Das Grundgesetz: Einführung in das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.] 9783428453443, 9783428053445

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Das Grundgesetz: Einführung in das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.]
 9783428453443, 9783428053445

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R U D O L F WEBER-FAS

Das Grundgesetz

Das Grundgesetz E i n f ü h r u n g i n das Verfaesungsrecht der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d

Von R U D O L F WEBER-FAS Dr. jur., Master of Laws (Harvard) ο. Professor für öffentliches Recht

DUNCKER&HÜMBLOT/BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Weber-Fas, Rudolf: Das Grundgesetz : Einf. i n d. Verfassungsrecht d. Bundesrepublik Deutschland / von Rudolf Weber-Fas. B e r l i n : Duncker u n d Humblot, 1983. I S B N 3-428-05344-3

Alle Rechte vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 05344 3

Für Lotte

Vorwort Dieses Buch über das Grundgesetz ist entstanden aus meinen staatsrechtlichen Vorlesungen und Seminaren an der Universität Mannheim. Geschrieben nicht nur für Studierende möchte es i n die grundlegenden Zusammenhänge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik geschichtsbewußt einführen. Die Darstellung konzentriert sich — unter Berücksichtigung verfassungshistorischer, rechtsvergleichender, staatstheoretischer und völkerrechtlicher Bezüge — auf die wesentlichen Prinzipien und Strukturen der Verfassung. Dem Leser soll i n prägnanter Form viel, nicht vielerlei geboten werden. Das deutsche Grundgesetz bildet — vor tragischem Hintergrund — einen rechtlichen Höhepunkt i n der Geschichte des Verfassungsstaats. Es ist der Fels, auf dem das Staatsgebäude der Bundesrepublik steht. Ob dieses Gemeinwesen, wie Dichter denken, der „gutartigste Staat ist, den es seit Hermann dem Cherusker auf diesem Territorium gegeben hat" (Hilde Domin) oder gar der „freieste Staat, den es überhaupt auf der Welt gibt" (Peter Hüchel), kann hier nicht entschieden werden. Gewiß aber ist das Grundgesetz eine hervorragende Verfassung der Freiheit, die Vertrauen verdient und M u t zur Verteidigung. Ob diese Verfassung i m Strom der Zeit standhalten wird, hängt entscheidend ab von Klugheit, K r a f t und Freiheitssinn der Bürger und Organe des Verfassungsstaats. Immer noch gilt das Wort des Thukydides: „Es gibt kein Glück ohne Freiheit und keine Freiheit ohne Tapferkeit." München, i m Vorfrühling 1983 Rudolf

Web er -Fas

Inhalt

Erstes Kapitel Das Bonner Grundgesetz in der deutschen Verfassungsgeschichte § 1

Entstehung u n d Anwendungsbereich des Grundgesetzes I. Verfassungshistorischer H i n t e r g r u n d des Grundgesetzes I I . Staatliche Neugestaltung nach 1945 i n Deutschland

§ 2

17

I I I . Londoner Konferenz, Herrenchiemseer Konvent u n d Parlamentarischer Rat

18

I V . Zeitliche, räumliche u n d sachliche Geltung des Grundgesetzes

21

Z u r Rechtslage Deutschlands

22

I. Deutsches Reich I I . Bundesrepublik Republik

22 Deutschland u n d Deutsche

Demokratische 23

I I I . Berlin § 3

13 13

27

Das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik I . Der innerstaatliche P r i m a t des Grundgesetzes I I . Das Grundgesetz i n der transnationalen Rechtsordnung I I I . Grundsätze der Verfassungsauslegung

Zweites

29 29 34 40

Kapitel

Staatsgestaltende Fundamentalprinzipien des Grundgesetzes § 4

Das republikanische Prinzip

47

§ 5

Die demokratische Staatsstruktur

49

I. Vorbemerkung z u m geltenden Demokratieprinzip I I . Volkssouveränität u n d Repräsentation

50 52

10

§ 6

Inhalt I I I . Politische Parteien i m demokratischen Staat

56

I V . Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung

60

Die verfassungsrechtliche Gestalt des Rechtsstaats

63

I. Staatsphilosophische u n d verfassungsgeschichtliche lagen des heutigen Rechtsstaatsbegriffs

Grund64

I I . Grundgesetzliche Strukturelemente des Rechtsstaatsprinzips I I I . Substantielle Verfassungszwecke der Rechtsstaatlichkeit § 7

Der Sozialstaatsgrundsatz I. Neue Staatsaufgaben wandlungen

80 84

infolge

gesellschaftlicher

Struktur85

I I . Verfassungsrechtliche Merkmale des sozialen Staates § 8

70

87

Die bundesstaatliche Grundordnung I. Z u r Geschichte u n d Gegenwartslage föderativer keit

93 Staatlich93

I I . B u n d u n d Länder unter dem Grundgesetz

Drittes

98

Kapitel

Verfassungsorgane und Staatsfunktionen im Regierungssystem der Bundesrepublik § 9

Leitgedanken u n d Grundordnung des parlamentarischen rungssystems

Regie113

I. Historische Wurzeln u n d Gegenwartsprobleme der parlamentarischen Demokratie 113 I I . Parlament u n d Regierung i m Verfassungsgefüge des G r u n d gesetzes 118 § 10

Verfassungsgestalt u n d Kompetenzen oberster Staatsorgane I. Der Bundespräsident

123 123

I I . Der Bundestag

134

I I I . Der Bundesrat

145

I V . Die Bundesregierung

149

V. Das Bundesverfassungsgericht

157

Inhalt Viertes

11

Kapitel

Die Grundrechte in der Verfassungsordnung des Bundes § 11

Z u r politisch-historischen E n t w i c k l u n g der Grundrechtsidee

§ 12

Grundrechtsprinzipien der Verfassung u n d exemplarische Einzelgrundrechte 172 I . Der Vorrang der Grundrechte i m geltenden Rechtsstaat

167

172

I I . Grundrechte als subjektive Rechtspositionen u n d objektive Maßstabsnormen 175 I I I . Rechtsstaatliche Grenzen der Grundrechtsauslegung

176

I V . Menschenwürde u n d Freiheitsgrundrechte

186

V. Allgemeine Gleichheitsnorm u n d besondere Gleichberechtigungen 196 V I . Justizielle Grundrechte V I I . Grundrechtsträger u n d Grundrechtsadressaten V I I I . Verfassungsschranken der Grundrechtsbegrenzung

200 205 208

Anhang Text des Grundgesetzes

215

Abkürzungsverzeichnis

263

Sachregister

267

Erstes Kapitel

Das Bonner Grundgesetz in der deutschen Verfassungsgeschichte Gegenstand des vorliegenden Buches ist das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Als herausgehobene Kernmaterie des Staatsrechts 1 hat das Verfassungsrecht Geltungsvorrang gegenüber allen anderen Rechtsnormen. Dieser Primat der Verfassung ist eines der vornehmsten Kennzeichen freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit. Der Text der Verfassung ist i m Grundgesetz festgelegt. Das Grundgesetz als Verfassungsurkunde der Bundesrepublik ist das staatsrechtliche Ergebnis der politischen Entwicklung Deutschlands nach dem Untergang der Weimarer Republik und dem Ende des Dritten Reiches i n der totalen Niederlage 1945.

§ 1 Entstehung und Anwendungsbereich des Grundgesetzes L i t e r a t u r : W. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. 1964; K . - B . v. Doemming / R. W. Füsslein / W. Matz, Entstehungsgeschichte der A r t i k e l des Grundgesetzes, i n : Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N. F., Bd. 1 (1951), S. 1—941; F. K . Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 2. A u f l . 1962; F. Meinecke, Die deutsche Katastrophe, 1946; H. Peters, Geschichtliche Entwicklung u n d Grundfragen der Verfassung, 1969; W. Weber, Weimarer Verfassung u n d Bonner Grundgesetz, i n : ders., Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 9 ff. I . Verfassungshistorischer Hintergrund des Grundgesetzes

Das Scheitern der Weimarer Reichsverfassung (WRV) und das A b gleiten Deutschlands i n den Unrechtsstaat des nationalsozialistischen Regimes bilden den existentiellen und verfassungskonstruktiven H i n tergrund des Bonner Grundgesetzes (GG). 1 Z u m Begriff des Staatsrechts vgl. R. Weber-Fas, Staatsrecht, i n : R. Weber-Fas (Hg.), Jurisprudenz. Die Rechtsdisziplinen i n Einzeldarstellungen, 1978, S. 419 ff. — Z u r Abgrenzung von Staatsrecht u n d Verfassungsrecht siehe auch K . Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, S. 9 f.

14

§ 1 Entstehung u n d Anwendungsbereich des Grundgesetzes

Die WRV war hervorgegangen aus dem konstitutionellen und m i l i tärischen Zusammenbruch des Kaiserreichs i m Herbst 1918. Der Thronverzicht Kaiser Wilhelms II. und der Rücktritt des Reichskanzlers Prinz Max von Baden bezeichneten das Ende der monarchischen Reichsverfassung von 18712. Aus den anschließenden revolutionären Wirren entstand eine neue republikanische Staatsgewalt. Noch i m Herbst 1918 wurden Wahlen zur Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung ausgeschrieben, i m Sommer 1919 trat die Weimarer Reichsverfassung i n Kraft 3 . Die neue Republik, eine Fortsetzung des Zweiten Reiches i n grundlegend veränderter Staatsstruktur, war als demokratisch-parlamentarischer Rechtsstaat westlicher Tradition verfaßt. Von Anfang an stand das Verfassungsleben unter schweren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Spannungen, verschärft durch die unerträglichen Belastungen aus dem Versailler Vertrag und durch feindselige Daueropposition starker extremistischer Parteien. Die notwendige Stabilität der Regierung wurde nicht erreicht, von 1919 bis 1933 gab es nicht weniger als 21 verschiedene Reichskabinette. Auch der Reichstag vermochte seine Aufgaben nicht angemessen zu erfüllen 4 . Die parlamentarische Kontrolle der Reichspolitik — schon i n den Anfangs jähren der Weimarer Repub l i k führten innere Krisen wiederholt zur Ausübung der Diktaturgew a l t des Reichspräsidenten — versagte seit 1930 vollends; Nationalisten und Kommunisten erstarkten rapide und regierungsfähige Mehrheiten kamen nicht mehr zustande. Das parlamentarische Regierungssystem verwandelte sich i n ein autoritäres Präsidialregime 5 . Der endgültige Zusammenbruch der Weimarer Republik wurde durch das dynamische Zusammenwirken einer Vielzahl komplexer Faktoren bewirkt. Besonders verhängnisvoll war das Versagen der Staatsführung gegenüber der allgemeinen Wirtschaftskrise, der Massenarbeitslosigkeit und dem wachsenden Radikalismus des politischen Lebens. Die Staats- und Verfassungskrise der Weimarer Republik® war die Geburtsstunde der Hitler-Diktatur. Als der Reichspräsident i m Januar 2 Z u r Geschichte u n d zur Verfassung des Bismarckreiches siehe F. Härtung, Deutsche Geschichte von 1871—1919, 6. Aufl. 1952; P. Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, 7. A u f l . 1919 (bearbeitet von Otto Mayer) / Neudruck 1969. 3 Text der Reichsverfassung: RGBl. 1919, Nr. 152, S. 1383 ff. — Die Nationalversammlung w u r d e i m Herbst 1919 von Weimar nach B e r l i n verlegt; sie löste sich i m folgenden Jahr auf, nachdem Reichstagswahlen ausgeschrieben worden waren. 4 V o n 1920 bis 1933 w u r d e der Reichstag achtmal gewählt, davon v i e r m a l i n den Krisen jähren 1930—1933. 6 Eine Skizze der starken Position des Reichspräsidenten findet sich bei R. Web er -Fas y Z u r staatsrechtlichen Stellung des Bundespräsidenten, i n : Festschrift f ü r K . Duden, 1977, S. 685 ff. β Z u r rechtlichen Ausgestaltung der W R V siehe G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches v o m 11. August 1919, E i n Kommentar f ü r Wissenschaft u n d Praxis, 14. A u f l . 1933 / Neudruck 1968; G. Anschütz / R. Thoma

I. Verfassungshistorischer Hintergrund des Grundgesetzes

15

1933 den Führer der stärksten Fraktion und erklärten Gegner der Republik m i t der Bildung einer Reichsregierung beauftragte, war dies der folgenschwere Schlußpunkt i n der Linie reiner Präsidialkabinette ohne parlamentarischen Rückhalt. Der zum Reichskanzler ernannte Führer der i n der NSDAP 7 organisierten revolutionären Bewegung, der sich nach dem Tode des Reichspräsidenten Hindenburg i m Jahre 1934 als „Führer und Reichskanzler" zum Staatsoberhaupt machte, zertrümmerte planmäßig die freiheitliche Verfassung 8 . Der Rechtsstaat der Weimarer Republik versank i m totalitären Führerstaat des „Großdeutschen Reiches". Dessen maßloses außenpolitisches Machtstreben führte, nach anfänglichem Zurückweichen der anderen Großmächte, schließlich zum Zweiten Weltkrieg und letztendlich zur totalen Niederlage Deutschlands 1945. Schon i n den Jahren vor der nationalsozialistischen „Machtergreifung" 1933 hatte sich die Weimarer Republik — die andauernde Krise des Parlamentarismus führte zu einer übermäßigen Inanspruchnahme der außerordentlichen Herrschaftsbefugnisse gem. Art. 48 Abs. 2 WRV 9 — mehr und mehr von einer parlamentarischen Demokratie zu einer kaum noch verfassungskonformen Diktatur des Reichspräsidenten gewandelt. Gleichwohl war der Führerstaat des Dritten Reiches nicht etwa nur eine verschärfte Fortsetzung des republikanischen Präsidialregimes, sondern ein revolutionärer Verfassungssturz i n zunächst formal-legaler Form. Doch schon wenige Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wurden die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung außer K r a f t gesetzt 10 . (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I (1930) u n d I I (1932). — Vgl. i m übrigen K.D. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, 5. A u f l . 1971. 7 Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei (NSDAP), nach dem 1. Weltkrieg gegründet, von 1933—45 alleinherrschend i n Deutschland, erzielte ihre Massenwirkung vor der „Machtergreifung" v o r allem m i t r a d i kaler u n d fanatischer Ablehnung der Folgen der deutschen Niederlage i m 1. Weltkrieg (Novemberrevolution; Versailler Friedens vertrag; demokratischparlamentarische Neuordnung) angesichts unlösbar erscheinender Krisen des Wirtschafts- u n d Soziallebens i n einer ,Republik ohne Republikaner 4 . 8 Z u m politischen Aufstieg u n d F a l l Hitlers vgl. J. C. Fest, Das Gesicht des D r i t t e n Reiches, 4. A u f l . 1975; S. Haffner, Anmerkungen zu Hitler, 7. A u f l . 1978; A. Speer, Erinnerungen, 1969. ö Die sog. D i k t a t u r g e w a l t des Reichspräsidenten w a r als außerordentliche Kompetenz aus der früheren Befugnis des Kaisers zur Verhängung des Kriegszustandes hervorgegangen. A r t . 48 Abs. 2 W R V lautete: „Der Reichspräsident kann, w e n n i m Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit u n d Ordnung erheblich gestört oder gefährdet w i r d , die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit u n d Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls m i t H i l f e der bewaffneten Macht einschreiten. Z u diesem Zwecke darf er vorübergehend die i n den A r t i k e l n 114, 115, 117, 118, 123, 124 u n d 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum T e i l außer K r a f t setzen."

16

§ 1 Entstehung u n d Anwendungsbereich des Grundgesetzes

D a m i t w a r , i n A u s ü b u n g d e r D i k t a t u r g e w a l t des Reichspräsidenten, d i e f r e i h e i t l i c h e Substanz des Rechtsstaats t ö d l i c h g e t r o f f e n 1 1 . E i n w e i teres rechtsstaatliches F u n d a m e n t , das V e r f a s s u n g s p r i n z i p d e r G e w a l t e n t r e n n u n g , w u r d e k u r z e Z e i t später d u r c h das sog. E r m ä c h t i g u n g s gesetz 1 2 beseitigt. Dieses Gesetz schuf d i e G r u n d l a g e f ü r d e n n e u e n Gesetzgebungsstil des F ü h r e r s t a a t s 1 3 . V o n n u n a n l a g das Recht d e r Gesetzgebung, einschließlich d e r V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g , u n t e r A u s s c h a l t u n g des Reichstages i n H ä n d e n d e r E x e k u t i v e . T r ä g e r d e r v ö l k i s c h e n u n d s t a a t l i c h e n S o u v e r ä n i t ä t w a r d e r F ü h r e r , dessen W i l l e als oberste Rechtsquelle g a l t . D e r r e v o l u t i o n ä r e n B e s e i t i g u n g d e r rechtsstaatlichen V e r f a s s u n g f o l g t e d i e Z e r s t ö r u n g d e r ü b e r k o m m e n e n S t r u k t u r des B u n desstaats 1 4 . D i e „ G l e i c h s c h a l t u n g " v o n Reich u n d L ä n d e r n f a n d i h r e t o t a l i t ä r e E n t s p r e c h u n g i n d e r E i n p a r t e i e n h e r r s c h a f t des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s i m g e s a m t e n S t a a t s g e b i e t 1 5 . D e r n e u e deutsche Z e n t r a l s t a a t w u r d e z u m b e h ö r d l i c h e n Z w a n g s a p p a r a t i n d e r H a n d d e r P a r t e i des F ü h r e r s 1 6 . D i e P e r v e r t i e r u n g des W e i m a r e r Verfassungsstaats z u m t o t a litären Führerstaat fand ihre gewaltenkonzentrierende institutionelle V o l l e n d u n g i n d e r F u s i o n d e r Ä m t e r des Reichskanzlers, des Reichsp r ä s i d e n t e n 1 7 , des m i l i t ä r i s c h e n Oberbefehlshabers u n d des obersten * 10 Durch die V O des Reichspräsidenten zum Schutze von V o l k u n d Staat v. 28.2.1933 (den unmittelbaren H i n t e r g r u n d bildete der Reichstagsbrand v. 27.2.1933) w u r d e n folgende Grundrechte aufgehoben: Freiheit der Person (Art. 114), Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 115), B r i e f - u n d Postgeheimnis (Art. 117), Meinungs- u n d Pressefreiheit (Art. 118), Versammlungs- u n d Vereinigungsfreiheit (Art. 123, 124) u n d die Eigentumsfreiheit (Art. 153). 11 Nachdem die Grundrechte suspendiert waren, stand der Einzelne der Staatsgewalt rechtlos gegenüber: es gab keinen Schutz mehr gegen „Schutzh a f t " u n d Einweisung i n Konzentrationslager, gegen Wohnungsdurchsuchungen u n d Eigentumsbeschlagnahmen, gegen Zeitungsverbote u n d Vereinsauflösungen. 12 Gesetz zur Behebung der Not von V o l k u n d Reich v o m 24.3.1933; die notwendige Zweidrittelmehrheit k a m gegen die Stimmen der SPD zustande. 13 Nachdem mehr u n d mehr die Unterscheidung von Gesetz u n d Verordnung bedeutungslos geworden war, erhielt zuletzt der Führerbefehl derogatorische K r a f t gegenüber allen sonstigen Rechtsvorschriften. 14 I m Anschluß an die „Ermächtigung" der Länderregierungen zur Gesetzgebung ohne parlamentarische M i t w i r k u n g w u r d e n durch Gesetz v. 7. 4. 1933 i n den Ländern „Reichsstatthalter" eingesetzt, die m i t der Durchführ u n g der politischen Richtlinien des Führers beauftragt waren; 1934 w u r d e n die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich übertragen u n d der Reichsrat aufgehoben. 15 Unter dem Druck der politischen Verhältnisse lösten sich die bestehenden Parteien auf, die Neubildung von Parteien w u r d e durch Gesetz v. 14. 7. 1933 verboten. 18 Grundlage der personalpolitischen „Gleichschaltung" w a r das sog. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums v. 7.4.1933, betroffen waren sowohl politisch unerwünschte w i e „nichtarische" Beamte. 17 Nach dem Tod des Reichspräsidenten Hindenburg 1934 vereinigte H i t l e r das Reichskanzleramt m i t dem Reichspräsidentenamt u n d zeichnete k ü n f t i g als „Führer u n d Reichskanzler".

I I . Staatliche Neugestaltung nach 1945 i n Deutschland

17

Gerichtsherrn i n der Überfigur des Führers. Das totalitäre Unrechtsregime des Dritten Reiches endete i m Zweiten Weltkrieg mit totaler Katastrophe und m i t bedingungsloser Kapitulation 1 8 . I I . Staatliche Neugestaltung nach 1945 in Deutschland

Dem vollständigen Zusammenbruch Deutschlands entsprach eine ausgedehnte militärische Besetzung durch die Siegermächte, die zur Zeit der Kapitulation 1 0 praktisch das gesamte Reichsgebiet umfaßte. Die evidente einstweilige faktische Unmöglichkeit einer eigenen deutschen Staatstätigkeit ließ den rechtlichen Fortbestand des Deutschen Reiches als Staat grundsätzlich unberührt 2 0 . Zunächst übten die Besatzungsmächte die deutsche Staatsgewalt „treuhänderisch" aus. Nach einer ersten Phase intensiven Besatzungsregimes durch die alliierten Mächte kam es zur allmählichen Wiedergewinnung deutscher Selbstregierung. Der weltpolitisch durch den amerikanisch-russischen Gegensatz beeinflußte Prozeß führte schließlich, nach einer anfänglich „gesamtdeutschen" Entwicklung, zur Errichtung zweier deutscher Staaten auf dem Boden des Deutschen Reiches: der Bundesrepublik Deutschland i m Westen und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) i m Osten und damit zu einer das Reichsgebiet durchschneidenden Linie, die sich zunehmend zum „Eisernen Vorhang" entwickelte. Zunächst wurde Deutschland i n vier den Siegermächten USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich zugeordnete Besatzungszonen aufgeteilt 2 1 . Die Besatzungsmächte übernahmen außer der obersten Regierungsgewalt auch die gesamte Verwaltung 2 2 i n Deutschland. Zentrale Instanz der Besatzungsmächte 23 war der Kontrollrat, dem die vier alliierten Oberkommandierenden gleichberechtigt vorstanden. Leitendes Ziel der Besatzungspolitik war die Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus sowie die Demokratisierung und Entmilitarisierung 18 Z u m Staatsrecht des D r i t t e n Reiches vgl. E. R. Hub er, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. A u f l . 1939; O. Koellreutter, V o l k u n d Staat i n der Weltanschauung des Nationalsozialismus, 1935; C. Schmitt, Der Führer schützt das Recht, D J Z 1934, S. 945 ff. 19 Die bedingungslose K a p i t u l a t i o n der deutschen Wehrmacht t r a t am 9.5.1945 i n K r a f t . — Z u r Lage Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg vgl. O. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte 1970, S. 584 ff. 20 Diese Lehre ist von der Rechtsprechung bestätigt, vgl. BVerfGE 2, S. 266, 277; 3, S. 288, 319; 36, S. 1 ff. 21 Z u den Regelungen i m einzelnen siehe Fried. Klein, Neues Deutsches Verfassungsrecht, 1949. 22 Dies überstieg die Kompetenzen einer Besatzungsmacht gem. Haager Landkriegsordnung von 1907. 23 Eine deutsche Zentralregierung w u r d e nicht gebildet; der preußische Staat w u r d e durch Kontrollratsbeschluß v. 23.2.1947 förmlich aufgelöst.

2 Weber-Fas

18

§ 1 Entstehung u n d Anwendungsbereich des Grundgesetzes

Deutschlands 24 . Der Kontrollrat, von Anfang an wegen des für seine Beschlüsse geltenden Einstimmigkeitsprinzips nur begrenzt arbeitsfähig, wurde i m Zuge der sich verschärfenden Ost-West-Spannung schließlich i m Jahre 1948 ganz funktionsunfähig. Die i n den westlichen Besatzungszonen geschaffenen Länder erlangten i n einem allmählichen, unterschiedlich sich entwickelnden Prozeß eine eigene Staatsgewalt, nachdem die öffentlichen Funktionen zuerst auf der Gemeinde- und Kreisebene von den Besatzungsmächten wieder i n deutsche Hände gegeben worden waren 2 5 . Schon 1946 wurden i n den Gebieten der amerikanischen Besatzungszone 26 verfassungsgebende Landesversammlungen gewählt. Die von diesen ausgearbeiteten Landesverfassungen konnten zügig, von Volksabstimmungen bestätigt, i n K r a f t treten. A u f dieser Grundlage wurden Landesparlamente gewählt und parlamentarisch verantwortliche Regierungen gebildet. Die i n den drei westlichen Besatzungszonen geschaffenen Landesverfassungen sind i n den wesentlichen staatsrechtlichen Strukturen einander verwandt. Außer staatsorganisatorischen Bestimmungen enthalten sie fast alle, als A n t wort auf die Willkürherrschaft des NS-Regimes, die Normierung von Grund- und Freiheitsrechten. Ι Π . Londoner Konferenz, Herrenchiemseer Konvent und Parlamentarischer Rat

Der aus dem materiellen Notstand der Nachkriegszeit i n Westdeutschland entstandene interzonale wirtschaftspolitische Zusammenschluß 27 bildete eine wichtige organisatorische Grundlage für die spätere gesamtpolitische Integration der westdeutschen Länder unter einer neuen Bundesverfassung. Für das Zustandekommen und die staatsrechtliche Substanz dieser Grundordnung waren verschiedene zeitgeschichtliche und verfassungshistorische Faktoren von Bedeutung. 1. Nachdem feststand, daß die Siegermächte infolge der zunehmenden Ost-West-Polarisierung zu einer gemeinsamen Politik i n der deut24 Z u den einzelnen Maßnahmen vgl. Ch. F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1975, S. 193 f. 25 Dieser Wiederaufbau der deutschen Staatlichkeit von unten nach oben entsprach den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz (17. 7.—2.8.1945). 26 Ähnliche staatsrechtliche Vorgänge vollzogen sich, m i t einer gewissen zeitlichen Verzögerung, i n der britischen u n d französischen Besatzungszone. 27 Bereits 1946 kündigte sich von angloamerikanischer Seite diese w i r t schaftliche Vereinigung der Besatzungszonen an; über die Gestaltungen i m einzelnen vgl. W. Strauss , E n t w i c k l u n g u n d A u f b a u des Vereinigten W i r t schaftsgebietes, 1948. Juristisch hatte das Vereinigte Wirtschaftsgebiet den Charakter eines öffentlich-rechtlichen Zweckverbandes sui generis m i t den acht Ländern als Mitgliedern, vgl. H. Peters, Lehrbuch der Verwaltung, 1949, S. 506.

I I I . Londoner Konferenz, Herrenchiemseer Konvent, Parlamentarischer Rat 19

sehen Frage nicht mehr fähig waren, wurden für die weitere Entwicklung des i n eine östliche und westliche Sphäre zweigeteilten Deutschland zwei fundamental gegensätzliche Staats- und Verfassungskonzeptionen politisch bestimmend. Den Anstoß zur westdeutschen Verfassungsgestaltung gaben die Beschlüsse der Westalliierten auf der Londoner Sechsmächtekonferenz von 194828. Die Konferenzergebnisse fanden ihren Niederschlag i n drei besonderen Papieren, den sog. Frankfurter Dokumenten. Sie wurden am 1. J u l i 1948 von den Militärgouverneuren den Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder (ohne Berlin) übergeben. Das Dokument I 2 9 ermächtigte die Ministerpräsidenten, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, die spätestens am 1. September 1948 zusammentreten und eine demokratische Verfassung ausarbeiten sollte. Diese Verfassung sollte die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schaffen, die am besten geeignet sei, die gegenwärtige zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, die Rechte der beteiligten Länder zu schützen, eine angemessene Zentralinstanz zu schaffen und Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten zu bieten 30 . Diese Vorgaben, insbesondere die rechtsstaatlichen und bundesstaatlichen Kriterien standen i m Einklang m i t wichtigen Linien der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung Deutschlands vor der Zeit des Dritten Reiches. Die Ministerpräsidenten machten nach eingehenden Beratungen 31 von der Option Gebrauch, auf westdeutschem Boden für eine Übergangszeit einen freiheitlich-demokratischen Bundesstaat zu errichten, da eine entsprechende gesamtdeutsche Lösung i n absehbarer Zeit unerreichbar erschien. Freilich lehnte die deutsche Seite, u m den provisorischen 32 Charakter des neu zu schaffenden Verfassungswerks zu betonen, die Bezeichnungen „Verfassungsgebende Versammlung" und „Verfassung" ab. M a n verständigte sich schließlich auf die Begriffe „Parlamentarischer Rat" und „Grundgesetz" 33 . 28 Außer den USA, Großbritannien u n d Frankreich w a r e n Teilnehmer Belgien, die Niederlande u n d Luxemburg. 29 Dokument I I betraf die Frage einer Änderung der innerdeutschen L ä n dergrenzen u n d Dokument I I I hatte das zu erlassende Besatzungsstatut zum Gegenstand. 30 Europa-Archiv 1948, S. 1437. 31 Insbesondere bei der Zusammenkunft der Ministerpräsidenten v o m 8./ 10. 7.1948 auf dem Rittersturz bei Koblenz, JöR, N. F., 1 (1951), S. 14 ff. 82 Schon i m Parlamentarischen Rat (Sten.Ber. S. 41) w u r d e indessen hervorgehoben, die neue Verfassung sei »provisorisch' n u r i m geografischen Sinne, da das G G n u r f ü r einen T e i l Deutschlands gelten könne (dagegen sei das G G i n seiner freiheitlichen S t r u k t u r auf Dauer angelegt). 33 Der Begriff „Grundgesetz" w u r d e i n der Ubersetzung als „basic constit u t i o n a l l a w " akzeptiert.

2*

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§ 1 Entstehung u n d Anwendungsbereich des Grundgesetzes

2. Die Ausarbeitung eines ersten Verfassungsentwurfs wurde von der Ministerpräsidenten-Konferenz einem besonderen Sachverständigen-Gremium m i t Gutachterfunktion übertragen. Dieser Expertenausschuß, der sog. Herrenchiemseer Verfassungskonvent 34 , formulierte, mit vielfachen Alternativvorschlägen, unter Beachtung der Kriterien des I. Frankfurter Dokuments, einen vollständigen Textentwurf, der den Beratungen i m Parlamentarischen Rat als technische Arbeitsgrundlage diente. Begreiflicherweise standen die Vorschläge des Herrenchiemseer Konvents unter dem Eindruck des Scheiterns der Weimarer Verfassung und der totalitären Entwicklung jenseits des Eisernen Vorhangs. 3. Die eigentlich verfassungspolitischen Entscheidungen blieben, i m Rahmen der damals noch sehr unvollkommenen deutschen Souveränität, dem Parlamentarischen Rat vorbehalten. Dieser trat am 1. September 1948 i n Bonn zusammen und tagte dort bis M a i 1949. Er war gebildet aus 65 gewählten Repräsentanten 35 der Landtage der elf Länder i n den drei westlichen Besatzungszonen. Gegliedert nicht nach Regionen, sondern nach parteipolitischen Fraktionen mußte der Parlamentarische Rat sich i m Laufe seiner Verhandlungen wiederholt mit Einsprüchen 36 der Militärgouverneure auseinandersetzen. Die u m K l ä rung bemühten deutsch-alliierten Gespräche führten indessen zu Kompromißlösungen, die den deutschen Auffassungen i n den wesentlichen Punkten entgegenkamen. Nach schwierigen Beratungen, i n denen die Verfassungsväter gegenüber den Vorschlägen des Herrenchiemseer Konvents durchaus selbständig verfuhren, wurde das Grundgesetz schließlich am 8. M a i 1949 vom Parlamentarischen Rat angenommen, und zwar m i t der großen Mehrheit von 53 gegen 12 Stimmen. Die Militärregierungen erteilten bereits am 12. M a i ihre Genehmigung, wenngleich m i t Vorbehalten zu verschiedenen A r t i k e l n des Grundgesetzes. Zur Ratifizierung bedurfte das Grundgesetz — nach dem Muster der nordamerikanischen Verfassung von 1787 — der Annahme durch mindestens zwei D r i t t e l der Länder (Art. 144 I GG). Bei den unverzüglich herbeigeführten Abstimmungen der Landtage stimmten zehn von elf Ländern m i t Ja, nur Bayern lehnte das Grundgesetz ab 37 . Das dergestalt zustande 34 Der Konvent tagte v o m 10. bis 23.8.1948 i m A l t e n Schloß auf der H e r reninsel des oberbayerischen Chiemsees. Über Personen, Geist u n d Arbeitsweise des Herrenchiemseer Konvents vgl. Carlo Schmid, Erinnerungen, 1979, S. 334 ff. 35 Präsident des Parlamentarischen Rats w a r K o n r a d Adenauer (CDU), der spätere Bundeskanzler; Vorsitzender des — f ü r die abschließende T e x t fassung des GG zuständigen — Hauptausschusses w a r Carlo Schmid (SPD). 36 Die Intervention der W e s t - A l l i i e r t e n betrafen insbesondere die verfassungsrechtliche Gestaltung des Bund-Länderverhältnisses (Verteilung der Gesetzgebungs- u n d Verwaltungskompetenzen), der Stellung Berlins zum Bund, des Rechtsstatus der Richter und, last not least, des Finanzwesens.

I V . Zeitliche, räumliche u n d sachliche Geltung des Grundgesetzes

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gekommene Grundgesetz wurde am 23. M a i verkündet 8 8 und trat am 24. M a i 1949 i n K r a f t (Art. 145 I I GG) 89 . I V . Zeitliche, räumliche und sachliche Geltung des Grundgesetzes

1. Nach der Präambel des Grundgesetzes (GG) hat das Deutsche V o l k kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen, u m dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben. Dabei hat das Volk i n den westdeutschen Ländern auch für jene Deutschen gehandelt, denen m i t zuwirken versagt war. Dieses Selbstverständnis des Grundgesetzes als transitorische Verfassung — nach dem Schlußsatz der Präambel 40 bleibt das gesamte deutsche Volk aufgefordert, „ i n freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden" — zeigt sich auch i m letzten A r t i k e l des GG. Danach verliert das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tage, „an dem eine Verfassung i n K r a f t t r i t t , die von dem deutschen Volke i n freier Entscheidung beschlossen worden ist" (Art. 146 GG). 2. Die verfassungshistorische Besonderheit, daß ein Staatsgrundgesetz erklärtermaßen nur für eine begrenzte Zeit gelten w i l l , findet ihre — ebenfalls entstehungsgeschichtlich bedingte — Entsprechung i n der Regelung der räumlichen Dimension des GG. I m Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung (WRV), die das Staatsgebiet ausdrücklich normierte 41 , verzichtet das GG auf eine Definition des Bundesgebiets und begnügt sich m i t einer Aussage zum räumlichen Geltungsbereich, u m auch insoweit den nichtendgültigen Charakter der Verfassung zu betonen. Angesichts der existierenden, durch Wiedervereinigung i n Frieden und Freiheit zu überwindenden Spaltung Deutschlands g i l t das GG „zunächst" i m Gebiet der westdeutschen Länder, die zur Zeit des I n krafttretens des Grundgesetzes bestanden 42 . I n anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren B e i t r i t t 4 3 i n K r a f t zu setzen (Art. 23 GG). 87 Der bayerische Landtag, der das GG als zu wenig föderalistisch ablehnte, bejahte gleichzeitig die Zugehörigkeit Bayerns zum Bund. 88 Nr. 1 des neuen Bundesgesetzblatts (BGBl.). 89 Der erste Bundestag w u r d e am 14. 8.1949 gewählt; die B i l d u n g der w i c h tigsten Bundesorgane u n d damit die Gründung der Bundesrepublik Deutschland w a r i m September 1949 abgeschlossen. 40 Der Präambel des G G k o m m t nicht n u r politisch-programmatische Bedeutung zu, der Vorspruch hat auch rechtsnormativen Gehalt (BVerfGE 5, S. 85, 127; 36, S. 1, 17). Demgemäß ist die Wiedervereinigung Deutschlands ein verfassungsrechtliches Gebot. Daraus folgt die Rechtspflicht f ü r die p o l i tischen Staatsorgane, die Einheit Deutschlands m i t allen K r ä f t e n anzustreben. A u f welchem Wege diese verfassungsrechtliche Verpflichtung erfüllt w i r d , ist freilich eine Frage des politischen Ermessens. 41 A r t . 2 W R V bestimmte: „Das Reichsgebiet besteht aus den Gebieten der deutschen Länder".

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§ 2 Z u r Rechtslage Deutschlands

3. Das nach dem Willen seiner Väter nur als staatsrechtliches Provisorium gedachte Grundgesetz hat sich der Sache nach zu einer dauerhaften Verfassungsordnung von großer normativer K r a f t entwickelt 4 4 . Zwar ist das Grundgesetz, gemessen am Alter der nordamerikanischen oder der schweizerischen Verfassung, noch relativ jung. Doch i m Vergleich m i t der Bismarckschen und namentlich der Weimarer Reichsverfassung hat das Grundgesetz eine außerordentliche äußere und innere rechtliche Lebenskraft entfaltet. M i t Recht konnte der Bundespräsident feststellen: „Das Grundgesetz ist nicht papierner Text geblieben. Es ist i n seinen Wertfestsetzungen und seiner Staatsordnung i n unser Denken eingedrungen. Es ist die erste deutsche Verfassung, die die Zustimmung der weit überwiegenden Mehrheit unseres Volkes gefunden h a t . . . Das Inkrafttreten des Grundgesetzes vor 25 Jahren zählt zu den Sternstunden unserer Geschichte 45 ."

§ 2 Zur Rechtslage Deutschlands Für die juristische Erfassung der rechtshistorisch einzigartigen Situation Deutschlands nach der totalen Niederlage i m Zweiten Weltkrieg wurde entscheidend, daß sich auf dem Gebiet des Deutschen Reiches mehrere politische Wirkungseinheiten herausgebildet haben, deren unterschiedliches staatsrechtliches Gepräge zusammenhängt mit dem weltbestimmenden Ost-West-Gegensatz, dessen Frontlinie mitten durch Deutschland verläuft. I . Deutsches Reich

Der Fortbestand des Deutschen Reiches als Rechtssubjekt wurde durch die bedingungslose Kapitulation 1945 nicht berührt 4 8 . Der militärische 42 Diese Länder werden v o m GG namentlich aufgeführt (Art. 23 Satz 1 GG). Ungeachtet der Nennung des Landes „ G r o ß - B e r l i n " g i l t das GG i n Ost-Berlin überhaupt nicht u n d i n West-Berlin n u r m i t Einschränkungen, siehe dazu M. Draht, Die staatsrechtliche Stellung Berlins, AöR 82 (1957), S. 27 ff. 43 Nach dieser Beitritts-Klausel g i l t das G G seit 1957 i m Saarland. 44 Siehe dazu R. Weber-Fas, Grundgesetz u n d Verfassungsentwicklung, i n : ders., Freiheitliche Verfassung u n d sozialer Rechtsstaat, 1976, S. 9 ff. 45 Rede beim Staatsakt anläßlich des 25. Jahrestages des Inkrafttretens des GG, B u l l e t i n des Presse- u n d Informationsamtes der Bundesregierung, 1974, Nr. 62, S. 615 f. 46 Die K a p i t u l a t i o n ist als rein militärischer A k t ohne A u s w i r k u n g auf die staatliche Existenz der kriegführenden Macht (vgl. R. Stödter, Deutschlands Rechtslage, 1948, S. 27 f.; U. Scheuner, Die staatsrechtliche K o n t i n u i t ä t i n Deutschland, DVB1. 1950, S. 481 f. Dies g i l t auch f ü r die bedingungslose

I I . Bundesrepublik Deutschland u n d Deutsche Demokratische Republik

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Zusammenbruch Deutschlands führte zwar zur Okkupation des Reichsgebietes, doch eine Annexion, Subjugation oder Debellation 4 7 des Deutschen Reiches fand nicht statt. Die Besatzungsmächte übten nicht alliierte Staatsgewalt aus, sondern sie nahmen deutsche Staatsgewalt treuhänderisch wahr 4 8 . Die i n der ersten Nachkriegsepoche zutreffende Rechtsauffassung, daß das — nichthandlungsfähige — deutsche Reich ungeachtet der totalen Niederlage und der Besetzung durch die Siegermächte fortexistierte 49 , wurde durch die spätere Entwicklung Deutschlands wiederum zur offenen Frage. I I . Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik

1. Die Realität, daß seit 1949 auf deutschem Boden zwei heterogene Republiken 5 0 zur Entstehung gelangten, die zunehmend eine ausgeprägte Eigenentwicklung auch i m internationalen Leben entfalteten, konnte auf die geltende Fortbestandstheorie nicht ohne Einfluß bleiben. Freilich wurde noch nach 1949 auch von den Siegermächten der Fortbestand des Deutschen Reiches angenommen. Das läßt sich insbesondere den Erklärungen entnehmen, die von östlicher wie von westlicher Seite über die Beendigung des Kriegszustandes m i t „Deutschland" abgegeben wurden 5 1 . Die Reichsfrage stellte sich erst wieder und nun i n einem neuen Licht, als die neuen Republiken m i t dem allmählichen Erstarken je eigener Staatsgewalt mehr und mehr i n den Status voller Eigenstaatlichkeit hineinwuchsen. I n jener Zeit wurde zur Rechtslage Deutschlands von der bundesdeutschen Regierungspraxis die i n der Rechtswissenschaft entwickelte Identitätsdoktrin als grundsätzliche PosiKapitulation, die Kriegsziel der A l l i i e r t e n w a r gemäß der J a l t a - E r k l ä r u n g von Anfang 1945. 47 Annexion, Subjugation u n d Debellation führen zur rechtlichen E i n v e r leibung (Inkorporation) eines Staates i n einen anderen Staat. A n n e x i o n ist, über die tatsächliche occupatio bellica hinaus, die rechtliche Inanspruchnahme des besetzten Gebiets durch die Besatzungsmacht. Subjugation bedeutet den Untergang eines Staatsvolks durch rechtliche Eingliederung i n ein fremdes Staatsvolk. Debellation liegt vor, w e n n ein Eroberer die Staatsgewalt i m besetzten Gebiet genuin an sich n i m m t m i t der Folge, daß die frühere Staatsgewalt (nicht bloß tatsächlich) rechtlich untergeht. 48 So insbesondere auch H. v. Mangoldt, Grundsätzliches zum Neuaufbau einer deutschen Staatsgewalt, 1947, S. 10. 49 Vgl. dazu W. Fiedler, Staatskontinuität u n d Verfassungsrechtsprechung, 1970, S. 120 ff.; A. Verdross / B. Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 206; siehe ferner BVerfGE 3, S. 288, 319; 5, S. 85, 126. δ0 Z u m Rechtssystem der DDR siehe E.-W. Böckenförde, Die Rechtsauffassung i m kommunistischen Staat, 1967; S. Mampel, Die sozialistische V e r fassung der DDR, 1972; D. Müller-Römer, Die Grundrechte i n Mitteldeutschland, 1965. 61 Siehe H. Mosler / K. Doehring, Die Beendigung des Kriegszustands m i t Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, 1963, S. 393 i t

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§ 2 Z u r Rechtslage Deutschlands

tion vertreten. Nach dieser Theorie 52 war die Bundesrepublik m i t dem Deutschen Reich identisch, also nicht bloß dessen Rechtsnachfolgerin. I m Gegensatz zu einer Auffassung, die das Reich zwar als fortbestehend, aber durch zwei deutsche Nachfolgestaaten fortgesetzt dachte, setzte die Identitätslehre 58 das Reich und die Bundesrepublik i n eins; diese galt nur als de facto verhindert, deutsche Staatsgewalt auf dem Gebiet der DDR auszuüben. 2. Die Vorstellung einer derartigen de facto-Verhinderung wurde m i t dem realen Erstarken der DDR zu eigener Staatlichkeit immer substanzloser. Die Entwicklung ging dahin, daß die DDR i m Laufe der Zeit international zunehmend aufgewertet und schließlich auch von der Bundesregierung als Staat anerkannt wurde 5 4 . Diese Anerkennung der Staatsqualität der DDR, die durch den Grundlagenvertrag 197255 bestätigt wurde, stand nicht i m Widerspruch zu der zwischen Deutschem Reich und Bundesrepublik angenommenen Identität i m Rechtssinne. Indessen wurde m i t dieser — nichtvölkerrechtlichen — innerdeutschen Anerkennung der DDR 5 6 die Existenz zweier deutscher Staaten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches außer Zweifel gestellt. Seither sind beide Staaten, die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, auch Mitglieder der Vereinten Nationen 57 .

