führt, ist mit dem Leben versçhnt, er erkennt seine Pflicht an und will sie stets erfüllen. Seine Pflicht als innere Aufgabe und als permanentes Tätigsein ist für ihn ein Ausdruck seiner Zugehörigkeit zum Menschsein. Kierkegaard ist der Überzeugung, dass die ethische Existenz als eine höhere Daseinsform zu verstehen ist, deren Bestimmungen der Mensch zu übernehmen hat, damit er das Ethische realisieren kann, damit das Ethische ihm nicht etwas fremdes wird, das sein Leben von außen reguliert, sondern seine mit Verantwortung angeeignete Lebensform. Wenn das Ethische eine fundamentale Rolle in der Bestimmung und Entfaltung des eigenen Lebens zu spielen hat, dann muss der Mensch an ihm teilnehmen können. Eine solche Teilnahme setzt aber voraus, dass das Ethische etwas Konkretes für den Menschen werden kann. Kierkegaard versteht unter Konkretisierung der Ethik die Teilnahme des Menschen aus der Ich- und Wir-Perspektive am Allgemein-Menschlichen, d. h. dass der Mensch das Allgemeine in seinem partikulären Leben jederzeit äußern will und mit seinen Taten die Wirklichkeit auf positive Weise erreichen kann. Wie hat man sich diese Teilnahme am AllgemeinMenschlichen vorzustellen? Was heißt das Ethische recht zu verstehen und das Leben ethisch zu führen? Ermöglicht dies wirklich die Versöhnung und die Anerkennung, also das gelingende Gutsein im Ethischen? In der Konstruktion des Ethischen beschäftigt sich Kierkegaard mit drei Kernproblemen, die der Antwort dieser Fragen dienen, erstens mit dem Problem einer äußerlichen, abstrakten oder metaphysischen Pflichtauffassung,

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zweitens mit dem Problem des Verhältnisses des Allgemeinen zum Besonderen und drittens mit dem Problem der moralischen Motivation zum richtigen Verhalten. Und diese drei Kernprobleme beziehen sich auf eine allgemeine Frage: Ob und wie das Ethische einem Menschen Anweisungen geben kann, wie er leben soll. Wie gezeigt wurde zielt Kierkegaards maieutische Methode in Entweder/Oder darauf ab, zum einen den Leser mit der unmittelbaren Existenz als unvollständige Lebensform zu konfrontieren, und zum anderen die ethische Lebensanschauung als gelingende Lebensform in ihren wesentlichen Merkmalen darzustellen. Im ersten Fall geht es um die Wahl des Selbst, um die Möglichkeit der Verwirklichung der Freiheit. Im zweiten Fall geht es um Aneignung, um die permanente Verwirklichung der Freiheit, ohne die es kein gelingendes Gutsein im Ethischen geben kann. Die ethische Betrachtung des Lebens in Entweder/ Oder ist sowohl deskriptiv als auch präskriptiv. Sie ist insofern deskriptiv, als sie das ethische Leben in seiner Schönheit zeigt und Anweisungen gibt, wie das Ethische zu realisieren ist, wie man zu leben hat. Der Gerichtsrat spricht z. B. von konkreten Lebensverhältnissen wie der Arbeit, dem Beruf, der Ehe und der Freundschaft und macht darauf aufmerksam, dass die Verwirklichung dieser Lebensverhältnisse dem Menschen als seine Pflicht – als seine Aufgabe – erscheinen soll, wenn er wahrhaft ethisch lebt. Das Ethische konfrontiert zwar den Menschen mit den konkreten Lebensverhältnissen und mit der damit einhergehenden Verantwortung gegenüber sich selbst und gegenüber anderen. Das Ethische kann aber nicht für ihn entscheiden, welche Arbeit, welchen Beruf, welchen Lebensgefährten, welchen Freund er wählen muss. Die ethische Betrachtung des Lebens ist andererseits insofern präskriptiv, als sie eine Forderung an den Einzelnen ist, seine Egozentrizität zu transzendieren, um in einem durchsichtigen Verhältnis zu sich selbst und zum anderen zu stehen. Ich schlage vor, diesen Zustand Anerkennung zu nennen. Bevor ich dies näher betrachte, möchte ich mich den drei genannten Kernproblemen in der Konstruktion des Ethischen widmen. Steht das Individuum mit der Wahl vor seiner freien Selbstbestimmung, so befindet es sich in einer Situation, in der es bestimmen muss, auf welche Weise es diese oder jene Person sein will, „unter welchen Bestimmungen [es] das ganze Dasein betrachten und selber leben will“ (EO2, 180). Es geht daher um einen individuellen Wahlakt, durch den das Individuum wird, was es wird, indem es seine eigene Aufgabe im Kontext einer Zugehörigkeitsgemeinschaft erfüllt. So gesehen wird das Ethische als Existenzbestimmung interpretiert, dessen Sinn in erster Linie darin liegt, sich in seiner eigenen Existenz als Individuum zu verstehen, das eine

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Aufgabe – der Gerichtsrat nennt dies das Allgemein-Menschliche – erfüllt bzw. realisiert. Dafür muss das Individuum allerdings ein ethisches Existenzverständnis gewinnen, von dem ausgehend es bereit ist, Verpflichtung und Verantwortung gegenüber sich selbst und gegenüber anderen zu übernehmen. Mit dieser Idee einer Selbstbestimmung und einer Selbstverwirklichung im ethischen Selbstverständnis versucht Kierkegaard, das Problem des moralischen Sollens im Individuum selbst zu erklären. Denn nur wenn der Mensch in der Lage ist, sich selbst als dieses konkrete und bestimmte Individuum zu verstehen, das es selbst sein kann ohne die kommunikativen Bindungen zu verlieren, die aus ihm ein soziales Wesen machen, nur dann kann er sein moralisches Sollen als das verstehen, was in ihm selbst konstituiert ist, nur dann kann die ethische Forderung des rationalen Handelns als Bedingung im Besitz des Menschen verstanden werden.90 Kierkegaard grenzt seine Theorie dadurch von der Kantischen Moralphilosophie ab, dass er sich in die konstitutive Dimension des Selbst mit der Absicht vertieft, die Motive des moralischen Handelns mit der Infragestellung des Kçnnens zu entschleiern, das das Sollen voraussetzt.91 Um den Sinn der Kritik Kierkegaards genau zu verstehen, ist es hier sehr wichtig, erst die zentralen Argumente der Moralphilosophie Kants kurz darzustellen. In der Vorrede der Grundlegung der Metaphysik der Sitten erklärt Kant den Gegenstand oder die Aufgabe der (reinen) Moralphilosophie wie folgt: Die reine Moralphilosophie ist dafür zuständig, dem Menschen Gesetze a priori zu geben, die stets in Verbindung zu einer „durch Erfahrung geschärften Urteilskraft“ stehen (IV 389);92 dafür muss die Philosophie aber ein oberstes Prinzip der Moralitt bestimmen und festsetzen, das dem moralischen Handeln zugrunde liegt. Bei Kant handelt es 90 Vgl. J. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur. a.a.O. Dass Kierkegaard nicht im Sinne von Kant das Pflichtbewusstsein voraussetzt, zeigt, dass er auf die Struktur des Selbstseinkönnens aufmerksam gemacht hat, d. h. auf die Konstitution „einer ethischen Selbstreflexion und Selbstwahl, die von unendlichen Interessen am Gelingen des eigenen Lebensentwurfs bestimmt ist“ (S. 19). Wie der Einzelne sich als eine Person konstituiert, hängt daher vom einem ethischen Selbstverständnis ab, das „eine moralisch skrupulöse Bewertung und kritisch sondierende Aneignung der faktisch vorgefundenen Lebensgeschichte“ impliziert (20). Zwar bestimmt das Individuum daher, was es sein will, aber dies geschieht nicht als „Frucht seiner Willkür“ (ebd.), da es Verantwortung gegenüber der Umwelt und gegenüber Gott übernommen hat. 91 Vgl. P. Søltoft Der Gegenstand der Pflicht bei Kant und Kierkegaard in Kierkegaardiana 18, S. 73. 92 I. Kant Grundlegung der Metaphysik der Sitten, hg. von Karl Vorländer, 3. Aufl., Hamburg 1965. Im Folgenden sind alle Hervorhebungen von Kant.

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sich um die Festsetzung von allgemeingültigen Gesetzen für alle vernünftigen Wesen in jedem Moment, und nicht um die Festsetzung von praktischen Regeln, deren Prinzipien aus der Erfahrung abzuleiten sind. Dieser Verzicht auf die Erfahrung und auf jedes empirische Vorgehen oder jede empirische Betrachtung, sowie auf alle Inklination, hängt mit der Strategie Kants zusammen, nach der die Allgemeingültigkeit eines Prinzips weder auf einer Erkenntnis a posteriori noch auf der Kontingenz des Handelns aus eigenen Interessen fußen darf. Deswegen ist die Unterscheidung zwischen einem Handeln aus Pflicht und einem Handeln aus Inklination der Maßstab, um bestimmen zu können, wann eine Maxime einen moralischen Inhalt besitzt und wann nicht. Dementsprechend kommt die Handlung, wenn man aus Pflicht handelt, Kant zufolge, nicht aus einer als Ziel gesetzten Absicht, sondern aus dem eigenen Willen, der auf alle Triebe verzichtend sich selbst das Gesetz gibt. Und der Respekt vor diesem Gesetz ist das, was Kant im allgemeinen Moral nennt: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung frs Gesetz. Zum Objekt als Wirkung meiner vorhabenden Handlung kann ich zwar Neigung haben, aber niemals Achtung“ (400). Das Fundament des Willens ist nichts anderes „als objektiv das Gesetz, und subjektiv, reine Achtung für dieses praktische Gesetz“ (ebd.). Wie sich dieses Pflichtbewusstsein im Individuum konstituiert, ohne dass dies ein Effekt oder Produkt der Neigung wäre, wird von Kant von der Idee ausgehend erklärt, dass das Moralische an sich im Individuum selbst gegeben ist: „[…] nichts anderes als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst, die freilich nur im vernnftigen Wesen stattfindet, sofern sie, nicht aber die verhoffte Wirkung der Bestimmungsgrad des Willens ist, das so vorzügliche Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen [kann], welches in der Person schon gegenwärtig ist, die danach handelt, nicht aber allererst aus der Wirkung erwarten werden darf“ (401). So betrachtet, wenn das Moralische also etwas Gegebenes im Individuum selbst ist, reicht es, dass seine Handlung mit dem Moralischen übereinstimmt, damit sie eine Handlung aus Pflicht ist. Aber damit diese Übereinstimmung in der Tat stattfindet, benötigt man wie gesagt ein Prinzip, das den Willen führt. Dieses Prinzip wird von Kant „die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt“ genannt, demgemäß „ich niemals anders verfahren [soll] als so, dass ich auch wollen kçnne meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“ (402). Der zentrale Punkt der Argumentation ist wiederum, in welchen Fällen oder wann eine Handlung ein Gesetz für mich ist (und dieses hat für mich einen universellen Charakter), d. h. eine Handlung die Allgemeingültigkeit hat, indem ich richtig finde, dass die anderen genau so

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wie ich verfahren. Schon in dieser Behauptung, die Kant im Bereich der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis eingrenzt, ist die Idee eines kategorischen Imperativs, eines obersten Prinzips der Moralität, enthalten, dessen Begründung Gegenstand der Philosophie ist. Nehmen wir an, dass das oberste Prinzip der Moralität sein Fundament in der reinen Vernunft und nicht in empirischen Erkenntnissen hat, dann ist die Berufung auf die philosophische Erkenntnis, auf eine Metaphysik der Sitten, gerechtfertigt, welche dieses Prinzip a priori in „reinen Vernunftbegriffen“ herstellen kann (410). Um zu diesem Begriff einer Metaphysik zu gelangen, erörtert Kant, dass „wir das praktische Vernunftvermögen von seinen allgemeinen Bestimmungsregeln an, bis dahin, wo aus ihm der Begriff der Pflicht entspringt, verfolgen und deutlich darstellen [müssen]“ (412). Der Ausgangspunkt (die Voraussetzung) ist die Vernünftigkeit des Individuums, also seine Fähigkeit, aus dem Willen (oder dem Gesetz) zu handeln. Der Wille steht seinerseits in solcher Weise in interner Verbindung mit der Vernunft, dass er sowohl praktische Vernunft (Urteilsvermögen) ist, als auch von der Vernunft bestimmt ist. Kants Strategie tendiert dazu, die Übereinstimmung des Willens mit der Vernunft, sowie die Übereinstimmung der objektiven und subjektiven Bedingungen in ihr zu veranschaulichen. Ich kann mich hier nicht mit einem so komplexen Verhältnis beschäftigen, wie das von dem Willen zu der Vernunft, auch wenn dieses Verhältnis für die Formulierung des kategorischen Imperativs von größter Bedeutung ist; eine solche Darstellung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ich möchte mich deshalb nur kurz auf einen konkreten Aspekt konzentrieren, nämlich auf die Interpretation der Vernunft als Tätigkeit.93 Dafür ist es wichtig hervorzuheben, dass der kategorische Imperativ vor allem mit der „Form“ und mit dem „Prinzip“ zu tun hat, „woraus sie [die Handlung] selbst folgt, und das WesentlichGute derselben besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle“ (416), das heißt, „man muss wollen kçnnen, dass eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde“ (424). Genau in diesem Zusammenhang taucht das oben genannte Problem des Wollen-Könnens auf, das Problem, dass, mit Adorno gesagt, die Übereinstimmung meiner Handlung mit dem Gesetz kein Garant ist, dass meine Handlung nicht unmoralisch wird und dass ich richtig handle. Denn damit meine Handlung mit meinem Bewusstsein koinzidiert, muss ich es wollen kçnnen, in mir müssen die Möglichkeitsbedingungen meines moralischen Handelns 93 Vgl. dazu T. W. Adorno Probleme der Moralphilosophie in ders. Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Band 10, Frankfurt am Main 1997, S. 170.

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schon auf eine Weise gegeben sein, dass ich nur das wollen kann, was auch von den anderen in der gleichen Situation gewollt werden kann. Ob es diese Situation in Wirklichkeit gibt oder nicht, ist nicht wichtig. Die Effekte der Handlung bleiben unthematisiert, da sie zu der empirischen Welt gehören. Kant zögert nicht, zu behaupten, dass die praktische Philosophie zur Aufgabe hat, „Gesetze von dem, was geschehen soll […] d. i. objektiv praktische Gesetze“ (427) anzunehmen, und insistiert konsequent, dass es nicht darum geht, sich dessen anzunehmen, „was geschieht“ – also keine Kontemplation dessen, was da ist –, dass es auch nicht um die Effekte der Handlungen, unserer Neigungen und die Effekte der Lust geht. Das zentrale Argument wird erneut wie folgt dargestellt: „[W]enn die Vernunft fr sich allein das Verhalten bestimmt […] sie dieses notwendig a priori tun muss“ (ebd.). Es ist an eben dieser Stelle, an der man auf die Idee einer Vernunft als Tätigkeit aufmerksam machen kann, d. i. auf die Idee, dass dieses man muss wollen kçnnen nichts anderes ist als ein selbstgesetzgebender Wille, der sich einem Gesetz unterwirft, das aus ihm selbst kommt. Dieser Gedanke ist sehr wichtig, weil von ihm ausgehend das Warum der „Lossagung von allem Interesse beim Wollen aus Pflicht“ (431) zu begründen ist. Dieser Formel entsprechend beruht der Begriff der Pflicht auf einer Handlung, die aus der Autonomie des Willens, aus einer Selbstnötigung der Freiheit, aus der Unterwerfung von persönlichen Interessen zugunsten eines höheren Zwecks kommt. Diese kurze Darstellung einiger Aspekte der Kantischen Moralphilosophie wird uns erlauben, die Differenzpunkte, die Kierkegaard in seine Konzeption der Ethik als Korrektiv einführt, genauer zu betrachten. Wo Kant die Grenzen der praktischen Philosophie setzt, wenn es darum geht die Fragen danach zu beantworten, „wie Freiheit mçglich sei“ (459), „wie und warum uns die Allgemeinheit der Maxime als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit, interessiere“ und „wie reine Vernunft praktisch sein kçnne“ (460), genau da sind die Fragen nach der moralischen Motivation zum richtigen Handeln, nach dem existentiellen Selbstverständnis und nach der Konkretisierung der Ethik zu stellen. Da, wo Kant die Achtung vor dem Gesetzt postuliert und die Autonomie des Willens in Unabhängigkeit von den Effekten der Handlung voraussetzt, da ist die Anerkennung von moralischen Normen mit Rücksicht auf ihre Konkretion in den verschiedenen Lebensbereichen notwendig.94 Demzufolge kann Kierkegaards Einwand auf folgende Weise 94 Nach meiner Interpretation ist Kierkegaards Kritik der Moralphilosophie Kants in ihren allgemeinen Zügen von Hegels Kritik geprägt. Genau wie Hegel sieht Kierkegaard die Stärke der Moralphilosophie Kants in der Bestimmung der Au-

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formuliert werden: Wenn es wahr ist, dass meine Handlung in Übereinstimmung mit einem obersten Prinzip, gemäß einem selbstgesetzgebenden Willen, „aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen, als einem solchem gültig sind“ (413), zustande kommt, dann soll das offenbar werden, was meine Handlung und deren Effekte ermöglicht. Weil es nicht nur darum geht vorauszusetzen, dass das Individuum als vernünftiges Wesen fähig ist, aus Pflicht zu handeln, sondern dass es auch vor diese Situation geführt und mit den Effekten der Handlung konfrontiert werden muss. Die Kantische Moralphilosophie, so Kierkegaard, lässt das Problem des ethischen Selbstverständnisses des Individuums beiseite und verkennt, um es negativ auszudrücken, das Moment, in dem das Moralische aufhört einleuchtend zu sein, und das Individuum nicht mehr weiß, wie es sich zu verhalten hat. Die Gesinnungsethik im Verhältnis zu der Verantwortungsethik lässt damit ein Defizit erkennen, wenn die Frage nach den Konsequenzen der Handlung ins Spiel kommt. Genau auf dieses Problem haben Max Weber und Adorno in ihren jeweiligen Kritiken der Gesinnungsethik später aufmerksam gemacht. So würde nach Adorno mit Verantwortung handeln heißen, „daß man bei jedem Schritt, den man tut – bei jedem Schritt, in dem man glaubt, einer Forderung des Guten und Richtigen genügen zu sollen –, gleichzeitig tonomie des Willens, der sich selbst das Gesetz gibt, also darin, dass die Pflicht aus der Autonomie des Willens entspringt. Da es aber bei Kant, so Hegel und Kierkegaard, grundsätzlich um die Bestimmung des moralischen Gesichtspunkts, des obersten Prinzips der Moralität, ohne Berücksichtigung der Konkretisierung dieses Prinzips in dem sittlichen Handeln geht, bleibt Kants rationale und autonome Grundlegung der Moral bloß abstrakt und daher formal. So schreibt Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts: „So wesentlich es ist, die reine unbedingte Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel der Pflicht herauszuheben, wie denn die Erkenntnis des Willens erst durch die Kantische Philosophie ihren festen Grund und Ausgangspunkt durch den Gedanken seiner unendlichen Autonomie gewonnen hat (s. § 133), so sehr setzt die Festhaltung des bloß moralischen Standpunkts, der nicht in den Begriff der Sittlichkeit übergeht, diesen Gewinn zu einem leeren Formalismus und die moralische Wissenschaft zu einer Rednerei von der Pflicht um der Pflicht willen herunter. Von diesem Standpunkt aus ist keine immanente Pflichtenlehre möglich; man kann von außen her wohl einen Stoff hereinnehmen und dadurch auf besondere Pflichten kommen, aber aus jener Bestimmung der Pflicht, als dem Mangel des Widerspruchs, der formellen bereinstimmung mit sich, welche nichts anderes ist als die Festsetzung der abstrakten Unbestimmtheit, kann nicht zur Bestimmung von besonderen Pflichten übergegangen werden, noch wenn ein solcher besonderer Inhalt für das Handeln zur Betrachtung kommt, liegt ein Kriterium in jenem Prinzip, ob er eine Pflicht sei oder nicht [Hervorhebungen von Hegel – SMF]“ (vgl. dazu G. W. F. Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke 7), a.a.O., § 135; vgl. auch dazu § 148).

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auch bedenkt, welchen Effekt dieser Schritt hat, ob er sich verwirklicht; daß man also nicht aus reiner Gesinnung handelt, sondern daß man dabei das Ziel, die Absicht und schließlich eben doch die Gestaltung der Welt als ein Positives hineinnimmt“.95 Bei Max Weber heißt dies: „Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet –: ,der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘, oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat […] Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt ihm nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille des Gottes, der sie so schuf. Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen, – er hat, wie Fichte richtig gesagt hat, gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen, er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet“.96 Damit ist es einfach zu sehen, was Kierkegaard in Frage stellen will, einerseits diese Idee einer Selbstverwirklichung, die bei Kant das eigene Existenzverständnis, das Konstituierende des eigenen Lebens, unthematisiert lässt und andererseits die als eine bloße Forderung verstandene abstrakte Idealität des Ethischen, das nicht von allen erfüllbar ist, da es nicht als tatsächliche Selbstverwirklichung konkretisiert wird. Mit dieser knappen Rekonstruktion ist schon klar, dass Kierkegaards Auffassung des Ethischen in Entweder/Oder von der Idee einer Konkretisierung der Ethik geleitet wird, einer Konkretisierung, die verlangt, das Gesinnungsmoment immer auf die Situation des Handelns zu verweisen. Für Kierkegaard hat dies eine genauere Bedeutung, die wiederum an den Begriff der prohairesis des Aristoteles und an die kritische Distinktion von Max Weber einer Gesinnungs- und einer Verantwortungsethik97 erinnert: Wer ethisch lebt, wählt seine Konkretion als etwas, das in seiner Macht steht und für das er eine Verantwortung trägt. Die Konkretion erscheint ihm als Aufgabe, als Ziel, welches ein Ausdruck seiner Autonomie ist. Eine abstrakte Auffassung des Ethischen ist problematisch, weil dann das Ethische außerhalb des Menschen wäre, es würde den Menschen nicht wesentlich 95 Vgl. T. W. Adorno, a.a.O., S. 240. 96 Vgl. M. Weber Politik als Beruf, München, Leipzig 1919, S. 56 – 57. Hervorhebungen von Weber. 97 Ebd., S. 56. Vgl. auch Aristoteles, EN 1112a 15, 1111a 21 – 24 und 1113a 10 – 15.

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betreffen: „Das Ethische wird als Pflicht bestimmt und die Pflicht wiederum als eine Vielfältigkeit einzelner Sätze, der Mensch jedoch und die Pflicht stehen außerhalb voneinander“ (EO2, 271). Wenn das Ethische sich außerhalb der Persönlichkeit befindet, entfällt die Möglichkeit, von einer Pflichterfüllung zu reden, deren Zentrum und Motor der Mensch ist. Die Verwirklichung der Freiheit ist nicht möglich. Der Mensch handelt vielmehr frei, wenn die Pflicht ihm selbst entspringt, wenn die Pflicht das innerste Wesen ist, an dem er sich orientiert. Reduziert sich das Ethische gleichermaßen nur auf das Allgemeine und Abstrakte, auf den moralischen Gesichtspunkt, der die Rolle des Gesetzes darstellt und „stets das Verbietende“ ist (272), lässt sie sich nicht vom Menschen realisieren. Aus diesem Grunde geht es vor allem darum, das Ethische konkret werden zu lassen, denn nur „[w]enn das Ethische konkreter wird, geht es über in die Bestimmung von Sitten“ (ebd.).98 Damit die Ethik aber konkret wird, wie oben gefordert wurde, benötigt man den Akt, durch den das Individuum selber das Allgemeine ist, ohne dabei aufzuhören, das Einzelne zu sein, das 98 Diesbezüglich deutet Habermas darauf hin, wie wichtig es ist, dass die Geschichte durch die Selbstwahl auf eine kritische Weise angeeignet werde: „die Lebensgeschichte wird zum Prinzip der Individuierung, aber erst dadurch, daß sie durch einen solchen Akt der Selbstwahl in eine selbstverantwortliche Existenz überführt wird“ (vgl. J. Habermas Individuierung durch Vergesellschaftung, Zu G. H. Meads Theorie der Subjektivitt in ders. Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main 1988, S. 203). Durch seine ethische Geburt tritt der Mensch in den Bereich der Sittlichkeit ein, denn durch seine Wahl wird er nicht nur zu einem geschichtlichen Selbst, sondern auch zu einem ethischen Individuum. Was Kierkegaard mit seiner Pflichtenlehre durch die Begriffe Gesetz und Sitte veranschaulichen will, ist vor allem das schon genannte Problem abstrakter Auffassungen für eine recht verstandene Konzeption des Ethischen. Das Problem berücksichtigt die Frage, inwiefern abstrakte Gesetze und eine abstrakte Pflichtenlehre, welche mit den Formen der existentiellen Selbstverständigung nicht zusammenhängen, spezifische Weisungen geben können, wie das Negativ-Moralische verstanden werden muss. Die Antwort dafür besteht wiederum in der Idee der Realisierung des Ethischen. Hier lassen sich, so Greve, zwei Deutungsversionen darstellen. Die erste Version betrachtet das Negativ-Moralische als das Verbietende, dessen normativen Vorstellungen die moralische Grundlage einer sozialen Ordnung zugrunde liegen. Wie sie im historischen Prozess geändert bzw. transformiert werden, hängt von den Sitten und von den bürgerlichen Tugenden im Kontext einer institutionalisierten Ordnung und einer konkreten Gemeinschaft ab. Die Sitten sind damit „Anwendungsmodi der zugrundeliegenden Gesetze“ (vgl. W. Greve Kierkegaards maieutische Ethik, a.a.O., S. 109). Mit der zweiten Version wird das Negativ-Moralische als Selbstverpflichtung, als Durchsetzung der Freiheit, verstanden. Das absolute Selbst besitzt in diesem Fall keine positiven Pflichten, da sie sich erst „im konkreten Vollzug“ ergeben.

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heißt den Akt, durch den das Individuum „das Allgemeine in seinem Leben“ ausdrückt: Erst wenn das Individuum selber das Allgemeine ist, erst dann läßt das Ethische sich verwirklichen: Es ist das Geheimnis, das im Gewissen liegt, es ist das Geheimnis, welches das individuelle Leben mit sich selber hat, daß es zu gleicher Zeit ein individuelles Leben und das Allgemeine ist, wo nicht unmittelbar als solches, so doch nach seiner Möglichkeit. Wer das Leben ethisch betrachtet, der sieht das Allgemeine, und wer ethisch lebt, der drückt das Allgemeine in seinem Leben aus, er macht sich zu dem allgemeinen Menschen, nicht dadurch, daß er sich seines konkreten Seins entkleidet, denn so wird er zu gar nichts, sondern dadurch, daß er sich damit bekleidet und es mit dem Allgemeinen durchdringt (272 – 273).

Die Forderung an den Einzelnen, der allgemeine Mensch zu werden, ist ganz anders als die Forderung der modernen Zeit, ein Mensch in Übereinstimmung mit Publikum zu werden. Dieser wird wie die anderen in der Übernahme von etwas abstraktem außerhalb seiner selbst, er wird das Bild eines Menschen, der er nicht ist. Jener wird er selbst in der Aneignung des Allgemeinen. Das Allgemein-Menschliche wird für ihn keine Aufhebung der Unterschiede zwischen den Menschen, sondern ein Ausdruck sowohl seiner Teilnahme an den konkreten Lebensverhältnissen als auch seiner Interessiertheit an der Tätigkeit des anderen. So wird er zum allgemeinen Menschen, der in sich seine Konkretion bewahrt, was aus ihm ein Individuum mit diesen oder jenen Fähigkeiten und Bestimmtheiten macht. Da das Allgemeine all das ausdrückt, was dem menschlichen Geschlecht gemeinsam ist, all das, was der sozialen Interaktion zugrunde liegt, „[ist] einem jeden Menschen der Weg gewiesen, auf dem er der allgemeine Mensch wird“ (273). Die individuelle Selbstverwirklichung besteht also aus der beständigen Aneignung des Konkreten im Allgemeinen, der Verwirklichung einer Aufgabe oder Funktion, die dem Individuum selbst gestellt ist: nämlich ein bestimmter und allgemeiner Mensch zu werden. Wenn der Mensch sich selbst zur Aufgabe hat, versteht er, dass deren Verwirklichung stets von der Kontinuität mit der Wirklichkeit abhängt, zu der er gehört. Denn die Verwirklichung seiner Aufgabe ist nicht die Frucht seiner Willkür, sondern stets ein verantwortliches Sichzuanderenverhalten, und dies bedeutet, dass sich durch die ethische Wahl ein Verantwortungsbewusstsein in Bezug auf sich selbst und auf die Zugehörigkeitsgemeinschaft herausbildet. Was sich der Mensch aneignet, oder was er wählt, ist für ihn das Wesentliche, für das er auch verantwortlich ist. Daher wird mit der Selbstwahl das ethische Individuum geboren, dessen Handeln auf Zusammenhang (Kontinuität) ausgerichtet ist, das sich selbst kennt und

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in dieser Selbsterkenntnis den Ursprung und Motor seines Handelns sieht. Die individuelle Selbstverwirklichung beruht darauf, aus dem imperfekten Selbst ein wirkliches Selbst zu bilden, das ideale Selbst zu verwirklichen, das wirkliche und ideale Selbst im Selbst zu vereinigen: „Was er [der Mensch] verwirklichen will, ist denn freilich er selbst, aber es ist sein ideales Selbst, welcher er doch an keinem andern Orte findet als in sich selbst“ (276 – 277). Wenn man versteht, dass der allgemeine Mensch in dem Individuum selbst ist, dass, was er verwirklichen muss, er selbst ist und nicht etwas außerhalb seiner selbst, erst dann versteht man das ethische Werden des Menschen als das Allgemeine, das konkret geworden ist. Kierkegaards Kritik an den abstrakten Auffassungen der Ethik dient zudem dazu, jede skeptische Einstellung zu überwinden, welche das Handeln aus Pflicht in Frage stellt.99 Die Skepsis fragt, ob man nach Gesetzen handeln kann, die kontingent und permanent zu bestimmen sind, ob es also möglich ist, gemäß solchen Gesetzen die Pflicht, das Allgemeine, wahrhaft zu erfüllen. Die Skepsis kann mit Recht das Handeln aus Pflicht in Frage stellen, wenn die Pflicht und das Verhältnis des Individuums zu ihr abstrakt bestimmt sind. Wird die Pflicht dagegen als die Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen in der Handlung des Menschen verstanden, hat die Skepsis keine feste Grundlage mehr, um ihre Kritik aufrechtzuerhalten. Kierkegaard nennt diese Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen die Dialektik der Pflicht. In dem Satz ,ich tue meine Pflicht‘ sind beide Momente in Einklang sofern das Verhältnis des Individuums zur Pflicht positiv verstanden wird. Ich tue nicht die Pflicht, sondern meine Pflicht und die Pflicht ist das Allgemeine. Die Pflicht ist etwas, dass in meiner Macht steht und das Verhältnis zu mir selbst und zum anderen qualifiziert. Wenn ich sie erfülle, muss sie wie gesagt in Einklang mit dem Allgemeinen stehen. Es geht, so die Argumentation, um die Einheit des Erfüllens meiner Pflicht mit dem Erfüllen der Pflicht: Die Pflicht ist das Allgemeine, sie wird gefordert von mir; bin ich also nicht das Allgemeine, so kann ich auch die Pflicht nicht tun. Anderseits ist meine Pflicht das Einzelne, etwas allein für mich, gleichwohl ist es die Pflicht, und somit das Allgemeine. Hier zeigt sich die Persönlichkeit in ihrer höchsten Giltigkeit. Sie ist nicht gesetzlos, gibt sich nicht selbst ihr Gesetz; denn die Bestimmung von Pflicht besteht fort, aber die Persönlichkeit zeigt sich als die Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen (281).

Der Skeptizismus wird nicht dadurch überwunden, dass aus der Pflicht etwas Äußeres gemacht wird, sondern indem sie die Einheit des Allge99 S. unten III. Teil, Kap. 1.

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meinen und des Einzelnen im Individuum wird, d. h. die Dialektik der Pflicht hat ihr Zentrum im Individuum selbst, welches gleichzeitig das Allgemeine und das Einzelne ist. Andererseits lässt sich aus der Betrachtung der Persönlichkeit als die Einheit von beiden Momenten in der Handlung ein weiteres Element zur Überwindung der skeptischen Einstellung ableiten, welche an die Weltgeschichte mit der Absicht appelliert, die Willkürlichkeit in der Bestimmung der Pflicht zu denunzieren und damit das empirische Verfahren als Korrektiv zu rechtfertigen. Die Skepsis kann so argumentieren, wenn die Persönlichkeit nicht als das Absolute verstanden wird. Diesbezüglich kann Kierkegaards kritische Bemerkung folgendermaßen interpretiert werden: Wendet man sich an die Geschichte, um die Gültigkeit der ethischen Kategorien zu relativieren, und um ihren kontingenten Charakter anzuklagen – dass z. B. das, was hier in dieser Kultur und Epoche gültig und wesentlich ist, in einer anderen Kultur und Epoche ein grässliches Verbrechen war –, so setzt man etwas Externes im Ethischen selbst fest, was aber mit seiner inneren Natur nichts zu tun hat. Das Wichtigste im Ethischen ist vielmehr, dass sich das Bewusstsein einstellt, ob man das Böse tut, wenn man so oder so handelt. Dafür muss die Persönlichkeit das Absolute – die Einheit des Allgemeinen und Einzelnen – sein, damit in ihr die Übereinstimmung des Erfüllens meiner Pflicht mit dem Erfüllen der Pflicht zustande kommt. Nach dieser Überlegung ist klar zu sehen, dass mit der Kritik an der abstrakten Pflichtenlehre und am Skeptizismus die konstitutive Dimension des Selbst erhellt wird, um die Wichtigkeit einer richtigen Bildung des ethischen Selbstverständnisses zu betonen, und um zu erörtern, dass die Pflicht ihren Ursprung in der Konkretion der Person hat, welche das Allgemeine, d. i. den Bereich von Gültigkeit ihrer Handlungen, in ihrem Leben auf verantwortliche Weise übernimmt. Gibt es dieses Selbstverständnis nicht, lässt sich das Ethische vom Individuum nicht angemessen realisieren. Bevor ich zu diesem Punkt komme, möchte ich darstellen, wie dieses ethische Selbstverständnis mit dem Bereich des Allgemeinen verknüpft ist, und wie das Verhältnis von persönlichen Interessen zu den Interessen des Allgemeinen in der Konstruktion des Ethischen Kierkegaards herzustellen wäre. Dafür muss der Begriff der Handlung in Betracht gezogen werden, welchen der Gerichtsrat in der Dialektik von Stadien anhand von Beispielen präsentiert (260ff.). Wiederum müssen wir uns an die Kategorie der Wahl in ihrer abstrakten und konkreten Bewegung und an die Dialektik des Allgemeinen und des Besonderen wenden. Dem Gerichtsrat dienen solche Beispiele dazu, zu erläutern, was für Konsequenzen eine bloße abstrakte Wahl auf das eigene Leben bzw. auf die soziale Dimension haben

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kann. Außerdem will er zeigen, dass es Lebensanschauungen geben kann, die weder ästhetisch noch ethisch sind. Die Beispiele berücksichtigen das Leben der Anachoreten und der Mystiker, welche für sich selbst existieren und ihr Leben auf der Bildung einer abstrakten Identität aufbauen. Die auf sich selbst konzentrierten und von der Welt isolierten Anachoreten haben als ihre Lebensaufgabe verstanden, die Vollkommenheit durch innere Handlung zu erreichen. Die Welt war nur Anlass, um die Bewegung nach innen fortzusetzen. Sie haben nicht versucht, mit der angestrebten Vollkommenheit dem Staat zu dienen, sondern sie haben sich aus der Politik zurückgezogen, um sich ausschließlich auf die Entwicklung von persönlichen Tugenden wie Mut, Enthaltsamkeit, Genügsamkeit usw. zu konzentrieren, die mit den bürgerlichen Tugenden nichts zu tun hatten. Das Unvollkommene dieses Lebens, so die Auslegung des Gerichtsrats, liegt in der Selbstausschließung von der Lebenswelt, im Erlangen einer Vollkommenheit, die sich außerhalb der Wirklichkeit befindet. In der Bildung seiner Persönlichkeit findet zwar eine Wahl statt, sie ist aber abstrakt und negativ, weil der Bezug zur Welt fehlt. Im Fall des Mystikers ist die selbe abstrakte Bildung der Identität zu sehen. Bei ihm geht es auch um eine innere Handlung, die mit der Entwicklung von religiösen Tugenden und mit einem freien Verhältnis zu Gott zusammenhängt. Das Problem dabei ist nicht, dass der Mystiker Gott liebt und sich religiös entwickeln will, sondern dass er in seiner Liebe zu Gott die Welt, die von Gott gegebene Wirklichkeit, verachtet. Der Mystiker macht Gott „zu einem Götzen und sich selbst zu einem Liebling an des Götzen Hof“ (260). Er wählt auch sein Selbst und wird durch diese Wahl handelnd. Durch seine Wahl wird aber die ganze Welt vernichtet, denn die Welt hat keine Bedeutung für die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Als Handelnder, so betont der Gerichtsrat, hat sein Leben eine Bewegung, eine Entwicklung und eine Geschichte. Die Frage ist nun: Wenn die Wahl des Selbst abstrakt ist und die Handlung eine innere Handlung in dem dargestellten Sinne eines persönlichen Verhältnisses zu Gott, von welcher Art von Bewegung, Entwicklung und Geschichte kann hier die Rede sein? Bei einer bloß abstrakten Wahl findet eine Bewegung ohne Welt statt, eine Bewegung, die keinen Ausdruck im Äußeren haben will.100 Jede Bewegung setzt aber 100 In seiner kritischen Auffassung des Liebesbegriffs Kierkegaards hat Adorno versucht, zu zeigen, dass es dabei um eine Innerlichkeit ohne Welt geht. Da Adorno merkwürdigerweise die Dialektik der Liebe auf die bloß abstrakte Bewegung nach innen reduziert, missversteht er denn Sinn der Liebe und somit der Wahlbewegung, wenn er sie der Mystik gleichsetzt (vgl. T. W. Adorno Kierkegaards Lehre von

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eine Entwicklung voraus. Die Entwicklung, die mit einer solchen Bewegung ohne Welt einhergeht, muss metaphysisch oder ästhetisch bestimmt werden, und das heißt mit Notwendigkeit. Eine solche Entwicklung muss einen Endpunkt erreichen. Aber wenn das passiert, kann man nicht mehr von Geschichte reden, weil die Freiheit fehlt oder sie negativ verstanden wird. Die Geschichte wäre unterbrochen und somit kein Aneignungsprozess mehr. Mit der Beschreibung des Lebens der Mystiker thematisiert Kierkegaard eine gefährliche Tendenz in den Lebensverhältnissen der modernen Zeit, nämlich die Gefahr eines nichtreligiösen Mystizismus, welcher den Menschen in die Agonie der Isolation und in den Selbstmord bringen kann. In einem fiktiven Abschiedsbrief eines Selbstmörders wird diese Gefahr folgendermaßen beschrieben: […] Ich sehe einen Selbstmord nicht für etwas Rühmenswertes an. Nicht aus Eitelkeit hab ich mich dazu entschlossen. Dahingegen glaube ich an die Richtigkeit des Satzes, daß kein Mensch es aushalten kann, das Unendliche zu sehen. Es hat sich in intellektueller Hinsicht mir einmal gezeigt, und der Ausdruck dafür ist Unwissenheit. Unwissenheit ist nämlich der negative Ausdruck für das unendliche Wissen. Ein Selbstmord ist der negative Ausdruck für die unendliche Freiheit. Er ist eine Gestalt der unendlichen Freiheit, aber ihre negative Gestalt. Heil dem, welcher die positive findet (263).

Sowohl das Leben der Anachoreten als auch das Leben der Mystiker sind pathologische Existenzformen. Die in diesen Leben angestrebte Vollkommenheit stellt für den Menschen die Gefahr des Bruchs mit dem Sozialen und mit den Kommunikationsstrukturen dar, weil die Referenz zur Welt gesperrt wird. In Furcht und Zittern nennt Kierkegaard das Verstecktsein, d. h. das Herausgesetztsein aus dem Allgemeinen (FZ, 121), das Dämonische, in Begriff Angst die bewusste Selbstausschließung: „Die Gewißheit, die Innerlichkeit, die allein handelnd erlangt wird und allein in der Handlung ist, entscheidet, ob das Individuum dämonisch ist oder nicht“ (BA, 144). In beiden beschriebenen Lebensanschauungen äußert sich das Dämonische und fehlt die Kontinuität, die den Menschen mit dem Ganzen verbindet und ihn auf die Ebene der Handlung mit ständigem Rückblick auf die Welt versetzt. Mit der wahren ethischen Wahl bleibt der Mensch nicht im bloß Abstrakten, da der Akt der Wahl vor allem bedeutet, dass der Mensch sich selbst besitzt und das „Bewusstsein einer Selbstverantwortung“ gewinnt, die seine Umwelt betrifft. Kierkegaard besteht der Liebe in ders. Gesammelte Schriften, Band 2, Frankfurt am Main 1979, 219ff.). Zu den Problemen dieser Auffassung komme ich später näher (s. unten II. Teil, Kap. 4).

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darauf, dass nur der Mensch, der ethisch und durchsichtig101 gewählt hat, „in seiner ganzen Vereinzelung (Isolation) im unbedingten Zusammenhang mit der Wirklichkeit“ steht, die seine Persönlichkeit bestimmt (EO2, 264). Dieses Bewusstsein einer Selbstverantwortung impliziert in erster Linie, dass man sich als den Ursprung seines Handelns verantwortlich anerkennt, und zwar so, dass man sich „als dies bestimmte Individuum mit diesen Fähigkeiten, diesen Neigungen, diesen Trieben, diesen Leidenschaften, als beeinflußt von dieser bestimmten Umgebung, als dies bestimmte Produkt einer bestimmten Umwelt“ versteht (267).102 Mit den genannten Lebensanschauungen bzw. Beispielen werden darüber hinaus getrennte Stadien dargestellt, in denen das Leben des Menschen sich auf die Entwicklung von persönlichen oder religiösen Tugenden reduziert, die die bürgerlichen nicht berücksichtigen. Der Gerichtsrat betont im Folgenden, dass das Leben des ethischen Menschen in dem sich wiederholenden Übergang von einem Stadium zum anderen besteht. In jedem dieser Stadien bildet er seine Tugenden in ihrer Einheit heraus, aber nur so, dass sein Leben ausgerichtet ist auf die ständige Weiterentwicklung dieser Tugenden, ohne in einem dieser Stadien zu verweilen. So gesehen bedeutet Selbstwahl damit, sich selbst in jedem dieser Stadien „als dies Individuum [zu besitzen], welches diese Fähigkeiten, diese Leidenschaften, diese Neigungen, diese Gewohnheiten hat, welches unter diesen äußeren Einflüssen steht, welches in der einen Richtung diese, in der andern jene Einwirkung erfährt. Hier hat er sich selbst also als Aufgabe in dem Sinne, daß diese zuallernächst darin besteht, zu ordnen, zu bilden, zu mäßigen, zu entflammen, zurückzudrängen, kurz, ein Ebenmaß 101 Ethische Haltung und Durchsichtigkeit, kurz: das Offenbarwerden, sind das Gegenmittel gegen das Dämonische. So lässt Kierkegaard sein Pseudonym Johannes de silentio in Furcht und Zittern konsequent betonen: „Das Ethische ist als solches das Allgemeine, als das Allgemeine wiederum ist es das Offenbare. Der Einzelne ist als unmittelbar sinnlich und seelisch bestimmt der Versteckte. Seine ethische Aufgabe ist es also, sich aus seiner Verstecktheit herauszuwickeln und offenbar zu werden in dem Allgemeinen. Jedesmal somit, daß er in dem Versteckten verharrt, versündigt er sich und liegt in Anfechtung, und er kommt aus ihr nur heraus, indem er offenbar wird“ (FZ, 91). 102 Dass durch die Wahl des Selbst der Zusammenhang nicht zerbrochen wird, hat damit zu tun, dass der Mensch sich mit der Wahl auch als Produkt seiner Umwelt wählt. Das Konkretwerden durch diesen Zusammenhang ist nach Kierkegaard die Aufgabe des Menschen. Wenn im Ästhetischen jede Möglichkeit das Ziel des Handels war, erfüllt im Ethischen jede Aufgabe dieses Ziel: „Dies sein wirkliches konkretes Sein sieht der einzelne Mensch also als Aufgabe, als Bestimmung, als Ziel“ (EO2, 268).