52 Andere Deutungen der Rechtslage Deutschlands entsprachen, ausgehend v o m Nichtuntergang des Dt. Reiches, insbesondere der sog. Dach- u n d T e i l ordnungstheorie. 68 Außenpolitische A u s w i r k u n g e n der Identitätslehre w a r e n auf Seiten der Bundesrepublik v o r allem die H a l l s t e i n - D o k t r i n u n d der westdeutsche A l leinvertretungsanspruch. Nach der H a l l s t e i n - D o k t r i n (dazu R. Schuster, Die Hallstein-Doktrin, Europa-Archiv 1963, S. 675 ff.) w u r d e die Aufnahme diplomatischer Beziehungen m i t der DDR als unfreundlicher A k t gegenüber der Bundesrepublik gewertet u n d v o n dieser m i t dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu dem unfreundlichen Drittstaat beantwortet. Der sog. Alleinvertretungsanspruch besagte, daß das Staatsvolk des fortbestehenden Dt. Reiches allein durch die Bundesregierung international vertreten w ü r d e (siehe G. Hoffmann, Die deutsche Teilung, 1969, S. 58 ff.). 54 U n d zwar i m Jahre 1969 durch die Regierung B r a n d t / Scheel, vgl. B u l l e t i n des Presse- u n d Informationsamtes der Bundesregierung, 1969, Nr. 132, S.1122. 55 Dazu G. Ress, Die Rechtslage Deutschlands nach dem Grundlagenvert r a g v o m 21. Dezember 1972, 1978. 58 Daß die D D R i m Sinne des Völkerrechts ein Staat ist, w i r d auch i m U r t e i l zum Grundlagenvertrag bestätigt, B V e r f G 36, S. 1, 22. 67 Gesetz zum B e i t r i t t der Bundesrepublik Deutschland zur Charta der Vereinten Nationen, B G B l . 1973, I I , S. 430. — Nach A r t . 4 der UNO-Satzung können n u r Staaten Mitglieder dieser globalen Organisation werden. Nach der Viermächte-Erklärung v. 9.11.1972 werden durch die U N O - M i t g l i e d schaft der beiden deutschen Staaten „die Rechte u n d Verantwortlichkeiten der V i e r Mächte u n d die bestehenden diesbezüglichen vierseitigen Regelungen, Beschlüsse u n d P r a k t i k e n i n keiner Weise berührt.

I I . Bundesrepublik Deutschland u n d Deutsche Demokratische Republik

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3. Von besonderer Bedeutung für die rechtliche Situation Gesamtdeutschlands ist der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag und das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu diesem Abkommen. Der i m Jahre 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Grundlagen der beiderseitigen Beziehungen geschlossene Vertrag 5 8 enthält folgende, i m vorliegenden Zusammenhang wichtige Bestimmungen: Die Vertragspartner entwickeln normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung (Art. 1). Beide Seiten werden sich von den Zielen und Prinzipien leiten lassen, die i n der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, insbesondere der souveränen Gleichheit aller Staaten, der Achtung der Unabhängigkeit, Selbständigkeit und territorialen Integrität, dem Selbstbestimmungsrecht, der Wahrung der Menschenrechte und der Nichtdiskriminierung (Art. 2). Die Vertragsparteien werden ihre Streitfragen ausschließlich m i t friedlichen Mitteln lösen und sich der Drohung m i t Gewalt oder der Anwendung von Gewalt enthalten. Sie bekräftigen die Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenze jetzt und i n Zukunft und verpflichten sich zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität (Art. 3). Die Vertragsschließenden gehen von dem Grundsatz aus, daß die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt. Sie respektieren die Unabhängigkeit und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten i n seinen inneren und äußeren Angelegenheiten (Art. 6). Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden ständige Vertretungen austauschen, die am Sitz der jeweiligen Regierung errichtet werden (Art. 8). I n seiner Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Grundlagenvertrags 59 hat das Bundesverfassungsgericht zur Deutschlandfrage wesentliche Feststellungen getroffen, die indessen — unbeschadet ihrer verfassungsprozeßrechtlichen Verbindlichkeit für die anderen Verfassungsorgane — weder die rechtswissenschaftliche Diskussion noch die staatsverfassungsrechtliche Entwicklung noch den politisch-historischen Prozeß des Schicksals Gesamtdeutschlands abzuschließen vermögen. Nach dieser Rechtsprechung 80 ergibt sich aus der Präambel des Grundgesetzes sowie aus den A r t i k e l n 16, 23, 116 und 146 GG, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und daß es weder m i t der Kapitulation noch durch die Ausübung oberster Gewalt i n 58

Vertrag v o m 21.12.1972, B G B l . 1973, I I , S. 421. U r t e i l v. 31. 7.1973, BVerfGE 36, S. 1 ff. — Siehe zu diesem U r t e i l W. A . Kewenig, A u f der Suche nach einer neuen Deutschland-Theorie, D Ö V 1973, S. 797 ff.; 17. Scheuner, Die staatsrechtliche Stellung der Bundesrepublik, D Ö V 1973, S. 581 ff. 60 BVerfGE 36, S. 15 ff. 69

§ 2 Z u r Rechtslage Deutschlands

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Deutschland seitens der Besatzungsmächte noch durch spätere Vorgänge untergegangen ist. Das fortexistierende Reich besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, es ist aber nicht selbst handlungsfähig, da es als Gesamtstaat der dazu erforderlichen institutionalisierten Organe ermangelt. Das Grundgesetz geht von einem gesamtdeutschen Staatsvolk und einer gesamtdeutschen Staatsgewalt aus. Verantwortung für „Deutschland als Ganzes" tragen — auch — die vier Mächte. M i t der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat errichtet, sondern — so w i r d unter Bezug auf die Bonner Verfassungsberatungen 61 festgestellt — es wurde nur ein Teil Deutschlands neu organisiert. Folglich ist die Bundesrepublik nicht Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch m i t dem Staat „Deutsches Reich". Allerdings ist sie i n räumlicher Beziehung nur „teilidentisch"; die Bundesrepublik umfaßt bezüglich ihres Staatsgebietes (und Staatsvolkes) nicht das ganze Deutschland. Sie beschränkt ihre Hoheitsgewalt auf den „Geltungsbereich des Grundgesetzes". Die Deutsche Demokratische Republik gehört zu Deutschland und kann i m Verhältnis zur Bundesrepublik nicht als Ausland angesehen werden. 4. Unbeschadet dieser verfassungsgerichtlichen Positionen w i r d man über Deutschland als Ganzes, nachdem sich seit über drei Jahrzehnten auf deutschem Boden — diesseits und jenseits der mitten durch Deutschland verlaufenden Demarkationsmauer — zwei politisch-ideologisch gegensätzliche Verfassungssysteme fest etabliert haben, nur m i t großer Zurückhaltung staatsrechtliche Befunde formulieren können. Der geschichtlich präzedenzlose Vorgang der Nachkriegsentwicklung Deutschlands hat zu einer singulären, noch i n der Schwebe befindlichen, mit herkömmlichen juristischen Begriffen kaum erfaßbaren staatsrechtlich-völkerrechtlichen Gemengelage i m Verhältnis der beiden deutschen Republiken geführt. Geht man von der klassischen Staatslehre aus, wonach ein Staat das Vorhandensein der drei Elemente Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt notwendig voraussetzt, so ist es — unbeschadet des vielfach behaupteten Fortbestandes gesamtdeutschen Nationalbewußtseins, kulturstaatlicher Identität, menschlichen Zusammengehörigkeitsgefühls und politischer Wiedervereinigungstendenz — eine unbestreitbare Rechtstatsache, daß eine gesamtdeutsche Staatsgewalt seit Jahrzehnten effektiv nicht mehr existiert 6 2 . Aus völkerrechtlicher 61

6. Sitzung des Parl.Kates, Sten.Ber. S. 70. Die These v o m Untergang des Deutschen Reiches i m Jahre 1945, die i m Westen n u r vereinzelt vertreten w i r d (insbesondere v o n H. Ridder, Die „deutsche Staatsangehörigkeit" u n d die beiden deutschen Staaten, i n : Gedächtnisschrift f ü r Fried. Klein, 1977, S. 437 ff.; H. Rumpf, L a n d ohne Souveränität, 2. A u f l . 1973, S. 103 ff.), entspricht der amtlichen D o k t r i n des Ostblocks, namentlich der DDR, vgl. J. Hacker, Der Rechtsstatus Deutschlands aus der Sicht der DDR, 1974. 62

III. Berlin

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Sicht 63 läßt die heutige Lage Deutschlands verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu. Dabei sprechen gewichtige Gründe für die Annahme einer Identität zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Deutschen Reich bei gleichzeitiger eigenstaatlicher Verselbständigung der Deutschen Demokratischen Republik 6 4 . Von besonderer Bedeutung für die Rechtslage Deutschlands sind die alliierten Vorbehaltsrechte, die i m Deutschlandvertrag m i t den Westalliierten verankert sind und deren Geltung durch die späteren Ostverträge ausdrücklich bestätigt wurde 6 5 . Gemäß A r t . 2 des Deutschlandvertrages „behalten die Drei Mächte die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte i n Bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung". Dieser gesamtdeutsche Vorbehalt zur Frage der Wiedervereinigung und des Friedensvertrages bedeutet nicht lediglich eine Statusminderung für die deutsche Seite, sondern gibt der Bundesrepublik zugleich das Recht, i m gesamtdeutschen Interesse auf die alliierten Positionen hinzuweisen und dergestalt die Deutschland-Frage international-rechtlich offen zu halten. I m übrigen ist es auch völkerrechtlich legitim, wenn die Staatsorgane der Bundesrepublik freie Selbstbestimmung für das ganze deutsche Volk fordern. I I I . Berlin

Ungeachtet des Wortlauts des A r t . 23 GG (Geltung des GG i m Gebiet des Landes „Groß-Berlin") gilt das Grundgesetz i n Ost-Berlin überhaupt nicht und i n West-Berlin nur mit Einschränkungen. Rechtsgrundlage dieser beschränkten Geltung ist i n erster Linie das Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure zu dem vom Parlamentarischen Rat beschlossenen Grundgesetztext 66 . Da diese alliierten Vorbehalte i m wesentlichen bezwecken, eine unmittelbare organisatorische Einbeziehung 63

Siehe die eingehende Untersuchung von R. Bernhardt, Deutschland nach 30 Jahren Grundgesetz, W D S t R L , Heft 38 (1980), S. 7 ff. 64 Die D D R leugnet, aus ihrer Position folgerichtig, ihre Identität m i t dem Deutschen Reich. 65 Siehe A r t . 4 des Moskauer Vertrages, A r t . I V des Warschauer Vertrages u n d A r t . 9 des Grundlagenvertrags. — Z u r rechtlichen Bedeutung des Moskauer Vertrags vgl. H. Steinberg er, Völkerrechtliche Aspekte des deutschsowjetischen Vertragswerks v. 12. 8.1970, ZaöRV, Bd. 31 (1971), S. 63 ff. ββ I n Ziff. 4 des Genehmigungsschreibens v. 12. 5.1949 sind folgende V o r behalte formuliert: „ A t h i r d reservation concerns the participation of Greater B e r l i n i n the Federation. We interpret the effect of Articles 23 and 144 (2) of the Basic L a w as constituting acceptance of our previous request that w h i l e B e r l i n may not be accorded v o t i n g membership i n the Bundestag or B u n desrat nor be governed b y the Federation she may, nevertheless, designate a small number of representatives to attend the meetings of those legislative bodies", vgl. I . von Münch (Hg.), Dokumente des geteilten Deutschlands, Bd. I, 2. A u f l . 1976, S. 130.

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§ 2 Z u r Rechtslage Deutschlands

Berlins i n die Bundesrepublik m i t Rücksicht auf die Ost-West-Spannung einstweilen aufzuschieben, besteht kein rechtliches Hindernis, jedenfalls dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes die volle Geltung für Berl i n zuzuerkennen 67 . Der höchst komplexe Rechtsstatus Berlins 6 8 , indem die außerordentlich verwickelte staatsrechtlich-völkerrechtliche Gemengelage Deutschlands i n gesteigerter Form zum Ausdruck kommt, kann hier nur i n einigen Hauptaspekten angedeutet werden. Zwar ist Berlin nach dem GG ein Land der Bundesrepublik 69 , doch die erwähnten alliierten Vorbehaltsrechte, die durch den späteren Deutschlandvertrag 7 0 bestätigt wurden, schließen es aus, daß Organe des Bundes unmittelbare Staatsgewalt (einschließlich der Gerichtsbarkeit) über Berlin ausüben, soweit die Drei Mächte dies nicht nachträglich für einzelne Bereiche zugelassen haben. Die Einschränkung der vom deutschen Verfassungsgeber gewollten Geltung des Grundgesetzes für Berlin durch den westalliierten Vorbehalt, daß das — nach dem GG und der Verfassung Westberlins zur Bundesrepublik gehörende — Land Berlin nicht vom Bund „regiert" werden darf, hat verschiedene Konsequenzen. So erstreckt sich der Gesetzesbefehl des Bundesgesetzgebers nicht ohne weiteres auf Berlin. Vielmehr bedarf es zur Einführung von Bundesrecht i n Berlin einer auctoritatis interpositio des Berliner Gesetzgebers 71 . Ferner ist eine Stimmberechtigung der Berliner Vertreter i m Bundestag und i m Bundesrat ausgeschlossen. Für den Bereich der rechtsprechenden Gewalt ist zu unterscheiden zwischen der Jurisdiktion der obersten Gerichtshöfe des Bundes und derjenigen des Bundesverfassungsgerichts. Die westalliierten Vorbehaltsrechte hindern nicht eine Einbeziehung Berlins i n die Kompetenz der obersten Bundesgerichte 72 . Für die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist zu differenzieren je nach der politischen Tragweite der konkreten Entscheidung 78 . 67

So bereits BVerfGE 1, S. 70. Dazu näheres bei P. Lerche, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts i n Berliner Fragen, i n : Chr. Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, 1. Bd. 1976, S. 715 ff. D. Mahncì ce, B e r l i n i m geteilten Deutschland, 1973; H. Schiedermair, Der völkerrechtliche Status Berlins nach dem Vier-Mächte-Abkommen v o m 3. September 1971, 1975; E.R. Zivier, Der Rechtsstatus des Landes Berlin, 3. A u f l . 1977. 69 BVerfGE 7, S. 1. 70 A r t . 2 i. d. F. des Pariser Protokolls v o n 1954 (BGBl. 1955 I I , S. 305). 71 Siehe §§ 12 ff. des D r i t t e n Uberleitungsgesetzes v. 4.1.1952 (BGBl. I, S. 1) u n d A r t . 87 Abs. 2 der Berliner Verfassung. 72 BVerfGE 7, S. 1, 16; 19, S. 377, 386. 73 Da ein „Government" des Bundes über B e r l i n unzulässig ist, hat das B V e r f G z.B. keine Kompetenz f ü r Berliner Organstreitigkeiten (BVerfG 7, S. 190, 192) u n d f ü r die Normenkontrolle des Berliner Gesetzgebers (BVerfGE 19, S. 377, 385). Bei Verfassungsbeschwerden ist zu unterscheiden, ob P r ü fungsgegenstand ein A k t der öffentlichen Gewalt Berlins ist (BVerfG-Jurisd i k t i o n ausgeschlossen) oder ob das diesem A k t zugrundeliegende Bundes68

I. Der innerstaatliche Primat des Grundgesetzes

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Die bisherige Rechtslage Berlins ist durch das Viermächte-Abkommen von 197174 i n den vorgenannten Punkten verfestigt, i m übrigen aber auf eine neue Grundlage gestellt worden. Der Vorbehalt der westalliierten Besatzungsmächte, kraft dessen Berlin nicht vom Bund „regiert" werden darf, ist jetzt zugleich Inhalt eines völkerrechtlichen Vertrags m i t der Sowjetunion. Darüber hinaus hat die Sowjetunion, was nicht zuletzt i m Hinblick auf das deutsche Selbstbestimmungsrecht bedenklich erscheint, ein Mitspracherecht bezüglich einer etwaigen Veränderung des Rechtsstatus von Westberlin erhalten 75 .

§ 3 Das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik Der vom Verfassungsgeber ausdrücklich gewollte oberste normative Rang des Grundgesetzes i m gesamten innerstaatlichen Bereich bildet einen Höhepunkt der Geschichte des Verfassungsstaats 78 i n Deutschland. Indessen hängt das zukünftige Schicksal dieser Staatsverfassung, insbesondere ihrer i n der deutschen Rechtstradition unübertroffenen freiheitlichen Struktur, entscheidend davon ab, ob das existentielle Verfassungsfundament, der grundlegende Konsens eines zu vernünftiger Freiheit fähigen Volkes, auch i n Krisenlagen erhalten bleibt. I . Der innerstaatliche Primat des Grundgesetzes

Die staatsrechtsgeschichtlich neue Dimension des Grundgesetzes — eine dezidierte A n t w o r t der Verfassungsväter auf das Scheitern der Weimarer Reichsverfassung — kommt besonders prägnant zum Ausdruck i n dem durch umfassende richterliche Kontrolle gesicherten rechtlichen Primat der Verfassung und i n besonderen Formen zum Schutze der Substanz des Verfassungsgesetzes. 1. Grundlegend für den obersten Vorrang der Verfassung i m Rechtsstaat des Grundgesetzes sind die Vorschriften über die Verfassungsbindung des Gesetzgebers und über die unmittelbare Rechtsgeltung der Grundrechte. A r t . 20 I I I GG bestimmt, daß — i m Unterschied zum Prinzip der Souveränität des Parlaments — auch die Gesetzgebung an die gesetz verfassungsgerichtlich überprüft w i r d , vgl. BVerfGE 37, S. 57, 60, 62 f., siehe ferner BVerfGE 19, S. 377, 384 f.; 20, S. 257, 266 f. 74 Deutscher Text i n : B u l l e t i n des Presse- u n d Informationsamtes der B u n desregierung V. 3. 9.1971, Nr. 127, S. 1360 ff. 75 Vgl. K. Doehring, i n : Doehring / Ress, Staats- u n d völkerrechtliche A s pekte der Berlin-Regelung, 1972, S. 7 f. 76 Z u den allgemeinen historischen Grundlagen der verfassungsstaatlichen Ordnung vgl. C. J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953.

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§ 3 Das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik

verfassungsmäßige Ordnung 7 7 gebunden ist. Der Vorrang der Verfassung gilt also nicht nur für Akte der Exekutive und Judikative. Die strikte Verfassungsbindung selbst der Legislative ist ein Novum i n der deutschen Verfassungsrechtsgeschichte. Durch diese Grundnorm erfährt das demokratische Prinzip der Mehrheitsentscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers eine hochbedeutsame konstitutionelle Einschränkung. Nicht die jeweilige Majorität, sondern die rechtliche Fundamentalordnung ist der oberste Maßstab aller Politik. Diese Höchstrangigkeit der Verfassung 78 i m Stufenbau der Rechtsordnung 79 hat der Grundgesetzgeber für den Bereich der Grundrechte nochmals m i t Nachdruck bekräftigt. Nach A r t . 1 I I I GG sind Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden. 2. Der Primat der Verfassung als höchstrangiges Recht i m Staate w i r d durch die vom Grundgesetz neueingeführte Institution einer eigenen Verfassungsgerichtsbarkeit 80 auch prozessual gewährleistet. A u f gabe des Bundesverfassungsgerichts ist die letztverbindliche Entscheidung zur Durchsetzung des Grundgesetzes gegenüber allen A k t e n der konstituierten Staatsgewalt. Zwar hat auch ohne die Existenz einer besonderen Verfassungsgerichtsbarkeit das Verfassungsrecht bindende Wirkung für die gesamte Legislative, Exekutive und Judikative. Doch die Schaffung eines speziellen Verfassungsgerichts m i t umfassenden Kompetenzen 81 zeigt den hohen Respekt der Väter des Grundgesetzes vor der Verfassung und deren Sorge u m die effektive Geltung der rechtlichen Grundordnung des Staates. 3. Die verfassungsgerichtlich geschützte rechtliche Suprematie des Grundgesetzes wäre i n der Substanz gefährdet ohne die Existenz besonderer Verfassungsrechtssätze zum Zwecke der Sicherung des normativen Kernbestandes der Verfassung. Hier geht es u m die grundsätz77 Der Begriff „verfassungsmäßige Ordnung" w i r d v o m GG an verschiedenen Stellen i n unterschiedlichem Sinne gebraucht: während dieser Terminus i n A r t . 2 I die gesamte verfassungsmäßige Rechtsordnung u n d i n A r t . 9 I I n u r die Grundprinzipien der Verfassung meint, bezweckt er i n A r t . 20 I I I die B i n d u n g des Gesetzgebers an das ganze Grundgesetz. 78 Siehe auch A r t . 82 I GG: „nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommene Gesetze". 79 U n g ü l t i g (nichtig) ist jede Rechtsnorm einer unteren Stufe, die m i t der Rechtsnorm einer höheren Stufe i n Widerspruch steht. 80 Dazu einführend H. Steinberger, Verfassungsgerichtsbarkeit, i n : R. Weber-Fas (Hg.), Jurisprudenz. Die Rechtsdisziplinen i n Einzeldarstellungen, 1978, S. 537 ff.; siehe ferner E. Friesenhahn, Die Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Bundesrepublik Deutschland, 1963; P. Häberle (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976. 81 Vgl. § 10 Abschn. V dieses Buches.

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liehen Probleme der Verfassungsänderung und der Unabänderlichkeit bestimmter verfassungsgestaltender Fundamentalnormen. Damit ist zugleich die Frage eines unterschiedlichen Verfassungsranges der einzelnen Verfassungsrechtssätze angesprochen. I n bewußter Abweichung von der Weimarer Reichsverfassung, die keine unabänderlichen Strukturprinzipien der Verfassung kannte 82 , normiert A r t . 79 I I I GG eine A r t Ewigkeitsklausel für bestimmte Verfassungsprinzipien. Danach ist absolut unzulässig eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes i n Länder, die grundsätzliche M i t w i r k u n g der Länder bei der Gesetzgebung oder die i n den A r t i k e l n 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden. Die hier genannten Prinzipien haben angesichts ihrer Unantastbarkeit einen erhöhten Verfassungsrang 83 i m Vergleich zu jenen anderen Verfassungsnormen, die i m Interesse der Elastizität der Verfassung gegenüber dem Wandel der Lagen grundsätzlich abänderbar sind, freilich nicht durch einfache Mehrheiten wie das einfache Gesetzesrecht. Durch die Sperrklausel des Art. 79 I I I GG sind der Verfassungsänderung schlechthin entzogen die grundgesetzliche Bundesstaatsstruktur 84 , die Garantie der Menschenwürde (Art. 1 I GG), das daran anknüpfende Bekenntnis zu Menschenrechten (Art. 1 I I GG), die Bindung der gesamten Staatsgewalt an die Grundrechte (Art. 1 I I I GG) 85 , ferner die grundgesetzlichen Staatsstrukturprinzipien der Republik (Art. 20 I GG) 8e , des Rechtsstaats i n seinen Ausprägungen der Gewaltenteilung, des Verfassungsvorrangs und des Gesetzmäßigkeitsprinzips (Art. 20 I I GG) 87 , der freiheitlichen Demokratie auf der Grundlage der Volkssou82

V o n bestimmten Mehrheitserfordernissen abgesehen, gestattete A r t . 76 I W R V (fatalerweise, w i e insbesondere das NS-Ermächtigungsgesetz zeigte): „Die Verfassung k a n n i m Wege der Gesetzgebung geändert werden". 83 Da das Grundgesetz als Einheit zu begreifen ist, sind — abgesehen v o m Rangunterschied hinsichtlich der Unverbrüchlichkeit — auf der Ebene der Verfassung ranghöhere u n d rangniedere Normen i n dem Sinne, daß sie v o m prüfenden Richter aneinander gemessen werden könnten, grundsätzlich nicht denkbar. Andererseits sind die einzelnen Verfassungsrechtssätze durchaus verschieden nach Bedeutung u n d innerem Gewicht. Auch k a n n der Verfassungsgeber Ausnahmen von Grundsatznormen festlegen, die den (auch sonst geltenden) Vorrang der speziellen gegenüber der allgemeinen N o r m b e w i r ken. I m übrigen k o m m t die — rechtsgedanklich nicht ausgeschlossene — theoretische Möglichkeit, daß ein freiheitlich-demokratischer Verfassungsgeber originär „verfassungswidrige Verfassungsnormen" erläßt, einer p r a k tischen Unmöglichkeit nahezu gleich, vgl. BVerfGE 3, S. 225, 231 f. 84 Siehe § 8: Die bundesstaatliche Grundordnung. 85 Der Bezug auf A r t . 1 I I I GG f ü h r t nicht zu einer textlichen u n d j u r i s t i schen Unantastbarkeit des ursprünglichen Grundrechtskatalogs i m Ganzen, sondern n u r zur Gewährleistung seiner — durch Menschenwürde u n d M e n schenrechte bestimmten — verfassungsgesetzlichen Substanz. 88 Siehe § 4: Das republikanische Prinzip. 87 Siehe § 6: Die verfassungsrechtliche Gestalt des Rechtsstaats.

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veränität (Art. 20 I I GG) 88 und nicht zuletzt des Sozialstaats (Art. 20 I GG) 89 . Die Unantastbarkeitsklausel des A r t . 79 I I I GG umfaßt nicht sämtliche Rechtssätze, sondern nur die „Grundsätze", die i n A r t . 1 und 20 GG niedergelegt sind. Geschützt ist also lediglich der rechtssubstantielle Kern dieser verfassungsprägenden Grundgesetznormen. Das strikte Verbot, diese „Grundsätze" zu „berühren", macht sowohl ihre A u f hebung durch einmaligen A k t wie ihre allmähliche Aushöhlung unzulässig 90 . M i t Recht betont das Bundesverfassungsgericht, A r t . 79 I I I GG habe als Schranke für den verfassungsändernden Gesetzgeber den Sinn, zu verhindern, daß die geltende Verfassungsordnung i n ihrer grundlegenden Substanz auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes mißbraucht werden könne. Die weiteren Ausführungen i n derselben Entscheidung 91 geben indessen, vor dem verfassungshistorischen Hintergrund der grundgesetzlichen Unantastbarkeitsklausel und i m Blick auf ihren besonderen Verfassungszweck, zu ernsten Bedenken Anlaß. K a u m dienlich sind der vom Verfassungsgeber strikt gewollten Stabilität der Verfassungsfundamente allzu großzügige, Rechtsunsicherheit auslösende Interpretationen, wie sie i n folgenden Wendungen des Gerichts zum Ausdruck kommen: Die Unantastbarkeitsklausel des A r t . 79 I I I GG verbiete lediglich eine „prinzipielle Preisgabe" der dort genannten Grundsätze 92 und diese verfassungsrechtliche Ausnahmevorschrift dürfe „nicht dazu führen, daß der Gesetzgeber gehindert wird, durch verfassungsänderndes Gesetz auch elementare Verfassungsgrundsätze systemimmanent zu modifizieren" 93 . Eine andere Frage, die freilich dem geltenden Verfassungsrecht grundgesetzgebungspolitisch vorausliegt, betrifft das Problem, ob es sehr realistisch ist, bestimmte Fundamentalentscheidungen des Verfassungsgebers der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers zu entziehen i n der Hoffnung, auf diese Weise die substantiellen Grund88

Siehe § 5: Die demokratische Staatsstruktur. Siehe § 7: Der Sozialstaatsgrundsatz. 90 Ä h n l i c h w i e i n A r t . 79 I I I GG bestimmte Grundsätze nicht „ b e r ü h r t " werden dürfen, verbietet A r t . 19 I I GG, daß ein Grundrecht i n seinem Wesensgehalt „angetastet" w i r d . 91 U r t e i l v. 15.12.1970 zur Novellierung des A r t . 10 G G u n d zum Gesetz über die Beschränkung des Brief-, Post- u n d Fernmeldegeheimnisses, BVerfGE 30, S. 1, 24 f. 92 Ebd., S. 24, w o es ferner bedenklicherweise heißt, die i n A r t . 79 I I I GG genannten Grundsätze w ü r d e n „als Grundsätze" von vornherein nicht ber ü h r t , w e n n ihnen i m allgemeinen Rechnung getragen werde u n d „sie n u r f ü r eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert würden". 93 Ebd., S. 25. 89

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lagen der Verfassung auf die Dauer stabil zu erhalten 94 . Es mag hier dahinstehen, ob sich i n einer solchen Ewigkeitsklausel wirklichkeitsfremder Normativismus äußert, der notwendige Entwicklungen hindern und damit Revolutionen fördern könnte 9 5 . Zwar lehrt historische Erfahrung, daß keine Verfassung dem elementaren Ausbruch einer w i r k lichen Revolution zu widerstehen vermag. Doch gegen Verfassungsumsturz ohne echte revolutionäre Legitimation, insbesondere gegen schleichende Revolution m i t formal-legalen parlamentarischen Mitteln, kann eine i m Verfassungsleben intakt gehaltene und i m Ernstfall respektierte Sperrklausel wie diejenige des A r t . 79 I I I GG durchaus eine wirksame Schutzwehr sein. Die i n diesem Sinne auch verfassungspolitisch sachgerechte Unantastbarkeitsklausel des GG 9 e ist i m übrigen auch durch den spezifischen Zweck einer Verfassung legitimiert, der rechtlichen Grundordnung der politischen Gemeinschaft auf Dauer Identität und Kontinuität i m Strom des öffentlichen Lebens und i m Wandel der Zeiten zu sichern. Ohne ein Mindestmaß substantieller Unabänderlichkeit und — soweit Modifikationen nicht prinzipiell ausgeschlossen sind — ohne erschwerende Regeln für Verfassungsänderungen würde eine Verfassung diesen fundamentalen Zweck verfehlen. Ohne Schutz der substantiellen Verfassungsstrukt u r wäre politisches Zentrum der Verfassung die Verfassungsänderungsnorm. Da alles abänderbar und abschaffbar wäre, gäbe es nichts mehr, was feststeht. Die gesetzgeberische Herrschaft der jeweiligen Majorität würde zum Ausdruck des verfassungsrechtlichen Nihilismus. 4. I m Interesse der Stabilität der Verfassung und zur Sicherung des Verfassungstextes ist, sofern nicht das absolute Änderungsverbot des A r t . 79 I I I GG eingreift 9 7 , eine Verfassungsänderung nur unter Beachtung qualifizierter Erfordernisse zulässig 98 . 94 Dieser v o m Grundgesetzgeber gewählte Weg weicht bewußt ab von der Position der W R V : „Die Verfassung steht nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben", so G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. A u f l . 1933, A r t . 76, A n m . 1. 95 So H. J. Wolff , Rechtsgrundsätze u n d verfassungsgestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquellen, i n : Gedächtnisschrift f ü r W. Jellinek, 1955, S. 33, 50. 98 Die nach A r t . 79 I I I GG „unberührbaren" Verfassungsgrundsätze entsprechen weitgehend dem Rechtsgehalt der v o m GG besonders geschützten „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" (Art. 18, 21 I I u n d 91 I GG). 97 Daß nicht n u r die i n A r t . 79 I I I G G als unantastbar bezeichneten G r u n d sätze, sondern auch diese Unantastbarkeitsklausel selbst jeglicher Verfassungsänderung entzogen ist, erscheint normlogisch unabweisbar, w e i l sonst A r t . 79 I I I GG verfassungsrechtlich sinnlos wäre. 98 Der Bestandssicherung der Verfassung dienen auch die Sondervorschriften f ü r den Gesetzgebungsnotstand u n d den Staatsnotstand: I m Gesetzgebungsnotstand darf das GG weder geändert noch ganz oder teilweise außer K r a f t oder außer A n w e n d u n g gesetzt werden (Art. 81 I V GG). Das

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Damit feststeht, welche Rechtsnormen zur Verfassung m i t ihrem innerstaatlichen Primat gehören, darf das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des GG ausdrücklich ändert oder ergänzt (Art. 79 I GG). Das Gebot der Ausdrücklichkeit hindert Verfassungsänderungen ohne explizite Änderung des Textes der Verfassungsurkunde 99 . U m stille Verfassungsdurchbrechungen und das Entstehen einer latenten Nebenverfassung auszuschließen, muß bei jeder Verfassungsänderung i m Interesse der Rechtsgewißheit der Wortlaut des Grundgesetzes offen neugefaßt werden 1 0 0 . Außer dem Gebot der Urkundlichkeit und textlichen Transparenz ist die Verfassungsänderung verfahrensrechtlich erschwert durch qualifizierte Mehrheitserfordernisse. Eine Änderung des Grundgesetzes bedarf — i m Unterschied zu der bei der einfachen Gesetzgebung genügenden relativen Mehrheit 1 0 1 — der Zustimmung von zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestags und von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrats (Art. 79 I I GG) 102 . I I . Das Grundgesetz in der transnationalen Rechtsordnung

Die Frage der innerstaatlichen Geltung der Verfassung ist, wie dargelegt, durch Normierung des Primats des Grundgesetzes gegenüber allen Erscheinungsformen der Staatsgewalt vom Verfassungsgeber klar entschieden. Von dieser staatsinternen Suprematie des Verfassungsrechts ist zu unterscheiden die Position des Grundgesetzes gegenüber den Normen des internationalen und des supranationalen Rechts. 1. Für das Verhältnis von Grundgesetz und Besatzungsrecht gilt es zu differenzieren zwischen den m i t Vorrang vor deutschem Verfassungsgleiche gilt i m Verteidigungsfall für die Kompetenz des Notgesetzgebers (Gemeinsamer Ausschuß), A r t . 115 e I I GG. 99 Dies w a r unter der Geltung der W R V (Art. 76) zulässig u n d üblich. 100 Dies ist ein qualifizierteres Erfordernis als die bloße Nennung des betroffenen GG-Artikels, vgl. dazu A r t . 19 I 2 GG. 101 Einfache Gesetze erfordern n u r die Mehrheit der abgegebenen S t i m men, vgl. A r t . 42 I I 1 GG, § 48 I I GO-BTag. 102 Außer den oben dargelegten institutionellen Vorkehrungen zum Schutz des Bestandes der Verfassung (durch materielle Unantastbarkeit zentraler Verfassungsprinzipien u n d durch formelle Erschwernis zulässiger Verfassungsänderungen) hat das Grundgesetz eine Reihe weiterer, i n der deutschen Verfassungsgeschichte neuartiger Rechtsinstrumente zur Verfassungssicher u n g eingeführt, deren praktischer Wert unterschiedlich zu beurteilen ist, vgl. etwa A r t . 18 GG ( V e r w i r k u n g von Grundrechten bei mißbräuchlicher Ausübung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung); A r t . 21 I I GG (Verbot verfassungsfeindlicher politischer Parteien); A r t . 61 GG (Anklage des Bundespräsidenten wegen vorsätzlicher Verletzung des GG); A r t . 5 I I I 2 GG (Gebot der Verfassungstreue unbeschadet der Freiheit der Lehre) ; A r t . 87 I 2 GG (Verfassungsschutzamt).

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recht fortgeltenden alliierten Vorbehaltsrechten einerseits und dem der Disposition des deutschen Gesetzgebers unterliegenden sonstigen Besatzungsrecht andererseits. Das nach der bedingungslosen deutschen K a pitulation von den alliierten Besatzungsmächten i n Ausübung der obersten Herrschaft i n Deutschland gesetzte Recht blieb zunächst auch nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes i n Geltung. Erst aufgrund des Deutschlandvertrages 103 , durch den unter Aufhebung des Besatzungsstatuts die Bundesrepublik die Stellung eines nach innen und außen grundsätzlich souveränen Staates erhielt (Art. 1), gewannen die deutschen Staatsorgane — vorbehaltlich bestimmter Rechte der Alliierten (Art. 2) — die Kompetenz, Besatzungsrecht aufzuheben oder zu ändern 1 0 4 . Soweit demgemäß Besatzungsrecht den vertraglich festgelegten Vorbehalten unterfällt — die vorbehaltenen Rechte betreffen i m wesentlichen die übergreifenden Fragen Berlins, Gesamtdeutschlands, des Friedensvertrag und des Status der alliierten Streitkräfte — verbleibt es bei dem bisherigen Vorrang des Besatzungsrechts auch dann, wenn es dem Grundgesetz widerspricht 1 0 5 / 1 0 6 . 2. Ausgeprägter als je i n der deutschen Verfassungsgeschichte sind die normativen Bezüge des Grundgesetzes zum Völkerrecht. Hier sei nur auf folgende Grundsätze hingewiesen. Für die Frage des Rangverhältnisses von Verfassungsrecht und Völkerrecht ist A r t . 25 GG maßgebend. Hiernach sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebiets. Der i n A r t . 25 GG normierte Vorrang kommt nicht jeder Völkerrechtsnorm, sondern lediglich den „allgemeinen Regeln" zu. Diesem K r i t e r i u m genügen Normen des Völkerrechts nur dann, wenn sie von der weitaus größeren Zahl der Staaten — nicht notwendigerweise auch von der Bundesrepublik Deutschland — anerkannt werden 1 0 7 . Diese allgemeinen Völkerrechtsregeln — sie gehören überwiegend dem universell geltenden Völkergewohnheitsrecht an — sind kraft A r t . 25 GG m i t dem normativen Inhalt ihrer völkerrechtlichen Geltung i n die Rechtsordnung der Bundesrepublik inkorporiert. Gleichzeitig bestimmt das Grundgesetz, daß die inkorporierten allge103

BGBl. 1955 I I , S. 213, 215, 305 ff. 104 z u r Pflicht des deutschen Gesetzgebers, grundgesetzwidriges Besatzungsrecht grundgesetzkonform zu gestalten, vgl. BVerfGE 15, S. 337, 349; 36, S. 146, 171. 105/106 z u r Verfassungsmäßigkeit der Zustimmung des deutschen Gesetzgebers zu dieser Fortgeltung von Besatzungsrecht siehe BVerGE 15, S. 337, 348 f. io? BVerfGE 16, S. 27, 33. — Siehe auch W. K. Geck, Das Bundesverfassungsgericht u n d die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, i n : Chr. Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, 2. Bd., 1976, S. 125 ff. 3*

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meinen Regeln den innerstaatlichen Gesetzen vorgehen. Diese Vorrangstellung w i r d teilweise so aufgefaßt, daß die privilegierten Völkerrechtsnormen auch dem Grundgesetz vorgehen 108 . Unbeschadet der besonderen Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes kann dieser Ansicht nicht zugestimmt werden. Der geltende Primat der Verfassung i m innerstaatlichen Bereich verbietet es, internationalen Rechtsnormen Verfassungsrang oder gar suprakonstitutionellen Rang beizulegen 109 . Der ratio constitutionis des A r t . 25 GG w i r d Genüge getan, wenn man den allgemeinen Regeln des Völkerrechts einen gegenüber einfachen Gesetzen zwar erhöhten, aber unterverfassungsrechtlichen Rang zumißt 1 1 0 . Diese Rangposition des inkorporierten Völkerrechts als privilegierten Bundesrechts — A r t . 25 GG genießt i m übrigen keine Unantastbarkeit gem. A r t . 79 I I I GG — bewirkt, daß nationales Recht völkerrechtskonform anzuwenden ist und daß völkerrechtswidriges innerstaatliches Recht von den unmittelbar geltenden allgemeinen Regeln verdrängt wird 1 1 1 . 3. Eine verfassungsgeschichtlich fundamental neue Dimension eröffnet das Verhältnis von Grundgesetz und Europarecht 112 . Verfassungsrechtliche Grundlage der für die Bundesrepublik geltenden Abkehr von traditionellen Vorstellungen souveräner Nationalstaatlichkeit ist — abgesehen von der Präambel des GG m i t dem Ausdruck des Willens des deutschen Volkes, „als gleichberechtigtes Glied i n einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" — die Leitnorm des A r t . 24 GG. I m vorliegenden Zusammenhang interessiert vor allem der Rechtssatz, daß der Bund durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen kann (Art. 24 I GG) 118 . Diese verfassungs108 v g i # etwa E. Menzel, Bonner Kommentar, 1. Bearb., A r t . 25 A n m . I I , 4. 109

Die verfassungsentstehungsgeschichtlich bedingte Ausnahme der Überlagerung des Grundgesetzes durch Besatzungsrecht soll hier außer Betracht bleiben. no F ü r e i n e Zwischenposition zwischen Verfassung u n d einfachen Bundesgesetzen auch H. Mosler, Das Völkerrecht i n der Praxis der deutschen Gerichte, 1957, S. 44 f. ; A. Bleckmann, Grundgesetz u n d Völkerrecht, 1975, S. 295, der m i t Recht darauf hinweist, daß die Annahme eines Verfassungsrangs u. a. auch an A r t . 79 I GG scheitert, wonach das Grundgesetz textmäßig feststehen muß. — Die Position des B V e r f G i n dieser Frage ist noch offen, n u r der Überverfassungsrang w i r d eindeutig abgelehnt, vgl. BVerfGE 6, S. 309, 363; 37, S. 271, 278. 111

Siehe BVerfGE 23, S. 288, 316; 36, S. 342, 365. Z u r E i n f ü h r u n g vgl. Th. Oppermann, Europäisches Gemeinschaftsrecht, i n : R. Weber-Fas (Hg.), Jurisprudenz. Die Rechtsdisziplinen i n Einzeldarstellungen. 1978, S. 117 ff. — Siehe ferner A. Bleckmann, Europarecht, 3. A u f l . 1980; H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsreeht, 1972; H. Mosler / R. Bernhardt/M. Hilf (Hg.), Grundrechtsschuz i n Europa, 1977; I . Seidl-Hohenveidern, Das Recht der internationalen Organisationen einschließlich der supranationalen Gemeinschaften, 3. A u f l . 1979. 112

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gestaltende Grundentscheidung führt das Staatsrecht der Bundesrepub l i k über herkömmliche theoretische und normative Befunde weit hinaus. Die gänzlich neuartige verfassungsrechtliche Öffnung des Staates h i n zur Supranationalität findet einen spezifischen Ausdruck i n dem — vom Status des klassischen Völkerrechts wesensverschiedenen — Vorrang des Rechts der Europäischen Gemeinschaften 114 . Nicht nur durch fortgeltendes Besatzungsrecht, sondern auch — freilich verschieden nach Art, Umfang und Entstehungsgrund — durch Europäisches Gemeinschaftsrecht ist das Recht der Bundesrepublik Deutschland überlagert. Die Europäischen Gemeinschaften (EG), die aufgrund der Übertragung von Hoheitsrechten gemäß A r t . 24 I GG öffentliche Gewalt i n der Bundesrepublik namentlich auch i m Wege der Rechtsetzung ausüben, finden ihre politische Legitimation i n der Tatsache, daß bestimmte öffentliche Aufgaben insbesondere auf dem Gebiet der modernen Wirtschaft und Technologie den herkömmlichen nationalen Rahmen sprengen und zu ihrer angemessenen Erledigung eine kompetente supranationale Hoheitsgewalt erfordern. Deren Existenz führt notwendigerweise — grundsätzlich i m Einklang m i t der Verfassungsentscheidung des GG für eine transnational offene Staatlichkeit 1 1 5 — zu einer Relativierung des Primats der Staatsverfassung i n der Rechtsordnung. Innerhalb des Rechts der Europäischen Gemeinschaften — die EG, von ihren Gründungsvätern 11 ® als Vorstufe eines Europäischen Bundes113 F ü r d e n Verteidigungsbereich bedeutsam ist A r t . 24 I I GG, wonach der Bund, unter Beschränkung seiner Hoheitsrechte i m Interesse der Friedenswahrung, zur Integration i n ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit ermächtigt ist. 114 Die einschlägigen Gemeinschaften m i t eigener Rechtsetzung u n d Rechtsnrechung sind die E G K S (Europäische Gemeinschaft f ü r K o h l e u n d Stahl, Gründungsvertrag i n : BGBl. 1952 I I , S. 445), die E W G (Europäische W i r t schaftsgemeinschaft, Gründungsvertrag i n : BGBl. 1957 I I , S. 753) u n d die E A G (Europäische Atomgemeinschaft, Gründunssvertrag, i n : BGBl. 1957 I I , S. 1014). Diese Europäischen Gemeinschaften (EG) sind ihrerseits durch gemeinsame Organe integriert, die ihren Sitz i n Brüssel, L u x e m b u r g u n d Straßburg haben. 115 Siehe dazu H. P. Ipsen, Über Supranationalität, i n : Festschrift f ü r U. Scheuner, 1973, S. 211 ff.; J.H. Kaiser IP. Badura, Bewahrung u n d Veränderung demokratischer u n d rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur i n den internationalen Gemeinschaften, W D S t R L Heft 23 (1966), S. 1 ff., S. 34 ff.; E. Kaufmann, Die Übertragung von Hoheitsrechten i n der deutschen V e r fassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, i n : ders., Gesammelte Schriften Bd. I I , 1960, S. 408 ff.; H. Krüger, Über die H e r k u n f t der Gewalt der Staaten u n d der sog. supranationalen Organisationen, D Ö V 1959, S. 721 ff.; K . Vogel, Die Verfassungsentscheidung des GG f ü r eine internationale Zusammenarbeit, 1964. lle Z u nennen sind insbesondere Monnet u n d Schuman (Frankreich), de Gasperi (Italien), Spaak (Belgien), Luns (Niederlande), Bech (Luxemburg) sowie Adenauer u n d Hallstein (Deutschland).

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staates betrachtet, sind nach ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand weder ein Staat noch ein vorföderales Gebilde, sondern ein supranationaler Zweckverband m i t eigener Hoheitsgewalt — ist zu unterscheiden zwischen den Materien des primären und des sekundären Gemeinschaftsrechts. Die i n den Gründungsverträgen der EWG, der EGKS und der E A G enthaltenen Normen werden als primäres Gemeinschaftsrecht bezeichnet. Unter sekundärem Gemeinschaftsrecht versteht man die von den Rechtssetzungsorganen der EG aufgrund ihrer gründungsvertraglichen Kompetenz erlassenen Rechtsnormen 117 . Gemeinsam ist dem primären und sekundären Europarecht, daß seine Normen für die Staatsorgane und die Bürger der Mitgliedstaaten unmittelbar gelten. Einer Umsetzung der Rechtsakte der EG-Organe i n nationales Recht durch besonderen staatsrechtlichen A k t — nach A r t der Transformation von Völkervertragsrecht — bedarf es nicht. Außer der unmittelbaren Rechtsgeltung der EG-Normen i n jedem Mitgliedstaat (Art. 189 I I EWG-V) erfordert der Zweck und die Funktionsfähigkeit der auf der Basis des A r t . 24 I GG gegründeten Gemeinschaften prinzipiell den Vorrang der EG-Normen, falls sie m i t Vorschriften des nationalen Rechts kollidieren. Dieser Vorrang 1 1 8 gilt grundsätzlich auch gegenüber dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten. Ob und unter welchen Voraussetzungen diese Regel Ausnahmen erleidet, ist eine umstrittene Frage. Die Entscheidung w i r d dadurch erschwert, daß für die Lösung von Kollisionen zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht ausdrückliche Normen 1 1 9 i n keiner der beiden — sich selbständig gegenüberstehenden — Rechtsordnungen zu finden sind. Aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts geht es hauptsächlich u m das Problem, ob der durch den Zweck des A r t . 24 I GG begründete Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber den Grundrechten des GG zur Geltung kommt. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht entschieden 120 , die Geltung des Gemeinschaftsrechts werde nicht i n Frage gestellt, wenn es sich ausnahmsweise gegenüber zwingendem Verfassungsrecht nicht durchsetzen lasse. A r t . 24 GG er117 V o n den europäischen Normen (Art. 189 EWG-V), insbesondere den i n den Mitgliedstaaten unmittelbar f ü r Gerichte, Behörden u n d Bürger geltenden Verordnungen sind u. a. zu unterscheiden die sog. Richtlinien, die n u r f ü r die Mitgliedstaaten verbindlich sind, die sie nach ihrem Gestaltungsermessen i n nationales Recht umsetzen müssen. ne Wahrung der Supranationalität u n d Funktionsfähigkeit der E G genügt es, den Rechtsvorrang — anders als bei bundesstaatlicher Integrat i o n — nicht schon auf der Ebene der Rechtssetzung, sondern erst bei der Rechtsanwendung zu aktualisieren, d. h. den Vorrang bei der richterlichen Einzelfallentscheidung durchzuführen, i n diesem Sinne auch der Europäische Gerichtshof, vgl. EuGHE X V I (1970), S. 1125; EuR 7 (1972), S. 259. 119 Etwa nach A r t von A r t . 31 GG f ü r das Verhältnis von Bundesrecht u n d Landesrecht. 120 Beschluß v. 29. 5.1974, BVerfGE 37, S. 271, 279 ff.

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öffne nicht den Weg, die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruhe, ohne Verfassungsänderung schlicht durch die Gesetzgebung einer zwischenstaatlichen Einrichtung zu ändern. Ein zur Verfassungsstruktur des GG gehörendes unaufgebbares Essentiale sei der Grundrechtsteil des GG; i h n zu relativieren, gestatte A r t . 24 GG nicht vorbehaltlos. Für die Problemlösung sei der gegenwärtige Stand der Integration der Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung; sie entbehre insbesondere noch eines kodifizierten Grundrechtskatalogs, dessen Inhalt ebenso zuverlässig feststehe wie der des GG. Solange ein hinreichender Grundrechtsstandard i m Zuge der EG-Integration noch nicht erreicht sei, gelte der aus A r t . 24 GG hergeleitete Vorbehalt. Demgemäß setze sich i n einem Normenkonflikt zwischen Gemeinschaftsrecht und deutschem Verfassungsrecht die Grundrechtsgarantie des GG durch, solange nicht die zuständigen Organe der Gemeinschaft diesen K o n f l i k t behoben hätten. Z u dieser von richterlichem Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Grundrechtsordnung getragenen Entscheidung ist kritisch anzumerken 1 2 1 , daß es für den auch i m EG-Bereich unverzichtbaren Grundrechtsschutz weniger auf einen kodifizierten Grundrechtskatalog ankommt als vielmehr auf einen effektiv gewährleisteten Grundrechtsstandard. Daß indessen die Hoheitsgewalt der Europäischen Gemeinschaften ungeachtet des Schweigens der Gründungsverträge an einen ungeschriebenen, durch Rechtsvergleichung abgrenzbaren Kernbestand von Grundrechten gebunden ist, hat der Europäische Gerichtshof i n gefestigter Rechtsprechung deutlich gemacht 122 . Auch wenn man, i m Einklang m i t dem Ansatz des Bundesverfassungsgerichts die Integrationsgewalt des A r t . 24 I GG i m Sinne bestimmter fundamentaler Vorbehalte verfassungskonform begrenzt, so zwingt dies noch nicht zu dem Schluß, daß der Grundrechtsschutz i n den supranationalen Gemeinschaften dem i n der Bundesrepublik gewährleisteten vollen Umfangs entsprechen muß. Dies zu fordern, könnte als überhöhter Anspruch gegenüber den supranationalen Rechtsgarantien und als eine A r t nationaler Introvertiertheit, die das Grundgesetz i n diesem Bereich gerade überwinden wollte, gewertet werden 1 2 3 . I m übrigen ist zu bedenken, daß auch der deutsche Grundrechtskatalog, i n den Grenzen des A r t . 79 I I I GG, der Verfassungsänderung unterliegt. Für eine auf die Substanz freiheitlicher 121 Siehe auch die abweichende Meinung zu diesem Beschluß, derzufolge sekundäres Gemeinschaftsrecht nicht auf seine Vereinbarkeit m i t den G r u n d rechtsnormen des GG geprüft werden kann, BVerfGE 37, S. 291 ff. 122 Vgl. die Entscheidungen des E u G H i n Bd. X V (1969), S.419; X V I (1970), S. 1125; X X (1974), S. 491. 123 Siehe auch die K r i t i k von J. A. Frowein, Europäisches Gemeinschaf tsrecht u n d Bundesverfassungsgericht, i n : C. Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Bd. 2, 1976, S. 187, 201 f,

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Strukturen hoheitlicher Gewalt abhebende Betrachtungsweise ist i m übrigen relevant, daß auf supranationaler Rechtsebene der EG die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die der Europäische Gerichtshof zu wahren hat m i t der Folge, daß er keine Maßnahme als Rechtens anerkennen kann, die unvereinbar ist m i t dem Mindeststandard der von den Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannten und geschützten Grundrechte 124 . Andererseits gehört zum unaufgebbaren Essentiale der Verfassungsstruktur des GG nicht der gesamte gegenwärtig geltende Grundrechtskatalog, sondern nur der i m Sinne des A r t . 79 I I I GG unantastbare Kernbestand grundrechtlicher Normen. Ι Π . Grundsätze der Verfassungsauslegung

1. Grundlage jeder Rechtsanwendung auf den konkreten Fall ist die vorgängige Klärung des Inhalts der entscheidungserheblichen Rechtsnorm. Den maßgebenden juristischen Gehalt der anzuwendenden Norm herauszufinden, ist das Ziel der Interpretation. Diese Auslegung 1 2 5 der Rechtsnorm darf sich, u m der Rechtssicherheit willen, nicht nach beliebigen Weisen des Rechtsgefühls und subjektiven Meinens vollziehen. Vielmehr gelten für das nicht selten schwierige Geschäft der juristischen Interpretation bestimmte hermeneutische Grundsätze, die sich i n der wissenschaftlichen und richterlichen Jurisprudenz als bewährte Kunstregeln für die normative Sinnermittlung herausgebildet haben. Diese Methoden, i n langer Tradition entstanden, bleiben prinzipiell offen für theoretische und praktische Weiterentwicklung. Bei der Interpretation eines Rechtssatzes lassen sich ganz allgemein, i n einer A r t Stufenfolge, bestimmte Interpretationsschritte 125 unterscheiden, nämlich die grammatische, die logische, die systematische, die komparative, die historische, die genetische und die teleologische Auslegung. Die grammatische Auslegung, m i t der jede Interpretation eines Textes beginnt, richtet sich auf die Ermittlung des Wortsinns. Dabei geht es zunächst u m die Bedeutung, die ein Ausdruck oder Satz i m allgemeinen Sprachgebrauch hat. — Einen Schritt weiter führt die logische Auslegung, wonach der spezielle Sprachgebrauch des Gesetzgebers i n Betracht zu ziehen ist. Hier bedenkt der Interpret den begrifflichen 124 Diese Konsequenz zieht der E u G H ausdrücklich i n der Entscheidung v o m 14. 5.1974, E u G H E X X (1974), S. 491, 507. 125 Z u den Grundproblemen der Auslegung vgl. insbesondere K . Engisch, Wahrheit u n d Richtigkeit i m juristischen Denken, 1963; E. Forsthoff, Recht u n d Sprache, 1964; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. A u f l . 1976; K . Stern, Gesetzesauslegung u n d Auslegungsgrundsätze des Bundesverfassungsgerichts, 1956; H. Wagner, Interpretation i n L i t e r a t u r - u n d Rechtswissenschaft, AcP 165 (1965), S. 520 ff.

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Inhalt der rechtlichen Termini, die eine besondere fachliche Bedeutung erlangt haben. Nicht selten läßt der — allgemeine oder juristische — Wortsinn verschiedene Deutungen zu. Dann ist anhand weiterer K r i terien die „richtige" Bedeutung des auszulegenden Textes zu ermitteln. — I m Falle mehrerer dem Wortlaut nach möglichen Bedeutungen eines Textes verdient diejenige Deutung den Vorzug des Interpreten, die i m Gesamtzusammenhang am verständlichsten erscheint. Die hier notwendige systematische Auslegung würdigt den zu interpretierenden Text i m Kontext der aufeinander bezogenen Teile des Rechtssatzes, des Rechtsinstituts, des Gesetzes und der Gesamtrechtsordnung. Diese Auslegung aus der Systematik des Rechts berücksichtigt, daß die einzelnen Rechtsbegriffe und Rechtssätze nicht isoliert für sich bestehen, sondern i n einem sinnhaften Zusammenhang normative Geltung haben. Erst das — einschränkende, verstärkende oder ergänzende — Miteinander der Normen ergibt die einheitliche Regelung, die es i m Wege der Interpretation zu erkennen gilt. — Über den Rahmen der nationalen Rechtsordnung hinaus weist die komparative Auslegung. Sie nutzt rechtsvergleichende Analysen ausländischer Regelungen vergleichbarer Fragen als Erkenntnismittel des deutschen Rechts. Freilich sind i m Verfassungsrecht, dem kraft der verfassungsgebenden Gewalt des nationalen Souveräns eine eigenständige, von Staat zu Staat grundsätzlich verschiedene normative Identität zukommt, komperative Schlüsse nur mit großer Vorsicht zulässig. — Eine vergangenheitsbezogene Dimension eröffnen die Methoden der historischen und der genetischen Auslegung. Der Interpret geht historisch vor insofern, als er die Rechtsnorm als ein Werk des geschichtlich schaffenden Menschengeistes betrachtet, der i n objektive Gegebenheiten seiner Epoche eingebunden ist. Konkreter als die historische Auslegung ist die auf die spezielle Entstehungsgeschichte der Rechtsnorm bezogene genetische Interpretation. Dieser Auslegungsansatz fragt insbesondere nach den Normvorstellungen der Gesetzesverfasser i n Regierung und Parlament. Die Intentionen der an der Vorbereitung des Gesetzesbeschlusses beteiligten Personen lassen sich teilweise schriftlichen Quellen entnehmen. Dazu zählen vor allem die Gesetzesmaterialien, namentlich i n Gestalt von Gesetzentwürfen, vorbereitenden Papieren, amtlichen Begründungen, Parlamentsberichten, Ausschußprotokollen und einschlägigen Gutachten. — Etwas anderes als die Zwecksetzung des historischen Gesetzgebers ist der objektive Zweck der Rechtsnorm, der sich bei unverändertem Normtext i n der Zeit wandeln kann. Dieses Telos der Regelung zu erkennen ist das Ziel der teleologischen 126 Auslegung. Hierbei 126 Bei diesem Interpretationsschritt zeigt sich besonders deutlich der U n terschied zwischen juristischer u n d philologischer Auslegung. Dem philologischen Interpreten geht es p r i m ä r u m das Nachdenken eines Vorgedachten,

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§ 3 Das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik

fragt der Interpret, ohne an die ursprünglichen gesetzgeberischen Motive gebunden zu sein, i m Rahmen des möglichen Wortsinns nach der ratio legis, welche die auszulegende Rechtsnorm vernünftigerweise i n der Gegenwart hat. A u f der Suche nach dem Telos der Rechtsnorm kann der Ausleger das Gesetz besser verstehen als der historische Gesetzgeber: „Das Gesetz kann klüger sein als seine Verfasser — es muß sogar klüger sein als seine Verfasser 127 ." Wesentliche Kriterien der teleologischen, auf die Erkenntnis des immanenten Normzwecks gerichteten Auslegung sind namentlich — i n bewußter Abkehr von reinem rechtsdogmatischen „Positivismus" — die „Grundgedanken" oder die „Natur der Sache" oder die innewohnenden „Wertprinzipien" der zu interpretierenden Regelung. Diese sieben Interpretationsansätze bilden keinen geschlossenen Kanon, und sie stehen nicht i n einem starren Rangstufenverhältnis zueinander. Sie sind mit Einfühlungskunst, von Fall zu Fall i n unterschiedlicher Gewichtung, zur Erkenntnis der ratio legis sinnvoll miteinander zu kombinieren. Letztlich entscheidend aber ist das Ergebnis der teleologischen Auslegung. 2. Die vorgenannten allgemeinen juristischen Auslegungsmittel gelten grundsätzlich auch für die Interpretation des Verfassungsrechts 128 . Der juristische Höchstrang der Verfassungsrechtsnorm erfordert freilich, insbesondere auch mit Rücksicht auf die „politischen" Implikationen der rechtlichen Entscheidung, ein Höchstmaß an Auslegungskunst, konstitutionellem Augenmaß und verfassungsstaatlicher Verantwortung. Dies gilt namentlich für die verbindliche Verfassungsinterpretation durch Richterspruch. Unbeschadet der Einheit der Rechtsordnung und der einheitlichen Grundstrukturen der Jurisprudenz darf die sachliche Eigenart der Verfassung, die sich aus ihrer übergreifenden normativen Bedeutung für Staat und Gesellschaft ergibt, nicht außer acht gelassen werden. Für die judizielle Verfassungsauslegung gilt auch heute noch das treffliche Wort eines großen Richters aus der Frühzeit moderner Verfassungsrechtsprechung: „We must never forget, that i t is a constitution u m die subjektiven Gedanken des w i r k l i c h e n Autors. Über diese rein empirische Methode f ü h r t die juristische Auslegung hinaus. Sie ist gerichtet auf den objektiv-maßgeblichen Sinn des Gesetzes, der nicht identisch zu sein braucht m i t den subjektiven Gedanken der Gesetzes Verfasser u n d historischen Gesetzgeber (deren Intentionen überdies nicht selten divergieren). 127 G. Radbruch, Rechtsphilosophie (hg. v. E r i k Wolf), 7. A u f l . 1970, S. 211. 128 Dazu näher E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation. Bestandsaufnahme u n d K r i t i k , N J W 1976, S.2089ff.; R. Dreierl F. Schwegmann (Hg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976; E. Forsthoff, Z u r Problematik der Verfassungsauslegung, 1961; P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, J Z 1975, S. 297 ff.; F. Ossenbühl, Probleme u n d Wege der Verfassungsauslegung, D Ö V 1965, S. 649 ff.; P. Schneider / ff. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963), S. 1 ff., S. 53 ff.

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we are expounding 1 2 9 ." Eine besondere Schwierigkeit der Verfassungsinterpretation liegt darin, daß die Verfassung zwar die fundamentale Rechtsordnung des politischen Prozesses, der staatlichen Funktionen und der Freiheit des Einzelnen ist, daß aber die Verfassungsrechtsnormen nicht selten überaus lapidar, abstrakt, mehrdeutig und konkretisierungsbedürftig sind. 3. Für die konkrete Geltung des Grundgesetzes ausschlaggebend sind die Auslegungsmaximen des Bundesverfassungsgerichts 130 , dessen Entscheidungen nach Maßgabe des Verfassungsprozeßrechts allgemeingültige und letztverbindliche Autorität zukommt. Ohne hier die oft recht pragmatische Argumentationsweise des Gerichts methodenkritisch zu betrachten, lassen sich der Bundesverfassungsrechtsprechung folgende, freilich nicht immer konsequent durchgehaltene Auslegungsgrundsätze entnehmen. I m Unterschied zur „subjektiven" Theorie, die auf den historischen Willen des Gesetzgebers i m Sinne des Gesetzesverfassers abhebt, schließt sich das B V e r f G i a i der i n Wissenschaft und Praxis überwiegend anerkannten „objektiven" Theorie an, wonach Gegenstand der Auslegung das Gesetz selbst, der i m Gesetz objektivierte Wille des Gesetzgebers ist. I m Blick auf dieses Auslegungsziel werden als Interpretationsmethoden die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung) ausdrücklich anerkannt. U m den objektiven Willen des Gesetzgebers zu erfassen, seien, betont das Gericht, alle diese Auslegungsmethoden erlaubt; sie schlössen einander nicht aus, sondern ergänzten sich gegenseitig. Dies gelte auch für die Heranziehung der Gesetzesmaterialien, soweit sie Rückschlüsse auf den objektiven Gesetzesinhalt gestatteten. Freilich könne der „ W i l l e des Gesetzgebers" als der i m Gesetz objektivierte Wille bei der Auslegung nur insoweit berücksichtigt werden, als er i n dem Gesetz einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden habe. Diese für Rechtsnormen allgemein geltenden Auslegungsmaximen hat das BVerfG durch spezifisch verfassungsrechtliche Interpretationsfiguren 1 5 2 wesentlich erweitert. Zu nennen sind insbesondere die Prin129

(1819).

Chief Justice Marshall,

i n : McCulloch vs. Maryland, 4 Wheat. 316, 407

130 Dazu insbesondere G. Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, i n : Ch. Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, 2. Bd., 1976, S. 22 ff. 131 BVerfGE 11, S. 126, 129 f.; ferner 35, S. 263, 278 f.

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§ 3 Das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik

zipien der Einheit der Verfassung, der Konkordanz der Verfassungsrechtssätze, der wechselseitigen Loyalität der Staatsorgane und der verfassungskonformen Auslegung. Der Auslegungsgesichtspunkt der Einheit der Verfassung soll helfen, rechtliche Spannungsverhältnisse 133 , die aus — wirklich oder vermeintlich — gegenläufigen Normen, Institutionen und Prinzipien des Grundgesetzes herausgelesen werden, zum verfassungsimmanenten Ausgleich zu bringen. Demgemäß dürfen die einzelnen A r t i k e l des Grundgesetzes nicht isoliert betrachtet und allein aus ihrem jeweiligen Wortlaut heraus interpretiert werden. A l l e Verfassungsrechtsnormen müssen vielmehr so angewendet werden, daß sie m i t den wesensbestimmenden Prinzipien der Verfassung i n Einklang bleiben. Da die Verfassung die einheitliche rechtliche Grundordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens i m Staate darstellt, ist „vornehmstes Interpretationsprinzip die Einheit der Verfassung als eines logisch-teleologischen Sinngebildes" 1 3 4 . I n engstem Zusammenhang m i t der „inneren Harmonie des Verfassungswerks" 135 steht die Auslegungsrichtschnur konkreter Konkordanz der Verfassungsrechtsgüter. Widersprüche zwischen einzelnen Verfassungsrechtsnormen darf der Interpret nicht etwa durch Statuierung eines vom Grundgesetz nicht selbst normierten Vorrangs entscheiden, vielmehr ist zwischen den widerstreitenden Normen i m Blick auf das sinnhafte Ganze der Verfassung durch behutsame Güterabwägung rechtlich zu vermitteln. Für die Konfliktlösung ist dabei letztlich entscheidend, welcher Verfassungsvorschrift i m konkreten Fall das höhere Gewicht zukommt. Die infolgedessen schwächere Norm darf freilich „nur soweit zurückgedrängt werden, wie das logisch und systematisch zwingend erscheint; ihr sachlicher Grundwertgehalt muß i n jedem Fall respektiert werden" 1 3 6 . Der Integrationsfunktion der Verfassung i m Sinne ihrer einheitstiftenden Wirkung dient das Auslegungsprinzip der wechselseitigen Loyalität der Verfassungsorgane. I m Bundesstaat des Grundgesetzes gilt dieses Loyalitätsprinzip nicht nur für das Zusammenwirken der verschiedenen Staatsorgane (Organtreue), sondern erst recht für das Verhältnis zwischen Bund und Ländern (Bundestreue). 132 Unter hermeneutischen u n d methodologischen Gesichtspunkten w i r d die Rechtsprechung des B V e r f G besonders scharf kritisiert von F. Müller, Jurische Methodik, 1971, S. 41 f. 183 Beispiele: die „einheitliche" Interpretation von A r t . 21 u n d A r t . 38 I GG (Freies Mandat vs. parteienstaatliche Demokratie); von A r t . 7 u n d A r t . 6 I I G G (Elternrecht vs. staatliche Schulhoheit). 134 BVerfGE 19, S. 206, 220. iss BVerfGE 6, S. 309, 361. ΐ3β BVerfGE 28, S. 243, 261.

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Bundestreue 157 bedeutet sowohl bundesfreundliches Verhalten des Bundes zu den Ländern als auch umgekehrt Loyalität der Gliedstaaten gegenüber dem Bund. Das Bundesverfassungsgericht sieht i m Grundsatz der Bundestreue eine elementare Ausprägung des bundesstaatlichen Prinzips und betont m i t Nachdruck seit einer frühen Entscheidung 188 die Rechtspflicht zu bundesfreundlichem Verhalten. Aus dem föderalistischen Prinzip folge die verfassungsrechtliche Pflicht, daß die Glieder des Bundes sowohl einander als auch dem größeren Ganzen wie auch der Bund den Gliedern die Treue hielten und sich verständigten. A l l e an dem verfassungsrechtlichen „Bündnis" Beteiligten seien gehalten, dem Wesen dieses Bündnisses entsprechend zusammenzuwirken und zu seiner Festigung und zur Wahrung der wohlverstandenen Belange des Bundes und seiner Glieder beizutragen. Das Prinzip der Bundestreue soll „die Egoismen des Bundes und der Länder i n Grenzen (halten), soweit sie kraft der ihnen eingeräumten Kompetenzen die Freiheit und die Möglichkeit hätten, ,rücksichtslos' ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen und nur ihren eigenen Interessen zu folgen" 1 3 9 . Entsprechende Rücksichtnahmen sind, u m des Wohles des verfaßten staatlichen Ganzen willen, bei der Ausübung von Kompetenzen und Funktionen der verschiedenen Staatsorgane geboten. Nach dem Grundsatz der wechselseitigen Organtreue 140 sind die einschlägigen Verfassungsrechtsnormen so zu interpretieren, daß jedes Verfassungsorgan i n der Ausübung seiner Befugnisse und Aufgaben geschützt w i r d gegen unzulässige Einwirkungen 1 4 1 eines anderen Organs. Speziell für das verfassungsrechtlich normierte Staat-Bürger-Verhältnis hat das Bundesverfassungsgericht einen Interpretationsgrundsatz des Inhalts formuliert, daß i n Zweifelsfällen diejenige Auslegung zu wählen ist, welche die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm 137 Dazu näher ff.-W. Bayer, Die Bundestreue, 1961; W. Geiger, Die wechselseitige Treuepflicht v o n B u n d u n d Ländern, i n : A . Süsterhenn (Hg.), F ö deralistische Ordnung, 1961, S. 116 ff.; ff. Spanner, Z u r Rechtskontrolle des bundesfreundlichen Verhaltens, D Ö V 1961, S. 481 ff. iss BVerfGE 1, S. 299, 315 unter Bezugnahme auf R. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht i m monarchischen Bundesstaat, i n : Festgabe f ü r Otto Mayer, 1916, S. 245 ff. m BVerfGE 31, S. 314, 355. 140

M i t Recht w i r d eine ungeschriebene verfassungsrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme der Bundesorgane aufeinander angenommen. Danach muß jedes Verfassungsorgan sich so verhalten, daß dem anderen Organ die u n geschmälerte E r f ü l l u n g seiner Verantwortlichkeiten möglich ist, vgl. H. Schneider, Der Niedergang des Gesetzgebungsverfahrens, i n : Festschrift f ü r Gebhard Müller, 1970, S. 421, 422. 141 So ist ζ. B. verfassungswidrig, daß sich Verfassungsorgane i n der A u s übung ihrer Funktionen dadurch behindern, daß sie sich i n der Sache überraschen oder unter übermäßigen Zeitdruck setzen.

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§ 3 Das Grundgesetz als Verfassung der Bundesrepublik

am stärksten entfaltet 1 4 2 . Diese Maxime größtmöglicher Grundrechtseffektivität 1 4 3 , die bereits von der Verfassungsrechtslehre der Weimarer Republik entwickelt wurde, als den Grundrechten eher programmatische als juristische Wirkung zukam, hat unter dem Grundgesetz m i t seiner strengen Rechtsgeltung der Grundrechte ihren hermeneutischen Hintergrund verloren. Gesetzesauslegung und zugleich Verfassungsinterpretation umfaßt der vom BVerfG entwickelte Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung 144 . Grundlage dieser Maxime ist die Möglichkeit unterschiedlicher Auslegung einer Gesetzesnorm, wobei die Auslegungsergebnisse i n der einen Version m i t dem Grundgesetz i n Einklang, i n der andern verfassungswidrig sein können. Für diesen Fall hat, i m Interesse der Erhaltung der Gesetzesnorm (favor legis), das BVerfG ausgesprochen, ein Gesetz sei nicht für nichtig zu erklären, wenn es i m Einklang m i t der Verfassung interpretiert werden könne. Nicht nur spreche eine Vermutung dafür, daß ein Gesetz m i t dem Grundgesetz vereinbar sei, sondern das i n dieser Vermutung zum Ausdruck kommende Prinzip verlange auch i m Zweifel eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes145. Verfassungskonforme Auslegung, ein besonderes Instrument der verfassungsgerichtlichen Normenprüfung, ist rechtlich etwas anderes als verfassungsmäßiges Staatshandeln überhaupt; dieses ergibt sich zwingend als generelle Verfassungspflicht für alle Organe der Legislative, Exekutive und Judikative aus dem Primat des Grundgesetzes. Das Verfassungsgericht hat i m Rahmen der verfassungskonformen Auslegung besonders die Grenzen seiner Zuständigkeit gegenüber dem Gesetzgeber und den Fachgerichten zu beachten. I m Unterschied zum Supreme Court der Vereinigten Staaten ist das Bundesverfassungsgericht kein allgemeines Superrevisionsgericht 14®. I m übrigen findet jede verfassungskonforme Auslegung ihre Grenze dort, wo sie m i t dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers i n Widerspruch treten würde 1 4 7 . 142 BVerfGE 6, S. 55, 72; 32, S. 54, 71; 39, S. 1, 38. Dieser Auslegungsgrundsatz ist nicht zu verwechseln m i t dem Postulat „ i n dubio pro übertäte". Der Charme dieser Forderung entbindet weder den Rechtspolitiker noch den Interpreten geltenden Rechts von besonnener D i f ferenzierung. Als generelles Prinzip ist dieses Postulat nicht annehmbar, da Staat u n d Rechtsordnung nicht n u r die individuelle Freiheit, sondern auch die Sicherheit vor aggressiven I n d i v i d u e n zu gewährleisten haben. 144 Dazu näher H. Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, 1966; R. Zippelius, Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, i n : Chr. Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, 2. Bd., 1976, S. 108 ff. 145 BVerfGE 2, S. 266, 282. 146 Die Auslegung u n d Anwendung einfacher Gesetze ist p r i m ä r Sache der Fachgerichte, siehe BVerfGE 40, S. 88. 147 BVerfGE 8, S. 28, 34; 18, S. 97, 111. 143

Zweites Kapitel

Staategestaltende Fundamentalprinzipien des Grundgesetzes Über Staatsform und Staatsziele der Bundesrepublik Deutschland hat die Verfassung grundlegende Entscheidungen getroffen, die, verankert i m politischen Willen des pouvoir constituant, den Charakter oberster Rechtsquellen haben 1 . Nach diesen die rechtliche Grundstruktur des politischen Gemeinwesens prägenden Verfassungsprinzipien ist der Staat des Grundgesetzes explizit verfaßt als Republik, Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat und Bundesstaat (Art. 20 I, 28 I GG) 2 .

§ 4

Das republikanische Prinzip

L i t e r a t u r : E. Bernatzik, Republik u n d Monarchie, 1919; R. Hübner, Die Staatsform der Republik, 1919; M. Imboden, Die Staatsformen, 1959; K . Loewenstein, Die Monarchie i m modernen Staat, 1952.

1. Vergleichsweise beiläufig sagt die Verfassung, daß der Staat des Grundgesetzes eine Republik ist (Art. 20 I, 28 I GG). Anders verfuhr die Weimarer Verfassung, an deren Spitze der markante Satz stand: „Das Deutsche Reich ist eine Republik" (Art. 1 I WRV). Jene Hervorhebung hatte besondere politisch-historische Gründe. Republik bedeutete damals primär, i n polemischer Wendung gegen das unmittelbar vorangegangene Kaiserreich, eine lapidare Absage an jede Staatsform erbmonarchischer (oder auch nur lebenslänglich unabsetzbar monarchischer) Herrschaft eines Einzelnen 3 . Solche dezidierte Verneinung der Monarchie ist begreiflich vor dem Hintergrund der traditionellen, vom 1 Dazu näher H. J. Wolff, Rechtsgrundsätze u n d verfassungsgestaltende Grundentscheidungen als Rechtsquellen, i n : Gedächtnisschrift f ü r W. J e l l i nek, 1955, S. 33 ff.; N. Achterberg, A n t i n o m i e n verfassunggestaltender G r u n d entscheidungen, Der Staat, Bd. 8 (1969), S. 159 ff. 2 Diese ausdrücklichen — organisatorischen u n d inhaltlichen — Verfassungsnormierungen der Staatsstruktur fehlten i n der WRV, abgesehen v o m republikanischen Prinzip. 3 Siehe R. Thoma, Das Reich als Demokratie, i n : Anschütz / Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 186 f.

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§ 4 Das republikanische Prinzip

späteren monarchischen Konstitutionalismus entschärften, für die politische Geschichte der Neuzeit besonders wichtigen Entgegensetzung von republikanischer Staatsvorstellung und fürstlichem Absolutismus 4 . 2. Die Väter des Grundgesetzes standen vor einer gänzlich anderen Situation als die Weimarer Nationalversammlung. Deutschlands politische Entwicklung seit dem Untergang des Kaiserreiches machte es entbehrlich, i m Grundgesetz textlich hervorzuheben, daß die Staatsform der Monarchie erledigt und diejenige der Republik i n Geltung sei. Wenn daher der Wortlaut des Grundgesetzes den republikanischen Staatscharakter nur i n abgeschwächter Form 5 zum Ausdruck bringt, so ändert dies freilich nichts an dem Befund, daß der durch die deutschrechtliche Tradition geprägte Inhalt des Begriffs der Republik vom geltenden Verfassungsrecht grundsätzlich übernommen worden ist. Demgemäß bedeutet die (nach A r t . 79 I I I GG unabänderliche) verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die Staatsform der Republik — außer der Ablehnung der Diktatur — primär, daß der Staat des Grundgesetzes keine Monarchie ist und werden darf. Republik verstanden als NichtMonarchie verbietet gleichermaßen die Staatstypen der absoluten und der konstitutionellen® Monarchie. Aus dem Charakteristikum des Fürstenstaats, wonach der Monarch seine Stellung als Staatsoberhaupt aufgrund dynastischer Regeln innehat, folgt umgekehrt für die Inhaltsbestimmung des grundgesetzlichen Republikbegriffs, daß das Staatsoberhaupt nur auf Zeit ins A m t berufen wird, und zwar letztlich legitimiert durch Entscheidung des Staatsvolks 7 . Bedeutet somit das republikanische Prinzip i n erster Linie negativ eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung gegen die monarchischdynastische Staatsform 8 , so läßt sich, freilich weniger scharf konturiert, 4 Diese moderne Zweiteilung der Staatsformen geht zurück auf N. Machiavelli (1469—1527), der (abweichend von der antiken Dreiteilung i n Monarchie, Aristokratie u n d Demokratie) i n der Hauptsache zwischen Monarchien u n d Republiken unterschied. δ I m Unterschied zu dem markanten Verfassungssatz i n A r t . 1 I W R V spricht das Grundgesetz eher i n d i r e k t von „Bundesrepublik" (Art. 20 I GG) u n d von „republikanischem" . . . Rechtsstaat (Art. 28 I GG). β Kennzeichnend f ü r die konstitutionelle Monarchie i n Deutschland w a r die Vorstellung, daß der Monarch aus eigenem Recht herrschte u n d daß er die Volksvertretung von sich aus an der Herrschaft beteiligte. Diese Theorie verlor ihre realpolitische Grundlage infolge der Wandlung zur parlamentarischen Monarchie k r a f t Verstärkung der Kompetenzen des Reichstags w ä h rend der vorrevolutionären E n t w i c k l u n g i n der letzten Phase des 1. W e l t kriegs, vgl. hierzu E.-W. Böckenförde, Der deutsche Typus der konstitutionellen Monarchie i m 19. Jahrhundert, i n : W. Conze (Hg.), Beiträge zur deutschen u n d belgischen Verfassungsgeschichte i m 19. Jahrhundert, 1967, S. 70 ff.; Μ . v. Seydel, C o n s t i t u t i o n e ^ u n d parlamentarische Regierung, i n : ders., Staatsrechtliche u n d politische Abhandlungen, 1893, S. 121 ff. 7 Z u r W a h l u n d Amtszeit des Bundespräsidenten vgl. A r t . 54 GG.

§ 5 Die demokratische Staatsstruktur

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der geltende Begriff der Bepublik durch behutsamen Rückgriff auf frühere Bedeutungsgehalte auch positiv anreichern. Demgemäß kann man, wie das schon zur Zeit der Weimarer Verfassung geschehen ist, an den ursprünglichen, i m altrömischen Staatsrecht verwurzelten und i n Deutschland von Kant philosophisch ausgearbeiteten Sinn der republikanischen Staatsform anknüpfen. Nach diesen Vorstellungen — sie nähern sich sachlich bestimmten Gedanken rechtsstaatlicher Demokratie — bedeutet Republik als „res publica" ein Gemeinwesen mündiger Bürger, die i m wohlverfaßten „Freistaat" zum gemeinen Besten („salus publica") politisch frei zusammenwirken.

§ 5 Die demokratische Staatsstruktur L i t e r a t u r : P. Badura, Parlamentarismus u n d parteienstaatliche Demokratie, i n : Festschrift f ü r K . Michaelis, 1972, S. 9 ff.; E.-W. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat u n d Gesellschaft i m demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, i n : Festgabe f ü r W. Hefermehl, 1972, Vom S. 11 ff.; W. Hennis, Die mißverstandene Demokratie, 1973; H.Kelsen, Wesen u n d Wert der Demokratie, 1929 / Neudruck 1963; G. Leibholz, S t r u k t u r probleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967; U. Scheuner, Das M e h r heitsprinzip i n der Demokratie, 1973; H. Steinberger, Konzeption u n d Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974.

Da dieses Buch das geltende Verfassungsrecht zum Gegenstand hat, beschränken sich die folgenden Darlegungen auf die wesentlichen Merkmale des Demokratieprinzips i n seiner grundgesetzlichen Gestalt. Neben diesem verfassungsrechtsdogmatischen Ansatz gibt es eine Reihe anderer, freilich für das geltende Recht nicht maßgeblicher interessanter Betrachtungsweisen der Problematik. So kann man das Demokratieprinzip insbesondere auch unter staatstheoretischen, ideengeschichtlichen, ideologiekritischen, verfassungsvergleichenden, konstitutionsgeschichtlichen, herrschaftssoziologischen und politisch-pragmatischen Gesichtspunkten analysieren. I m vorliegenden Zusammenhang soll indessen außer Betracht bleiben, welche disparaten Ausdeutungen 9 der 8 Ob diese Entscheidung auch f ü r die Bundesländer gilt, ist eine offene Frage, da A r t . 28 GG, i m Unterschied zu A r t . 20 GG, nicht unter die u n abänderlichen Bestimmungen gem. A r t . 79 I I I G G fällt. Würde A r t . 28 I G G entsprechend geändert (sc. Wegfall der republikanischen Homogenität i n B u n d u n d Ländern), so wäre grundsätzlich der Weg frei f ü r eine parlamentarische Monarchie i n einzelnen Bundesländern, sofern dort das demokratische Prinzip (Art. 20 I u n d I I GG) unangetastet bliebe. 9 Bezeichnend ist folgende Feststellung H. Kelsen* s (Vom Wesen u n d W e r t der Demokratie, 1929/1963, S. 1): „Die bürgerlichen Revolutionen von 1789 u n d 1848 hatten das demokratische Ideal beinahe zu einer Selbstverständlichkeit des politischen Denkens gemacht . . . Demokratie ist das die Gei-

4 Weber-Fas

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§ 5 Die demokratische Staatsstruktur

Demokratiebegriff i n Vergangenheit und Gegenwart unter den verschiedensten Aspekten und Motiven erfahren hat. I m folgenden geht es allein u m die normative Ausgestaltung des demokratischen Prinzips durch das Grundgesetz. I . Vorbemerkung zum geltenden Demokratieprinzip

Obwohl der Begriff der Demokratie für den Verfassungsstaat des Grundgesetzes von konstitutiver Bedeutung ist, besteht i n Theorie und Praxis eine divergierende Vielfalt von Auffassungen über seinen rechtlichen Gehalt 10 . Die folgenden Hinweise sollen der Klärung dienen. Das Leitprinzip, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 I I GG), bedeutet nicht die — wirklichkeitswidrige, letztlich totalitäre, i n bestimmten Theoremen der europäischen Aufklärung wurzelnde — Konstituierung der Selbstregierung des Volkes i m Sinne einer unvermittelten Identität von Regierenden und Regierten. So wenig es i n der Realität des Lebens einen von dem K o n f l i k t der Einzelinteressen ablösbaren einheitlichen Volkswillen gibt, so einsichtig ist für ein utopiefreies, von empirischen Gegebenheiten ausgehendes Denken die Tatsache politischer Herrschaft 11 auch i m demokratischen Staat. Die grundgesetzliche Normierung des Prinzips der Volkssouveränität hat einen bestimmten Typus der repräsentativen Demokratie festgelegt, dessen Grundstruktur gemäß A r t i k e l 79 I I I GG verfassungsrechtlich unabänderlich ist. Danach w i r d die vom Volk ausgehende Staatsgewalt von diesem (nur) i n Wahlen und Abstimmungen sowie durch besonster i m 19. u n d 20. Jahrhundert fast allgemein beherrschende Schlagwort. Gerade darum aber verliert es — w i e jedes Schlagwort — seinen festen Sinn. W e i l m a n es — dem politischen Modezwang unterworfen — zu allen möglichen Zwecken u n d bei allen möglichen Anlässen benützen zu müssen glaubt, n i m m t dieser mißbrauchteste aller politischen Begriffe (Hervorhebung von R. W.-F.) die verschiedensten, einander oft sehr widersprechenden Bedeutungen an, sofern i h n nicht die übliche Gedankenlosigkeit des v u l g ä r - p o l i tischen Sprachgebrauchs zu einer keinen bestimmten Sinn mehr beanspruchenden konventionellen Phrase degradiert." 10 Ä h n l i c h „pluralistisch" ist die Lage i n der Politikwissenschaft, vgl. etwa M. Hättich, Demokratie als Herrschaftsordnung, 1967, S. 11 f.; F. Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie u n d Anpassung, 1970, S. 8. 11 Auch eine w i e immer zu konstruierende sog. Rätedemokratie (mit Gewaltenvereinigung, imperativem Mandat, Absetzbarkeit der Richter usw.) k a n n die Herrschaft v o n Menschen über Menschen nicht aufheben, w o h l aber nach bisheriger Erfahrung die Herrschaft weniger über das V o l k verschleiern. H i e r zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit m i t bestimmten Formen antiker Herrschaft, die oft fälschlich als vorbildliche Demokratie gedeutet w i r d ; treffend erscheint folgende Bemerkung (Me Iver, The Modern State, 1947, S. 352) „ T h e so-called direct democracies of the ancient city-state were not democracies at all, b u t egalitarian oligarchies i n w h i c h a r u l i n g class of citizens shared the rights and spoils of political control."

I. Vorbemerkung zum geltenden Demokratieprinzip dere O r g a n e d e r Gesetzgebung, d e r v o l l z i e h e n d e n G e w a l t u n d Rechtsprechung ausgeübt ( A r t . 20 I I G G ) 1 2 .