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in der Seele, eine Harmonie zustande zu bringen, welche Frucht der persönlichen Tugenden ist“ (279 – 280). Dies heißt aber nicht, dass das Individuum um seiner selbst Willen handelt, dass sein Ziel sich auf sich selbst reduziert. Die Selbstwahl erschöpft sich weder in dem bloßen Selbstwerden noch in dem bloßen Selbstbesitz; wenn es so wäre, wenn es nur darum ginge, einen Zustand des Seins zu erreichen, sich selbst auf einmal zu besitzen, dann hätte die Forderung eines moralischen, im Individuum selbst aktualisierten Handelns keinen Sinn.103 Die Selbstwahl ist daher ein Akt der Freiheit, welcher eine ständige Verwirklichung erfordert, damit das Selbstwerden in einem ununterbrochenen Handeln zustande kommt. Dementsprechend hat das Leben des ethisch handelnden Menschen eine Bewegung, eine Entwicklung und eine Geschichte. Reduziert sich die Handlung auf die innere Handlung, zerbricht der Zusammenhang mit der Geschichte und ist die Entwicklung einer anderen Art.104 Kierkegaard verankert seine Auffassung der Ethik im Sozialen und betont, dass es nicht um das abstrakte, sondern um das konkrete Selbst geht, welches im Verhältnis zum anderen Selbst steht und deshalb ein soziales und brgerliches Selbst ist. Das Individuum versteht in diesem Sinne, dass die Verwirklichung seiner Aufgabe bzw. seiner Funktion mit der Partizipation an den Lebensverhältnissen einhergeht. Damit wird die Kontinuität und Komplementarität hervorgehoben, die zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre besteht, und wie wichtig dies für die Herausarbeitung der Persönlichkeit ist. So hängt die Persönlichkeit von dem Akt der Sozialisierung ab, durch den der Mensch ständig von dem persönlichen zum bürgerlichen Leben und umgekehrt fortschreitet: „Das persönliche Leben als solches ist eine Vereinzelung (Isolation) gewesen; und darum unvollkommen, indem er [der ethische Mensch] aber durch das bürgerliche Leben hindurch zu seiner Persönlichkeit zurückkehrt, zeigt das persönliche Leben sich in einer höheren Gestalt. Die Persönlichkeit erweist sich als das Absolute, welches seine Teleologie in sich selber hat“ (280). Wenn der Mensch seine Teleologie verinnerlicht hat und sie nicht außerhalb seiner selbst liegt, setzt er sein konkretes Selbst als das von ihm angestrebte Ziel, das heißt, er ist sich selbst Aufgabe, und er kämpft um deren Verwirklichung in der Lebenswelt. Er kämpft um seine Selbstverwirklichung hinsichtlich 103 S. oben FN, 83. 104 Die Aneignung eigener Geschichte stellt den Ausgangspunkt dar, aus dem die Verwirklichung der Freiheit, die Selbstverwirklichung, stattfindet. Diese Verwirklichung kann nur handelnd durchgesetzt werden, so dass das Handeln sich erst in der Umwelt konkretisiert.

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einer Verantwortlichkeit, durch die sich die Pflicht als etwas ausdrückt, das ihm selbst entspringt, und das er nicht verkennen kann, da sich die Pflicht als innere Aufgabe in den „Ausdruck für seine schlechthinnige Abhängigkeit und seine schlechthinnige Freiheit in ihrer Identität miteinander“ verwandelt hat (288). Die Erfüllung seiner Pflicht, seine Teleologie, macht den anderen sichtbar, der in sein Tätigsein einbezogen wird. Auf diese Weise ist er mit dem Leben versöhnt und erkennt den anderen als jemand an, der auch seine Teleologie in sich selbst hat. Die Anerkennung des anderen in seiner Teleologie wiederum impliziert, ihn als einen einzelnen und allgemeinen Menschen anzuerkennen, der eine konkrete Lebensaufgabe hat, um deren Verwirklichung er kämpft. Um diese Bewegung der Versöhnung und der Anerkennung genau zu verstehen, muss wieder die ästhetische Existenz in Betracht gezogen und mit den vom Ethischen neu begründeten Möglichkeiten für die Individualität konfrontiert werden. Wir haben schon gesehen, dass jede ästhetische Lebensanschauung einerseits Verzweiflung ist und andererseits ihr Fundament außerhalb ihrer selbst liegt. Die ethische Lebensanschauung fußt ihrerseits auf der verantwortlichen Selbstbestimmung im Kontext einer Zugehörigkeitsgemeinschaft und im Kontext einer mitverantwortlichen Partizipation an konkreten Lebensverhältnissen. Dort ist der Mensch unmittelbar das, was er ist; hier wird er, was er wird. Innerhalb des Ästhetischen findet jede Entwicklung nach der Notwendigkeit statt; im Ethischen ist sie auf die Freiheit zurückzuführen, in der sich der Mensch verwandelt und wird, was er wird. Für diese Ausdifferenzierung ist es außerdem sehr wichtig, zu bedenken, dass das Ästhetische auf der Differenz und das Ethische auf der Allgemeinheit beruht. Im Rahmen dieser Ausdifferenzierung lassen sich die Fragen stellen, was den Menschen eigentlich motiviert, den Zustand der Differenz, der Unmittelbarkeit, zu verlassen, um zum Ethischen überzugehen. Ob er mit diesem Übergang nicht Gefahr läuft, das zu verlieren, was aus ihm einen einzelnen Menschen macht. Hier taucht das Problem der Motivation zum moralischen Handeln auf. Eine vorläufige Antwort darauf wurde schon oben antizipiert als gezeigt wurde, wie in der Dynamik des ethischen Selbstwerdens das Ästhetische auf solche Weise erhalten wird, dass es zur Verfügung des Menschen steht. Dem Menschen wird bewusst, dass die ethische Führung seines Lebens dem Bereich des Emotionalen und seinen persönlichen Interessen gut tut und findet darin Motivation, sich zum Ethischen zu wenden. Er versteht auch, dass die Zugehörigkeit zu einer moralischen Gemeinschaft das gelingende Gutsein ermöglichen kann. Es ist ihm aber noch nicht klar, wie er sich die normativen Inhalte der moralischen Gemeinschaft anzueignen hat oder auf

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welche Weise die ethische Betrachtung des Lebens ihn mit dem Leben versöhnt. Die Motivation zum moralischen Handeln hängt von der Antwort auf die praktische Frage ab, wie man leben soll, und ob diese Lebensform gelingt. Es reicht nicht, den Menschen auf das Ethische als höhere Daseinsform aufmerksam zu machen, wenn er mit dessen Konkretion nicht konfrontiert wird. Dafür appelliert Kierkegaard wieder an die Auseinandersetzung zwischen der ästhetischen und der ethischen Lebensanschauung, diesmal in Bezug auf das Wie der Aneignung von konkreten Lebensverhältnissen (Arbeit, Beruf, Ehe und Freundschaft) als Formen des gelingenden Gutseins. Kierkegaard lässt den Gerichtsrat das Experiment machen, sich ein Individuum vorzustellen, welches sich an die Ästhetiker mit dem Ziel wendet, Klarheit zu gewinnen, wie es sein Leben organisieren soll, um überleben zu können. Die Ästhetiker haben auch eine Vorstellung des gelingenden Gutseins. Sie sind der Meinung, dass der Mensch eine Aufgabe im Leben hat, die er mit ästhetischem Ernst erfüllen muss. Eine solche Aufgabe bezieht sich auf die künstlerische Entfaltung eines hervorragenden Talents, durch das der Mensch sich von allen anderen Menschen wesentlich unterscheidet. Die Anweisungen der Ästhetiker (der Gerichtsrat spricht nicht vom Ästhetiker A) sind pragmatischer Art: Man braucht zunächst Geld. Geld ist „nervus rerum agendarum“ (295). „Geld ist und bleibt die absolute Bedingung zum Leben“ (296). Es öffnet Türen und Tore und löst offensichtlich alle Probleme. Geld ist außerdem die Bedingung des Genusses, der dem Leben seinen wahren Sinn verleiht. Hat man kein Geld, ist man ein Niemand, man gehört zu einer anderen Klasse von Menschen. Solche Ästhetiker können nichts anderes machen als jene zu beleidigen, die kein Geld haben. Der Ästhetiker A, der keine Nahrungssorge kennt, macht sich hingegen über die Bedingungen des Daseins in einer Welt lustig, welche erlaubt, dass viele kein Geld haben: „Was hilft es ihm [dem Menschen], daß er geschaffen ist, über die Welt zu herrschen, wenn er dazu vor Nahrungssorgen keine Zeit hat. Wie paßt sich das, ein vernünftiges Geschöpft hinauszujagen in die Welt und es dann schuften und sich schinden zu lassen, ist das eine Art einen Menschen zu behandeln?“ (297). Denn der Mensch kann das Leben nicht genießen, wenn er sich die ganze Zeit über damit beschäftigen muss, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, wenn er arbeiten muss, um zu leben. Der Ästhetiker A macht sich darüber lustig, dass es der Sinn des Lebens sei, eine gute Arbeit zu finden, und dass eben dies seine Bestimmung sei. Ist es nicht ein Widerspruch des Lebens, so fragt er, dass das gute Leben von einem guten Lebensunterhalt abhängt, welchen zu gewinnen nicht die Zeit für den Genuss ermöglicht?

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Das Individuum des genannten Experiments hat aber kein Geld. Es ist, so der Gerichtsrat, ein ganz normaler Mensch, der sich um seinen Lebensunterhalt sorgen muss. Die Ästhetiker können ihm nicht weiter helfen. Wendet sich das Individuum an den Ethiker, um ihn zu fragen, wie es sein Leben organisieren soll, so bekommt es dann die klare Antwort: „[E]s ist jedes Menschen Pflicht, zu arbeiten um zu leben“ (299). Die Arbeit ist seine Pflicht und die Pflicht ist die Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen. Die Arbeit als Pflicht hat einen höheren Wert für den Menschen, denn sie ist keine Last, sondern „ein Ausdruck für das AllgemeinMenschliche“ (300). „Die Pflicht, zu arbeiten um zu leben“, erklärt der Gerichtsrat, „drückt das Allgemein-Menschliche aus, und drückt auch noch in einem andern Sinne das Allgemeine aus, weil sie Ausdruck der Freiheit ist. Eben durch Arbeit macht der Mensch sich frei, durch Arbeit wird er Herr über die Natur, durch Arbeit zeigt er, daß er höher ist denn die Natur“ (301). Wer nicht arbeiten muss, um zu überleben, kennt nicht den Kampf, der ihn sieghaft mit einem höheren Ausdruck seines Daseins verbindet, verkennt die Bedeutung der Arbeit für den Menschen als Zeichen seiner Menschenwrde. Für die Bildung der Persönlichkeit ist es von großer Bedeutung, arbeiten zu lernen um zu leben, die höchste Freude daran zu finden. Wer ethisch lebt, erkennt seine Arbeit als seine Pflicht an, deren Erfüllung ihn mit dem Ganzen verbindet. Der Mensch ist in der Arbeit mit dem Leben versöhnt, weil er sich das Allgemein-Menschliche aneignet, welches sein partikuläres Leben durchleuchtet. Und dies verhält sich immer so in jedem Akt der Versöhnung. Die Ästhetiker, welche sich damit nicht geschlagen geben wollen, machen Konzessionen und geben zu, die Arbeit habe doch einen höheren Wert für das Leben des Menschen. Dieser höhere Wert der Arbeit besteht darin, dass die Arbeit als Lust verstanden wird. Das Individuum des Experiments fühlt sich von dieser Auffassung verführt und distanziert sich vom Ethiker. Es will mehr darüber wissen. Die Ästhetiker meinen, dass es im Leben darum geht, eine Arbeit zu finden, durch die ein aristokratisches Talent entwickelt und Lust empfunden werden kann. Es geht aber auch vor allem um ökonomische Unabhängigkeit. Besitzt das Individuum jedoch weder ein aristokratisches Talent noch die Mittel für seine Entwicklung, so kann der Ästhetiker ihm nur empfehlen, sich damit zu begnügen, bloß ein normaler Arbeiter, „ein nützliches Mitglied der Gesellschaft“ (309), zu werden, das nichts Außerordentliches zu vollbringen vermag. Es gibt noch eine andere Alternative in einer solcher Situation. Die Arbeit kann eine resignierende Tätigkeit werden, die einfach zu tun ist, um den notwendigen Lebensunterhalt zu gewinnen. Am besten sucht man eine Arbeit, die nichts

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zum eigenen Leben beiträgt, die man automatisch und ohne große Schwierigkeiten erledigen kann. Man investiert einen Teil der Zeit für den Lebensunterhalt, einige Stunden um zu schlafen und den Rest der Zeit, um das zu tun, was man wirklich gern macht. Arbeiten ist nur ein Mittel zur Entfaltung des wahren Talents. Die Arbeit, so die Ästhetiker, spielt allein für das Individuum eine wichtige Rolle, denn das Individuum soll lernen, für sich selbst zu existieren. Das Individuum des Experiments verfügt auch über kein besonderes Talent und muss wieder zum Ethiker gehen. Dort bekommt es die klare Anweisung: „[E]s ist eines jeden Menschen Pflicht, einen Beruf zu haben“ (311). Dem Individuum wird nicht gesagt, welchen Beruf es zu wählen hat, sondern nur, dass es seine Pflicht ist, einen Beruf zu haben, dass jeder Mensch für etwas bestimmt ist. Wer ethisch lebt, nennt seine Arbeit Beruf und erhebt diesen zum wesentlichen Merkmal seiner Zugehörigkeit zum Menschsein. In diesem Zusammenhang ist eine der wenigen Stellen in Entweder/Oder zu finden, an der Kierkegaard klar und deutlich sagt, dass die Erfüllung der Pflicht als Anerkennung zu verstehen ist: „[…] da seine Arbeit [des Individuums des Experiments, welches der Gerichtsrat Held nennt] sein Beruf ist, ist er dadurch ja im Wesentlichen auf gleiche Stufe mit allen andern Menschen gestellt, er tut also mit seiner Arbeit das Gleiche wie jeder andre, er erfüllt seinen Beruf. Diese Anerkennung verlangt er, mehr verlangt er nicht, denn dies ist das Absolute“ (312). Kierkegaard versteht hier dieses Verlangen nach Anerkennung nicht als Anerkennung von Leistungen oder von dem, was ein Mensch von einem anderen differenziert. Zwar bleiben die Unterschiede zwischen den Menschen bestehen, ihre Wesentlichkeit soll aber nicht in der Anerkennung liegen. Die Anerkennung des anderen impliziert eine Doppelbewegung: die Anerkennung des anderen in dem, was er mit allen gemeinsam hat, seinem Beruf, und die Anerkennung des anderen als ein Selbst. Einen Beruf haben zu wollen bedeutet, dass man sich vom Allgemeinen nicht emanzipieren will, dass man seine Stelle in ihm als Aufgabe versteht. In der Erfüllung dieser Aufgabe als Erfüllung des Berufs verstanden ist der Mensch anerkannt (314). Befriedigung erfährt er in dieser Erfüllung, eine Befriedigung, die mit der Gewissheit einhergeht, dass man etwas ausrichtet. Kierkegaard versteht das „etwas ausrichten“ als eine Forderung, welche der Mensch sich selbst stellt. Er verlangt Anerkennung und gleichzeitig verlangt er, etwas auszurichten. Der ethische Mensch verlangt keinen Verdienst für die Ausübung seiner Tätigkeit, sondern von sich selbst, etwas auszurichten. Was er tut ist das, was das „Verhältnis seiner Tätigkeit zu andern Menschen“ (ebd.) bestimmt. Er verlangt etwas auszurichten und dadurch – durch sein Werk – verhält er

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sich zum anderen. Darüber hinaus ist das Verhältnis zum anderen positiv, wenn man ihn als jemanden anerkennt, der im Leben etwas ausrichtet, und man Achtung vor seinem vollbringenden Werk hat: „Das Wort ,etwas ausrichten‘ bezeichnet ein Verhältnis zwischen meiner Handlung und etwas anderem, das außerhalb meiner liegt. Es ist nun leicht einzusehn, daß dies Verhältnis nicht in meiner Macht steht, und daß man insofern von dem hervorragendsten Talent mit dem gleichen Rechte wie von dem geringsten Menschen sagen darf, daß es nichts ausrichtet. Hierin liegt kein Mißtrauen gegen das Leben, vielmehr, es liegt darin eine Anerkennung meiner eignen Unbedeutendheit, und eine Achtung vor der Bedeutung jedes andern“ (315). Damit impliziert die Verwirklichung einer Aufgabe immer sowohl eine Handlung, die in einem gemeinsamen Horizont erfolgt, als auch den Respekt vor der Erfüllung des Berufes des anderen. Aus diesem Grunde ist es eine Handlung, die zum Allgemeinwohl beiträgt. Habermas und Greve gehen einen Schritt weiter und zeigen, dass der Gedanke eines Zusammenhangs mit dem Ganzen als Horizont der Konkretisierung das Angewiesensein auf den anderen ausdrückt und seine Rolle in der Aufrechterhaltung des gewonnenen Selbst und in der Konstruktion des guten Lebens erläutert. Für Habermas ist „das Selbst des ethischen Selbstverständnisses auf die Anerkennung durch Adressaten angewiesen, weil es sich als Antwort auf die Zumutungen eines Gegenübers allererst herausbildet. Weil mir die anderen Zurechnungsfähigkeit unterstellen, mache ich mich nach und nach zu dem, der ich im Zusammenleben mit den anderen geworden bin“.105 Auch Greve hebt den Legitimationscharakter des Allgemeinen als Horizont der Konkretisierung hervor. Für ihn geht die Erfüllung von Aufgaben mit dem Offenbarwerden als „Legitimation des eigenen Handelns vor der Instanz der bestehenden Allgemeinheit“106 einher. Das Allgemeine zu realisieren kann nicht unabhängig von der sozialen Anerkennung im gemeinschaftlichen Kontext gesehen werden; denn die Legitimation des eigenen Handelns lässt sich als soziale Bestätigung der positiven Individuation verstehen: „Die als Beruf verfasste Arbeit ist nicht nur auf gesellschaftlich nützliches oder als nützlich erachtetes Tun festgelegt; sie vollzieht sich als öffentliches Tun, muss ihre Nützlichkeit vor den Augen der anderen bewähren“.107 Meiner Meinung nach geht Kierkegaard nicht so weit mit seiner Auffassung der Anerkennung. Die Anerkennung des anderen hängt weder 105 Vgl. J. Habermas Individuierung durch Vergesellschaftung, a.a.O., S. 209. 106 Vgl. W. Greve Kierkegaards maieutische Ethik, a.a.O., S. 112. 107 Ebd., S. 113.

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von einer Beurteilung des vom anderen Geleisteten, noch von dem tatsächlichen Stattfinden des vom anderen Geleisteten ab. Das Wichtigste im Leben ist, sein Werk zu vollbringen und dadurch zur Anerkennung der Bedeutung der Tätigkeit des anderen zu gelangen. Und das heißt, der ethische Mensch soll sich nicht mit der Überlegung beschäftigen, ob er etwas ausrichtet und dies von den anderen gesehen und anerkannt wird, sondern er soll etwas ausrichten. Seine Pflicht ist sein Tun. Kierkegaard meint damit, es liegt nicht in meiner Macht, dass das Werk, das ich tue, anerkannt wird. In meiner Macht liegt aber, dass ich etwas ausrichte und mit den anderen versöhnt werde. Hierbei profiliert sich das, was Kierkegaard in seiner späteren Schrift Die Taten der Liebe thematisieren wird, nämlich dass es bei Anerkennung wesentlich darum geht, dass ich durch die Transzendierung meiner Egozentrizität anerkenne, unabhängig davon ob ich anerkannt werde oder nicht. Zwar ist die soziale Bestätigung für das Selbstverhältnis wichtig. Sie soll aber nicht in der Anerkennung Vorrang haben. Wenn ich in der Erfüllung meines Berufs, d. i. in der Erfüllung dessen, was ich mit allen gemeinsam habe, nach Anerkennung verlange, verlange ich von mir selbst, den anderen anzuerkennen. Das Individuum des Experiments hat schon eine Arbeit und diese Arbeit ist sein Beruf. Beide hat es in seinem Leben als Pflicht übernommen und dadurch verhält es sich zu sich selbst und zum anderen auf positive Weise. Dieses Sichverhalten zum anderen, erläutert der Ethiker, gewinnt an Konkretion und Beständigkeit, wenn der Mensch sich entschließt, zu heiraten und Freunde zu haben und die Ehe und die Freundschaft als seine Pflicht versteht. Der Ethiker vertritt die These, dass der Mensch mit der Erweiterung seiner sozialen Verbindungen immer konkreter wird, wenn er an den Angelegenheiten der Menschen teilnimmt, wenn er aus seiner Arbeit und seinem Beruf, aus der Ehe und der Freundschaft sowohl das Medium der Interaktion und persönlichen Entwicklung als auch den Ausdruck seiner Freiheit macht. Während die Ehe als Synonym von Vertrauen, Stabilität und Sicherheit im eigenen Leben und als Stützpunkt dargestellt wird, wird die Freundschaft im Rahmen des Allgemeinen als gemeinsames dauerhaftes Projekt permanenter Erfüllung von Menschen präsentiert, die dieselbe Lebensanschauung teilen. Die intersubjektive Komponente der Freundschaft umfasst eine positive Form von gesellschaftlicher Interaktion, die auf der Uneigennützigkeit beruht. In der Konstruktion des Ethischen kommt die Freundschaft an letzter Stelle. Die Bewegung zum anderen wird erst zu einer wahren freundschaftlichen gegenseitigen Beziehung, wenn die eigene Persönlichkeit durch die Erfüllung des Berufs und die Pflicht der Ehe zentriert ist. Der Mensch muss

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sich zuerst zum Allgemein-Menschlichen verhalten, um sich später zu einer Individualität – dem Freund – angemessen zu verhalten. Dazu sagt der Gerichtsrat: „Das ethische Moment in der Lebensanschauung wird also der eigentliche Ausgangspunkt für die Freundschaft sein […] Einssein in der Lebensanschauung ist das Grundlegende in der Freundschaft“ (343). Wichtig ist in diesem Kontext hervorzuheben, dass die Freundschaft als Pflicht bedeutet, „andern offenbar zu werden“ (344). Dieses Offenbarwerden ist ein Akt der Anerkennung. In meinem Offenbarwerden wird der andere sichtbar, mir bewusst in seiner Individualität und Menschlichkeit. Die Antwort auf die Fragen, wie man leben soll, und ob das gelingende Gutsein im Ethischen möglich ist, ist in der Beschreibung einer Lebensform enthalten, in der der Mensch sich durch die Erfüllung der Pflicht konkrete Lebensverhältnisse so aneignet, dass er das Allgemein-Menschliche in seinem partikulären Leben äußert. Zu diesen mit gegenseitiger Anerkennung einhergehenden Lebensverhältnissen versucht man zu erhellen, dass die Glückseligkeit, das gute Leben, dort zu finden ist, wo sich das Gewöhnliche als das allen Menschen Zugängliche realisieren lässt. Die Realisierung des Allgemeinen, auch wenn seine Formen (Arbeit, Beruf, Ehe, Freundschaft) so einfach sind, setzt jedoch voraus, dass sie allen tatsächlich zugänglich sind, dass jedes Individuum über die Mittel zu deren Realisierung verfügt, dass jedes Individuum jederzeit mit Würde seine Lebenspläne, so es will, verwirklichen kann. Auch wenn Kierkegaard die Fragen nach der Existenz inmitten der Nahrungssorgen und des Kampfes ums Überleben und nach dem Sinn der Moralität, wenn das Leben unwürdig ist, stellt, kann er auf dieses Problem keine Antwort geben, da es nicht seine Intention ist, eine Konzeption der Gerechtigkeit, des Rechts und des Staates zu entwickeln. Wir wissen genau, dass die bloße Wahl des Berufs oder jeder Form von Sittlichkeit nicht reicht, wenn nicht alle gleichberechtigt von den Vorteilen des Lebens im Staat profitieren können. In diesem Sinne müsste Kierkegaards Konzeption der Ethik, wenn wir sie aus den heutigen Perspektiven und Ansprüchen betrachten, die Solidität des Staates und seine Fähigkeit voraussetzen, nicht nur über die notwendigen materiellen Ressourcen, sondern auch über die Kommunikationsräume zur Verwirklichung des eigenen Berufs sowie aller persönlichen Lebenspläne zu verfügen. Dazu sagt er natürlich nichts, er beschäftigt sich allein mit dem Problem, wie ein ethisches Leben zu führen ist. Trotzdem haben die beschriebenen konkreten Lebensverhältnisse auch gemeinsam, dass sie Formen des praktischen Sichverhaltens und der Kommunikation mit anderen sind, durch die sich ein richtiges Selbstverständnis in mehreren Dimensionen konstituiert. Dies möchte ich in

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Anlehnung an Jaspers’ existentielle Kommunikationsanalyse veranschaulichen. Ich gewinne, behauptet Jaspers, 1) durch meine Konkretion ein Selbstverständnis Mitglied einer Gemeinschaft zu sein, deren normative Ordnung ich verstehen und akzeptieren kann, indem ich mich in ihr als Individuum mit gleichen Rechten und Freiheiten verstehe. Ein allgemeines Bewusstsein wird mir gewiss als dass ich bin wie die anderen, so dass ich mich in diesem Zustand, den Jaspers und Kierkegaard primitive Gemeinschaft108 nennen, genau wie die anderen verhalte und eine Identifizierung aller stattfindet. Ich gewinne 2) durch meine Konkretion ein Selbstverständnis, dass ich in meinem Sosein bin, d. h. in meinem Charakter: „Mit Staunen und mit Scham, mit Erschrecken oder mit Liebe erfahre ich aus meinem Tun, wie ich bin; ich kann in plötzlicher Besinnung wohl zu mir sagen: also so bist du!“109 Ich gewinne 3) ein Selbstverständnis dessen, was mir in der materiellen Erfüllung meiner Möglichkeiten bewusst wird, sowie von jenem, was Jaspers Ichaspekte genannt hat, nämlich, dass ich mich als (a) körperliches, (b) soziales, (c) leistendes und (d) vergangenes Ich wahrnehme. Als Körper (a) nehme ich mich als Leben wahr, um dessen vitale Funktionen ich mir Sorgen mache, während ich als soziales Wesen (b) glaube, das zu sein, was ich für andere bin, je nach meiner Aufgabe, sowie nach meinen Rechten und Pflichten gegenüber anderen. Ich erfahre mich wiederum als Mitglied einer Gemeinschaft, indem ich an ihren Lebensverhältnissen (Arbeit, Beruf, usw.) und an ihrer Geschichte teilnehmen kann. Dieser Aspekt der soziologischen Beziehungen enthält, wie es in allen Sozialisierungsprozessen der Fall ist, einen gewissen Grad an Konfrontation, denn das soziale Ich nimmt an solchen Lebensverhältnissen mit seinen eigenen Interessen und Zwecken teil, welche mit denen der anderen bzw. mit denen des Allgemeinen kollidieren können. Findet deshalb eine Gegenüberstellung des einzelnen Bewusstseins mit dem allgemeinen Bewusstsein statt, indem ein unabhängiges Ich ins Spiel kommt, so stellt sich die Frage, welche Art von Kommunikation hier zu finden ist, wie ein Ich sich auf ein anderes Ich bezieht und wie dieser Konflikt zu lösen ist. Jaspers zufolge sollte die Qualität der intersubjektiven Kommunikationen innerhalb eines Ganzen, d. i. innerhalb einer sozialen Ordnung, in 108 „Bezeichnenderweise nämlich hat ,Gesellschaft‘ bei Kierkegaard ein Gegenüber, einen Partner, mit dem eine Beziehung hergestellt wird oder besteht, seien es nun Eheleute, Familienmitglieder, Gott oder ,andere‘. Und gerade diese Gemeinschaften sind es, die Kierkegaard primäre Erfahrungen von Gesellschaft, von politischer Realität belegen, nicht solche einer unbestimmbaren, weil abstrakten ,gesellschaftlichen Erfahrung‘“ (vgl. B. Henningsen, a.a.O., S. 125). 109 Vgl. K. Jaspers, a.a.O., S. 33.

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der sich die Individuen nach der ratio orientieren, die Grundlage sein, um solche Konfliktsituationen zu verhindern. Das richtig gewonnene Selbstverständnis ist erneut für die Konkretisierung der materiellen Möglichkeiten im Staat fundamental: „In diesen Kommunikationen bin ich nur als Verstand eines Bewußtseins überhaupt gedacht. Die Möglichkeit dieser universalen Rationalität ist aber nur das Medium, worin ich noch als Existenz [als konkretes Individuum – SMF] möglich bleibe. Durch die ratio bin ich zwar nicht ich selbst, aber ohne sie kann ich es nicht werden“.110 Hinzu kommt: „Die Gemeinschaft in der Idee eines Ganzen – dieses Staates, dieser Gesellschaft, dieser Familie, dieser Universität, dieses Berufes – bringt mich erstmalig in eine gehaltvolle Kommunikation“.111 Der Hauptgedanke hier lautet zum einen, ich bin in Kommunikation mit anderen, in Gemeinschaftsbeziehungen, um deren Qualität der Staat und seine sich an der Vernunft orientierenden Mitglieder sich zu kümmern haben, weil es im Interesse aller liegt, ihre konkreten Lebenspläne in gemeinsamer Interaktion zu verwirklichen, und zum anderen, ohne ein richtiges Selbstverständnis kann die Notwendigkeit des Sichdarumkümmerns nicht effektiv ins Bewusstsein dringen. Darüber hinaus glaube ich, wie oben erläutert, das zu sein, was ich leiste (c), womit ich zur Entwicklung der Gesellschaft beitrage. Das positive Gefühl des „etwas ausrichten“ bzw. des Geleisteten in Verbindung mit dessen Anerkennung, drückt genau wie die anderen Aspekte des Ich, eine Kommunikationsform mit anderen aus, die das eigene Leben als gelungen oder nicht gelungen bestimmen kann. Zuletzt indem ich mich an meine Vergangenheit (d) erinnern und meine Lebensgeschichte in ihr artikulieren kann, stellt sich mein Ich dar, als das, was ich war. Die positive Bilanz meiner Lebensgeschichte bestimmt somit den Grad von Selbstschätzung, die je nach dem Geleisteten variiert. Die Ichaspekte sind Konkretisierungsformen, die das Selbstverhältnis positiv oder negativ beeinflussen können, mit denen das Individuum permanent in Konfrontation gerät, sei es, weil es nicht über die materiellen Bedingungen verfügt, um sich selbst verwirklichen zu können, oder sei es, weil es keine Anerkennung im Sozialisierungsprozess bekommt. Alle diese Aspekte sind außerdem Komponenten der soziologischen Beziehungen, die sowohl zur Artikulierung der existentiell gelungenen Kommunikation beitragen, jedoch auch jederzeit zum Ungengen führen können. Denn ich kann entweder das Allgemein-Menschliche realisieren und trotzdem nicht glücklich sein oder das Allgemein-Menschliche nicht realisieren und mich 110 Ebd., S. 53. Hervorhebungen von Jaspers. 111 Ebd. Hervorhebung von Jaspers.

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I. Die Anerkennungsproblematik in Entweder/Oder

trotzdem wohl fühlen. Jede Möglichkeit von Nicht-Realisierung des Ethischen oder jede negative Erfahrung in ihm führt zu der Sinnfrage, zu der Frage, ob die Mühe um die Verwirklichung der wichtigen Ziele einen Sinn hat, wenn man keine Garantien ihrer Realisierung haben kann. Die Sinnfrage berücksichtigt darüber hinaus die Fälle, in denen sich etwas des Allgemeinen nicht im individuellen Leben ausdrücken kann; Fälle, in denen man unfähig ist, das Allgemeine zu realisieren, selbst wenn man das Bewusstsein hat, dass dies die Aufgabe im Leben sei. Diese Fälle des Ungenügens hängen mit Problemen der Umverteilung und der Anerkennung zusammen und lassen die Möglichkeit einer bewussten Selbstausschließung der Lebenswelt zu, d. i. die Möglichkeit einer berechtigten Ausnahme.112 112 In Kierkegaards späterer Analyse in Furcht und Zittern geht es vor allem um individuelle Fälle, die die Struktur des Allgemeinen im Sinne einer teleologischen Suspension des Ethischen transzendieren. Diese Suspension setzt die Existenz eines transzendierenden religiösen Bereichs voraus, der als Berechtigungsinstanz für Fälle interpretiert werden kann, in denen die Allgemeingültigkeit von Regeln verletzt wird. Eine Handlung kann so eine ethische Regel verletzen und trotzdem als richtig angesehen werden, d. i. als eine berechtigte Ausnahme innerhalb des Ethischen. Kierkegaard würde sich so äußern, dass wir aus der ethischen Perspektive nicht in der Lage seien, Ausnahmefälle zu erklären und deshalb benötigen wir einen neuen Standpunkt dafür. Und sollte diese transzendierende Instanz ihn uns geben, dann steht sie höher als die Moralität. Grundsätzlich wird hier vor allem darauf aufmerksam gemacht, dass es Fälle gibt, die einzeln überprüft werden müssen, und in denen die Frage der Moral nicht immer relevant ist. Und darauf richtet sich Kierkegaards Konzeption einer transzendierenden Instanz, aber nur so, dass wir uns bei ihm außerhalb des Allgemeingültigkeitsbereichs bewegen würden, wenn wir mit solchen Fällen zu tun hätten. Bei Kierkegaard geht es daher vor allem darum, zu bestimmen, wo die Moral ihre Grenzen hat, wo ein persönliches Verhältnis zu Gott zu sehen ist. Duncans These diesbezüglich zeigt, dass wir eine solche höhere Sphäre nicht brauchen, um Ausnahmen zu rechtfertigen, dass wir uns eher auf unsere Vorstellung von Regeln konzentrieren sollten, um sagen zu können, in diesem Fall sei eine berechtigte Ausnahme zu finden. Duncan geht davon aus, dass die meisten der Regeln sowohl einen universalen als auch einen analytischen Charakter haben, so dass sie nicht nach Rechtfertigung verlangen (vgl. E. H. Duncan Kierkegaards teleologische Suspension des Ethischen. Eine Studie ber Ausnahmeflle in M. Theunissen / W. Greve, a.a.O., S. 266). Und dies zieht als Konsequenz nach sich, „daß unsere wichtigeren moralischen Regeln keine Ausnahmen haben können. Das heißt: Die Aussage ,Stehlen ist falsch, aber nicht in diesem Falle‘ wäre ein ebensolcher Selbstwiderspruch wie die Aussage ,Alle kahlen Menschen sind kahl, aber dieser hier nicht‘“ (267). Dazu kommt: „Die entscheidende Frage lautet niemals, ob Mord zu rechtfertigen ist, sondern immer, ob der vorliegende Fall als ein Fall von Mord ausgelegt werden sollte“ (268). So gesehen haben wir mit Ausnahmefällen zu tun, wenn wir Gründe geben können,

5. Das gelingende Gutsein im Ethischen: Versöhnung und Anerkennung

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Wie ich zu zeigen versucht habe, reduzieren sich weder das richtige Selbstverständnis noch das richtige Tun und das richtige Leben auf eine dieser Formen des praktischen Sichverhaltens. Schon Adorno hatte z. B. in seiner Kritik an Heideggers Existentialismus erläutert, wie problematisch es sein kann, nach dem bloßen So-Sein zu handeln, es zum Maßstab des richtigen Verhaltens und des richtigen Lebens zu machen.113 Denn so wird das Problem des Spannungsverhältnisses zwischen individuellen Interessen und Normen beiseite gelassen, sowie die Persönlichkeit, als bloßer Charakter verstanden, ins Zentrum des Begriffs der Ethik gesetzt. Kierkegaards Auffassung der Ethik kann offensichtlich nicht in diesem existentiellen Sinne interpretiert werden, da sein Begriff des Selbstseins nicht bedeutet, dass das Individuum so handelt, wie es ist, sondern, dass es im Zusammenhang mit seiner Umwelt und in Kommunikation mit den anderen verantwortlich handeln und gleichzeitig seine Funktion im gemeinschaftlichen Kontext erfüllen kann. Die Persönlichkeit kann darüber hinaus nicht nur als eine abstrakte, als berempirisch dargelegt werden, weil sie auch in ihrem Gleichgewicht konkret ist. Adornos Kritik stimmt mit Kierkegaards Überzeugung überein, dass die bloße abstrakte Identität des Individuums mit sich selbst nicht reicht, um eine kritische Bewertung der Kultur und die Aneignung der eigenen Lebensgeschichte in ihr zu gewinnen, und um sich selbst verwirklichen zu können. Deshalb sollen wir nicht die Frage danach aus den Augen verlieren, wie wir uns diese Konkretion des Ethischen und das ethische Selbstverständnis in ihr in heutigen Verhältnissen vorzustellen haben, was für eine Lösung zum Problem des Verhältnisses des Allgemeinen zum Besonderen, des Öffentlichen zum die zeigen, dass eine Handlung nicht als eine normative Verletzung betrachtet werden kann. Die Existenz von Ausnahmen zeigt uns, so Duncan, wie problematisch ein deduktives Modell der Ethik sein kann: „Wenn wir sagen, daß wir im Besitz moralischer Regeln seien, so sind wir versucht anzunehmen, wir könnten unser ethisches Verhalten mittels logischer Deduktion steuern. Das heißt: wir denken vielleicht, es sei unmöglich, die richtige Handlung zu deduzieren, zum Beispiel, indem wir sagen ,Stehlen ist falsch, dies ist ein Fahl von Stehlen, deshalb ist diese Handlung falsch‘ oder ,Lügen ist falsch, dies ist ein Fall von Lüge, deshalb ist dies falsch‘ usw. An unserer deduktiven Logik in diesen Beispielen ist nichts auszusetzen. Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, daß wir überhaupt nicht mehr sicher sind, was genau wir als Fälle von Stehlen oder Lügen oder Mord usw. betrachten wollen. Das Verfahren der ethischen Meinungsbildung ist viel weniger formal als dieses streng logische Modell nahelegt. Und daß ein Akzeptieren von Entschuldigungen nicht nach festem Schema erfolgt, bedeutet, daß eine Ethik, die nach der deduktiven Logik gestaltet ist, keinen Erfolg haben kann“ (270). 113 Vgl. T. W. Adorno Probleme der Moralphilosophie, a.a.O., S. 26.

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I. Die Anerkennungsproblematik in Entweder/Oder

Privaten zu finden ist. Das Spannungsverhältnis, der Konflikt zwischen beiden Bereichen, ist nach wie vor in jedem Augenblick des richtigen Verhaltens vorhanden. Kierkegaards Lösung zielt weder darauf ab, die Vermittlung zwischen den gegensätzlichen Bereichen herzustellen, noch die unversöhnliche Trennung zwischen ihnen hervorzuheben, sondern eher das Moment des Allgemeinen im Besonderen, die Bewegung zwischen den Bereichen, zu zeigen. Und dies geschieht immer dann, wenn mich mein durch Individuierung ethisch gewonnenes Selbstverständnis als kontinuierlicher Prozess mit dem Geschlecht verbindet, dessen Sittlichkeit in meinem Leben zu erfüllen ist. Das Problem jedoch, dass die Allgemeinheit durch die Gesetzgebung Unrecht tun kann, dass sie das eigene Selbstverständnis zu Gunsten des Allgemeinwohls unterdrücken kann, so dass das Individuum nicht mehr die Gewissheit haben kann, wann und warum es moralisch zu handeln hat, bleibt unauflösbar. Drückt sich das Allgemeine in meinem Leben nicht aus, weil ich nicht fähig bin, nach dem moralischen Gesichtspunkt zu handeln, bleibe ich von ihm ausgeschlossen, ich bin, wie oben erläutert, eine Ausnahme. Drückt sich das Allgemeine in meinem Leben so aus, dass es mir trotz meines richtigen Verhaltens Unrecht tut, bleibe ich ebenfalls von ihm und von den Menschen ausgeschlossen, findet keine Selbstverwirklichung statt. Zusammenfassend möchte ich mich noch einmal einem speziellen Aspekt zuwenden. Ich will hervorheben, dass obwohl Kierkegaard keine Konzeption der Gerechtigkeit, des Rechts und des Staates entwickelt hat, seine Theorie des Selbstseinkönnens dennoch einen festen Ausgangspunkt darstellt, wenn es darum geht, die Frage nach einer elementaren Form der Anerkennung zu beantworten.114 Weil ein richtiges ethisch-existentielles Selbstverständnis eines „sprach- und handlungsfähigen Subjekts“115 das Fundament jener intersubjektiven Anerkennung ist, hängt meine Identität von diesem ethischen Selbstverständnis ab, das „nur in gemeinsamer Anstrengung gewonnen werden [kann]“.116 Wenn das Sichzusichselbstverhalten des Individuums nicht nur die Aneignung einer Lebensgeschichte, sondern auch das Mensch-Werden durch das Sichzuanderenverhalten impliziert, lässt sich das ethisch gewonnene Selbstverständnis als die Voraussetzung verstehen, die der Anerkennung des anderen zugrunde liegt. Demgemäß geht die Aneignung der Lebensgeschichte des Individuums und ihre Verwicklung in die Geschichte des Geschlechts mit der 114 S. unten III. Teil. 115 Vgl. J. Habermas Individuierung durch Vergesellschaftung, a.a.O., S. 20. 116 Vgl. J. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur, a.a.O., S. 26.

5. Das gelingende Gutsein im Ethischen: Versöhnung und Anerkennung

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Forderung danach einher, nicht nur in seiner Individualität anerkannt zu werden, sondern auch in dem, was ihn mit dem Ganzen verbindet.117

117 In Bezug auf die spätere Auffassung der Ethik Kierkegaards hebt Habermas folgendes hervor, das auch für die Auffassung der Ethik in Entweder/Oder gilt und das hier offene Fragen liegen lässt: „Die postmetaphysische Ethik Kierkegaards erlaubt auch aus dieser postreligiösen Sicht die Charakterisierung eines nicht verfehlten Lebens. Die allgemeinen Aussagen über Weisen des Selbstseinkönnens sind keine dichten Beschreibungen, aber sie haben normativen Gehalt und Orientierungskraft. Indem sich diese Ethik der Beurteilung zwar nicht des existentiellen Modus, aber der bestimmten Ausrichtung individueller Lebensentwürfe und partikularer Lebensformen enthält, genügt sie den Bedingungen des weltanschaulichen Pluralismus. Die postmetaphysische Enthaltsamkeit stößt jedoch interessanterweise an ihre Grenze, sobald es um Fragen einer ,Gattungsethik‘ geht. Sobald das ethische Selbstverständnis sprach- und handlungsfähiger Subjekte im Ganzen auf dem Spiel steht, kann sich die Philosophie inhaltlichen Stellungnahmen nicht mehr entziehen“ (vgl. J. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur, a.a.O., S. 27).

II. Liebe und Anerkennung 1. Von der Gegenseitigkeit zur Einseitigkeit Im vorherigen Teil habe ich die zentralen Aspekte der Bestimmung des Ethischen in Entweder/Oder mit der Absicht dargestellt, den Begriff der Wahl in einem weiteren Horizont zu rekonstruieren, zum einen als fundamentales Moment in der Konstitution des Selbst, zum anderen als intersubjektive Praxis der permanenten Realisation. So wurde eine Interpretation der Wahl gewonnen, in welcher die Wahl nicht auf die absolute Wahl des Selbst reduziert, sondern im Zusammenhang mit der ethischen Forderung verstanden wird, sich die Formen der Sittlichkeit im Leben auf verantwortliche Weise konkret anzueignen. Die Wahl als das, was am Anfang des moralischen Handelns steht, und als Voraussetzung eines gut gelungenen und geführten Lebens in Kommunikation mit den anderen hat, so habe ich argumentiert, einen normativen Charakter: Sie fundiert positive zwischenmenschliche, gegenseitige Beziehungen. Zwar spricht Kierkegaard in Entweder/Oder nicht direkt von Anerkennungsverhältnissen. Die im Begriff der Wahl enthaltene ethische Qualifizierung des Handelns suggeriert aber, dass die Erfüllung der ethischen Forderung mit gegenseitigen Anerkennungsverhältnissen im sozialen Interaktionsraum, Kierkegaard zufolge im Bereich des Allgemeinen, einhergeht, und dass ein gelungenes Leben von der positiven Form solcher gegenseitiger Anerkennungsverhältnisse abhängt. Die Fragen, was es heißt, jemanden als ein Selbst – als einen Existierenden – anzuerkennen, und welche Konsequenzen der Mangel an Anerkennung für die Beziehung hat, werden, wie ich zu zeigen versuchte, anhand der Auseinandersetzung zwischen einer ästhetischen und einer ethischen Lebensform in der Argumentation implizit thematisiert. Kierkegaard ist der Überzeugung, dass das ethische Leben den normativen Rahmen bildet, um das Gleichgewicht im Leben des Menschen herzustellen, und um ein gutes Leben zu führen. Die Position, welche in Entweder/Oder vertreten wird, und die uns zu behaupten erlaubte, dass das Problem der Gegenseitigkeit in der Anerkennung eine wichtige Rolle in der Bestimmung des Ethischen spielt, wird jedoch in den späteren Schriften von Kierkegaard selbst teilweise in Frage gestellt. Denn Kierkegaard versteht, dass es sehr optimistisch ist, zu glauben, dass der Mensch sich an die immer wieder veränderte Situation der Wirklichkeit

1. Von der Gegenseitigkeit zur Einseitigkeit

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problemlos anpassen und sich eine Sittlichkeit aneignen kann, deren Institutionen permanent bestimmt werden müssen. Wie kann ein Mensch, so fragt Kierkegaard erneut, das Gesetz erfüllen, wenn er nach einem von einer Mehrheit der Menschen jederzeit zu bestimmenden Gesetz handeln muss? Wie kann der Mensch wissen, was er in einer Zeit zu tun hat, deren Verhältnisse ein Mangel an Beständigkeit auszeichnet? Erlaubt die Struktur der Welt das Gerechte vom Ungerechten zu unterscheiden, sofort und ohne Ausreden mit dem richtigen Handeln anzufangen? Ist die moderne Zeit nicht verwirrt und vom Menschsein abgelenkt? Wie ich im ersten Teil gezeigt habe, konstituieren diese Fragen zusammen mit der Kritik an der bestehenden Christenheit den Kern von Kierkegaards kritischer Diagnose der modernen Zeit. Hierauf fußen die Erneuerung und Weiterentwicklung seiner früheren Konzeption. Ich spreche hierbei von einer Weiterentwicklung, da ich nicht der Meinung bin, dass es sich um eine neue Auffassung der Ethik handelt, welche die frühere Auffassung außer Kraft setzt. Es geht vielmehr um eine notwendige Komplementarität zwischen beiden Auffassungen der Ethik.118 Impliziert in Entweder/Oder das gelungene Selbstverhältnis das verantwortliche Sichverhalten zum anderen und somit positive zwischenmenschliche, gegenseitige Beziehungen, so ist die spätere Auffassung der Ethik das normative Programm, solche Beziehungen in ihrer positiven Form aufrechtzuerhalten. In den geplanten Vorlesungen über Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiçsen Mitteilung und vor allem in dem Buch Die Taten der Liebe wird eine andere Form gesucht, mit den Verhältnissen der Welt umzugehen. Diese Form, die der Struktur einer religiösen Ethik entspricht, ist die christliche Liebe, welche mit der radikalen, einseitigen Forderung in Verbindung gebracht wird, alle Menschen als Menschen zu lieben, sich in der Liebe zu ihnen zu sich selbst zu verhalten. Indem die Liebe sich nicht mehr auf besondere Verhältnisse – 118 Zur Bestimmung der Ethik bei Kierkegaard vgl. H. Deuser Die Taten der Liebe: Kierkegaards wirkliche Ethik in W. Härle / R. Preul (Hg.) Gute Werke (Marburger Jahrbuch Theologie, V), Marburg 1993, S. 117 – 132; C. E. Deyton Speaking of Love. Kierkegaard’s Plan for Faith, Boston 1986; A. Grøn Liebe und Anerkennung in Kerygma und Dogma 40, 1994, S. 101 – 114; F. Hauschildt Die Ethik Søren Kierkegaards, (Studien zur evangelischen Ethik, Bd. 15), Gütersloh 1982, S. 153 – 174; U. Lincoln Christliche Ethik als expressive Theorie humaner Praxis. Zur Methode in Kierkegaards Die Taten der Liebe in I. U. Dalferth (Hg.) Ethik der Liebe. Studien zu Kierkegaards „Taten der Liebe“, Tübingen 2002, S. 1 – 18; I. U. Dalferth „… der Christ muß alles anders verstehen als der Nicht-Christ …“ Kierkegaards Ethik des Unterscheidens in ders., a.a.O., S. 19 – 46; K. E. Løgstrup Auseinandersetzung mit Kierkegaard in K. E. Løgstrup / G. Harbsmeier (Hg.) Kontroverse um Kierkegaard und Grundtvig, Band II, München 1968.