51 der

D i e d u r c h d i e M e h r h e i t des W a h l v o l k e s u n d d e r g e w ä h l t e n V o l k s v e r t r e t e r verfassungsrechtlich l e g i t i m i e r t e H e r r s c h a f t i s t nach d e m G r u n d gesetz k e i n e schrankenlose. D a s h a u p t s ä c h l i c h a u f Rousseau 1 3 sich b e rufende Postulat einer ungebundenen demokratischen Hoheitsgewalt w i r d v o n d e r V e r f a s s u n g d e r B u n d e s r e p u b l i k entschieden a b g e l e h n t 1 4 . F r e i v o n Rechtsbindungen ist k e i n Organ der Staatsgewalt, nicht einm a l d e r verfassungsändernde Gesetzgeber. S o w o h l d e m m o n a r c h i s c h e n w i e d e m d e m o k r a t i s c h e n A b s o l u t i s m u s h a t das Grundgesetz eine A b s a g e e r t e i l t . D a auch d e r D e m o s z u m T y r a n n e n w e r d e n k a n n 1 5 , g i l t es, d i e W ü r d e u n d d i e F r e i h e i t des Menschen v o r d e r „ v o l o n t é g é n é r a l e " u n d P a r l a m e n t s m e h r h e i t e n 1 6 verfassungsrechtlich i n Schutz z u n e h m e n . D e m o k r a t i e u n t e r d e m G r u n d g e s e t z i s t d a h e r q u a l i t a t i v e t w a s anderes als bloße H e r r s c h a f t d e r M e h r h e i t . Das d e m o k r a t i s c h e P r i n z i p , das j a i n a u ß e r o r d e n t l i c h u n t e r s c h i e d l i c h e n V a r i a n t e n d e n k b a r ist, h a t d u r c h das G r u n d g e s e t z eine charakteristische — f r e i h e i t l i c h e u n d r e p r ä s e n t a t i v e — n o r m a t i v e A u s p r ä g u n g g e f u n d e n . D i e s z e i g t sich besonders deutlich i m geltenden parlamentarischen System u n d i n den Prinzipien der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" 17. 12

Diese v o m Grundgesetzgeber (in Würdigung jüngerer geschichtlicher Erfahrungen i n Deutschland) gewählte „Mediatisierung" des Volkes findet ein — zumal gegenüber Parlament u n d Regierung wirksames — K o r r e k t i v i n den Faktoren der öffentlichen Meinung u n d der sog. intermediären Kräfte, die plurale Interessen nachhaltig zu artikulieren vermögen, vgl. BVerfGE 8, S. 104, 112 f.; U. Scheuner, Der Staat u n d die intermediären Kräfte, Zeitschr. f. ev. E t h i k 1 (1957), S. 34 f. 13 Dazu i m einzelnen Nef, J. J. Rousseau u n d die Idee des Rechtsstaates, i n : Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte, Bd. 5 (1947), S. 167 ff. 14 Die Begrenzung des demokratischen Gemeinwillens durch Freihei tsrechte betont auch Richter Jackson i n der US Supreme Court-Entscheidung West V i r g i n i a State Board of Education vs. Barnette (zit. nach C. B. Swisher, The G r o w t h of Constitutional Power, 1946, Second Edition 1963, S. 162): „The very purpose of a B i l l of Rights was to w i t h d r a w certain subjects from the vicissitudes of political controversy, to place t h e m beyond the reach of m a jorities and officials and to establish them as legal principles to be applied by the courts. One's r i g h t to life, liberty and property, to free speech, a free press, freedom of worship and assembly, and other fundamental rights may not be submitted to vote." 15 Siehe die tiefgründigen Darlegungen von W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1971, S. 152 f. 16 Auch die „Parliamentary Sovereignty" der britischen Verfassungstradition ist nicht gleichbedeutend m i t Parlamentsabsolutismus. Denn die „Rule of L a w " w i r k t als verfassungsrechtliche Garantie gegen die Antastung der „Grundrechte" durch den demokratischen Gesetzgeber. Z u r verfassungsfundierenden Bedeutung der Freiheitsrechte vgl. etwa Α. V. Dicey, I n t r o duction to the Study of the L a w of the Constitution, 8. Aufl., S. 199: „Each man's i n d i v i d u a l rights are far less the result of our constitution than the basis on which that constitution ist founded." 4*

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§ 5 Die demokratische Staatsstruktur I I . Volkssouveränität und Repräsentation

1. Die theoretisch i m Grunde widerstreitenden, i n der westlichen Verfassungspraxis jedoch durchaus kompatiblen Gedanken der Volkssouveränität einerseits und der repräsentativen Herrschaft andererseits hat das Grundgesetz durch konkretisierende Normen i n verfassungsstrukturierender Weise miteinander verbunden. Die von der Verfassung normierte Staatsform repräsentativer Demokratie bedeutet eine bewußte Grundentscheidung für die westliche Tradition demokratischer Staatlichkeit und gegen Modelle einer unfreiheitlichen, nichtrechtsstaatlichen Demokratie 18 , namentlich gegen den Typus der östlichen Volksdemokratie und der Rätedemokratie 19 . 2. Grundlegend für die rechtliche Struktur der Demokratie der Bundesrepublik ist A r t . 20 I I GG. Fundament des Prinzips der Volkssouveränität ist der Verfassungssatz, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 I I 1 GG). Dies bedeutet zunächst, daß das V o l k 2 0 Subjekt der verfassungsgebenden Gewalt ist 2 1 . Außer diesem pouvoir constituant, dem eigentlichen Ursprung der von der Verfassung konstituierten Gewalten (pouvoir constitué) geht nach A r t i k e l 20 I I 1 GG die ganze Fülle verfaßter Staatsgewalt vom Volke aus. Dabei ist verfassungsrechtlich zu unterscheiden zwischen Trägerschaft und Ausübung der Staatsgewalt. Träger der Staatsgewalt ist das Volk als der demokratische 17 Der v o m GG normierte — dem klassischen westlichen Modell entsprechende — Typus demokratischer Staatlichkeit ist, außer den obengenannten Wesensmerkmalen, auch durch eigentümliche Besonderheiten einer föderalen, sozialen u n d abwehrbereiten Demokratie geprägt. 18 Z u r Entstehungsgeschichte des A r t . 20 I u n d I I G G siehe JöR N F 1 (1951), S. 195 ff.; C. Schmid , Sten.Ber. Parl.Rat. 2. Sitzung, S. 13 f.; F. K . Fromme, Der Demokratiebegriff des Grundgesetzgebers, D Ö V 1970, S. 518 ff. 19 Kennzeichnend f ü r das Rätesystem, das bereits von der W R V bewußt abgelehnt worden w a r (vgl. Aktenstück Nr. 391, S. 176 ff. der Verfassungsgebenden Nationalversammlung) ist die W a h l von Volksräten, die — an Aufträge der Wähler streng gebunden u n d jederzeit abrufbar — Funktionen der Gesetzgebung u n d vollziehenden Gewalt allzuständig i n einer H a n d vereinigen; das Fehlen der Gewaltenteilung w i r d verschärft durch das P r i n zip abhängiger (jederzeit absetzbarer) Richter, vgl. auch J. Agnoli! P. Brückner, Die Transformation der Demokratie, 1967; F. Naschold, Organisation u n d Demokratie, 2. A u f l . 1974. 20 Siehe ferner die Präambel des GG: hat das Deutsche V o l k . . . k r a f t seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz . . . beschlossen." 21 Diese moderne Verortung des pouvoir constituant steht i m Gegensatz zu früheren Ideen, besonders zu den Lehren des Mittelalters, die auch i n der Epoche des fürstlichen Absolutismus noch grundlegend geblieben waren. Früher lag die postestas constituens nicht bei irdischen Mächten, sondern bei Gott (Non est enim postestas nisi a Deo, Rom. 13.1). Der fundamentale Wandel der Auffassungen über die konstituierende Gewalt vollzog sich i n der Französischen Revolution v o n 1789; die theoretische Grundlegung des dem V o l k (sc. Nation) vorbehaltenen pouvoir constituant entwickelte E. J. Sieyès (1748—1836).

I I . Volkssouveränität u n d Repräsentation

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Souverän (Art. 20 I I 1 GG). Jedoch w i r d die Staatsgewalt, abgesehen von Wahlen und Abstimmungen, nicht durch das Volk selbst unmittelbar ausgeübt. Vielmehr bestimmt das Grundgesetz — darin liegt eine klare Absage an Rousseauistische Modelle der Volkssouveränität, an identitäre und plebiszitäre Auffassungen des demokratischen Prinzips —, daß die Staatsgewalt „vom Volke i n Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt" w i r d (Art. 20 I I 2 GG). Der erste und der zweite Satz des A r t . 20 I I GG stehen i n engstem rechtlichem Zusammenhang. Beide Verfassungsnormen zusammen bestimmen die grundgesetzspezifische Kernstruktur einer repräsentativen Ausformung des i n der Volkssouveränität verwurzelten demokratischen Prinzips. 3. Das Grundgesetz hat sich mit großer Konsequenz für ein repräsentatives System 22 demokratischer Ordnung entschieden. Die plebiszitäre Komponente tritt, i m Normenbestand der Verfassung und i m praktischen Verfassungsleben, fast völlig i n den Hintergrund. Die Ausübung der Staatsgewalt durch „Abstimmungen" (Art. 20 I I 2 GG) ist von den Vätern des Grundgesetzes bewußt auf wenige, erschöpfend geregelte Fälle beschränkt worden 2 3 ; i n dem Zuviel plebiszitärer Verfassungselemente sah man einen wesentlichen Grund für die Instabilität der Weimarer Republik. „Abstimmungen" sind namentlich i n den Formen der Volksbefragung und des Volksentscheids möglich. Vom Grundgesetz vorgesehen 24 sind diese plebiszitären Verfahren lediglich für den speziellen Bereich einer Neugliederung der Bundesländer. 4. Rechtliches und politisches Zentrum der unmittelbaren Ausübung demokratischer Staatsgewalt ist die periodische Parlamentswahl. Die vom Volk direkt gewählte Vertretung n i m m t i m verfassungsmäßigen Repräsentativsystem einen herausragenden Rang ein. Die parlamentarischen Repräsentationsorgane i n ihrer Mittlerrolle zwischen Staatsleitung und Volkswillen vergegenwärtigen das — i n jeder Staatsform unvermeidliche — Grundphänomen der politischen Herrschaft Weniger über Viele. Indessen ist es ein Wesensmerkmal der freiheitlichen Verfassung, daß die parlamentarische Repräsentation getragen w i r d vom 22 Z u r rechtlichen u n d politischen E n t w i c k l u n g des Gedankens der Repräsentation i m 19. u n d 20. Jahrhundert vgl. U. Scheuner, Das repräsentative Prinzip i n der modernen Demokratie, i n : ders., Staatstheorie u n d Staatsrecht (hg. von J. L i s t i u n d W. Rüfner), 1978, S. 245 ff. 23 Z u m W i l l e n der Verfassungsväter, die Plebiszite enumerativ zu begrenzen, siehe auch F . K . Fromme, V o n der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1960, S. 150 ff. 24 Eine — n u r durch Verfassungsänderung mögliche — Ausweitung der bisherigen Anwendungsfälle von „Abstimmungen" (oder v o n i m Effekt gleichen „unverbindlichen" Volksbefragungen) durch Gesetz wäre de constitutione lata verfassungswidrig.

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§ 5 Die demokratische Staatsstruktur

mehrheitlichen 25 Konsens des Staatsvolkes, das, i n einem Prozeß offener Diskussion und freier Meinungsäußerung 28 , seine Zustimmung oder A b lehnung bei regelmäßig wiederkehrenden (allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen) Wahlen 2 7 zu äußern vermag. Hinzukommen nach geltendem Verfassungsrecht weitere wichtige repräsentative Strukturelemente, vor allem systemtragende Bestimmungen über die parlamentarische Berufung und Verantwortlichkeit der Bundesregierung 28 . 5. Das demokratische Prinzip des Grundgesetzes erschöpft sich nicht i n „Wahlen und Abstimmungen", den beiden verfassungsrechtlich vorgesehenen Formen unmittelbarer Demokratie. Entsprechend westlicher Tradition 2 9 müssen alle Akte des Herrschens mindestens mittelbar demokratisch legitimiert sein. Das Grundgesetz formuliert die auf dieser Linie liegende Ausprägung der Repräsentation i n dem fundamentalen Satz, daß die (vom Volk ausgehende, nicht durch Wahlen und Abstimmungen wahrzunehmende) Staatsgewalt „durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt" w i r d (Art. 20 I I 2 GG). M i t dieser „Besonderung" der Herrschaftsausübung durch Institutionen der Legislative, der Exekutive und der Judikative trägt die Verfassung einerseits der Tatsache Rechnung, daß unter den realen Bedingungen eines modernen hochkomplexen Massenstaates eine unmittelbare Selbstregierung des Volkes objektiv 25 Der Mehrheitsgrundsatz zählt einerseits zum Wesen der grundgesetzlichen Demokratie (siehe BVerfGE 1, S. 299, 315; 29, S. 154, 165), doch ist das demokratische Prinzip des GG, u m der freiheitlichen Rechtsstaatlichkeit w i l len, keineswegs gleichbedeutend m i t bloßer Mehrheitsherrschaft. Gerade das G G enthält fundamentale Rechtsnormen gegen Mehrheitsabsolutismus: zum Schutze tragender Verfassungsprinzipien u n d berechtigter Interessen von Minderheiten. 26 Den Zwecken demokratischer Teilnahme des informierten Staatsbürgers dienen auch wichtige Grundrechte, vor allem das Recht der freien Meinungsäußerung, der Informationsfreiheit, der Pressefreiheit, der Rundfunkfreiheit, der Fernseh- u n d Filmfreiheit (Art. 5 I GG). Z u r Bedeutung dieser G r u n d rechte f ü r den offenen demokratischen Prozeß vgl. BVerfGE 20, S. 56, 97 ff. 27 Z u den verfassungsrechtlichen Wahlgrundsätzen siehe A r t . 38 I u n d 28 I GG. 28 Siehe § 9 I I u n d § 10 I V i m Text. 29 Dieser Begriff der Demokratie, der sich „ i n der gesamten abendländischen K u l t u r w e l t . . . eingebürgert hat", hebt allein darauf ab, „ob i n einem Staate alle Inhaber staatlicher Herrschaftsgewalt unmittelbar oder mittelbar aus Volkswahlen hervorgehen u n d diese Wahlen nach einem w i r k l i c h a l l gemeinen u n d gleichen Wahlrecht erfolgen . . . Es ist der Versuch, die ordnende Herrschaftsgewalt aus einem H e r r n u n d Bändiger über einer interessengespaltenen Gesellschaft zum Geschöpf u n d Diener einer irgendwie i m Grunde doch als interessensolidarisch begriffenen Nation zu machen", so (unter Hinweis auf H. Heller, Demokratie u n d soziale Homogenität) R. Thoma, Das Reich als Demokratie, i n : Anschütz / Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 186, 188 f.

I I . Volkssouveränität u n d Repräsentation

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unmöglich ist. Z u m andern ist das i n A r t . 20 I I 2 GG festgelegte Repräsentativsystem mittelbarer Demokratie eine notwendige organisatosche Voraussetzung für das rechtsstaatliche Strukturprinzip der Gewaltenteilung, die ihrerseits wesentliche Bedingung eines freiheitlichen Verfassungsstaats ist. Die erforderliche mittelbare demokratische Legitimation erhalten die „besonderen" Organe der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung durch — direkte 3 0 oder indirekte 3 1 — Entscheidungen des Parlaments, das seinerseits durch Wahlen unmittelbar demokratisch legitimiert ist. 6. Das demokratische Prinzip ist vom Grundgesetz erstreckt worden auf die innere Struktur der politischen Parteien (Art. 21 I 3 GG). I m übrigen gilt das Demokratiegebot nur für den Bereich des Staates und der Gebietskörperschaften 32 . Eine „Demokratisierung" 3 3 anderer Lebensbereiche, wie sie i n neuerer Zeit, begünstigt durch bestimmte ideologische Strömungen, gefordert w i r d und zum Teil vom parlamentarischen Gesetzgeber verwirklicht wurde, muß sich an den rechtsstaatlichen Normen der Verfassung messen lassen. Abgesehen von dem fehlenden Verfassungsrechtsgebot zur „Demokratisierung" und von den bestehenden Verfassungsschranken für den demokratischen Normsetzer ist vom Standpunkt des Gemeinwohls zu bedenken, daß „Demokratisierung" zu einer Politisierung 3 4 und Polarisierung von Sozial-, K u l t u r - und W i r t schaftsbereichen führt, die nach ihrer immanenten Sachstruktur ungeeignet sind für die Anwendung demokratiemäßiger Gleichheits- und Mehrheitsregeln. Die i m öffentlichen Interesse liegende Funktionsfähigkeit der einschlägigen, eigentlich unpolitischen Institutionen basiert — anders als die Verfassungsstruktur von Bund, Ländern, Kreisen, Gemeinden und Parteien — nicht auf der politischen Gleichheit, son30 Beispiel: W a h l des Bundeskanzlers durch den Bundestag (Art. 63 GG); W a h l der Hälfte der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts durch den Bundestag (Art. 94 I GG). 81 W a h l der anderen Hälfte der Mitglieder des B V e r f G dutch den Bundesrat (Art. 94 I GG), der aus Mitgliedern der Landesregierungen besteht (Art. 51 I GG), die ihrerseits durch die Parlamente der Länder demokratisch legitimiert sind. 32 Z u m Demokratiegebot f ü r Länder, Kreise u n d Gemeinden vgl. A r t . 28 I GG. 33 Z u diesem schillernden Begriff, der v e r k n ü p f t ist m i t jeweils mehr oder minder berechtigten Forderungen nach „Emanzipation" u n d „ M i t b e s t i m mung", vgl. etwa H. Buchheim, Der demokratische Verfassungsstaat u n d das Problem der Demokratisierung der Gesellschaft, 1973; E. Forsthoff, Demokratisierung ohne Demos, i n : Zeitbühne, Heft 4, 1974, S. 24 ff.; C.J. Friedrieh, Demokratie als Herrschafts- u n d Lebensform, 2. A u f l . 1966; M. Greiffenhagen (Hg.), Demokratisierung i n Staat u n d Gesellschaft, 1973; M. Hättich, Demokratie u n d Demokratismus, i n : Gesellschaftspolitische Kommentare, 1969, S. 259 ff. 34 Dazu näher W. Hennis, Demokratisierung. Z u r Problematik eines Begriffs, 2. Aufl., 1970.

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§ 5 Die demokratische Staatsstruktur

dern auf der funktionalen Verschiedenheit ihrer Angehörigen. Diese hochdifferenzierten Sozialkörper sind ihrer Natur nach strukturiert durch Autonomie, Leistungsausweis, Sachautorität, Kompetenzunterschiede und Rangordnungen. Sie lassen sich nur auf Kosten des gemeinen Besten und der verfaßten Freiheit der Individuen egalitär „demokratisieren" 3 5 . Solchen Sachgesetzlichkeiten entsprechen bestimmte verfassungsrechtliche Schranken, insbesondere Freiheitsgrundrechte und institutionelle Garantien, deren Respektierung durch Parlament und Regierung vom Bundesverfassungsgericht kontrolliert wird 3®. Π Ι . Politische Parteien i m demokratischen Staat

1. Das vom Grundgesetz nur i n seinen Fundamenten festgelegte, innerhalb dieser Grundsätze für den freien politischen Kampf unterschiedlicher Wertsetzungen und Interessen jedoch offene demokratische Prinzip erfährt eine entscheidende Strukturierung durch die ausdrückliche Verfassungsaufgabe der politischen Parteien. Diese nehmen unter den für die Funktionsfähigkeit einer repräsentativen Demokratie besonders wichtigen intermediären Kräften 3 7 eine staatsrechtliche Sonderstellung ein. I m Unterschied zur anglo-amerikanischen politischen Theorie, die seit jeher das Vorhandensein widerstreitender Parteien als notwendige Voraussetzung einer leistungsfähigen, dem Volk verpflichteten, die unterschiedlichen Gruppeninteressen integrierenden Staatsleitung prinzipiell anerkannt hat, vermochte das kontinentale Staatsdenken namentlich deutscher Tradition 3 8 noch bis i n die jüngere Zeit hinein die 35 Z u m schwärmerischen Charakter der oft fanatischen, von sachkundigen A u t o r e n m i t einer geistigen Epidemie verglichenen Sucht nach „ D e m o k r a t i sierung" vgl. H. Krüger, Die deutsche Staatlichkeit i m Jahre 1971, i n : Der Staat, Bd. 10 (1971), S. 1, 18 ff. — Siehe auch die differenzierende Diagnose des Syndroms der sog. „Demokratisierung" bei H. F. Zacher, P l u r a l i t ä t der Gesellschaft als rechtspolitische Aufgabe, i n : Der Staat, Bd. 9 (1970), 161, 179 f. 36 So ist z . B . die verfassungsgarantierte Freiheit v o n Wissenschaft, F o r schung u n d Lehre (Art. 5 I I I GG) die rechtliche Grenze f ü r „demokratisierende" Reformen i m Bereich wissenschaftlicher Hochschulen, vgl. dazu BVerfGE 35, S. 79, 102 f., 120 ff. 37 Die v o m G G durch die Grundsätze der repräsentativen Demokratie bew i r k t e „Mediatisierung" des Volkes findet ein — insbesondere gegenüber Parlament u n d Regierung potentiell einflußmächtiges — K o r r e k t i v i n den Faktoren der öffentlichen Meinung (dazu BVerfGE 8, S. 104, 112 f.) sowie der staatsfrei sich entfaltenden geistigen, sozialen u n d wirtschaftlichen Mächte (dazu U. Scheuner, Der Staat u n d die intermediären Kräfte, i n : Zeitschrift f. ev. E t h i k , 1957, S. 34 ff.). 38 Eine seltene Ausnahme v o n dieser Regel ist K.S. Zachariä (Vierzig Bücher v o m Staate, Bd. 3, 1839), w e n n er schreibt: „ D a die konstitutionelle Monarchie zwei i h r e m Principe nach einander entgegengesetzte Verfassungen — die Monarchie u n d die Demokratie — i n sich vereinigt, so k a n n sie n u r unter der Bedingung auf die Dauer bestehen, daß das V o l k (damit die Verfassung i n der einen u n d i n der anderen Eigenschaft ihre Vertreter habe)

I I I . Politische Parteien i m demokratischen Staat

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demokratisch-verfassungsstaatliche Bedeutung der politischen Parteien n u r u n v o l l k o m m e n w a h r z u n e h m e n u n d a u f z u a r b e i t e n 8 9 . E r s t das G r u n d gesetz 4 0 h a t d e n P a r t e i e n eine besondere verfassungsrechtliche P o s i t i o n a u s d r ü c k l i c h zugewiesen 4 1 . 2. N a c h g e l t e n d e m Verfassungsrecht w i r k e n d i e P a r t e i e n 4 2 — i h r e G r ü n d u n g i s t f r e i — b e i d e r p o l i t i s c h e n W i l l e n s b i l d u n g des V o l k e s m i t ( A r t . 21 I GG). M i t dieser verfassungsgeschichtlich auch i m i n t e r n a t i o n a l e n V e r g l e i c h n e u a r t i g e n B e s t i m m u n g i s t g e w ä h r l e i s t e t , daß d i e P a r t e i e n n i c h t m e h r , w i e i n v o r k o n s t i t u t i o n e l l e r Z e i t g e l e h r t w u r d e , als staatsrechtlich i r r e l e v a n t e p o l i t i s c h e u n d soziologische E r s c h e i n u n g e n gelten, s o n d e r n daß sie i n i h r e r d e m o k r a t i s c h e n M i t t l e r r o l l e v o n d e r Verfassung g e w ü r d i g t werden, was f ü r i h r e n Status i m politischen L e b e n w i c h t i g e m a t e r i e l l r e c h t l i c h e u n d prozessuale P o s i t i o n e n e i n schließt 4 3 . Es e n t s p r i c h t d e r verfassungsrechtlich a n e r k a n n t e n besoni n zwei Partheien, i n die royalistische u n d die demokratische, gespalten ist, daß jene Parthei die Rechte der Krone, diese die Freiheiten des Volkes als Partheisache vertheidiget. Nicht so darf sich das Verhältnis der Regierung zum Volke stellen, daß dieses (durch seine Vertreter) eine Opposition gegen die Regierung bildet. Eben so wenig k a n n u n d soll die Regierung über den Partheien stehn oder i n dem Kampfe zwischen ihnen neutral bleiben. Denn weder i n dem einen noch i n dem anderen Falle würde sie m i t dem Volke u n d i n Ubereinstimmung m i t der öffentlichen Meinung regieren" (ebd., S. 231). 39 Parteien u n d Parlamentsfraktionen werden noch bei P. Lab and k a u m erwähnt, siehe ders., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., Bd. 1, 1911. Daß m a n die wichtige F u n k t i o n der Parteien f ü r die B i l d u n g des Staatswillens nicht erkannte, hängt m i t i h r e r Betrachtung als bloße gesellschaftliche Erscheinungen außerhalb der staatlichen Ordnung zusammen, so insbesondere G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. A u f l . 1914 / Neudruck 1966, S. 114. 40 Noch die W R V beschränkte sich auf eine distanzierende E r w ä h n u n g der Parteien: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei" (Art. 130 I). 41 Dagegen w u r d e n unter der W R V die Parteien noch als „ e x t r a k o n s t i t u tionelle Erscheinungen" beurteilt, vgl. ff. Triepel, Die Staatsverfassung u n d die politischen Parteien, 2. A u f l . 1930, S. 29 f. 42 Die v o n A r t . 21 I I I G G dem Bundesgesetzgeber übertragene nähere A u s gestaltung des Parteienrechts ist namentlich i m Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz v. 1967, B G B l . I , S. 773 ff.) geregelt. § 1 I P a r t G bezeichnet die Parteien als verfassungsrechtlich notwendigen Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Nach § 2 P a r t G sind Parteien Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder f ü r längere Zeit f ü r den B e reich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluß nehmen u n d an der Vertretung des Volkes i m Deutschen Bundestag oder einem Landtag m i t w i r k e n wollen, w e n n sie nach dem Gesamtbild der t a t sächlichen Verhältnisse (sc. Organisationsgrad, Mitgliederzahl, öffentliches Hervortreten) ausreichende Gewähr f ü r die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten. 43 Grundsätzlich ähnlich w i e hier BVerfGE 1, S. 208, 225, wobei allerdings die Formulierung, daß durch A r t . 21 I GG „ v o n Bundes wegen der moderne demokratische Parteienstaat legalisiert" w i r d , cum grano salis zu verstehen ist.

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§ 5 Die demokratische Staatsstruktur

deren Gelenkfunktion der Parteien zwischen Staatsvolk und parlamentarischem Regierungssystem, daß das demokratische Prinzip, das sonst nur für die Legitimation der Macht i n Staat und Gebietskörperschaften vorgeschrieben ist, auf die innere Ordnung der Parteien erstreckt w i r d (Art. 21 I 3 GG). Die verfassungsgewollte Mediatisierung des Volkes durch Repräsentativorgane und der entscheidende Einfluß der politischen Parteien auf die Hervorbringung dieser Staatsinstitutionen mittelbarer Demokratie rechtfertigen das Verfassungsgebot, daß die Willensbildung i n den Parteien selbst den wesentlichen Kriterien des grundgesetzlichen Demokratieprinzips genügen muß. Dies bedeutet freilich nicht die Notwendigkeit einer schematischen Übertragung staatsdemokratischer Strukturen auf die innerparteiliche Ordnung. Unverzichtbar von Verfassungs wegen ist vor allem eine parteipolitische W i l lensbildung — unmittelbar oder mittelbar — vom „Parteivolk" her; undemokratisch wäre der umgekehrte Prozeß von oben nach unten 4 4 . 3. Unbeschadet ihrer vom Verfassungsgesetz hervorgehobenen singulären Bedeutung i m Kreis der zahlreichen intermediären Kräfte des demokratischen Verfassungsstaats kommt den politischen Parteien 45 nicht der staatsrechtliche Status von Verfassungsorganen zu 46 . Zwar hat das Grundgesetz die Parteien von ihrem früheren verfassungsrechtlichen Defizit als „extrakonstitutionellen Erscheinungen" bewußt befreit (Art. 21 GG), doch sind die einschlägigen politischen Bürgervereinigungen durch diese normative Rangerhöhung keineswegs zu eigentlichen Verfassungsorganen geworden. Die verfassungsrechtlich notwendigen Parteien und die obersten Staatsorgane sind vielmehr funktionsverschiedene Institutionen i n rechtlich getrennten Sphären 47 , ungeachtet der direkten und indirekten Kreation von Parlament und Regierung 44 Z u den demokratischen Anforderungen an die Führungsstruktur der Parteien vgl. die Maßstäbe i m SRP-Urteil, BVerfGE 2, S. 1, 41 ff. — Über Mitgliederversammlung, Vertreterversammlung, Parteivorstand, periodische geheime Wahlen, Gleichberechtigung der Mitglieder u n d andere wichtige Fragen hat das Parteiengesetz Regelungen getroffen, siehe insbesondere §§ 8 ff. PartG. 45 Z u den Problemen des Parteienrechts überhaupt vgl. W. Henke, Das Recht der politischen Parteien, 2. Aufl. 1972; K. Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien i m modernen Staat, i n : W D S t R L , Heft 17 (1959), S. 11 ff.; G. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. A u f l . 1967/1974; H.-J. Rinck, Der verfassungsrechtliche Status der politischen Parteien i n der Bundesrepublik, i n : Festschrift f ü r G. Leibholz, Bd. 2 (1966), S. 305 ff. 48 Mißverstehbar ist die Formulierung i n BVerfGE 4, S. 27, 30, aus A r t . 21 GG folge, daß die Parteien „ F u n k t i o n e n eines Verfassungsorgans ausüben". 47 Außerhalb des i n A r t . 21 GG normierten Rechts auf M i t w i r k u n g bei der politischen Willensbildung ist den Parteien die E i n w i r k u n g auf das Handeln der Staatsorgane — namentlich gegenüber der unabhängigen Rechtsprechung u n d der eigenständigen V e r w a l t u n g — durch staatsrechtliche Normen entzogen.

I I I . Politische Parteien i m demokratischen Staat

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durch die maßgebliche M i t w i r k u n g der Parteien bei den Wahlen. Es ist ein Wesensmerkmal der rechtsstaatlichen Demokratie, daß zwar die Besetzung oberster Staatsämter von den Parteien 48 über die Parlamente entscheidend beeinflußt werden kann, daß aber die durch demokratische Berufungsverfahren legitimierten Amtsinhaber während ihrer Amtszeit grundsätzlich unabsetzbar, und, sofern sie Richter sind, i n ihrer Amtsführung unabhängig sind. 4. Der verfassungsmäßigen Parteifreiheit der Staatsorgane entspricht die grundsätzliche Staatsfreiheit des Parteilebens. Das geltende demokratische Prinzip gebietet einen Prozeß freier und offener Meinungsund Willensbildung vom Staatsvolk h i n zu den Staatsorganen (nicht i n umgekehrter Richtung), bei dessen Formung die Parteien kontinuierlich mitzuwirken berechtigt sind. Dieser für das Verhältnis zwischen den Verfassungsorganen und den politischen Parteien geltende Rechtsgrundsatz w i r k t sich auch auf die finanziellen Beziehungen zwischen den Sphären des Staates und der Parteien aus. M i t den komplexen Fragen der Parteifinanzierung 40 verbinden sich rechtlich schwer lösbare Probleme, insbesondere der Autonomie der Parteien und ihrer Chancengleichheit i m politischen Wettbewerb. Bei einer Finanzierung aus Staatsmitteln, die bis zu einem gewissen Grade die gesellschaftliche Unabhängigkeit und Chancengleichheit der Parteien zu stärken vermag, w i r d andererseits das demokratische Strukturgebot der Freiheit politischer Parteien von staatlichem Einfluß berührt. Eine Auslegung des A r t . 21 GG, wonach die Parteien als frei konkurrierende, von der Staatsorganisation unabhängige, aus eigener K r a f t wirkende politische Gruppen m i t besonderem verfassungsrechtlichen Status anzusehen sind, steht der Auffassung entgegen, daß der Staat berechtigt oder verpflichtet sei, die dauernde finanzielle Fürsorge für die gesamte politische Tätigkeit der Parteien zu übernehmen 50 . 48 D e r — j m Vergleich zu sonstigen Vereinen u n d Interessenverbänden — einzigartigen verfassungsrechtlichen Bedeutung der politischen Parteien entspricht es, daß sie (ohne i m substantiellen Sinne Verfassungsorgane zu sein) verfassungsprozeßrechtlich unter bestimmten Voraussetzungen befugt sind, ihre Rechte i m sog. Organstreit (Art. 93 I Nr. 1 GG) geltend zu machen, vgl. BVerfGE 24, S. 300, 329. 49 Dazu näher W. Kewenig, Die Problematik der unmittelbaren staatlichen Parteifinanzierung, D Ö V 1964, S. 829 ff.; K . Zweigert, Parteienfinanzierung u n d Parteienfreiheit, i n : Festschrift f ü r A . A r n d t , 1969, S. 499 ff. 60 I n diesem Sinne auch das Grundsatzurteil BVerfGE 20, S. 56, 100 ff. (abweichend von der früheren, verfassungsgerichtlich gebilligten Praxis, staatliche Haushaltsmittel f ü r die allgemeine Parteitätigkeit i m Bereich der p o l i tischen Meinungs- u n d Willensbildung zu gewähren). Allerdings w u r d e es zugelassen, den Parteien unter bestimmten Voraussetzungen eine pauschalierte Wahlkampf-Kostenerstattung aus Staatsmitteln zu geben, vgl. BVerfGE 24, S. 300, 335 ff.; 41. S. 399, 410 ff. sowie §§ 18 ff. PartG.

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§ 5 Die demokratische Staatsstruktur

5. Die Freiheit der Parteien gegenüber der staatlichen Exekutive schützt auch jenes — primär dem Schutz der Verfassung 51 vor verfassungsfeindlichen Parteien dienende — Rechtsinstitut, das oft mißverständlich als „Parteienprivileg" bezeichnet wird. Wesentlicher verfahrensrechtlicher Gehalt dieses sog. Privilegs ist es, daß, entsprechend der besonderen Bedeutung der Parteien für das demokratische Verfassungsleben, das Verbot einer für verfassungsfeindlich gehaltenen Partei nicht — wie bei sonstigen Vereinigungen zulässig (Art. 9 I I GG) — von einer Verwaltungsbehörde verfügt werden darf 5 2 , sondern daß über die Frage der Verfassungswidrigkeit einer politischen Partei ausschließlich das Bundesverfassungsgericht 53 entscheidet (Art. 21 I I 2 GG). Verfassungsw i d r i g sind nach A r t i k e l 21 I I 1 GG solche Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Für eine Verbotsentscheidung reicht es nicht aus, daß einzelne Normen oder Institutionen des Grundgesetzes bekämpft werden, erforderlich ist vielmehr ein Angriff auf die tragenden Fundamente der Verfassung. Die Verbotsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 54 w i r k t konstitutiv und hat zur Folge, daß die als verfassungswidrig festgestellte Partei aufgelöst und die Schaffung einer Ersatzorganisation ausgeschlossen ist (§ 46 BVerfGG). I V . Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung

1. Der normative Gehalt des grundgesetzlichen Demokratieprinzips hat eine entscheidende verfassungsrechtliche Ausprägung durch die K r i 51 I n diesen Zusammenhang gehören auch die (entstehungsgeschichtlich aus dem Blick der Verfassungsväter auf die Gründe des Untergangs der W R V zu erklärenden) das Grundgesetz gegen individuelle (Art. 18 GG) u n d kollektive (Art. 9 I I GG) A n g r i f f e sichernden Vorschriften über Vereinsverbote u n d Grundrechtsverwirkung. Z u m letzteren näher W. Schmitt Glaeser, Mißbrauch u n d V e r w i r k u n g von Grundrechten i m politischen Meinungskampf, 1968. 52 Freilich k a n n auch eine i m Verwaltungswege verbotene Vereinigung nach Erschöpfung des Rechtsweges Verfassungsbeschwerde zum B V e r f G erheben. 53 Das B V e r f G entscheidet n u r auf Antrag. I m Verbotsverfahren gegen bundesweit tätige Parteien sind antragsberechtigt der Bundestag, der B u n desrat oder die Bundesregierung (§ 43 BVerfGG). Ob diese Institutionen einen Verbotsantrag stellen, liegt i n i h r e m Ermessen, vgl. BVerfGE 39, S. 334, 359. 54 Sehr i n s t r u k t i v f ü r die gesamte Problematik sind die eingehend begründeten — jeweils auf A n t r a g der Bundesregierung ergangenen Verbotsurteile gegen die rechtsextremistische Sozialistische Reichspartei u n d gegen die linksextremistische Kommunistische Partei Deutschlands: siehe die A u s führungen des BVerfGE i m S R P - U r t e i l (E 2, S. 1—79) u n d i m K P D - U r t e i l (E 5, S. 85—393).

I V . Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung

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terien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erfahren. Diesen Begriff verwendet das Grundgesetz i n verschiedenen Vorschriften von besonderer verfassungspolitischer und staatsrechtlicher Bedeutung. Wer bestimmte Grundrechte zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, v e r w i r k t 5 5 diese Grundrechte (Art. 18 GG). Politische Parteien, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung aktiv bekämpfen, können durch verfassungsgerichtliches Verbot aus dem demokratischen Prozeß ausgeschaltet werden (Art. 21 I I GG). Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes sieht die Verfassung besondere Nothilfekompetenzen der Exekutive i m Verhältnis zwischen Bund und Ländern vor (Art. 91 GG). 2. Diese spezifischen Verfassungsinstitute 5® zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung werden nur verständlich vor dem unmittelbaren verfassungshistorischen Hintergrund des Grundgesetzes. Der Untergang der Weimarer Reichsverfassung i m Strudel totalitärer Strömungen enthielt für die Väter des Grundgesetzes die geschichtliche Lehre, daß die traditionelle verfassungsgesetzliche Liberalität sogar gegenüber illiberalen politischen Kräften für den Bestand einer freiheitlichen Verfassung selbstmörderische Konsequenzen habe. Die herkömmliche Verfassungseinstellung vorbehaltloser Toleranz und Neutralität, insbesondere gegenüber politischen Parteien jeglicher A r t bedurfte einer grundlegenden Überprüfung, nachdem i m 20. Jahrhundert extremistische Parteien aufgekommen waren, deren Ziel die absolute „Machtergreifung" war zum Zwecke einer totalitären Vereinnahmung der pluralistischen Gesellschaft durch den ideologisch geschlossenen Einparteien-Staat. Angesichts der neuen Lage steht der heutige Verfassungsgeber m i t seiner zentralen Aufgabe einer verläßlichen Garantie der Freiheit und Würde des Menschen vor der außerordentlich schwierigen Frage, welche juristischen M i t t e l zum Schutz der Fundamente einer Verfassung der Freiheit positivrechtlich vorzusehen sind. Das Grundgesetz hat sich, i n bewußter Abkehr von der Haltung des Wertrelativismus und des wehrlosen Neutralismus der Weimarer Verfassung, für das Prinzip einer 55 Uber die V e r w i r k u n g u n d i h r Ausmaß entscheidet das Bundesverfassungsgericht, zum Verfahren vgl. § 13 Nr. 1, §§ 36 ff. BVerfGG. 56 Der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung dient ferner i n A r t . 10 I I u n d A r t . 11 I I GG als Rechtfertigungsgrund f ü r Einschränkungen der Grundrechte des Brief-, Post- u n d Fernmeldegeheimnisses sow i e der Freizügigkeit. Der Verfassungsbegriff der freiheitlich-demokratischen Grundordnung findet sich des weiteren i n A r t . 73 Nr. 10 b GG (Gesetzgebungskompetenz des Bundes f ü r den Verfassungsschutz) u n d A r t . 87 a I V 1 GG (Sonderkompetenz der Bundesregierung bezüglich der Streitkräfte).

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§ 5 Die demokratische Staatsstruktur

abwehrbereiten Demokratie 5 7 entschieden, einer Demokratie, welche die verfaßte Freiheit nicht den Feinden der Freiheit ausliefern w i l l . Nach geltendem Verfassungsrecht — die verfassungstheoretischen 58 und staatspraktischen Probleme dieser Regelung stehen auf einem anderen Blatt — soll sich der demokratische Staat i m Wege des Rechts zur Wehr setzen namentlich dann, wenn Einzelne (Art. 18 GG) oder politische Parteien (Art. 21 I I GG) die freiheitliche demokratische Grundordnung aktiv bekämpfen. 3. Ungeachtet seiner für die gesamte Staatsverfassung fundamentalen Bedeutung hat das Grundgesetz den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung 5 9 nicht selber definiert, sondern seine Auslegung und Konkretisierung der Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen. Die von diesem Schlüsselbegriff des grundgesetzlichen Verfassungsstaats erfaßten Prinzipien sind i n ihrer Substanz weitgehend m i t den Grundsätzen identisch, die gemäß A r t . 79 I I I GG vom verfassungsändernden Gesetzgeber nicht angetastet werden dürfen. I m K e r n geht es bei dem Fundamentalprinzip der freiheitlichen demokratischen Grundordnung u m den normativen Versuch, Grundprobleme der staatlichen Machtkontrolle (Schutz des Einzelnen gegen Mißbrauch der hoheitlichen Gewalt) und des individuellen oder kollektiven Freiheitsmißbrauchs (Schutz des Verfassungsstaats vor den Feinden der Freiheit) durch einen neuartigen Ansatz verfassungsrechtlich zu bewältigen. Freiheitliche demokratische Grundordnung ist das Gegenteil eines unfreiheitlichen, sich demokratisch nennenden, i n Wahrheit totalitären Staates, der m i t seiner absoluten Herrschaftsmacht die verfassungs57 Siehe dazu insbesondere die Ausführungen des B V e r f G i m K P D - U r t e i l , w o es u. a. heißt, das Grundgesetz habe „den Versuch einer Synthese z w i schen dem Prinzip der Toleranz gegenüber allen politischen Auffassungen u n d dem Bekenntnis zu gewissen unantastbaren Grundwerten der Staatsordnung unternommen. A r t . 21 Abs. 2 G G steht somit nicht m i t einem G r u n d prinzip der Verfassung i n Widerspruch; er ist Ausdruck des bewußten verfassungspolitischen Willens zur Lösung eines Grenzproblems der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung, . . . Bekenntnis zu einer — i n diesem Sinne — »streitbaren Demokratie'" (BVerfGE 5, S. 85, 139). — Siehe ferner zur „streitbaren Demokratie" BVerfGE 30, S. 1, 19 f. ( „ . . . Verfassungsfeinde sollen nicht unter Berufung auf Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt u n d unter i h r e m Schutz die Verfassungordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören dürfen"). 58 Daß es auch einer liberalen Demokratie nicht zugemutet werden kann, verfassungsfeindliche A k t i v i t ä t e n zu tolerieren u n d damit den Umsturz der Verfassung zu legalisieren, betont m i t Recht G. Leibholz, Freiheitliche demokratische Grundordnung, i n : U. Matz (Hg.), Grundprobleme der Demokratie, 1973, S. 303, 313. 59 Dazu näher v o r allem E. Kaufmann, Was ist unter einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu verstehen?, i n : ders., Gesammelte Schriften, Bd. I , 1960, S. 515 ff.; G. Leibholz (Fn. 58), S. 303 ff.; H. Steinberger, K o n zeption u n d Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974, S. 6 ff.

§ 6 Die verfassungsrechtliche Gestalt des Rechtsstaats

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staatlichen Grundwerte der Menschenwürde, der Freiheit und der Gleichheit prinzipiell mißachtet. Nach der wohlfundierten Begriffsbestimmung des Bundesverfassungsgerichts, die auch i n der Verfassungsrechtslehre ein hohes Maß grundsätzlicher Zustimmung gefunden hat, ist die freiheitliche demokratische Grundordnung eine Staatsverfassung, „die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Z u den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den i m Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition" 60 .

§ 6 D i e verfassungsrechtliche Gestalt des Rechtsstaats L i t e r a t u r : E.Forsthoff, Rechtsstaat i m Wandel, 2 . A u f l . 1976; K.Hesse, Der Rechtsstaat i m Verfassungssystem des Grundgesetzes, i n : Festgabe f ü r R. Smend, 1962, S. 71 ff.; Ch.-F. Menger, Der Begriff des sozialen Rechtsstaates i m Bonner Grundgesetz, 1953; D.Merten, Rechtsstaat u n d Gewaltmonopol, 1975; U. Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats i n Deutschland, 1960, i n : E. Forsthoff (Hg.), Rechtsstaatlichkeit u n d Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 461 ff.; R. Weber-Fas, Rechtsstaat u n d Grundgesetz, 1977.

Zentrales Anliegen der politischen Idee des Rechtsstaats und des grundgesetzlichen Rechtsstaatsprinzips ist die Humanisierung staatlicher Herrschaft durch den Primat des Rechts gegenüber der Macht. Erstmals i n der deutschen Verfassungsgeschichte ist der vom Grundgesetz konstituierte Staat ausdrücklich als Rechtsstaat verfaßt® 1. Der fundamentale Begriff des Rechtsstaats, eine eigenartige Hervorbringung des deutschen Verfassungsdenkens® 2, hängt aufs engste zusammen m i t dem Gedanken 60 So BVerfGE 2, S. 1, 12 f. (SRP-Urteil), ausdrücklich bestätigt i m K P D U r t e i l (E 5, S. 85, 140). 61 A r t . 28 I GG spricht von „den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen u n d sozialen Rechtsstaats i m Sinne dieses Grundgesetzes". 62 Nicht n u r die sprachliche Schöpfung „Rechtsstaat" (aus den Komponenten „Recht" u n d „Staat"), sondern auch die sachliche Substanz dieser staatsrechtlichen Erscheinung ist, unbeschadet der gemeineuropäischen geistigen Wurzeln, ein Spezifikum der deutschen Rechtstradition. Die angelsächsische „ r u l e of l a w " u n d der französische „règne de la l o i " haben zwar wesentliche

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§ 6 Die verfassungsrechtliche Gestalt des Rechtsstaats

d e r W ü r d e u n d F r e i h e i t des Menschen i m Staat. D i e p o l i t i s c h e M a c h t s o l l g e b ä n d i g t w e r d e n d u r c h rechtliche K u l t u r . I . Staatsphilosophische und verfassungsgeschichtliche Grundlagen des heutigen Rechtsstaatsbegriffs 1. D i e theoretischen u n d h i s t o r i s c h e n W u r z e l n des Rechtsstaatsgedankens s i n d m i t d e m A u f k o m m e n des m o d e r n e n Staates z e i t l i c h u n d sachl i c h v e r k n ü p f t . Insbesondere d e r p o l i t i s c h e S t r u k t u r w a n d e l v o m s t ä n dischen H e r r s c h a f t s s y s t e m z u m europäischen S t a a t s t y p u s d e r a b s o l u t e n M o n a r c h i e b i l d e t d e n geschichtlichen H i n t e r g r u n d f ü r d i e E n t w i c k l u n g rechtsstaatlicher F o r d e r u n g e n n a c h i n d i v i d u e l l e r F r e i h e i t , Gesetzmäßigk e i t d e r E x e k u t i v e u n d r i c h t e r l i c h e m Rechtsschutz. F ü r d e r a r t i g e V o r gänge f e h l t e n i n d e r A n t i k e 0 3 u n d i m M i t t e l a l t e r 6 4 w e s e n t l i c h e V o r a u s setzungen, i n d e r p o l i t i s c h e n T h e o r i e n i c h t w e n i g e r als i n d e r r e a l e n P o l i t i k . D i e staatsphilosophischen G r u n d l a g e n des h e u t i g e n Rechtsstaatsb e g r i f f s b e r u h e n v o r a l l e m a u f d e n L e h r e n v o n J o h n Locke, M o n t e s q u i e u und Immanuel Kant. Ähnlichkeiten m i t dem deutschen Rechtsstaatsprinzip, dürfen m i t diesem aber nicht einfach gleichgesetzt werden. — Z u m Rechtsstaatsgrundsatz i m schweizerischen Staatsrecht vgl. W. Kägi, Rechtsstaat u n d Demokratie, Festgabe f ü r Z. Giacometti, 1953, S. 107 ff. — Z u r Problematik aus österreichischer Sicht vgl. Η . Κ . Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute u n d morgen, 1967. — Z u den Elementen der „ r u l e of l a w " vgl. etwa A. Denning , The Changing L a w , 1953, S. 5 ff. 68 Kennzeichnend f ü r das politische Denken des griechischen A l t e r t u m s ist das (mit der Deutung des Menschen als zoon politicon zusammenhängende) Fehlen einer relevanten Unterscheidung v o n Einzelperson u n d p o l i tischer Gemeinschaft; damit entfiel die Grundlage staatsgerichteter i n d i v i dueller Freiheitsrechte, die f ü r eine rechtsstaatliche Verfassung wesentlich sind, vgl. auch Th. Mayer-Maly, Z u r Rechtsgeschichte der Freiheitsidee i n A n t i k e u n d Mittelalter, ÖZÖR 1955, S. 399 ff.; K. Löwenstein, Rom u n d die Allgemeine Staatslehre, AöR 96 (1971), S. 1, 12, 22; O. von Gierke , Naturrecht u n d Deutsches Recht, 1883 (in: Begriff u n d Wesen des Rechts, hg. v. W. M a i hofer, 1973, S. 244, 264), w o es zutreffend heißt, daß i m „antik-heidnischen Staat . . . i n m i t t e n aller politischen Freiheit f ü r die Individualfreiheit k e i n R a u m w a r " . I m übrigen kannte die A n t i k e auch keine Gewaltenteilung i m Sinne des modernen Verfassungsstaats, vgl. M. Käser, Römische Rechtsgeschichte, 2. A u f l . 1967, S. 209. 64

Das M i t t e l a l t e r vermochte — unbeschadet seiner f ü r das gesamte nachantike Rechtsdenken wichtigen Lehre v o n der dignitas humana als Ausdruck der Gottesebenbildlichkeit des Einzelmenschen — Freiheitsrechte i m modernen Sinn nicht hervorzubringen. H i e r f ü r bot auch der „Staat des M i t t e l alters" m i t seiner geringen Herrschaftsintensität k e i n hinreichendes W i d e r lager. Die vielzitierte u n d oft mißverstandene „Magna Charta L i b e r t a t u m " w a r nicht ein Grundgesetz m i t allgemeiner Menschenrechtsverbürgung, sondern ein feudaler Freiheitsbrief des Königs zugunsten der Barone. Daß i m Mittelalter, ungeachtet der Bedeutung dieser Epoche f ü r die E n t w i c k l u n g des Rechtsdenkens, von individuellen Freiheitsrechten noch nicht die Rede sein kann, betont u. a. auch F. Härtung, Die E n t w i c k l u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte v o n 1776 bis zur Gegenwart, 4. A u f l . 1972, S. 11 f.

I. Staatsphilosophische u n d verfassungsgeschichtliche Grundlagen

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2. I n deutlichem Gegensatz zu Hobbes 95 fordert John Locke 68 zur Sicherung des Individuums gegen die Omnipotenz des Staates ein „Government of laws, not of men". Der (als gemäßigte Monarchie zu verfassende) Staat soll eine Schutzmacht sein für Leben, Freiheit und Eigentum der Bürger 8 7 . U m diese fundamentalen Hechtsgüter wirkungsvoll zu schützen, muß der Staat mächtig sein. Gegen möglichen Mißbrauch der Staatsmacht fordert Locke, i n berechtigter Sorge 88 angesichts der i n einer Hand vereinigten Staatsgewalt, eine Gewaltenteilung zwecks „ballancing the Power of Government, by placing several parts of i t i n different hands" 89 . Sein Konzept einer zweidimensionalen Machtkontrolle zwischen Legislative und Exekutive widersprach der Staatslehre von Hobbes, wonach die gesamte hoheitliche Gewalt dem Träger der Souveränität ungeteilt zustehen muß. 3. Die auf Locke zurückgehende gemäßigte Konzeption der Staatsgewalt wurde von Montesquieu 70 weiterentwickelt zu der — bis i n verfassungsstaatliche Strukturen der Gegenwart fortwirkenden — Lehre von den drei selbständigen getrennten Staatsgewalten, die sich gegenseitig balancieren und kontrollieren. I n seinem berühmten Werk „De l'Esprit des Lois" unterscheidet er drei A r t e n hoheitlicher Gewalt als jedem Staate eigentümlich: die Puissance législative, die Puissance exécutrice und die Puissance de juger 7 1 . Diese unterschiedlichen Staatsfunktionen sollen, wie der Autor eingehend darlegt, institutionell getrennt werden und, u m dem nach geschichtlicher Erfahrung stets möglichen Mißbrauch konzentrierter Staatsmacht entgegenzuwirken, auf verschie65

Z u r Rechtlosigkeit des Untertanen gegenüber der v o n Hobbes konzipierten Staatsgewalt vgl. O. v. Gierke, Johannes Althusius u n d die E n t w i c k l u n g der naturrechtlichen Staatstheorien, 6. Neuausgabe 1968, S. 293. ββ Über John Locke (1632—1704) siehe etwa W. Euchner, Naturrecht u n d P o l i t i k bei John Locke, 1969; H. Laski, Political Thought i n England f r o m Locke to Bentham, 2. Neuausgabe 1977. 67 J. Locke, The Second Treatise of Government, Kap. I X , 123. 68 Bedenkenswert ist die Feststellung v o n R. Zippelius (Geschichte der Staatsideen, 1971, S. 111), daß „jene Staatsdenker, die dem Menschen nicht allzuviel Gutes zutrauen, die i m Ergebnis menschlichsten Staatsmodelle entworfen (haben)" während „die Optimisten . . . v o n Piaton bis M a r x , allemal der Bedrückung den Weg gewiesen (haben)". 69 The Second Treatise of Government, Kap. V I I I , 107. 70 Über Charles-Louis de Secondât, Baron de la Brede et de Montesquieu (1689—1755) siehe M. Imboden, Montesquieu u n d die Lehre von der Gewaltentrennung, 1959; H. Maier, Montesquieu u n d die Tradition, i n : Festschrift f ü r H. K u h n , 1964; M. Goehring, Montesquieu. Historismus u n d m o derner Verfassungsstaat, 1956. 71 Vgl. das 6. K a p i t e l des X I . Buches i n : Montesquieu, De l'Esprit des Lois, 2 Bde. Paris 1973, hg. von R. Derathe; siehe auch: Montesquieu, V o m Geist der Gesetze, ausgewählt, übertragen u n d eingeleitet von E. Forsthoff, T a schenbuch-Ausgabe 1967. 5 Weber-Fas

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§ 6 Die verfassungsrechtliche Gestalt des Rechtsstaats

dene Staatsorgane übertragen werden 72 . Der eigentliche Zweck dieser staatsorganisatorischen „Séparation des pouvoirs" erschöpft sich freilich nicht i n dem gewollten Machtgleichgewicht nach der Formel „Le pouvoir arrête le pouvoir". I m Grunde geht es Montesquieu, wie sich aus dem Gesamtzusammenhang des Werkes ergibt, u m die verfassungsrechtliche Sicherung der Freiheit und Würde des Menschen. Diese „Dignité humaine" soll auf der Grundlage einer „Liberté politique" geschützt werden 73 . Gemeinschaftsbezogene Freiheit aber ist nur möglich i n einer Ordnung unter dem Gesetz 74 . Gesetz i n diesem Sinne ist freilich nicht jede förmliche Rechtsnorm 75 , sondern nur solche Legalvorschriften, die bestimmten inhaltlichen Kriterien 7 6 genügen. Derartige Gesetze können indessen nur i n einer gemäßigten Staatsform („gouvernement modéré") entstehen 77 , für die hinwiederum eine gewaltenteilende Machtstruktur unabdingbar erscheint. 4. Besonders wichtig für die theoretische Grundlegung des Rechtsstaatsprinzips ist die Staatsphilosophie von Kant 79 geworden. Der Staat w i r d hier gedacht als die „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen"79. Das Rechtsgesetz soll die Staatsgewalt begrenzen und die individuellen Freiheitsräume umhegen. U m der Autonomie des Individuums w i l l e n erscheint es unerläßlich, daß „die gesetzgebende Gewalt dem vereinigten Willen des Volkes zukommt"; daraus folgt für den Staatsbürger die „gesetzliche Freiheit, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat" 8 0 . 72 Erste Verwirklichungen fand diese Konzeption der Gewaltentrennung i n der US-amerikanischen Verfassung von 1787 u n d i n der französischen Revolutionsverfassung von 1791. 73 Daß die Personwürde des Menschen nicht n u r von der absoluten Staatsgewalt, sondern auch von extremistischen Gleichheitsforderungen (égalité extrême) gefährdet w i r d , ist deutlich erkannt, vgl. Esprit des Lois, V I I I , 2. 74 Wichtig auch die Feststellung (Esprit des Lois, X I , 4), daß nicht bereits die Demokratie, sondern erst die gemäßigte Regierungsform eine freiheitliche Staatsstruktur verbürgt. 75 „ L a l o i n'est pas u n p u r acte de puissance", diese Lehre Montesquieu's (Esprit des Lois, X I X , 14) hat namentlich die Gesetzgeber des 20. J a h r h u n derts nicht v o r tiefsten Abgründen bewahrt. 76 Menschlichkeit u n d V e r n u n f t soll das Gesetz inhaltlich normieren: „ L a loi, en général, est la raison humaine", vgl. Montesquieu, Esprit des Lois, I, 3. 77 Ibid., X I , 4. 78 Über I. K a n t (1724—1804) siehe etwa A. Goedeckemeyer, K a n t u n d der Staatsgedanke, 1932; K. Jaspers, Kant, i n : ders., Die großen Philosophen, 1. Bd., 1957, S. 397 ff.; J. Mueller, Kantisches Staatsdenken u n d der preußische Staat, 1954; H. Rickert, K a n t als Philosoph der modernen K u l t u r , 1924; R. Saage, Eigentum, Staat u n d Gesellschaft bei I m m a n u e l Kant, 1973. 79 So i n den »Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre 4 , vgl. I. Kant, Metaphysik der Sitten, 1. T e i l (hg. v. K . Vorländer, 1922/1966), § 45. 80 I . Kant, Metaphysik der Sitten, ebd., § 46.

I. Staatsphilosophische u n d verfassungsgeschichtliche Grundlagen

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Indessen vermag der demokratische Mehrheitsbeschluß allein das staatliche Gesetz nicht zu legitimieren. Denn „unter den drei Staatsformen 8 1 ist die Demokratie i m eigentlichen Verstände des Wortes notwendig ein Despotism, da alle über und allenfalls auch wider Einen, m i t h i n alle, die doch nicht alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und m i t der Freiheit ist" 8 2 . Dieses empirische Dilemma der Freiheit unter dem Gesetz löst Kant m i t einer „bloßen Idee der Vernunft", deren politische Realisierung i h m zum „Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes" w i r d : daß nämlich der Gesetzgeber verpflichtet ist, seine Gesetze so zu geben, wie sie aus dem vereinigten Willen des Volkes hätten entspringen können 83 . Die Aufgabe des Rechtsgesetzes indessen beschränkt sich — i m Gegensatz zum seinerzeitigen Staatszweck fürstlicher Wohlfahrtspflege — auf die normative Ordnung des freien Zusammenlebens mündiger Menschen. Denn es gehört für Kant zur Freiheit des Menschen, daß jeder seine „Glückseligkeit" auf eigenem Wege verfolgen darf, solange er die gleiche Freiheit der Rechtsgenossen nicht verletzt 8 4 . Folglich wäre eine auf Beförderung der Glückseligkeit der Untertanen gerichtete, wenn auch noch so wohlwollende Regierung, ein imperium paternale und daher „der größte denkbare Despotismus" 85 . I n engstem Zusammenhang m i t dem Freiheits- 8® und Gesetzesdenken steht Kant's Theorie einer Teilung der hoheitlichen Gewalt. Nach dieser Lehre „enthält ein jeder Staat drei Gewalten i n sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen i n dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität) i n der des Gesetzgebers, die vollziehende 81

Nämlich: Autokratie, Aristokratie u n d Demokratie. I. Kant, Z u m ewigen Frieden, i n : ders., Geschichtsphilosophie, E t h i k u n d P o l i t i k (hg. von K . Vorländer), 1913/1973, S. 129. 83 Vgl. I . Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag i n der Theorie richtig sein, taugt aber nicht f ü r die Praxis, i n : ders., Geschichtsphilosophie, E t h i k u n d Politik, ebd., S. 95. 84 Ibid. S. 87. 85 Z u beachten ist die individualrechtliche Konzeption des einschlägigen Begriffs des Gemeinwohls: „salus publica suprema lex est, bleibt i n seinem unverminderten Wert u n d Ansehen; aber das öffentliche Heil, welches zuerst i n Betrachtung zu ziehen, ist gerade diejenige gesetzliche Verfassung, die jedem seine Freiheit durch Gesetze sichert", ibid. S. 96. 86 I n der von Kant vorausgesetzten „republikanischen" Staatsverfassung besteht k e i n Widerspruch zwischen den „Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen)" einerseits u n d dem „Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger)" andererseits; die „Ungleichheit unter den Menschen" w i r d vielmehr gesehen als die „reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten", vgl. I . Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, i n : ders., Werke i n sechs Bänden, hg. v o n W. Weischedel, Bd. V I , 1966, S. 97. — I m Ergebnis ähnlich (gegen Rousseau u n d M a r x ) R. Dahrendorf, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, 1966, S. 5, 34, 37. 82

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Gewalt i n der des Regierers (zufolge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) i n der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et judiciaria)" 8 7 . 5. Diese staatsphilosophischen Ideen fanden ihren besonderen politischen Niederschlag i n der rechtsstaatlichen Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Entstehungsgeschichtlich gesehen bedeutet Rechtsstaatlichkeit i n erster Linie Freiheitlichkeit; die staatsrechtliche Verbürgung individueller Freiheit gegenüber dem monarchischen Staat galt als entscheidendes K r i t e r i u m einer richtigen Verfassung 88 . Jener später als Polizeistaat bezeichneten Übermacht des Fürsten 89 stellte der deutsche Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts den Rechtsstaat als das Ideal einer Verfassung der Freiheit entgegen. Positive Ausprägung erfuhren diese theoretischen und politischen Postulate auf gesamtdeutscher Ebene erstmalig 9 0 i n der Paulskirchenverfassung von 184991. 6. Das Wort „Rechtsstaat" — es erschien vor dem Grundgesetz als staatsrechtlicher Begriff i n keiner Verfassung des Bundesstaats i n Deutschland — geht zurück auf Robert von Mohl 92. I n seinem Werk „Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates" 93 entwickelte er als oberstes Prinzip die Freiheit des Bürgers, den bei seiner 87

I . Kant, Metaphysik der Sitten, Erster Teil, hg. v. K . Vorländer, 1922/ 1966, § 45. 88 Dazu näher C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, 5. unveränd. A u f l . 1970, S. 36 ff. — Z u r „dominierenden Bedeutung des Freiheitsprinzips f ü r den Rechtsstaat" vgl. insbesondere H. Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, 3. Teil, 1956, S. 126, 129. 89 Siehe O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Bd., 3. A u f l . 1924/Nachdruck 1969, S. 38, 54. 90 V o r allem die rechtsstaatlichen S t r u k t u r e n der Grundrechtsgarantie u n d der Gewaltenteilung stehen i n der gedanklichen T r a d i t i o n französischer u n d nordamerikanischer ( „ B i l l of Rights" v o n Virginia) konstitutioneller V o r bilder. Besonders m a r k a n t A r t . X V I der Französischen Verfassung v o n 1791: „Toute société, dans laquelle la garantie de droits n'est pas assurée n i la separation des pouvoirs déterminée, n'a point de constitution", T e x t aus: F. Härtung, Die E n t w i c k l u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte v o n 1776 bis zur Gegenwart, 4. A u f l . 1972, S. 48. 91 Z u r staatsrechtsgeschichtlichen Bedeutung der Arbeiten der F r a n k f u r t e r Nationalversammlung vgl. O. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1970, S. 357 ff.; C.-F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1975, S. 136 ff. 92 Über R. v o n M o h l (1799—1875) siehe E. Angermann, Robert von Mohl. Leben u n d W e r k eines altliberalen Staatsgelehrten, 1962; 17. Scheuner, Der Rechtsstaat u n d die soziale Verantwortung des Staates. Das wissenschaftliche Lebenswerk v o n Robert v o n Mohl, i n : Der Staat, Bd. 18 (1979), S. I f f . ; G. Dietze, Robert v o n Mohl, Germany's de Tocqueville, i n : Essays on the A m e rican Constitution, 1964, S. 187 ff. 93 Bd. 1, 1. A u f l . 1832 (hier zit. nach: R. v. Mohl, Politische Schriften, hg. ν. Κ . v. Beyme, 1966).

I. Staatsphilosophische u n d verfassungsgeschichtliche Grundlagen

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Selbstentfaltung der Staat nur mittelbar unterstützen dürfe 94 . Diese formelle, altliberale Auffassung des Hechtsstaats fand i n der Staatsphilosophie von Friedrich Julius Stahl eine zugespitzte Definition 9 5 . Ohne „ Z i e l und Inhalt des Staates" i n Betracht zu ziehen, soll der Hechtsstaat lediglich „die Bahnen und Gränzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger i n der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern und die sittlichen Ideen von Staatswegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als es der Rechtssphäre angehört, d. i. nur bis zur nothwendigsten Umzäunung" 9 8 . Formulierungen wie diese waren geeignet, den Rechtsstaatsbegriff zur fast beliebig füllbaren Hülse zu entleeren 97 . 7. I m Rechtspositivismus des späten Konstitutionalismus verloren die politischen und verfassungsrechtlichen Komponenten des Rechtsstaatsprinzips an Gewicht: i n den Vordergrund traten die formellen Kriterien der Gesetzmäßigkeit der Exekutive und der gerichtlichen Kontrolle des Verwaltungshandelns 98 . Indem sich der Schwerpunkt rechtsstaatlichen Denkens vom Verfassungsrecht auf die Ebene des Verwaltungsrechts verschob 99 , verengte sich die ursprünglich umfassendere Konzeption dieses Staatsideals, die von einem spezifisch rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff getragen war. Dieser der frühliberalen Staatsphilosophie gemäße Begriff des Gesetzes erschöpfte sich nicht i n formalen Kriterien. Seinen auch inhaltlichen Anforderungen genügte vielmehr nur ein (mit Zustimmung der Volksvertretung zustandegekommenes, Bürger und Obrigkeit gleichermaßen bindendes) Gesetz, das als generelle Norm den Maßstäben der Gerechtigkeit, Vernünftigkeit und Freiheitlichkeit entsprach. Die Herrschaft derartiger Gesetze, die zugleich formale und 94 Der Bürger „selbst soll handeln . . . innerhalb der Gränzen der V e r n u n f t u n d des Rechts . . . Der Staat . . . ist n u r ein, freilich höchst mächtiges . . . M i t t e l " , vgl. R. υ. Mohl, ebd., S. 16. 95 Der Rechtsstaat w i r d von Stahl ausdrücklich entgegengesetzt dem patriarchalischen Staat, dem patrimonialen Staat, dem Polizeistaat sowie dem Volksstaat à la Rousseau u n d Robespierre. 98 F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, 2. Bd., 2. A b t . (Die Staatslehre u n d die Prinzipien des Staatsrechts), 5. A u f l . 1878 / Neudruck 1963, S. 137. 97 Bezeichnenderweise meinte R. Gneist (Der Rechtsstaat u n d die V e r w a l tungsgerichte i n Deutschland, 2. A u f l . 1879/Neudruck 1966, S. 33), die Stahl'sche Definition könne auch jeder Gegner Stahls w ö r t l i c h unterschreiben. 98 F ü r Otto Bahr (Der Rechtsstaat. Eine publicistische Skizze, 1. Aufl. 1864/ Neudruck 1961), der „die Verweigerung der Rechtsprechung auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts (als) letzten Schlupfwinkel des Polizeistaates" (ebd., S. 134) betrachtete, genügte es zur V e r w i r k l i c h u n g des Rechtsstaats nicht, „daß das öffentliche Recht durch Gesetze bestimmt sei, sondern es muß auch eine Rechtsprechung geben, welche das Recht f ü r den concreten F a l l feststellt" (ebd., S. 192). 99 Z u diesem Vorgang des näheren R. Thoma, Rechtsstaatsidee u n d V e r waltungsrechtswissenschaft, JöR 4 (1910), S, 196 ff.

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materiale Erfordernisse erfüllten, erschien als hinreichende konstitutionelle Gewährleistung der staatsbürgerlichen Freiheit. 8. Die Reichsverfassung von 1919 verlieh dem formal-spätkonstitutionellen Rechtsstaatsprinzip erstmals einen markanten verfassungsrechtlichen Ausdruck 1 0 0 . M i t der Grundentscheidung für die konstitutionelle Demokratie hatte das Reich, nach dem Zusammenbruch des monarchischen Staates, bewußt 1 0 1 für eine liberal-rechtsstaatliche Republik votiert. A u f den Fundamenten einer gewaltenteiligen und grundrechtsfreundlichen Verfassung erhoben sich freiheitliche Rechtsinstitute 1 0 2 , die den klassischen Kriterien der Herrschaft des Gesetzes, der Gesetzmäßigkeit der Exekutive und des richterlichen Rechtsschutzes zu genügen suchten. I I . Grundgesetzliche Strukturelemente des Rechtsstaatsprinzips

Die vorkonstitutionellen ideen- und verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen bilden den geistigen Hintergrund für das Verständnis der vom Grundgesetz konstituierten Rechtsstaatlichkeit 103 . Die Verfassung der Bundesrepublik hat jene rechtsstaatliche Tradition m i t neuen A k zenten weitergeführt und u m wichtige substantielle Dimensionen erweitert. I m folgenden geht es zunächst u m die Klärung der formellen Strukturierung des Rechtsstaatsprinzips i m geltenden Verfassungsrecht. 1. Der Rechtsstaat i m Sinne des Grundgesetzes (Art. 28 I GG) ist verfassungsrechtstechnisch gestaltet durch ein Gefüge grundlegender Prinzipien, deren vornehmstes der unbedingte Primat des Rechtes ist. Diesen obersten Vorrang des Rechts i m Staatsleben haben die Verfassungsväter geschichtsbewußt, nach einer Zeit extremer machtstaatlicher Mißachtung des Rechts, strenger normiert und institutionell besser gesichert als i n jedem früheren Verfassungswerk. Der für alle staatlichen Gewalten verbindliche Primat des Rechts w i r d vor allem bestimmt durch den obersten Vorrang der Verfassungs100 Siehe auch W. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. A u f l . 1964, S.253ff.; E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, B d . V I , 1981, S. 82 ff. 101 Gegen die damalige politische Alternative einer Räterepublik m i t sog. D i k t a t u r des Proletariats. 102 Dazu näher C. Schmitt, Verfassungslehre, 5. unveränderte A u f l . 1928/ 1970, S. 40, 128 ff. 103 Siehe dazu auch BVerfGE 2, S. 380, 403 (Rechtsstaatsprinzip des GG als eine der vorverfassungsmäßigen Leitideen, von denen der Verfassungsgesetzgeber ausgegangen ist, ohne sie i n einem besonderen Rechtssatz zu konkretisieren); vgl. ferner E.-W. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 100; D. Jesch, Gesetz u n d Verwaltung, 2. A u f l . 1968, S. 166; Ch. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, S. 73.

I I . Grundgesetzliche Strukturelemente des Rechtsstaatsprinzips

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normen, i m übrigen durch das Gebot der Rechtmäßigkeit des Staatshandelns. Die neue Dimension des vom Grundgesetz verfaßten Rechtsstaats äußert sich zuvörderst i n der — verfassungsgeschichtlich präzedenzlosen — ausdrücklichen Bindung auch der gesetzgebenden Gewalt an die verfassungsmäßige Ordnung 1 0 4 (Art. 20 I I I GG) und i n der unmittelbaren Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte für alle Akte der staatlichen Hoheitsmacht (Art. 1 I I I GG). Der Höchstrang der Verfassung 105 i m Stufenbau der Rechtsordnung w i r d vor allem durch eine neuartige, umfassend ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit wirksam gehütet. Die normative Geltung des Vorrangs der Verfassung ist durch wichtige verfassungsgesetzliche Institute geschützt, insbesondere durch die Wesensgehaltsgarantie der Grundrechte (Art. 19 I I GG), durch das Verbot von Verfassungsdurchbrechungen (Art. 79 I GG) und durch die gesetzgeberische Unabänderbarkeit der Verfassungsfundamente (Art. 79 I I I GG) l o e . Der Primat des Rechts richtet sich — entsprechend den vorverfassungsmäßigen, vom Grundgesetz aufgenommenen freiheitlichen Leitideen des Rechtsstaats — i n erster Linie gegen den „Polizeistaat", dessen Macht gemäßigt werden soll durch eine liberale Strukturierung der Staatsgewalt zum Schutz bestimmter Sphären bürgerlicher Selbstentfaltung. Die frühere Übermacht des Staates gegenüber der Gesellschaft ist i n der Gegenwart, namentlich auf dem Gebiet des (die Koexistenz der Bürger i n rechtlicher Freiheit sichernden) Strafrechts und Polizeirechts, umgeschlagen i n eine gerade aus liberaler Sicht außerordentlich verhängnisvolle Tendenz übermäßiger Permissivität und Toleranz des Staates gegenüber gezielten, insbesondere gruppenmäßigen Verletzungen der rechtsstaatlich-demokratisch zustandegekommenen Rechtsordnung 1 0 7 . Angesichts dieser krisenhaften Erscheinungen ist zu bedenken, 104 Das G G verwendet den Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung" an verschiedenen Stellen, doch i n unterschiedlichem Sinn. Während A r t . 2 I GG die verfassungsgemäße Rechtsordnung u n d A r t . 9 I I G G die G r u n d p r i n zipien der Verfassung (etwa gleichbedeutend m i t dem Rechtsgehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung) meinen, bedeutet „verfassungsmäßige Ordnung" i n A r t . 20 I I I G G die Rechtsordnung der Verfassung, m.a.W. die Gesamtheit aller geschriebenen Normen u n d ungeschriebenen G r u n d sätze des GG. 105 Z u m unterverfassungsgesetzlichen P r i m a t des Rechts vgl. die folgenden Ausführungen i m Text, namentlich zur Gesetzmäßigkeit der Exekutive. 106 Diese v o m Grundgesetz normierte Unantastbarkeit der fundamentalen Verfassungsprinzipien w a r der (im Unrechtsstaat des NS-Systems untergegangenen) Weimarer Reichsverfassung fremd, vgl. G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. A u f l . 1933/Neudruck 1968, S. 401: „Die V e r fassung steht nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben." 107 Den Zusammenhang m i t einer seit längerem schwebenden europäischen Krise belegt u. a. eine Notiz André Gide* s v o m 1. M a i 1917: „Das Rechtsgefühl hat sich derart gelockert, daß schon eine einzige, etwas strengere A n w e n dung der Gesetze ein Diktaturgeschrei hervorrufen würde. K e i n größerer

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§ 6 Die verfassungsrechtliche Gestalt des Rechtsstaats

daß unter heutigen Bedingungen der Rechtsstaat — er hat außer individueller Freiheit namentlich auch materiale Rechtssicherheit zu gewährleisten — nicht nur durch ein Zuviel staatlicher „Obrigkeit" existenzbedroht ist, sondern auch durch eine nachhaltige Schwäche des Staates bei der Durchsetzung der verfassungsmäßigen Legalordnung 108 . 2. Aus dem Kontext der rechtsstaatlichen Tradition, i n die das Grundgesetz hineingestellt ist 1 0 9 , erklärt sich der spezifisch freiheitliche Zweck der Verfassungsinstitutionen der Gewaltenteilung 1 1 0 . Entsprechend der repräsentativen Struktur der grundgesetzlichen Demokratie w i r d die vom Volk ausgehende Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 I I GG). Sinn dieses gemäß A r t . 79 I I I GG unabänderlichen Prinzips der „Besonderung" der klassischen Gewalten ist es, daß sich Legislative, Exekutive und Judikative, denen eigenständige Staatsfunktionen verfassungsrechtlich zugewiesen sind, wechselseitig balancieren und kontrollieren. Dieses System von „checks and balances" steht i m Dienste der Freiheitsidee 111 und soll verhindern, daß dem Bürger „die furchtbare Wucht der Staatsgewalt . . . an einer Stelle vereinigt" 1 1 2 gegenübertritt. Gewaltenvereinigung statt Gewaltenteilung ist ein Merkmal totalitärer Staatsstruktur 1 1 3 . Die Teilung der Gewalten ist ein grundlegendes Bauprinzip der geltenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die Bedeutung dieses tragenden Verfassungsgrundsatzes liegt nicht i n einer strikt durchgeführten Trennung und Isolation von Exekutive, Legislative und Judikative. Diese „besonderen" Gewalten stehen vielmehr i n einem verfassungsrechtlichen VerH o h n als der Ausdruck ,Inkrafttreten' eines Gesetzes" (in: ders., Aus den Tagebüchern 1889—1939, Stuttgart 1961, S. 190). 108 Z u r rechtsstaatlichen Aufgabe der Bewahrung des geltenden Rechts u n d zur Illegalität gewaltsamer Selbsthilfe bestimmter Gruppen (z.B. bei sog. Hausbesetzungen) vgl. auch R. Scholz, Rechtsbrüche nicht hinnehmen, i n : Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 208/1981, S. 4. 109 Z u m Rechtsstaatsprinzip als Leitidee i m Rahmen des „vorverfassungsmäßigen Gesamtbildes" der Verfassungsgeber siehe BVerfGE 25, S. 269, 290. 110 Z u r historischen E n t w i c k l u n g vgl. H. Fenske, Gewaltenteilung, i n : B r u n ner / Conze / Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2 (1975), S. 923 ff.; siehe ferner W. Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, i n : Festschrift f ü r H. Huber, 1961, S. 151 ff.; W. Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, i n : Festschrift für C. Schmitt, 1959, S. 253 ff. 111 Siehe H. Peters, Geschichtliche E n t w i c k l u n g u n d Grundfragen der V e r fassung, 1969, S. 193. 112 So die plastische Formulierung v o n Otto Mayer, Deutsches V e r w a l tungsrecht, 1. Bd., 3. A u f l . 1924/Neudruck 1969, S. 57. 113 Dabei macht es aus rechtsstaatlicher Sicht keinen wesentlichen U n t e r schied, ob die totalitäre Regierungsform als absolute Monarchie, k o m m u nistische Despotie oder faschistische D i k t a t u r i n Erscheinung t r i t t .

I I . Grundgesetzliche Strukturelemente des Rechtsstaatsprinzips

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hältnis mannigfacher Interdependenz und loyaler Kooperation. Wesentlicher Zweck der konstituierten Gewaltenteilung ist die Schaffung eines balancierten Gefüges politischer Machtverteilung m i t dem Ziel einer Mäßigung der Staatsherrschaft zum Schutze der Freiheit des Menschen i m Staat 114 . Die klassische Gewaltenteilung, die vom Grundgesetz traditionsbewußt übernommen worden ist, begegnet unter den Bedingungen der heutigen parlamentarischen Demokratie ernsten Zweifeln an ihrer i n tendierten Funktionsfähigkeit. Den „powers" bei Locke und den „pouvoirs" bei Montesquieu entsprachen eigenständige politische Mächte, die als Monarch, Parlament usw. widerstreitende Interessen verkörperten und sich wechselseitig i n Schach zu halten vermochten. A n diesem, nach dem Telos der Gewaltenteilung notwendigen Gegensatz eigengewichtiger Gewalten fehlt es aber, wenn i m parlamentarischen Regierungssystem dieselben politischen Machtgruppen gleichzeitig Parlament und Regierung und damit Legislative und Exekutive beherrschen 115 . Trotz dieser Defizite behält auch i n der Gegenwart die Teilung der Gewalten (Staatsfunktionen) ihren nicht zu unterschätzenden rechtsstaatlichen Wert, nicht zuletzt als Schutz gegen W i l l k ü r der Staatsorgane und Funktionsträger mittels fester verfassungsrechtlicher Kompetenzzuordnung 11®. 3. Ein weiteres tragendes Strukturelement der vom Grundgesetz verfaßten Rechtsstaatlichkeit bildet das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Exekutive. Die vollziehende Gewalt ist an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 I I I GG). Dieses nach A r t . 79 I I I GG unantastbare Gesetzmäßigkeitsprinzip äußert sich insbesondere i n den Grundsätzen des Vorrangs des Gesetzes und des Vorbehalts des Gesetzes. Der i n A r t i k e l 20 I I I GG nicht ausdrücklich genannte, jedoch i m Grundgesetz aus der rechtsstaatlichen Tradition stillschweigend übernommene Grundsatz des allgemeinen Vorbehalts des Gesetzes117 besagt 114 Siehe auch BVerfGE 7, S. 183, 188 („Dem Verfassungsaufbau der B u n desrepublik Deutschland entspricht nicht eine absolute Trennung der Gewalten, sondern ihre gegenseitige Kontrolle u n d Mäßigung"); 34, S. 52, 59 („Das Prinzip der Gewaltenteilung ist f ü r den Bereich des Bundes jedoch nicht rein v e r w i r k l i c h t . Es bestehen zahlreiche Gewaltenverschränkungen u n d -balancierungen."). 115 Diese Lücke i m System k a n n durch die demokratischen Gegenkräfte der parlamentarischen Opposition, der öffentlichen Meinung u n d anderer i n t e r mediärer Faktoren des politischen Prozesses n u r u n v o l l k o m m e n ausgeglichen werden. 118 I n diesem Sinne auch P. Badura, Über den Rechtsstaat, i n : Recht u n d Gesellschaft, 1974, S. 13, 15. 117 Nicht zu verwechseln m i t den besonderen Gesetzesvorbehalten i m B e reich der Grundrechte.

§ 6 Die verfassungsrechtliche Gestalt des Rechtsstaats

nach herkömmlicher Lehre, daß die Exekutive nur aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung i n die Rechts- und Freiheitssphäre natürlicher oder juristischer Personen eingreifen darf. Dieser als Voraussetzung rechtmäßigen Verwaltungshandelns weitergeltende rechtsstaatliche Vorbehalt des Gesetzes, der insbesondere Eingriffe i n „Freiheit und Eigent u m " erfaßt, bedarf i n der Gegenwart einer Erweiterung über die Fälle der Eingriffsverwaltung hinaus. Das dort einschlägige Prinzip des liberalen Rechtsstaats gebietet es, daß der Gesetzgeber die der staatlichen Eingriffsmöglichkeit offenliegende Rechtssphäre selbst abgrenzt und dies nicht dem Ermessen der Verwaltungsbehörden überläßt 118 . Eine Ausdehnung jenes Vorbehalts des Gesetzes119 rechtfertigt sich insbesondere aus bestimmten Gegebenheiten des sozialen Rechtsstaats, wobei es, i n differenzierender Betrachtung, auf die jeweiligen Lebenssachverhalte und Rechtspositionen ankommt 1 2 0 . Für die Extension des allgemeinen Vorbehalts des Gesetzes über den klassischen Anwendungsbereich hinaus spricht einmal die Erwägung, daß staatliches Handeln, durch das dem Einzelnen Leistungen und Chancen gewährt und angeboten werden, für die Existenz i n Freiheit oft nicht weniger bedeutungsvoll ist als das Unterbleiben eines ,Eingriffs' 121 . Sieht man außerdem i m allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes122 die der Legislative von Verfassungs wegen vorbehaltene Entscheidung grundlegender Fragen rechtlicher Ordnung, so ist der Gesetzgeber berechtigt und verpflichtet, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, vor allem i m Bereich der Grundrechtsausübung. Wann außerhalb der Grundrechtssphäre eine Entscheidung so „wesentlich" ist, daß staatliches Handeln eine Rechtsgrundlage i n Gestalt eines förmlichen Gesetzes erfordert, bedarf einer verständigen, die tragenden Prinzipien des Grundgesetzes berück118

BVerfGE 8, S. 71, 76. Die gesetzliche Ermächtigung der E x e k u t i v e zur Vornahme belastender Verwaltungsakte muß ihrerseits rechtsstaatlichen K r i t e r i e n genügen: Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der V e r w a l t u n g fordert nicht irgendein, sondern ein qualifiziertes Gesetz. Die darin enthaltene Ermächtigung muß n ä m lich „nach Inhalt, Gegenstand, Zweck u n d Ausmaß hinreichend bestimmt u n d begrenzt sein, so daß die Eingriffe meßbar u n d i n gewissem Umfang f ü r den Staatsbürger voraussehbar u n d berechenbar werden" (BVerfGE 8, S. 274, 325). Das ermächtigende Gesetz muß, anders ausgedrückt, namentlich i m Bereich der Grundrechtsausübung „die Tätigkeit der V e r w a l t u n g inhaltlich normieren" (BVerfGE 20, S. 150, 158). 119

120 Siehe zur Reichweite des allgemeinen Gesetzesvorbehalts etwa H . H . Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1965, S. 113 ff.; W.-R. Schenke, Gesetzesvorbehalt u n d Pressesubventionen, i n : Der Staat, Bd. 15 (1976), S. 553 ff. 121 BVerfGE 40, S. 237, 249 f. 122 Verfassungsgesetzlichen Niederschlag hat dieses Prinzip gefunden i n den besonderen Gesetzesvorbehalten sowie i n den Vorschriften der A r t . 801 GG u n d 59 I I 1 GG.

I I . Grundgesetzliche Strukturelemente des Rechtsstaatsprinzips

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sichtigende Abgrenzung „ i m Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Intensität der geplanten oder getroffenen Regelung" 123 . Nach den Grundsätzen des Vorbehalts des Gesetzes bestimmt sich, welche Gegenstände hoheitlicher Regelung einer Normierung i n Gesetzesform bedürfen. Die Frage, wie das geltende Gesetz sich zu anderen Staatsakten verhält, beantwortet das Prinzip des Vorrangs des Gesetzes. Nach dieser rechtsstaatlichen Regel geht der i n Form des verfassungsmäßigen Gesetzes verkörperte Staatswille jedem anderen W i l lensakt des Staates vor. I m Blick auf die Verwaltung 1 2 4 folgt daraus insbesondere, daß ein Gesetz nicht durch eine allgemeine Verwaltungsvorschrift abgeändert oder von einem Verwaltungsakt durchbrochen werden kann 1 2 5 . Den inneren Grund für den Vorrang des Gesetzes vor anderen Staatsakten einschließlich der Rechtsverordnungen und Gerichtsentscheidungen sieht man i n der stärkeren demokratischen Legitimation des förmlichen Gesetzgebers einerseits und i n dem qualifizierteren Verfahren der Gesetzgebung andererseits. Der das geltende Rechtsstaatsprinzip strukturierende Gesetzmäßigkeitsgrundsatz hat zum Gegenstand das unter verfassungsförmlicher M i t w i r k u n g der Volksvertretung zustandegekommene Gesetz12®. Nach tradierter Vorstellung eignet der als Resultat offener parlamentarischer Diskussion verkündeten Rechtsnorm die Dignität gerechter Lebensordnung und der Rang besonderer Rationalität und Stabilität. Die Herrschaft des demokratisch legitimierten Gesetzes (government of laws, not of men) erscheint einer noch i n altliberalen Vorstellungen befangenen Jurisprudenz als hinreichender Garant gerechter Regelung und individueller Freiheit. Dieses Vertrauen aus der Frühzeit des Rechtsstaatsprinzips ist durch bestimmte staatsrechtliche Entwicklungen inzwischen erschüttert worden. Spätestens die schlimme Erfahrung der „legalen" Vereinnahmung der Weimarer Republik durch die Tyrannis eines rechtsstaatsfeindlichen Regimes hat jene Gesetzesdämmerung 123 BVerfGE 49, S. 89, 127; siehe auch BVerfGE 47, S.46, 79, w o das Gericht m i t Recht zu „großer Behutsamkeit" beim Umgang m i t dem Begriff „ w e sentlich" mahnt u n d auf die — bei übermäßiger Ausdehnung des Vorbehalts des Gesetzes entstehenden — „Gefahren einer zu weitgehenden Vergesetzlichung" hinweist. 124 Nach O. Mayer (Deutsches Verwaltungsrecht, Fn. 112) g i l t der von i h m sogenannte Vorrang des Gesetzes f ü r die Rechtsprechung ipso iure, während das Gesetz i m Verhältnis zur V e r w a l t u n g „einem auf eignen Bahnen einhergehenden Staatswillen (begegnet), der nicht bloß dient, sondern selber herrscht . . . u n d selber frei bestimmen mag, was Rechtens sein soll u n d was nicht" (S. 68). 125 BVerfGE 40, S. 237, 247. 126 Z u den verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Gesetz" i n der V e r fassungsurkunde vgl. G. Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes u n d das Grundgesetz, 1969; C. Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970.