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II. Liebe und Anerkennung

zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Freund und Freund, usw. – reduziert, sondern sich an alle Menschen richtet, wird sie eine Pflicht, die von allen Menschen anzuerkennen und zu erfüllen ist, also eine Pflicht, die den Nächsten zum Gegenstand hat. Die Bewegung der Anerkennung hat hier deshalb eine andere Bedeutung als in Entweder/Oder, denn in erster Linie wird nicht mehr von gegenseitiger Anerkennung im sozialen Interaktionsraum, sondern vom Anerkennen des anderen als Nächstem gesprochen. Hier findet eine Bewegung statt, die von der Gegenseitigkeit zu der Einseitigkeit in der Anerkennung führt, eine Bewegung, die auf keinen Fall als eine Negation der Gegenseitigkeit verstanden werden soll. Wie unterscheiden sich beide Momente der Anerkennung? In der Art der Forderung. In der Liebe und der Freundschaft, sowie in den anderen zwischenmenschlichen Beziehungen, wird an beide Seiten der Beziehung oft eine Forderung gestellt, die in der Regel mit Gegenseitigkeit einher geht. Und die Anwesenheit dieser Gegenseitigkeit in der Beziehung wird als eine positive Antwort angesehen, als etwas, das zum Wachstum und zur Verstärkung der Beziehung beiträgt. So ist in der Liebe und der Freundschaft vor allem von Hingabe, Treue, Vertrauen und Respekt die Rede, während in den anderen zwischenmenschlichen Beziehungen von gegenseitiger Anerkennung in ihrem weitesten Sinne gesprochen wird.119 Obwohl diese positive Antwort in den Intimbeziehungen nicht gefordert werden kann, da die Erwiderung in der Liebe und der Freundschaft eher etwas ist, das man vom anderem erwartet, wird davon ausgegangen, dass einer authentischen Intimbeziehung Gegenseitigkeit zugrunde liegt, dass die Selbstbestätigung ein fundamentales Moment der Beziehung ist. Dass wir z. B. in der Liebe zum anderen danach streben, geliebt zu werden, scheint daher etwas zu sein, auf das man nicht verzichten will, etwas, das Ziel dieser besonderen Beziehung zum anderen ist. Von den anderen Formen der zwischenmenschlichen Beziehungen könnte man zwar dasselbe behaupten, nämlich, dass bei ihnen die Anerkennung etwas sei, das von dem anderen erwartet werde. Sie sind jedoch von einer institutionalisierten Anerkennungsordnung so reguliert, dass in manchen Fällen die Anerkennung als 119 Vgl. dazu R. Forst Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt am Main 1994; A. Honneth Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser in N. Fraser / H. Honneth Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt am Main 2003; J. Habermas Faktizitt und Geltung. Beitrge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992.

1. Von der Gegenseitigkeit zur Einseitigkeit

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eine Forderung verstanden wird, deren Nichtbeachtung rechtliche Konsequenzen für den Handelnden haben kann. In beiden Fällen gibt es eine moralische Dimension der Anerkennung und in beiden Fällen ist eine ethische Forderung nach Anerkennung des anderen enthalten, also eine ethische Forderung, die wie gesagt nicht unbedingt garantieren kann, dass die Beziehungen in ihrer positiven Form aufrechterhalten werden, dass der andere wirklich gesehen und anerkannt wird. Diese jeder Beziehung innewohnende Gefahr des Übersehens des anderen, die dem gelungenen Sichverhalten zum anderen und auch zu sich selbst schadet, nämlich die versteckte egoistische Selbstliebe, wird von Kierkegaard mit der Formulierung der radikalen, einseitigen Forderung der Liebe zu überwinden versucht. Es handelt sich dabei um eine radikale Reinterpretation des christlichen Verständnisses der Liebe, die in Abgrenzung von den traditionellen Auffassungen der Liebe, der Gerechtigkeit und der sozialen Gleichheit gewonnen wird. Die Liebe wird zunächst als eine radikale, einseitige Forderung an den Einzelnen verstanden, seine Egozentrizität zu transzendieren und in einem uneigennützigen und freien Verhältnis zum anderen zu stehen, einem Verhältnis, durch das dem anderen geholfen wird, frei und selbständig zu werden. Die Liebe wird zwar befohlen, aber was damit befohlen wird ist kein Gefühl, sondern eine besondere Haltung zum anderen und zu sich selbst, welche die Beziehungen zwischen Menschen reguliert und positiv fördert, welche das sittliche Verhalten von der Reaktion der Umwelt und von der institutionalisierten normativen Ordnung unabhängig macht. Die einseitige Forderung der Liebe richtet sich daher darauf, zu zeigen, dass der Ausgangspunkt der intersubjektiven Beziehungen nicht das Anerkanntwerden, der Beifall oder ein Verdienst sein sollte, wenn Gegenseitigkeit Uneigennützigkeit, liebend für alle dazusein, bedeutet. Die Radikalität der Forderung besteht eben in dem Verzicht auf die starke Fixierung auf die Gegenseitigkeit in der Liebesbeziehung. Die in diesem Sinne dargestellte Liebe ist ein Korrektiv gegen die Möglichkeit der negativen Form der Gegenseitigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die notwendige Komplementarität zwischen der früheren und der späteren Auffassung der Ethik ist auch aus der Entwicklung des Liebesbegriffes in Kierkegaards Werk zu gewinnen. Kierkegaard konstruiert seinen Liebesbegriff aus drei Perspektiven, die im Zusammenhang mit der Dialektik von Stadien stehen, d. i. aus der ästhetischen, ethischen und religiösen Perspektive.120 Aus jeder dieser Perspektiven gibt es eine Stel120 Vgl. dazu C. E. Deyton, a.a.O., S. 11 – 89.

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II. Liebe und Anerkennung

lungnahme zu den anderen Perspektiven, in der die Überlegenheit des jeweiligen Standpunkts gegenüber dem der anderen behaupten wird, und in dem Übergang von Perspektive zu Perspektive wird ein neuer Standpunkt erreicht, aus dem die Liebe vollkommener und wahrer wird. So ist aus der ästhetischen Perspektive die Liebe die sinnliche Liebe, welche als Begehren bestimmt ist (EO1, 68 – 80). Sie ist in erster Linie eine Bindung an einen bestimmten Gegenstand – den Geliebten, den Freund, usw. –, von dem die Liebe abhängt, und sie fußt auf der Intensität des im Augenblick erlebten Genusses. Die Liebe ist, wie es der Ästhetiker A zeigt, Quelle eines unterbrochenen poetischen Tuns und hat daher nichts mit der Vorstellung eines gemeinsamen gelungenen Lebensprojekts oder mit der Pflicht, den Nächsten zu lieben, zu tun. Aus der ästhetischen Perspektive ist eine ethische oder religiöse Betrachtung der Liebe die Vernichtung des Sinnlichen und des Emotionalen in der Liebe. Andererseits ist aus der ethischen Perspektive die Liebe die konsequente Durchführung eines gemeinsamen Lebensentwurfs, dessen Konkretion in der Ehe, also in der Verpflichtung und Verantwortung, welche mit der Ehe zusammenhängen, stattfindet. In der Ehe ist die erotische Liebe – der Bereich des Emotionalen im Allgemeinen – weder ausgetrieben noch unterdrückt, sondern aufbewahrt und erweitert. Denn durch die Ehe wird die Liebe Wirklichkeit (63) und Geschichte (EO2, 64 – 65). Zwar hängt die ethische Liebe auch von einem besonderen Gegenstand ab. Keinen Vorrang aber hat bei ihr eine Unmittelbarkeit, über die die Verantwortung dem geliebten Wesen gegenüber vergessen wird. In der ethischen Liebe wird die Liebe auf Gott zurückgeführt und Gott ist die Instanz, durch die der Liebe ein ewiger Sinn verliehen wird. Dieser Verweis impliziert jedoch nicht eine allgemeine Liebe, nämlich die Liebe zu allen Menschen, welche erst aus der religiösen Perspektive erreicht wird. Religiös betrachtet ist die Liebe umfassender, da sie sich auf jede Art von Beziehung bezieht. Sie ist keine bloße Neigung, die transzendiert werden muss, um moralisch zu handeln. Sie reduziert sich weder auf die Privatbeziehungen noch auf die egoistische Selbstliebe. Die Liebe ist zuerst und vor allem eine Pflicht, eine einseitige Forderung, nach der man verpflichtet ist, alle Menschen die man sieht, als Menschen – in ihrer Verschiedenheit und Eigentümlichkeit und in ihrer Gleichheit miteinander – zu lieben, ohne Gegenliebe zu erwarten. Sie ist die wahre Form der Liebe, weil sie nicht von einem Gegenstand abhängt, der sie bestimmt, sie wird allein durch die Liebe bestimmt. Was in der ethischen Liebe aufbewahrt und erweitert ist, wird in der Nächstenliebe auf eine solche Weise übernommen, dass das Sehen und Anerkennen des Nächsten in der Beziehung Vorrang hat. Bedenkt man, dass jedes in der Entwicklung

2. Zum Sollenscharakter der Forderung

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des Liebesbegriffes erreichte Niveau keine Negation oder bloße Aufhebung der anderen Perspektiven, sondern deren qualitative Übernahme ist, so ist es möglich zu behaupten, dass die frühere Auffassung der Ethik positiv und konsequent erweitert wird. Beide Auffassungen der Ethik werden jedoch stark dadurch differenziert, dass in der radikalen Formulierung der Forderung der Liebe die politische Funktion der Forderung außer Acht gelassen wird, so dass die Erfüllung der Forderung die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Prozess ausschließt. Dies wird sich als ein Mangel der späteren Auffassung erweisen, den es in Bezug auf die frühere Auffassung zu korrigieren gilt. Im Folgenden möchte ich mich der Rekonstruktion des Liebesbegriffes in Die Taten der Liebe zuwenden. Hervorgehoben werden dabei der normative Charakter der Pflicht, der Aspekt des Sehens und die Einseitigkeit in der Anerkennung. Meine These, dass die Lehre von der Liebe den normativen Rahmen bildet, um die zwischenmenschlichen Beziehungen in ihrer positiven Form aufrechtzuerhalten, d. h. dass die Liebe als Korrektiv gegen die negative Form der Gegenseitigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu verstehen ist, werde ich im Laufe der Rekonstruktion des Liebesbegriffes näher erläutern.

2. Zum Sollenscharakter der Forderung Kierkegaard hat Die Taten der Liebe als christliche Erwgungen in Form von Reden konzipiert und in zwei Folgen geteilt. Die erste Folge beschäftigt sich mit der Bestimmung der Liebe als Pflicht bzw. als ethischer Forderung, die zweite widmet sich der Praxis der Liebe. Die Mitteilung in Form von Reden hat wie in vielen von den früheren Schriften auch eine therapeutische Funktion. Dem Leser wird die Liebe als die einzige Form gelingenden Gutseins bewusst, zu der er sich zu verhalten hat, wenn er frei sein und sich selbst bestimmen will. Die Mitteilung dessen, was es heißt, zu lieben und die Liebe zu verwirklichen, ist in diesem Fall nicht indirekt, sondern direkt-indirekt. Die Forderung der Liebe, das Wort des Evangeliums, wird dem Leser in den Reden direkt mitgeteilt. Die Mitteilung enthält ein vorläufiges Wissensmoment, das der Leser sich zu Eigen zu machen hat. Die Konfrontation sowohl mit den verschiedenen erreichten Stufen in der Formulierung und Radikalisierung der Forderung der Liebe als auch mit der Bedeutung der Praxis der Liebe für den Einzelnen, welche Kierkegaard mit den Reden beabsichtigt, soll aber den Leser indirekt dazu bewegen, im Verhältnis zur Liebe zu stehen, so dass er die Liebe als Fun-

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II. Liebe und Anerkennung

dament seines Selbst und als Quelle seines Handelns anerkennt. Eine solche Anerkennung hat eine Änderung im Selbstverhältnis zu verursachen: Die Liebe wird eine Haltung, die das Selbstverhältnis und das Verhältnis zu anderen positiv fördert,121 sie wird ein wirkendes Tun (LT, 333), in dem man für andere uneigennützig da sein will.122 Mit der Bestimmung der Liebe als ethischer Forderung versucht Kierkegaard, dieses durch die Transzendierung der Egozentrizität stattfindende Daseinwollen für andere genauer zu erfassen. Auf diesen Sollenscharakter der Forderung der Liebe möchte ich jetzt näher eingehen. Kierkegaard beginnt seine Analyse mit den Fragen, ob die Liebe eine besondere Art von Beziehung erotischer, freundschaftlicher oder symbiotischer Natur meint, oder ob sie sich vielmehr auf jede Art von zwischenmenschlicher Beziehung bezieht. Wenn die Liebe, wie er sie darlegen will, sowohl Fundament des ganzen Daseins als auch eine Haltung zu sich selbst und zum anderen ist, dann muss von Anfang an klar feststehen, dass die Liebe weder auf ein Fühlen, Begehren oder Streben reduziert werden, noch Sache einer Definition sein kann. Als Fundament des ganzen Daseins „wohnt die Liebe im Verborgenen, oder wohnt verborgen im Innersten“ (11). Sie liegt allen Lebensverhältnissen zugrunde und ist etwas Gegebenes und Ursprüngliches, das nichts mit der weltlichen Vorstellung zu tun hat, nach der die Liebe vergehen und sich erschöpfen kann. Denn Liebe bleibt, sie liegt zugrunde, selbst wenn das Verhältnis zwischen diesem und jenem Menschen nicht mehr besteht. Diese konstitutive Kraft der Liebe zu verkennen, sich der Liebe so zu entziehen, dass man das Selbstverhältnis oder das Verhältnis zum anderen aufgibt, wird von Kierkegaard zum einen als Selbstbetrug und zum anderen als ein ewiger Verlust dargestellt. 121 Kierkegaard spricht nicht von Haltung, sondern von einem wirkenden Tun, von einer erworbenen Eigenschaft (333), in der man für andere da ist (248). Wenn ich von Haltung rede, beziehe ich mich insbesondere auf die Liebesauffassungen von Max Scheler und Erich Fromm. Scheler versteht die Liebe als eine Haltung, in der „eine Bewegung zu einem positiven Werte“ stattfindet (vgl. M. Scheler Wesen und Formen der Sympathie, München 1973, S. 146ff.). Für Fromm ist die Liebe „eine Haltung, eine Charakter-Orientierung, welche die Bezogenheit eines Menschen zur Welt als Ganzem und nicht nur zu einem einzigen ,Objekt‘ der Liebe bestimmt“ (vgl. E. Fromm Die Kunst des Liebens, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1982, S. 57ff.). Zum Begriff Haltung vgl. auch, S. Cavell The Claim of Reason. Skepticism, Morality and Tragedy, Oxford 1979, S. 369; A. Honneth Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt am Main 2005, Kap. III und IV. 122 Dabei geht es nicht mehr um die Mitteilung eines Wissens, sondern eines Könnens, also dessen, was zu verwirklichen ist. Es handelt sich nicht um die Liebe, sondern um die Taten der Liebe.

2. Zum Sollenscharakter der Forderung

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Man lebt so als wohnte nicht etwas im Innersten des Menschen, das ihn konstituiert, man verhält sich nicht zu diesem Ursprung seiner selbst. Zwar ist die Liebe zu ergründen für den Menschen eine Unmöglichkeit, denn für sie gilt, dass sie Sache des Glaubens ist; zwar bleibt dem Menschen die Liebe als Fundament verborgen, er kann sich zu ihr aber handelnd verhalten. Kierkegaard betont dies, wenn er sagt, die Forderung der Liebe sei zunächst eine Forderung nach Kenntlichkeit (Rede I, erste Folge). Die Liebe hat ein verborgenes Leben, welches sich aber an dessen Äußerungen zu erkennen geben will. Mit anderen Worten, es ist ein Bedürfnis der Liebe, Früchte zu tragen, an denen sie zu erkennen ist. Es geht daher bezüglich der Liebe nicht darum, danach zu fragen, was die Liebe ist, um sie in ihrem Fundament zu kennen, sondern darum, sie an ihren Äußerungen zu erkennen. Wie ist dieses Bedürfnis der Liebe nach Kenntlichkeit zu verstehen? Kierkegaard verbindet dieses Bedürfnis der Liebe nach Kenntlichkeit mit den Taten des Einzelnen, d. h. mit der Art und Weise, wie er handeln soll, wenn er sich zur Liebe wahrhaft verhält, wie folgt: Es kommt darauf an, auf welche Weise man das Tun verrichtet. Es gibt ja Verrichtungen, die in besonderem Sinne Liebeswerke genannt werden. Aber wahrlich, damit daß einer Almosen gibt, die Witwe besucht, den Nackten kleidet, ist seine Liebe noch nicht bewiesen oder kenntlich; denn man kann Liebeswerke tun auf lieblose, ja sogar selbstische Weise, und wenn es sich so verhält, ist das Liebeswerk doch kein Tun der Liebe (16).123

Die Kenntlichkeit der Liebe ist eine einseitige Forderung an den Einzelnen, daran zu arbeiten, dass seine Liebe „Früchte trägt und also erkannt werden kann“ (17). Die Forderung betrifft nur den Einzelnen und bewegt ihn zum Handeln, unabhängig von der Reaktion seiner Umwelt. Seine Aufgabe besteht weder darin, zu urteilen, ob er selbst Früchte trägt oder ob die anderen sie tragen, noch darin, sich mit der Kontemplation der eigenen Früchte oder denen des anderen zu beschäftigen. Eine solche Arbeit erfordert vielmehr, dass der Einzelne sich hinter seinen Taten versteckt, so 123 Die Taten der Liebe äußern sich in der Barmherzigkeit, nämlich in der aufrichtigen Teilnahme am Leiden des anderen und in dem wahren Interesse an seinem Wohlergehen, selbst wenn ihm materiell nicht geholfen werden kann. Barmherzigkeit ist nicht zu verwechseln mit Freigebigkeit, welche eher aus Barmherzigkeit folgen soll. Es gibt eine Freigebigkeit, die kein Tun der Liebe ist, jene die entsteht, um das Leiden zum Schweigen zu bringen und das eigene Gewissen zufrieden zu stellen. Das Wichtigste ist nun das Ausüben der Barmherzigkeit unabhängig davon, ob man etwas zu geben hat oder etwas zu tun vermag. Der Nachdruck liegt, wie es bei allen Taten der Liebe der Fall ist, auf der Art und Weise, wie man gibt, und nicht auf dem, was man gibt (vgl. dazu LT, 347 – 363).

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II. Liebe und Anerkennung

dass er nicht Liebeswerke tut, um anerkannt zu werden oder um sich besser zu fühlen. Er soll die Früchte nicht so tragen, dass deren Offenbarung für ihn das Wichtigste, das Ziel seines Verhältnisses zu anderen, wird. Das Wort als ein Ausdrucksmedium seiner Liebe zu anderen soll auch nicht mit den Früchten der Liebe verwechselt werden, denn ein Wort gleicht nicht immer dem, was es besagt oder kann immer auf neue Weise interpretiert werden. Damit wird die sprachliche Äußerung der Liebe dem geliebten Wesen nicht negiert, sondern eher gezeigt, dass die Haltung des Einzelnen, dieses Wie des Tuns, das Wichtigste ist, wenn es um die Rede von der Kenntlichkeit der Liebe geht. So schreibt Kierkegaard: Dein Freund, deine Liebste, dein Kind, oder jeder sonst, der Gegenstand deiner Liebe ist, haben ein Anrecht auch auf deren Ausdruck im Wort, wenn die Liebe dich wirklich in deinem Innern bewegt. Die Bewegtheit ist nicht dein Eigentum, sondern das des andern, die Äußerung ist das, was du ihm schuldest, da du ja in der Bewegtheit dem gehörst, der dich bewegt, und dir bewußt wirst, daß du ihm gehörst […] Also die unreife und die betrügerische Liebe ist daran kenntlich, daß Worte und Redensarten ihre einzige Frucht sind (15). [W]enn man gelernt hat, sie [die Liebe] an den Früchten zu erkennen, so kehrt man wieder zu dem ersten zurück und kehrt zu ihm zurück als zum Höchsten, zum Glauben an Liebe. Denn das Leben der Liebe ist zwar kenntlich an den Früchten, die es offenbar machen, aber das Leben selbst ist doch mehr als die einzelne Frucht und mehr als alle Früchte zusammen, wie du sie in einem Augenblick aufzählen könntest. Das letzte, das seligste, das unbedingt überzeugende Kennzeichnen der Liebe bleibt deshalb: die Liebe selbst, die erkannt und wieder erkannt wird von der Liebe in einem andern. Gleiches wird nur von Gleichem erkannt; nur wer in der Liebe bleibt, kann die Liebe erkennen, ebenso wie seine Liebe zu erkennen ist (19 – 20).

Die Äußerung der Liebe ist, wie hervorgehoben wurde, die Aufgabe des Einzelnen, der arbeitet, damit seine Liebe fruchtbar wird und daran erkannt werden kann, unabhängig davon ob sie erkannt wird oder nicht. Und die Äußerung ist das Medium der Intersubjektivität, indem die Liebe an den Taten zu erkennen ist, die von allen erkennbar sind, die an der Liebe teilnehmen wollen. Zu diesem Punkt werde ich später kommen. Wenn die Forderung nach Kenntlichkeit der Liebe an deren Äußerungen postuliert wird, ist noch nicht klar, wie genau diese Forderung vom Einzelnen zu erfüllen ist. Wir wissen nur, dass er eine von der Reaktion der anderen unabhängige Arbeit leisten und sich dabei zum Ursprung seiner selbst, zur Liebe, verhalten muss. Die Forderung nach Kenntlichkeit der Liebe wird erst durch den Sollenscharakter der Liebe, welchen Kierkegaard in den drei Reden über das biblische Liebesgebot (Reden II A.-C.) aus-

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arbeitet, genau erörtert.124 Dabei geht es um die allgemeine Frage, was es für das Liebesverhältnis bedeutet, dass die Liebe eine Pflicht ist. Diese Frage kann angemessen beantwortet werden, so Kierkegaards Behauptung, wenn man nicht außer Acht lässt, dass die Liebe zum Nächsten die Selbstliebe voraussetzt.125 Ausgangspunkt der Liebe ist die Fähigkeit zur Selbstliebe, welche im Verhältnis zum Nächsten fortgesetzt werden soll. Die Selbstliebe wird in diesem Kontext als eine positive Willensbestimmung verstanden, welche mit der sittlichen Aufgabe einhergeht, Verantwortung für den anderen zu übernehmen, sich um das Leben des anderen zu sorgen. Die Selbstliebe in der Nächstenliebe hat auch eine besondere Bedeutung im Verhältnis zu sich selbst: Erst wenn ich den Nächsten liebe wie mich selbst, liebe ich mich selbst auf die rechte Weise (27), ich überwinde das Selbstische und stehe in einem freien Verhältnis zum anderen. Woher kann man sich aber sicher sein, dass man sich selbst auf die rechte Weise liebt? Kann die Selbstliebe am Anfang des moralischen Handelns stehen? Die Antwort auf diese Fragen wird sich in der Praxis der Liebe genau zeigen. Nach meiner Interpretation ist die positive Form der Selbstliebe ein Zustand, in dem das Leben des Menschen im Gleichgewicht steht. Sie ist die oben genannte, permanent zu aktualisierende Wahl des Selbst. Es gibt eine enge Verbindung zwischen der Fähigkeit zur Selbstwahl und der Fähigkeit zur Selbstliebe, man kann sehr wohl behaupten, dass die Wahl des Selbst Selbstliebe heißt, dass Selbstsein als Selbstwerden dem Zustand der positiven Selbstliebe entspricht. Daher ist die Forderung nach Nächstenliebe, welche die Selbstliebe voraussetzt, das Aufrechterhalten der Kontinuität mit der Welt, die Konkretion des Selbst, die in Entweder/ Oder mit Verantwortung und Anerkennung im Prozess der Aneignung einhergeht. Meiner Meinung nach beabsichtigt Kierkegaard in Die Taten der Liebe die starke These zu vertreten, dass sich die Liebe erst in der Nächstenliebe zu entfalten beginnt. Eine Selbstliebe, die nicht permanent Nächstenliebe wird, sondern sich allein in Bezug auf die persönlichen Bindungen oder in Bezug auf eine abstrakte Vorstellung einer Menschenliebe – der Menschheit als Kollektiv – entwickelt, bleibt stehen, gelangt nicht wahrhaft zum anderen. Zwar kann der Mensch, ohne die Forderung der Nächstenliebe zu beachten, sich selbst und andere lieben, seiner Liebe 124 Zum Sollensbegriff vgl. U. Lincoln ußerung (Kierkegaard Studies: Monograph Series, Bd. 4), Berlin/New York 2000, Kap. 2. 125 Vgl. dazu, C. S. Evans Kierkegaard’s Ethic of Love. Divine Commands And Moral Obligations, Oxford, New York 2004, Kap. 8 und 9.

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wohnt aber eine Gefahr inne, sie kann im negativen Sinne blind werden, sie kann sich ändern und sich in ihr Gegenteil – in Hass – verwandeln. Erich Fromm beschreibt z. B. ähnlich wie Kierkegaard das diesem Gedanken zugrundeliegende Problem der negativen Exklusivität in der erotischen Liebe folgendermaßen: „[W]enn die erotische Liebe nicht auch Liebe zum Nächsten ist, dann führt sie niemals zu einer Einheit, die mehr wäre als eine orgiastische, vorübergehende Vereinigung“.126 „Erotische Liebe schließt die Liebe zu anderen nur im Sinne einer erotischen Vereinigung, einer vollkommenen Bindung an den anderen in allen Lebensbereichen aus – aber nicht im Sinne einer tiefen Liebe zum Nächsten“.127 Was heißt denn Liebe zum Nächsten? Warum hängt die gut gelingende Liebe zu einer geliebten Person von der Nächstenliebe ab? Bevor ich diese Fragen betrachte, halte ich es für sinnvoll, kurz auf die Liebesauffassung von Harry Frankfurt in seinem Buch Grnde der Liebe 128 zu verweisen. Was mich dabei insbesondere interessiert, sind die Gründe, die Frankfurt gibt, um die Liebe stark auf die persönliche Bindung zu reduzieren. Die Probleme, die er in der Forderung nach Nächstenliebe sieht, werde ich im Lauf der Rekonstruktion des Liebesbegriffs in Die Taten der Liebe zu beantworten versuchen. Frankfurt operiert wie Kierkegaard mit einem positiven Begriff der Selbstliebe. Für beide Autoren ist die Selbstliebe die unumgängliche Voraussetzung eines positiven Verhältnisses zum anderen, eines Verhältnisses, in dem die Sorge um den anderen und um das, was für ihn gut ist, eine zentrale Rolle spielt. Beiden Autoren ist auch gemeinsam, dass für sie der Weg zur Selbstliebe der Weg zum gelingenden Gutsein ist. So argumentiert Frankfurt, dass „der Weg zur Selbstliebe […] die tiefste und wesentlichste – und keinesfalls am leichtesten zu erreichende – Leistung eines ernst zu nehmenden und geglückten Lebens [ist]“.129 Bei diesem Weg geht es wesentlich um Entschlossenheit. Die Selbstliebe soll entschlossen werden, um sich den anderen hingeben zu können.130 Wie bei Kierkegaard ist die entschlossene Selbstliebe ein Zustand, in dem keine Zweideutigkeit am Dasein vorhanden ist. Der Wille ist ungeteilt und steht im Gleichgewicht. Schließlich verstehen beide Autoren, dass der Weg zur Selbstliebe im Verhältnis zum anderen fortgesetzt werden soll. In der Bestimmung der 126 127 128 129 130

Vgl. E. Fromm Die Kunst des Liebens, a.a.O., S. 66. Ebd., S. 67. Vgl. H. G. Frankfurt Grnde der Liebe, Frankfurt am Main 2005. Ebd., S. 75. Ebd., S. 106.

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Art der Fortsetzung dieses Verhältnisses zum anderen, sowie in der Frage nach dem anderen trennen sich beide Liebesauffassungen. Während bei Kierkegaard die Selbstliebe in erster Linie zum Nächsten und zur Anerkennung der eigenen Pflicht ihm gegenüber führt, ist für Frankfurt die Selbstliebe auf eine persönliche, durch die Sorge um das Leben des anderen bestimmte Bindung bezogen. Das biblische Liebesgebot ist für Frankfurt nicht wegen der Liebe zum Nächsten, sondern wegen der Selbstliebe, die die Voraussetzung der Nächstenliebe ist, interessant: „[D]er göttliche Befehl, andere zu lieben wie uns selbst, könnte als eine Empfehlung betrachtet werden, in deren Licht die Selbstliebe als besonders hilfreiches Paradigma fungiert – als Modell oder Ideal, das uns in unserem praktischen Leben als Leitbild dienen sollte“.131 Die ,anderen‘ sind hierbei nicht die Nächsten, sondern diejenigen, die man auf besondere Weise liebt. Frankfurt reduziert die Einstellung der Liebe auf die persönliche Bindung, auf das geliebte Wesen, um dessen Identität als Individuum man sich sorgt. Und das heißt, die Liebe ist die interessenfreie Sorge um das Leben der Person, die man auf besondere Weise liebt, mit der man sich in dem Sinne identifiziert, dass ihre Interessen die eigenen werden. Die Liebe fördert das, was für die geliebte Person gut ist und fördert so etwas, das für den Liebenden auch gut ist. Bei Frankfurt handelt es sich dabei um die praktische Sorge, die mit der Bestimmung von „relevanten Absichten und Prioritäten“ für das geliebte Wesen zusammenhängt.132 Mit dem biblischen Liebesgebot kann Frankfurt daher nicht so viel anfangen, wenn es um Nchstenliebe geht. Kann man sie eigentlich Liebe nennen, so fragt er auf implizite Weise, ist sie nicht vielmehr Wohltätigkeit? Wenn man z. B. Kranken oder Armen hilft, gibt es dabei eine gewisse Gleichgültigkeit, da sie jede Person sein könnten. Es ist nicht die Liebe, die ein Individuum zu ihnen hin bewegt. Denn es spielt für das Individuum keine Rolle, wem es hilft. In der Liebe hingegen soll dem Liebenden die geliebte Person wichtig sein. Wen oder was er liebt, ist für ihn eine entscheidende Frage: „Wird jemand von Wohltätigkeit getrieben, muss er nicht unterscheiden, ob er dieser bedürftigen Person hilft oder jener. Dem Liebenden aber kann es nicht gleichgültig sein, ob er sich interessefrei diesem geliebten Wesen zuwendet oder – egal wie ähnliches es sein mag – einem anderen“.133 Was Frankfurt betonen will, ist, dass die Erfahrung der Liebe ihre wahre Gestalt in der vertraulichen Bindung zu jemandem gewinnt, dass die Liebe nicht 131 Ebd., S. 84. 132 Ebd., S. 47. 133 Ebd., S. 49.

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mit Wohltätigkeit zu verwechseln ist. Die Liebe ist immer an jene interessenfreie Sorge um das Leben des geliebten Wesens gebunden und kann sich nicht auf alle menschlichen Wesen beziehen, ohne dass man Schaden davon trägt. Da Frankfurt die Liebe so eng versteht, behauptet er, dass „[e]s keine Nötigungen der Logik oder der Rationalität [gibt], die uns vorschreiben, was wir lieben sollen. Was wir lieben, wird durch die allgemeinen Erfordernisse des menschlichen Lebens geformt, in Verbindung mit jenen Bedürfnissen und Interessen, die auf spezielle Weise von den Eigenschaften des individuellen Charakters und der individuellen Erfahrung herrühren. Ob etwas zum Objekt unserer Liebe werden soll, lässt sich nicht definitiv mit Hilfe einer apriorischen Methode oder einer Untersuchung der genau diesem Objekt innewohnenden Eigenschaften beurteilen. Es lässt sich nur im Lichte der Forderungen bemessen, die andere von uns geliebte Dinge an uns ergehen lassen“.134 Dazu kommt, dass eine grenzen- und bedingungslose Liebe zu allen Menschen der menschlichen Natur nicht entspricht, denn, so Frankfurt weiter, „[e]ndliche Kreaturen wie wir können natürlich nicht so sorglos in ihrer Liebe sein. Allmächtige Wesen sind frei von aller Passivität. Ihnen kann nichts passieren. Deswegen müssen sie sich nicht fürchten. Wir aber ziehen erhebliche Verletzbarkeiten auf uns, wenn wir lieben. Folglich müssen wir uns eine defensive Selektivität und Zurückhaltung bewahren. Es ist wichtig, dass wir darauf achten, wen oder was wir lieben“.135 Damit ist klar, welche Probleme die Forderung nach Nächstenliebe mit sich bringt. Kann man sie konsequent erfüllen, ohne dabei zu leiden? Kann sie überhaupt gestellt werden, ohne in Widersprüche zu geraten? Was Frankfurt hier thematisiert, ist sehr wichtig und stellt eine Herausforderung für die Ausübung der Nächstenliebe dar, wenn sie nicht bloße Utopie oder Ideal ist, sondern vielmehr ein wirkendes Tun, das jeder verwirklichen kann. Wir müssen zunächst klären, wie sich die Nächstenliebe zur Liebe in den besonderen Verhältnissen verhält, und wie das Wesen der grenzen- und bedingungslosen Liebe zu verstehen ist. Im Lauf der Rekonstruktion des Liebesbegriffes soll darüber hinaus deutlich gemacht werden, warum Kierkegaard die wahre Gestalt der Liebe in der Überwindung jenes von Frankfurt dargestellten Defensivmechanismus sieht. Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Der Weg zur Selbstliebe ist der Weg zum Nächsten und zum gelingenden Gutsein. Und 134 Ebd., S. 52 – 53. 135 Ebd., S. 69 – 70.

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dieser Weg ist als ein Weg der Anerkennung des Nächsten, als ein Weg zur Liebe zu den Menschen, die man sieht, bestimmt (LT, 170 – 192). Eine solche Liebe, die den Zugang zum Nächsten ermöglicht, kann nur gelingen, wenn sie für das Individuum seine Pflicht, seine Lebensaufgabe, wird. Wie in Entweder/Oder wird die Pflicht hier dialektisch verstanden. Sie steht nicht außerhalb des Individuums und in Konflikt mit ihm, sondern ist Ausdruck des Allgemeinen in seinem partikulären Leben. Sie ist die Möglichkeit der Verwirklichung der Freiheit. Wie ist die Forderung der Liebe zu verstehen? In erster Instanz bedeutet sie, wie hervorgehoben wurde, dass man den Nächsten lieben soll wie sich selbst, dass man sich selbst auf die rechte Weise lieben soll (27). Wenn ich den Nächsten liebe wie mich selbst, liebe ich mich selbst auf die rechte Weise. Liebe ich hingegen den Nächsten wie einen anderen, dann liebe ich mich selbst auf egoistische Weise. Die Forderung deutet an, dass die Liebe zum Nächsten als Pflicht verstanden den in der Selbstliebe enthaltenen Egoismus austreibt. Kierkegaard grenzt seinen Liebesbegriff von den anderen Arten von Liebe ab, die er mit dem Ausdruck Vorliebe – erotische Liebe und Freundschaft – kennzeichnet, und stellt die Nächstenliebe als diejenige dar, die allen anderen Formen zugrunde liegt und sie auf die richtige Weise, von Grund auf, aufrechterhalten kann. Die Nächstenliebe ist umfassender als die anderen Formen, da sie die Liebe zu allen menschlichen Wesen ist, um deren Leben man sich sorgt und denen gegenüber man eine Verantwortung übernimmt. Die Pflicht, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, bedeutet zuerst, das Selbstische zu transzendieren, das sowohl in der Selbstliebe als auch in der Vorliebe vorzufinden ist. Das Christentum, so Kierkegaard, spricht daher weder von der Liebe zu dem Geliebten oder zu dem Freund, noch davon, wie man jemanden auf besondere Weise, z. B. im Gegensatz zu der ganzen Welt, lieben soll, sondern von der Nächstenliebe und setzt den Akzent auf das ,wie dich selbst‘. Dieses ,wie dich selbst‘ warnt davor, dass die Liebe, welche in Bezug auf einen einzigen Gegenstand bestimmt ist, das Selbst stark auf sich selbst konzentriert und seinen Zugang zur Welt so sperrt, dass der Nächste unsichtbar wird und man sich der Verantwortung ihm gegenüber entzieht. Die Liebe, von der hier die Rede ist, ist wie gesagt kein Gefühl oder Streben, sondern eine Haltung zum anderen, in der man der Nächste des anderen wird. Die Liebe zum Nächsten geht mit einer sittlichen Aufgabe einher, welche darin besteht, den Nächsten zu sehen und der Nächste werden zu wollen, oder was dasselbe ist, den Nächsten, der jeder Mensch ist, anerkennen zu wollen. Die Allgemeinheit der Nächstenliebe befreit so von der

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Suche nach einem besonderen Gegenstand, von dem die Liebe abhängt, da alle Menschen der Nächste sind. Dazu schreibt Kierkegaard: Wer ist denn eines Menschen Nchster? Das Wort ist offenbar von dem Begriff ,am nächsten‘ abgeleitet, also ist der Nächste der, welcher dir näher ist als alle anderen, jedoch nicht im Sinne der Vorliebe; denn den zu lieben, der einem im Sinne der Vorliebe näher ist als alle anderen, das ist Selbstliebe – „tun nicht dasselbe auch die Heiden?“ Der Nächste ist dir also näher als alle anderen. Aber ist er dir auch näher als du dir selbst bist? Nein, das ist er nicht, aber er ist dir, oder er soll dir gerade ebenso nahe sein. Der Begriff „Nächster“ ist eigentlich die Verdoppelung deines eigenen Selbst; „der Nächste“ ist das, was die Denker das Andere nennen würden, das, woran das Selbstische in der Selbstliebe geprüft werden soll (25). [I]ndem du deine Pflicht anerkennst, entdeckst du leicht, wer dein Nächster ist […] Der, gegen den ich die Pflicht habe, ist mein Nächster, und wenn ich meine Pflicht erfülle, zeige ich, daß ich der Nächste bin. Christus redet nämlich nicht vom Kennen des Nächsten, sondern davon, daß man selbst der Nächste wird, daß man sich als der Nächste erweist (26).136

Dem Problem der Fremdexistenz wird dabei mit der Bestimmung des Nächsten eine einfache Lösung gegeben.137 Wird die Forderung nach Nächstenliebe genau verstanden, dann wird klar, dass es dabei nicht darum geht, zu bestimmen, wie der Nächste zu erkennen oder zu finden ist, sondern darum, die Pflicht anzuerkennen und der Nächste des anderen zu werden. In der Erfüllung der eigenen Pflicht wird einem die Existenz des anderen gewiss, weil man sich in der Erfüllung von ihm affizieren lässt und ihm gegenüber nicht mehr gleichgültig sein kann. Der Weg zu ihm ist gleichzeitig der Weg zu sich selbst, da man im Verhältnis zu ihm sein Nächster wird. Eine „defensive Selektivität und Zurückhaltung“ in der 136 Vgl. dazu P. Søltoft Den Nchsten kennen heißt der Nchste werden. ber Ethik, Intersubjektivitt und Gegenseitigkeit in Taten der Liebe in I. U. Dalferth (Hg.), a.a.O., S. 89 – 109. Die Forderung ist doppelt und gleichzeitig dieselbe: den Nächsten kennen und sich selbst kennen. In der Anerkennung des Nächsten als Nächsten erkenne ich mich selbst an, ich überwinde meine eigene „selbstische Verschlossenheit“. Dabei findet eine Verdoppelung statt, so Søltoft, so „daß die Liebe die Selbstsucht austreibt, indem sie das Verhältnis des einzelnen Menschen zu sich selbst durch das Verhältnis zum anderen als dem Nächsten bestimmt“ (91). Den Nächsten zu kennen heißt, ihn zu sehen, und der Akzent wird auf das Wie des Sehens gesetzt: Wie ich ihn sehe, sehe ich mich selbst. Das Selbstische als negative Form von Selbstliebe wird überwunden, indem eine positive Form übernommen wird, nach der man den Nächsten wie sich selbst lieben soll: „Der Nächste personifiziert die ethische Forderung, sich um den anderen Menschen zu sorgen – die intersubjektive Dimension –, die unlöslich mit der Forderung, sich um sich selbst zu sorgen, verbunden ist – die subjektive Dimension“ (92). 137 S. unten III. Teil.

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Liebe würde deshalb bedeuten, dass man den Nächsten bloß erkennt, ihn aber nicht anerkennt, dass man ihm gegenüber gleichgültig ist. Und die Gleichgültigkeit gegenüber einer bedürftigen Person oder einem Menschen, der mir fremd ist, hat als Konsequenz, dass man sich selbst gleichgültig ist, dass man sich seiner selbst nicht bewusst ist. Nun ist das Liebesgebot ein Korrektiv gegen diese Gefahr der Gleichgültigkeit, gegen die genannte Gefahr der Vergessenheit spürbar in allen Lebensverhältnissen der modernen Menschen. Damit ist nur teilweise der Sinn des Liebesgebots erklärt worden. Wir wissen nur, dass die Selbstliebe im Verhältnis zum Nächsten fortgesetzt wird, und dass ohne diese als Anerkennung der eigenen Pflicht verstandene Bewegung zum Nächsten kein positives Liebesverhältnis entstehen kann. Daraus ist ein Sollensbegriff entstanden, der die Sorge und die Verantwortung für das Leben der anderen und für das, was gut für sie ist, impliziert. Kierkegaard erinnert an den Unterschied zwischen dem Liebesbegriff des Heidentums und dem Liebesbegriff des Christentums, um die Problematik erneut auf den Punkt zu bringen: „Es ist nmlich die christliche Liebe, welche entdeckt und weiß, daß der Nchste da ist, und, was dasselbe ist, daß jeder es ist. Wofern es nicht Pflicht wre, zu lieben, so wre der Begriff ,Nchster‘ auch nicht da; aber nur wenn man den Nchsten liebt, nur dann ist das Selbstische der Vorliebe ausgerottet, und die Gleichheit des Ewigen bewahrt“ (51). Während das Heidentum die negative Form der Selbstliebe als Selbstsucht, als etwas Schlechtes, das der wahren Liebe schadet, versteht und die leidenschaftliche Hingebung, Treue und Achtung in der unmittelbaren Liebe und in der Freundschaft lobt, sieht das Christentum sowohl in der negativ bestimmten Selbstliebe als auch in der Vorliebe das Selbstische, welches ausgetrieben werden soll, damit die Liebe authentische Liebe wird. Denn die erotische Liebe und die Freundschaft können selektiv sein und durch die Hingebung an das andere Ich in Ausschließung des anderen bestimmt werden. Bei ihnen besteht die Gefahr, dass sich ein vereintes neues selbstisches Selbst, eine sich sammelnde Einheit, konstituiert, welche in der gegenseitigen Bewunderung die Selbstbefriedigung und Selbstbestätigung, also das Glück, findet. Es ist die negative Form der Gegenseitigkeit in den Intimbeziehungen, von der hier die Rede ist und welche die Beziehungen so stark von der Erwiderung abhängig macht, die in Frage gestellt wird. Eine solche auf der Gegenseitigkeit fundierte Liebe kann nicht auf Dauer gelingen, es fehlt ihr an Beständigkeit. Sobald die erwünschte Erwiderung nicht mehr da ist, wird die Liebe unsicher und ängstlich, und so kann sie sich in Hass, Eifersucht oder Gewohnheit verwandeln. Sie ist nur Liebe, wenn sie Liebe empfängt. Eine solche Liebe kann auch nicht frei lieben und ist, um an die Termi-

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nologie von Entweder/Oder anzuknüpfen, wesentlich verzweifelt: „Verzweiflung heißt, daß einem Menschen das Ewige fehlt; Verzweiflung heißt, daß er nicht die Veränderung der Ewigkeit erlitten hat durch das ,soll‘ der Pflicht. Verzweiflung ist also nicht der Verlust des Geliebten, das ist das Unglück, der Schmerz, das Leiden; sondern die Verzweiflung ist das Fehlen des Ewigen“ (47). Es fehlt die Entschlossenheit, sich zum Ursprung seiner selbst zu verhalten, um daran zu arbeiten, dass die Liebe Früchte trägt, um den anderen bedingungslos und uneigennützig offenbar zu werden (17). Die Gegenseitigkeit in der Beziehung ist natürlich wünschenswert und Kierkegaard betont selbst, dass die Antwort, die Äußerung der Liebe, etwas ist, das man dem anderen schuldet, wenn man ihn liebt. Die Gegenseitigkeit kann aber nicht das primäre Ziel der Beziehung sein, wenn die Beziehung auf die rechte Weise geführt werden soll. Kierkegaard ist der Meinung, dass die Nächstenliebe als ein Korrektiv gegen diese Möglichkeit der negativen Form von Gegenseitigkeit in der Beziehung fungiert. Die Nächstenliebe ist nicht die bloße „Leidenschaft der Vorliebe“, sie ist „die Liebe der Selbstverleugnung“, die sich über die Unterschiede zwischen Menschen erhebt und nicht von dem Verhältnis zu einem anderen als einem anderen Ich ausgeht, sondern zu einem anderen als dem ersten Du. Während in der Vorliebe zwei Ich in einem einzigen selbstischen Selbst koinzidieren, ist die Nächstenliebe ihrerseits die „Liebe zwischen zwei ewig jedes für sich als Geist bestimmten Wesen“ (64). Dabei haben das Sinnliche, der Instinkt oder die Zuneigung keinen Vorrang, sondern die geistige Bestimmung des Selbst. So gesehen „[ist] der Nächste das, was gleichermaßen jeder Mensch ist“ (68), d. h. die Nächstenliebe ist „die ewige Gleichheit im Lieben“ (66), indem das Fundament der Beziehung keine Vorliebe, keine Unterscheidung ist sondern die Selbstverleugnung, das Du sollst, das zum Handeln verpflichtet und durch das die Gleichheit jedes Menschen vor Gott in seinem Verhältnis zueinander zum Ausdruck kommt.138 Die Liebe der Selbstverleugnung ist die Einbeziehung aller in die Liebe. Und Selbstverleugnung bedeutet nüchtern werden:

138 „Gleichheit im religiösen Sinne bedeutete, daß wir alle Gottes Kinder sind und alle an der gleichen menschlich-göttlichen Substanz teilhaben, daß wir alle eins sind. Sie bedeutete aber auch, daß gerade die Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen respektiert werden sollten: Wir sind zwar alle eins, aber jeder von uns ist zugleich ein einzigartiges Wesen, ein Kosmos für sich“ (vgl. E. Fromm Die Kunst des Liebens, a.a.O., S. 24 – 25).

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Überall wo das Christliche ist, ist auch Selbstverleugnung, welche die wesentliche Form des Christentums ist. Um sich zum Christlichen zu verhalten, muß man zuallererst nüchtern werden; aber Selbstverleugnung ist eben die Verwandlung, durch die ein Mensch im Sinne der Ewigkeit nüchtern wird. Überall hingegen, wo das Christliche nicht ist, ist die Trunkenheit des Selbstgefühls das Höchste, und der Gipfel dieser Trunkenheit das Bewunderte (64).

Die Forderung der Liebe ist deshalb, sofort damit zu beginnen, den Nächsten zu lieben. Damit will man nicht sagen, dass man aufhören sollte, diejenigen zu lieben, zu denen man eine besondere Beziehung hat. Es handelt sich vielmehr darum, das außer Kraft zu setzen, was dem Selbstischen zugrunde liegt, und zu verhindern, dass das Selbstische sich in der Liebe versteckt und Unterschiede macht. Das Liebesgebot befiehlt auch nicht, den Nächsten im Gegensatz zu der Geliebten oder zum Freund zu lieben, denn es lehrt vielmehr die richtige Art und Weise zu lieben, nämlich, „bewahre in deiner Selbstliebe die Liebe zum Nächsten, bewahre in Minne und Freundschaft die Liebe zum Nächsten. […] Nein, liebe den Geliebten getreu und innig, aber laß die Liebe zum Nächsten in eurer Vereinigung Bund mit Gott das Heiligmachende sein; liebe deinen Freund aufrichtig und hingebend, aber laß die Liebe zum Nächsten das sein, was ihr voneinander lernt in der Freundschaft Vertraulichkeit mit Gott!“ (71). Die Liebe zum Nächsten hat in der Beziehung Vorrang und an ihr sollen sich die Intimbeziehungen orientieren. Der Vorrang des Nächsten bedeutet zum einen, dass der Freund oder der Geliebte in der Beziehung keine Ausnahme werden sollen, durch die man vergisst, dass sie der Nächste, Menschen, sind. Zum anderen geht der Vorrang des Nächsten mit der „Abschaffung von Verschiedenheiten“ einher, welche das Sehen des Nächsten verhindern. Die Nächstenliebe ist die Liebe, deren Gegenstand „ohne Unterschied ist“ (78). Das Wie der wahren Liebe ist mit dem Sehen „mit geschlossenem Auge oder durch Absehen von den Verschiedenheiten“ vergleichbar (ebd.). Sie unterscheidet sich von der Vorliebe dadurch, dass sie von keinem besonderen Gegenstand abhängt, der sie bestimmt. In der Vorliebe bestimmt die Vollkommenheit des Gegenstandes die Liebe, in der wahren Liebe hingegen die Liebe selbst, da alle Menschen der Nächste, die Gleichheit im Lieben, sind. Mit anderen Worten, in der Nächstenliebe fragt man nur nach der Liebe selbst, weil der Gegenstand allein an der Liebe und nicht an den Unterschieden zwischen Menschen kenntlich wird. In diesem Zusammenhang betont Kierkegaard, dass die Liebe in erster Linie die Eigentümlichkeit des Gegenstandes transzendieren soll, dass die Liebe zum Nächsten immer heißen soll, in der Liebe zu bleiben – ununterbro-

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chen tätig zu sein –, ohne dabei zu diskriminieren, ohne dem Geliebten Vorzüge zu geben, die aus ihm eine Ausnahme machen. Bleibt man in der Liebe, dann verhält man sich primär zu dem Geliebten als zu einem Menschen. Dies hängt mit der Idee zusammen, dass man sich nicht auf die Suche nach dem Gegenstand der Liebe machen muss, um zu lieben, sondern dass die Liebe etwas ist, das man mit sich bringt, etwas, das den Gegenstand liebenswert findet. Liebt man den Menschen, welcher in der Liebe sichtbar wird, so trennt man sich von Idealisierungen und Fanatismus, wirft man den Blick auf die Wirklichkeit, in der er ist, was er ist, liebt man das, was er ist und nicht die Vorstellung dessen, was man will, dass er sei (298 – 300). Dass die Nächstenliebe die Abschaffung von Verschiedenheiten voraussetzt, um die Gleichheit im Lieben zu gewährleisten, kann sehr problematisch sein, wenn darunter die Unterdrückung der Gefühle, die Negation der Differenz zwischen den Menschen oder die bloße Aufhebung der Verschiedenheit verstanden wird. Das Liebesgebot besagt Du sollst lieben, d. h. lass die Verschiedenheit nicht walten, damit Du frei von Diskriminierungen bedingungslos lieben kannst. Es ist jedoch nicht so, dass die Verschiedenheit – die Eigentümlichkeit und die Umstände, die das Leben des Menschen bestimmen, das, was aus diesem oder jenem Menschen einen konkreten und bestimmten macht – eliminiert werden soll, um lieben zu können. Vielmehr soll der Liebende sich über die Verschiedenheit erheben, um in Gleichheit mit den anderen zu stehen. Diese Gleichheit im Lieben unterscheidet sich von der weltlichen Gleichheit, welche für Kierkegaard die Gleichheit einer sozialen Nivellierung und einer auf der Verschiedenheit fußenden Mehrheit ist (LA, 90ff.). Die weltliche Gleichheit, die Gleichheit der Mehrheit, ist keine Gleichheit, da sie einer großen Diskrimination bedarf, um Gleichheit zu sein. Sie ist ein unendliches Projekt, denn sie strebt an, „die zeitlichen Lebensbedingungen für mehr und mehr Menschen gleich zu machen“ (LT, 82) und stellt sich eine Aufgabe, die in der Zeitlichkeit nicht zu erfüllen ist und sich eher als ein Phänomen verbreitet, welches „die vornehme Verderbtheit“ und die Verderbtheit der Masse, wie Kierkegaard sie nennt, rechtfertigt. Der moderne Mensch bleibt der Verschiedenheit verhaftet und kann sich nur scheinbar davon befreien, indem er sich einer großen Verschiedenheit anschließt. In der Moderne findet permanent ein Kampf der Verschiedenheiten statt, in dem zu entscheiden ist, zu welcher Gemeinschaft man gehören will oder zu welcher Gemeinschaft ein Individuum von Anfang an schon gehört, und wie die Gemeinschaft mit allen Menschen überhaupt zu

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denken ist.139 Kierkegaard stellt sich z. B. eine Situation vor, in der ein Aristokrat sich an dem Liebesgebot orientieren und der Verderbtheit der Verschiedenheit eines ausgewählten Kreises entgegensetzen will, oder die Situation, in der ein Mensch der sogenannten niedrigeren Klasse ebenfalls der Forderung der Liebe folgen und sich über „die Verderbtheit der Niedrigkeit“ erheben will. In beiden Fällen begeht, wer so handeln will, Verrat. Er wird in seinem eigenen Kreis als Verräter betrachtet und in den anderen Kreisen als jemand, der nicht zu ihnen gehört. Der Aristokrat, der alle im Absehen der Unterschiede lieben will, wird von unten, von der Verschiedenheit der Niedrigkeit, gehaßt, der Geringe von oben, von der Verschiedenheit der vornehmen Verderbtheit. Das bloße Leben in der Verschiedenheit innerhalb einer idealen Umgebung, in der mir alle gleich erscheinen, geht mit der Gefahr der Gleichgültigkeit gegenüber anderen Verschiedenheiten, also mit dem Verkennen und Ableugnen der Verwandtschaft mit allen Menschen, einher. Außerhalb meiner Umgebung sind mir die anderen unsichtbar, manchmal sogar peinlich, ich sehe z. B. die Arme oder die Leidende, aber nicht meine Nächsten. Sie alle zu lieben, die mir so verschieden sind, kann gesellschaftlich gesehen, wie die oben dargestellten Situationen gezeigt haben, Lachen oder Haß provozieren, denn die Existenz des Nächsten zu 139 Vgl. T. W. Adorno Kierkegaards Lehre von der Liebe, a.a.O., S. 217 – 236. Für Adorno liefert Kierkegaard „ein außerordentliches Zeugnis“ der destruktiven Tendenzen seiner Zeit, nämlich „[der] Ersetzung spontanen Denkens durch automatisierte Anpassung, wie sie im Zusammenhang mit den modernen Formen der Information sich vollzieht“ (229), der Entstehung von Beherrschungsmechanismen der neu geborenen Massengesellschaft, sowie der bloßen Ideologie, welche diesen Tendenzen zugrunde liegt: „Er [Kierkegaard] weiß sehr wohl, daß etwa die Lehre von der bürgerlichen Gleichheit bloße Ideologie ist, und daß Angehörige verschiedener Klassen, die sich im Namen des Christlichen zu einander verhalten, als wären sie nichts als Menschen, das meist nur tun, um durch den Trost metaphysischer Gleichheit die reale Ungleichheit um so unangefochtener zu erhalten. Bitteren Spott gießt er über den Begriff der Wohlfahrt aus […]“ (230). Den Zustand seiner Zeit hat Kierkegaard als Rausch dargestellt und ihm das Gebot der Nüchternheit gegenüber gestellt. Denn das „Glück des Rausches“, so Adorno, ist das Augenblickliche und die Nüchternheit „kehrt sich zugleich gegen den Zauber der Ideologie, gegen den Schein der Individualität, gegen die Verabsolutierung der bloßen Differenzbestimmungen und des falschen Glücks, das an ihnen haftet. Hinter dem Gebot der Nüchternheit steht das tiefe Wissen, daß am Ende die innermenschlichen Differenzen darum nicht entscheiden, weil in allen Zügen der Individuation und Spezifikation gerade das universale Unrecht sich durchsetzt, das diesen Menschen so und nicht anders macht, während er anders sein könnte“ (230 – 231).

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entdecken und ihn zu lieben, ist „ein undankbares Geschäft“ (88). Hierbei stellen sich die Fragen, zu denen ich am Ende dieses Teils zurückkommen möchte, und zwar ob und inwiefern die Nächstenliebe mit der Struktur von Gesellschaft vereinbar ist, und wie man sich in der Liebe zum Nächsten zu der Verschiedenheit verhalten soll? 140 Die Antwort darauf wird im folgenden Satz antizipiert: „Den Nächsten lieben heißt, wesentlich unbedingt gleichermaßen für jeden Menschen dazusein, während man in seiner irdischen Verschiedenheit verbleibt, die einem angewiesen ist“ (94). Die Verschiedenheit wird nicht negiert, im Gegenteil, sie soll bestehen. Das Verhältnis zwischen Menschen ist grundsätzlich ein Verhältnis zwischen Verschiedenen, und das soll nicht geändert werden (LA, 5 – 6). Die Verschiedenheit soll aber nicht das Bestimmende in dem Verhältnis zu sich selbst und zu einem anderen sein. Und sie soll auch nicht das sein, was einem den Vorzug gegenüber einem anderen gibt. Die Nächstenliebe fordert nicht, aufzuhören, man selbst zu sein oder auf sich selbst zu verzichten, sondern sie setzt den Akzent auf das uneigennützige Daseinwollen für jeden Menschen. So entspricht das biblische Liebesgebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ der Forderung „Du sollst für den Nächsten sein wie für dich selbst“ (EO2, 116). Die Nächstenliebe impliziert eine doppelte Anerkennungsbewegung. Zum einen soll der andere in seiner Verschiedenheit, in dem, was er als konkreter und bestimmter Mensch ist, anerkannt werden. Zum anderen wird gefordert, hinter der Verschiedenheit den Nächsten zu sehen, dem wir alle ähneln, für ihn da sein zu wollen. Kierkegaard vergleicht diese doppelte Bewegung der Anerkennung mit einem Schauspiel, in dem jeder Einzelne eine konkrete Rolle übernimmt, die ihn von den anderen unterscheidet. Betrachtet man das Schauspiel, sieht man nur die verschiedenen Darstellungen und man erkennt in jeder Darstellung eine konkrete Person mit diesen und jenen Eigenschaften an. Aber wenn das Schauspiel vorbei ist, gibt es etwas, das alle diese konkreten Personen gemeinsam haben, sie sind alle Schauspieler. Und dass sie Schauspieler sind, ist das wesentliche Merkmal, das hinter der Verkleidung liegt. „Und wenn im Tode der Vorhang gefallen ist vor der Bühne der Wirklichkeit […] so sind sie auch alle eines, sie sind Menschen, und sind alle das, was sie wesentlich waren, was du nicht sahst aufgrund der Verschiedenheit, die du sahst: sie sind Menschen“ (LT, 98). Die Anerkennung der Zugehörigkeit zum Allgemein-Menschlichen ist das, was der Ausdruck „sich ber die Verschiedenheit erheben“ meint. Der Ausdruck meint auch, dass die Anerkennung des anderen viel mehr ist als die bloße An140 S. unten II. Teil, Kap. 4.

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erkennung einer konkreten Person. Erkenne ich in einem Menschen nur die konkrete Person an, dann sehe ich ihn nicht wirklich, da ich nicht den Menschen, den Nächsten, in ihm sehe. Erkenne ich den Menschen in ihm an, ohne die konkrete Person zu sehen, die er auch in seiner Verschiedenheit ist, dann sehe ich ihn wieder nicht.141 Jemanden anzuerkennen bedeutet, ihn in seiner Verschiedenheit und in seiner wesentlichen Gleichheit mit den anderen Menschen zu sehen. Für Kierkegaard heißt dies: „Als König, Bettler, Gelehrter, Reicher, Armer, Mann, Weib usw. gleichen wir einander nicht, darin sind wir ja gerade verschieden; aber als Nächste gleichen wir unbedingt alle einander. Die Verschiedenheit ist die Wirrnis der Zeitlichkeit, die jeden Menschen unterschiedlich kennzeichnet, aber der Nächste ist das Kennzeichen der Ewigkeit – an jedem Menschen“ (100). Die Forderung nach Nächstenliebe wird in einem weiteren Schritt konkretisiert, indem die Liebe als Erfüllung des Gesetzes verstanden wird. Als Erfüllung ist sie ein permanentes Handeln und etwas, das keine Verzögerung duldet. Während die Gerechtigkeit begründet, um das Gesetz zu bestimmen,142 zeigt die Liebe eine Aufgabe und erfordert ihre Realisation. Dabei wird kein Wort darüber verloren, was die Liebe sein könnte oder wie sie aussehen sollte, da sie die ununterbrochene Erfüllung des Gesetzes ist. Wie ist hier das Verhältnis zwischen Gesetz und Liebe zu verstehen? Kierkegaard erklärt dies am Verhältnis zwischen Entwurf und Arbeit bei der Realisation eines Kunstwerkes. Der Künstler, der vor einer Aufgabe steht, muss zunächst eine Vorstellung von dem gewinnen, was er verwirklichen will. Er beginnt mit einem Entwurf, mit etwas Unbestimmtem. Je mehr er seinen Entwurf weiter entwickelt, desto weniger unbestimmt wird er. Als Entwurf bleibt er aber immer noch unbestimmt. Erst in der Arbeit beginnt der Entwurf etwas Bestimmtes zu werden. Wenn die Arbeit fertig gestellt worden ist, ist der Entwurf das Bestimmte, er ist das Kunstwerk. Die Arbeit ist somit die Erfüllung des Entwurfes. Zwischen Entwurf und Arbeit besteht kein Konflikt, weil die Arbeit die konsequente Erfüllung des Entwurfes ist. Und beide beziehen sich auf den selben Ursprung – 141 In Entweder/Oder 2 heißt es, so haben wir es gesehen, die Persönlichkeit muss das Absolute – die Einheit des Allgemeinen und Einzelnen – sein, damit in ihr die Übereinstimmung des Erfüllens meiner Pflicht mit dem Erfüllen der Pflicht zustande kommt. 142 Vgl. dazu P. Ricœur Liebe und Gerechtigkeit, Tübingen 1990, S. 37ff; ders. Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt am Main 2006, S. 276ff. Vgl. auch dazu K. E. Løgstrup Auseinandersetzung mit Kierkegaard, a.a.O., S. 59ff.

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den Künstler. Mit dem Verhältnis zwischen Gesetz und Liebe verhält es sich ähnlich. Das Gesetz ist das Unbestimmte, ein Entwurf permanenter Aktualisierung. Dass das Gesetz in den Lebensverhältnissen der modernen Zeit permanent zu aktualisieren ist, unterscheidet es vom Entwurf eines Kunstwerkes. Erst in dessen Erfüllung ist das Gesetz das Bestimmte. Für Kierkegaard besteht auch zwischen Gesetz und Liebe grundsätzlich kein Konflikt, wenn man sich klar macht, dass jenes fordert, während diese gibt (118). Was sie gibt entspricht dem, was gefordert wird. In der Liebe findet die Übereinstimmung der Forderung mit der Erfüllung statt.143 Ein Gesetz jedoch, das man erfüllen kann, wie es der Künstler mit dem in ein Kunstwerk transformierten Entwurf tut, kann nicht jenes Gesetz sein, das innerhalb einer normativen Ordnung stets zu bestimmen ist. Was wird unter Gesetz verstanden? Das Gesetz, von dem hier gesprochen wird, ist das Gesetz Gottes, nach dem ein Liebesverhältnis zunächst ein Gottesverhältnis ist: Die weltliche Weisheit meint, Liebe sei ein Verhltnis zwischen Mensch und Mensch; das Christentum lehrt, Liebe sei ein Verhltnis zwischen Mensch-Gott-Mensch, das heißt Gott sei die Zwischenbestimmung (119).

Wenn Gott die Zwischenbestimmung im Liebesverhältnis ist, dann hört der Gegenstand der Liebe auf, das zu sein, was bestimmt, ob die Liebe in einem Liebesverhältnis anwesend ist oder nicht. Mit anderen Worten, wenn die Liebe sich auf das Verhältnis zwischen Menschen reduziert, hängt sie von der Willkür der Partner in der Beziehung oder von dem menschlichen Urteil darüber ab, was Liebe sein sollte. Die Erfüllung eines Gesetzes, das von einer solchen Willkür abhängt, würde nicht wirklich stattfinden, da die Liebespartner in den Teufelskreis der Deliberation geraten würden. Sie würden sich zueinander im Verhältnis verhalten, ohne sich zum Verhältnis gleichzeitig zu verhalten, zur Zwischenbestimmung, die das Verhältnis konstituiert und hält. Die Vorstellung dessen, was es heißt, auf die rechte Weise zu lieben oder geliebt zu werden, wird deshalb von Kierkegaard durch die Forderung bestimmt, sich zuerst zu Gott im Verhältnis zu einem anderen zu verhalten, das Liebesverhältnis zuerst auf Gott zu beziehen. Dazu schreibt Kierkegaard: Denn Gott lieben, das heißt in Wahrheit sich selbst lieben; einem andern Menschen zur Gottesliebe helfen, das heißt einen andern Menschen lieben; mit eines andern Menschen Hilfe zur Gottesliebe gebracht werden, das heißt geliebt werden (ebd.).

143 S. FN, 136.

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Liebe ist eine Leidenschaft des Gefühls, aber in diesem Gefühl soll der Mensch sich doch zuerst, sogar bevor er sich zum Gegenstand der Liebe verhält, zu Gott verhalten und dadurch die Forderung lernen, daß Liebe des Gesetzes Erfüllung ist. Liebe ist ein Verhältnis zu einem andern Menschen oder zu andern Menschen, aber sie ist keineswegs und darf keineswegs sein eine eheliche, eine freundschaftliche, eine bloß menschliche Übereinkunft, ein wenn auch noch so treuer und zärtlicher Zusammenhalt zwischen Mensch und Mensch (125).

In den Verhältnissen der modernen Zeit hat der Mensch sich jedoch diesem Gottesverhältnis und damit der Forderung einer Erfüllung des Gesetzes entzogen.144 Der moderne Mensch glaubt, das Gottesverhältnis sei vielleicht nur da nötig, wo es um Nächstenliebe geht, es habe aber nicht mit den Intimbeziehungen oder mit den sozialen Beziehungen zu tun. Aber kann Gott von dem Verhältnis zwischen den Menschen entbunden werden und wenn ja, was soll an seine Stelle gesetzt werden? Kann es sich der moderne Mensch, der das Prinzip des Handelns in das Unbestimmte verwandelt hat, leisten, ins Relativieren zu geraten? So fragt Kierkegaard und zwar in Form einer Kritik an der blühenden demokratischen Bewegung seiner Zeit. Für den modernen Menschen, so die Kritik, ist das Gottesverhältnis eine Leibeigenschaft geworden, welche die Verwirklichung der Freiheit verhindert. „Doch man findet, diese Leibeigenschaft sei eine lästige Bürde, und ist deshalb mehr oder weniger offen darauf bedacht, Gott abzusetzen, um den Menschen einzusetzen – in die Rechte des Menschen? nein, das ist nicht nötig, das hat Gott bereits getan – also in die Rechte Gottes, der Platz bleibt ja auch leer, wenn Gott den Abschied bekommt“ (128). Und ist Gott nicht mehr da, dann müssen die Menschen selbst bestimmen, was gefordert, was unter dem Gesetz verstanden werden sollte. Wer hat aber die Macht zu entscheiden, welche Menschen das Gesetz bestimmen können? Ist ein Konsens zwischen allen Menschen wirklich möglich, „ist vielleicht die Einigkeit einer Menge Menschen, eine bestimmte Anzahl Stimmen ausreichend für die Entscheidung“, die alle zur Erfüllung des Gesetzes gleichermaßen verpflichtet? (128 – 129). Wie ist das Willkürliche vermeidbar und was motiviert den Einzelnen mit dem Handeln zu beginnen? Kierkegaards Intention ist, zu zeigen, dass der moderne, von der Vollendung eines unendlichen Entwurfs abhängige Mensch eigentlich nicht frei sein kann. Er muss immer wieder und wieder damit anfangen, zu begründen, wie er zu handeln und wo er zu beginnen hat: 144 So auch M. Scheler Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, hg. von Manfred S. Frings, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2004, S. 62ff.

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Einige begönnen dann mit dem Beginn, stürben aber, ehe man halb angekommen wäre, andere fingen mittwegs an, stürben aber doch, ohne das Ende zu sehen, das eigentlich von niemandem gesehen würde, denn es käme erst, da das Ganze vorbei wäre, die Weltgeschichte beendet, dann erst erführe man ganz vollständig, was die Forderung des Gesetzes sei. Nur schade, daß menschliches Leben jetzt nicht beginnen sollte, sondern daß es nunmehr gerade vorbei, und von allen Menschen geführt wäre ohne vollständige Kenntnisse dessen, was die Forderung des Gesetzes ist (129).

Kierkegaard sieht in der abstrakten Macht der Mehrheit die Gefahr, sich Mechanismen zu unterwerfen, welche im Namen des Gesetzes die „Gesellung in Selbstliebe“ fördern und das Unrichtige als das Richtige erscheinen lassen würden: „[…] ist das Sittliche derart dem Zufall unterworfen, daß, wenn eine große Menge das Unrichtige tut oder wir alle es tun, dieses Unrichtige dann das Richtige ist?“ (130).145 Wird das Sittliche prinzipiell dagegen als Sichverhalten zu Gott bestimmt, dann ist zu erwarten, dass wir alle, „jeder für sich, der einen und gleichen Weisung unbedingt gehorchen“ (131). Beginnt man mit dem Gottesverhältnis statt mit den anderen, wird die Forderung des Gesetzes als die einzige Weisung unmittelbar erkennbar: sofort damit zu beginnen, den Nächsten zu lieben, für ihn dazusein und ihm zu helfen, frei zu werden, ohne dabei irgendeine Gegenleistung zu erwarten. Die Formulierung der Forderung als Erfüllung des Gesetzes erweitert den Horizont der Anerkennung, indem das Sichverhalten zu Gott über die Gegenseitigkeit im Liebesverhältnis hinausgeht. Oder das Liebesverhältnis hängt nicht mehr von der Gegenseitigkeit ab: „Die bloß menschliche Auffassung der Liebe kann niemals weiter kommen als bis zu dem Gegenseitigen: daß der Liebende der Geliebte ist und der Geliebte der Liebende. Das Christentum lehrt, eine solche Liebe habe noch nicht ihren rechten Gegenstand gefunden: nämlich Gott. Zu einem Liebesverhältnis gehört das Dreifache: der Liebende, der Geliebte, die Liebe; aber die Liebe ist Gott“ (134). Die Forderung verpflichtet, im Gottesverhältnis zu stehen und wer sich zu Gott verhält, verhält sich gleichzeitig zum Nächsten, weil Gott die Zwischenbestimmung ist, welche das Verhältnis zwischen den Menschen trägt. Da Gott und Liebe ein und dasselbe sind, kann die Forderung der Liebe auf folgende Weise interpretiert werden: Im Liebesverhältnis soll man sich zuerst und zunächst zur Liebe verhalten. Die Liebe soll das sein, was einem zum anderen führt und miteinander verbindet, auf 145 So auch T. W. Adorno Probleme der Moralphilosophie in ders., a.a.O., S. 240. Vgl. auch K. E. Løgstrup Die Ethische Forderung, Tübingen 1989, S. 114.

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eine Weise aber, dass das Aufhören des Verhältnisses nicht möglich ist, weil die Liebe, die Zwischenbestimmung, bleibt. Die weltliche Auffassung der Liebe verbindet die Liebe mit einem Gewinn, auf den schwer zu verzichten ist, da das eigene Glück und die Stabilität im Leben von ihm abhängt. Sie kann sich trotzdem immer vorstellen, dass das Liebesverhältnis sich ändern und aufhören kann, dass der Geliebte Lebewohl sagen und die Beziehung zerbrechen kann. Es gibt immer Gründe und Ausreden für den Bruch der Beziehung: Untreue, Gewohnheit, Eifersucht usw. (34 – 50). Die Hingebung, Aufopferung, Treue und Achtung sind aufgrund der Möglichkeit solcher Änderungen in der Liebe gefährdet und daher beschränkt. Die Forderung der Liebe, welche über das Gegenseitige hinausgeht und direkt den Einzelnen betrifft, hat ihrerseits einen doppelten Charakter, sie ist nämlich „teils eine Forderung an die Innerlichkeit, und teils eine Forderung an die Bestndigkeit“ (145). Innerlichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang durch das Gottesverhältnis bestimmt zu werden, durch Selbstverleugnung für die anderen unbedingt dazusein. Als Forderung an die Innerlichkeit ist die Liebe die freie und uneigennützige Einbeziehung des anderen in die eigene Selbsttätigkeit.146 Die Gegenseitigkeit im Sinne eines Tausches oder einer Gegenleistung wird in der Liebe nicht gefordert, sie ist sogar ein Zeichen, dass die Liebe nicht aufrichtig ist. Auch Verständnis zu verlangen oder zu erwarten für die in der Liebe zu jemandem zustandekommende Aufopferung gehört nicht zur Liebe. Eine Aufopferung, die verstanden und als große Tat anerkannt werden will, kann nicht absolut uneigennützig sein, „die Aufopferung sieht, daß sie gesehen wird“ (146). Die weltliche Auffassung der Liebe ist zwar auch eine Forderung an die Innerlichkeit, welche jedoch durch den Gegenstand der Liebe, also durch das, was für den Geliebten lieben heißt, bestimmt ist. Sie ist auch eine Innerlichkeit der Selbstverleugnung, welche aber auf der Unbeständigkeit fußt. Damit kommt der zweite Aspekt der Forderung ins Spiel, nämlich, dass sie eine Forderung an die Beständigkeit ist. Was hier gefordert wird, ist „die gleiche Innerlichkeit in der Länge der Zeit“ (147), d. h. in der Liebe zu bleiben, ununterbrochen tätig zu sein, selbst wenn das Liebesverhältnis seitens des Geliebten aufgehört oder sich geändert hat. Dieser Aspekt der Forderung wird in der Rede IX der zweiten Folge der Taten der Liebe, die den Titel trägt Der Liebe Tun, eines Verstorbenen zu gedenken, welches ein Tun der uneigenntzigsten, der freiesten und der treuesten Liebe ist (382 – 392), näher betrachtet. Will man, so heißt es dort, die eigene Liebe auf die Probe stellen 146 Vgl. E. Harbsmeier Der Begriff Innerlichkeit bei Søren Kierkegaard in Kierkegaardiana 20, S. 32 – 36.

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und so feststellen, ob man jemanden wahrhaft – d. h. uneigennützig, frei und treu – liebt, soll man die eigene Liebe mit dem Verhalten zu einem Verstorbenen vergleichen. Wer einen Verstorbenen liebt und in der Liebe zu ihm bleibt, liebt auf eine uneigennützige Weise. Das Verhältnis zu ihm fußt nicht auf einem Vorteil oder einem Anspruch nach Gegenliebe, d. h. die Liebe zu ihm wird nicht durch seine Antwort, sondern allein durch die Liebe bestimmt. Er ist verstorben und als Verstorbener ist er die absolute Gleichgültigkeit. Es gibt nichts, von dem man profitieren kann, wenn man ihn weiter liebt. Es gibt keine Liebe, die man mit einer anderen vergleichen kann. Ist die Liebe zu einem Menschen, welchen man sieht, wie die Liebe zu einem Verstorbenen, liegt die Liebe in einem selbst. Wer andererseits einen Verstorbenen liebt und in der Liebe zu ihm bleibt, liebt auf eine freie Weise. Es gibt nichts, das einen dazu zwingt, wie Kierkegaard ironisch betont: „Was einem Menschen das Tun der Liebe abnötigen kann, kann das sehr Unterschiedliche sein und läßt sich demnach nicht aufrechnen. Das Kind schreit, der Arme fleht, die Witwe bestürmt, die Rücksicht nötigt, das Elend zwingt und so denn weiter. Aber alle Liebe in einem Tun, welches dergestalt abgenötigt wird, ist nicht ganz frei“ (385). Liebt man einen Menschen wie einen Verstorbenen, ohne dass der Gegenstand die Liebe abhängig macht, ist die Liebe souverän, ein Tun des freien Willens. Wer schließlich einen Verstorbenen, der unveränderlich ist, liebt und in der Liebe zu ihm bleibt, liebt auf eine treue Weise. Man kann nicht sagen, dass der Grund für das Aufhören des Verhältnisses an ihm liegt, denn es liegt nur an mir, ob ich mich ändere und ihn nicht mehr liebe. „Wenn zwei Liebende in Liebe zusammenhalten, so hält der eine den anderen fest, und der Zusammenhalt hält sie beide fest. Aber mit dem Verstorbenen ist kein Zusammenhalt möglich. […] Aber was ist Treue? Ist es Treue, daß ein anderer mich festhält?“ (389 – 390). Liebt man einen Menschen in Absehen von solchem Zusammenhalt, liebt man ihn in seinem So-Sein, die Liebe ist treu. Kann ein Mensch aber auf solche uneigennützige, freie und treue Weise je lieben? Wird die Forderung der Liebe nicht so stark radikalisiert, dass die Aspekte der Innerlichkeit und der Beständigkeit für den Menschen unmöglich zu erfüllen sind? Entfernt Kierkegaard sich nicht von dem von ihm dargestellten Sinn der Forderung, „wesentlich unbedingt gleichermaßen für jeden Menschen dazusein, während man in seiner irdischen Verschiedenheit verbleibt, die einem angewiesen ist“ (94)? Die Erfüllung des Gesetzes hat wie bereits angedeutet die spezielle Bedeutung, sich von der Bestimmung des Gesetzes unabhängig zu machen, um die Pflicht, „gut“ und „recht“ zu handeln, unbedingt zu erfüllen. Wie Luther geht Kierkegaard davon aus, dass der Christ kein Gesetz oder Recht

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und keine äußerliche Instanz zum Gehorchen braucht. So schreibt Luther in seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit: „Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben, sondern den Ungerechten“ [I Tim 1,9] Warum das? Darum, weil der Gerechte von selbst alles und noch mehr tut, als alle Rechtssatzungen fordern. Die Ungerechten dagegen tun nichts, was recht ist; darum brauchen sie das Recht, das sie lehrt, zwingt und drängt, gut zu handeln.147 Ferner: Ebenso gehört es durch den Geist und Glauben durchaus zur Natur aller Christen, dass sie gut und recht handeln, mehr, als man sie mit allen Gesetzen lehren kann; sie bedürfen für sich selber keines Gesetzes oder Rechtes.148

Dass der Christ jedoch kein Gesetz oder Recht braucht, bedeutet nicht, dass er sich zum Gesetz und Recht nicht verhalten muss. Luther unterscheidet zwischen dem Reich Christi und dem Reich der Welt und sieht die Aufgabe des Christen in seiner positiven Teilnahme an den Lebensverhältnissen des Reichs der Welt, in dem nicht alle Christen sind. Der Christ orientiert sich an einem Liebesgebot, nach dem alle Menschen Gegenstand der Liebe sind, und er tut alles um ihres Wohls willen. Seine Sorge um die Existenz des anderen und seine Arbeit für das Gute sind ein Beitrag zum Wohl und zum Aufrechterhalten des Ganzen. „Und das tut er, obwohl er für sich selber nichts davon braucht und nötig hat; denn er sieht darauf, was andern nützlich und gut ist, wie Paulus Eph 5,21 lehrt. Es ist auch wie bei allen Werken der Liebe: der Christ tut sie, obwohl er doch ihrer keineswegs bedarf […] er [dient] auch der Obrigkeit nicht, weil er selbst sie brauchen würde, sondern weil die anderen sie brauchen, damit sie beschützt und die Bösen nicht ärger werden“.149 Die Rechtfertigung der weltlichen Obrigkeit fußt auf der Tatsache, dass eine vom Evangelium regierte Welt unter der Voraussetzung, alle seien Christen, unvorstellbar ist. Bei Luther gibt es daher eine notwendige Komplementarität zwischen beiden Regimenten, so dass die Forderung der Liebe und die sozialen Normen die positive Entfaltung des Lebens in der Gemeinschaft fördern. Bei Kierkegaard scheint es sich anders zu verhalten. Er geht über die lutherische Auffassung der Nächstenliebe hinaus und radikalisiert die Forderung in dem Sinne, dass deren Erfüllung nicht nur mit der normativen Ordnung in Konflikt geraten, sondern auch Leiden implizieren kann. Beide Aspekte der Forderung, die Innerlichkeit und die Beständigkeit, 147 Vgl. M. Luther Von weltlicher Obrigkeit. Wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523) in ders. Von weltlicher Obrigkeit. Schriften zur Bewhrung des Christen in der Welt, Stuttgart 1978, S. 19. 148 Ebd. 149 Ebd., S. 24.

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II. Liebe und Anerkennung

werden von Kierkegaard mit der Idee in Verbindung gebracht, dass Liebe und Leiden untrennbar sind, dass ich als Lohn für meine Liebe zu einem von anderen gehasst, verspottet, ausgelacht, angezeigt werden kann, dass das, was christlich gesehen Aufopferung ist, für die weltliche Auffassung der Liebe Wahnsinn ist. Wie oben gezeigt, ist die Erfüllung des Gesetzes ein Ärgernis und geht einher mit einer doppelten Gefahr. Denn indem man sich über die Verschiedenheit erhebt, um zu lieben, scheint es so, dass man mit den Menschen nichts mehr gemeinsam hat, man befindet sich zwischen zwei Fronten, zwischen jenen, die lachen und jenen, die angreifen. Warum sollte man sich dann dazu verpflichtet fühlen, den Nächsten zu lieben um den Preis eines möglichen Leidens? Sollte man nicht gegen die Forderung im Namen der „defensive[n] Selektivität und Zurückhaltung“ protestieren, um Verletzbarkeiten zu verhindern? Nach meiner Interpretation verkennt Kierkegaard nicht die Komplementarität zwischen beiden Regimenten, obwohl er seinen Liebesbegriff im Lichte des Streits zwischen zwei weit voneinander getrennten Positionen – der menschlichen und der christlichen Liebesauffassung – konstruiert und zu verstehen gibt, dass eine Versöhnung zwischen beiden schwer zu denken wäre. Er reduziert die Forderung der Liebe weder auf Leiden, noch lässt er die wahre Liebe von ihm abhängen. Wenn die Liebe das gelingende Gutsein ermöglicht, muss sie einen Weg finden, den anderen zu lieben und für ihn da zu sein, ohne Leiden hervorzurufen. Diesen Weg müssen wir im Laufe der Rekonstruktion des Liebesbegriffs noch weiter verfolgen.150 Die Liebe ist nur dann die Erfüllung des Gesetzes, wenn sie auch Sache des Gewissens ist, wenn sie ein Sichverhalten zu sich selbst und zum anderen vor Gott ist. Sie ist keine Form der Liebe, die mit den anderen Formen konkurrieren will, sondern sie liegt diesen zugrunde. Durch die Liebe finde eine Transformation im Inneren des Menschen statt, welche jedes Verhältnis zwischen Mensch und Mensch qualitativ prägt. „Das Christentum will niemals Veränderungen im Äußeren bewirken, es will weder Trieb noch Neigung abschaffen, es will nur die Veränderung der Unendlichkeit im Inneren wirken“ (154), d. h. es will aus jedem Verhältnis ein Gewissensverhltnis machen, ein Handeln, das sich primär auf Gott bezieht und sein Fundament in ihm findet. Ausgangspunkt der Liebe soll deshalb, wie schon gesehen, nicht das geliebte Wesen, sondern Gott oder der Nächste sein, da jedes von diesen Verhältnissen zueinander führt – Gott zur Nächstenliebe, der Nächste zur Gottesliebe. Die „Grund-Gleichheit“ in der Liebe, die Gleichheit jedes Menschen vor Gott, bedeutet nicht, dass 150 S. II. Teil, Kap. 4 und III. Teil, Kap. 1.

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es kein besonderes Verhältnis zu anderen geben kann, dass man nicht auf besondere Weise lieben kann, wie Kierkegaard bemerkt: „Die Ehefrau soll dir zuallererst der Nächste sein, daß sie dir deine Ehefrau ist, ist dann eine nähere Bestimmung eures besonderen Verhältnisses zueinander. Aber was hier das ewig Zugrundeliegende ist, das muß auch in jeder Äußerung des Besonderen zugrunde liegen“ (156). Den Geliebten als Geliebten zu lieben soll nicht dazu führen, zu vergessen, dass er nach der Grund-Gleichheit wesentlich der Nächste ist, so wurde argumentiert. Das Besondere, um dessentwillen man den Geliebten liebt, soll auch nicht das Außerordentliche werden an ihm: „Denn freilich liebt man die Ehefrau anders als den Freund, und den Freund anders als den Nächsten, aber das ist keine wesentliche Verschiedenheit, denn die Grund-Gleichheit liegt in der Bestimmung ,der Nächste‘. Mit dem Nächsten verhält es sich ebenso wie mit der Bestimmung ,Mensch‘. Jeder von uns ist Mensch und ist dann wieder das Unterschiedliche, das er im besonderen ist; aber das Menschsein ist die Grundbestimmung“ (156 – 157).151 Wird das geliebte Wesen eine Ausnahme und hört so auf, für den Liebenden der Nächste zu sein, dann hören die anderen auch auf, der Nächste zu sein, da ja alle der Nächste sind. Um des Gewissens willen nur den Geliebten oder den Freund zu lieben ist keine Liebe um des Gewissens willen, da sie die Einbeziehung von allen ist. Das ist auch, was Erich Fromm meint, wenn er die „reife Liebe“ als eine „aktive Kraft im Menschen“ beschreibt,152 die den Menschen in dem geliebten Wesen und in sich selbst entdeckt. „Wenn ich zu einem anderen sagen kann: ,Ich liebe dich‘, muß ich auch sagen können: ,Ich liebe in dir auch alle anderen, ich liebe durch dich die ganze Welt, ich liebe in dir auch mich selbst.‘“.153 Es ist wichtig zu betonen, dass die Liebe als Sache des Gewissens aufhört, „Sache des Triebes und der Neigung, oder Sache des Gefhls, oder Sache verstndiger Berechnung“ zu sein (159). Sie wird eine Haltung zum anderen und sie unterscheidet sich von den Formen der Vorliebe dadurch, dass sie keine Anerkennung im Äußeren verlangt. Die Forderung nach Nächstenliebe wird konsequenterweise durch die Formulierung konkretisiert, dass es unsere Pflicht sei, die Menschen zu lieben, welche wir sehen. Dieser Aspekt des Sehens ist meiner Meinung nach das wichtigste Moment in der Bestimmung dessen, was die Liebe fordert. Denn in Bezug auf diese Stelle kann behauptet werden, dass es bei 151 Hier argumentiert Kierkegaard in der selben Richtung wie im Begriff Angst, nämlich, dass der Mensch er selbst und das Geschlecht gleichzeitig ist (BA, 25). 152 Vgl. E. Fromm Die Kunst des Liebens, a.a.O., S. 31. 153 Ebd., S. 58.

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Kierkegaard um eine Ethik des Sehens 154 geht. Diese Ethik setzt die Nächstenliebe voraus und verlangt nach Sichtbarkeit. Die Ethik muss konkretisiert werden und ihre Konkretion findet im Sehen der Menschen statt, die man liebt. Damit meint Kierkegaard, dass es ohne das Sehen des anderen kein sittliches Verhalten geben kann. Wie ist dieses Sehen zu verstehen? Nach dieser Ethik wird die Pflicht zu lieben nicht in dem radikal dargestellten Sinn von Nächstenliebe interpretiert – alle Menschen zu lieben –, sondern „die Rede ist von der Pflicht, in der Welt der Wirklichkeit diejenigen zu finden, die wir in Sonderheit lieben können, und in der Liebe zu ihnen die Menschen zu lieben, welche wir sehen. Wenn das nmlich Pflicht ist, so ist die Aufgabe nicht: das Finden – des liebenswerten Gegenstandes; sondern die Aufgabe ist: den nun einmal gegebenen oder gewhlten Gegenstand – liebenswert zu finden, und dabei beharren zu kçnnen, ihn liebenswert zu finden, wie er sich auch verndere“ (176). Dabei sollen zwei verschiedene Bereiche des Handelns erkannt und ausdifferenziert werden. Der erste handelt von der Pflicht, den Nächsten zu lieben, und von der Priorität des Nächsten in den Liebesverhältnissen. Dies ist die Voraussetzung der Ethik des Sehens. Der zweite handelt seinerseits von der Pflicht zu lieben in Bezug auf den Gegenstand, d. h. davon, wie der Geliebte geliebt werden soll. Es geht darum, in der Liebe zu den Menschen, welche wir sehen, Vorstellungen aufzugeben, die lehren, die Suche sei der Vollkommenheit und den Vorzügen gewidmet, denn eine Liebe, welche darauf fußt, ist die Liebe des Unsichtbaren, dessen, von dem man will, dass es Gegenstand der Liebe sei. Kierkegaard spricht von der Distinktion zwischen Liebe mit offenen Augen und Liebe mit geschlossenen Augen, um die Bewegung der Liebe zu ihrem Gegenstand zu erklären. Im ersten Fall handelt es sich um die Suche, die stets eine vergebliche Suche ist, da sie den Gegenstand für unvollkommen hält. Mit offenen Augen, so die Argumentation, sieht man hauptsächlich die Fehler und die Unvollkommenheit des Gegenstandes. Eine solche Suche entspricht der Liebe des Unsichtbaren. Im zweiten Fall, der Liebe mit geschlossenen Augen, ist die Liebe keine Forderung an den Gegenstand. Da sie die Unvollkommenheit nicht sieht, findet sie ihren Gegenstand liebenswert (311). Den einzelnen wirklichen Menschen, welchen wir sehen, zu lieben, bedeutet, ihn in seinem So-Sein zu lieben. Oder die Wirklichkeit, in der jeder ist, was er ist, muss erreicht werden, um die Menschen zu lieben, 154 Vgl. A. Grøn Ethics of Vision in I.U. Dalferth (Hg.) Ethik der Liebe. Studien zu Kierkegaards „Taten der Liebe“, (Religion in Philosophy and Theology 4), Tübingen 2002, S. 111 – 122.