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deutlich gemacht, die sich, auch unabhängig von jeder nationalen Katastrophe, kraft der epochalen Strukturwandlungen i m Raum von Staat, Recht und Gesellschaft seit längerem angekündigt hatte. Heute ist Skepsis angebracht gegenüber der klassischen Maxime „ L a loi, en général, est la raison humaine", nachdem sich das Gesetz entgegen den Lehren Montesquieu's i n erschreckendem Maße als instrumentalisierbar erwiesen hat bis h i n zu „ u n pur acte de puissance". Z u diesem säkularen Niedergang des Gesetzes t r i t t sein Würdeverlust durch die chronische Inflation der Gesetzesnormen. Galt einst das Gesetz als Achse des freiheitlichen Rechtsstaats, so gibt es heute ein freiheitswidriges Übermaß der Normenproduktion durch den — unter dem Druck von Konjunkturen und Krisen, von Gruppeninteressen, ideologischen Zwängen und tagespolitischen Konstellationen — unaufhörlich i n das Sozialgefüge und das Wirtschaftsleben intervenierenden Gesetzgeber. Daß i n der F l u t kurzlebiger und gesetzestechnisch oft minderwertiger Normen gerade auch die rechtsstaatlich gebotene Rechtssicherheit 127 zu versinken droht, gehört zur negativen Signatur des Gesetzesstaats der Gegenwart. 4. Die epochenspezifische Abwertung des Gesetzes findet einen nur unvollkommenen Ausgleich i n der deutlichen Aufwertung anderer Strukturelemente i m Gefüge der rechtsstaatlichen Verfassung. Dieser Zugewinn gilt, außer für die neue Suprematie des Verfassungsrechts, namentlich für die verfassungsgeschichtlich einzigartige Wirkungssteigerung der rechtsprechenden Gewalt unter dem Grundgesetz. Die seit Gneist und Bahr m i t dem Rechtsstaatspostulat verbundene Forderung eines umfassenden gerichtlichen Rechtsschutzes des Bürgers gegen A k t e der Exekutive hat i n der Rechtswegklausel des A r t . 19 I V GG 1 2 8 eine verfassungsrechtliche Garantie 1 2 8 3 gefunden, die man, bezogen auf jenes Desiderat, als Krönung des Rechtsstaats bezeichnen kann 1 2 9 . A m deutlichsten t r i t t der richterstaatliche Akzent des Grundgesetzes hervor i n den besonderen Institutionen der Verfassungsgerichtsbar127 Die Erosion des Gesetzes durch vielzuviele Gesetze u n d die Krise der Rechtssicherheit durch Normenüberflutung hängen zusammen m i t tieferen zeitgeschichtlichen Gründen eines „Autoritätsverlusts des Rechts", siehe dazu K. Doehring, i n : Festschrift f ü r Forsthoff, 1972, S. 103 ff. 128 Die gerichtliche K o n t r o l l e der i n die Sphäre des Bürgers eingreifende Exekutive setzt u. a. voraus, daß die gesetzliche Eingriffsermächtigung h i n reichend bestimmt ist (BVerfGE 8, S. 274, 326). Der durch A r t . 19 I V GG dem Bürger garantierte umfassende Rechtsschutz durch unabhängige Richter schließt nicht aus, daß die Beschreitung des Rechtswegs i n den Prozeßordnungen von der E r f ü l l u n g bestimmter formeller Voraussetzungen abhängig gemacht w i r d (BVerfGE 35, S. 65, 72 f.). 128a Siehe auch § 12 V I 1 i m Text. 129 So etwa E. Friesenhahn, i n : Recht, Staat u n d Wirtschaft, Bd. I I , 1950, S. 269. Ä h n l i c h W. Jellinek, W D S t R L Heft 8 (1950), S. 3 ff., der den A r t . 19 I V GG zu „den königlichen A r t i k e l n des Grundgesetzes" zählt.

I I . Grundgesetzliche Strukturelemente des Rechtsstaatsprinzips

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keit 1 3 0 , deren Ausgestaltung 131 über alle früheren Dimensionen erheblich hinausgegangen ist 1 3 2 . Die neue Situation einer Legislative, die i n den Verfahrensformen der Normenkontrolle und der Verfassungsbeschwerde gleichsam vor Gericht gestellt werden kann, belastet den erkennenden Richter m i t einer präzedenzlosen Verantwortung, deren Wahrnehmung ein Höchstmaß an juristischem Können, menschlicher Weisheit, moralischer K r a f t und staatspolitischem Überblick erfordert. I n einem Rechtsstaat, der den Richter zum Hüter der Verfassung gegenüber dem Gesetzgeber und zum Wahrer des Rechts gegenüber der vollziehenden Gewalt eingesetzt hat, w i r d die verfassungskonforme Erfüllung des Richteramts 133 einschließlich der von allen Gewalten v o l l zu respektierenden richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 GG) zu einer Staatsaufgabe von fundamentalem Rang. Individualrechtsschutz und richterliche Kontrolle der objektiven Rechtsordnung sind vom Grundgesetz stärker garantiert als i n jeder rechtsstaatlichen Verfassung zuvor. Die verfassungsrechtliche Neuordnung des Verhältnisses zwischen Legislative, Exekutive und Judikative hat der Rechtsprechung einen erheblich gesteigerten Anteil an der staatlichen Herrschaft gebracht 154 . Die Verfassungsväter haben, unter dem Schock der deutschen Katastrophe 1945 und i m Blick auf angloamerikanische Verfassungstradition, eine besondere Garantie der Freiheitlichkeit und Rechtlichkeit des staatlichen und sozialen Lebens i n einer grundlegenden Stärkung der rechtsprechenden Gewalt erblickt. Galt einst das Gesetz als Magna Charta der Freiheit und der Richter nur als Sprachrohr 135 parlamentarisch normierter Gerechtigkeit, so hat das Bonner Grundgesetz die Dritte Gewalt, vor allem die Verfassungsgerichtsbarkeit, zu einem tragenden Pfeiler rechtsstaatlicher Lebensordnung aufgebaut. 130 Über Unterschiede der bundesrepublikanischen u n d der US-amerikanischen S t r u k t u r vgl. R. Web er -Fas, Freiheitliche Verfassung u n d sozialer Rechtsstaat, 1976, S. 66 f. 131 Dazu näher § 10 V i m Text. 132 Z u r historischen E n t w i c k l u n g während der Epochen des alten Reiches, des Deutschen Bundes, des Kaiserreichs u n d der Weimarer Republik vgl. U. Scheuner, Die Uberlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit i m 19. u n d 20. Jahrhundert, i n : Chr. Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, 1. Bd., 1976, S. 1 ff. 133 Siehe auch § 12 V I i m Text. 134 Die gewandelte Staatsrechtslage w u r d e ζ. T. überspitzt als rechtsstaatliche K u r a t e l f ü r Regierung u n d V e r w a l t u n g (so E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, 2. Aufl., S. 106) j a sogar als Bedrohung der F r e i heit durch die Macht der Richter gedeutet (W. Weber, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, 3. A u f l . 1970, S. 143 ff.). 135 Das Richterbild des GG hat sich, ungeachtet der B i n d u n g der J u d i k a tive an Gesetz u n d Recht (Art. 20 I I I GG), wesentlich entfernt von den f r ü heren Vorstellungen einer bloßen „ v i v a vox legis" (P. Laband), einer „bouche q u i prononce les paroles de la l o i " (Montesquieu) oder eines „mere m o u t h piece of the l a w (Justice Marshall).

§ 6 Die verfassungsrechtliche Gestalt des Rechtsstaats

5. Das Rechtsstaatsprinzip gehört zu den fundamentalen Verfassungsgrundsätzen, deren normative Gestalt vom Verfassungsgeber nur zum Teil i n bestimmten Sätzen des geschriebenen Rechts ausgeformt worden ist. Gegenstand ausdrücklicher Regelung sind vor allem die oben dargelegten Institutionen des allgemeinen Primats des Rechts, der Suprematie des Verfassungsrechts, der Gewaltenteilung, des Vorrangs des Gesetzes und des richterlichen Rechtsschutzes136. Außer diesen prägnanten Strukturen weist der Rechtsstaatsgrundsatz eine Reihe ungeschriebener Bestandteile auf, deren Konkretisierung eine besondere Aufgabe der Legislative, der Exekutive und der Judikative ist. Aus der außerordentlich umfangreichen Verfassungsrechtsprechung zu diesem Thema seien folgende Erkenntnisse beispielhaft erwähnt. a) Zur Rechtsstaatlichkeit gehört nicht nur das Prinzip der Rechtssicherheit, sondern auch das Gebot materieller Gerechtigkeit. Diese beiden Grundaspekte guter Gesetzgebung können miteinander i n ein Spannungsverhältnis geraten. I m Konfliktsfall muß sich der Gesetzgeber für die stärkere Betonung des einen oder des anderen Aspekts der Rechtsstaatlichkeit entscheiden. Geschieht dies i n willkürfreier Weise, so ist die Entscheidung des Gesetzgebers verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden 137 . b) Rechtssicherheit ist ein so wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips, daß ihre Vernachlässigung selbst dem Verfassungsgeber nur i n Grenzen gestattet ist. Würde eine Norm die dem Recht immanente Funktion der Friedensbewahrung verleugnen, verfälschen oder i n unerträglichem Maße mißachten, so könnte sie sogar i n der Gestalt einer ursprünglichen Verfassungsnorm nichtig sein 138 . c) Gesetze müssen klar und widerspruchsfrei sein. Bei extremen Verstößen gegen dieses rechtsstaatliche Gebot — die bloße Zweifelhaftigkeit und Auslegungsbedürftigkeit des Norminhalts reicht dazu nicht aus — ist das Gesetz nichtig 1 3 9 . d) Der rechtsstaatliche Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet insbesondere die Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen und ΐ3β w e i t e r e ausdrückliche Elemente der geltenden Rechtsstaatlichkeit sind insbesondere die Freiheits- u n d Gleichheitsrechte des Grundrechtskatalogs (Art. 2 ff. GG); das Verbot v o n Ausnahmegerichten (Art. 101 I 1 GG); das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 I 2 GG); der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG); das straf rechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 103 I I GG); die „ne bis i n i d e m " - N o r m (Art. 103 I I I GG); die „habeas corpus"Garantien (Art. 104 GG) ; das Erfordernis bestimmter gesetzlicher Ermächtigung beim Erlaß von Rechtsverordnungen (Art. 80 I GG). 187

BVerfGE 25, S. 269, 290. 138 BVerfGE 3, S. 225, 237. is» BVerfGE 1, S. 14, 45.

I I . Grundgesetzliche Strukturelemente des Rechtsstaatsprinzips

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sonstiger i n Bestandskraft erwachsener Akte der öffentlichen Gewalt. Kollidiert dieses Prinzip mit dem — ebenfalls rechtsstaatlichen — Grundsatz der Gerechtigkeit i m Einzelfall, so ist es Sache des Gesetzgebers, das konkrete Gewicht der widerstreitenden Prinzipien abzuwägen und zu entscheiden, welchem von beiden der Vorzug gebührt 1 4 0 . e) Sowohl der Grundsatz der Rechtssicherheit als auch der Grundsatz der Gerechtigkeit i m Einzelfall haben Verfassungsrang. Wenn der Gesetzgeber dem Grundsatz der Rechtssicherheit den Vorrang gibt und die Rechtskraft von gerichtlichen Entscheidungen nicht antastet, handelt er w i l l k ü r f r e i und also verfassungskonform 141 . f) Der K o n f l i k t zwischen den Forderungen der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit i m Einzelfall t r i t t auch dann hervor, wenn die Frage gesetzlich geregelt wird, welche Wirkungen die Nichtigerklärung einer verfassungswidrigen Rechtsnorm auf die nicht mehr anfechtbaren Hoheitsakte hat, die auf der nachträglich für nichtig erklärten Norm beruhen. Wenn der Gesetzgeber i n § 79 I I 1 BVerfGG die Rechtssicherheit höher bewertet, so ist das Grundgesetz hierdurch nicht verletzt 1 4 2 . g) Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgen als Leitregeln allen staatlichen Handelns namentlich auch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots. Diese Regeln haben Verfassungsrang 143 . h) Verboten ist insbesondere ein belastendes Gesetz, das zur Erreichung des Gesetzeszwecks schlechthin untauglich ist. Freilich steht dem Gesetzgeber zur Beurteilung der Zwecktauglichkeit ein weiter Spielraum der Entscheidung zu. Eine gesetzliche Maßnahme ist nicht schon deshalb verfassungswidrig, weil sie auf einer Fehlprognose des Gesetzgebers beruht 1 4 4 . i) Rechtssicherheit bedeutet für den Bürger i n erster Linie Vertrauensschutz. I n diesem Vertrauen w i r d der Bürger verletzt, wenn der Gesetzgeber an abgeschlossene Tatbestände ungünstigere Folgen anknüpft als diejenigen, von denen der Bürger bei seinen Dispositionen ausgehen durfte. Die rückwirkende Verschlechterung der Rechtsposi140 BVerfGE 15, S. 313, 319. 141 BVerfGE 19, S. 150, 166. 142 BVerfGE 2, S. 380, 403 f. 143 BVerfGE 23, S. 127, 133. — Z u dieser BVerfG-Rechtsprechung kritisch H. Schneider, Z u r Verhältnismäßigkeits-Kontrolle insbesondere bei Gesetzen, i n : Chr. Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, 2. Bd., 1976, S. 390 ff. 144 Nach Auffassung des B V e r f G k o m m t es für die Frage der Zwecktauglichkeit eines Gesetzes nicht auf die tatsächliche spätere Entwicklung, sondern n u r darauf an, ob der Gesetzgeber aus seiner Sicht die Maßnahmen für zweckgeeignet halten durfte, vgl. BVerfGE 30, S. 250, 263.

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§ 6 Die verfassungsrechtliche Gestalt des Rechtsstaats

tionen des Bürgers indiziert eine Verletzung der Rechtssicherheit. Namentlich belastende Steuergesetze dürfen, aus rechtsstaatlichen Gründen, grundsätzlich ihre Wirksamkeit nicht auf abgeschlossene Tatbestände erstrecken 145 . j) Weil das absolute Rückwirkungsverbot des Strafrechts (Art. 103 I I GG) nicht allgemein für die Rechtsordnung gilt, verstößt ein rückwirkendes Gesetz nicht i n jedem Fall gegen die Verfassung 146 . I n aller Regel verfassungswidrig sind indes belastende Gesetze, die i n schon abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreifen (sog. echte Rückwirkung) 1 4 7 . Jedoch auch für Rechtsnormen, die unmittelbar nur auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Tatbestände für die Zukunft einwirken, damit aber zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich i m ganzen entwerten (sog. unechte Rückwirkung), bestehen verfassungsrechtliche Grenzen auf den rechtsstaatlichen Geboten der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes 148 . I I I . Substantielle Verfassungszwecke der Rechtsstaatlichkeit

1. Die formellen verfassungsrechtlichen Strukturelemente (Primat des Rechts, Höchstrang der Verfassung, Unantastbarkeit des Verfassungskerns, Gewaltenteilung, Vorrang des Gesetzes, Rechtsweggarantie, richterliche Unabhängigkeit, Rechtssicherheit, Vertrauensschutz usw.) erschöpfen nicht den ganzen Bedeutungsinhalt der vom Grundgesetz konstituierten Rechtsstaatlichkeit. Diese Staatszielbestimmung umfaßt mehr als nur ein „System rechtstechnischer Kunstgriffe" zur Garantie gesetzlicher Freiheit. 2. Indes, die substantielle Dimension des grundgesetzlichen Rechtsstaatsprinzips zu bestimmen, erfordert besondere Behutsamkeit i n einer Zeit, deren ,engagierte 4 Jurisprudenz Gefahr läuft, durch je entgegengesetzte materiale 1 4 9 Überinterpretation die Tragfähigkeit der rechts145 BVerfGE 13, S. 261, 271. 146

BVerfGE 30, S. 367, 385. BVerfGE 31, S. 222, 225. 148 BVerfGE 36, S. 73, 82. 147

149 I m vorliegenden Zusammenhang erscheint es insbesondere bedenklich, wohlbegründete verfassungsrechtliche Formen u n d Verfahren als bloß „ f o r m a l " auszuspielen gegen das sogenannte „Materiale". M i t einigem Recht erinnert E.-W. Böckenförde (in: Festschrift f ü r A . A r n d t , 1969, S. 53, 74) an die materielle Eigenbedeutung formeller rechtlicher Verbürgungen u n d er w a r n t , aus historischer Sicht, vor den Abgründen eines übermäßigen Operierens m i t materialen Werten u n d ethischen Postulaten: „Der Freiheitsabbau totalitärer Regime beginnt keineswegs m i t der Ausnutzung formaler Garantien u n d Verfahren, sondern stets m i t der Mißachtung derselben unter Berufung auf ein höheres, materiales u n d vor-positives Recht, sei es der ,wahren Religion 4 , der ,artgleichen Volksgemeinschaft' oder des »Proletariats 4 . . . " .

I I I . Substantielle Verfassungszwecke der Rechtsstaatlichkeit

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staatlichen Verfassung zu schwächen. Maß und Mitte gilt es zu wahren, sollen die rechtsstaatlichen Institutionen stabil bleiben über jeden demokratischen Machtwechsel hinweg. Notwendig ist nicht nur die strikte Respektierung der politikbegrenzenden verfassungsgesetzlichen Zuordnungen, Bindungen, Kompetenzen und Verfahren. Besondere Vorsicht erscheint auch geboten gegenüber einer allzu werthaften 1 5 0 , der pluralen Gesellschaft unangemessenen „Aufladung" der Verfassung, weil hierdurch das Grundgesetz dem Ansturm wechselnder Ideologien ausgesetzt und seine normative Geltung unterminiert wird. 3. Sucht man die essentiellen Verfassungszwecke zu erkennen, die dem formellen Gefüge des grundgesetzlichen Rechtsstaats seinen tragenden Sinn verleihen, so treten als Leitideen die Prinzipien 1 5 0 3 der Menschenwürde, der Freiheit und der Gleichheit deutlich hervor. 4. Fundamental für die Erschließung der Substanz des geltenden Rechtsstaatsprinzips ist der Verfassungssatz an der Spitze des Grundrechtsteils: Die Würde des Menschen ist unantastbar (Art. 1 I GG). Die Menschenwürde ist vom Grundgesetz, nach einem würdevernichtenden Exzeß der Staatsgewalt i n der totalen Diktatur des Dritten Reiches, als verfassungsrechtlicher Höchstwert 1 5 1 konstituiert worden. Die Respektierung der Menschenwürde 152 bildet die unverfügbare Legitimationsgrundlage der Verfassungsordnung der Bundesrepublik. Der verfassungsrechtliche Begriff menschlicher Würde — er enthält i n seinen tieferen Schichten Elemente christlicher Ethik und idealistischer Philosophie — gewährleistet den unverlierbaren, jedem Zugriff des Staates entzogenen Eigenwert des Menschen als sittlich autonomer Person. Die fundamentale Verpflichtung aus A r t . 1 1 GG obliegt aller staatlichen Gewalt, gleichermaßen also der Gesetzgebung, der Regierung, der Verwaltung und der Rechtsprechung. Die Menschenwürde — sie ist nicht lediglich geistiger Ausgangspunkt der Grundrechte, sondern auch A n spruchsgrundlage eines selbständigen Grundrechts —, ist wegen ihrer 150 M a n denke an den ewigen „ K a m p f der Götter der einzelnen Ordnungen u n d Werte" (Max Weber, Soziologie, Universalgeschichtliche Analysen, P o l i t i k , 5. A u f l . 1973, S. 329). — Gefahr droht dem Rechtsstaat insbesondere auch von einer neueren Tendenz allzu sorgloser A b w e r t u n g der Legalität gegenüber einer angeblich höherwertigen Legitimität, hinter der sich i n Wahrheit totalitäre Feindschaft gegen die freiheitliche Verfassung verbergen kann. Auch bestimmte Sprachstrategien sind ernst zu nehmen, so z.B. die Bagatellisierung von vorsätzlichen Rechtsbrüchen zu bloßen „Regelverletzungen". 150a

Siehe auch § 12 I V u n d V i m Vierten K a p i t e l (Die Grundrechte . . . ) . BVerfGE 30, S. 173, 193. 152 Dazu näher G. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), S. 117 ff.; J. Messner, Die Idee der Menschenwürde i m Rechtsstaat der pluralistischen Gesellschaft, i n : Festschrift f ü r W. Geiger, 1974, S. 221 ff.; W. Wertenbruch, Grundgesetz u n d Menschenwürde, 1958. 151

6 Weber-Fas

§ 6 Die verfassungsrechtliche Gestalt des

echtsstaats

überragenden Bedeutung auch der Einwirkung des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen (Art. 79 I I I GG). 5. M i t der Verfassungsgarantie der Menschenwürde ist aufs engste verknüpft die Freiheit des Menschen als ein Hauptzweck rechtsstaatlicher Institutionen. Die autonome Sphäre der Einzelpersönlichkeit 153 hat i n den Freiheitsrechten des Grundgesetzes 154 , nach dem vorangegangenen Zusammenbruch des Verfassungsstaats, ein neues normatives Fundament erhalten. Die umfassende Entfaltung und Selbstverwirklichung des Menschen, ein Uranliegen der abendländischen K u l t u r , findet i n der geltenden rechtsstaatlichen Verfassung grundlegende Garantien. Freilich ist, wie die Gesamtsicht der einzelnen Grundrechte zeigt, die konstituierte Freiheit keine schrankenlose. Dem entspricht das Menschenbild des Grundgesetzes, das bei aller Freiheitlichkeit durchaus verschieden ist von der Vorstellung des Einzelnen als eines selbstherrlichen Individuums. Die menschliche Persönlichkeit w i r d vielmehr, unbeschadet ihres personalen Eigenwerts, gesehen als auf die Gemeinschaft bezogen und dieser mannigfach verpflichtet 1 5 5 . I n diesem grundrechtlichen Rahmen hat der Einzelne einen subjektiven Verfassungsanspruch auf individuelle Entfaltung und Selbstbestimmung. Die gegebenen rechtlichen Möglichkeiten sind freilich i n der technisierten Massengesellschaft unserer Zeit immer schwerer zu realisieren infolge des Drucks der auf dem Individuum lastenden sozialen Vermachtungen, ökonomischen Abhängigkeiten, bürokratischen Zwänge, ideologischen Manipulationen und existentiellen Ängste 156 . Von dieser tiefgreifenden Krise einer K u l t u r 1 5 7 , die gegründet ist auf die Idee der zu eigenem Lebensentwurf und Daseinsaufbau berufenen freien Persönlichkeit, vermag die rechtsstaatliche Verfassung allein den Einzelnen nicht zu erlösen. Doch der wohlgeordnete Rechtsstaat läßt dem Menschen ein Höchstmaß an Freiheit 1 5 8 , unbehelligt von Kollek153 Die individuelle Freiheit als ein Hauptanliegen des Rechtsstaats betont vor allem auch U. Scheuner, Die neuere E n t w i c k l u n g des Rechtsstaats i n Deutschland, i n : Hundert Jahre deutsches Rechtsleben (Juristentags-Festschrift), Bd. I I , 1960, S. 229, 233, 262. 154 Z u den verfassungs- u n d sozialtheoretischen Voraussetzungen vgl. E. Grabitz, Freiheit u n d Verfassungsrecht, 1976. 155 Z u der spannungsreichen Wechselbeziehung zwischen Einzelmensch u n d Gemeinschaft siehe insbesondere BVerfGE 4, S. 7, 15 f.; 12, S. 45, 51; 30, S. 1, 20; 33, S. 303, 334. 156 Dazu tieferdringend M. Heidegger, Sein u n d Zeit, 11. A u f l . 1967, S. 184 ff. 157 Über die personalen Voraussetzungen der K u l t u r vgl. A. Gehlen, Die Seele i m technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme i n der i n d u striellen Gesellschaft, 1957/1969, S. 117. 158 Z u den Voraussetzungen rechtsstaatlicher Freiheit gehört v o r allem auch die — vielfach falschverstandene — Dualität von Staat u n d Gesellschaft, so m i t Recht insbesondere E.-W. Böckenförde, Die verfassungstheo-

I I I . Substantielle Verfassungszwecke der Rechtsstaatlichkeit

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tivismus und Totalitarismus ein individuelles Leben i n Würde zu führen. 6. Neben der Menschenwürde und der Freiheit 1 5 9 ist das Prinzip der Gleichheit 160 ein wesentlicher Bestandteil der rechtsstaatlichen Verfassung. Der geltende Gleichheitssatz, der i m Unterschied zur Weimarer Verfassung (Art. 109 I WRV) nicht nur Deutsche berechtigt und sogar den Gesetzgeber bindet, wäre auch ohne ausdrückliche grundgesetzliche Verbürgung verfassungsrechtswirksam insofern, als die Gleichheit vor dem Gesetz — i m Sinne einer diskriminierungsfreien und privilegienlosen gleichmäßigen Anwendung des Gesetzes — der rechtsstaatlichen Allgemeinheit der Rechtsnorm notwendig innewohnt. Problematisch erschien i n der Anfangszeit des Grundgesetzes die Bedeutung des Gleichheitsgrundrechts gegenüber der Legislative. Nach nunmehr seit langem gefestigter Auslegung, die i m grundsätzlichen Ansatz der Freiheit des Gesetzgebers i n der parlamentarischen Demokratie gerecht zu werden sucht, führt der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) nicht zu einer schematischen Einengung der Legislative. Zwar hat der Gesetzgeber Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart gemäß verschieden zu behandeln. Doch i h m allein ist es vorbehalten, die Frage, welche Lebenstatbestände als gleich oder ungleich anzusehen sind, i n willkürfreier Weise selbst zu entscheiden 161 . Als unbestimmter Verfassungssatz eignet sich das Gleichheitsprinzip i n besonderem Maße zum Einfallstor gesellschaftlicher Tendenzen i n die Normativität 1 6 2 . Demgegenüber ist es eine der vornehmsten A u f gaben rechtsstaatlicher Jurisprudenz, dem Druck mächtiger Strömungen, die einmünden i n entwürdigende Nivellierung und freiheitszerretische Unterscheidung von Staat u n d Gesellschaft als Bedingung der i n d i viduellen Freiheit, 1973; J. Isensee, Der Dualismus von Staat u n d Gesellschaft, Sonderdruck 1976, aus: Staat u n d Gesellschaft, S. 317 ff. 159 Z w a r umschließt die verfaßte Freiheit nicht n u r das Freisein des I n dividuums von staatlicher u n d sonstiger kollektiver Bestimmung, sondern auch die politische Freiheit des Bürgers zur M i t w i r k u n g i m demokratischen Prozeß der Staatswillensbildung. Da aber politische Teilhabe die Existenz hoheitlicher Herrschaft nicht aufhebt, erfordert die Freiheitlichkeit einer Demokratie die rechtsstaatlichen Institutionen, vgl. auch Ch. Starch , F r e i heit u n d Organisation, 1976, S. 8, 11. 160 Den Zusammenhang von Gleichheitssatz u n d Rechtsstaatlichkeit betonen u. a. auch die Entscheidungen BVerfGE 23, S. 12, 24; 38, S. 225, 228; 41, S. 1, 13. 181 Bereits i n einer seiner ersten Entscheidungen hat das B V e r f G angenommen, daß der Gleichheitssatz erst dann verletzt ist, „ w e n n sich ein vernünftiger, sich aus der N a t u r der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender G r u n d für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum, w e n n die Bestimmung als w i l l k ü r lich bezeichnet werden muß" (BVerfGE 1, 14, 52). 182 Siehe auch H. Heller, Staatslehre, 4. A u f l . 1970, S. 258. 6*

84

§ 7 Der Sozialstaatsgrundsatz

störende Egalität, grundgesetzestreu zu widerstehen 163 . Wie jede A b solutierung einzelner Verfassungsprinzipien, so wäre auch eine extreme Überbetonung des Gleichheitsgrundsatzes 164 eine tödliche Bedrohung des Rechtsstaats als einer Verfassung, die angelegt ist auf humane Gerechtigkeit i n personaler und politischer Freiheit.

§ 7

D e r Sozialstaatsgrundsatz

L i t e r a t u r : J.H.Kaiser, Die Verfassung der öffentlichen Wohlfahrtspflege, i n : Festschrift f ü r U.Scheuner, 1973, S.241 ff.; E.Menzel, Die Sozialstaatlichkeit als Verfassungsprinzip der Bundesrepublik, D Ö V 1972, S. 537 ff.; H.Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975; W.Weber, Die v e r fassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen, Der Staat, Bd. 4 (1965), S. 409 ff.

Die Sozialstaatlichkeit des vom Grundgesetz verfaßten Gemeinwesens w i r d an zwei zentralen Stellen der Verfassungsurkunde i n adjektivischer Form bestimmt. Danach ist die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer Bundesstaat (Art. 20 I GG), und die verfassungsmäßige Ordnung i n den Ländern muß den Grundsätzen des sozialen Rechtsstaats i m Sinne des Grundgesetzes entsprechen (Art. 28 I GG). I m folgenden geht es u m die verfassungsrechtliche Bedeutung des staatstypusprägenden Eigenschaftsworts „sozial" und damit u m den juristischen Gehalt des vielberufenen Sozialstaatsprinzips, das i m Grundgesetz selbst — anders als Prinzipien der Demokratie, des Rechtsstaats und des Bundesstaats — keine nähere Ausformung erfahren hat. Die Problematik der grundgesetzlichen Sozialstaatsklausel steht vor dem Hintergrund epochaler sozialgeschichtlicher, staatstheoretischer und gesamtpolitischer Veränderungen der neueren Zeit.

163

Z u r Aufgabe der Bewahrung der N o r m a t i v i t ä t gegenüber einer sog. normativen K r a f t des Faktischen vgl. K. Hesse, Die normative K r a f t der Verfassung, 1959, S. 19. 184 Dabei ist die Leidenschaft f ü r Gleichheit sehr oft nichts anderes als idealisierter Neid. Selbst Karl Marx (Nationalökonomie u n d Philosophie, i n : Die Frühschriften, hg. v. S. Landshut, 1971, S. 233) gibt zu, „daß „der rohe K o m m u n i s t . . . n u r die Vollendung dieses Neides u n d dieser Nivellierung" sei. I m übrigen hat schon A. de Tocqueville beobachtet, daß eine Gesellschaft u m so neidintensiver u n d unfriedlicher w i r d , j e vollständiger das Gleichheitspostulat durchgeführt ist. — Z u r Rolle des Neides i n den E t h i k e n des sozialen Eudämonismus vgl. u.a. N. Hartmann, E t h i k , 1935, S.78, 83; F. Nietzsche, Menschliches-Allzumenschliches, i n : Nietzsches Werke, 1900, 1. Abt., Bd. 3, S. 149, 213, 346; M. Scheler, Das Ressentiment i m A u f b a u der Moralen, Ges. Werke, 1955, Bd. 3, S. 65.

I. Neue Staatsauf gaben infolge gesellschaftlicher Wandlungen

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I . Neue Staatsaufgaben infolge gesellschaftlicher Strukturwandlungen

Der historisch einzigartige Prozeß der modernen naturwissenschaftlich-technischen Entdeckungen und Realisationen hat eine hochkomplexe, außerordentlich störanfällige Industriegesellschaft hervorgebracht, deren fortschreitende Eigendynamik von umwälzendem Einfluß auf die individuelle, soziale und ökonomische Lage des heutigen Menschen geworden ist. Jene Autarkie der Existenzweise und Daseinsgestaltung des Bürgers, welche die gedankliche Voraussetzung bildete für die Entwicklung frühliberaler Staatsauffassungen m i t dem Postulat einer interventionsfreien Selbststeuerung der Gesellschaft, ist u m so realitätsferner geworden, je mehr das auf Selbstentfaltung angelegte Individuum i n seinen Lebensmöglichkeiten abhängig wurde von staatlicher Wohlfahrtsökonomie, Finanzpolitik und Wirtschaftslenkung. Dieser geschichtliche Prozeß einer zunehmenden existentiellen Ohnmacht des Einzelnen, seiner Depossedierung vom früher autonom beherrschten Lebensraum und seiner Angewiesenheit auf hoheitliche Daseinsvorsorge mußte zur Überprüfung und Neubestimmung der früheren Staatszwecke des liberalen Gesellschaftsmodells führen. Freilich wäre es utopisch, von der politischen Verwirklichung selbst der besten „sozialen" Staatsidee das Paradies auf Erden zu erwarten: leidlose Lebensschicksale für die Einzelnen und anstrengungslose Wohlfahrt für alle sind visionäre Ziele jenseits der Kunst des Möglichen 185 i n welcher Staatsform auch immer. Die besondere Bedrohung des Menschen i n der modernen arbeitsteiligen, hochtechnisierten, krisenanfälligen Massengesellschaft hat namentlich i n Deutschland bereits lange vor Inkrafttreten des Grundgesetzes eine entschieden soziale Ausrichtung des Staatshandelns hervorgerufen, mochte auch i n früheren nationalen Verfassungen ein ausdrücklicher Hinweis auf „soziale" Verpflichtungen der Staatsgewalt fehlen 168 . Jenseits rein liberaler Lehren 1 6 7 , welche die Staatszwecke prinzipiell auf Wahrung des Rechtsfriedens nach innen und Gewährleistung der Sicherheit nach außen beschränkten, hatte schon das K a i serreich grundlegend neue Vorsorgesysteme geschaffen, wie die Bismarck'sche Sozialversicherungsgesetzgebung beispielhaft belegt. les Erinnert sei an ein W o r t von Gottfried Benn (Den T r a u m alleine t r a gen, 1966, S. 56) : „Die Menschheit w i r d i m m e r ein tragisches Wesen bleiben. I h r e Abgründe lassen sich nicht auffüllen durch Streuselkuchen u n d W o l l westen." 1ββ Anders verhält es sich m i t den Verfassungen der Bundesländer, die, w i e das GG, Sozialstaatsklauseln kodifiziert haben, vgl. etwa A r t . 3 Bay. Verf.; A r t . 74 I Rheinl.-Pfälz. Verf.; A r t . 23 I Bad.-Württ. Verf. 1β7 Besonders m a r k a n t i n diesem Sinne W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792 / Neudruck 1967,

§ 7 Der Sozialstaatsgrundsatz

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I n der Geburtsstunde des Grundgesetzes hatten die allgemeinen Strukturprobleme der zur ausschließlichen Selbststeuerung nicht mehr fähigen Gesellschaft eine besondere Zuspitzung erfahren durch die exzeptionellen Katastrophenlagen der Nachkriegszeit. Den zusätzlichen sozialen Großproblemen dieser Zeit hat sich das Grundgesetz auch speziell zugewandt, so namentlich dem Lastenausgleich 168 , den Flüchtlingen und Vertriebenen 169 , den Kriegsbeschädigten, Kriegsgefangenen und Kriegshinterbliebenen 170 sowie den Kriegsschäden und der Wiedergutmachung 171 . Die zum freiheitsbezogenen Rechtsstaatsprinzip i n spezifischer Spannung stehende lenkungsintensive Sozialstaatspraxis basiert finanzpolitisch auf einer maximalen Ausschöpfung der Steuerhoheit 172 , deren grundrechtliche Begrenzung ein Hauptproblem des Verfassungsstaats der Gegenwart bildet. Die große Zahl eingriffsempfindlicher, allgegenwärtiger, hochkomplizierter, unablässig novellierter Steuergesetze belegt den exorbitanten Finanzbedarf 173 sozialgestaltender und wirtschaftsintervenierender Staatsaktivitäten. I m Rückblick auf die sozialstaatliche Entwicklung des letzten Jahrhunderts zeigt sich eine gewisse Parallelität von industriellem Fortschritt und Progression der Steuerbelastung 174 . Zwar umfaßte schon die „puissance absolue" des Fürsten insbesondere auch das Recht der Besteuerung der Untertanen 1 7 5 . Indessen war die absolutistische Herrschaftspraxis i m allgemeinen weit davon entfernt, mit diesem Rechtspotential auch finanzpolitisch Ernst zu machen. Erst der demokratische Sozialstaat m i t seinem unermeßlichen Finanzbedarf hat diese Konsequenz gezogen. Der tendenziell totale Zugriff der heutigen Steuergewalt verlangt u m der Freiheitlichkeit des politischen und individuellen Lebens w i l l e n — bei aller grundsätzlichen Anerkennung der Legitimität sozialstaatlichen Handelns — 168

A r t . 120 a GG. A r t . 74 Nr. 6, A r t . 119 GG. 170 A r t . 74 Nr. 10 GG. 171 A r t . 74 Nr. 9 GG. 172 Z u den verfassungsrechtlichen Grundlagen u n d Schranken der Steuerhoheit vgl. R. Web er -Fas, Grundzüge des allgemeinen Steuerrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1979, S. 24—68. 173 Dem entspricht die rapide Steigerung des Gesamtsteueraufkommens: dieses erhöhte sich von 68,4 M r d . i m Jahre 1960 auf 318,6 M r d . i m Jahre 1978, vgl. Der Bundeshaushalt — Unser Geld, Veröffentlichungen des BdF, 1980, S. 6. 174 Während die preußische Einkommensteuerreform des Jahres 1891 sich noch m i t einem Stufentarif v o n 0,67 bis 4 Prozent begnügte, normierte bereits das Reichseinkommensteuergesetz von 1920 eine Progression, die nicht unter 10 Prozent einsetzte u n d sich bis 60 Prozent steigerte. 175 Dazu grundlegend J. Bodin, Les six Livres de la République, 1583, S. 223, 955, 877, 189

I I . Verfassungsrechtliche Merkmale des sozialen Staates

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normative Gegengewichte aus dem Geist der Grundrechte i m geltenden Rechtsstaat. I I . Verfassungsrechtliche Merkmale des sozialen Staates

1. Während die Strukturprinzipien der Republik, der Demokratie, des Rechtsstaats und des Bundesstaats vor dem Hintergrund der deutschen Verfassungsrechtstradition eine relativ eindeutige begriffliche Ausprägung zulassen, ist die „soziale" Komponente des vom Grundgesetz konstituierten Staates ein rechtshistorisch und positivrechtlich unbestimmtes Novum i m Verfassungstext. Erschwert w i r d die juristische Deutung dieser neuen Staatszielbestimmung dadurch, daß die ideengeschichtlichen Grundlagen des Sozialstaats von sehr divergenten geistigen und politischen Strömungen beeinflußt sind 1 7 6 . So nimmt es nicht wunder, daß nach Jahrzehnten seit Inkrafttreten des Grundgesetzes der normative Gehalt der Sozialstaatsklausel noch immer umstritten ist. Je nach dem Vorverständnis der Interpreten unterscheiden sich die rechtsdogmatischen Auffassungen. Die Bandbreite der Ansichten variiert zwischen den Annahmen eines Programmsatzes oder einer Auslegungsmaxime oder eines Verfassungsauftrags oder gar einer Grundlage individueller Ansprüche. Für die Bestimmung des grundgesetzlichen Sozialstaatsbegriffs, einer ausfüllungsbedürftigen Lapidarformel der Verfassung, kann auch nicht zurückgegriffen werden auf internationale Materien wie insbesondere die Europäische Sozialcharta 177 , da das Grundgesetz aus seinem eigenen System, Telos und Geist heraus objektiv ausgelegt werden muß. 2. Für diese Interpretation enthält auch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes keine deutlichen Hinweise. Nicht nur die Herrenchiemseer Beratungen, sondern auch die Verhandlungen des Parlamentarischen Rates 178 sind i n jenem Punkte unergiebig. Soweit das Beiwort „sozial" zur Kennzeichnung des zu konstituierenden Staatswesens i n den verschiedenen Textentwürfen des späteren A r t . 20 I GG vorkommt, 176 V o n den zahlreichen i m 19. Jahrhundert wirksamen einschlägigen I m pulsen seien so verschiedene w i e die folgenden erwähnt: die katholische Soziallehre; marxistische Ideologien; genossenschaftliche Konzepte; das Postulat der Brüderlichkeit der Französischen Revolution, die ja, außer Freiheit u n d Gleichheit, auch die Verheißung der „fraternité" enthielt. — Z u bestimmten juristischen Aspekten dieser Zeit vgl. etwa H. Roesler, Soziales Verwaltungsrecht, 1872; R. Sohm, Die sozialen Aufgaben des modernen Staates, 1898; E.-W. Böckenförde, L . v. Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat u n d Gesellschaft zum Sozialstaat, i n : Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 146 ff. 177 Dazu K . Doehring, A l t e r n a t i v e n des Sozialstaats, i n : 30 Jahre G r u n d gesetz (hg. von D. Merten / R. Morsey), 1979, S. 126. 178 Kurzporträts einiger Mtiglieder des Parlamentarischen Rates bei Carlo Schmid, Erinnerungen. 1979. S. 405 ff.

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§ 7 Der Sozialstaatsgrundsatz

war sein Sinngehalt offenbar nicht Gegenstand von Diskussionen der Verfassungsväter 179 . Mag damals die soziale Staatszielbestimmung vielleicht eine A r t dilatorischer Formelkompromiß 1 8 0 gewesen sein, so erforderte die spätere Verfassungsentwicklung der Bundesrepublik eine staatsrechtliche Konkretisierung dieses vagen Wortes „sozial", dessen vieldeutige Unbestimmtheit und unaufhörlicher Gebrauch als tagespolitisches Schlagwort, wissenschaftliche Vokabel und utopischer Hoffnungsträger 181 eine nüchterne juristische Beurteilung außerordentlich erschweren. 3. Weil das vom Grundgesetz verfaßte Gemeinwesen „sozial" sein soll (Art. 20 I, 28 I GG), darf sich dieser Staat weder anti-sozial noch unsozial noch lediglich sozial-neutral verhalten. Eine Ausübung der Staatsgewalt i n Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung, Planung usw. ohne Ansehung der legitimen Daseinsvorsorgebedürfnisse des Staatsvolks würde nicht nur ein zentrales Verfassungsgebot verletzen, eine derartige Grundhaltung wäre bereits unvereinbar m i t einer modernen Theorie des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft 182 . Ungeachtet der für die geistige Situation der Gegenwart kennzeichnenden pluralistischen Dissonanz i n den wesentlichen Fragen nach Zweck und Rechtfertigung des Staates folgt doch aus einer humanitätsverpflichteten und realitätsbezogenen Betrachtung, daß für eine angemessene Bestimmung 179 Siehe v. Doemming / Füsslein / Matz, Entstehungsgeschichte der A r t i k e l des Grundgesetzes, i n : JöR-NF, Bd. 1 (1951), S. 195 ff. 180 Z u dieser Technik der Gesetzgebung grundlegend Carl Schmitt, V e r fassungslehre, 1928 / Neudruck 1970, S. 31 ff. m i t Beispielen aus der Weimarer Verfassung. Bei den genannten Scheinkompromissen geht es darum, „eine Formel zu finden, die allen widersprechenden Forderungen genügt u n d i n einer mehrdeutigen Redewendung die eigentlichen Streitpunkte u n entschieden läßt" (ebd., S. 32). 181 Bedenkliche Wucherungen der neueren Sozialpolitik i n Richtung W o h l fahrtsstaat haben — keineswegs i m Sinne des grundgesetzlichen Menschenbildes der eigenverantwortlichen Persönlichkeit — die öffentlichen Sozialleistungen teilweise zu einer A r t Massendroge verkommen lassen, deren (finanzpolitisch bedingter) Wegfall zu Entzugserscheinungen Süchtiger führt, was soziale Unruhen auslösen kann. — I n diesen Zusammenhang gehört auch die v o n J. C. Fest (Aufgehobene Vergangenheit, 1981, S. 124) beobachtete Tendenz i n der heutigen egalitären Gesellschaft, „die eigene E x i stenz aufzuheben i m wärmenden K o l l e k t i v " . — Unter dem Aspekt der Freiheit des I n d i v i d u u m s hatte schon Kant konstatiert, eine auf Beförder u n g der Glückseligkeit der Untertanen gerichtete, w e n n auch noch so w o h l wollende Regierung sei „der größte denkbare Despotismus", vgl. I . Kant, Geschichtsphilosophie, E t h i k u n d P o l i t i k (hg. von K . Vorländer), 1913/1973, S. 87. — Z u r besonderen Problematik eines Sozialstaatsprinzips i m Weltmaßstab siehe, bezogen auf die planetarische Bevölkerungsexplosion, die drastischen Aperçus v o n W. Gombrowicz, Die Tagebücher, 3. Bd. (1970), S. 7. 182 Siehe dazu etwa R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 143, 152, 211, 312, 339, 417; JR. Weber-Fas, Aspekte einer Theorie des Staates, i n : clers., Freiheitliche Verfassung u n d sozialer Rechtsstaat, 1976, S. 56 ff.