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welche wir sehen. Die Liebe mit geschlossenen Augen ist die Liebe des Sichtbaren. In diesem Punkt stimmen Frankfurt und Scheler mit Kierkegaard überein. Es ist nicht so, behaupten Frankfurt und Scheler, dass die Liebe auf Grund eines wahrgenommenen Wertes beim anderen zustande kommt, sondern sie macht ihr Objekt liebenswert. Die Liebe sieht das Positive in den anderen. „Der Liebende nimmt das geliebte Wesen ausnahmslos und notwendig als wertvoll wahr, aber der Wert, der ihm in seinen Augen zukommt, ist ein Wert, der aus seiner Liebe fließt und von ihr abhängt“.155 „Das Wachstum des Wertes liegt also ursprünglich immer auf Seiten des Liebenden, nicht auf Seiten dessen, dem geholfen wird“.156 Der Wert, so Frankfurt und Scheler weiter, ist nicht die Basis der Liebe, sondern ihre Konsequenz und das heißt, die Liebe „besteht nicht im Helfenwollen oder auch nur im ,Wohlwollen‘. Sie bleibt wie versunken in den positiven Wert; und Wohlwollen und Helfen sind nur ihre Folgen“.157 Natürlich kann der Gegenstand liebenswerte Vollkommenheiten haben, die uns gefallen, und die wir auf besondere Weise schätzen, Vollkommenheiten, die wir uns in einer Beziehung wünschen (181). Die Sache ist nur, dass unsere Liebe nicht von der Existenz solcher liebenswerten Vollkommenheiten bestimmt werden soll. Wenn das Sehen des geliebten Wesens stark auf diese Vollkommenheiten gerichtet ist, läuft man Gefahr, das geliebte Wesen zu übersehen, weil man die Vollkommenheiten liebt und nicht den Menschen, den man sieht. Sehen heißt somit immer Decken (309 – 330). Zwar kann man die Defekte des geliebten Wesens sehen. Indem man sie aber nicht entdeckt, deckt man sie. Das Decken ist immer die Liebe zu dem Menschen, der in der Liebe sichtbar wird. Sehen als Decken ist eine wesentliche Bedingung für die Sorge um die Existenz des anderen und um das, was gut für ihn ist. Kierkegaard erklärt dies anhand des Verhaltens Christus gegenüber Petrus: „Christi Liebe zu Petrus [war] grenzenlos, in der Liebe zu Petrus erfüllte er die Liebe zu dem Menschen, welchen man sieht. Er sagt nicht: ,Petrus muß sich zuerst ändern und ein anderer Mensch werden, ehe ich ihn von neuem lieben kann‘, nein, gerade umgekehrt, er sagte: ,Petrus ist Petrus, und ich liebe ihn; wenn irgendetwas ihm helfen soll, so soll gerade meine Liebe ihm helfen, ein anderer Mensch zu werden‘“ (190). Hinzu kommt: „Christi Liebe war grenzenlos, wie sie es sein muß, wenn erfüllt werden soll: daß man in der Liebe den Menschen liebt, welchen man 155 Vgl. H. G. Frankfurt, a.a.O., S. 43. 156 Vgl. M. Scheler Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, a.a.O., S. 45. Hervorhebung von Scheler. 157 Ebd., S. 44. Hervorhebung von Scheler.

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II. Liebe und Anerkennung

sieht. Das ist sehr leicht einzusehen. Wie sehr nämlich und auf welche Weise auch ein Mensch sich verändert, er verändert sich wohl nicht dergestalt, daß er unsichtbar wird. Ist dieses – Unmögliche – nicht der Fall, so sehen wir ihn ja, und die Pflicht ist, den Menschen zu lieben, welchen man sieht“ (ebd.). Die Liebe hängt nicht von der Antwort des anderen auf eine an ihn gestellte Forderung oder Bedingung ab. Sie ist grenzenlos und die Grenzenlosigkeit der Liebe in der Erfüllung besteht darin, den Menschen in seinen Veränderungen zu lieben, in seinen Veränderungen bei ihm zu bleiben, ihn zu sehen, ohne ihn zu übersehen, in unendlicher Schuld zu stehen.158 Während in den Weltverhältnissen eine Schuld etwas ist, das man begleichen soll, um sich von weiteren Verpflichtungen zu befreien, ist die Schuld in der Liebe eine Aufgabe der permanenten Realisation. In der Bewegung der Liebe ist es nicht der Geliebte, welcher in der Schuld steht, da er Liebe vom Liebenden empfängt, sondern der Liebende, welcher Liebe gibt: „[D]as Geben [heißt] ständig in Schuld zu geraten“ (195). Die Aufgabe lautet, in einer Schuld zu bleiben und in einer Schuld zu bleiben heißt, die Liebe am Leben zu halten. Jedes Geben, jede Aufopferung bedeutet, etwas zu der unendlichen Schuld in der Liebe hinzufügen. In dem Bleiben in einer Schuld findet darüber hinaus eine unendliche Gegenseitigkeit im Liebesverhältnis, eine Art Dialektik des Gebens und Empfangens, statt: Während der Liebende seine Taten als etwas „unendlich kleines“ wahrnimmt, das zum Begleichen der Schuld wenig beiträgt, nimmt der Geliebte die Taten des Liebenden als etwas „unendlich großes“ wahr. Das Gleichgewicht zwischen Geben und Empfangen wird im Bleiben in einer Schuld erreicht: „[D]ie geringste Äußerung ist unendlich größer als alle Opfertaten, und alle Opfertaten sind unendlich geringer als das Allergeringste, wenn es um ein Abtragen der Schuld ginge“ (200). Die Liebe ist in diesem Sinne permanentes Handeln, eine unendliche Bewegung zum anderen, sie kann sich keine Pause leisten oder bei sich selbst 158 Die Grenzenlosigkeit soll nicht, wie Løgstrup zeigt, mit „eine[r] – grenzenlose[n] – Verantwortung für alles mögliche“ verwechselt werden (vgl. K. E. Løgstrup Die ethische Forderung, a.a.O., S. 48). Was gefordert wird, ist eher eine Haltung, Taten um des anderen willen, gegenüber dem man eine Verantwortung hat, auszuführen. Eine grenzenlose Verantwortung ist ein Zeichen der Unzufriedenheit, die zur Unterwerfung des anderen führen kann, da man glaubt, dass das, was man tut, für ihn gut ist, ihm dient. So „bemächtigt man sich einer Verantwortung, die über das menschliche Maß hinausgeht, so übt man unweigerlich Gewalt an denen, für die man sich verantwortlich fühlt“ (49). Man tut alles im Namen dessen, von dem man glaubt, dass es für die Menschheit gut ist.

2. Zum Sollenscharakter der Forderung

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verweilen. Kierkegaard beschriebt das Verweilen der Liebe bei sich selbst als das Begleichen der Schuld, als das Aufhören der Liebesbewegung, da die Liebe anfängt, sie mit der Liebe anderer zu vergleichen – ob die eigene Liebe größer oder geringer als die der anderen ist, ob die eigenen vollbrachten Taten gesehen wurden. Solche Liebe welche bei sich selbst verweilt, verlangt immer nach Anerkennung, sie wird das, was Kierkegaard bloße menschliche Selbstverleugnung nennt: das Aufgeben eigener Wünsche, Begierden und persönlicher Pläne, welches mit Achtung, Ehre und Liebe – mit sozialer Anerkennung im weitesten Sinne – zusammenhängt. Die christliche Verleugnung verlangt hingegen keine Anerkennung, da die Aufgabe mit keinem Gewinn verbunden ist. Vielmehr arbeitet man „uneigennützig für das Gute“, man steht im Gottesverhältnis und wählt es frei und unabhängig davon, ob die Taten gesehen, anerkannt oder verstanden werden oder nicht. Während sich in der menschlichen Selbstverleugnung die Welt für die Menschen öffnet, verschließt sie sich vor ihnen in der christlichen Selbstverleugnung, die Welt kann sie nicht verstehen. Kierkegaard macht darauf aufmerksam, dass die christliche Selbstverleugnung sich mit der oben genannten „Doppelgefahr“ auseinandersetzen muss, nämlich mit dem Streit „im Innern des Menschen“ und mit dem Streit „außerhalb des Menschen in der Welt“ (212). Im Inneren, da er durch die Liebe zum Bewusstsein seiner selbst kommen und das Selbstische in seinem Selbstverhältnis transzendieren muss. Außerhalb in der Welt, da er für seine Liebe den Undank der Welt erhalten kann, denn die Welt kann nicht verstehen, warum ein Mensch „auf doppelte Weise sich selbst unglücklich machen will: zuerst dadurch, daß er die Wünsche nicht befriedigt, und dann dadurch, daß er zum Lohn dafür von der Welt ausgelacht wird“ (225). Was motiviert den Einzelnen, so muss erneut gefragt werden, die Pflicht zu lieben zu erfüllen, wenn die grenzenlose Liebe keine Gegengabe kennt? Wie kann der Einzelne in Kontinuität mit der Welt stehen, die Wirklichkeit erreichen, wenn sich die Welt für ihn in der Liebe verschließt? Wie ermöglicht die Liebe das gelingende Gutsein inmitten jener Doppelgefahr? Die Lösung für die Probleme, die die Radikalisierung der Forderung mit sich bringt, zeigt sich in der Vermutung, dass die Liebesbewegung eine Intersubjektivitätsbewegung ist.159

159 S. unten II. Teil, Kap. 4.

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II. Liebe und Anerkennung

3. Die Einseitigkeit in der Anerkennung und die Praxis der Liebe Die Forderung der Liebe ist, wie die vorherigen Ausführungen zu zeigen versuchten, eine Forderung an die Innerlichkeit und eine Forderung an die Beständigkeit. Sie zu erfüllen bedeutet, dass man sich zuerst zum Nächsten oder zu Gott im Sichverhalten zu sich selbst und zum anderen verhält. Eine solche Arbeit erfordert zum einen die negative Form der Selbstliebe so zu überwinden, dass das Daseinwollen gleichermaßen für jeden Menschen als sittliche Aufgabe im Horizont des Handelns erscheint, und zum anderen die Liebe zu den Menschen, die man sieht. In diesem Sinne ist die Liebe weder Fühlen noch Streben noch deren Negation, sondern eine Haltung, in der man „uneigennützig für das Gute“ arbeitet. Die Art und Weise, wie diese Arbeit auszuüben ist, wird anhand des Begriffes Erbauen und dessen Aspekte erhellt. Ist es ein Bedürfnis der Liebe, sich zu erkennen zu geben, dann muss sie das tun, indem sie erbaut. Dies ist was Kierkegaard meint, wenn er sich in der ersten Rede der zweiten Folge der Taten der Liebe auf den biblischen Ausdruck „Liebe erbaut“ bezieht. Dort heißt es: „Erbauen“ ist gebildet aus „bauen“ und der Vorsilbe „er“, auf welcher also der Nachdruck liegen muß. Jeder der erbaut, baut; aber nicht jeder, der baut, erbaut. […] „Erbauen“ heißt also, etwas von Grund auf in die Höhe führen. Jenes „er“ gibt zwar die Richtung als Höhe an; aber nur, wenn die Höhe umgekehrt zugleich Tiefe ist, sprechen wir von „erbauen“ (LT, 234 – 235).160

Von welchem Grund ist hier die Rede? Dieser Grund ist die Liebe selbst. Liebe erbaut dadurch, dass sie voraussetzt, dass sie als Grund im anderen liegt. Das Wort „Erbauen“ bezieht sich immer auf alles, in dem die Liebe anwesend ist und zwar so, dass ein Geschehen erbaulich ist, weil die Liebe sich in ihm äußert. Die Voraussetzung des Erbauens ist die Liebe und wer in Liebe handelt, erbaut immer mit allen seinen Taten, er arbeitet nicht nur, damit seine Liebe erkannt werden kann (17), sondern auch, damit die Liebe sich in dem anderen äußert. Das Voraussetzen der Liebe ist das intersubjektive Element in der Beziehung: „Liebe haben heißt, bei anderen Liebe vorauszusetzen“ (247). Kierkegaard unterscheidet zwischen Eigenschaften, die man für sich selbst hat und von denen man behaupten kann, das nicht alle sie besitzen, wie z. B. die Weisheit, Gaben usw., und Eigenschaften, die man für andere hat: „Liebe ist nicht eine fürsichseiende Eigenschaft, sondern eine Eigenschaft, durch die oder in der du für andere bist“ (248). Die Liebe wird als Eigenschaft dadurch charakterisiert, dass sie 160 Zum Begriff „Erbaulich“ vgl. J. Ringleben Aneignung. Die spekulative Theologie Søren Kierkegaards, Berlin/New York 1983, S. 9 – 95.

3. Die Einseitigkeit in der Anerkennung und die Praxis der Liebe

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langmütig ist, weder Neid noch Groll trägt, das ihre nicht sucht, sich nicht der Ungerechtigkeit erfreut, alles verträgt, alles glaubt, alles hofft, alles duldet (1. Kor. 13). Erbauen ist die Hauptsumme aller dieser Aspekte, welche in ihrer Gesamtheit dazu beitragen, dem anderen zu helfen, frei zu werden, damit die Liebe sich bei ihm äußert. Wenden wir uns nun diesen Aspekten zu. Wir sollten uns daran erinnern, dass die Art und Weise wie die Liebe erbaut immer in Abgrenzung von der menschlichen Auffassung der Liebe verstanden werden soll, dass sie über das Verlangen nach Gegenleistung in der Beziehung hinausgeht. Betrachten wir nun den ersten Aspekt der Forderung, dass die Liebe alles glaubt und doch niemals betrogen wird (Rede II, zweite Folge). In Liebe alles zu glauben geht, wie schon gezeigt, mit dem Glauben an die Liebe als Ursprung aller Dinge einher und mit der sittlichen Aufgabe, sofort damit zu beginnen, den Nächsten zu lieben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Indem man im Liebesverhältnis nichts vom anderen verlangt, indem man keinen Anspruch auf Anerkennung stellt, so Kierkegaard, besteht keine Möglichkeit, vom Geliebten betrogen zu werden, da der Liebende nur das Bedürfnis hat, Liebe zu geben und in der Liebe zu bleiben. Natürlich kann der Geliebte den Liebenden betrügen, der Betrug betrifft jedoch nur den Geliebten, da der Liebende in der Liebe bleibt und seine Liebe nicht von der Reaktion des Geliebten abhängen lässt. Die Forderung der Liebe, alles zu glauben, scheint lächerlich zu sein und sie ist es in den Augen der menschlichen Auffassung der Liebe tatsächlich, denn wie kann es möglich sein, dass gefordert wird, jemanden zu lieben, der mich betrogen hat? Ist nicht der Betrug Grund genug, um mit der Beziehung aufzuhören? Aber wer Liebe hat, gibt Liebe und setzt die Liebe bei anderen voraus. Der Betrug existiert nur als Selbstbetrug, d. h. er existiert nur auf einer Seite des Verhältnisses: Wenn der Geliebte den Liebenden betrügt, betrügt er sich selbst, denn der Liebende bleibt im Liebesverhältnis; wenn der betrogene Liebende jedoch Schluss macht, zeigt er mit seinem Verhalten, dass in ihm keine Liebe war und er betrügt sich auch selbst, indem er sich der Liebe entzieht. Ein Bruch ist nur möglich, wenn die Zwischenbestimmung – Gott – verkannt wird. Die gut geführte Liebe ist daher keine Sache des Wissens, sondern einer Entscheidung zwischen Glauben (Lieben) oder Nichtglauben (Misstrauen). Der Unterschied zwischen Glauben und Wissen ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung, um die Forderung der Liebe genau zu verstehen. Kierkegaard versteht unter Wissen die Bewegung, durch die „einander entgegengesetzte Möglichkeiten ins Gleichgewicht“ gesetzt werden (256). Das Wissen ist das Unpersönliche und das Gleichgültige, bei dem es sich allein um die Mög-

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II. Liebe und Anerkennung

lichkeiten handelt. In Wissen findet noch keine Entscheidung für diese oder jene Möglichkeit statt. Es führt vielmehr zum Gleichgewicht, von dem aus geurteilt und manifestiert wird, ob man misstraut oder liebt. Das Gleichgewicht, das durch Wissen erreicht wird, wird keine weitere Erkenntnis von etwas, sondern eine Entscheidung: „Durch das Wissen kommst du nur zum Gleichgewicht, gerade wenn die Kunst vollendet geübt wird; aber die Schlußfolgerung kehrt zurück zu dem Wesen des Urteilenden und macht es offenbar“ (259). Das Leben des Individuums beginnt so nicht kraft des Wissens, sondern kraft des Glaubens, kraft einer Entscheidung. Das Wissen bestimmt daher nicht, was man ist. Vielmehr ist das, was man ist, durch das, was man glaubt, bestimmt. Genau gesagt besteht die Entscheidung darin, entweder an das Gute glauben zu wollen oder an nichts zu glauben und so an das Böse zu glauben. Es wird nicht gefordert, naiv alles zu glauben, sondern „liebend alles zu glauben“ (260). Liebend alles zu glauben bedeutet das Gute im anderen sehen zu wollen, selbst wenn es sich nicht äußert. In Liebe alles glaubend zu bleiben ist ein Kampf gegen die Priorität des Sinnlichen, gegen die ausschließlich auf der Gegenleistung fußende Selbstliebe.161 Die Liebe glaubt nicht nur alles in dem dargestellten Sinne, sie hofft auch alles – und wird doch niemals zu Schanden (Rede III, zweite Folge). Der zweite Aspekt der Forderung hebt hervor, dass Hoffen ein Bedürfnis des menschlichen Wesens ist, in dem es sich zum Zukünftigen, zum Möglichen, verhält. Dieses Sich-hoffend-Verhalten zum Zukünftigen ist immer ein „Doppeltes“: „Möglichkeit des Fortschritts oder des Rückgangs, der Aufrichtung oder des Untergangs, des Guten oder des Bösen“ (275). Im Hoffen steht der Mensch in Erwartung und in der Erwartung findet wiederum eine Wahl statt, eine Wahl zwischen Hoffnung oder Furcht: „Sich erwartend zur Möglichkeit des Guten verhalten, heißt hoffen […] Sich erwartend zur Möglichkeit des Bösen verhalten, heißt frchten“ (276). Der Mensch, der liebend alles hofft, hofft allezeit für sich selber und für andere, dass die Möglichkeit des Guten da ist. Er verzichtet auf die weltliche Klugheit, welche lehrt, immer Distanz zu anderen zu nehmen, auf den Haß und den Neid, auf all das, was mit der Möglichkeit des Guten nichts zu tun 161 „Die Liebe sieht deshalb den anderen Menschen ,größer‘ oder besser, als er ist, während das Mißtrauen ihn als ,kleiner‘ oder schlechter einschätzt. Und indem man den anderen Menschen besser sieht, als er ist, tut man etwas ganz Bestimmtes mit ihm oder ihr: in ethischer Hinsicht ,wächst‘ das Selbstbewußtsein des anderen Menschen“ (vgl. P. Søltoft Den Nchsten kennen heißt der Nchste werden. ber Ethik, Intersubjektivitt und Gegenseitigkeit in Taten der Liebe, a.a.O., S. 105).

3. Die Einseitigkeit in der Anerkennung und die Praxis der Liebe

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haben will. Die Forderung der Liebe, alles zu hoffen, scheint wiederum lächerlich zu sein, denn wie kann es sein, dass gefordert wird, für alle Menschen liebend alles zu hoffen, sogar für diejenigen, die uns verletzt haben, oder für jene, die mit ihren Taten der Welt schaden? Ist das nicht Unsinn? Es ist tatsächlich so, wenn man sich an den Ansprüchen der weltlichen Klugheit orientiert. Liebend nicht alles zu hoffen impliziert, dass man den Nächsten nicht mehr sieht, dass man auf die Möglichkeit verzichtet, dass sich das Gute in ihm äußert. Hofft man nicht alles für den anderen, dann gibt man ihn auf und zeigt, dass die Liebe nicht in einem war. Einen Menschen aufzugeben bedeutet das Aufgeben aller Menschen. Geht die Hoffnung oder die Erwartung nicht in Erfüllung, wird man trotzdem nicht „zu Schanden“. Wer jederzeit das Gute für die anderen hofft, tut das nicht um der Gegenleistung willen, um sich einen Vorteil zu verschaffen oder um sich besser zu fühlen. Die Hoffnung soll daher nicht mit den Wünschen, mit dem Begehren oder mit dem bloßen Erwarten von etwas verwechselt werden. „Man kann (um einen Augenblick den unwahren Sprachgebrauch zu benutzen) zu Schanden werden durch Hoffen auf den einen oder anderen irdischen Vorteil – wenn dieser dann ausbleibt. Aber die Schande ist eigentlich nicht die, daß der Vorteil nicht kam, daß die Hoffnung nicht in Erfüllung ging, die Schande liegt darin, daß sich nun, aufgrund der getäuschten Erwartung, zeigt, wie wichtig einem ein solcher irdischer Vorteil war“ (289). Die Liebe, die alles glaubt und alles hofft, sucht darüber hinaus nicht ihr Eigenes, sie sucht nicht, Gegenstand der Liebe eines anderen zu werden, sie sucht auch nicht ihren Vorteil (Rede IV, zweite Folge): „[D]enn in der Liebe gibt es kein Mein und Dein. Aber Mein und Dein ist nur eine Verhltnis-Bestimmung des ,Eigenen‘; gibt es also kein Mein und Dein, so gibt es auch kein Eigenes; gibt es aber gar nichts Eigenes, so ist es ja unmçglich, sein Eigenes zu suchen“ (293). Die Suche nach dem Eigenen ist natürlich dort wichtig, wo es um die Gerechtigkeit geht, genauer um die gerechte Verteilung dessen, was einem als Eigenes entspricht. Wer sein Eigenes im Sinne der Gerechtigkeit sucht, ist in seinem Recht. Aber in der authentischen Liebe findet die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Mein und Dein statt, ohne dass das Ich und das Du in der Liebe abgeschafft würden. Dass es keine solche Unterscheidung gibt, ist das Resultat davon, dass die Liebe „eine Umwälzung von Grund auf“ ist (294). Eine solche Umwälzung findet zwar auch in der erotischen Liebe und in der Freundschaft statt; dabei wird aber nicht die Unterscheidung zwischen Mein und Dein aufgehoben, sondern der Tausch gefördert, durch den Mein und Dein ein Unser werden. Im Tausch sucht man immer sein Eigenes und die Suche nach dem Eigenen ist

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II. Liebe und Anerkennung

die negative Form der Selbstliebe, da dieses Unser in der Gemeinschaft denselben Wert hat, den das Mein für das einzelne Individuum hat. Die Gemeinschaft des Unser ist die Erweiterung der Selbstliebe im Liebesverhältnis. Erst wenn es keine Unterscheidung zwischen Mein und Dein gibt, gibt es kein Eigenes, es gibt ein Ich und ein Du. Indem der Liebende sein Eigenes nicht sucht, liebt er „jeden Menschen nach dessen Eigentmlichkeit“ (298), d. h. nach dem, was aus diesem Menschen einen bestimmten macht. Er bestätigt das Eigene des anderen und erkennt seine Unabhängigkeit an. Kierkegaard versucht zu zeigen, dass der Suche nach dem Eigenen in den zwischenmenschlichen Beziehungen die Gefahr der Instrumentalisierung oder Unterwerfung des anderen zugunsten der eigenen Zwecke innewohnt. Man liebt oder erkennt den anderen nicht nach dessen Eigentümlichkeit an, sondern nach dem, was man aus ihm machen oder in ihm sehen will. Für Kierkegaard ähnelt der moderne Mensch mit seinen Taten dem Strengen und Herrschsüchtigen, sowie der Kleinlichkeit, wie die folgenden Zitate veranschaulichen: Dem Strengen, dem Herrschschtigen fehlt Nachgiebigkeit und fehlt Willigkeit, um andere zu begreifen, er fordert von jedem sein Eigenes, will, daß jeder in seine Form umgeschaffen, zurechtgestutzt werde nach seinem Zuschnitt vom Menschen. Oder er macht, was er dann für ein seltenes Maß von Liebe hält, er macht ganz selten einmal eine Ausnahme, er versucht, so sagt er, einen einzelnen Menschen zu begreifen, d. h. er stellt sich auf eine ganz bestimmte und besondere – und willkürliche Weise etwas Bestimmtes unter diesem Menschen vor, und verlangt nun, daß der andere diese Vorstellung erfülle. Ob dies nun gerade die Eigentümlichkeit dieses anderen Menschen ist oder nicht, tut nichts zur Sache, denn es ist das, was der Herrschsüchtige sich unter ihm vorgestellt hat. Schaffen kann der Strenge und Herrschsüchtige nun einmal nicht, so will er wenigstens umschaffen, d. h. er sucht sein Eigenes, auf daß er, überall wohin er deutet, sagen kann: Schau, das ist mein Bild, das ist mein Gedanke, das ist mein Wille. Ob dem Strengen und Herrschsüchtigen ein großer Wirkungskreis angewiesen ist oder ein kleiner, ob er Tyrann in einem Kaiserreich ist, oder Haus-Tyrann in einem kleinen Zimmer unter dem Dach, macht wesentlich keinen Unterschied, das Wesen ist das gleiche: herrschsüchtig nicht aus sich selbst herausgehen wollen, herrschsüchtig des andern Menschen Eigentümlichkeit erdrücken oder das Leben aus ihr herausfoltern wollen (298 – 299). Die Kleinlichkeit […], die unnatrlichen Wesens ist, hat keine Eigentümlichkeit, d. h. sie hat nicht an ihre eigene Eigentümlichkeit geglaubt, deshalb kann sie auch nicht an die eines andern glauben. Der Kleinliche hat sich an eine ganz bestimmte Gestalt und Form festgeklammert, die er sein eigen nennt; nur diese sucht er, nur diese kann er lieben. Findet der Kleinliche sie, so liebt er. So hält denn Kleinlichkeit mit Kleinlichkeit zusammen, sie wachsen zusammen, was im geistigen Sinne ebenso verderblich ist, wie wenn ein Nagel ins Fleisch wächst. Dieser kleinliche Zusammenhalt wird dann als die höchste

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Liebe gepriesen, als die wahre Freundschaft, als die wahre, treue, aufrichtige Eintracht (300).

Der Sinn der Suche nach dem Eigenen, die zur Unterwerfung, Diskriminierung und Nicht-Anerkennung des anderen führen kann, kann nach meiner Interpretation in Anlehnung an Hegels Begriff der Entäußerung ergänzt werden. Zwar deutet Hegel das Eigene vor allem im Sinne der Gerechtigkeit, d. h. der Rechtsfähigkeit des Subjekts, Sachen, aber auch seinen Körper und sein Leben, in Besitz zu nehmen, und setzt den Akzent auf die Selbstbehauptung des Individuums als Eigentümers, er kommt aber gleichzeitig zu einem stark normativen Personbegriff, mit dem beabsichtigt wird, die Gefahr einer selbstischen Suche nach dem Eigenen aufzuheben. Dafür ist der Unterschied zwischen einer positiven und einer negativen Form der Entäußerung in ihrem Verhältnis zum Anerkennungsbegriff grundlegend. Entäußerung und Anerkennung sind zwei Begriffe, die Hegel in der Deduktion des Personbegriffs in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts eng miteinander verbindet. Die Entäußerung setzt sowohl die Anerkennung des anderen in seinem Person-Sein voraus als auch die volle Negation der Persönlichkeit des anderen, indem er zur bloßen Form der Sache herabgesetzt werden kann. Im ersten Fall ist die Entäußerung ein Ausdruck der Freiheit des Menschen; im zweiten Fall ist sie eine Form von Herrschaft und Unterwerfung, und daher von ständiger Negation der Freiheit. Somit fördert die Entäußerung in ihrer positiven Form die Anerkennung, während in ihrer negativen Form die volle Abwesenheit der Anerkennung ist. Wenn die Entäußerung die Persönlichkeit affirmiert oder negiert, ist eine Rekonstruktion des Personbegriffs von großer Bedeutung, um die hier stattfindende Bewegung der Anerkennung genau zu verstehen. Dafür ist es wichtig zu bestimmen, was unter Person verstanden wird, wie sie sich zu dem verhält, was außerhalb ihrer liegt, nämlich zur Sache, und wie die Person ab diesem Verhältnis ihre Absichten gegenüber anderen Personen zur Geltung bringt. Der Personbegriff beschränkt sich auf den Bereich des privaten Rechts. Für Hegel ist daher die Person nicht das moralische Subjekt, sondern ein Subjekt, das über seine Rechtsfähigkeit bestimmt wird. Was die Person charakterisiert, ist die Freiheit, mit der sie sich auf eine äußere Welt bezieht, die sie sich zu eigen macht. Der Wille, so Hegel, der sich zu sich selbst unmittelbar verhält, von seiner Freiheit weiß und sich „zum Gegenstande und Zwecke hat“, ist Person.162 Das Person-Sein als rechtlicher Begriff ist 162 Vgl. G. W. F. Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke 7), a.a.O., § 35.

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II. Liebe und Anerkennung

nicht nur das Fundament des Rechts, sondern auch die Grundvoraussetzung der Anerkennung. Hegel drückt dies in der bekannten Formulierung der Grundlinien der Philosophie des Rechts wie folgt aus: „Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“ (§ 36). Was bedeutet aber genau diese Forderung nach dem Person-Sein und nach dem Respekt der anderen als Personen? Erstens, dass das Person-Sein das Selbstbewusstsein voraussetzt: Erst wenn die Selbstbehauptung als ein von seiner eigenen Freiheit wissendes Selbstbewusstsein vorherig stattfindet, dann ist es tatsächlich möglich, den anderen als freies Selbstbewusstsein wahrzunehmen. Ohne diese ursprngliche Selbstbeziehung, die das PersonSein impliziert, würde es keinen wahren Raum für die Ausübung der Freiheit und für die Anerkennung der anderen geben. Und weil Hegel im Personbegriff das Selbstbewusstsein voraussetzt, spricht er nicht mehr direkt von einem Selbstbewusstsein, für das ein anderes Selbstbewusstsein ist,163 sondern von einem Selbstbewusstsein, das sich im Verhältnis zu sich selbst zu den anderen verhält. Zweitens zielt das Rechtsgebot des PersonSeins und des Respekts der anderen als Personen allein darauf, wie Hegel es hervorhebt, „die Persönlichkeit und das daraus Folgende nicht zu verletzen“ (§ 38). In diesem Sinne ist die Anerkennung hier nur eine auf die Art von Selbstbeziehung des Individuums bezogene Möglichkeit. Die verschiedenen Momente – das Eigentum, der Vertrag und das Unrecht –, in denen dieser unmittelbare Wille, welcher die Person ist, sich bestimmt, sind Formen bzw. Stufen der Selbstbeziehung. An dieser Stelle möchte ich mich nur auf das erste Moment konzentrieren, da die damit einhergehende Bewegung der Anerkennung am besten mit Kierkegaards Erläuterungen in Verbindung gebracht werden kann. Das Besondere beim Eigentum ist die Art von ursprünglicher Selbstbeziehung, die es impliziert: „[D]ie Freiheit ist hier die des abstrakten Willens berhaupt oder eben damit einer einzelnen, sich nur zu sich verhaltenden Person“ (§ 40). Obwohl dies eine Art von Selbstbeziehung ist, die nach Hegel später zu überwinden ist, ist es wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, dass hierbei eine elementare Form der Anerkennung liegt, die der echten Anerkennung zugrunde liegt und die die Art der zu den anderen als Personen herzustellenden Beziehung qualifiziert. Drittens spielt das Rechtsgebot des Person-Seins und des Respekts der anderen als Personen darüber hinaus eine wichtige Rolle, denn die Persönlichkeit ist eben diejenige, die „ein Recht an Sachen gibt“ (ebd.). Die Sachen beziehen sich nicht nur auf äußere materielle Objekte, die das Subjekt sich zu eigen macht, sondern auch auf den eigenen Körper und das 163 G. W. F. Hegel Phnomenologie des Geistes, a.a.O., S. 146ff.

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eigene Leben. Das Person-Sein hängt somit mit der Zueignung sowohl von sich selbst als auch von dem eigenen Körper und Leben zusammen. In diesem Stadium ist die Anerkennung immer Recht an Sachen oder die Anerkennung des Rechts der anderen an Sachen. Bis zu diesem Punkt sollte bereits klar sein, dass die Anerkennung rechtlicher Art ist, und dass das, was anerkannt wird, nicht das moralische Subjekt, sondern seine Rechtsfähigkeit, sein Recht, über die Welt zu herrschen, ist. Es sollte auch klar sein, dass das Person-Sein das Selbstbewusstsein und daher die Anerkennung des anderen als Selbstbewusstsein voraussetzt. Es geht in diesem Kontext nicht mehr um den Kampf um Anerkennung von zwei Selbstbewusstsein, sondern um die faktische Anerkennung einer äußerlichen Sphäre, die jedes Subjekt als Person sich selbst für seine Verwirklichung gibt. Dass es sich nicht mehr um einen solchen Kampf um Anerkennung handelt, wird noch deutlicher, wenn Hegel hervorhebt, dass zur Person wesentlich gehört, Eigentümer zu sein, dass sein Person-Sein von seiner Beziehung zu einer anderen Person nicht abhängt, sondern dass sie Person nur kraft ihrer Beziehung zu den Sachen ist. So behauptet Hegel: „Die Person muß sich eine äußere Sphre ihrer Freiheit geben, um als Idee zu sein“ (§ 41), und dieses Äußerliche ist „eine Sache, ein Unfreies, Unpersönliches und Rechtloses“ (§ 42). Der Mangel an Unbestimmtheit der Sache erlaubt, dass das Subjekt in ihr die Möglichkeit der Verwirklichung seiner Freiheit sieht, indem das Subjekt sich die Sache zu eigen machen und als seine erklären kann: „Die Person hat das Recht, in jede Sache ihren Willen zu legen, welche dadurch die meinige ist, zu ihrem substantiellen Zwecke, da sie einen solchen nicht in sich selbst hat, ihrer Bestimmung und Seele meinen Willen erhält, – absolutes Zueignungsrecht des Menschen auf alle Sachen“ (§ 44). Dazu kommt: „Sich zueignen heißt im Grunde somit nur die Hoheit meines Willens gegen die Sache manifestieren und aufweisen, daß diese nicht an und für sich, nicht Selbstzweck ist. Diese Manifestation geschieht dadurch, daß ich in die Sache einen anderen Zweck lege, als sie unmittelbar hatte; ich gebe dem Lebendigen als meinem Eigentum eine andere Seele, als es hatte; ich gebe ihm meine Seele“ (Zusatz, § 44). Diese Bewegung, durch die ich mir das Äußerliche, die Sache, zueigne und ihr einen Zweck gebe, wird von Hegel Besitz genannt. Die Wichtigkeit dieses Begriffes besteht darin, dass er nicht nur das Zueignungsrecht an Sachen, sondern das Zueignungsrecht an den sachlichen Aspekten der Person, sowie an ihrem Selbstsein umfasst. Zwar ist das Subjekt als Person keine Sache, sein Körper aber, durch den es vor den anderen erscheint, kann als Sache betrachtet werden. Das Individuum ist daher, wie oben veranschaulicht wurde, auch ein natürliches und un-

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II. Liebe und Anerkennung

mittelbares Wesen, ein lebendiges Sein in seinem organischen Kçrper, das sein ußeres Dasein ist, ein Individuum also, das als Person aus seinem Leben und Körper seinen Besitz macht, weil es sie will (§ 47). Wie soll nun dieses zueignende Wollen verstanden werden, das aus dem Menschen Besitzer seiner Selbst macht und ihm ein unveräußerliches Recht an seinem eigenen Leben gibt? Wollen bedeutet, das eigene Leben und den Körper, der dieses Leben trägt, zu affirmieren, indem man sich diesen Körper zueignet; Wollen bedeutet, „als Freies im Körper lebendig“ (§ 48) zu sein. Auf diese Weise wird mein Körper ein Medium, durch das ich meine Freiheit ausdrücke, ein Medium, für das ich verantwortlich bin und um das ich mir Sorge mache, weil ich es will, ein Medium schließlich, das, weil es meines ist, mich dem anderen in meinem Person-Sein sichtbar macht und ihm zeigt, dass sein Person-Sein mit meinem Körper grenzt. Auf diese Weise meinen Körper zu wollen, bringt mich auch dazu, anzuerkennen, dass mein Körper seine Grenze bei anderen Körpern findet. Trenne ich den Körper von der Person, die ihn lebendig macht; sehe ich in ihr kein lebendiges Wesen als Freies im Körper; misshandle ich ihren Körper oder unterwerfe ich sie unter meine Macht, dann misshandle ich auch ihr eigenes Dasein, verletze ich ihre Persönlichkeit, negiere ich ihr Eigenes. Obwohl jemand in einem Unterwerfungszustand „in den Fesseln frei sein“ kann, indem er sein Selbst gegen den anderen affirmiert, der es negiert, „[ist] [m]einem Kçrper von anderen angetane Gewalt Mir angetane Gewalt“ (ebd.). Dies ist von großer Bedeutung in der Dimension der rechtlichen Anerkennung: Da „[ich] frei fr den anderen nur als frei im Dasein [bin]“ (ebd.), ist mein Körper nur für mich – nicht aber für die anderen – eine Sache, insofern ich der bin, der ihn will und sich ihn zueignet. Selbst wenn jemand seinen Körper nicht will und sich unterwirft, hat er immer das Recht, seine Herrschaft über ihn wieder herzustellen. Was für die Beziehung der Person zu den Sachen gilt, gilt auch für die Beziehung zu ihrem Körper, nämlich, dass es nicht genug ist, die Absicht zu haben, etwas – eine Sache oder meinen Körper – zu wollen, sondern dass es in Besitz genommen werden muss. Denn nur „[d]as Dasein, welches jenes Wollen hierdurch erhält, schließt die Erkennbarkeit für andere in sich“ (§ 51). Aus der Perspektive des Person-Seins heißt es, dass die bloße Absicht eines Selbstbesitzes nicht reicht, da die Person sich selbst aktiv in Besitz nehmen soll, um sich als Person gegenüber anderen zu behaupten. Die Besitznahme ist ein Akt, der von den anderen anerkannt werden soll. Die Besitznahme aber, und hier wird eine neue Dimension erreicht, geht über den Besitz der Sachen oder des eigenen Körpers und Lebens hinaus. Mein Selbst, Hegel zufolge mein Geist, ist etwas, das ich mir an-

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eignen kann und soll: „Die Ausbildung meines organischen Körpers zu Geschicklichkeiten sowie die Bildung meines Geistes ist gleichfalls eine mehr oder weniger vollkommene Besitznahme und Durchdringung; der Geist ist es, den ich mir am vollkommensten zu eigen machen kann“ (§ 52). Damit kommen wir zum wichtigsten Punkt. Das Individuum wird Person in seiner Beziehung zu den Sachen, in die es seinen Willen legt, der anerkannt wird dank der Besitzergreifung von ihnen. Wenn ich sage, diese Sache ist meine, so deute ich an, dass ich ihr einen Zweck gebe, den sie nicht hatte, dass ich sie in Besitz nehme; ich deute aber auch an, dass ich sie formieren kann. Wichtig ist bei dieser Darstellung, dass Hegel die Beziehung zwischen Person und Sache zur Selbstbeziehung erweitert, indem er die Selbstbeziehung als die Bildung und Besitznahme von sich selbst deutet. Hegel appelliert an die Besitznahme als Bildung und als Bedingung des Freiwerdens, wenn er den objektiven und subjektiven Aspekt des Freiwerdens und die Notwendigkeit, beide Momente im Individuum selbst zu vereinigen, in Betracht zieht. Was die Besitznahme hier leistet, erinnert an die Wahlbewegung in Entweder/Oder, bei der es sich um die Überwindung des unmittelbaren Daseins durch seine verantwortlich ununterbrochene Übernahme im Ethischen handelt, die Kierkegaard mit dem Bildungsprozess als Selbstbesitz verbindet. In dem sehr wichtigen Paragraph 57 der Grundlinien der Philosophie des Rechts, der in enger Beziehung zum Paragraph 66 und zum Verhältnis der Herrenschaft und der Knechtschaft in der Phnomenologie des Geistes steht, wird die genannte Bewegung als Harmonisierung des Objektiven und Subjektiven wie folgt dargestellt: „Der Mensch ist nach der unmittelbaren Existenz an ihm selbst ein Natürliches, seinem Begriffe Äußeres; erst durch die Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes, wesentlich dadurch, daß sein Selbstbewußtsein sich als freies erfaßt, nimmt er sich in Besitz und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere“ (§ 57). Wird der Mensch als ein bloß Natürliches und Subjektives, als Sklave seiner Instinkte und Leidenschaften, betrachtet, dann wird damit, so Hegel, die Sklaverei oder jede Form von Unterwerfung gerechtfertigt, der Mensch als frei nicht anerkannt, aus seinem Körper eine zueignende Sache gemacht, sein Körper wegen der ausgeübten Gewalt gegen ihn verletzt. Nun glaubt Hegel gegenüber der Möglichkeit der Sklaverei oder jeder Form von Unterwerfung, der Mensch könne selbst in den Fesseln frei sein. Denn Hegel ist der Überzeugung, dass es bei dem Menschen selbst liegt, Sklave oder Unterworfener zu sein, und dass es reicht, dass er sich in Besitz nimmt, um diesen Zustand zu überwinden. Sogar in den Fesseln gibt es eine Freiheit, und zwar eine innere Freiheit, die den Menschen über seinen

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unterworfenen Zustand walten lässt. Dass es bei dem Menschen selbst liegt, Sklave oder Unterworfener zu sein, zeigt, dass Hegel das Unrecht sowohl auf der Seite des Herrschenden als auch des Sklaven oder Unterworfenen sieht. Man kann auf verschiedene Weise Sklave sein. Bleibt man am Natürlichen verhaftet und gibt den Bedürfnissen Vorrang, macht dieses Verkennen des Allgemeinen aus dem Menschen einen Sklaven von sich selbst. In diesem Sinne steht das Unrecht auf der Seite des Sklaven oder Unterworfenen selbst, da er sich selbst als frei nicht bewusst sein will. Reagiert er nicht auf seine Situation; erhebt er sich nicht über seine Natürlichkeit; akzeptiert er den Zweck konformistisch, den ein anderer Wille in ihn legt, dann liegt bei ihm genau wie bei dem Herrschenden das Unrecht, das Eigene zunichte gemacht zu haben. Andererseits kann man in den Fesseln durch die Bildung und Besitznahme von sich selbst frei sein. Obwohl er versklavt ist, weiß er sich frei. Aber wenn trotz dieses Selbstbewusstseins das Unrecht weiter besteht, wenn der Mensch immer noch unterworfen und demütig bleibt und immer wieder unter der seinem Körper angetanen Gewalt leidet, die wie gesehen gleichfalls ihm angetane Gewalt ist, auf welche Weise ist er dann frei? Kann der sich selbst bewusste Versklavende aufhören, ungerecht zu sein, nur weil er sich in Besitz genommen hat? Kann die Besitznahme die Asymmetrie im Verhältnis des Herrschenden zum Sklaven bis zum Punkt ändern, in dem das Recht sich durchsetzt und das Unrecht nicht mehr gilt, bis zum Punkt also, in dem er „das Eigentum seiner selbst und gegen andere“ wird (§ 57)? Hegel glaubt eine geeignete Antwort auf diese Fragen zu finden, wenn er in einem nächsten Schritt die Besitznahme und die Ausbildung in der Beziehung der Person zu den Sachen als Zeichen, als Atribution darlegt, „und zwar für andere, um diese auszuschließen und um zu zeigen, daß ich meinen Willen in die Sache gelegt habe. Der Begriff des Zeichens ist nämlich, daß die Sache nicht gilt als das, was sie ist, sondern als das, was sie bedeuten soll“ (Zusatz, § 58). Der Begriff des Zeichens betrifft auch die Selbstbeziehung und die Beziehung zu den anderen. Weil ich durch die Besitznahme und die Ausbildung meines Geistes Eigentum meiner selbst werde, werden sie ein Zeichen für die anderen, das sie nicht mehr so einfach ignorieren können. Dem Zeichen gelingt es, etwas sichtbar zu machen, das vorher nicht da war, und zwar das Eigene. Das Zeichen drängt dazu, es zu sehen, selbst wenn man es nicht anerkennen will. Auf diese Weise zeigt das Zeichen, dass eine Transformation im Gang ist. Der andere, der Herrschende, wird interpelliert, auch wenn er nicht handelt. Hegel glaubt, dass die Anwesenheit von dieser in Gang gesetzten Transformation, welche das Zeichen ist, ihrerseits eine Transformation im Herrschaftsverhältnis notwendigerweise