I I . Verfassungsrechtliche Merkmale des sozialen Staates

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des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft die radikalen Alternativen des gesellschaftlichen Anarchismus oder des staatlichen Totalitarismus prinzipiell unannehmbar sind. Das anarchistische Modell einer absoluten Selbststeuerung der Gesellschaft erscheint i m Blick auf die bisherigen anthropologischen und sozialgeschichtlichen Befunde schon aus empirischen Gründen nicht hinreichend geeignet. Das andere Extrem einer totalitären Staatsgewalt ist schlechthin unvereinbar m i t der Idee und dem Ideal des freien selbstverantwortlichen Menschen. Wenn daher der Staat für die humane Existenz des Menschen weder vollkommen unentbehrlich noch gegenüber der Gesellschaft zu unbeschränkter Herrschaft berechtigt ist, so bedarf es einer vernünftigen Determinierung seiner Aufgaben unter den Bedingungen der heutigen Welt. Diesem Erfordernis würde eine Deutung des Staates als sozialethisch wertneutraler technischer Großapparat und Machtverband keineswegs genügen. Für die Lösung des Problems ist auszugehen von dem zu Freiheit und Selbstentfaltung berufenen Individuum, das sich i n der geschichtlich neuen Situation des wissenschaftlich-technisch souverän und gleichzeitig existenziell hilfsbedürftig gewordenen Menschen befindet. Dieser gefährdete moderne Mensch lebt i n einer Gesellschaft, die nach den liberalistischen Übersteigerungen des 19. Jahrhunderts und nach den fortwährenden industriell-sozialen Umwälzungen einen vitalen Bedarf an wirksamer Daseinssicherung und Entwicklungsvorsorge erzeugt hat. Da weder die Einzelnen noch die vermachtete Gruppengesellschaft zu angemessener Selbstregulierung der neuen Lebensprobleme i n der Lage sind, kann es nur der Staat sein, der m i t seiner hoheitlichen Macht als Ordnungssubjekt helfend eintreten kann. Diese soziale Funktion des Staates soll i m Dienste des Menschen, seiner Freiheit und gesellschaftlichen Sicherheit stehen. Der Staat w i r d so zu einer notwendigen, verfassungsrechtlich gemäßigten Kontroll- und Korrekturinstanz der gesellschaftlichen Eigendynamik. Er w i r d wirksam als eine Institution, die der moderne Mensch zur Bewältigung seiner individuellen und sozialen Probleme nicht entbehren kann. 4. Die Bundesrepublik ist, wie der Haushaltsplan des Bundes als Spiegel der einschlägigen Staatsleistungen zeigt, ihren verfassungsmäßigen sozialen Aufgaben von Anfang an i n einer Weise nachgekommen, die auch i m internationalen Maßstab sehr eindrucksvoll ist 1 8 3 . Das Grundgesetz hat m i t Bezug auf diese Staatsfunktionen der Planung, Vorsorge und Fürsorge prinzipiell abgesehen von der Gewährung sogenannter 183 I m Jahre 1979 zum Beispiel waren mehr als 50 v. H. der Haushaltsausgaben — bei einem Gesamtvolumen von über D M 203 M r d . — bestimmt f ü r Zwecke der sozialen Sicherung, des sozialen Ausgleichs, der wirtschaftlichen Förderung usw. Z u diesen A k t i v i t ä t e n des Bundes treten noch hinzu die sozialen Leistungen der Länder u n d anderer Gebietskörperschaften.

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§ 7 Der Sozialstaatsgrundsatz

sozialer Grundrechte 184 . Jene Verfassungsentscheidung 185 bedeutet indessen keine Schwächung legitimer sozialer Ansprüche gegenüber dem Staat, wohl aber i m Ergebnis eine Sicherung der Dignität und Effizienz der klassischen Menschenrechte. Grundrechte als Träger sozialer Leistungsansprüche und Partizipationsberechtigungen sind notwendigerweise i n ihrer Realisierung abhängig von den materiellen Mitteln, die dem Staate zur Verfügung stehen. Von daher wird, wie sich i n Krisenzeiten der öffentlichen Finanzwirtschaft besonders deutlich zeigt, der für den Verfassungsstaat charakteristischen Unbedingtheit und Verläßlichkeit fundamentaler subjektiv-öffentlicher Rechte der feste Boden entzogen 180 . Außerdem würde die Gewährung sozialer Grundrechte bei finanziellem Unvermögen des Staates zu rechtlich kaum lösbaren Konflikten über den Vorrang konkurrierender Leistungsrechte und über das angemessene Maß ihrer Erfüllung führen. Die daraus folgende Relativierung oder gar Nullifizierung der Grundrechtsgarantie würde nicht nur die sozialen Grundrechte als fragwürdige Errungenschaft erscheinen lassen, sondern könnte auch zu einem Wandel des Grundrechtsbewußtseins überhaupt und i n der Staatspraxis zu einer schleichenden Entwertung namentlich der fundamentalen Freiheitsrechte der Verfassung führen. 5. Angesichts des Schweigens des Verfassungstextes und der Verfassungsväter 187 zum Sinngehalt des „Sozialen" i m grundgesetzlichen Rechts- und Bundesstaat lassen sich, unter Berücksichtigung der durchaus uneinheitlichen Behandlung 1 8 8 des Sozialstaatsprinzips i n Rechts184 I m Unterschied zu liberalen Grundrechten zählen zu sozialen G r u n d rechten z.B.: Rechte auf Arbeit, auf Lebensunterhalt, auf Wohnung, auf Bildung, auf Umweltschutz, auf Gesundheit, u.ä.m. — Siehe auch die D a r legungen i n § 12, Abschn. I I I , 3 u n d 4. 185 Z u grundsätzlichen Fragen vgl. etwa P. Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte u n d seine V e r w i r k l i c h u n g i m Recht der Bundesrepublik, i n : Der Staat 14 (1975), S. 17 ff.; G. Brunner, Die Problematik der sozialen Grundrechte, 1971; J. Isensee, Soziale Rechte m i t Verfassungsrang?, i n : B i t burger Gespräche, Jahrbuch 1979/1980, S. 191 ff.; J . P . Müller, Soziale G r u n d rechte i n der schweizerischen Rechtsordnung, i n der Europäischen Sozialcharta u n d den UNO-Menschenrechtspakten, i n : Bit. Gespr., S. 177 ff. ΐ8β D e r entscheidende strukturelle Unterschied zwischen klassischen F r e i heitsgrundrechten u n d sog. sozialen Grundrechten besteht darin, daß deren V e r w i r k l i c h u n g besondere, ausgabenwirksame, die Rechte anderer möglicherweise beeinträchtigende staatliche A k t i v i t ä t e n erfordert, wohingegen der Staat es stets u n d ohne weiteres i n der H a n d hat, die Freiheitsgrundrechte effektiv zu schützen u n d zu respektieren. 187 Z u r Ablehnung einer Statuierung sozialer Grundrechte i m GG durch den Parlamentarischen Rat u n d zu den Auffassungen einzelner Mitglieder dieser Versammlung vgl. W. Weber, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl., 1970, S. 252 ff. 188 Z u den unterschiedlichen juristischen Deutungen vgl. auch die Belege bei K . Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1977, S. 685 f., 688 ff.

I I . Verfassungsrechtliche Merkmale des sozialen Staates

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Wissenschaft und Verfassungspraxis, die juristischen Konkretisierungen dieser Klausel nur m i t großer Behutsamkeit vornehmen. Als annehmbares Zwischenergebnis der bisherigen Interpretationsbemühungen ist festzustellen, daß das Sozialstaatsprinzip entschieden mehr enthält als bloße Programme, ohne indessen schon ohne weiteres Grundlage einklagbarer Individualansprüche zu sein. Vielmehr kann die soziale Staatszielbestimmung aufgefaßt werden als objektiver Verfassungsrechtssatz, aus dem sich bestimmte sozialwirksame Verpflichtungen ergeben für die Träger der verschiedenen Staatsfunktionen der Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung. 6. Die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes (Art. 20 I, 28 I GG) als rechtsverbindliches 189 Leitprinzip für das gesamte Staatshandeln enthält i n erster Linie Bestimmungen für die Legislative, nämlich die Ermächtigung und den Auftrag zu gesellschaftsgestaltender und w i r t schaftslenkender A k t i v i t ä t . Diese Befugung und Direktive bildet die Rechtsgrundlage für umfassende gesetzliche Planungen und Steuerungen aller regulierungsbedürftigen sozialrelevanten Sachverhalte und Vorgänge. Dieses allgemeine Verfassungsmandat steht freilich unter dem Vorbehalt der Beachtung anderer fundamentaler Verfassungsnormen, namentlich solcher rechtsstaatlicher und grundrechtlicher A r t . Die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes ist ausdrücklich eingebunden i n das konstitutionelle Gefüge der Rechtsstaatlichkeit und Bundesstaatlichkeit. Das so verfaßte Sozialstaatsprinzip ist besonders eng verknüpft m i t den grundgesetzlichen Leitbildern personaler Selbstentfaltung und individueller Freiheit. Das Grundgesetz gebietet von daher den sozialen Staat unter entschiedener Ablehnung einer sozialistischen 190 Staatsstruktur. Der als integrationsfähige Einheit aufzufassende — und nicht i n eine Antinomie von „Sozialstaat" und „Rechtsstaat" auseinanderzudenkende — konstituierte Sozialstaat bildet die normative Grundlage für die parlamentsgesetzliche Bewältigung der einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Daseinsprobleme, die sich ergeben aus den eigendynamischen Abläufen des wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichsozialen Gesamtprozesses. Indessen ist das vom Grundgesetz verfaßte 189 Anders namentlich die Position von E. Forsthoff (in: ders., Rechtsstaatlichkeit u n d Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 145 ff., 165 ff.), der dem T e x t bestandteil „sozial" keine normative Bedeutung beimißt u n d konstatiert, „daß Rechtsstaat u n d Sozialstaat auf der Verfassungsebene nicht vereinbar sind". Hiergegen m i t Recht u. a. auch U. Scheuner (Staatstheorie u n d Staatsrecht, 1978, S. 235), der die normative Gebundenheit des Staatshandelns durch den Verfassungsgrundsatz der Sozialstaatlichkeit besonders betont. 190 Z u r terminologischen Unterscheidung von „sozial" vs. „sozialistisch" siehe K. Doehring, A l t e r n a t i v e n des Sozialstaats, i n : D. M e r t e n / R . Morsey, 30 Jahre Grundgesetz, 1979, S. 129; kennzeichnend f ü r das sozialistische M o dell ist der von diesem vertretene Eigenwert u n d Selbstzweck des K o l l e k t i v s u n d dessen Vorrang vor dem I n d i v i d u u m .

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§ 7 Der Sozialstaatsgrundsatz

Gemeinwesen bewußt und ausdrücklich ein freiheitlicher Sozialstaat. Daher würde es gegen unantastbares Verfassungsrecht verstoßen, die soziale Sekurität und Egalität absolut zu setzen auf Kosten des Prinzips selbstverantwortlicher Lebensgestaltung und liberaler Existenzunterschiede. Der totale Wohlfahrtsstaat wäre nicht die Vollendung, sondern die Zerstörung des verfassungsmäßigen Sozialstaats. 7. Dem Gesetzgeber gebietet das geltende Sozialstaatsprinzip — auf einer Linie menschenfreundlicher Mitte zwischen den Extremen des Laissez faire-Liberalismus einerseits und des totalitären Kollektivismus und Dirigismus andererseits — den krisen- und konfliktträchtigen Entwicklungen des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens planend, steuernd, leistend und verteilend durch Setzung von Rechtsnormen zu begegnen. Dabei weist der Gestaltungsbereich sozialstaatlicher Ermächtigung und Aufgaben weit hinaus über die Dimensionen der herkömmlichen Sozialpolitik 1 0 1 . Die sozialstaatliche Gesetzgebung umfaßt die Herstellung und Pflege der gesamten sozialen und ökonomischen Infrastruktur einer modernen Industriegesellschaft. Die vielfältigen Aufgaben der Daseinsvorsorge der modernen Leistungsverwaltung 1 9 2 haben i n neuerer Zeit eine Erweiterung erfahren durch die Funktionen der Wachstums-, Stabilitäts- 1 9 3 und Rezessionsvorsorge des Staates, der freilich i n diesem Bereich bald an die Grenzen des politisch Möglichen und Machbaren stößt. Aus dem weiten — verfassungsrechtlich fundierten, doch i n Einzelregelungen nicht garantierten — Feld sozialstaatlicher Normsetzung seien hier als typische Beispiele genannt die Materien des Sozialversicherungsrechts, der Sozialhilfe, der kommunalen Daseinsvorsorge, des öffentlichen Wirtschafts- und Arbeitsrechts, der Steuerpolitik, der Bildungsförderung, der breiten Vermögensbildung, der regionalen Strukturpolitik, der globalen Wirtschaftssteuerung sowie der sozialmotivierten Reformen i n allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft. 8. Verglichen m i t der Legislative als der i n erster Linie 1 9 4 sozialpflichtigen Staatsgewalt treten bei den anderen Staatsfunktionen die 191 Siehe dazu V. von Bethusy-Huc, Das Sozialleistungssystem der B u n desrepublik Deutschland, 2. A u f l . 1976; M. Stolleis, Quellen zur Geschichte des Soziallrechts, 1976; H. F. Zacher, Sozialpolitik u n d Menschenrechte i n der Bundesrepublik Deutschland, 1968. 192 Dazu grundlegend E. Forsthoff, Die V e r w a l t u n g als Leistungsträger, 1938. 193 Näheres bei K. Stern, i n : Stern / Münch / Hansmeyer, K o m m , zum StabG, 2. A u f l . (1973), S. 70 ff. 104 Daß der Gesetzgeber der primäre Adressat des grundgesetzlichen Sozialstaatsgebots ist, entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des B u n desverfassungsgerichts, siehe z.B. BVerfGE 10, S. 354, 370f.; 23, S. 50, 56ff.; 29, S. 260, 266 f. — Z u r Grundproblematik vgl. insbesondere J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip u n d Verfassungsrecht, 1968.

I. Zur Geschichte u n d Gegenwartslage föderativer Staatlichkeit

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spezifisch sozialstaatlichen Aufgaben an Gewicht zurück. Doch nicht nur die abstrakt-generellen Regelungen des Gesetzgebers, sondern auch die konkret-individuellen Entscheidungen der Exekutive und Judikative sind dem Sozialstaatsprinzip als einer höchstrangigen, wenngleich unbestimmten Verfassungsnorm ausnahmslos unterworfen. Besonders offen für eine sozialstaatliche Konkretisierung und Durchformung sind naturgemäß die sacheinschlägigen Verwaltungen und Fachgerichtsbarkeiten 1 9 5 . Aber auch i n sonstigen Bereichen 196 ist, wo immer es angeht, die sozialstaatliche Verfassungsdirektive als Ermessensrichtlinie für Verwaltungsentscheidungen und als Auslegungsmaxime für Richtersprüche maßgebend.

§ 8

D i e bundesstaatliche Grundordnung

L i t e r a t u r : K . Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962; G. Kisker, Kooperation i m Bundesstaat, 1971; H. Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, 1920; W.Rudolf, B u n d u n d Länder i m aktuellen deutschen Verfassungsrecht, 1968; U. Scheuner, Wandlungen i m Föderalismus der Bundesrepublik, DÖV 1966, S. 513 ff.; M. Usteri, Theorie des Bundesstaats, Zürich 1954.

Der vom Grundgesetz als freiheitliche Demokratie und sozialer Rechtsstaat verfaßte Teil Deutschlands ist i n ausgeprägter Form ein Bundesstaat. Die geltende verfassungsrechtliche Gestalt des fundamentalen 197 Bundesstaatsprinzips (Art. 20 I GG) steht vor dem Hintergrund alter deutscher Staatstradition und föderalistischer Verfassungsideen. I . Zur Geschichte und Gegenwartslage föderativer Staatlichkeit

1. Unbeschadet der historisch-politisch bedingten Verschiedenheiten i n der verfassungsrechtlichen Ausprägung föderaler Staatsgebilde un105 So namentlich die Sozialgerichtsbarkeit u n d Arbeitsgerichtsbarkeit, vgl. dazu etwa A. Hueck, Der Sozialstaatsgedanke i n der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, Festschrift f ü r Apelt, 1958, S. 57 ff.; W. Bogs, Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Grundgesetz, JöR, N F 9 (1960), S. 151 ff. 196 Siehe die Beispiele bei E. R. Hub er, Rechtsstaat u n d Sozialstaat i n der modernen Industriegesellschaft, i n : ders., Nationalstaat u n d Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee, 1965, S. 249, 259 f. 197 Die erhöhte normative Bedeutung der grundgesetzlichen Bundesstaatss t r u k t u r ergibt sich aus A r t . 79 I I I GG, wonach eine Änderung des G r u n d gesetzes unzulässig ist, durch welche die Gliederung des Bundes i n Länder u n d die grundsätzliche M i t w i r k u n g der Länder bei der Gesetzgebung ber ü h r t w i r d . Dieser Ausschluß einer Verfassungsänderung umfaßt freilich nicht jedwede föderalistische Einzelregelung des GG.

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§ 8 Die budesstaatliche Grundordnung

terscheidet sich der Typus des Bundesstaats grundlegend vom Modell des Staatenbunds einerseits und des Einheitsstaats andererseits. Kennzeichnend für die Struktur des Bundesstaats ist die staatsrechtliche Integration mehrerer gouvernementaler Wirkungseinheiten und Rechtsordnungen; Gesamtstaat und Gliedstaaten ergänzen sich bei der Wahrnehmung des Ganzen hoheitlicher Befugnisse und Aufgaben nach Maßgabe der Bundesverfassung. Von diesem auf der Ebene des Staatsrechts i n Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung sich vollziehenden föderativen Zusammenwirken mehrerer selbständiger Herrschaftszentren unterscheidet sich die Staatenverbindung des Staatenbundes 198 . Diese Form der Koordination mehrerer Staaten hat ihre juristische Grundlage primär nicht i m Staatsrecht, sondern i m Völkerrecht 199 . Sieht man von Zwischenformen namentlich i m Vorfeld föderalistischer Zusammenschlüsse ab, so ist für den Staatenbund 200 charakteristisch, daß der Gesamtverband ohne eigene Souveränität nach außen und ohne direkte Staatsgewalt nach innen ist 2 0 1 . Demgegenüber verfügt der Bund i m Bundesstaat 202 über Souveränität und Staatsgewalt, weshalb er — i m Rahmen der jeweiligen verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung — durch legislative, exekutive und judikative Staatsakte über die Bürger der Gliedstaaten, die zugleich seine Staatsbürger sind, unmittelbar herrscht. Der Einheitsstaat hinwiederum unterscheidet sich vom Bundesstaat 203 vor allem dadurch, daß er monistisch verfaßt ist m i t nur einer Staatsgewalt auf dem nationalen Territorium, während die bundesstaatlich integrierten hoheitlichen Wirkungseinheiten (Bundesländer) auch ihrerseits Staatsqualität haben. Die hoheitlichen Untergliederungen des Einheitsstaats 204 sind daher nur nachgeordnete Provinzen, Verwaltungsbezirke oder gemeindliche Einheiten m i t mehr oder weniger Autonomie. 108 Bekannte historische Beispiele eines Staatenbundes: der Rheinbund (1806—1813); der Deutsche B u n d (1815—1866); die Schweiz (1815—1848). we F ü r eine kurze E i n f ü h r u n g vgl. W. Rudolf, Völkerrecht, i n : R. WeberFas (Hg.), Jurisprudenz. Die Rechtsdisziplinen i n Einzeldarstellungen, 1978, S. 603 ff. 200 Dazu i m einzelnen G. Jaenicke, Bundesstaat oder Staatenbund, 1954; G. Jellinek, Die Lehre v o n den Staatenverbindungen, 1882. 201 Daher bedürfen z.B. Bundesbeschlüsse einer besonderen Übernahme i n den Mitgliedstaaten, u m deren Bürger rechtlich zu binden. 202 Außerhalb der deutschen Verfassungstradition sind insbesondere die Vereinigten Staaten von Nordamerika (seit 1789) u n d die Schweizerische E i d genossenschaft (seit 1848) als Bundesstaaten verfaßt. 203 Z u r Frage eines auf föderativer Grundlage zu schaffenden gesamteuropäischen Staates vgl. R. Bowie / C. J. Friedrich, Probleme einer europäischen Staatengemeinschaft, 1954; W. Hallstein, Die europäische Gemeinschaft, 1973, S. 364 ff. 204 Das durch die Weimarer Verfassung als Bundesstaat konstituierte Deutsche Reich w u r d e zum Einheitsstaat umgestaltet aufgrund des NS-Gesetzes über den Neuaufbau des Reiches v o m 30.1.1934 (RGBl. 1934 I , 75).

I. Z u r Geschichte u n d Gegenwartslage föderativer Staatlichkeit

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2. I m Bundesstaat des Grundgesetzes ist der föderalistische Gedanke mit dem demokratischen Prinzip verbunden. Dies ist keine staatsstrukturelle Notwendigkeit, wie die deutsche Verfassungsgeschichte der vordemokratischen Epoche zeigt. Bereits das A l t e Reich, der Norddeutsche Bund und das Kaiserreich waren, wenngleich i n recht unterschiedlicher Ausformung, bundesstaatlich aufgebaut, ehe die Weimarer Verfassung einen demokratischen Bundesstaat i n Deutschland konstituierte. Sehr eigenartig, diskontinuierlich und nicht unbestritten war die föderalistische Verfassungsentwicklung i n dem 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation 2 0 5 . Immerhin finden sich auch i n der Staatsrechtslehre jener Zeit wiederholt 2 0 6 Deutungen des alten Reiches, die cum grano salis späteren bundesstaatlichen Konzeptionen entsprechen 207 . Die historisch weit zurückreichenden Wurzeln 2 0 8 des Bundesstaatsprinzips i n Deutschland fanden spätestens i n den Verfassungen des Norddeutschen Bundes und des Wilhelminischen Kaiserreiches eine prägnante rechtliche Ausprägung. Anders als der Deutsche Bund (1815 bis 1866), der i n der Schlußakte des Wiener Kongresses als völkerrechtlicher Verein der deutschen souveränen Fürsten und Städte bezeichnet wurde, war der Norddeutsche Bund 2 0 9 — seine Verfassung nahm i m übrigen Gedanken der Deutschen Bundesakte von 1815 und der Paulskirchenverfassung von 1849 auf — ein souveräner Gesamtstaat m i t föderativem Zusammenschluß der Gliedstaaten. Die — m i t der Verfassung des norddeutschen Bundes sachlich übereinstimmende — Verfassung des Bismarckschen Reiches (1871—1918)210 205 Z u r frühen Bestimmung der Staatsform des Reiches vgl. etwa J. Bodin, Les six Livres de la République, Paris 1583, L i b . I I chap. V I ; S. Pufendorf, De statu i m p e r i i Germanici, 1667. 206 So ζ. Β . i n dem W e r k von L. Hugo, De statu regionum Germaniae, 1689. — Gemessen an der heutigen Lehre v o n den Staatenverbindungen w a r das alte Reich nach dem Westfälischen Frieden, wegen der Souveränität seiner Gliedstaaten (Territorien) u n d der Schwäche der kaiserlichen Gesamtstaatlichkeit, schwerlich ein Bundesstaat. 207 F ü r die Auffassung des alten dt. Reiches (in der Zeit v o n 1648—1806) als Bundesstaat u. a. auch S. Brie, Der Bundesstaat, 1874, S. 66. 208 Erheblicher Differenzierung bedarf freilich die Feststellung von H. Peters (Geschichtliche E n t w i c k l u n g u n d Grundfragen der Verfassung, 1969, S. 213): „Seit seiner Entstehung w a r das Deutsche Reich ein Bundesstaat u n d h a t m i t dem Zusammenschluß i m Zweiten Reich die Folgerungen aus einer territorial-staatlichen E n t w i c k l u n g gezogen, w i e sie der tausendjährigen Geschichte des mittelalterlichen Heiligen Römischen Reichs Deutscher N a t i o n entsprach." 209 Z u den Einzelheiten der Norddeutschen Bundesverfassung vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I I I , Bismarck u n d das Reich, 2. A u f l . 1963, S. 649 ff. 210 Z u r Verfassung des zweiten Kaiserreichs siehe etwa C. F. v. Gerber, Grundzüge des Deutschen Staatsrechts, 3. Aufl. 1880; J. Hatschek, Bismarcks W e r k i n der Reichsverfassung, 1906; P. Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, 7. A u f l . 1919; P.K.L. Zorn, Die deutsche Reichsverfassung, 1913.

§ 8 Die budesstaatliche Grundordnung

enthielt spezifisch bundesstaatliche Aufteilungen der Gesetzgebungsund Verwaltungskompetenzen zwischen Reich und Ländern; ihre Grundstruktur hat die nachfolgenden föderalen Verfassungen von 1919 211 und 1949 wesentlich beeinflußt. Freilich unterscheidet sich die bündische Ordnung der Bundesrepublik von früheren deutschen Vorbildern durch die unter dem Grundgesetz weniger flexible Abgrenzung der staatlichen Funktionen von Bund und Ländern. Dies zeigt sich besonders deutlich beim Vergleich der heutigen Rechtslage m i t der Reichsverfassung von 1871. Das Bismarcksche Werk überließ namentlich i m Bereich der Exekutive dem einfachen Gesetz einen großen Einfluß auf die Entwicklung der föderativen Staatlichkeit 212 . 3. I n der Vergangenheit wurde das Prinzip föderaler 218 Staatsstruktur i m Sinne einer Pluralität oberster politischer Herrschaftszentren m i t unterschiedlichen Argumenten gerechtfertigt. E i n besonders wichtiger Legitimationsgrund bundesstaatlicher Ordnung war die staatsrechtliche Bewahrung gewachsener individueller Eigenart gliedstaatlicher Gemeinwesen, die sich als gleichberechtigte Hoheitsträger zum Gesamtstaat vereinigt hatten. Die funktionsfähige Verbindung regionaler Vielfalt zur föderativen Einheit beruhte wesentlich auf zwei Voraussetzungen, die ihrer Natur gemäß nicht spannungsfrei zusammenbestehen können: einem Mindestmaß an politischer, rechtlicher, sozialer und k u l tureller Homogenität der Gliedstaaten einerseits und einem Mindestbestand eigenständiger gliedstaatlicher Verschiedenartigkeiten andererseits. Die traditionelle Rechtfertigung des Bundesstaats als eines schützenden Gehäuses geschichtlich entwickelter gliedstaatlicher Individualität ist für die Bundesrepublik Deutschland allenfalls noch i n Teilbereichen gültig, da die meisten Bundesländer 214 einer eigenen historischen 211 Über das republikanische Reich als Bundesstaat u n d die Bezeichnung der Länder als (nichtsouveräne) „Staaten" vgl. insbesondere R. Thoma, i n : G. A n s c h ü t z / R . Thoma (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, l . B d . (1930), S. 169 ff. 212 Siehe zu diesen Fragen vor allem H. Triepel, Die Reichsauf sieht, 1917; ders., Unitarismus u n d Föderalismus i m Deutschen Reich, 1907. — Auch die Weimarer Reichsverfassung verbot nicht die Ausdehnung der Reichsverwalt u n g zu Lasten der Länderkompetenzen, so daß ζ. B. das Reich durch einfaches Gesetz die Finanzverwaltung zentralisieren konnte (Art. 8 W R V ; Gesetz über die Reichsverwaltung, RGBl. 1919, S. 159). 218 Das i n der Bezeichnung „Föderalismus" enthaltene W o r t „foedus" (Bündnis) erscheint i n nachantiken Dokumenten erstmals i n der „Confoederatio cum prineipibus ecclesiasticis", einer Constitutio Friedrichs I I . aus dem Jahre 1220, doch fehlte damals noch die bundesstaatliche Vorstellung h e u t i gen Sinns. 214 A r t . 23 GG nennt die Bundesländer, die zur Zeit des Inkrafttretens des GG bestanden. Spätere Veränderungen ergaben sich aus dem Zusammenschluß der Länder Baden, Württemberg-Baden u n d Württemberg-Hohenzollern zum Bundesland Baden-Württemberg u n d aus dem B e i t r i t t des Saarlandes zur Bundesrepublik Deutschland.

I. Zur Geschichte und Gegenwartslage föderativer Staatlichkeit

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Prägung ermangeln. Dieses von Anfang an bestehende Defizit wurde verstärkt durch die massenhafte Binnenwanderung von Flüchtlingen und Vertriebenen aus deutschen Ostgebieten sowie durch die allgemeine Mobilität der Bevölkerung i m Bundesgebiet. Hinzu kommt die vorherrschende, gliedstaatliche Individualität verwischende Tendenz zur Vereinheitlichung aller Lebens- und Rechtsbereiche i m gesamtstaatlichen Rahmen. Dieser Zug zur Unitarisierung i m Bundesstaat folgt aus den existentiellen Antrieben einer hochtechnisierten egalitätsgeneigten Massengesellschaft, die i n den durchnormierten Großgehäusen des modernen Planungs-, Lenkungs- und Vorsorgestaats i h r Dasein einzurichten hat. 4. Fehlt es nach allem i n der bundesrepublikanischen Gegenwart weitgehend an geeigneten Schutzobjekten für die föderale Sicherung regionaler Eigenständigkeit 215 , so behalten immerhin, mutatis mutandis, die klassischen machtmäßigenden Funktionen einer bundesstaatlichen Verfassung nach wie vor i h r freiheitliches Gewicht. Dies gilt insbesondere für die gewaltenteilenden Wirkungen der föderalen Pluralität politischer Machtzentren i m Bundesgebiet. Freilich ist zu berücksichtigen, daß sich das Schwergewicht der staatlichen Gesamtaktivität mehr und mehr auf den Bund verlagert hat i n dem Maße, wie die auf Landesebene selbständig erfüllbaren Staatsaufgaben zurückgegangen sind infolge der die Landesgrenzen zunehmend übergreifenden technischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verflechtungen der modernen Gesellschaft. Die spezifische „Gewaltenteilung" i m Bundesstaat vollzieht sich namentlich i n zwei Dimensionen: „vertikal" durch Aufteilung der Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten sowie „horizontal" durch wechselseitige Partizipation von Gliedstaaten und Gesamtstaat an der jeweiligen Legislative und/oder Exekutive 2 1 8 . Angesichts des reduzierten Bereichs eigenständiger Landespolitik i m modernen Bundesstaat 217 kommt der verfassungsrechtlichen Beteiligung der Länder an der legislativen und exekutiven Ausübung der Bundesgewalt besondere Bedeutung zu. Die Einbringung kompetenter Gestaltungskraft der Länder i n die Leitung des Gesamtstaats w i r k t der politischen Uniformierung entgegen, 215 I m Unterschied zu den Einzelstaaten des Bismarckschen Bundesstaates, die regelmäßig über dynastisch u n d stammesmäßig akzentuierte historisch-politische Eigenart verfügten, ermangeln die nach 1945 entstandenen Bundesländer (mit Ausnahme von Bayern, H a m b u r g u n d Bremen) einer entsprechenden T r a d i t i o n u n d Identität. 216 So z.B. durch M i t w i r k u n g der Länder an der Gesetzgebung u n d V e r w a l t u n g des Bundes. 217 Auch i n dem v o m Einfluß des Bundes freigebliebenen Länderbereich zeigt sich die Tendenz einer sachlichen Unitarisierung, insbesondere durch vertragsrechtliche Koordinierung von B u n d u n d Ländern sowie der Länder untereinander.

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§ 8 Die budesstaatliche Grundordnung

dient dem Schutz regionaler Minderheiten, erweitert die freiheitlichen Staatsstrukturen und bewirkt eine balancierende Milderung des gesamten staatlichen Herrschaftsdrucks 218 . 5. Die angedeuteten Grundaspekte föderativer Staatlichkeit 2 1 9 gehören zum allgemeinen historischen und theoretischen Hintergrund des gegenwärtigen deutschen Bundesstaats. Verfassungsrechtlich entscheidend ist freilich die spezielle Ausformung, die das Bundesstaatsprinzip i m Bonner Grundgesetz gefunden hat. Wesentliche Strukturen der positiv verfaßten Bundesstaatlichkeit sollen i m folgenden kurz beleuchtet werden. Π . Bund und Länder unter dem Grundgesetz

Die charakteristischen Merkmale des gegenwärtigen deutschen Bundesstaates ergeben sich aus einem Ensemble einschlägiger Grundgesetzartikel und Verfassungsinstitute. Nicht nur der II. Abschnitt des Grundgesetzes („Der Bund und die Länder", A r t . 20—37 GG), sondern auch zahlreiche andere Verfassungsbestimmungen zum Bund-Länder-Verhältnis 2 2 0 bilden die Grundlage geltender bundesstaatlicher Prinzipien. 1. Nach der sog. Ewigkeitsklausel des A r t . 79 I I I GG ist eine Änderung des Grundgesetzes unzulässig, durch welche die Gliederung des Bundes i n Länder, die grundsätzliche M i t w i r k u n g der Länder bei der Gesetzgebung und das i n Art. 20 GG niedergelegte Bundesstaatsprinzip berührt werden. Die bundesstaatliche Grundstruktur genießt also dieselbe gesetzgeberische Unantastbarkeit wie die anderen fundamentalen Verfassungsentscheidungen für das republikanische, das demokratische, das rechtsstaatliche und das sozialstaatliche Prinzip. Hintergrund des erhöhten Verfassungsrangs auch der Bundesstaatlichkeit ist die fortschreitende Aushöhlung der Eigenstaatlichkeit der Länder i n der Weimarer und NS-Zeit, die dem Grundgesetzgeber warnend vor Augen stand. 218 Der Wert föderativer Gestaltung trotz gewandelter Legitimations grundlage läßt sich m i t einer Reihe weiterer Gesichtspunkte verdeutlichen, u. a. m i t den Vorzügen einer dezentralen Staatsorganisation; m i t der Differenzierung der demokratischen Staatsstruktur; m i t der Verbesserung der Verwaltungsqualität v i a Orts- u n d Bürgernähe; m i t der Gegengewichtung zur Zentralisierung i m nivellierenden Wohlfahrtsstaat. — F ü r Ansätze einer systematischen Betrachtung der V o r - u n d Nachteile föderaler Verfassungss t r u k t u r vgl. etwa G. Kisker, Neuordnung des bundesstaatlichen Kompetenzgefüges u n d Bund-Länder-Planung, i n : Der Staat, Bd. 14 (1975), S. 169 ff. 219 Z u m Thema „Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip" vgl. den auch ausländische Entwicklungen einbeziehenden Bericht von P. Lerche, i n : W D S t R L 21 (1964), S. 66 ff. 220 So ζ. B. die Vorschriften über den Bundesrat (Art. 50—53 GG), die Kompetenz Verteilung bei der Gesetzgebung (Art. 70—75 GG), der V e r w a l t u n g (Art. 83—91 GG), der Rechtsprechung (Art. 92—100 GG) u n d beim F i nanzwesen (Art. 105—115 GG).

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Kraft der neuartigen Verfassungsgarantie sind freilich nicht alle grundgesetzlichen Einzelausformungen des föderalen Systems der Änderung schlechthin entzogen, sondern nur bestimmte Prinzipien der bundesstaatlichen Grundordnung. So ist namentlich verfassungsgesetzlich unabschaffbar, daß der Bund überhaupt i n Länder gegliedert ist, nicht aber sind die konkreten Bundesländer i n ihrer staatlichen Fortexistenz geschützt 221 . Die ebenfalls ausdrücklich jeder Verfassungsänderung entzogene grundsätzliche M i t w i r k u n g der Länder bei der Gesetzgebung enthält eine doppelte Sicherung: die Garantie eines Mindestbestandes eigenständiger Landesgesetzgebung einerseits und den Schutz einer angemessenen Beteiligung der Länder an der Bundesgesetzgebung andererseits 222 . 2. I m Verfassungssystem des Grundgesetzes haben die Länder ebenso wie der Bund echte Staatsqualität. Unbeschadet der deutlichen unitarischen Tendenz i n der föderalen Entwicklung der Bundesrepublik sind die Länder nicht zu bloßen hochpotenzierten autonomen Gebietskörperschaften oberhalb der Gemeinden und Kreise geworden. Die Achtung der essentiellen, aus der Eigenstaatlichkeit der Länder gegebenen hoheitlichen Kompetenzen gehört zu den von A r t . 79 I I I GG für unantastbar erklärten Grundsätzen des Bundesstaats 223 . Dem staatsrechtlichen Zusammenschluß von Bund und Ländern als selbständiger staatlicher Wirkungseinheiten entspricht es, daß die Hoheitsmacht der Länder — wie diejenige des Bundes — zwar durch die Bundesverfassung begrenzt, aber keineswegs vom Bunde abgeleitet ist. Aus der Staatsqualität der Länder folgen vor allem ihre bundesverfassungsmäßigen Befugnisse zur freien Gestaltung des Landesverfassungsrechts 224 , zur Verwirklichung der Organisationsgewalt auf Landesebene, zur Ausübung namentlich der Kulturhoheit 2 2 5 , zur Vertragsschließung m i t auswärtigen 221 Ausdrücklich vorgesehen ist vielmehr eine Neugliederung des Bundesgebietes, damit die Länder nach Größe u n d Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben w i r k s a m erfüllen können (Art. 29 GG). Vgl. dazu U. Scheuner, Eine zweckrationale Gestaltung der föderalen Ordnung. Z u m Sachverständigenbericht zur Neugliederung des Bundesgebiets, D Ö V 1974, S. 16 ff. 222 Diese bundesstaatlichen Fundamentalrechte der Länder sind u n v e r zichtbar, so daß z . B . ein i n diesen Bereich substantiell eingreifendes B u n desgesetz nicht durch Zustimmung des Bundesrats oder der Länder v e r fassungsrechtlich „geheilt" werden kann, vgl. BVerfGE 4, S. 115. 223 Z u m unentziehbaren „Hausgut" der Länder gehört u. a. auch die v e r fassungskräftige Zuweisung eines angemessenen Anteils am Gesamtsteueraufkommen i m Bundesstaat, so m i t Recht BVerfGE 34, S. 9, 20. I m übrigen bildet ein Mindestbestand legislativer, gouvernementaler u n d j u d i k a t i v e r Z u ständigkeiten die Substanz der eigenen Staatsgewalt der Länder. 224 BVerfGE 36, S. 342, 360 f. 225 BVerfGE 6, S. 309, 346 f. (Kulturhoheit als „Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder").

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Staaten (Art. 32 I I I GG) 2 2 e und zu Abkommen m i t anderen Bundesländern 2 2 7 . Daß die Bundesländer untereinander gleich sind und i n ihren eigenen Angelegenheiten nicht durch andere Länder majorisiert werden können, gründet ebenfalls auf ihrem vom Grundgesetz gewollten Staatscharakter. 3. Die Eigenstaatlichkeit der Länder ist freilich keine souveräne. Vielmehr w i r d die Autonomie der Gliedstaaten i m Interesse der inneren Harmonie und der Funktionsfähigkeit des Bundesstaats vom Grundgesetz mannigfach determiniert, insbesondere durch das sog. Homogenitätsgebot. Zwar haben i m Bundesstaat Gliedstaaten und Gesamtstaat je ihre eigene Verfassung kraft der verfassungsgebenden Gewalt der jeweiligen Staatsvölker. Doch ist ein Mindestmaß sachlicher Übereinstimmung der Landesverfassungen m i t der Bundesverfassung zum Gedeihen des Ganzen unerläßlich 228 . Demgemäß bestimmt die Verfassung der Bundesrepublik, daß die verfassungsmäßige Ordnung i n den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaats i m Sinne des Grundgesetzes 229 entsprechen muß. Ferner ist festgelegt, daß i n den Ländern, Kreisen und Gemeinden das Volk eine Vertretung haben muß, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist (Art. 28 I GG). Durch diese Verfassungsvorschriften des Gesamtstaats w i r d die genuine Verfassungshoheit der Länder i n ihrer Gestaltungsfreiheit auf bestimmte Strukturprinzipien zwingend verwiesen. Außerhalb dieser i m Interesse der inneren Gleichartigkeit des Bundesstaats zu beachtenden Mindeststandards behält der Landesverfassungsgeber seine volle staatsgestaltende Autonomie. Verstößt eine Landesverfassung gegen das — freilich keine Uniformität der Grundordnungen i n Gliedstaaten und Gesamtstaat bezweckende — Homogenitätsgebot des A r t . 28 I GG 2 3 0 , so ist sie nichtig. Unbeschadet der grundsätzlich getrennten Verfassungsräume von Bund und Ländern hat das Grundgesetz die Homogenitäts22β Freilich dürfen die Länder keine selbständige Außenpolitik betreiben, da dies Sache des Bundes ist, vgl. BVerfGE 2, S. 347, 378 f. 227 Die grundsätzliche Zulässigkeit vertraglicher Selbstkoordination der Länder folgt auch aus A r t . 91 b u n d 130 I, I I I GG. 228 Z u Grundfragen der bundesstaatstypischen Homogenität siehe etwa M. Imboden, Die Staatsformen, 1959, S. 86; M. Usteri, Theorie des Bundesstaats, 1954, S. 345; K . Stern / H. Bethge, Anatomie eines Neugliederungsverfahrens, 1977, S. 180. 229 Entscheidend ist das K r i t e r i u m „ i m Sinne des Grundgesetzes": es genügt nicht irgendeine demokratische, rechtsstaatliche usw. Grundordnung der Länder, sondern es muß eine freiheitliche, gewaltenteilende usw. L a n desverfassung sein, die den Prinzipien des G G entspricht. 230 Grundgesetzwidrig wäre ζ. B. die landesstaatsrechtliche E i n f ü h r u n g einer Monarchie (da nicht republikanisch), einer „Volksdemokratie" (da nicht freiheitlich-demokratisch) oder die Abschaffung der Gerichtskontrolle von Verwaltungsakten (da nicht rechtsstaatlich).

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pflicht des Landesverfassungsgebers durch eine besondere bundesverfassungsrechtliche Garantie gesichert. Danach gewährleistet der Bund, daß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 des Artikels 28 GG entspricht (Art. 28 I I I GG). I n welchen Formen der Bund diesen seinen Garantenstatus 231 wahrnimmt, bestimmt sich nach den grundgesetzlichen Normen über Bundesaufsicht, Bundesintervention, Bundeszwang und Bundesverfassungsgerichtsbarkeit. 4. Die hoheitlichen Handlungsräume des Gesamtstaats und der Gliedstaaten bedürfen einer normativen Abgrenzung durch die bundesstaatliche Verfassung. Demgemäß bilden die grundgesetzlichen Kompetenzvorschriften für die Staatsfunktionen der Gesetzgebung, der Exekutive und der Rechtsprechung eine Konkretisierung der Generalklausel, daß die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder ist, soweit die Bundesverfassung keine andere Regelung t r i f f t oder zuläßt (Art. 30 GG). Der Grundgesetzgeber hat ein besonderes Kompetenzverteilungsmodell statuiert, das nicht etwa für bestimmte Materien sämtliche Staatsfunktionen i n toto entweder dem Gesamtstaat oder den Gliedstaaten überträgt 2 3 2 . Vielmehr legt die Bundesverfassung i n differenzierter Verflechtung die legislativen, exekutiven und judikativen Zuständigkeiten i n verschiedene föderale Hände. Es kennzeichnet die verfaßte Gesamtstruktur, daß das Kompetenzschwergewicht für die Gesetzgebung beim Bund liegt, daß die Länder ihre Domäne i n der Vollziehung haben und daß die ausgebaute Gerichtsbarkeit der Länder durch oberste Bundesgerichte gleichsam überdacht ist. a) Z u m Zwecke der föderativen Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen — sie stehen den Ländern zu, soweit das Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzgebungsbefugnisse verleiht (Art. 70 I GG) — unterscheidet die Verfassung zwischen den Formen der ausschließlichen und der konkurrierenden Bundesgesetzgebung sowie der Rahmengesetzgebung und der Grundsatzgesetzgebung des Bundes. Ausschließliche Gesetzgebung des Bundes bedeutet nicht notwendig exklusive Bundesrechtsetzung. Vielmehr haben die Länder auch i m Bereich der ausschließlichen Bundesgesetzgebung, was freilich nur sehr selten vorkommen dürfte, eine Gesetzgebungsbefugnis, wenn und soweit 231 Recht u n d Pflicht des Bundes aus A r t . 28 I I I G G sind i n der bisherigen Staatspraxis der Bundesrepublik noch nicht a k t u e l l geworden. 232 Andere Bundesverfassungen folgen anderen Konzeptionen. Während das GG grundsätzlich trennt zwischen den Kompetenzen der Bundesgesetzgebung einerseits u n d der (administrativen u n d judikativen) Bundesrechtsanwendung andererseits, kennt die traditionsreiche US-Verfassung die einheitliche Zuordnung v o n Kompetenzen (der Rechtssetzung, Vollziehung u n d Rechtsprechung) an Institutionen des Bundes.