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zu verursachen hat, so dass die Asymmetrie im Verhältnis überwunden wird. Nach dieser kleinen Darstellung des Sinns des Personbegriffs kann das Verhältnis zwischen Entäußerung und Anerkennung deutlicher erläutert werden. Unter Entäußerung versteht Hegel in erster Linie einen positiven Akt. Nach ihrer Definition kann nur das entäußert werden, was als eine Sache betrachtet wird, d. h. das, was seiner Natur nach etwas Äußerliches (§ 65) ist. Entäußern ist der Akt, durch den ich erkläre, dass eine Sache mein Eigentum nicht mehr ist. Wenn ich von einer Sache sage, sie ist meine, bedeutet sie zu entäußern, sie einer anderen Person zu überlassen, weil sie mir gehört und ich das machen will. Die Entäußerung ist daher ein Ausdruck der Autonomie und der Freiheit der Person, die immer entscheiden kann, welchen Zweck sie der Sache geben möchte. Es ist dann klar, dass ich eine Sache nur entäußern kann, wenn es eine vorherige Anerkennung meines Person- und Besitzer-Seins gibt. Ohne diese Anerkennung kann die Person über ihr Recht an Sachen nicht Gebrauch machen. Die Entäußerung bedeutet in diesem Fall immer einen Anerkennungszustand des anderen und deshalb habe ich auf sie als eine positive Form von Beziehung hingewiesen. Gerade eben weil das Person-Sein mit der Zueignung des eigenen Körpers und Lebens, und in einer höheren Instanz mit der Zueignung des eigenen Geistes, einhergeht, kann Hegel die negative Form der Entäußerung in ihren wesentlichen Zügen dort deutlich darstellen, wo die Entäußerung die Gefahr einer Selbstverfehlung oder die Negation der Persönlichkeit durch einen anderen impliziert. Was da negiert ist, ist mit Kierkegaard gesagt das Eigene, welches nach dem Willen des Herrschenden bzw. Herrschsüchtigen geformt wird. Hegel deutet diese Gefahr unter der Figur eines nicht unbedingt von allen erfüllbaren Mandats: „Unverußerlich sind daher diejenigen Güter oder vielmehr substantiellen Bestimmungen, sowie das Recht an sie unverjhrbar, welche meine eigenste Person und das allgemeine Wesen meines Selbstbewußtseins ausmachen, wie meine Persönlichkeit überhaupt, meine allgemeine Willensfreiheit, Sittlichkeit, Religion“ (§ 66). Wenn solche Güter unveräußerlich sind, dann stellt sich die Frage, warum man im alltäglichen Leben mit Entäußerungen von ihnen immer wieder zu tun hat. Hier muss ein Irrtum oder eine Art von Verfehlung vorliegen. Erneut betont Hegel, dass eine solche Entäußerung nur möglich ist, wenn der Mensch als bloßes Natürliches betrachtet wird, wenn die die Einheit des Geistes konstituierenden Momente auseinander betrachtet werden. Dazu kommt, dass die Entäußerung „bewußtlos“ oder „ausdrücklich“ sein kann, sei es unter der Form der Sklaverei oder jeder Form von Unterwerfung, sei es unter der Form einer

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bewussten Unterwerfung einer Macht, die für einen entscheidet, was man machen soll, wie man leben soll, woran man glauben soll (Hegel zufolge Entäußerung der Moralität, der Sittlichkeit und der Religion). Dieses Unrecht, die Entäußerung von solchen Gütern, findet immer statt, wenn man anderen das übergibt, was man nicht tatsächlich besitzt. Hegel kommt zu einer optimistischen Schlussfolgerung: Es genügt, dass man sich in Besitz nimmt und so sein natürliches Wesen zu seinem universalen erhebt, um sowohl das von Herrschenden als auch das von Unterworfenen verursachte Unrecht aufzuheben. Indem man seine eigene Persönlichkeit besitzt, wird man, so Hegel, ein rechtliches, moralisches und religiöses Subjekt. Aus dem, was eine Sache zu sein schien, macht man sein Eigenes, indem man nach dem Recht seiner Wiederherstellung verlangt. Die Äußerlichkeit, in der man sich verwandelt hatte, wird überwunden und das Prinzip der Unterwerfung wird von seiner Gültigkeit entkleidet. Diese Bewegung des Wiedergutmachens wird von Hegel als eine Bewegung zu sich selbst, als eine „Rückkehr meiner in mich selbst“ beschrieben, welche „den Widerspruch auf[deckt], anderen meine Rechtsfähigkeit, Sittlichkeit, Religiosität in Besitz gegeben zu haben […]“ (ebd.). Kehren wir zu Kierkegaards Argumentation zurück. Es geht wie gezeigt wurde um die Liebe, die nicht ihr Eigenes sucht, weil sie ihr Eigenes, mit Hegel gesagt, positiv in Besitz genommen hat, und so das Eigene des anderen, statt es umzuschaffen, fördert. Die Grundvoraussetzung für eine Suche, die nicht des Eigenen ist, ist die Fähigkeit zur Selbstliebe, die ich in diesem Zusammenhang mit der Fähigkeit zur Besitznahme als Selbstaneignungsprozess zu interpretieren vorschlage. „Such nicht dein Eigenes“ ist die nächste Stufe der Selbstliebe (Kierkegaard) bzw. des Person-Seins (Hegel) in dem Respektieren der anderen als Personen bzw. in dem Sehen der anderen als Nächsten. Ähnlich wie Hegel argumentiert Kierkegaard, dass es hier nicht prinzipiell um gegenseitige Anerkennung geht, sondern um eine Bewegung zum anderen, deren Ursprung beim Individuum selbst liegt und ihm dazu bewegt, den anderen in seiner Eigentümlichkeit anzuerkennen. Hegel drückt es aus im Rechtsgebot (§ 36), Kierkegaard im Liebesgebot (Reden II A.-C.). Sowohl bei Hegel als auch bei Kierkegaard soll das Individuum sich zu sich verhalten und sein Selbst positiv setzen, um sich zu anderen auf die richtige Weise zu verhalten. So ist Kierkegaard der Überzeugung, dass, wenn man auf die rechte Weise liebt, indem man nicht sein Eigenes sucht, man in der Liebe zu einem Menschen sucht, ihm zu helfen, allein zu stehen, damit er selbständig wird. Dabei soll er nicht merken, dass ihm geholfen wird und er so in Schuld und in einem Abhängigkeitsverhältnis steht, in dem er direkt oder indirekt Anerkennung

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verlangen wird. Der wahre Liebende, der nicht sein Eigenes sucht, bleibt in der gegebenen Hilfe auf eine Weise inkognito, dass er sagen kann: „Nun steht dieser Mensch allein – durch meine Hilfe“, welche nicht die Projektion oder das Bild ist, das in ihm auf selbstische Weise gesetzt werden will. Indem die Hilfe maieutisch ist, ist die Liebe immer eine Verdoppelung in sich selbst, also eine Verdoppelung nach außen und nach innen, ein Herausgehen und ein Zurückkehren, ein Empfangen des eigenen Gebens (LT, 309). Die Gegenseitigkeit in der Beziehung hängt von dieser Bewegung ab, welche aus der Tätigkeit des Handelnden entspringt. Das heißt, die Art und Weise, wie man liebt und für die anderen da ist, spiegelt sich im Inneren des handelnden Menschen wieder. So gesehen ist die Gegenseitigkeit mehr als die Erwiderung des anderen: „Was der Liebende tut, das ist er, oder das wird er; was er gibt, das hat er, oder richtiger, das empfängt er“ (310). In dieser Verdoppelungsbewegung „deckt“ die Liebe „der Sünden Mannigfaltigkeit“, d. h. sie „entdeckt“ nicht das Böse oder sieht von ihm trotz seiner Anwesenheit ab. Dieser Aspekt des Absehens oder Deckens steht, wie dargestellt wurde, im Zusammenhang mit dem Aspekt des Sehens. Den anderen liebend zu sehen ist etwas anderes als das Sehen seiner Defekte. Entdeckt man sie nicht, hat man nur Augen für die Möglichkeit des Guten oder wie Kierkegaard sagt „Verstand für das Gute“ (315).164 Es ist nicht so, dass die Mannigfaltigkeit der Sünde nicht gesehen oder von ihr gehört werden kann. Es geht um die Haltung des Liebenden, welcher trotz des Sehenkönnens der Mannigfaltigkeit der Sünde über sie hinwegsieht und sie verschweigt, stets bereit ist zu vergeben, und sie so deckt. „Wie man nun durch den Glauben das Unsichtbare zu dem Sichtbaren hinzuglaubt, ebenso glaubt der Liebende durch die Vergebung das Sichtbare hinweg“ (325). Anders formuliert: „[I]ndem dasjenige, was man sieht, vergeben wird, sieht man es nicht“ (326). Wie soll hier die Vergebung verstanden werden? Vergebung ist der Akt der Wiederherstellung einer zerbrochenen Beziehung seitens desjenigen, demgegenüber das Unrecht begangen worden ist, so wird meistens argumentiert. Wir gehen außerdem davon aus, dass die Wiederherstellung der zerbrochenen Beziehung möglich ist, wenn zwei Bedingungen erfüllt worden sind. Erstens, wenn derjenige, der das Unrecht begangen hat, sein Verhalten tief bedauert und um Vergebung bittet. Und zweitens, wenn die 164 In seiner kritischen Zeitdiagnose stellt Kierkegaard die Moderne als die Zeit der großen Entdeckungen dar. Unter Entdeckung versteht er die normative Tendenz der Zeit, Konsequenzen für das richtige Verhalten aus dem Bösen zu ziehen, „Verstand für das Böse“ zu haben.

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verletzte Person sich auf Grund der Geste des anderen bereit erklärt, das Verhältnis zu ihm wiederaufzunehmen. Die Vergebung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das Vertrauen wiederhergestellt worden ist und das Verhältnis die Chance bekommt, sich weiter positiv zu entfalten. Es kann aber auch eine Vergebung geben, die nicht unbedingt impliziert, dass das Verhältnis in derselben Form wie früher weiter bestehen soll. In diesem Fall sagt man, jemandem wurde vergeben, er hat jedoch das Vertrauen nicht zurückgewonnen. Die Wiederherstellung der zerbrochenen Beziehung ist sozusagen unvollständig. Die Frage ist nun, ob eine solche Vergebung wirklich Vergebung ist. Schließlich sind auch Fälle zu finden, in denen jemandem vergeben worden ist, obwohl er sein Verhalten nicht bedauert und um keine Vergebung bittet. Die Vergebung ist hier ein Bedürfnis seitens des Verletzten. Obwohl verletzt, versteht er, dass Menschen Fehler machen können. Er kann die mit dem geliebten Wesen gemeinsam erlebte Zeit nicht einfach in Luft auflösen, so dass seine Liebe ihn dazu bewegt, zu vergeben. Er sagt natürlich nichts und hofft, dass das geliebte Wesen eines Tages zurückkommt und sich versöhnen will.165 Die drei beschriebenen Fälle zeigen, dass die Vergebung die Wiederherstellung 165 Die Distinktion zwischen einer bedingten und einer unbedingten Vergebung, auf die Derrida in letzten Jahren aufmerksam gemacht hat, ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig (vgl. J. Derrida Le Sicle et le Pardon in ders. Foi et Savoir. Suivi de le Sicle et le Pardon, Paris 2001; ders. Justice et Pardon in ders. Sur Parole. Instantans philosophiques, La Tour-d’Aigues 1999). Die bedingte Vergebung hängt von der Reue und anderen Gesten des anderen ab, wie im ersten Fall beschrieben worden war. Erst wenn die Bedingungen erfüllt worden sind, wird die Vergebung erteilt. Es ist einfach zu sehen, dass die bedingte Vergebung beschränkt ist, weil sie immer von der Reaktion des anderen abhängt. Wenn dieser andere sich nicht äußert und gleichgültig bleibt, findet keine Vergebung statt und der Verletzte ist nicht im Frieden. Natürlich ist eine Vergebung, die aus einer tiefen und redlichen Reue seitens des Ungerechten entsteht, wünschenswert und fördert die Wiederherstellung der zerbrochenen Beziehung, der Selbstschätzung des Verletzten und der Normalität im Leben. Aber wenn es keine Reue gibt, was denn? In diesem Fall ist die unbedingte Vergebung die einzige Lösung, um Frieden im Leben zu erreichen. Es wird einfach unabhängig von der Haltung und Reaktion des Ungerechten vergeben. Es handelt sich um eine Vergebung, die alles vergibt, die das vergibt, was nicht vergebbar ist und so etwas Paradigmatisches wird. Sie ist die Vergebung des Unvergebbaren. Diese Grundidee wird auch von Jankélévitch vertreten, wenn er von einer absoluten Vergebung spricht, die nötig ist, wenn es keine Gründe zum Vergeben gibt (vgl. V. Jankélévitch L’imprescriptible. Pardonner? Dans l’honneur et la dignit, Paris 1986). Sollte Vergebung nur Vergebung des Vergebbaren sein, dann wird sie früher oder später zum Ungenügen führen, wenn sie mit Grenzsituationen zu tun hat, bei denen es keine Person gibt, die aufrichtig um Vergebung bittet.

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einer zerbrochenen Beziehung nicht notwendigerweise bedeutet. Alles kann gut gelingen und wieder wie früher sein, ja sogar besser. Andererseits kann es unmöglich sein, das Vertrauen wieder zu gewinnen, um somit endgültig von Vergebung sprechen zu können. Oder das Hoffen auf die Möglichkeit des Wiedertreffens mit dem geliebten Wesen, das das Unrecht begangen hat, ist da und man steht in Erwartung. Es ist dann vielleicht zutreffender zu behaupten, dass die Vergebung ein Akt der Wiederherstellung eines Friedenszustandes ist.166 Wenn ich aus welchen Gründen auch immer vergebe, tue ich das um des Friedenszustandes willen. Dies ist nämlich was die Liebe fordert, das tiefe Bedürfnis zu haben, den Zustand des Friedens wiederherzustellen. Ich denke, Kierkegaard ist von diesem Verständnis der Forderung der Liebe nicht so weit entfernt. Er versteht die Vergebung als die Wiederherstellung der zerbrochenen Beziehung und sieht ihren Ursprung aufseiten des Liebenden in Form eines Doppelkampfes – im Äußeren und Inneren – um den „Sieg der Versöhnlichkeit in Liebe, welche den Überwundenen [den Lieblosen – SMF] gewinnt“ (Rede VIII, zweite Folge). Diesen Sieg der Versöhnlichkeit in Liebe interpretiere ich als die Wiederherstellung jenes Friedenszustandes. Um uns darüber klar zu werden, müssen wir zunächst genau sehen, wie Kierkegaard sich diesen Doppelkampf vorstellt. Der Kampf um den Sieg der Versöhnlichkeit in Liebe ist, wie im Fall der Selbstwahl, ein Kampf, in dem etwas erobert wird, das allein durch seinen Besitz bewahrt werden kann. Und das heißt, dieser Kampf ist ein ununterbrochenes Tätigsein, in dem der Besitz „ein stetes Erwerben“ ist (EO2, 140). Bei der Versöhnung geht es um Erobern und Besitzen und in jedem von diesen Momenten findet jeweils ein Kampf statt. Kierkegaard präzisiert dieses Bild eines Doppelkampfes, wenn er sagt, die Versöhnung resultierte nicht aus einem ersten Sieg – aus dem Erobern –, sondern aus einem weiteren Sieg – aus dem Besitzen. Der Überwundene wird gewonnen – und so verhält es sich bei jedem Sieg im Leben –, wenn man im Kampf bleibt und fest steht. Bleibt man nicht im Kampf, läuft man Gefahr das zu verlieren, was man gewonnen hat. Dies kann anhand von einem einfachen Beispiel gut dargelegt werden. Wenn in einem Krieg eine Armee ein Gebiet mit Mühe erobert und nicht die entsprechenden Maßnahmen trifft, um den Feind fernzuhalten, ist zu erwarten, dass der Feind zurückkommt, um sein Gebiet zurückzuerobern, und dass ihm dies gelingen kann. Die Armee hat in dem Kampf die Grenze erreicht, sie jedoch durch das Bewahren des Gewonnenen nicht überwunden. Nun haben das Er166 Vgl. dazu P. Ricœur Wege der Anerkennung, a.a.O., S. 276ff.

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obern und das Besitzen in der Liebe freilich ein anderes Ziel, nämlich durch Vergebung die zerbrochene Beziehung wiederherzustellen. Die Liebe will Versöhnung, darum kämpft sie. Wie findet dieser Doppelkampf statt? Gehen wir Schritt für Schritt vor und beginnen wir mit dem ersten Kampf. Die Anfangssituation ist eine zerbrochene Liebesbeziehung. Für Kierkegaard beschäftigt sich der wahre Liebende nicht mit der Überlegung darüber, ob der Lieblose vergebungswürdig ist, ob der Lieblose zuerst sein falsches Verhalten tief bedauern müsste und um Vergebung bitten müsste, ob der Lieblose schließlich die Versöhnung wollen sollte oder nicht. Der wahre Liebende konzentriert sich auch nicht auf das empfundene Leiden und den Schmerz, er hat keine Zeit für die Trauer. Er beginnt sofort zu handeln. Denn wenn die Liebe in seinem Inneren liegt und ihn bewegt, hat er das Bedürfnis zu vergeben. „[W]er bedarf denn der Vergebung: der Unrecht getan hat, oder der Unrecht gelitten hat?“ (LT, 369). Beide bedürfen ihrer und deshalb soll der Liebende nicht warten, bis der Lieblose zum Bewusstsein seiner Bedürftigkeit kommt, um sich mit ihm versöhnen zu können. Was Kierkegaard genau meint, ist, dass man in der Liebe stets unterwegs zum anderen ist, um ihm zu helfen, um sich um ihn zu sorgen, um ihn zu achten, um ihm zu vergeben, bevor er um Hilfe, Fürsorge, Achtung und Vergebung bittet. Liebe ist stets ein Zustand der Anerkennung des anderen, dessen Ausgangspunkt beim Anerkennenden liegt. Kehren wir zum ersten Kampf zurück. Bei diesem Kampf geht es wie angedeutet wurde noch nicht um Versöhnung, sondern darum, das Böse mit dem Guten zu überwinden, aus dem Lieblosen einen Überwundenen zu machen. Die Eroberung, die dieser Kampf darstellt, ist der Sieg des Guten im Liebenden selbst. Sein Kampf hat als Ziel, dass die Liebe in ihm bleibt und ihn zum anderen hin bewegt. Der Liebende kann natürlich den Kampf verlieren und vom Bösen überwunden werden. Der Betrug, die Gleichgültigkeit, die zugefügten Schäden seitens des Lieblosen können so schmerzhaft gewesen sein, dass der Liebende den Kampf und damit die Liebe aufgibt. Freilich könnte die Welt ihn gut verstehen, denn was kann der Liebende dafür, dass ihm Unrecht getan wurde, und dass der Lieblose keine Versöhnung will? Mit seiner Haltung würde er aber zeigen, dass er nicht der Liebende war, dass in ihm keine Liebe war.167 Das Bedürfnis zu 167 „Vergebung bedeutet die Wiederaufrichtung einer zerbrochenen Beziehung. Aber unter dieser zerbrochenen Beziehung ist ein Zusammenhang, den auch der, der die Macht hat zu vergeben, anzuerkennen sich weigern kann. Mit einem Ausdruck aus der Phnomenologie des Geistes läßt sich dies ,die Kontinuität mit den andern‘ nennen“ (vgl. A. Grøn Liebe und Anerkennung, a.a.O., S. 107).

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vergeben, die Bedingung des Sieges der Versöhnlichkeit in der Liebe, hätte er nicht empfunden und es hätte ihn nicht zum anderen bewegt. Der wahre Liebende setzt hingegen die Liebe im anderen voraus und bleibt in der Liebe kämpfend. Kierkegaard geht davon aus, dass der Liebende in dem ersten Kampf siegt und den Lieblosen zum Überwundenen macht, also dass es dem Liebenden gelungen ist, zu vergeben. So wie im Krieg der erste Sieg eine feste Grundlage ist, auf die man bauen kann, ist in der Liebe die Vergebung die feste Grundlage der Wiederherstellung der zerbrochenen Beziehung. Das ist die neue Situation. Hat der Liebende deshalb den Überwundenen gewonnen? Nein, es fehlt wie gesagt die Versöhnung, d. h. der zweite Kampf. „Nun verändert das Verhältnis sich; von nun an wird wahrhaft offenbar, daß der Liebende mit im Kampfe ist; denn er kämpft nicht bloß dafür, daß das Gute in ihm selbst bleibe, sondern er kämpft versçhnlich dafür, daß das Gute in dem Lieblosen siege, oder er kämpft dafür, den berwundenen zu gewinnen. Das Verhältnis zwischen den beiden ist also nicht mehr ein unmittelbares Streit-Verhältnis, denn der Liebende kämpft auf Seiten des Feindes für dessen Vorteil, er will die Sache des Lieblosen durchkämpfen bis zum Sieg“ (367 – 368). „Schau, das kann man einen Liebeskampf nennen oder einen Kampf in Liebe! Mit Hilfe des Guten gegen den Feind kämpfen – das ist lobenswert, ist edel; aber fr den Feind kämpfen – und gegen wen? gegen sich selbst, wenn man so will: das ist, ja, das ist liebevoll, oder das ist Versöhnlichkeit in Liebe!“ (368). Die Anerkennung beginnt ein Bedürfnis zu sein, das auf Grund der Gegenseitigkeit nicht motiviert wird, sondern dadurch, dass man die Ansprüche und Interessen des anderen gegen sich selbst unabhängig davon gelten lässt, ob der andere sie anerkennt oder ausdrücken will. Die Anerkennung hört damit auf, von dem expressiven Akt des anderen abzuhängen. Das Bedürfnis nach Vergebung auf die Seite des Verletzten, des Liebenden, fallen zu lassen, ist konsequent mit der Anerkennungsbewegung, die Kierkegaard in seiner Darstellung zur Geltung bringt. Bezieht die Anerkennung sich nur auf mein Bedürfnis und wird sie eine Forderung am anderen, ohne dass ich das Bedürfnis beim anderen auch anerkenne, dann handelt es sich nicht um wahre Anerkennung, welche vielmehr verlangt, den anderen als jemanden mit Ansprüchen und Interessen zu sehen. Anbei kann problematisch sein, dass das Geltenlassen der Ansprüche des anderen gegen sich selbst mit dem Geltenlassen der eigenen Ansprüche gegen den anderen nicht einhergeht. Wenn bei Hegel die Anerkennung scheitern kann, da der Herr eine Anerkennung verlangt, ohne die Ansprüche des Knechts gegen sich selbst zur

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Geltung zu bringen, d. h. da er vom jemanden anerkannt werden will, den er nicht anerkennt,168 so könnte auch die Anerkennung in der unbedingten Vergebung scheitern, weil jemand – der Lieblose – anerkannt wird, der den anderen – den Liebenden – nicht anerkennt. „Es ist dadurch“, so Hegel, „ein einseitiges und ungleiches Anerkennen entstanden“.169 Kierkegaard glaubt diese Schwierigkeit zu überwinden, indem er erstens die Anerkennung von der Gegenseitigkeit und der Erwiderung des anderen nicht abhängen lässt, und zweitens aus der Anerkennung des anderen einen Akt macht, durch den der Anerkennende sich selbst anerkennt. Es gibt eine faktische Anerkennung des anderen, selbst wenn er nicht danach verlangt oder sie will. Eine solche einseitige Anerkennung des anderen kann nicht scheitern, wie das im Verhältnis des Herrn zum Knecht der Fall ist, weil das Anerkennen und Geltenlassen der Ansprüche und Interessen des anderen gegen sich selbst zu meinen eigenen Ansprüchen und Interessen beiträgt – die Liebe fördert das, so haben wir es oben gesehen, was für die geliebte Person gut ist und so fördert sie etwas, das für den Liebenden auch gut ist. Den anderen auf diese Weise anzuerkennen, spiegelt sich in sich selbst und im Selbstverhältnis positiv wieder: Vergeben und Versöhnen bedeuten, mit sich selbst zufrieden zu sein, die Selbstschätzung wieder herzustellen, sich auf sich selbst gegenüber den anderen zu stützen. Gleichzeitig entsteht jedoch ein Problem bei dieser einseitiger Anerkennung der unausgedrückten Ansprüche und Interessen des anderen: Wenn der andere sich nicht äußert, auf welchen Kriterien kann man sich dann stützen, um das anzuerkennen, was zum Wohlbefinden des anderen beiträgt? Woher weiß man, was der andere braucht? Besteht nicht die Gefahr einer Entäußerung des anderen? Kierkegaard glaubt, eine Antwort darauf in der Präzisierung der Art des zweiten Kampfes, der mit der Vergebung beginnt, zu finden. Der Lieblose, so lautet die Aufgabe, soll für das Gute gewonnen werden. Eine solche Aufgabe kann aber nur erfüllt werden, wenn der Liebende gleichzeitig ein Meister – ein Mitteiler – ist. Wir haben schon gesehen, was das genau bedeutet, welche Struktur die indirekte Mitteilung hat, und mit welchen Schwierigkeiten der Mitteiler zu kämpfen hat. Um dies noch einmal kurz zu benennen: Die indirekte Mitteilung ist die Mitteilung dessen, was unkommunizierbar ist, genau gesagt dessen, was permanent im Werden ist und seinen Ursprung in der Innerlichkeit des Existierenden hat. Bei der indirekten Mitteilung geht es wesentlich darum, dem anderen zu helfen, frei zu werden, wofür der 168 Vgl. dazu G. W. F. Hegel Phnomenologie des Geistes, a.a.O., S. 151ff. 169 Ebd., S. 152.

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Mitteiler die Kunst beherrschen muss, sich in der Mitteilung auf eine Art unsichtbar zu machen, dass er inkognito bleibt.170 Gleichzeitig muss er auch reduplizieren können, mit dabei in dem sein, was er mitteilt. So ist im Fall der Wiederherstellung einer zerbrochenen Beziehung das Verhältnis des Liebenden zu dem Lieblosen maieutisch bestimmt. Der Liebende, der seine Aufgabe gut versteht, weiß, dass er dem Lieblosen nicht direkt mitteilen kann, dass ihm bereits vergeben worden ist, dass die Vergebung und die Versöhnung auf ihn warten. Der Liebende muss vielmehr alles unternehmen, damit der Lieblose zum Bewusstsein seiner Bedürftigkeit und seiner Schuld kommt und die Versöhnung will. Denn der Überwundene – der Lieblose – soll sich nicht überwunden wissen, sondern den Akt, durch den er um Vergebung bittet, als eine Tat seiner Freiheit verstehen. Warum ist so ein großes Verständnis für den Lieblosen notwendig? Kierkegaard gibt folgende Erklärung: Wer in einem Kampf überwunden wird, empfindet meistens eine Demütigung. Mit dem Sieger will er nichts zu tun haben, weil die Anwesenheit des Siegers sein Gefühl der Demütigung stärkt. Er kann sogar Scham empfinden und sich lieber in sich selbst verbergen. In der Liebe ist das Wissen um die Vergebung mit einem demütigenden Gefühl gleichzusetzen und das will der Liebende mit seinem Schweigen verhindern. Falls es ihm je gelingt den Lieblosen dazu zu führen, die Vergebung zu empfangen und die Beziehung zu ihm wiederaufzunehmen, soll die wiederhergestellte Beziehung frei von Demütigung sein. Auf eine andere Art ist jedoch die Beziehung nicht frei von Demütigung. Im liebenden Kampf, in dem der Überwundene für das Gute gewonnen wird, nimmt der Liebende sich nicht als Sieger wahr, sondern verweist den Sieg auf eine andere Instanz. Diese Instanz ist ein positives Drittes, so haben wir es gesehen, auf dem das Verhältnis gründet und das es trägt: „Dieses Dritte, welches die Denker die Idee nennen würden, ist das Wahre, das Gute, oder richtiger das Gottesverhältnis […] Mit Hilfe des Dritten, welches der Liebende zwischen sie eingeschoben hat, sind sie beide gedemütigt: denn der Liebende demütigt sich vor dem Guten, dessen geringer Diener er ist, und zwar, wie er selbst eingesteht, in Gebrechlichkeit; und der Überwundene demütigt sich nicht vor dem Liebenden, sondern vor dem Guten. Aber wenn in einem Verhältnis zwischen zweien beide gedemütigt sind, so liegt darin ja nichts Demütigendes für den einen von ihnen“ (372 – 373). Der Kampf um den Sieg der Versöhnlichkeit in Liebe ist, so mein Vorschlag, ein Kampf um den Friedenszustand. In diesem Kampf kann der 170 Vgl. dazu H. Diem, a.a.O., S. 18.

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wahre Liebende nicht verlieren, wenn er die Forderung der Liebe erfüllt und in Liebe kämpfend bleibt. Selbst wenn er den Überwundenen nicht für das Gute gewinnen kann, ist er mit ihm versöhnt, in Frieden mit sich selbst. Und das ist der authentische Sinn der Vergebung. Es bleibt noch eine Frage offen, die wir zu klären haben, und zwar ob der Liebeskampf nur einseitig bestimmt ist. Dass die Liebe keine Gegengabe kennt, wird in der Formulierung der Forderung der Liebe immer wieder betont. Dies bedeutet aber nicht, dass es keine Gegengabe geben kann. Die Gegengabe ist eine – wenn auch vom Liebenden nicht verlangte – Konsequenz der gegebenen Liebe. Durch Vergebung und Versöhnung wird der Lieblose nicht nur für das Gute gewonnen. Er wird auch Geber. Die Einseitigkeit fundiert die Gegenseitigkeit – unter der Voraussetzung, dass die Wiederherstellung der zerbrochenen Beziehung gelingt. Und dies gilt auch für jede Art von Liebesbeziehung, die keinen Bruch erlitten hat: Dass der Liebende empfängt was er gibt. Es findet ein Liebesdialog statt: Denn wenn der Überwundene fragt: „Hast du mir nun auch vergeben?“ so antwortet der Liebende: „Liebst du mich nun wirklich?“ Aber dann antwortet er ja nicht auf das, was gefragt wird. Nein das tut er nicht, dazu ist er zu liebevoll, er will gar nicht auf die Frage nach Vergebung antworten; denn dieses Wort, besonders falls Nachdruck darauf gelegt würde, könnte die Sache leicht im schädlichen Sinne zu ernsthaft machen. Wunderliches Gespräch! Es ist ja gleichsam kein Sinn in ihm, der eine fragt ja dahin, und der andere antwortet dorthin: und dennoch sprechen sie, ja das versteht die Liebe, dennoch sprechen sie von ein und demselben. Aber der Liebende behält das letzte Wort. Denn es wird wohl eine Zeitlang zwischen ihnen hin und her gehen, so daß der eine sagt: „Hast du mir nun auch wirklich vergeben“, und der andere antwortet: „Liebst du mich nun auch wirklich“. Doch schau, niemand, niemand kann es mit einem Liebenden aufnehmen, nicht einmal der, welcher nach Vergebung fragt. Zuletzt wird er es sich abgewöhnen, nach der Vergebung zu fragen (376 – 377).171

171 Vergeben ist nicht mit dem Vergessen des Angetanen zu verwechseln, wie es Derrida sehr schön ausdrückt: „Pour que pardon il y ait, il faut que l’irréparable soit rappelé ou qu’il reste présent, que la blessure reste ouverte. Si la blessure est atténuée, cicatrisée, il n’y a plus de place pour le pardon. Si la mémoire signifie le deuil, la transformation, elle est elle-même déjà oubli. Le paradoxe terrifiant de cette situation, c’est que pour pardonner il faut non seulement que la victime se rappelle l’offense ou le crime, mais que ce rappel soit aussi présent à la blessure qu’au moment a été faite“ (vgl. J. Derrida Justice et Pardon, a.a.O., S. 136 – 137).

4. Innerlichkeit und Intersubjektivität

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4. Innerlichkeit und Intersubjektivität Das Verweisen des Verhältnisses auf Gott als Instanz zeigt, dass die einseitige, radikale Forderung an den Einzelnen, in allen Menschen den Nächsten zu sehen und anzuerkennen, die Gegenseitigkeit nicht ausschließt. Denn die Anwesenheit des Dritten im Liebesverhältnis macht darauf aufmerksam, dass ich mir das, was ich einem anderen antue, auch selbst antue: Gebe ich Liebe, empfange ich sie; urteile ich, werde ich verurteilt; liebe ich den Nächsten, werde ich sein Nächster; vergebe ich, wird mir vergeben.172 Hier ist die Bewegung der Liebe etwas anderes als die menschliche Gerechtigkeit des gleich um gleich oder als die Übereinstimmung des Handelns mit einem obersten Prinzip der Moralität.173 Die Handlung ist eine innere Handlung, so dass nicht mehr wichtig ist, wie die anderen handeln, sondern wie ich handle: Das jüdische, das weltliche, das geschäftliche gleich um gleich ist dies: Achte unbedingt darauf, daß du gegen die andern das gleiche tust wie sie gegen dich. Aber das christliche gleich um gleich ist dies: wie du gegen andere handelst, ganz ebenso handelt Gott gegen dich. […] Du hast nur mit dem zu tun, was du gegen andere tust, oder damit, wie du aufnimmst, was andere gegen dich tun; die Richtung geht nach innen hin, du hast wesentlich nur mit dir selbst vor Gott zu tun (LT, 420).

Die Bewegung ist aber nicht nur nach innen, sondern auch nach außen gerichtet, und beide Bewegungen bestimmen sich gegenseitig, indem die Innerlichkeit nur im Verhältnis zum anderen fortgesetzt werden kann. In 172 Für Grøn „[zeigt] [d]ie Radikalität in der Gegenseitigkeit sich nun darin, daß sie nicht erst in der gegenseitigen Anerkennung zu etablieren ist. Die Gegenseitigkeit ist schon im voraus da“ (vgl. A. Grøn Liebe und Anerkennung, a.a.O., S. 102). Und das heißt, sie ist durch die falsche Anerkennung des anderen wahrnehmbar. Dass die Einseitigkeit der Forderung die Gegenseitigkeit nicht ausschließt, wird offenbar, wenn man sich bewusst ist, dass, was man anderen tut, man sich selber tut: „Durch die Beziehung zu einem anderen, der mich sieht, sehe ich mich selbst. Das aber erfordert, daß ich selbst den anderen sehe“ (ebd., S. 103). In der Zwischenbestimmung findet die Gegenseitigkeit statt, indem das Dritte sich zu beiden Seiten des Verhältnisses verhält: „ ,Das Dritte‘ betrifft jedoch nicht bloß die Forderung, sondern auch das Verhältnis selbst. Das Verhältnis ist schon gegenseitig in dem Sinne, daß das, was man dem anderen gegenüber tut, auch gegen sich selbst tut. Von Anfang an weist Der Liebe Tun auf den Umstand hin, daß das Selbstverhältnis des Einzelnen und das Verhältnis zum anderen miteinander verwickelt sind“ (A. Grøn Gegenseitigkeit in Der Liebe Tun? in N. J. Cappelørn / J. Stewart (Hg.) Kierkegaard Revisited: Proceedings from the Conference „Kierkegaard an the Meaning of Meaning It“, Copenhagen, May 5 – 9, 1996, Berlin/New York 1997, S. 223 – 237). 173 I. Kant Grundlegung der Metaphysik der Sitten, a.a.O. (IV 389ff.).

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II. Liebe und Anerkennung

diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig wie Pia Søltoft zu fragen, „ob das, was der eine mit dem anderen tut, indem er etwas mit sich selbst tut, auch Bedeutung hat, für das, was der andere mit dem einen tut? Ist die Doppelbewegung nur eine Bewegung in dem einzelnen Menschen oder ist sie auch eine Intersubjektivitätsbewegung, die für beide einbezogenen Partner Bedeutung hat?“.174 Kierkegaard argumentiert die ganze Zeit so stark in Bezug auf den Einzelnen, der zur Liebe verpflichtet wird, dass man diese Fragen nur positiv beantworten kann, indem man davon ausgeht, dass der andere durch die empfangene Liebe ebenfalls zur Liebe verpflichtet wird. Am Anfang ist die Doppelbewegung nur eine Bewegung in dem einzelnen Menschen, der dafür kämpfen muss, das Selbstische zu transzendieren, um zum anderen als einem Nächsten zu gelangen. Sie wird aber auch eine Intersubjektivitätsbewegung, da der andere durch die gegebene Liebe zur Liebe geführt wird. Die Aufgabe des Einzelnen besteht in einem ersten Schritt darin, dem anderen zum Gottesverhältnis zu verhelfen, und wenn das gelingt, wird der Einzelne für den anderen das, was der andere für den Einzelnen von Anfang an war. So ein Verhältnis wird absolut frei, da die Partner sich zueinander Liebe gebend und empfangend verhalten, ohne einen gegenseitigen Anspruch zu verlangen.175 Was Kierkegaard ständig betont, ist, dass eine solche Liebe zum anderen nicht durch einen Vorteil für einen selbst motiviert ist, dass dem anderen zum Gottesverhältnis zu verhelfen, nicht mit der Erwartung zusammenhängen soll, dank des Gottesverhältnisses vom anderen anerkannt zu werden. Das Gottesverhältnis hat im Liebesverhältnis Vorrang, was nicht heißt, dass der Einzelne sich um die Lebensentfaltung des anderen auf besondere Weise nicht Sorgen macht. Seine Aufgabe besteht darüber hinaus darin, am Leben des anderen positiv teilzunehmen. Und das heißt wiederum nicht, dass die Intersubjektivität nur von einem Teil des Verhältnisses abhängt. Es ist nicht die Rede davon, dass es genüge, jemanden auf die rechte Weise zu lieben, damit ein intersubjektives Verhältnis entsteht. Denn ich kann jemanden gemäß der Forderung der Liebe lieben und es kann sein, dass meine wahre Liebe zu ihm ihm nicht hilft frei zu werden, dass er sich nicht versöhnen lässt. Bedeutet dies, dass dieses Verhältnis kein intersubjektives Verhältnis ist? 174 Vgl. P. Søltoft Den Nchsten kennen heißt der Nchste werden. ber Ethik, Intersubjektivitt und Gegenseitigkeit in Taten der Liebe, a.a.O., S. 90. 175 Das ist es auch, was Ricœur in Anlehnung an Kierkegaard meint: „da Vergleichen ihr fremd ist, hat die Agape einen Blick ,für den Menschen, den man sieht‘; die Unermesslichkeit der Liebe macht die Beziehung zu einem ,Wechselverhältnis‘, das ,von beiden Seiten unendlich‘ ist“ (vgl. P. Ricœur Wege der Anerkennung, a.a.O., S. 277). Vgl. auch dazu E. Fromm Die Kunst des Liebens, a.a.O., S. 33ff.

4. Innerlichkeit und Intersubjektivität

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Nein, es bedeutet nur, dass die Intersubjektivität ihre wahre Form noch nicht erreicht hat. Das Medium der Intersubjektivität besteht, da der Liebende in der Liebe bleibt; das Verhältnis ist aber nicht vollständig.176 Ist es ein Widerspruch, an die Möglichkeit des Guten zu glauben und daran festzuhalten? Diese Frage führt zu einer Reihe von Problemen, die ich teilweise zu beantworten versuchen möchte. Kierkegaards Lehre von der Liebe kann sehr problematisch sein, wenn die Liebe auf die Bewegung nach innen reduziert oder wenn die Forderung zu radikal verstanden wird.177 Ich vertrete die These, dass der Sinn der Radikalität, mit der Kierkegaard die Forderung darlegt, missverstanden wird, wenn in Folge der Radikalität übersehen wird, dass die Forderung als ein Korrektiv gegen die negative Form der Gegenseitigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu verstehen ist. Dass der Sinn der Radikalität oft missverstanden wird, verdankt sich freilich der starken Ausdifferenzierung zwischen zwei konkurrierenden Liebesauffassungen – der menschlichen und der christlichen –, mit der Kierkegaard operiert und die 176 Liebe bleibt und sie – die Liebe Gottes – bleibt, da sie das Dritte im Verhältnis ist, welches das Verhältnis trägt. Man mag zwei Aspekte wiederum berücksichtigen, welche zum Verständnis der Bewegung der Liebe beitragen können: Zum einen bemerkt Kierkegaard, was das Ziel seines Unternehmens sei: „[I]n dieser kleinen Schrift handeln wir ständig nur vom Tun der Liebe, und deshalb nicht von Gottes Liebe, sondern von menschlicher Liebe“ (LT, 332), also davon, auf welche Weise man lieben soll. Zum anderen wird der normative Charakter der Liebe hervorgehoben: „Wenn wir in Bezug auf menschliche Liebe davon sprechen, daß Liebe bleibt, so zeigt sich leicht, daß dies ein Tun ist, oder daß es nicht eine ruhende Eigenschaft ist, welche die Liebe als solche besitzt, sondern eine in jedem Augenblick erworbene Eigenschaft, die zugleich, in jedem Augenblick, da sie erworben wird, wieder ein wirkendes Tun ist“ (333). In der Liebe zu bleiben bedeutet ununterbrochen tätig zu sein, sich jederzeit zur Liebe zu verhalten. Wenn Kierkegaard sagt, dass Liebe ein Verhältnis zwischen dreien – zwischen MenschGott/Liebe-Mensch – ist, und dass Liebe bleibt, dann will er sagen, dass Liebe in diesem Tun etwas Beständiges ist, an das man sich stets halten kann. Sich der Liebe bewusst zu entziehen ist nicht möglich, das ist Selbstbetrug und Verzweifeltsein. Denn die Liebe trägt alle Verhältnisse und bezieht sie alle zueinander. Der wahre Liebende kann damit nicht aufhören zu lieben, sogar im Fall eines Bruchs bleibt er in der Liebe, weil das Dritte bestehen bleibt. Ein Bruch symbolisiert den „Abfall von ,der Liebe‘“ eines Teils des Verhältnisses, nicht aber, dass die Liebe aufhört. 177 „Oft wird Kierkegaards ethische Akzentuierung der Selbstbeziehung – daß das Ethische den Einzelnen als den Einzelnen aussondert – so verstanden, daß es um eine Innerlichkeit ohne Welt und eine Subjektivität ohne Intersubjektivität geht“ (vgl. A. Grøn Anerkennung und Mitteilung. Die Frage der Ethik zwischen Hegel und Kierkegaard, Manuskript 2005. Spanische Übersetzung Reconocimiento y comunicacin. La tica entre Hegel y Kierkegaard in Estudios de Filosof a 32, 2005).

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II. Liebe und Anerkennung

zu verstehen gibt, dass es eine unversöhnliche Kluft zwischen beiden Liebesauffassungen gibt. Die Kritiken von Adorno und Løgstrup an Kierkegaards Lehre von der Liebe sind Beispiele dafür. Ich finde es sinnvoll, die zentralen Argumente beider Autoren kurz zu rekonstruieren, um ein besseres Verständnis der Forderung der Liebe zu gewinnen. Adornos Kritik zielt auf drei inhaltliche Probleme in der Bestimmung der Forderung der Liebe ab. Zum einen behauptet er, dass „[d]as Objekt der Liebe in gewissem Sinne gleichgültig [wird]“, da die christliche Liebe die Unterschiede zwischen Menschen, d. h. ihre „Beschaffenheit“, ihre partikuläre Form, in der Welt zu sein, nicht berücksichtigt. „Die Unterschiede zwischen den individuellen Menschen und die Unterschiede der realen Verhaltensweise des Einzelnen zu den Menschen reduzieren sich zu bloßen ,Differenzbestimmungen‘, die im christlichen Sinn gleichgültig sein sollen, da es in ,diesem Menschen‘ stets nur auf ,das Menschliche‘ ankomme, wie es in diesem bestimmten Menschen sich offenbart. […] Der andere Mensch wird für die Liebe das, was in Kierkegaards Philosophie die ganze äußere Welt ist, ein bloßer ,Anstoß‘ für die subjektive Innerlichkeit. Diese kennt eigentlich keine Objekte: die Substantialität der Liebe ist objektlos“.178 Zum anderen stellt Adorno den Sollenscharakter der Forderung der Liebe in Frage, die nach seiner Interpretation ein Verhalten ohne Berücksichtigung der konkreten Lebensumstände verlangt: „Jede ,Vorliebe‘ wird mit einem Rigorismus, der nur mit der Kantischen Pflichtethik verglichen werden kann, ausgeschlossen. […] So wird etwa dem Liebenden zugemutet, er solle gegen alle Vernunft – genauer: gegen alle psychologische Erfahrung, gegen alle Menschenkenntnis, die als weltlich verpönt ist – den Glauben an den einmal geliebten Menschen festhalten, auch wenn diesem Glaube jeder objektive Grund entzogen wurde. Ein großartiger Widerstand gegen den Weltlauf ist darin so deutlich wie die Transformation von Liebe in bloße Innerlichkeit“.179 In dieser Bewegung der Innerlichkeit würde daher eine Entwertung des Geliebten sowohl als Objekt als auch als Subjekt stattfinden, weil die Gegenliebe keine Sache der Liebe mehr ist. Für Adorno „[grenzt] [d]iese Dialektik der Liebe an Lieblosigkeit“,180 sie stellt die „Brechung der Natur“, die „Brechung jeglichen Selbstinteresses“ dar.181 So gesehen wäre die Liebe, wie Kierkegaard sie versteht, die Negation der Liebe und aller ihrer 178 179 180 181

Vgl. T. W. Adorno Kierkegaards Lehre von der Liebe, a.a.O., S. 219. Ebd., S. 220. Ebd., S. 221. Ebd., S. 220.

4. Innerlichkeit und Intersubjektivität

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Manifestationen, und noch mehr, sie wäre die Forderung nach einer Blindheit gegenüber dem anderen, eine Blindheit, die den Liebenden vernichtet: „Weil Liebe nicht gesollt werden kann, deshalb sollst du lieben: das ist das Absurdum, das ,Schiffbruchleiden der Endlichkeit an der Unendlichkeit‘, das Kierkegaard auch in der Moralphilosophie hypostasiert. Geboten aber um seiner Unmöglichkeit willen, terminiert das Liebesgebot in der Vernichtung der Liebe, der Installierung eines blinden Diktats: aus dem Liebesgebot wird ein bloßes Tabu gegen Vorliebe und natürliche Liebe, ohne eigenen Inhalt, und der Anspruch gegen das Recht zergeht, indem Liebe selber zu einer Sache des bloßen abstrakten Rechts, und wäre es auch Gottes, gemacht wird“.182 Schließlich sieht Adorno ein Problem in der Bestimmung des Nächsten als bloße Erscheinung, dessen Existenz ohne weiteres akzeptiert werden muss. Adorno fragt sich, ob es den Nächsten, so wie Kierkegaard ihn darstellt, noch gibt, ob man sich ohne einen „Begriff der Praxis des wirklichen Lebens als Maß der Nächstenliebe“183 den Nächsten überhaupt vorstellen kann. „Die Beziehungen der Menschen haben sich in der modernen Gesellschaft derart vergegenständlicht, daß weder mehr der Nächste zum je ihm vorkommenden Nächsten länger als für den Augenblick unmittelbar sich verhalten kann, noch die Güte des Einzelnen ausreicht, ihm zu helfen“.184 Diese drei Aspekte der Kritik Adornos sind zentral, und es lohnt sich, sie anhand der dargestellten Rekonstruktion des Liebesbegriffes, wenn möglich, zu widerlegen. Zunächst denke ich nicht, dass Kierkegaard die Liebe genau in dem von Adorno dargestellten Sinne interpretiert. Zum einen haben wir gesehen, dass die Forderung der Liebe, sich über die irdische Verschiedenheit zu erheben, um den Menschen in allen Menschen zu sehen und um so in Gleichheit mit ihnen zu stehen, keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Gegenstand der Liebe ist. Diese Bewegung war zwar nötig, um das Verhältnis zum anderen von einer stark schädlichen Selektivität zu befreien. Die Bewegung konnte aber nur im Verhältnis zum anderen weiter geführt werden. Weder wird gefordert, die Eigentümlichkeit des Gegenstandes der Liebe zu ignorieren oder zu verleugnen, noch sich bloß mit sich selbst im Ausschließen des anderen zu beschäftigen. Die Innerlichkeit ist, so wurde gezeigt, immer eine Bewegung nach innen und nach außen, so dass das Selbstsein als Selbstwerden nur durch die Einbeziehung des anderen in die eigene Selbsttätigkeit möglich ist. Es gibt eine Kontinuität mit 182 Ebd., S. 222. 183 Ebd., S. 224. 184 Ebd., S. 225.

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II. Liebe und Anerkennung

der Welt, die der Einzelne aufrechtzuerhalten hat. Zum anderen ist die Liebe keine Negation der Gefühle oder die „Brechung der Natur“, sondern eine Haltung, die das Sichverhalten zu sich selbst und zum anderen im Verhältnis zu einem Dritten positiv prägt. Diese Haltung haben wir als die Sorge um die Existenz des anderen und um das, was für ihn gut ist, interpretiert. Es wird nicht gesagt, dass man nicht auf besondere Weise lieben soll, sondern, dass in der Liebe zu denjenigen, die wir in Besonderheit lieben, zuerst der Mensch erkannt werden soll, der jeder ist. Es ist daher nicht richtig, zu sagen, dass das, was hier befohlen wird, ein Gefühl ist. Wenn es um ein Gefühl ginge, hätte man in der Tat große Schwierigkeiten, zu rechtfertigen, wie ein Gefühl befohlen werden kann. Es verhält sich eher anders herum: Wenn Liebe befohlen wird, dann wird keine Äußerung eines Gefühls zum anderen, sondern das verantwortliche Daseinwollen für jeden Menschen, den man sieht, gleichermaßen verlangt. In diesem Sinne ist die Liebe unparteiisch. Andererseits bedeutet, dass ich in der Liebe zum anderen zuerst den Menschen liebe, welchen ich sehe, nicht, dass er für mich aufhört, ein konkreter Mensch mit diesen und jenen liebenswerten Eigenschaften zu sein. Sich zu jemandem liebend so zu verhalten, dass man die negative Form der Gegenseitigkeit fern hält oder außer Kraft setzt, muss auch nicht bedeuten, dass man aufhört, man selbst zu sein oder dass man auf die eigenen Interessen oder Lebenspläne verzichtet. In diesem Sinne ist die Liebe eine starke Bindung, Vorliebe. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Vorliebe und Liebe, den Kierkegaard nicht verkennt. Schließlich bleibt das Problem, ob der Nächste nicht eine Abstraktion ist, ob man sich ihn in der modernen Gesellschaft noch vorstellen kann. Diese Frage möchte ich später näher betrachten, wenn wir die Frage stellen, ob die Nächstenliebe mit der Struktur der modernen Gesellschaft vereinbar ist. Auch Løgstrup konzentriert sich in seiner Kritik insbesondere auf das Verhältnis zwischen Liebe und natürlicher Liebe, um die inneren Widersprüche in der Formulierung der Forderung der Liebe Kierkegaards zu zeigen. Das Hauptproblem besteht darin, dass Kierkegaard einen engen Zusammenhang zwischen dem Lebensvollzug und dem Egoismus sieht und die Forderung der Liebe darauf beschränkt, dem anderen zum Gottesverhältnis zu verhelfen. Und das heißt, da Lebensbejahung und Lebensfreude in den Intimbeziehungen zum Egoismus führen können, müssen sie zusammen mit der Eigenliebe zugunsten des Gottesverhältnisses verurteilt werden. Dem anderen irdisch, weltlich und zeitlich zu helfen, ist keine Sache der Liebe. Es stellt sich dann die Frage, „wie Kierkegaard es als Gottes Güte verstehen kann, daß Gott dem Menschen die leidenschaftliche Liebe als Daseinsmöglichkeit gibt, um mit ihrer Hilfe die Liebe zu ihm –

4. Innerlichkeit und Intersubjektivität

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Gott – buchstäblich herauszuquälen“.185 „Das aber ist falsch. Nicht die Freude am Dasein ist etwas Böses, sondern die selbstsüchtige Art und Weise, wie wir die Lebensfreude ausformen, ist zu verurteilen“.186 Dazu kommt, dass für Kierkegaard das vom Einzelnen Ausgerichtete nicht „etwas wert sein [darf]“.187 Denn der Einzelne muss auf alles verzichten, sein Vermögen und sich selbst vor Gott zu nichts machen, wenn er der Liebende sein will. Es ist aber nicht so, dass der Mensch nichts vermag und nichts ist; vielmehr geht es darum, so Løgstrup, wie er etwas vermag: „Werden die Äußerungs- und Handlungsmöglichkeiten als Gabe verstanden, so werden sie an den Nächsten weitergegeben und ihm geschenkt. Lebt und wirkt der Einzelne so, als entsprängen die Äußerungs- und Handlungsmöglichkeiten ihm selbst, dann nimmt er sie zu seinem eigenen Vorteil wahr“.188 Es handelt sich dabei um eine Inkongruenz in Kierkegaards Interpretation des Verhältnisses zwischen dem Reich Gottes und dem irdischen Leben, nämlich dass, um das Reich Gottes zu gewinnen, das irdische Leben durch den Verzicht auf das Glück zunichte gemacht werden muss. „Es ist ausgeschlossen, daß das Reich Gottes in das irdische Dasein in Werken, die dem irdischen Leben des Nächsten zugute kommen, einbricht“.189 Kierkegaards Deutung des Leidens, das ein solcher Verzicht impliziert, trennt das Christsein von seinem sozialen Kontext ab, weil das Leiden als Folge der konsequent erfüllten Forderung der Liebe mit Hass und Verachtung verbunden ist. Wer liebt, steht nicht mehr in Kontinuität mit der Welt, mit einer Welt, die ihn nicht verstehen kann. Daraus zieht Løgstrup die problematische Konsequenz: „Das Leben in den zwischenmenschlichen Beziehungen erhält die negative Bedeutung eines Daseins, das verlassen werden muß, da der Mensch das Leben eines verfolgten Verkündigers ja nur in der Gemeinschaftsverneinung führen kann. Er hat das Dasein nur als Vorbedingung des Glaubensempfanges bekommen und muß es als Pfand für das ewige Leben hergeben, er muß ihm ,absterben‘. Weil die Ewigkeit alles ist, folgert Kierkegaard, sind Endlichkeit und Welt nichts“.190 Løgstrup stützt sich dabei auf die Behauptung Kierkegaards, der Zusammenhalt mit der Welt sei „etwas Erbärmliches und Verächtliches“,191 etwas das das Dasein befleckt. Und dieser Verzicht auf das 185 186 187 188 189 190 191

Vgl. K. E. Løgstrup Auseinandersetzung mit Kierkegaard, a.a.O., S. 98. Ebd., S. 71. Ebd., S. 56. Ebd. Ebd., S. 70. Ebd., S. 75. Ebd., S. 76.

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II. Liebe und Anerkennung

menschliche Dasein wäre das Absterben des natürlichen Lebens – „die Brechung der Natur“ bei Adorno –, um das Menschsein zu ermöglichen. Inwiefern ist aber Kierkegaards Deutung zu radikal, zu einseitig, als reine Verneinung des Weltlichen zu verstehen? Inwiefern ist hier die Rede von einer Vernichtung des Daseins in seinem Verhältnis zur Welt zu rechtfertigen? Wird nicht damit die Doppelbewegung der Innerlichkeit vernachlässigt? Meiner Meinung nach soll Kierkegaards Deutung der ethischen Forderung nicht so stark auf die religiöse Ebene reduziert werden, dass man darüber vergisst, dass die Radikalität der Forderung ein Moment darstellt, das sich nicht von dem Zusammenhalt mit der Welt trennen lässt. Es wird nicht verlangt, die natürlichen Verhältnisse zu vernichten, im Gegenteil, sie sollen bestehen und zwar so, dass sie positiv erweitert und verstärkt werden können. Die Hauptthese, die in Entweder/Oder im Zentrum der Argumentation stand, nämlich dass die Ehe als Pflicht nicht die Vernichtung der erotischen Liebe ist, sondern ihre Verklrung und Aufbewahrung in einer höheren Konzentrizität, wird in Die Taten der Liebe weiter vertreten. Kierkegaard, dies möchte ich nochmals wiederholen, geht es darum, einen Weg zu finden, die positive Form der Gegenseitigkeit in den Intimbeziehungen zu bewahren. Wenn die Forderung nach Nächstenliebe, wie ich sie zu verstehen vorgeschlagen habe, Vorrang im Sichverhalten zu sich selbst und zum anderen hat und ein Korrektiv gegen die negative Möglichkeit der Gegenseitigkeit ist, dann muss sie einen normativen Charakter haben, der den Verhältnissen jeder Art zwischen Menschen Beständigkeit verleiht. Man soll aber nicht außer Acht lassen, dass für Kierkegaard die Erfüllung der Forderung der Liebe mit der Problematik des Christwerdens als Lebensaufgabe zusammenhängt. Weil Kierkegaard diese Lebensaufgabe zu ernsthaft, sogar „unmenschlich“ macht, gibt er irreführend zu verstehen, dass die Liebe aus Leiden besteht, dass Leiden Beweis der wahren Liebe sei. Dieser Weg, dem konsequent zu folgen eigentlich unmöglich ist, würde aus dem Liebenden einen Märtyrer machen. Dass Kierkegaard diese Möglichkeit in Betracht zieht, soll nicht dazu führen zu behaupten, dass er das Wesen der Liebe in der Vernichtung der Freude am Dasein und in der Verneinung des eigenen Glücks im Leben sieht. Es gibt ein wichtiges Problem in der Formulierung der Forderung, das wie ich denke, Grund vieler dieser Missverständnisse ist. Løgstrup und auf gewisse Weise auch Adorno haben uns darauf aufmerksam gemacht, dass Kierkegaard nicht die politische Funktion der Forderung berücksichtigt. Er sieht die Aufgabe des Menschen nicht in der Teilnahme an der Aufrechterhaltung des Ganzen, in dem, was Luther die Pflicht nennt, sich der Obrigkeit zu unterwerfen um

4. Innerlichkeit und Intersubjektivität

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des Wohls des Ganzen willen.192 Die Selbstaufopferung des Einzelnen dient der Gesellschaft nur indirekt, indem er gut und recht handelt und kein Gesetz braucht. Er bleibt bei den Menschen und richtet etwas aus. Er hat einen Beruf, liebt seine Frau, seine Freunde und seine Mitmenschen aufrichtig und sorgt sich um sie. Er entzieht sich jedoch der Politik, weil er eine solche Teilnahme als Beitrag zum in der modernen Zeit zustandekommenden Prozess der Demoralisation versteht. Mit anderen Worten, Kierkegaard glaubt nicht an die Möglichkeit einer Liebesgesellschaft. Es gibt eine schwer zu überwindende Kluft zwischen dem Ordnungsprinzip der kapitalistischen Massengesellschaft und dem Prinzip der Liebe, dies scheint es zu sein, was Kierkegaard suggeriert. Und weil Kierkegaard die politische Dimension der Forderung der Liebe unthematisiert lässt, verliert seinen Liebesbegriff an Potential und läuft Gefahr, um wieder an die Formulierung von Harry Frankfurt zu erinnern, eine „Empfehlung“, ein „Modell oder Ideal [zu werden – SMF], das uns in unserem praktischen Leben als Leitbild dienen sollte“.193 Die Liebe würde auf jeden Fall eine seltene „Randerscheinung“ bleiben: „Wem also die Liebe als einzige vernünftige Lösung des Problems der menschlichen Existenz am Herzen liegt, der muß zu dem Schluß kommen, daß in unserer Gesellschaftsstruktur wichtige und radikale Veränderungen vorgenommen werden müssen, wenn die Liebe zu einem gesellschaftlichen Phänomen werden und nicht eine höchst individuelle Randerscheinung bleiben soll“,194 d. h. er muss sich daran beteiligen. Dieser Punkt ist wichtig und lässt die Frage zu, ob die Forderung der Liebe, wie Kierkegaard sie versteht, vom Einzelnen erfüllt werden kann, ohne dass er sich der aktiven Teilnahme an dem gesellschaftlichen Prozess entzieht. Ferner muss gefragt werden, ob die Radikalität der Forderung nicht zur Folge hat, dass sie nur teilweise erfüllbar ist. Das Problem dabei ist, dass Kierkegaard keine mittlere Lösung akzeptiert, weil das Wesen der Liebe seinen authentischen Sinn verlieren würde. Gezeigt wird dies anhand der Auseinandersetzung zwischen dem Dichter, Hauptvertreter der menschlichen Auffassung der Liebe, und dem Christen: Will man in Bezug auf die christliche Liebe eine Ausnahme machen mit einem einzigen Menschen, den man nicht lieben will, dann ist eine solche Liebe nicht ,auch christliche Liebe‘, sondern sie ist unbedingt nicht christliche Liebe. Und doch ist folgendes so ungefähr die Verwirrung in der sogenannten Chris192 Vgl. M. Luther, a.a.O., S. 12 – 60. 193 Vgl. H. G. Frankfurt, a.a.O., S. 84. 194 Vgl. E. Fromm Die Kunst des Liebens, a.a.O., S. 145.

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II. Liebe und Anerkennung

tenheit: Die Dichter haben die Leidenschaft der Minne aufgegeben, sie geben nach, sie lassen die Leidenschaft erschlaffen, sie handeln herunter (indem sie zulegen) und glauben, daß ein Mensch, im Sinn der Minne, mehrere Male lieben könne, so daß es also mehrere Geliebte werden; die christliche Liebe gibt nach, läßt die Spannkraft der Ewigkeit erschlaffen, handelt herunter, und glaubt, wenn doch eine ganze Menge geliebt würden, dann sei das christliche Liebe. So hat man denn beide, das Dichterische und das Christliche, in Verwirrung gebracht, und das, was an die Stelle getreten ist, ist weder das Dichterische noch das Christliche (LT, 57).

Entweder entscheidet sich der Einzelne für die Herausforderung, die Forderung der Liebe christlich zu erfüllen, oder dafür, weiter gemäß der mit der Gefahr des Egoismus einhergehenden Vorstellung der Liebe zu lieben. Im letzten Fall würde er den Blick auf seine Mitmenschen verlieren und sich nicht mehr für ihr Leben verantwortlich wissen. Im ersten Fall würde er sich unbedingt an der sittlichen Aufgabe orientieren, alle Menschen zu lieben und in der Liebe zu ihnen den Menschen zu lieben, den er sieht. Der Blick für seine Mitmenschen und für diejenige, die er auf besondere Weise liebt, bleibt an die Erfüllung dieser Aufgabe gebunden, die mit Verantwortung und Sorge für ihr Leben einhergeht. Es muss aber ein Kompromiss gefunden werden, wenn die Erfüllung dieser Aufgabe keine bloße Utopie oder ein Ideal ist, sondern ein wirkendes zu verwirklichendes Tun. Die Forderung der Liebe soll im Lichte ihrer politischen Funktion gedacht werden. Um uns darüber klar zu werden, werde ich im nächsten Teil den Versuch unternehmen, dank der in den vorherigen Teilen gewonnen Rekonstruktion der Wahl- und Liebesbegriffe den Beitrag Kierkegaards zur heutigen Anerkennungsdebatte darzustellen. Ich möchte kurz das zusammenfassend darstellen, was bis zu diesem Punkt in der Rekonstruktion des Liebesbegriffes Kierkegaards für den nächsten Teil meiner Interpretation gewonnen wurde. Die einseitige, radikale Forderung soll nicht so verstanden werden, als handelte es sich um die bloße selbstische Beschäftigung mit sich selbst vor Gott ; vielmehr heißt Innerlichkeit die bedingungslose Einbeziehung des anderen durch Selbstverleugnung, durch den Verzicht auf die übliche Gegenleistung, die verhindert, sofort damit zu beginnen, alle Menschen als Menschen zu lieben, unabhängig davon, wie sie gegen einen selbst handeln. Die Einseitigkeit der Forderung ist keine Negation der Gegenseitigkeit in den Intimbeziehungen oder in den anderen Formen der Anerkennungsbeziehungen, sondern sie hat Vorrang, sie steht am Anfang des moralischen Handelns, so dass man sagen kann, dass dieses ethisch-religiöse Selbstverständnis, welches in der einseitigen Forderung der Liebe an den

4. Innerlichkeit und Intersubjektivität

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Einzelnen enthalten ist, die gegenseitige Anerkennung in seiner positiven Form sicherstellt.

III. Die Frage nach dem gelingenden Gutsein: Kierkegaards Anerkennungsbegriff im Lichte der heutigen Anerkennungsdebatte 1. Erkennen und Anerkennen In den vorherigen Teilen habe ich die zentralen Aspekte in der Rekonstruktion der Wahl- und Liebesbegriffe in Entweder/Oder und Die Taten der Liebe bis zu einem Punkt entwickelt, an dem es mir durchaus plausibel erscheint, von einem Anerkennungsbegriff Kierkegaards zu sprechen. Dieser Begriff der Anerkennung wird nach meiner Interpretation aus der Einstellung der Wahl und der Liebe gewonnen. Sowohl die Selbstwahl als auch die Selbstliebe werden von Kierkegaard als ursprüngliche Formen der Anerkennung verstanden, die sich das Individuum im Leben anzueignen hat, um sich zu sich selbst und zum anderen positiv zu verhalten. Ohne diese im Prozess der Aneignung permanent zu erwerbende Fähigkeit zur Selbstwahl und zur Selbstliebe als Vorbedingung des Verhältnisses zum anderen kann es keine feste Grundlage für die reziproke Anerkennung geben, würde Kierkegaard argumentieren. Was Kierkegaards Erläuterungen für die aktuelle Diskussion in der Anerkennungstheorie bezüglich des Verhältnisses von Erkennen und Anerkennen attraktiv macht, ist, dass er von einer elementaren Form der Anerkennung ausgeht, die über die epistemische Verbindung zum anderen hinausgeht. Es ist nicht das Wissen von einer Person, das den Zugang zu ihr ermöglicht, sondern die Anerkennung und Erfüllung der eigenen Pflicht ihr gegenüber, die aus dem Anerkennenden einen Nächsten macht. Die Anerkennung bedeutet, wie gezeigt wurde, dass man den Blick auf die Wirklichkeit wirft, in der die andere Person ist, was sie ist, dass man im Verhältnis zu ihr nicht gleichgültig ist. In Entweder/Oder können wir nennen diese elementare Form der Anerkennung die Selbstwahl als Pflicht, „andern offenbar zu werden“ (EO2, 344), und in Die Taten der Liebe die Selbstliebe als Pflicht, die Menschen zu lieben, die man sieht (LT, 170). Damit ist klar, dass der Akzent nicht auf dem Erkennen, sondern auf dem Anerkennen als Daseinwollen für den anderen liegt. Dieser Punkt in der Argumentation ist sehr wichtig, um Kierkegaard innerhalb der gegenwärtigen Anerkennungsdiskussion zu positionieren.

1. Erkennen und Anerkennen

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Dies wird deutlich, wenn wir zuerst das Verhältnis von Erkennen und Anerkennen in Betracht ziehen, wie es Stanley Cavell und Axel Honneth verstehen, und im Anschluss daran die Unterschiede und Gemeinsamkeiten hervorheben. Beide Autoren gehen von der Grundidee aus, dass es im Verhältnis zum anderen eine elementare Form der Anerkennung gibt, die Vorrang vor dem Erkennen hat. So behauptet Cavell, dass „Anerkennung Wissen [überschreitet]“195 und Honneth, „daß eine Schicht der existentiellen Anteilnahme tatsächlich all unserem objektivierenden Weltverhältnis zugrunde liegt“.196 Was die Position von beiden Autoren differenziert, bezieht sich vor allem auf die Reichweite der Vorrangigkeit der Anerkennung. Während Cavell also die Einstellung der Anerkennung mit dem Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen verknüpft, bezieht sie Honneth auch auf die nicht-menschliche Welt.197 Für Honneth stehen wir „vorgängig in einer Einstellung der Anerkennung“,198 die sozusagen unsere epistemische Weltbeziehung fundiert. Wie beide Autoren zu diesem Begriff der Anerkennung kommen, möchte ich im Folgenden kurz darstellen. Der Ausgangspunkt in der Argumentation von Cavell ist die Auseinandersetzung zwischen dem Skeptiker und dem Nicht-Skeptiker in Bezug auf die Frage nach dem Wissen oder Kennen einer Person. Für Cavell ist es sehr wichtig, zu erläutern, dass der Skeptizismus nicht widerlegt werden kann, wenn man sich auf eine Diskussion einlässt, in der vorausgesetzt wird, dass das Verhältnis zum anderen epistemischer Art ist. Denn dabei wird übersehen, dass der Skeptiker Recht hat, wenn er daran zweifelt, dass man von dem inneren Zustand des anderen wissen kann. Woher weiß man, so fragt der Skeptiker, dass eine Person diese Gefühle hat und nicht andere, dass z. B. ihr Schmerz echt ist, wenn man dieselben Gefühle oder den gleichen Schmerz nicht empfinden kann? Reicht es, dass die andere Person sich „in Worten und im Verhalten“199 ausdrücken kann, um von ihr zu wissen oder sie zu kennen? In der auf diese Weise geführten Diskussion zwischen beiden geht, so Cavell, etwas verloren, und zwar die 195 Vgl. S. Cavell Wissen und Anerkennen in ders. Die Unheimlichkeit des Gewçhnlichen und andere philosophische Essays, hg. von D. Sparti / E. Hammer, Frankfurt am Main 2002, S. 62. 196 Vgl. A. Honneth Verdinglichung, a.a.O., S. 46; ders. Erkennen und Anerkennen. Zur Sartres Theorie der Intersubjektivitt in der. Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivitt, Frankfurt am Main 2003, S. 71 – 105. 197 Vgl. A. Honneth Verdinglichung, a.a.O., S. 60. 198 Ebd. 199 Vgl. S. Cavell Wissen und Anerkennen, a.a.O., S. 59.

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III. Die Frage nach dem gelingenden Gutsein

Tatsache, dass jemand Schmerz empfindet. Fragt man also, wie wir sicher sein können, ob jemand Schmerz empfindet oder nicht, dann verliert man die Situation aus dem Blick, in der sich der andere befindet. Ferner verliert der Schmerz an „Relevanz“. Natürlich könnte sich eine Situation ergeben, in der jemand aus welchen Gründen auch immer meint, er wisse vom Schmerz einer anderen Person. Er könnte wohl meinen, ja ich weiß, was diese Person fühlt. Hat er deshalb den Zustand der anderen Person anerkannt? Die Antwort lautet nein, das bloße Erkennen entzieht sich der Wirklichkeit. Es fehlt das, was Cavell „Anteilnahme“ nennt. Man fühlt sich nicht betroffen und konfrontiert. Man reagiert nicht. Cavell unterscheidet Wissen und Anerkennen folgendermaßen: „Wenn ich mein Zuspätkommen anerkenne, folgt, dass ich weiß, ich komme zu spät (genau das besagen meine Worte); aber wenn ich um mein Zuspätkommen weiß, folgt nicht, dass ich anerkenne, zu spät zu kommen“.200 Was mich an dieser Formulierung vor allem interessiert, ist die Perspektive der zweiten Person, in der das Wissen vom anderen ein „Ausdruck von Anteilnahme“201 ist. Anerkennen bedeutet nicht, dass ich die gleichen Gefühle haben kann wie andere, sondern dass ich auf die Situation des anderen reagiere und sie zum Ausdruck kommen lasse. Es handelt sich um eine positive Form des Anerkennens, welche die Bewegung zum anderen auf eine Weise fördert, dass man sich Sorgen um ihn macht. Das Wissen als Ausdruck von Anteilnahme hat, wie es sich auch bei Honneth und natürlich bei Kierkegaard stark erweisen wird, die spezielle Wirkung, dass im Akt des Anerkennens das Menschsein des anderen und einer selbst nicht vergessen wird. In diesem Sinne heißt Anerkennen, durch Erinnerung und Betroffenheit das Vergessen außer Kraft zu setzen. Wichtig ist auch, dass die Anteilnahme eine negative Form annehmen kann, die in einem engen Zusammenhang mit dem Vergessen steht. Man kann z. B. auf den inneren Zustand des anderen mit Empörung reagieren. Ist das, so Cavell, ein Scheitern der Anerkennung? Antwort: „Entscheidend ist jedoch, dass der Begriff der Anerkennung in gleicher Weise durch sein Scheitern wie durch seinen Erfolg zur Geltung kommt. Es handelt sich bei ihm nicht um die Beschreibung einer gegebenen Reaktion, sondern um eine Kategorie, mit deren Hilfe eine gegebene Reaktion bewertet wird. […] Ein ,Scheitern des Wissens‘ könnte als bloße Ignoranz, als Abwesenheit von etwas, als Lücke verstanden werden. Ein ,Scheitern der Anerkennung‘ beschreibt eine Anwesenheit von etwas, eine Verwirrung, 200 Ebd., S. 62. 201 Ebd., S. 69.

1. Erkennen und Anerkennen

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eine Indifferenz, eine Unempfindlichkeit, eine Erschöpfung, eine Kälte“.202 Die Tatsache, dass die Anerkennung scheitern kann, zeigt, dass sie in ihrer elementaren Form nicht bleiben kann, dass die bloße Anteilnahme nicht reicht, denn die Anerkennung muss mit Verantwortung für das Aufrechterhalten des positiven Verhältnisses zum anderen einhergehen. Das Verhältnis von Erkennen und Anerkennen steht – wie angedeutet wurde – auch im Zentrum der Argumentation von Honneth. In seiner anerkennungstheoretischen Studie zum Begriff „Verdinglichung“ vertritt Honneth die These, „daß das anteilnehmende Verhalten dem neutralen Erfassen von Wirklichkeit, das Anerkennen dem Erkennen vorausgeht […]“.203 Um diese These zu plausibilisieren, versucht Honneth zuerst diese Idee eines Vorrangs der Anerkennung „unter genetischen Gesichtspunkten“ als die emotionale Identifikation des Kindes mit der Bezugsperson zu erläutern und dann in einem weiteren Schritt in Anlehnung an Lukács, Heidegger und Dewey den Charakter dieser elementaren Weltbeziehung näher zu erhellen. Honneth will zeigen, dass im Lernprozess des Kindes „eine Art von existentieller, ja affektiver Anteilnahme am Anderen“204 stattfindet, die dem Kind erlaubt, sich durch die Perspektive des anderen auf die Welt zu beziehen. Diese emotionale Identifikation mit der Bezugsperson ist die Voraussetzung zur positiven Entfaltung jener späteren Fähigkeit zum anteilnehmenden Verhalten zur Welt. Genau in diesem Punkt erkennt Honneth die Verbindung zwischen den genetischen Gesichtspunkten und der elementaren Form der Anerkennung, die bei Lukács, Heidegger und Dewey in ihren jeweiligen Argumentationen zu finden ist.205 Was diese Autoren gemeinsam haben, ist, dass sie jene Haltung in Frage stellen, in der sich die Weltbeziehung auf die Beobachterperspektive reduziert. Es fehlt, wenn es sich so verhält, das Moment des Betroffenseins, durch das die Weltbeziehung für das epistemische Subjekt eine wahre Bedeutung gewinnt. Wie im Fall des Lernprozesses des Kindes würde das Fehlen von Anteilnahme am anderen implizieren, dass man unfähig ist, ein 202 203 204 205

Ebd., S. 70. Vgl. A. Honneth Verdinglichung, a.a.O., S. 46. Ebd., S. 51. Honneth stützt sich auf folgende Werke: G. Lukács Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) in ders. Werke, Bd. 2 (Frhschriften II), Neuwied, Berlin 1968; ders. Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, ebd.; J. Dewey Qualitatives Denken (1930) in ders. Philosophie und Zivilisation, Frankfurt am Main 2003; ders. Affektives Denken (1926), ebd.; M. Heidegger Sein und Zeit, 18. Aufl., Tübingen 2001.

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III. Die Frage nach dem gelingenden Gutsein

soziales Wesen zu sein. Bei diesen Autoren würde der Vorrang der Anerkennung daher bedeuten, so Honneth, „daß der epistemischen Weltbeziehung des Menschen prinzipiell eine Einstellung der Sorge oder existentiellen Involviertheit vorausgehe; ihnen ging es darum, den Nachweis anzutreten, daß unsere Erkenntnisbemühungen scheitern oder ihren Sinn verlieren müssen, wenn das Faktum dieser vorgängigen Anerkennung aus dem Blick gerät“.206 Das Problem besteht genau genommen darin, um es mit Kierkegaard zu formulieren, dass etwas verloren geht, wenn das „Objektivwerden ohne entsprechendes Subjektivwerden“ (Pap. VIII 2 B 82,11) zustande kommt. Darauf weist auch Honneth hin, wenn er davon ausgeht, dass es einen Zusammenhang zwischen der anerkennenden Haltung und der objektivierenden Einstellung gibt, also, dass die vorgängige Anerkennung die Objektivierung nicht negiert, sondern deren Bedingung ist.207 Bevor ich auf diesen Punkt bezüglich der Argumentation Kierkegaards eingehe, möchte ich die Konsequenzen in Betracht ziehen, die Honneth für seinen Begriff der Anerkennung daraus zieht. Wenn das anteilnehmende Verhalten fehlt, scheitert die Anerkennung. Die Asymmetrie im Verhältnis zum anderen wird nicht überwunden, weil man auf die Äußerungen des anderen nicht reagiert. Man weiß sich nicht betroffen. So war es auch bei Cavell. Dieser Zustand des Scheiterns der Anerkennung ist das, was Honneth „Verdinglichung als Anerkennungsvergessenheit“ zu nennen vorschlägt: „[G]emeint ist damit mithin der Prozeß, durch den in unserem Wissen um andere Menschen und im Erkennen von ihnen das Bewußtsein verloren geht, in welchem Maß sich beides ihrer vorgängigen Anteilnahme und Anerkennung verdankt“.208 Wichtig ist hier, dass das Vergessen als „Aufmerksamkeitsminderung“ sowohl in der Selbstbeziehung als auch in Beziehung zum anderen verstanden wird. Was vergessen wird, ist, dass die Art der Beziehung, die wir mit uns selbst und miteinander führen, von Anfang an zunächst anerkennend artikuliert worden ist. Auf Grund dieser vorgängigen Anerkennung, die in dem früheren Stadium der Konstitution der Identität der Person dem Lernprozess zugrunde liegt, gelangt man zu sich selbst und zum anderen. Verhält man sich im Verhältnis zu sich selbst und zum anderen nicht zu diesem Ursprung seiner selbst, gerät man in Vergessenheit. Man ist nicht aufmerksam genug gegenüber der Situation der Wirklichkeit, in der man selbst oder der andere sich befindet. Dies ist es auch, was Honneth am Phänomen Unsichtbarkeit zu zeigen 206 Vgl. A. Honneth Verdinglichung, a.a.O., S. 53 – 54. 207 Ebd., S. 64. 208 Ebd., S. 68.

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versucht. Es geht um den Mangel an einer inneren Disposition, die notwendig ist, um über das bloße Erkennen von Personen hinauszugehen.209 Ohne diese innere Disposition bzw. anerkennende Haltung wird der andere unsichtbar gemacht. Unsichtbarkeit und Vergessenheit bezeichnen somit einen Zustand, in dem verkannt wird, dass der andere da ist und uns durch seine Anwesenheit dazu auffordert, zu reagieren. Nach dieser knappen Darstellung des Verhältnisses von Erkennen und Anerkennen bei Cavell und Honneth sollte erkennbar geworden sein, dass Kierkegaard sich in Bezug auf diese Problematik in einem gemeinsamen Horizont mit diesen Autoren bewegt. Dies wird noch deutlicher, wenn wir erneut auf seine kritische Diagnose der modernen Zeit, auf seine Methode der indirekten Mitteilung und auf seine Auffassung des Ethischen hinweisen. Wir haben gesehen, dass für Kierkegaard das Hauptproblem in der Moderne der Mangel an Naivität und der Mangel an Primitivität ist. Deren Mangel ist Konsequenz einer Zeit, die alles durch Wissen bestimmt. Und eine Zeit des Wissens kann nichts anderes tun als objektivieren. Weil alles objektiv geworden ist, weil die Sprache in allen Lebensverhältnissen die Sprache der Wissenschaft ist, ist der Mensch in seiner Individualität abgeschwächt worden. Was Kierkegaard damit meint ist, „daß man vergessen hat, was es heißt, Mensch zu sein“ (Pap. VIII 2 B 81,3). Vergessen hat hier die Bedeutung einer verfehlten Form von Selbstbeziehung, da der Mensch in seinem Sichverhalten verkennt, dass er prinzipiell ein Selbst ist. Er weiß nicht durch sich selbst – durch Primitivität –, dass er ein Mensch – eine Individualität – ist, sondern ist eine Abstraktion in Übereinstimmung mit den anderen. Kierkegaard versteht darüber hinaus das Vergessen als ein Kommunikationsproblem: Weil die Subjekte über die Form des Wissens miteinander kommunizieren und Anpassung fordern, übersehen sie, dass sie im Wesentlichen Menschen sind. Auf Grund dieses Vergessens geht die Kommunikation nicht mit Verantwortung für den anderen einher. Es fehlt das Moment der Anerkennung. Das Problem des Vergessens bezüglich der Existenz, das an die von Cavell und Honneth beschriebene teilnahmslose Haltung erinnert, wird in der Bestimmung des Ethischen präzisiert. Der Ausgangspunkt berücksichtigt die Frage, was es heißt, ethisch zu leben. Heißt dies, dass man etwas zu wissen bekommt, oder vielmehr dass man auf Grund eines bestimmten Wissens handelt? Kierkegaard antwortet folgendermaßen: 209 Vgl. A. Honneth Unsichtbarkeit. ber die moralische Epistemologie von „Anerkennung“ in ders. Unsichtbarkeit, a.a.O., S. 10 – 27.

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Das Ethische verhält sich gleichgültig zum Wissen, d. h. es nimmt an, daß jeder Mensch es weiß […] Lassen Sie es mich mit einem Beispiel erklären. Das Militär nimmt an, daß jeder Bauernknecht, der sich zum Kriegsdienst meldet, die notwendigen Eigenschaften besitzt, um diesen ertragen zu können, darum wird er ja zuerst gemustert, damit es in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten gibt. (So nimmt das Ethische an, daß jeder Mensch weiß, was das Ethische ist). Nun beginnt die Mitteilung. Der Korporal erklärt nun dem Soldaten nicht, was das heißt zu exerzieren usw., er teilt es ihm als Kunst mit, er lehrt ihn, die Fähigkeiten und die potentielle Tüchtigkeit, die er besitzt, militärisch zu gebrauchen. Und in dieser Weise muß das Ethische mitgeteilt werden. Soll man zuerst damit anfangen, mit einem Kursus das Ethische in das Individuum einpflanzen zu wollen, dann wird die Mitteilung nie ethisch, und [das] Verhältnis ist von Anfang an verwirrt (81,5).

Das Wissen wird im Verhältnis zum Ethischen sozusagen aufgehoben, weil nicht mehr danach gefragt wird. Es wird eher gefordert, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, wie Kierkegaard in Bezug auf die skeptische Einstellung veranschaulicht: Wollte einer sagen: Vom Ethischen gibt es ja ganz verschiedene Begriffe in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten. Wie wird dann dieser Zweifel zum Stehen gebracht? Wissenschaftlich wird er zu Folianten führen und doch nicht zum Stehen gebracht werden, aber das Ethische faßt, ethisch konsequent, den Zweifler und sagt, was geht Dich das an, Du sollst in jedem Augenblick das Ethische tun, und bist für jeden Augenblick, den Du vergeudest, ethisch verantwortlich (81,10).

Obwohl in diesem Kontext nicht vom Anerkennen in den zwischenmenschlichen Beziehungen explizit gesprochen wird, ist die Einstellung der Anerkennung in diesem Fall eine ethische Haltung, die die Forderung impliziert, über das Wissen hinauszugehen, um das Ethische realisieren zu können. Verweilt man bei der Frage nach dem Wissen, dann gibt es keine Bewegung. Dies gilt auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen: Wenn ein Mensch sagt, ich muss erst wissen, gelangt er nicht zum anderen. Das Moment der existentiellen Sorge um den anderen wird verfehlt. Aber dafür ist der Mensch, so Kierkegaard, „ethisch verantwortlich“, wenn er seine Pflicht gegen ihn erfüllen und anerkennen will. Oder genauer: Jede Zeit, die wir verschwenden, trennt uns mehr und mehr. Wir vergessen, dass wir getrennt sind. Damit die Mitteilung gelingt, soll der Gegenstand der Mitteilung kein Wissen, sondern eine „Realisation“ sein. Etwas soll geäußert werden. Meiner Meinung nach geht man nicht zu weit, wenn man behauptet, dass das, was realisiert bzw. geäußert werden soll, ein Akt der Anerkennung ist. Auf die Struktur und Intention der indirekten Mitteilung, worum es sich

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hier eigentlich handelt, habe ich schon hingewiesen. Mir geht es jetzt darum, die indirekte Mitteilung als eine Form der Selbstanerkennung und der Anerkennung des anderen zu interpretieren, und zwar als eine Form der Anerkennung, die die therapeutische Funktion hat, von den Konsequenzen jenes Vergessens zu befreien. Zuerst ist die Frage zu stellen, wer in der Mitteilung mitteilt und wer die Mitteilung empfängt. Der Mitteiler ist der Lehrmeister und der Empfänger ist der Lehrling. Das Verhältnis zwischen beiden ist am Anfang asymmetrisch. Der eine ist im Besitz von etwas, das der andere sich noch nicht angeeignet hat. Erst in der Aneignung beginnt das Verhältnis symmetrisch zu werden. Der Prozess der Überwindung der Asymmetrie im Verhältnis wird von Kierkegaard Erziehung genannt. Das Ziel des Lehrmeisters ist es deshalb, durch Erziehung dem Lehrling zu helfen, frei und selbständig zu werden, so dass es keine Asymmetrie zwischen beiden mehr gibt. Dies kann der Lehrling nur lernen, indem er durch sich selbst Lehrmeister wird. Wenn wir von einem Lehrmeister sprechen, gehen wir davon aus, dass er eine Kunst gut beherrscht und dem Lehrling die Ausübung dieser Kunst auf geeignete Weise beibringen kann. Und wir gehen auch davon aus, dass der Lehrling in der Lage ist, die Ausübung dieser Kunst zu erlernen. Wir können feststellen, dass die Überwindung der Asymmetrie erst möglich ist, wenn der Lehrmeister in dem Lehrling den potentiellen Lehrmeister sieht. Daraus können wir die Konsequenz ziehen, dass das Anerkennungsverhältnis durch das Sehen des anderen entsteht. So wie der Korporal im Bauernknecht den Soldaten sieht und den Bauernknecht dazu bringen will, durch sich selbst Soldat zu werden, so sieht der Lehrmeister auf dieselbe Weise auch im Lehrling den Menschen und will den Lehrling dazu führen, durch sich selbst Mensch zu sein. Erziehung im ethischen Sinne bedeutet, jemandem zu helfen, durch sich selbst Mensch zu sein. Die motivationale Bereitschaft, jemandem zu helfen, frei zu werden, impliziert somit, ihn als ein Selbst zu sehen. Bis zu diesem Punkt scheint das Verhältnis des Lehrmeisters zu dem Lehrling einfach zu sein. Der Lehrmeister hat jedoch mit dem Problem zu kämpfen, den Lehrling zur Selbsterkenntnis zu führen, ohne dass dieser sich geholfen und damit abhängig weiß. Gibt es eine Mitteilung des Unmitteilbaren? Kierkegaard gibt zu verstehen, dass die Anerkennung zum Scheitern verurteilt ist, wenn kein Weg gefunden wird, das Unmitteilbare mitzuteilen. Dieser Weg hängt von der oben genannten maieutischen Methode und von der Reduplikation ab, die im Zentrum der indirekten Mitteilung stehen. Maieutisch wird der Lehrling zur Selbsterkenntnis geführt, wenn er indirekt mit seiner Situation – mit dem Vergessen – konfrontiert und zur

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Selbstwirksamkeit provoziert wird. Die Indirektheit hat die spezielle Bedeutung, dass sie aus der Anerkennung keinen attributiven Akt macht. Für Kierkegaard geht es im Akt der Anerkennung nicht um eine Zuschreibung, sondern um die Förderung des Wertes der anderen Person. Dies hängt mit dem Gedanken zusammen, dass die Indirektheit von einem Abhängigkeitsverhältnis befreien soll. Wie kann Anerkennung sein, würde Kierkegaard fragen, dass ich den anderen von mir abhängig mache, indem ich ihn wissen lasse, dass er dank meiner frei ist? Gehört nicht zu meiner Sorge und Verantwortung für den anderen, dass ich Interesse an seiner positiven Selbstschätzung habe? Das ist ein wichtiger Aspekt der Indirektheit, nämlich dass sie die positive Selbstschätzung des anderen stützt. Andererseits verlangt die indirekte Mitteilung, dass der Lehrmeister redupliziert. Er soll nicht nur eine Kunst beherrschen und deren Ausübung indirekt mitteilen, sondern auch sich in das einbeziehen, was er mitteilt. Kierkegaard verbindet die Anerkennung des anderen mit der Selbstanerkennung. Damit meint er, dass ich eine andere Person nicht anerkennen kann, wenn ich mich selbst im Akt der Anerkennung vergesse. Kierkegaard warnt vor der Gefahr, „daß man selber vergißt zu sein, was man lehrt“ (81, 33), dass man über etwas spricht, nicht aber ist, was man spricht: Sie werden hier sofort ein Beispiel von Reduplikation bekommen können. Wenn ich sage, was ich hier gesagt habe, in dieser Weise, zu einer Versammlung und in dieser Weise: dann rührt es vielleicht den einen oder den anderen, und warum? Weil dieses unmittelbare Mitteilung ist, ich redupliziere nicht, ich exsequiere nicht, was ich vortrage, ich bin nicht was ich sage, ich gebe hier nicht dem Dargestellten Wahren die wahrhaftige Form, so daß ich existentiell das Gesagte bin; ich spreche darber (88).

Vergessen bedeutet hier, nicht wahrzunehmen, dass man im Werden ist. Man übernimmt eine passive Haltung und gelangt weder zu sich selbst noch zum anderen. Die Reduplikation drückt hingegen die Anteilnahme an beiden Seiten des Verhältnisses aus. Die Herausforderung für den Lehrmeister besteht somit darin, mit Hilfe der indirekten Mitteilung gegen die Gefahr des Vergessens auf beiden Seiten des Verhältnisses zu kämpfen, und zwar so, dass er den Lehrling für die Ausübung der Kunst gewinnt. Wenn wir die Interaktionspartner wechseln und statt von Lehrmeister und Lehrling, eher vom Liebenden und Lieblosen sprechen, wird der Zusammenhang zwischen der oben beschriebenen Dialektik der Versöhnung und der Dialektik der Anerkennung erkennbar. Dort ging es um den Liebeskampf, in dem der Liebende maieutisch und reduplizierend – d. h. versçhnlich – für den Lieblosen kämpfte. Der Doppelkampf war nicht ein Kampf um Anerkennung, sondern „um den Sieg der Versöhnlichkeit in

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Liebe, welche den Überwundenen gewinnt“ (LT, 364 – 377). Der Lehrmeister und der Liebende haben gemeinsam, dass sie dafür arbeiten, den Lehrling und den Lieblosen „für die Wahrheit“ zu gewinnen. Und jene begegnen diesen anerkennend. Dass der Kampf kein Kampf um Anerkennung ist, zeigt, dass sowohl in der Herstellung einer Beziehung als auch in der Wiederherstellung einer zerbrochenen Beziehung die Anerkennung im Voraus da ist. Denn der Kampf um Anerkennung bezieht sich nicht auf diese elementare Form der Beziehung, die wir mit anderen und mit uns selbst führen, sondern auf die soziale Praxis, in der Verletzungen von normativen Erwartungen zum Ausdruck kommen. So denke ich, lässt sich auch Honneths Auffassung des Verdinglichungsbegriffes interpretieren und mit Kierkegaards Grundidee in Verbindung bringen, wenn Honneth davon ausgeht, dass die Verdinglichung als Anerkennungsvergessenheit damit zu tun hat, dass wir vergessen, dass die Art der Beziehung, die wir mit uns selbst und miteinander führen, von Anfang an zunächst anerkennend artikuliert worden ist: „Die Modi des Beobachtens oder Herstellens können in der personalen Selbstbeziehung nur dann Platz greifen, wenn die ,Subjekte‘ zu vergessen beginnen, daß ihre Wünsche und Empfindungen es Wert sind, artikuliert und angeeignet zu werden. Insofern stellt die Verdinglichung der eigenen Person, nicht anders als die Verdinglichung anderer Personen, das Ergebnis einer Aufmerksamkeitsminderung für das Faktum einer vorgängigen Anerkennung dar: So, wie wir dort aus den Augen verlieren, daß wir die anderen zuvor stets bereits anerkannt haben, neigen wir auch hier zum Vergessen der Tatsache, daß wir uns selbst zuvor schon immer deswegen anerkennend begegnet sind, weil wir nur so Zugang zu unserer eigenen Befindlichkeit finden konnten“.210 Inzwischen sollten die Aspekte des Anerkennungsbegriffes Kierkegaards erkannt worden sein, die er mit Cavell und Honneth gemeinsam hat. Wie Cavell und Honneth geht Kierkegaard davon aus, dass das bloße Erkennen von Personen nicht genügt, um Zugang zu ihnen zu gewinnen und sich mit ihnen verbunden zu wissen. Auch Kierkegaard vertritt die These, so meine Interpretation, dass es eine elementare Form der Anerkennung gibt, die erst den Zugang zum anderen ermöglicht. Diese elementare Form ist das Selbstsein als Selbstwerden, das Kierkegaard in Entweder/Oder die Fähigkeit zur Selbstwahl und in Die Taten der Liebe die Fähigkeit zur Selbstliebe nennt. Beide Formen entsprechen dem permanent anzueignenden Zustand, in dem das Leben des Menschen im Gleichgewicht steht und gelingt, und beide Formen sind Ausdruck von 210 Vgl. A. Honneth Verdinglichung, a.a.O., S. 92 – 93.

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positiver Anteilnahme. Mit Honneth hat Kierkegaard darüber hinaus gemeinsam, dass er die verfehlte Form von Praxis auf einen Zustand der Vergessenheit zurückführt, den er immer wieder mit verschiedenen Begriffen wie Geistlosigkeit, Leidenschaftslosigkeit, Verzweiflung, Unredlichkeit, usw. bezeichnet. Was Kierkegaard von den Positionen von Honneth und Cavell unterscheidet, ist die Art der Fragestellung, aus der er zu seinem Anerkennungsbegriff gelangt. Kierkegaard geht es prinzipiell um die Problematik des Christwerdens, die er mit der Frage nach dem Menschsein verbindet. In diesem Fall spricht er davon, dass man in der Moderne Gott vergessen und den Menschen zur Instanz des Handelns gemacht hat. Wird Gott, das positive Dritte im Verhältnis, vergessen, dann gibt es keine Zwischenbestimmung mehr und das Verhältnis zwischen den Menschen ist unmittelbar. Aber ein unmittelbares Verhältnis ist ein epistemisches Verhältnis. Man gelangt unmittelbar zum anderen und übersieht ihn. Wenn das Verhältnis nicht unmittelbar ist, sondern sich auf ein positives Drittes bezieht, ist das Vergessen sozusagen außer Kraft gesetzt. Der Liebende bleibt in der Liebe – dem positiven Dritten –, selbst im Fall der Brechung der Liebesbeziehung, und so vergisst er nicht, dass er der Liebende ist. Der Lehrmeister bleibt in der Ausübung seiner Kunst – dem positiven Dritten – reduplizierend, selbst im Fall eines Verzichts des Lehrlings, und so vergisst er nicht, dass er der Lehrmeister ist. Der Anerkennende bleibt im Anerkennungsverhältnis – dem positiven Dritten – und so vergisst er nicht, dass er der Anerkennende ist. Die indirekte Mitteilung ist ein Korrektiv gegen das Vergessen und somit gegen jene negative Form der Anteilnahme als Scheitern der Anerkennung. Es ist in diesem Sinne, dass ich von einer therapeutischen Funktion der indirekten Mitteilung gesprochen habe. Sie befreit von der Gefahr des Vergessens und erhält das Anerkennungsverhältnis in seiner positiven Form aufrecht, bewegt ununterbrochen zum ursprünglichen Sichverhalten zu sich selbst, also dazu, das eigene Selbst zum Ursprung seines Handelns zu machen. Es bleibt die Frage offen, ob ein Mensch je in der Lage sein könnte, die Kunst der indirekten Mitteilung konsequent zu beherrschen. Man könnte erwidern, dass die Anerkennung des anderen von einem Ideal abhängen würde, dessen Umsetzung in die Praxis schwer vorzustellen ist. Es gibt aber einen Mittelweg: Mit der Methode der indirekten Mitteilung, deren Empfänger als Leser wir sind, beabsichtigt Kierkegaard jene „Aufmerksamkeitsminderung“, von der Honneth spricht, zumindest zum Bewusstsein zu erheben. In folgender, im ersten Teil bereits zitierten Passage drückt Kierkegaard dies in Anlehnung an seine Stadienlehre wie folgt aus: „Dies Maieutische liegt in dem Verhältnis zwischen ästhetischer Schrift-

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stellerei als Anfang, und der religiösen als Ziel und Ende. Der Anfang wird gemacht mit dem Ästhetischen, darin vielleicht die meisten ihr Leben haben, und nunmehr wird das Religiöse so geschwinde angebracht, daß die, welche, vom Ästhetischen bewogen, sich entschließen mitzugehn, plötzlich mitten in den entscheidenden Bestimmungen des Christlichen stehen, dazu veranlaßt zum mindesten aufmerksam zu werden“ (SS, 6).

2. Selbstwahl und die Gegenseitigkeit in der Anerkennung Wie im ersten Teil gezeigt wurde, entwickelt Kierkegaard seinen Begriff der Selbstwahl aus der Auseinandersetzung zwischen der ästhetischen und der ethischen Lebensanschauung. Ich habe den Begriff der Selbstwahl in einem weiteren Horizont mit der Absicht interpretiert, ihn von der klassischen Auslegung einer absoluten Wahl des Selbst zu lösen und für einen positiven Begriff von sozialer Praxis zu gewinnen. So bin ich davon ausgegangen, dass die Selbstwahl eine Doppelfunktion hat. Einerseits ist die Selbstwahl ein konstitutiver Akt, durch den das Individuum zum Bewusstsein seiner selbst kommt und wird, was es wird. Die Selbstwahl ist in diesem Zusammenhang eine elementare Form der Anerkennung, die Voraussetzung der reziproken Anerkennung ist. Mit anderen Worten, die Bildung eines ethischen Selbstverständnisses mittels der Selbstwahl fundiert die Selbstanerkennung und die Anerkennung des anderen. Andererseits ist die Selbstwahl ein kontinuierlicher Prozess der individuellen Bildung, die im Verhältnis zum anderen stattfindet. Die Selbstwahl ist hier eine Art soziale Praxis im Prozess der Sozialisierung. In beiden funktionalistischen Perspektiven, so wurde argumentiert, impliziert die Selbstwahl ein aktives und verantwortliches Sichverhalten zu sich selbst und zu den anderen, sie ist ein Ausdruck von positiver Anteilnahme. Ausgehend von dieser Doppelfunktion der Wahl möchte ich jetzt den Versuch unternehmen, Kierkegaards Anerkennungsbegriff in Entweder/Oder mit der politischen Dimension der Anerkennung in Verbindung zu bringen. Im Zentrum der Argumentation steht nicht mehr die Frage nach einer elementaren Form der Anerkennung, sondern die Frage danach, wie die Artikulation des ethischen Lebens und die Aneignung von den Formen der Sittlichkeit dazu beitragen, die reziproke Anerkennung und die soziale Interaktion zu sichern. Die oben genannte therapeutische Funktion der indirekten Mitteilung wird hier im Übergang zum Ethischen vom ethisch durchgeführten Leben so übernommen, dass die permanente Befreiung von den pathologischen Lebensformen des Ästhetischen garantiert wird.

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Um dies angemessen zu verstehen, müssen wir uns zunächst darüber klar werden, worum es bei der Anerkennungstheorie in ihrer politischen Dimension geht. Eine recht verstandene Anerkennungstheorie behauptet, dass die Mitglieder einer Gesellschaft ihre individuelle Autonomie nur durch den gut gelungenen Sozialisierungsprozess ausüben können, in dem sie einerseits als ethische Personen und Rechtspersonen und andererseits als politische und moralische Personen anerkannt werden,211 und dass eine Gesellschaft nur gerecht sein kann, wenn sie die „Qualität der gesellschaftlichen Anerkennungsbeziehungen“ garantiert.212 Die Anerkennungstheorie hat darüber hinaus den Anspruch, „die moralische Entwicklung von Gesellschaft“213 ausgehend von Kämpfen um Anerkennung zu interpretieren und die Ursache sozialer Konflikte als Mangel an Anerkennung, Missachtung und Verletzung von normativen Erwartungen negativ zu erklären; denn mit dieser negativen Bestimmung können die normativen Prinzipien zur Gewährleistung der personellen Integrität angemessen und positiv determiniert werden. So wie Honneth es veranschaulicht, besteht die Herausforderung für eine Anerkennungstheorie darin, zu bestimmen, „welches die konzeptuellen Mittel [sind], so müßte es dann heißen, mit denen eine Sozialtheorie darüber zu befinden vermag, was an der gesellschaftlichen Wirklichkeit von den Subjekten als soziales Unrecht erfahren wird?“.214 Es geht genauer gesagt um die Frage nach den Kriterien, um jene negativen Phänomene zu identifizieren, die soziales Unbehagen und Leiden verursachen. Zu dieser Erkenntnis gelangt Honneth aus der Unterscheidung von drei Sphären der wechselseitigen Anerkennung im Individualisierungsprozess, welche in Verbindung mit der individuellen Selbstverwirklichung stehen: „Liebe“, „Recht“ und „Leistung“.215 In der ersten Sphäre werden die Individuen als Personen mit Bedürftigkeiten, in der zweiten als Rechtspersonen und in der dritten als Subjekte mit spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten anerkannt, die von großem Wert für die Reproduktion der Gesellschaft sind. Entsprechend konstituieren diese Sphären das Selbstvertrauen, die Selbstachtung und die Selbstschätzung 211 Vgl. R. Forst, a.a.O. 212 Vgl. A. Honneth Umverteilung als Anerkennung, a.a.O. 213 Vgl. A. Honneth Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1994, S. 114. 214 Vgl. A. Honneth Umverteilung als Anerkennung, a.a.O., S. 149. 215 Ebd., S. 162 – 177.

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von Individuen als gelingende Formen der Selbstbeziehung. Dass die Ursache sozialer Konflikte und der damit einhergehenden verfehlten Form von Praxis mit der Verletzung einer von diesen Formen der Selbstbeziehung zusammenhängt, ist deutlich zu sehen, wenn davon ausgegangen wird, dass sich solche Formen der wechselseitigen Anerkennung auf institutionelle Regelungen216 direkt beziehen. So lassen die sozialen Konflikte sich in erster Linie als eine Reaktion auf eine institutionelle Ordnung verstehen, die die normativen Forderungen der gesellschaftlichen Bewegungen nicht ausreichend erfüllen kann. So sind die Kämpfe um Anerkennung Kämpfe um die Erweiterung der „institutionalisierten Anerkennungsordnung“ einer Gesellschaft, d. h. um die Erweiterung der rechtlichen Anerkennung und um die geeignete Darlegung der Wertschätzungskriterien einer Gesellschaft. Auf diese zwei Punkte hat sich die Problematik in den letzten Jahren konzentriert, wenn es darum geht, die Phänomene eines Kampfes um die „kulturelle“217 Anerkennung zu analysieren, in die vor allem feministische, multikulturelle und nationale Bewegungen einerseits, und andererseits weltweit die armen Länder der Dritten Welt verwickelt sind. Die prinzipielle Frage lautet: Soll eine liberale Demokratie, um liberal zu sein, neutral bleiben und sich ausschließlich auf normative Prinzipien zum Schutz individueller Rechte richten? Oder ist eine liberale Demokratie mit Gruppenrechten unverträglich? Die Liberalen haben diese Fragen positiv beantwortet und postulieren, dass mit der Einbeziehung kollektiver Rechte die individuelle Freiheit in Gefahr geraten würde.218 Die Kommunitaristen behaupten ihrerseits, dass ohne kollektive Rechte das kulturelle Überleben und die individuelle Identitätsbildung in dem Kontext einer Zugehörigkeitsgemeinschaft nicht gesichert werden können.219 Bei

216 Ebd., S. 153. 217 Vgl. N. Fraser Justice Interreptus. Critical Reflections on the „Postsocialist“ Condition, New York, London 1997; dies. Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Indentittspolitik. Umverteilung, Anerkennung und Beteiligung in N. Fraser / A. Honneth, a.a.O., S. 13 – 128. 218 Vgl. B. Ackerman Social Justice in the Liberal State, New Haven 1980; R. Dworkin Liberal Community in California Law Review 77, no. 3, 1989, S. 479 – 504; ders. Foundations of Liberal Equality. The Tanner Lectures on Human Value, Salt Lake City 1990; J. Rawls A Theory of Justice, Oxford 1971; ders. Political Liberalism, New York 1993. 219 Vgl. A. MacIntyre Der Verlust der Tugend, a.a.O., Notre Dame 1984; M. Sandel Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1986; ders. Liberalism and its Critics, New York 1984; Ch. Taylor Sources of the Self. The Making of the Modern Identity,

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den Liberalen ist der Personbegriff moralisch-politisch: Er drückt die öffentliche Identität der Personen im Kontext einer Rechtsgemeinschaft aus. Bei den Kommunitaristen ist der Personbegriff ethisch: Er stellt die private Identität der Personen in ihren kulturellen Zusammenhang dar.220 Eine Alternative zu diesen Konzeptionen bietet die Anerkennungsauffassung von Habermas. Er sieht in diesen Konzeptionen das Problem, dass die interne Beziehung zwischen privater und öffentlicher Autonomie nicht nur im Sinne ihrer Komplementierung, sondern auch im Sinne ihres „begrifflich notwendigen Zusammenhanges“221 verkannt wird, indem sie beide Begriffe voneinander getrennt darstellen. Vielmehr nehmen die Individuen als Rechtspersonen gleichzeitig an der Rechtsverwirklichung teil, so dass das Rechtssystem gegenüber den kulturellen Differenzen und dem sozialen Unrecht nicht neutral bleiben kann. Der Universalismus der Grundrechte kann mithin nicht als „abstrakte Einebnung von Unterschieden“ verstanden werden, sondern vielmehr als „Motor einer fortschreitenden Differenzierung des Rechtssystems, das die Integrität der Rechtssubjekte nicht ohne eine strikte, von den Bürgern selbst gesteuerte Gleichbehandlung ihrer identitätssichernden Lebenskontexte sicherstellen kann“.222 Daher soll der demokratische Prozess sowohl die private Autonomie als auch die öffentliche Autonomie sichern, damit etwa die benachteiligten Gruppen über die notwendigen subjektiven Rechte verfügen, die in der Öffentlichkeit durch die aktive Partizipation der Betroffenen Legitimation erlangen, um ihre persönlichen Lebensentwürfe autonom zu verwirklichen.223 Kollektive Rechte sind deswegen für die „gleichberechtigte Koexistenz“ der verschiedenen emanzipatorischen Gruppen nicht notwendig, denn der Staat hat vor allem zu ermöglichen, dass sich die Individuen innerhalb einer Kultur gegenseitig anerkennen und in ihr fortpflanzen können, da eine solche Kultur ihre Mitglieder zu ihrer Aneignung und Weiterentwicklung motiviert. Daraus lässt sich folgern, dass die Kämpfe um Anerkennung nicht verstanden werden sollten als Kämpfe um kollektive Rechte in dem Sinn,

220 221 222 223

Cambridge 1989; ders. Die Politik der Anerkennung in A. Gutmann (Hg.) Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993. Vgl. dazu R. Forst Kontexte der Gerechtigkeit, a.a.O., Kap. I und V. Vgl. J. Habermas Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat in ders. Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1996, S. 242. Ebd., S. 245. Vgl. J. Habermas Drei normative Modelle der Demokratie in ders. Die Einbeziehung des Anderen, a.a.O., S. 283ff.

2. Selbstwahl und die Gegenseitigkeit in der Anerkennung

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dass einer sozialen Gruppe Rechte, die eher eine Ausnahme im Rechtssystem bilden, gewährt werden müssten. Die Inhalte der rechtlichen Anerkennung zu erweitern, um alle Gesellschaftsmitglieder in die Sozialisierungsprozesse gleichberechtigt einzubeziehen und um größere Räume für die Ausübung der Autonomie zu erzeugen; die sozialen Wertschätzungskriterien, die dem Leistungsprinzip zugrunde liegen, zu erweitern und/oder zu transformieren, um die symmetrische Wertschätzung von individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten zu garantieren, ist etwas anderes als das Sprengen des normativen Rahmens des Rechtssystems. Dabei handelt es sich nicht um die Gewährleistung kollektiver Rechte und um ihre Priorität vor individuellen Rechten. Es geht auch nicht um den Vorrang dieser vor jenen. Es handelt sich vielmehr um die Gewährleistung von individuellen, partizipatorischen, ökonomischen und sozialen Rechten, von denen die volle Ausübung der individuellen Autonomie und die reziproke Anerkennung der Mitglieder einer Gesellschaft abhängen.224 Weil Habermas schließlich von einer gleichberechtigten Einbeziehung aller in den reflexiven Prozess der Selbstgesetzgebung ausgeht, deutet er an, dass in der Bestimmung des Gerechten das Gute enthalten ist. Diese letzte Formulierung, die sich von der liberalen und der kommunitaristischen Auffassung stark abgrenzt, ist sehr wichtig, um genau zu bestimmen, wie es sich bei Kierkegaard bezüglich dieser Debatte des Verhältnisses des Gerechten zum Guten verhält. Nach meiner Interpretation sind in Kierkegaards Darstellung des Wahlbegriffes einige Züge der heutigen Anerkennungstheorie in ihrer politischen Dimension zu finden, wie die Idee einer sozialen Anerkennung im gemeinschaftlichen Kontext und die Bestimmung von negativen und positiven Formen des Selbstverhältnisses: Zum einen die Pathologien im Ästhetischen – Angst, Verzweiflung, Schwermut – und zum anderen das gelingende Gutsein im Ethischen – Arbeit, Beruf, Ehe, Freundschaft. Im Gegensatz zu Habermas ist schließlich zu beachten, dass es Kierkegaard grundsätzlich um die Bestimmung des gelingenden Gutseins unabhängig von der Bestimmung des Gerechten bzw. des Bereichs des Rechts geht. Weil das Gerechte eine notwendige Konsequenz der ethischen Selbstwahl ist, weil der sich selbst ethisch gewählte Mensch immer mit Verantwortung – gerecht – handelt, wird nicht nach dem Gerechten gefragt. Trotzdem kann hier behauptet werden, dass in der Bestimmung des gelingenden Gutseins sowohl das Gerechte als auch der Bereich des Emotionalen enthalten sind 224 Vgl. J. Habermas Faktizitt und Geltung. Beitrge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992.

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und potenziert werden. Genau gesagt, was Kierkegaard in seiner Analyse auf Grund seiner speziellen Fragestellung bezüglich des Problems des Menschseins nicht thematisiert, ist jene Sphäre der Anerkennung, die Honneth „Recht“ nennt, und die Kierkegaard auf den Begriff der Verantwortung zurückführt. Ich möchte diese Aspekte des Anerkennungsbegriffes Kierkegaards jetzt anhand der behandelten Begriffe der konkreten Wahl, der Lebensgeschichte und der Individuierung durch die Formen der Sittlichkeit betrachten. Kierkegaard beginnt seine Analyse mit der Bestimmung des Ästhetischen als paradigmatischer Lebensform in der Moderne. Mit dem Ästhetischen bezeichnet er – wie hervorgehoben wurde – einen in der modernen Zeit stattfindenden Prozess des Sinnverlustes, dessen Realität den Individuen nicht bewusst ist. Das Ästhetische als Lebensform ist somit, so Kierkegaard, die Indifferenz, die Gleichgültigkeit gegenüber der Existenz und daher eine negative Form der Anerkennung. Für Kierkegaard ist es deshalb sehr wichtig, Klarheit darüber zu gewinnen, was das ästhetische Leben konstituiert und wie dieser Zustand der Indifferenz zu überwinden ist. Was die erste Frage anbelangt, findet Kierkegaard im Begriff der Verzweiflung die Schlüsselkategorie, um die Ursache des Mangels an Beständigkeit im Verhältnis zu sich selbst und zum anderen zu bestimmen. Die Verzweiflung wird als Bruch mit der Wirklichkeit in dem Sinne verstanden, dass das Prinzip des Handelns außerhalb des Individuums liegt. Weil die Individuen im Ästhetischen unmittelbar sind, was sie sind und vergessen haben, was es heißt, Mensch zu sein, nehmen sie eine passive Haltung im Verhältnis zueinander an. Diese passive Haltung ist die oben genannte ästhetisch teilnahmslose Haltung, in der die Welt und die anderen nur da sind, um den Genuss und die Selbstbefriedigung zu potenzieren. Damit meint Kierkegaard, dass, wer eine solche Haltung annimmt und sich selbst vergisst, den anderen und sich selbst stets auf falsche Weise anerkennt. Oder besser: Er instrumentalisiert und wird herrschsüchtig. Den Wert der anderen sieht er nicht, sondern das Bild, das er von ihnen zeichnen will. Die dieser Haltung innewohnende Verzweiflung ist ein Verlust, der in der Unfähigkeit besteht, ein soziales Wesen zu sein. Es ist sodann einfach zu sehen, dass Kierkegaard die Pathologien im Ästhetischen als negative Formen der Anerkennung versteht. Was sich im Ästhetischen als Mangel erweist, entspricht einer negativen Form des Selbstverhältnisses, die das Selbstvertrauen, die Selbstachtung und die Selbstschätzung225 der Individuen im Sozialisierungsprozess betrifft. Das möchte Kierkegaard veran225 Vgl. A. Honneth Umverteilung als Anerkennung, a.a.O., S. 162 – 170.

2. Selbstwahl und die Gegenseitigkeit in der Anerkennung

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schaulichen, wenn er in einem nächsten Schritt das ästhetische Leben dem ethischen Leben gegenüberstellt. Das ästhetische Leben wird durch die radikale Selbstwahl überwunden. Gemäß der dialektischen Bestimmung der Selbstwahl bedeutet etwas zu überwinden, das Überwundene zu gewinnen, das Eroberte zu besitzen. So ist das ethische Leben, dessen Bestimmungen sich das Individuum dank der radikalen Wahl des Selbst in seinem partikulären Leben anzueignen hat, wenn er sich von den negativen Folgen des ästhetischen Lebens befreien will, das Aufrechterhalten des Ästhetischen in einer höheren Konzentrizität. Deshalb kann sehr wohl behauptet werden, dass in der Bestimmung des Guten der Bereich des Emotionalen positiv enthalten ist. Das ist, was Kierkegaard stark betont, wenn er die radikale Selbstwahl als den wahren Anfang der Freiheit (EO2, 168) versteht. Denn durch die Selbstwahl erkennt der Mensch seine Teilnahme sowohl an der Geschichte des Geschlechts (Gattung) als auch an seiner eigenen Lebensgeschichte an. Er erkennt an, dass er das Geschlecht und gleichzeitig er selbst ist (BA, 25). Die Anerkennung dieser Partizipation am Ganzen und an sich selbst haben wir oben als Anerkennung des Ausgeliefertseins und der damit einhergehenden Verantwortung für den anderen interpretiert. Die Fähigkeit zur radikalen Selbstwahl als elementarer Form der Anerkennung ermöglicht das gelingende Gutsein, von dem die Verwirklichung der Freiheit abhängt. Daraus entwickelt Kierkegaard eine Theorie des ethischen Lebens, bei der es genau gesagt um die Aneignung der Formen von Sittlichkeit geht. In diesem Punkt ist eine Verbindung zu Honneths Unterscheidung von drei Sphären der Anerkennung zu finden, wie er sie in seiner Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie226 interpretiert. Dort vertritt Honneth die These, dass der Übergang zur Sittlichkeit, wie seiner Meinung nach Hegel ihn versteht, vom einzelnen Subjekt als eine Befreiung vom Leiden erfahren wird.227 Denn „die ,Sittlichkeit‘ befreit von einer sozialen Pathologie, indem sie für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen die Bedingungen einer Verwirklichung von Freiheit schafft“,228 Bedingungen also, deren Bestimmung auf den drei Handlungssphären der Sittlichkeit – Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat – fußt. Diese drei Handlungssphären der Sittlichkeit lassen sich übersetzen in die drei Sphären der Anerkennung – Liebe, Recht und Leistung –, die als Garant des Selbstvertrauens, der Selbstachtung und der Selbstschätzung zu verstehen sind. 226 Vgl. dazu A. Honneth Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001. 227 Ebd., S. 70. 228 Ebd., S. 79.

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III. Die Frage nach dem gelingenden Gutsein

Kierkegaard spricht zwar nicht von Sphären der Anerkennung, sondern von konkreten Lebensverhältnissen. Die Implikationen aber, die die Aneignung von diesen konkreten Lebensverhältnissen für die Bildung der Individualität mit sich bringt, lassen sich als positive Formen des Selbstverhältnisses im Sinne von Honneths Theorie darlegen. So sind Arbeit, Beruf, Ehe und Freundschaft als Pflicht229 verstanden nicht nur Formen der Konkretisierung der Ethik, sondern auch Formen, durch die die Freiheit des Menschen wächst und durch die er stets ein positives Gefühl gewinnt. Bei Arbeit und Beruf handelt es sich um die Selbstachtung und Selbstschätzung der Individuen. Für Kierkegaard, der jede Form von Sittlichkeit mit einem konservativ, ethisch-religiösen Inhalt deutet, spielt es keine Rolle, wie der Beruf im gesellschaftlichen System bewertet wird, oder welchen Beruf das Individuum hat. Vielmehr ist für ihn das Wichtigste, dass das Individuum sich am Allgemeinen teilnehmend weiß und seine Pflicht erfüllt, etwas auszurichten. Die Anerkennung betrifft nicht eine besondere Leistung, sondern die Tatsache, dass das Individuum etwas ausrichtet. In der Erfüllung ist der Mensch anerkannt (EO2, 314) und daran soll er seine Befriedigung finden. Die Erfahrung der Verwandtschaft mit dem Menschen ist das, was das positive Selbstgefühl fördert. Mit der Ehe und der Freundschaft verhält es sich ähnlich. Die Pflicht zu heiraten ist das Bedürfnis nach Liebe und Beständigkeit, nach gegenseitiger Fürsorge und Bestätigung. In der ethischen Liebe wächst das Selbstbewusstsein in der Entfaltung einer gemeinsamen Ehegeschichte. Die Freundschaft ist schließlich die wichtigste Komponente der sozialen Praxis. In ihr wird die Forderung des Offenbarwerdens auf die anderen Bereiche des Lebens positiv erweitert. Was man in der Freundschaft mit jemandem, mit dem man eine gemeinsame Konzeption des Lebens teilt, gewinnt, ist die Fähigkeit, ein soziales Wesen zu sein. Sowohl die Liebe als auch die Freundschaft fundieren das Selbstvertrauen der Individuen. Kierkegaard betont immer wieder in seiner Darstellung des Ethischen, dass die Erfüllung der Pflicht durch die Aneignung von Sittlichkeit und durch die positive Teilnahme am Allgemein-Menschlichen das gelingende Gutsein ermöglicht. Anders ausgedrückt, was die Aneignung von Sittlichkeit leistet, ist, um es mit Honneth zu sagen, das Aufrechterhalten vom gelingenden Gutsein dank der Befreiung vom Leiden. 229 Wie Hegel versteht Kierkegaard hier die Pflicht als das „Freimachende“ (LT, 45), als ein Bedürfnis im Menschen nach Selbstverwirklichung (vgl. G. W. F. Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke 7), a.a.O., § 149).

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Ist dies, wie Adorno in seiner Kritik an der Lehre der Liebe Kierkegaards scharf bemerkt, „[g]esellschaftlich konformistisch“? 230 Sollte man sich damit zufrieden geben, dass man eine Arbeit und einen Beruf hat und etwas ausrichtet, unabhängig davon, ob diese Arbeit und dieser Beruf das eigene Leben tatsächlich bereichern? Reicht, so muss wegen der Abwesenheit einer Konzeption der Gerechtigkeit, des Rechts und des Staates bei Kierkegaard wieder gefragt werden, die bloße Wahl des Berufs oder jeder Form von Sittlichkeit aus, wenn nicht alle gleichberechtigt von den Vorteilen des Lebens im Staat profitieren können? Man kann nicht darüber hinweg sehen, dass Kierkegaard dies auf Grund seiner konservativ, ethischreligiösen Deutung in der Tat denkt. MacIntyre hätte damit Recht, wenn er kritisiert, dass Kierkegaard zu verstehen gibt, dass nach der radikalen Wahl des Selbst der ethische Mensch keine weitere Schwierigkeiten hat, das Allgemeine zu realisieren und daran Befriedigung – Selbstbestätigung, Selbstvertrauen, Selbstachtung, Selbstschätzung – zu finden.231 Für dieses Problem glaube ich eine mittlere Lösung gefunden zu haben, mit meinem Vorschlag, mit Hilfe von Habermas’ Distinktion des pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauchs der praktischen Vernunft die Doppelfunktion der Wahl zu korrigieren. Dort ging es mir um eine Artikulation dieser drei Modi des Gebrauchs der praktischen Vernunft. Interessant an dieser Artikulation ist, dass ich den ethischen Gebrauch so interpretiert habe, dass er Vorrang vor den anderen zwei Modi hat und das Gleichgewicht zwischen beiden herstellt. Letzteres spiegelt sich positiv in der These wider, dass in der Bestimmung des gelingenden Gutseins das Gerechte unter der Figur einer Verantwortung gegenüber sich selbst und gegenüber anderen enthalten ist, wie in Anlehnung an Aristoteles gezeigt worden war. Kierkegaard scheint somit der Überzeugung zu sein, dass in erster Linie die Ausübung der individuellen Autonomie und die reziproke Anerkennung der Mitglieder einer Gesellschaft vom sich selbst vor Gott ethisch gewählten Menschen, vom richtigen Selbstverständnis, abhängt. Ob und wie der Staat die Bedingungen der Verwirklichung der Freiheit zu gewährleisten hat, bleibt unthematisiert. Was der spätere Kierkegaard herausgearbeitet hat als Bestimmung vor Gott, die eine Bestimmung vor einem anderen und Abhängigkeit von einer Macht ist, die das Individuum konstituiert und dessen Lebensentwürfe von ihr abhängig macht, soll wieder durch den früheren Kierkegaard aktualisiert werden, und zwar im Horizont der sprachlichen Verständigung, wenn 230 Vgl. T. W. Adorno Kierkegaards Lehre von der Liebe, a.a.O., S. 226. 231 Vgl. A. MacIntyre Der Verlust der Tugend, a.a.O., S. 65 – 66.

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III. Die Frage nach dem gelingenden Gutsein

es nicht mehr ein interpersonales Verhltnis zu Gott, sondern zu anderen gibt.232 Das ist, was ich im Lauf der Argumentation zu zeigen versucht habe mit meinen Vorschlag, der Weg zum gelingenden Gutsein als Weg der Gegenseitigkeit – der positiven sozialen Praxis – und der Einseitigkeit – des Aufrechterhaltens der gegenseitigen Verhältnisse – in der Anerkennung zu verstehen. Damit wurde auch der Versucht unternommen, den fehlenden „Begriff der Praxis des wirklichen Lebens als Maß der Nächstenliebe“233 aus der Wahlbewegung und aus dem Aneignungsprozess der Formen der Sittlichkeit im ethischen Leben des Menschen zu gewinnen. Wird die Nächstenliebe auf das Verhältnis von der Wahl zur Sozialisierung so bezogen, dass die Liebe zum Nächsten gleichzusetzen ist mit der Anerkennung des anderen als jemanden, der zu einer moralischen Gemeinschaft gehört, dann hört der Nächste auf, eine Abstraktion zu sein. Es kann aber nicht übersehen werden, dass die Aktualisierung von Kierkegaards Auffassung der Ethik zudem, wie Habermas betont, eine prozeduralistische Auslegung des anderen,234 die die Existenz von erweiterten intersubjektiven Kommunikationsräumen voraussetzt, verlangt, um die (bürgerliche) Partizipation in den Lebensverhältnissen gewährleisten zu können. Es bedarf einer Gerechtigkeitstheorie, die die Bestimmung des gelingenden Gutseins konsequent ergänzt. In seiner Interpretation des Begriffs der Befreiung Hegels lässt Honneth den notwendigen, herzustellenden Zusammenhang zwischen diesen beiden Momenten ausgehend vom Verhältnis der Begriffe Therapie, Befreiung und Gerechtigkeit am besten erkennen wie folgt: Der Übergang zur ,Sittlichkeit‘ soll zugleich mit der Überwindung der pathologischen Einstellungen auch zur Einsicht in die kommunikativen Bedingungen verhelfen, die die soziale Voraussetzung dafür bilden, daß alle Subjekte gleichermaßen zur Verwirklichung ihrer Autonomie gelangen können; denn erst in dem Moment, in dem die Betroffenen selber durchschaut haben, daß sie sich von unzulänglichen, weil vereinseitigten Freiheitsvorstellungen haben leiten lassen, vermögen sie von sich aus in ihrer 232 Vgl. J. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur, a.a.O., S. 25. 233 Vgl. T. W. Adorno Kierkegaards Lehre von der Liebe, a.a.O., S. 224. 234 „Die linguistische Wende erlaubt eine deflationistische Deutung des ,ganz Anderen‘. Als geschichtliche und soziale Wesen finden wir uns immer schon in einer sprachlich strukturierten Lebenswelt vor. Schon in den Kommunikationsformen, worin wir uns miteinander über etwas in der Welt und über uns selbst verständigen, begegnet uns eine transzendierende Macht […]. Im Logos der Sprache verkörpert sich eine Macht des Intersubjektiven, die der Subjektivität der Sprecher vorausund zugrunde liegt“ (vgl. J. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur, a.a.O., S. 25 – 26).

3. Selbstliebe und die Einseitigkeit in der Anerkennung

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eigenen Lebenswelt die Interaktionsformen zu erkennen, an denen teilzunehmen eine notwendige Bedingung ihrer individuellen Freiheit ist. Daher ist die gerechtigkeitstheoretische Einsicht, daß in modernen Gesellschaften alle Subjekte die Chance einer Partizipation an derartigen Interaktionssphären erhalten sollten, an die vorgängige Emanzipation von einem fehlgelaufenen Bildungsprozeß gebunden: ohne die befreiende Vergegenwärtigung, daß sie deswegen an ,Unbestimmtheit‘ leiden, weil sie unbemerkt vereinseitigte Freiheitsvorstellungen in ihrer Lebenspraxis übernommen haben, könnten die Subjekte gar nicht zu jenem intersubjektivitätstheoretischen Begriff von Gerechtigkeit gelangen, der in der Idee einer modernen Sittlichkeit angelegt ist.235

Es ist festzustellen, dass der Mangel einer Gerechtigkeitstheorie in der Auffassung Kierkegaards die Anerkennung in ihrer politischen Dimension auf die Bestimmung von negativen und positiven Formen des Selbstverhältnisses beschränkt, die jeweils die individuelle Selbstverwirklichung entweder verhindern oder fördern. Die Stärke eines solchen Begriffs der Anerkennung in ihrer politischen Dimension besteht erstens darin, dass er präzisiert, wie die Befreiung möglich ist, und wie die Aneignung von Sittlichkeit die reziproke Anerkennung sicherstellen kann, und zweitens dass er die Bildung eines richtigen Selbstverständnisses zur Voraussetzung der gut gelungenen sozialen Praxis im Sinne der Gerechtigkeit erhebt.

3. Selbstliebe und die Einseitigkeit in der Anerkennung (Schlussbemerkung) Der Weg zur Selbstliebe ist der Weg zum gelingenden Gutsein. Das war die Hauptthese, die im zweiten Teil herausgearbeitet wurde. Die Stärke eines solchen Begriffes der Selbstliebe liegt in der Entschlossenheit des uneigennützigen Daseinwollens für den anderen, das sich in dem Handelnden selbst positiv widerspiegelt. Die Forderung der Liebe, eine Kritik von Adorno wiederaufnehmend, ist tatsächlich „blind“.236 Blindheit muss aber nicht negativ konnotiert sein. Es wird eher eine Art Blindheit hinsichtlich der Diskriminierung gefordert, um sofort zum anderen zu gelangen. Was nicht gesehen werden soll, sind die notwendigen Abstraktionen, die das Sehen des anderen verhindern. Liebend mit geschlossenen Augen diskriminiert man nicht, schaut man nicht durch den anderen hindurch.237 235 Vgl. A. Honneth Leiden an Unbestimmheit, a.a.O., S. 75 – 76. 236 Vgl. T. W. Adorno Kierkegaards Lehre von der Liebe, a.a.O., S. 222. 237 Vgl. A. Honneth Unsichtbarkeit, a.a.O., S. 12.

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III. Die Frage nach dem gelingenden Gutsein

Das ist eine Warnung, dass die Tendenz unserer Zeit, nämlich zu diskriminieren, das soziale Unbehagen und Unrecht zu identifizieren, die Bedürftigen und Hilflosen nicht sieht. Eine radikal einseitige Auffassung der Forderung der Liebe ist ein Korrektiv, eine Warnung, eine Art Handbremse gegen diese Tendenz. Sie konsequent zu erfüllen, wie Kierkegaard glaubt, dass es unsere Pflicht als wahre sittliche Lebensaufgabe ist, ist sicherlich nicht möglich. Denn unsere Gesellschaft ist weder eine Liebesgesellschaft, noch befindet sie sich auf dem Weg zu ihr. Es muss noch viel diskriminiert und geändert werden, damit der Mensch eines Tages die Instanz des Handelns auf jenes positive Dritte, welches die Liebe ist, verweist. Man könnte vielleicht auf der Idee beharren, dass der Weg zur Selbstliebe der Weg zum gelingenden Gutsein ist, unter der Voraussetzung, dass die Selbstliebe, indem sie mich betrifft, von mir realisierbar ist. Hier kann man jedoch nur feststellen, dass die Forderung lediglich teilweise erfüllbar ist. Nichtsdestotrotz ist und bleibt der Weg zur Selbstliebe der Weg zum gelingenden Gutsein. Sie ist die unumgängliche Voraussetzung eines positiven Verhältnisses zu sich selbst und zum anderen. Sie steht immer am Anfang des moralischen Handelns, selbst wenn wir sie vergessen. In diesem Sinne habe ich mit Hilfe von Cavell, Honneth und Frankfurt versucht, sie, wie Kierkegaard sie versteht, für jene elementare Form vom Selbstverhältnis plausibel und attraktiv zu machen. Wichtig – und teilweise neu für die Anerkennungsdiskussion – ist, dass die Selbstliebe das Moment der Einseitigkeit in der Anerkennung darstellt. Sie lässt sozusagen die Gegenseitigkeit vorläufig außer Kraft und fordert eine „Realisation“ um des anderen willen. Die Einseitigkeit in der Anerkennung ist wie eine innere Stimme, die ständig an die Aufgabe erinnert, das asymmetrische Verhältnis zum anderen zu überwinden. Höre ich die Stimme der Einseitigkeit der Forderung nicht und fange ich an, daran zu zweifeln, ob die Bewegung zum anderen es wert ist, vollzogen zu werden, dann höre ich sie „ethisch konsequent“ zu mir sagen: „[W]as geht Dich das an, Du sollst in jedem Augenblick das Ethische tun, und bist für jeden Augenblick, den Du vergeudest, ethisch verantwortlich“ (Pap. VIII 2 B 81,10). Höre ich die innere Stimme und lasse die Liebe zu mir selbst mich aufrichtig zum anderen führen, hebe ich genau in diesem Moment die Einseitigkeit auf, das Verhältnis wird gegenseitig. Ist das aber möglich? Paul Ricœur beschreibt dieses Phänomen folgendermaßen: Was nichtsdestoweniger für eine systemische Sicht der Sequenz Gabe-Gegengabe spricht ist, daß das Rätsel in den Rang eines Paradoxons erhoben

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wird, in der starken Bedeutung eines widersprüchlichen Gedankens. Das Paradoxon lautet: Wie wird der Empfänger der Gabe dazu verpflichtet, die Gabe zu erwidern? Und wenn er sie erwidern muß, um großzügig zu sein, wie hat dann die erste Gabe großzügig sein können? Anders gesagt: Ein Geschenk durch seine Erwiderung anzuerkennen, heißt das nicht, es als Geschenk zu zerstören?.238

Kierkegaard findet eine Lösung für dieses Problem in der Rotation des Liebesverhältnisses. Der Empfänger wird dank der empfangenen Liebe Geber und der ursprünglichen Geber wird Empfänger. Die Erfüllung seiner Pflicht, die er mittels der maieutischen Hilfe anerkannt hat und die ihn von jetzt an zum ursprünglichen Geber bewegt, ist keine Erwiderung im eigentlichen Sinne des Wortes, da jene Hilfe verborgen bleibt. Er, der neue Geber, weiß sich durch sich selbst verpflichtet und so ist seine Erwiderung keine Gegengabe sondern Gabe. „Genaugenommen hat man sich die erste Gabe als Modell der zweiten und die zweite Gabe als eine Art […] zweiter erster Gabe vorzustellen“.239 Durch die Selbstliebe sind wir dem Weg von der Einseitigkeit zur Gegenseitigkeit in der Anerkennung gefolgt. Dass wir in der Bewahrung und Wiederherstellung dieser ursprünglichen Form vom Selbstverhältnis immer wieder der Gefahr des Scheiterns begegnen können, gehört, um dies mit Honneth zu sagen, zu unserer „Anerkennungsvergessenheit“, aber auch zu der Doppelgefahr, vor der Kierkegaard warnt. Wichtig ist, dass die Liebe, wofür auch immer man sich entscheidet, bleibt.

238 Vgl. P. Ricœur Wege der Anerkennung, a.a.O., S. 286. 239 Ebd., S. 301.

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Index Ackerman, B. 179 Adorno, T. W. 75, 77f., 83, 97, 119, 124, 158f., 162, 185 – 187 Anz, W. 17 Aristoteles 2, 54, 56 – 60, 62f., 78, 185 Cavell, S. 188

106, 167f., 170f., 175f.,

Daise, B. 17 Dalferth, I. U. 101, 114, 130 Derrida, J. 148, 154 Deuser, H. v, 6, 17, 101 Dewey, J. 169 Deyton, C. E. 101, 103 Diem, H. 10, 19, 153 Dirlmeier, F. 56f. Duncan, E. H. 96f. Dworkin, R. 179 Evans, C. S.

109

Fahrenbach, H. 16f., 39 Fichte, J. G. 24f., 37, 40, 78 Forst, R. 102, 178, 180 Frankfurt, H. G. 110 – 112, 131, 163, 188 Fraser, N. 102, 179 Fromm, E. vii, 52, 106, 110, 116, 129, 156, 163 Gadamer, H. G. 17, 57, 67 Gigon, O. 56f. Greve, W. 16, 17, 27, 31, 42, 49, 67, 70, 79, 91, 96 Grøn, A. v, 9, 47, 101, 130, 150, 155, 157 Gyllembourg, T. 4, 13

Habermas, J. 2, 42, 44, 62 – 67, 73, 79, 91, 98, 99, 102, 180f., 185f. Hannay, A. 3 Harbsmeier, E. 125 Hauschildt, F. 101 Hegel, G. W. F. 10, 24f., 27, 47, 68, 76f., 139 – 146, 151f., 183f., 186 Heidegger, M. 97, 169 Henningsen, B. 12, 55, 94 Hirsch, E. 6 Holl, J. 40 Honneth, A. v, 15, 102, 106, 167 – 171, 175f., 178f., 182 – 184, 186 – 189 Irwin, T. H.

57

Jankélévitch, V. vii, 148 Jaspers, K. 35, 39, 40, 53, 94f. Kant, I. 73 – 78, 155 Kenny, A. 57 Kim, M. 55 Kloeden, W. v. 9 Künzli, A. 9 Lincoln, U. 101, 109 Lukács, G. 169 Luther, M. 126f., 162f. Løgstrup, K. E. 101, 121, 124, 132, 158, 160 – 162 Löwith, K. 12 MacIntyre, A. 185 Nero

55f., 62, 68f., 179,

31 – 33, 37

Piaget, J. Pieper, A.

53 27, 68

Index

Poulsen, B. K. 6 Purkarthofer, R. 3 Rapp, Ch. 57 Rawls, J. 179 Ricœur, P. 121, 149, 156, 188f. Ringleben, J. 134 Sandel, M. Scheler, M. Schlegel, F. Schmidt, J. Schulz, W.

179 106, 123, 131 22, 27f. 20 37

197

Schweppenhäuser, H. 47 Sløk, J. 20 Stewart, J. 47, 155 Søltoft, P. 73, 114, 136, 156 Taylor, Ch. 179 Theunissen, M. 10, 16f., 27, 40, 42, 67, 70, 96 Thulstrup, N. 47 Tugendhat, E. 41, 56 Weber, M. 77f. Wolf, U. 56 – 58, 63f.