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sie h i e r z u i n e i n e m Bundesgesetz a u s d r ü c k l i c h e r m ä c h t i g t w e r d e n ( A r t . 71 GG). D i e i n A r t . 73 G G g e t r o f f e n e E n u m e r a t i o n d e r G e g e n s t ä n d e 2 8 3 ausschließlicher Gesetzgebung des B u n d e s i s t n i c h t abschließend 2 3 4 . A u f d e n G e b i e t e n d e r k o n k u r r i e r e n d e n Gesetzgebung, d e r e n w e i t gespannte M a t e r i e n i n A r t . 74 u n d 74 a G G festgelegt sind, besteht i n p r a x i k e i n e s w e g s eine g l e i c h g e w i c h t i g e l e g i s l a t i v e K o n k u r r e n z v o n B u n d u n d L ä n d e r n . Das V e r f a s s u n g s l e b e n h a t v i e l m e h r auch i n diesem B e r e i c h z u e i n e m f a k t i s c h e n V o r r a n g d e r Bundesgesetzgebung g e f ü h r t . Z w a r b e s t i m m t das Grundgesetz, daß d i e L ä n d e r d i e Gegenstände d e r k o n k u r r i e r e n d e n Gesetzgebung z u n o r m i e r e n b e f u g t sind, solange u n d s o w e i t d e r B u n d v o n s e i n e m Gesetzgebungsrecht k e i n e n G e b r a u c h m a c h t ( A r t . 72 I GG), u n d daß d e r B u n d i n diesem B e r e i c h das Gesetzgebungsrecht n u r h a t , s o w e i t e i n n ä h e r d e f i n i e r t e s 2 3 5 B e d ü r f n i s n a c h b u n d e s gesetzlicher R e g e l u n g besteht ( A r t . 72 I I GG). Indessen h a b e n d i e e g a l i t ä r e n T e n d e n z e n d e r f ö d e r a l e n S o z i a l s t a a t l i c h k e i t u n d eine recht g r o ß z ü g i g e verfassungsgerichtliche A u s l e g u n g 2 8 6 d e r g r u n d g e s e t z l i c h e n K o m p e t e n z v o r s c h r i f t z u m p r a k t i s c h e n P r i m a t des B u n d e s i m B e r e i c h d e r k o n k u r r i e r e n d e n Gesetzgebung g e f ü h r t . W e n n u n d s o w e i t d e r B u n d a u f g r u n d A r t . 72 G G gesetzgeberisch t ä t i g g e w o r d e n ist, erlischt d i e Gesetzgebungskompetenz d e r L ä n d e r 2 3 7 . 233 Bei diesen Materien ist, verfassungspolitisch gesehen, eine bundeseinheitliche Normierung durchweg zwingend, zumindest zweckmäßig (z.B. bei den Sachgebieten Staatsangehörigkeit i m B u n d ; Paßwesen; Währungswesen; Einheit des Z o l l - u n d Handelsgebiets). 234 H i n z u k o m m t insbesondere die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes f ü r Zölle u n d Finanzmonopole (Art. 105 I GG) sowie i n den verstreuten Fällen, w o das G G den Bundesgesetzgeber zur Normsetzung speziell ermächtigt (ζ. B. das „Nähere zu regeln"). 235 Dieses Bedürfnis ist nach A r t . 72 I I G G n u r anzuerkennen, w e n n (1) eine Angelegenheit durch die Gesetzgebung einzelner Länder nicht w i r k s a m geregelt werden k a n n oder (2) die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigen könnte oder (3) die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus eine bundesgesetzliche Regelung erfordert. 238 Gemäß dieser Rechtsprechung ist die Entscheidung der Frage des Bedürfnisses nach einer bundesgesetzlichen Regelung dem gerichtlich regelmäßig nicht nachprüfbaren Ermessen des Bundesgesetzgebers vorbehalten u n d ein entsprechendes Bedürfnis auch dann anzuerkennen, w e n n die b u n desgesetzliche Regelung den Zweck hat, die relevante Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse erst herbeizuführen, vgl. BVerfGE 13, S. 230, 233 f. — Die tatbestandlichen Voraussetzungen der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72 I I GG) bedeuten danach i m Ergebnis, daß das „Bedürfnis nach b u n desgesetzlicher Regelung" m i t dem „Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung" gleichgesetzt w i r d , vgl. BVerfGE 18, S. 407, 415. — Diese Rechtsprechung verdient K r i t i k , zumal sie die föderale Verfassungsposition der Länder, ohne überzeugende Grundgesetzauslegung, wesentlich mindert. 237 E t w a schon bestehende landesgesetzliche Regelungen treten außer K r a f t .

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Während i m Bereich der ausschließlichen und der konkurrierenden Gesetzgebung entweder der Bund oder die Länder zur umfassenden legislativen Regelung einer bestimmten Materie allein befugt sind, erfordert die Rahmengesetzgebung 238 des Bundes — auch sie ist an die Voraussetzungen des A r t . 72 GG geknüpft — ein gesetzgeberisches Zusammenwirken des Bundes und der Länder i n spezifischer Form. Und zwar müssen die bundesgesetzlichen Rahmenvorschriften, wie schon das Wort nahelegt, so beschaffen sein, daß sie insgesamt einer normativen Ausfüllung durch die Landesgesetzgebung fähig und bedürftig sind. Der Bund muß also den Ländern hinreichenden Gestaltungsraum für deren gesetzliche Regelungen derselben Materie lassen 239 . Schließlich kennt das Grundgesetz, wie schon die Weimarer Verfassung, auch das Institut der Grundsatzgesetzgebung des Bundes 240 . Diese ist, insoweit der Rahmenkompetenz vergleichbar, mit Rücksicht auf die koexistierende Gesetzgebungsbefugnis der Länder, i n ihrer Normierungsdichte beschränkt. I m Unterschied zur Rahmengesetzgebung, die sich m i t bindender K r a f t auch direkt an die Rechtsgenossen wendet, sind Adressaten der Grundsatzgesetzgebung des Bundes i n der Regel nicht Staatsbürger, sondern Staatsorgane des Bundes und der Länder. I m übrigen ist die Grundsatzkompetenz nicht, wie die Rahmengesetzgebung, an die Bedürfniskriterien des A r t . 72 I I GG gebunden. Sofern kein grundgesetzlicher Tatbestand einer der vorgenannten Formen von Bundeskompetenz erfüllt ist, besteht ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis der Länder (Art. 70 I GG). Indessen ist, aufgrund der ausgeprägten unitarischen Tendenzen i m gegenwärtigen Bundesstaat und angesichts der Fülle der dem Bund vom Grundgesetz verliehenen legislativen Zuständigkeiten, die alleinige Gesetzgebungskompetenz der Länder auf relativ wenige Materien beschränkt 241 . Ein Problem eigener A r t bildet unter dem Grundgesetz die Frage der Anerkennung ungeschriebener Bundeszuständigkeiten 242 , insbesondere 238 Die Materien der Rahmengesetzgebung des Bundes ergeben sich aus A r t . 75 Nr. 1—5 u n d A r t . 98 I I I GG. 239 BVerfGE 4, S. 115, 129; 43, S. 291, 343. 240 Z u r Legiferierung von Grundsätzen ist der B u n d insbesondere befugt i m Bereich des Haushaltsrechts, der k o n j u n k t u r gerecht en Haushaltswirtschaft u n d der mehrjährigen Finanzplanung i m Bundesstaat (Art. 109 I I I GG) sowie bei den sog. Gemeinschaftsaufgaben von B u n d u n d Ländern (Art. 91 a I I GG). 241 Schwerpunkte der Gesetzgebung der Länder sind insbesondere (ganz oder zum Teil) die Materien des Polizeirechts, des Kommunalrechts, des Wasser- u n d Wegerechts, des Baurechts, des Staatskirchenrechts, des Schul- u n d Hochschulrechts. 242 Dazu eingehend M. Bullinger, Ungeschriebene Kompetenzen i m B u n desstaat, AöR 96 (1971) S. 237 ff. unter Würdigung der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG. — Z u r Problematik nach der Reichsverfassung von

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auf dem Gebiet der Gesetzgebung. Für die Entscheidung maßgebend ist der deutliche Wille des Verfassungsgesetzes, das die Kompetenzen des Bundes enumerativ festlegt 243 , i m übrigen aber, namentlich durch die Generalklausel des A r t . 30 GG, sämtliche Staatsfunktionen den Bundesländern vorbehält. Nach dieser klaren Regelung der Kompetenzverteilung zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten erscheinen echte ungeschriebene Bundeszuständigkeiten von Verfassungs wegen ausgeschlossen. Angesichts der grundgesetzlichen Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder 2 4 4 sind allenfalls unbenannte implizierte Bundeszuständigkeiten („implied powers") denkbar, also solche Kompetenzen, die den i m Verfassungstext fixierten notwendig innewohnen und ihnen durch föderal-behutsame Interpretation zu entnehmen sind 2 4 5 . Dabei ist i m Zweifel, m i t Rücksicht auf die dem Bundesstaatsprinzip angemessene strikte 2 4 6 Auslegung der Kompetenzvorschriften der Verfassung, eine Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes zu verneinen. b) Wie die Staatsfunktionen überhaupt, so ist namentlich die Exekutive Sache der Länder, sofern das Grundgesetz keine andere Zuordnung bestimmt (Art. 30 GG). Demgemäß führen die Länder außer den Landesgesetzen auch die Bundesgesetze grundsätzlich i n eigener Regie aus. Für die konkrete Verteilung der Kompetenzen i m Bereich der Vollziehung 247 unterscheidet das Grundgesetz insbesondere zwischen den Formen der Landeseigenverwaltung, der Auftragsverwaltung der Länder und der Bundeseigenverwaltung 248 . Wenn die Länder, wie es der grundgesetzlichen Zuständigkeitsvermutung entspricht, beim Vollzug von Bundesgesetzen Verwaltungsfunktionen als eigene Angelegenheit wahrnehmen, steht dem Bund nur eine auf die Rechtmäßtigkeit der 1871 grundlegend H. Triepel, Die Kompetenzen des Bundesstaats u n d die geschriebene Verfassung, i n : Festgabe f ü r Laband, Bd. 2 (1908), S. 247 ff. — F ü r die Weimarer Verfassung siehe insbesondere G. Lassar , Die verfassungsrechtliche Ordnung der Zuständigkeiten, i n : Anschütz / Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1. Bd. (1930), S. 301, 309 ff. 243 Insbesondere i n den A r t . 70 ff., 83 ff. u n d 92 ff. GG. 244 Weder die Bismarcksche noch die Weimarer Reichsverfassung kannten eine Generalklausel w i e A r t . 30 GG. 245 Nach diesen Grundsätzen beurteilen sich auch die Fälle, i n denen die Rechtsprechung „ungeschriebene" Bundeskompetenzen zugelassen hat, w i e z.B. unter den Gesichtspunkten „ N a t u r der Sache" (BVerfGE 3, S.407, 428f.; 22, S. 180, 217; 26, S. 246, 257), „Sachzusammenhang" (BVerfGE 11, S. 192, 199; 26, S. 281, 300) u n d „Annexkompetenz" (BVerfGE 8, S. 143, 149 f.). 248 I n diesem Sinne grundsätzlich auch BVerfGE 26, S. 246, 254. 247 Siehe insbesondere die detaillierten Regelungen des V I I I . Abschnittes (Art. 83—91 GG); hinzu kommen zahlreiche Spezialvorschriften, u . a . f ü r das Finanzwesen, die auswärtigen Angelegenheiten u n d die Streitkräfte. 248 F ü r die Frage sog. ungeschriebener Verwaltungskompetenzen des B u n des gelten die oben dargelegten Grundsätze zur Gesetzgebungszuständigkeit entsprechend.

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Ausführung beschränkte Aufsichtsbefugnis zu 2 4 9 . Anders ist die Verfassungsrechtslage bei der Bundesauftragsverwaltung durch die Länder 2 5 0 . I m Bereich dieser föderalen Verwaltungsform erstreckt sich die Bundesaufsicht über die Gesetzmäßigkeit hinaus auch auf die Zweckmäßigkeit der Ausführung (Art. 85 I V GG); die Landesbehörden unterstehen den Weisungen der zuständigen obersten Bundesbehörden (Art. 85 I I I GG). Wie die Bundesauftragsverwaltung, so ist auch die Bundeseigenverwaltung (Art. 86 GG), insbesondere die unmittelbare Vollziehung durch Bundesbehörden m i t Verwaltungsunterbau, nur i n den vom Grundgesetz vorgesehenen Fällen 2 5 1 zulässig. c) Nicht so bedeutend wie i m Bereich der Exekutive ist der Anteil der Länder auf dem Gebiet der Rechtsprechung. Die rechtsprechende Gewalt, die i n der Bundesrepublik den Richtern anvertraut ist (Art. 92 GG), w i r d i n den gesamtstaatlich relevanten Grundsatzfragen maßgeblich vom Bundesverfassungsgericht und den obersten Gerichtshöfen des Bundes 252 bestimmt. I n der übrigen Jurisdiktion 2 5 3 liegt das Schwergewicht bei den Gerichten der Länder. Auch insoweit verfügen die Länder freilich nur sehr begrenzt über Möglichkeiten eigenstaatlicher Gestaltung, da große Teile des (von unabhängigen Landesrichtern) anzuwendenden Rechts materiell und prozessual vom Bund gesetzt sind. d) M i t Rücksicht auf die vitale Bedeutung der Finanzhoheit i m Verfassungsleben des Bundesstaats hat das Grundgesetz die finanzwirksamen legislativen, exekutiven und judikativen Kompetenzzuordnungen i m Verhältnis von Gesamtstaat und Gliedstaaten zusammenfassend separat geregelt (X. Abschnitt des GG). I m Rahmen des föderalen Finanzwesens 254 als dem Nervus rerum der modernen Staatstätigkeit kommt der sog. Steuerverfassung 255 eine grundlegende Bedeutung zu. 249

A r t . 83, 84 I I I GG. Auftragsverwaltung ist n u r i n den v o m GG zugelassenen Fällen zulässig, so z.B. bei der V e r w a l t u n g der Bundesautobahnen u n d sonstigen Bundesstraßen des Fernverkehrs (Art. 90 I I GG) u n d bei der Landesverwalt u n g von Steuern, die ganz oder zum T e i l dem B u n d zufließen (Art. 108 I I I GG). 251 Siehe die einschlägigen Ermächtigungen i n A r t . 87 GG u. a. f ü r den Auswärtigen Dienst, die Bundesfinanzverwaltung u n d die Bundespost; vgl. auch A r t . 87 b (Bundes wehr ver waltung), 87 d G G (Luftverkehrsverwaltung) u n d A r t . 88 GG (Bundesbank). 252 I m Unterschied zu anderen Bundesstaaten (wie etwa den USA) hat sich das GG nicht f ü r ein einheitliches, alle Materien umfassendes oberstes B u n desgericht, sondern f ü r fünf oberste Fachgerichte auf Bundesebene entschieden. Es sind dies: der Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, der Bundesfinanzhof, das Bundesarbeitsgericht u n d das Bundessozialgericht (Art. 95 GG). 253 Wegen der besonderen Bundesgerichte unterhalb der Ebene oberster Bundesgerichte vgl. A r t . 96 GG. 250

254 „Das Finanzwesen" des X . GG-Abschnitts w a r bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates ein Hauptgegenstand langwieriger u n d k o n t r o -

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§ 8 Die budesstaatliche Grundordnung

Wie bei der allgemeinen Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen (Art. 70 ff. GG) unterscheidet das Grundgesetz auch i m Sonderbereich der Steuerhoheit 256 zwischen ausschließlicher und konkurrierender Normsetzungsbefugnis. Über Zölle und Finanzmonopole 257 hat der Bund die ausschließliche Gesetzgebung (Art. 105 I GG). Für die übrigen Steuern hat der Bund die konkurrierende Gesetzgebung, wenn i h m das A u f kommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht 258 oder wenn die Voraussetzungen des A r t . 72 I I GG vorliegen (Art. 105 I I GG). I m Ergebnis bedeutet dies, daß der Bund — eine ausschließliche Gesetzgebung der Länder 2 5 9 besteht nur für die örtlichen, m i t bundesgesetzlich geregelten nicht gleichartigen Verbrauch- und Aufwandsteuern (Art. 105 I I a GG) — die Gesetzgebungsbefugnis für alle wichtigen Steuern 260 i n der Bundesrepublik hat. M i t Rücksicht auf die grundlegende Bedeutung der Steuergesetzgebung für die bundesstaatliche Finanzordnung bedürfen freilich Bundessteuergesetze, welche die Ertragsinteressen der Länder oder der Gemeinden berühren, der Zustimmung des Bundesrats (Art. 105 I I I GG). Die geltende Struktur der föderalen Finanzverwaltung 2 6 1 , deren komplizierte Ausformung hier nur i n Grundlinien angedeutet werden kann, dient der zweckrationalen Machtverteilung zwischen Gliedverser Erörterungen. Bis heute ist die Frage der angemessenen Koordinier u n g des Finanzbereichs v o n Bund, Ländern u n d Gemeinden (sc. Ausgabenkompetenz; Verteilung der Steuererträge; Finanzausgleich) ein verfassungspolitisches Dauerthema geblieben. 255 Z u r Finanzverfassung gehören darüber hinaus insbesondere auch, außer dem horizontalen u n d vertikalen Finanzausgleich (Art. 107 GG), die V o r schriften über konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft, mehrjährige Finanzplanung u n d gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht (Art. 109 GG; Stabilitätsgesetz von 1967). 25β z u r Finanzverfassung insgesamt vgl. O. Bühler, Finanzgewalt i m W a n del der Verfassungen, i n : Festschrift f ü r Thoma, 1950, S. I f f . ; H. HöpkerAschoff, Das Finanz- u n d Steuersystem des Bonner Grundgesetzes, AöR 75 (1949), S. 306 ff.; G. Wacke, Das Finanzwesen der Bundesrepublik, 1950. 257 Z u m Begriff der Finanzmonopole vgl. R. Weber-Fas (Hg.), Verfassungsrechtsprechung zum Steuerrecht, Bd. I , S. 382, 386. 258 welche Steuererträge dem B u n d ganz oder ζ. T. zufließen, ist den A r t . 106 u n d 107 G G zu entnehmen. 259 Die Gemeinden haben keine Steuergesetzgebungsbefugnis i. e. S., sondern n u r das Recht, die Hebesätze f ü r die Realsteuern festzusetzen, A r t . 106 V I 2 GG. 260 D e r verfassungsrechtliche Steuerbegriff ist v o m G G nicht definiert. Die schlichte Übernahme des Steuerbegriffs der Abgabenordnung ( § 3 1 AO), die i n der Verfassungsrechtsprechung praktiziert w i r d (BVerfGE 3, S. 407, 435; 38, S. 61, 79 f.), w i r f t grundsätzliche Probleme auf. Der Vorrang der Verfassung (Art. 1 I I I , 20 I I I GG) gebietet, das G G zum Maßstab der A O zu nehmen, nicht aber umgekehrt zu verfahren. 261

Z u r Regelung der administrativen Zuständigkeiten i m einzelnen vgl. A r t . 108 GG, der auch den Landesvollzug von nicht bundesrechtlich normierten Steuern betrifft.

I I . B u n d und Länder unter dem Grundgesetz

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Staaten und Gesamtstaat. Da für Steuern als Eingriffe i n Freiheit und Eigentum verfassungsprinzipiell der Vorbehalt des Gesetzes2®2 gilt, ist Steuerverwaltung 2 ® 3 i n besonderem Maße gesetzesakzessorische A n wendung von Rechtsnormen auf den Einzelfall. Durch Bundesfinanzbehörden werden verwaltet die Zölle, die Finanzmonopole, die bundesgesetzlich geregelten Verbrauchsteuern und die Abgaben i m Rahmen der Europäischen Gemeinschaften (Art. 108 I GG). Alle übrigen Steuern unterliegen der Verwaltung durch Landesfinanzbehörden (Art. 108 I I GG). Allerdings ist die Organisationsgewalt der Länder dadurch beschränkt, daß der Aufbau der Landesfinanzbehörden durch Bundesgesetz, das hinwiederum der Zustimmung des Bundesrats bedarf, geregelt werden kann. Während die Länder die ihrer Ertragshoheit unterliegenden Steuern als eigene Angelegenheit verwalten, werden sie bei der Verwaltung von Steuern, die ganz oder zum Teil dem Bund zufließen, i n dessen Auftrag tätig (Art. 108 I I I GG). I m Rahmen dieser Bundesauftragsverwaltung hat der Bund besondere Einwirkungsrechte 2 ® 4 . Die prozessuale und organisatorische Ausgestaltung der Finanzgerichtsbarkeit als der rechtsprechenden Gewalt i n Steuersachen ist der ausschließlichen, nicht an die Zustimmung des Bundesrats gebundenen Gesetzgebungskompetenz des Bundes zugewiesen (Art. 108 V I GG). Das auf dieser Kompetenz beruhende bundeseinheitliche Steuerprozeßrecht 265 w i r d i n erster Instanz durch Gerichte der Länder angewendet. A n der Spitze der gesamten Finanzgerichtsbarkeit steht der Bundesfinanzhof als oberster Gerichtshof des Bundes (Art. 95 I GG). Besonderes Gewicht haben die legitimen Interessen der Gliedstaaten bei der verfassungsrechtlichen Verteilung der Erträge aus den verschiedenen Steuern. Da die gesamte Staatstätigkeit, namentlich i m modernen Sozialstaat, vom Finanzpotential der öffentlichen Hände abhängt, kommt der normativen Gestaltung der sog. Steuerertragshoheit i n Verbindung mit dem föderativen Finanzausgleich (Art. 107 GG) für den eigenstaat282 Z u r steuerrechtlichen Bedeutung des Vorbehalts des Gesetzes vgl. R. Web er -Fas, Grundzüge des allgemeinen Steuerrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1979, S. 35, 79, 85. 283 Die Steuerverwaltungshoheit — sie hat neben bundesstaatlicher Relevanz auch besonderes Gewicht unter dem Aspekt der interregionalen Gleichmäßigkeit des Steuergesetzesvollzugs — hatte i m Kaiserreich ihren verfassungsmäßigen Schwerpunkt bei den Gliedstaaten, i n der Weimarer Republik dagegen beim Reich. Die heutige Verfassungsrechtslage beruht auf der F i nanzreform von 1969. 284 Namentlich durch das Einzelweisungsrecht des B d F u n d die Erstreckung der Bundes aufsieht auf die (Gesetz- und) Zweckmäßigkeit der Gesetzesausf ü h r u n g (Art. 108 I I I , A r t . 85 I I I u n d I V GG). 285 Erst die Finanzgerichtsordnung v o n 1965 hat den Verfassungsauftrag des A r t . 108 V I G G e r f ü l l t ; die FGO ist erheblich beeinflußt durch die V e r waltungsgerichtsordnung des Bundes.

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§ 8 Die budesstaatliche Grundordnung

liehen Handlungsspielraum von Bund und Ländern eine entscheidende Bedeutung zu. Das Grundgesetz versucht diese komplexen Fragen i m Prinzip so zu lösen, daß es für bestimmte Steuer arten jeweils dem Bund oder den Ländern allein den Ertrag zuweist (Trennsystem); daß es an den sog. großen Steuern den Bund und die Länder gemeinsam beteiligt (Verbundsystem); daß es zwischen Bund und Ländern einen Ausgleich der entsprechenden Finanzmassen vorsieht (vertikaler Finanzausgleich) und daß es diesen Ausgleich verfeinert durch eine Verteilung der gesamten Länderfinanzmasse auf die einzelnen Länder (horizontaler Finanzausgleich) 266 . A r t . 106 GG, der die Verteilung des Steuerertrags regelt, enthält keine Generalklausel, sondern einen Katalog, der enumerativ Bund und Ländern ihren Anteil zuspricht. Abgesehen von den Alleinberechtigungen des Bundes (Art. 106 I GG) und der Länder (Art. 106 I I GG) sind die Regelungen über die sog. Gemeinschaftssteuern von zentraler Bedeutung für die bundesstaatliche Finanzverfassung. Danach stehen Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer (die „großen" Steuern) ertragsmäßig dem Bund und den Ländern gemeinsam zu. Während das Grundgesetz die paritätische Beteiligung von Gesamtstaat und Gliedstaaten bei der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer selbst festgeschrieben hat, ist die Beteiligung von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer der variablen Bestimmung durch Bundesgesetz m i t Zustimmung des Bundesrats überlassen (Art. 106 I I I und I V GG). 5. Kennzeichnend für die geltende Verfassungsgestalt des Bundesstaats ist ferner der Grundsatz 267 , daß Bundesrecht Landesrecht bricht (Art. 31 GG). Die Anwendung dieser Kollisionsnorm 2 6 8 setzt den Widerstreit von Rechtsnormen voraus, die Bund und Länder über dieselbe Materie erlassen haben. „Gebrochen", das heißt ausgeschaltet 269 w i r d Landesrecht freilich nur durch solches Bundesrecht, das formell und materiell m i t dem Grundgesetz i n Einklang steht. Der Vorrang sämtlichen verfassungsmäßigen Bundesrechts erstreckt sich auf alle Kategorien des Landesrechts. Dies bedeutet, daß selbst Bundesverordnungsrecht Landesverfassungsrecht brechen kann. Da A r t . 31 GG voraussetzt, daß Normen des Landesrechts und Bundesrechts miteinander kollidieren 2 7 0 , w i r d inhaltsgleiches Landesrecht nicht gebrochen 271 . 266

Z u r Beteiligung der Gemeinden an den Erträgen vgl. A r t . 106 V — I X GG. Ähnliche Vorrangsnormen waren auch i n früheren deutschen Bundesverfassungen festgelegt, vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I , 2. Aufl. 1975, S. 601 f. 2β8 BVerfGE 26, S. 116, 135; 36, S. 342, 363 f. 267

269 Der i n A r t . 31 GG normierte Vorrang des Bundesrechts b e w i r k t i m Kollisionsfall Aufhebung bestehenden Landesrechts u n d Sperre f ü r k ü n f t i ges Landesrecht. 270 BVerfGE 36, S. 342, 363.

I I . B u n d u n d Länder unter dem Grundgesetz

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6. Die Struktur des grundgesetzlichen Bundesstaates wird, abgesehen von den bereits dargelegten Prinzipien, wesentlich geprägt durch Verfassungsrechtsinstitute über wechselseitige Einwirkungsmöglichkeiten von Bund und Ländern auf die staatliche Willensbildung i n Gesetzgebung und Exekutive. a) Fundamentales Bundesverfassungsorgan der gliedstaatlichen Partizipation an der Willensbildung des Gesamtstaates ist der Bundesrat. Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes m i t (Art. 50 GG). I m Unterschied zu ausländischen Bundesstaatsverfassungen entspricht es deutscher Staatsrechtstradition, daß das gliedstaatliche Bundesorgan nicht unmittelbar demokratisch legitimiert ist, sondern aus den Regierungen der Länder hervorgeht. Außer der M i t w i r k u n g bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes hat der Bundesrat weitere wichtige Gestaltungsrechte. Dazu gehört nicht zuletzt auch der gliedstaatliche Einfluß auf die personelle Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts: dessen Mitglieder werden zur Hälfte vom Bundesrat gewählt (Art. 94 I GG). Zahlreiche andere Kompetenzen des Bundesrats finden sich an verschiedenen Stellen des Verfassungstextes 272 . b) Die grundgesetzlich fixierten Einwirkungsmöglichkeiten der Länder auf das staatliche Handeln des Bundes finden ihr föderatives Gegenstück i n einer Reihe verfassungsrechtlicher Positionen des Gesamtstaats gegenüber den Gliedstaaten. Die dem Bund obliegende Gewährleistung der Homogenität der verfassungsmäßigen Ordnung der Länder (Art. 28 I I I GG) wurde bereits erwähnt. Auch die Bundesaufsicht, durch die der Gesamtstaat die Ausführung der Bundesgesetze als eigene Angelegenheit der Gliedstaaten überwacht (Art. 84 I I I GG), wurde i m Zusammenhang m i t der einschlägigen Kompetenzverteilung schon hervorgehoben 273 , desgleichen die erweiterte Bundesaufsicht bei der Auftragsverwaltung durch die Länder 2 7 4 . Nicht nur als ultima ratio unwirksam ge271 Ubereinstimmendes Landesrecht bleibt neben dem einschlägigen Bundesrecht bestehen. 272 Außer der regulären Beteiligung des Bundesrats an Gesetzgebung, Regierung u n d V e r w a l t u n g des Bundes hat dieses Verfassungsorgan auch besondere Rechte i m Verteidigungsfall (Art. 53 a, 115 a I , 115 e I , 1 1 5 I I I GG); vgl. ferner die Rechte des Bundesrats gegenüber der Bundesregierung (Art. 53 S. 3 GG) u n d dem Bundespräsidenten (Art. 61 I GG). 273 Z u r Durchführung dieser Rechtmäßigkeitskontrolle darf die Bundesregierung Beauftragte zu den obersten Landesbehörden und, unter bestimmten Voraussetzungen, auch zu den nachgeordneten Behörden entsenden. Falls festgestellte Mängel von Ländern nicht beseitigt werden, so beschließt auf A n t r a g des Landes der Bundesrat, ob das L a n d das Recht verletzt h a t ; gegen den Beschluß des Bundesrats k a n n das B V e r f G angerufen werden (Art. 84 I V GG). 274 Die zu Weisungen gegenüber den Landesbehörden berechtigte Bundesregierung (Art. 85 I I I GG) k a n n zur Kontrolle der Gesetzmäßigkeit u n d

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§ 8 Die budesstaatliche Grundordnung

bliebener Maßnahmen der Bundesaufsicht kommt der Bundeszwang i n Betracht. Nach diesem Verfassungsinstitut kann die Bundesregierung 275 mit Zustimmung des Bundesrates, wenn ein Land die i h m nach Bundesgesetzen obliegenden Bundespflichten nicht erfüllt, die notwendigen Maßnahmen 276 treffen, u m das Land zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten (Art. 37 GG). E i n ebenfalls sehr eingriffsintensives Instrument 2 7 7 zur Durchsetzung des Bundeswillens gegenüber den Ländern ist schließlich die Bundesintervention. Dabei 2 7 8 kann die Bundesregierung insbesondere — unter bestimmten verfassungsrechtlichen Kautelen — zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung eines Landes die Polizei i n diesem Lande ihren Weisungen unterstellen sowie Einheiten des Bundesgrenzschutzes einsetzen (Art. 91 I I GG). 7. Nicht nur geschriebene Rechtsnormen 279 bestimmen die positive Gestalt des gegenwärtigen Bundesstaats. Maßgebend für die föderale Gesamtstruktur sind auch grundgesetzimmanente ungeschriebene Verfassungsgrundsätze. Unter ihnen hat das Prinzip der Bundestreue besonderes Gewicht. Die für den Bundesstaat funktionsnotwendige Pflicht zum bundesfreundlichen Verhalten aller Teile des Ganzen ist die Konsequenz der — ungeachtet des hohen Grades föderativer Integration rechtlich bestehenden — Eigenstaatlichkeit des Bundes und der Länder. Indessen ist der Rückgriff auf den ungeschriebenen allgemeinen Grundsatz der Bundestreue nur i n solchen Fällen erforderlich und zulässig, die nicht von besonderen Verfassungsgrundsätzen oder grundgesetzlichen Spezialvorschriften geregelt sind. Zweckmäßigkeit der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder außer der Entsendung v o n Beauftragten zu den Landesbehörden von letzteren auch Bericht u n d Vorlage der A k t e n verlangen (Art. 85 I V GG). 275 I m Unterschied zur Staatspraxis unter der Weimarer Verfassung wurde i m Verfassungsleben der Bundesrepublik der Bundeszwang bisher noch nicht angewendet. 276 Die Bundesregierung — neben dem Bundeszwang steht i h r auch der Rechtsweg an das B V e r f G offen —, die v o m GG nicht auf bestimmte Zwangsmaßnahmen festgelegt ist, k a n n i n Wahrnehmung ihrer Rechte aus A r t . 37 GG alle verfassungskonformen gouvernementalen u n d tatsächlichen Machtm i t t e l einsetzen. 277 Außer den v o m GG ausdrücklich vorgesehenen Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes sind zur Abschätzung des w i r k l i c h e n gesamtstaatlichen Einflusses auf die Länder vor allem auch zu berücksichtigen die modernen finanziellen u n d planungsmäßigen M i t t e l des Bundes i m Rahmen des sog. kooperativen Föderalismus (z.B. B u n d - L ä n d e r - A b k o m m e n ; Gemeinschaftseinrichtungen v o n B u n d u n d Ländern). 278 Siehe ferner die Tatbestände des A r t . 35 I I I GG. 279 Z u ihnen gehört auch die Verfassungsbestimmung, daß alle Behörden des Bundes u n d der Länder sich gegenseitig Rechts- u n d Amtshilfe leisten, A r t . 35 I GG.

I I . B u n d u n d Länder unter dem Grundgesetz

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Die Verfassungsrechtspflicht von Bund und Ländern zur Bundestreue 2 8 0 umfaßt das bundesfreundliche Verhalten i n dreifacher Dimension: der Gliedstaaten gegenüber dem Gesamtstaat, des Gesamtstaats gegenüber den Gliedstaaten und der Gliedstaaten untereinander. E i n Verstoß gegen das Prinzip des bundesfreundlichen Miteinander, das zum Wohle des staatlichen Ganzen dem Egoismus der Teile entgegenwirkt, setzt kein spezifisches Verschulden, sondern nur ein objektives Fehlverhalten voraus. Die integrierende Funktion des Grundsatzes der Bundestreue zeigt sich besonders deutlich, wenn es u m die Wahrnehmung von Kompetenzen geht, die das Grundgesetz zwischen Bund und Ländern verteilt hat. Da alle verfassungsrechtlichen Befugnisse lediglich bundesloyal ausgeübt werden dürfen, sind von Kompetenznormen gedeckte staatliche Maßnahmen nur zulässig, wenn sie gebührende Rücksicht nehmen auf die Interessen des Gesamtstaats oder der Gliedstaaten 281 . Die unbedingte Geltung des Prinzips bundesfreundlichen Verhaltens läßt es auch nicht zu, daß ein Teil sich seiner Pflicht m i t dem Argument entzieht, auch der andere Teil habe seine Pflicht zur Bundestreue nicht erfüllt 2 8 2 . Aus dem allgemeinen Gebot förderlichen Zusammenwirkens und gegenseitiger Rücksichtnahme können weitere Handlungs- und Unterlassungspflichten der Partner i m Bundesstaat abgeleitet werden. Dazu gehört auch, außer wechselseitigen Hilfs- und Mitwirkungspflichten bei der Erfüllung staatlicher Aufgaben, ein bundesfreundliches Verhalten beim Procedere und beim Stil von Verhandlungen zwischen den Staaten des föderativen Zusammenschlusses 283 .

280 Vgl. des näheren W. Bayer, Die Bundestreue, 1961; zum früheren deutschen Verfassungsrecht R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119, 271 ff. 281 BVerfGE 34, S. 216, 232. 282 BVerfGE 12, S. 205, 254 f. (m. w . Konkretisierungen). 283 BVerfGE 12, S. 205, 255.

Drittes

Kapitel

Verfassungsorgane und Staatefunktionen im Regierungesyetem der Bundesrepublik Auch i m modernen Verfassungsstaat m i t seinem Grundanliegen der rechtlichen Sicherung menschlicher Freiheit gehört es — außer der Konstituierung primär freiheitsbezogener Staatszielbestimmungen und Grundrechtsverbürgungen — zu den Hauptaufgaben der Verfassung, die wesentlichen Organe, Funktionen und Verfahren der konstituierten Staatsgewalt normativ festzulegen. Wie das Grundgesetz die Regierungsform und die Staatsorganisation der Bundesrepublik verfaßt hat, bildet den Gegenstand der folgenden Darlegungen.

§ 9 Leitgedanken und Grundordnung des parlamentarischen Regierungssystems L i t e r a t u r : F. Glum, Das parlamentarische Regierungssystem i n Deutschland, Großbritannien u n d Frankreich, 2.Aufl. 1965; H.Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, 1926 / Neudruck 1968; G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation u n d der Gestaltwandel der Demokratie i m 20. Jahrhundert, 3. Aufl. 1966; U. Scheuner, Entwicklungslinien des parlamentarischen Regierungssystems der Gegenwart, i n : Festschrift f ü r A . A r n d t , 1969, S. 385 ff.; C.Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 4. A u f l . 1969. I . Historische Wurzeln und Gegenwartsprobleme der parlamentarischen Demokratie

1. Die parlamentarische Kontrolle der Regierung als Erscheinungsform repräsentativer Demokratie steht i n einer westeuropäischen Tradition staatsrechtlich balancierter Herrschaftsgewalt. I n den deutschen konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts wurde die Forderung nach parlamentarischer Regierung zu einem Hauptanliegen der demokratischen Bewegung. Das Parlament 1 als gewählte Volksvertretung 1

Herkunftsland der Sache u n d der Bezeichnung „Parlament" ist England, mittelbar Frankreich, w o „Parlament" (von „ p a r i e r " = Recht spre8 Weber-Fas

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§ 9 Grundordnung des parlamentarischen Regierungssystems

sollte die Repräsentation des Staatsvolkes sein, als mindestens gleichgewichtige K r a f t neben der herkömmlichen Repräsentation durch den nichtgewählten Monarchen. Ziel der erstrebten parlamentarischen Kontrolle war es, die vom Monarchen bestimmte Regierung abhängig zu machen vom Vertrauen des Parlaments und damit indirekt vom Vertrauen des regierten Volkes. Politischer und staatsrechtlicher Hintergrund der geforderten Parlamentarisierung der Regierung war das Fehlen einer demokratischen Legitimation des königlichen Kabinetts. Auch i n außerdeutschen Staaten des europäischen Kontinents ging es i n den Verfassungskämpfen des 19. Jahrhunderts u m die Stärkung der Rechte des volksvertretenden Parlaments gegenüber der monarchischen Regierung. Das klassische, i n England entwickelte parlamentarische Regierungssystem ist verfassungsgeschichtlich dadurch bedingt, daß sich die Monarchie auch nach der Epoche der Aufklärung, ungeachtet aller demokratischen Fortschritte, zu erhalten vermochte. Da es nicht möglich war, außer dem Parlament auch die Spitze der Exekutive durch Volkswahl zu legitimieren, sah man die verfassungspolitische Aufgabe darin, die monarchische Regierung durch parlamentarische Kontrolle mittelbar zu demokratisieren. Nachdem die „Glorreiche Revolution" und die „Declaration of Rights" von 1689 den staatsrechtlichen Vorrang des durch freie Wahlen gebildeten Parlaments gebracht hatte, kontrollierte erstmals eine von Parteien beherrschte repräsentative Körperschaft das vom englischen König geführte Kabinett i n den entscheidenden Fragen der Staatsleitung, der Gesetzgebung und der Steuerbewilligung. Das parlamentarische Regierungssystem, das sich während des 18. Jahrhunderts i n Großbritannien herausgebildet hatte, stand auch den geistigen Vätern der französischen Revolution von 17892 vor Augen, deren rechtspolitische Impulse die Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt i n Deutschland nachhaltig beeinflußten. I n der französischen Staatspraxis nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft entwickelte sich alsbald, trotz Fehlens ausdrücklicher Verfassungsbestimmungen, die Regierungsform der parlamentarischen chen) seit dem späten Mittelalter der Name des höchsten Hofgerichts i n Paris war. V o n hier w u r d e der Terminus nach England übernommen als „Parliament", w o m i t m a n ursprünglich den Hofrat („magnum concilium", bestehend aus Repräsentanten des Adels u n d Klerus) bezeichnete. Die zunächst n u r f ü r das „House of Lords" verwandte Bezeichnung „Parliament" umfaßte später außer dem Oberhaus auch das Unterhaus. 2 Freilich fehlte das Prinzip der parlamentarischen Regierung noch i n den Revolutions Verfassungen von 1789 u n d 1795, die den Grundsatz der Gewaltentrennung strenger durchführten. Die Neuerung i n der Verfassung von 1799, die den Weg zur parlamentarischen Regierungsweise frei machte, w u r d e durch die absolutistische Herrschaft Napoleons überholt.

I. Geschichte u n d Gegenwartsprobleme der parlamentar. Demokratie

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Monarchie 3 . Die weitere Entwicklung dieses Systems war i m Verfassungsrecht und i n der Staatspraxis Frankreichs sehr uneinheitlich und nicht frei von erheblichen Widersprüchen 4 . 2. Nachdem die deutschen Verfassungen der Epoche des Vormärz zu einer gewandelten Renaissance der i m absoluten Fürstenstaat untergegangenen ständischen Rechte geführt hatten 5 , erfuhr das neukonstituierte monarchische Prinzip 8 eine entscheidende Veränderung i n Richtung auf parlamentarische Regierungskontrolle durch die Revolution des Jahres 1848. Indessen blieb während der gesamten Zeit der konstitutionellen Monarchie, unbeschadet einer neuartigen nichtparlamentarischen Ministerverantwortlichkeit, die Regierung des Königs vom Vertrauen des Parlaments verfassungsrechtlich unabhängig. Lediglich i n indirekter Form vermochte das Parlament seine Macht gegenüber der Regierung geltend zu machen, indem es der für die Regierungsarbeit notwendigen Gesetzgebung7 seine M i t w i r k u n g versagte. Ein parlamentarisches Regierungssystem i m eigentlichen Sinne wurde auch nicht durch die Reichsverfassung von 1871 eingeführt, wie insbesondere die rechtliche Wirkungslosigkeit von Mißtrauensvoten des Reichstags deutlich belegt 8 . Als sich i n diesem Punkte Regierungspraxis und Verfassungslage 9 grundlegend änderten, stand das Kaiserreich bereits vor seinem Zusammenbruch. Erst i n der Weimarer Reichsverfassung von 1919 erfüllte sich die alte, während des 19. Jahrhunderts erfolglos gebliebene Forderung nach voller parlamentarischer Kontrolle der Regierung. 8 I h r Wesen w u r d e von dem Staatsmann u n d Historiker A. Thiers bereits 1829 auf die (den K ö n i g von der eigentlichen politischen Macht ausschließende) Formel gebracht: „ L e r o i règne et ne gouverne pas". 4 Dazu näheres bei C. Schmitt, Verfassungslehre, 5. A u f l . 1970, S. 328 f. 5 Wegen der Zusammenhänge i m einzelnen vgl. L. Bergsträsser, Die E n t w i c k l u n g des Parlamentarismus i n Deutschland, 1954; K. Bosl (Hg.), Der moderne Parlamentarismus u n d seine Grundlagen i n der ständischen Repräsentation, 1977. 6 Grundlegende Dokumente waren die Wiener Bundesakte v o n 1815 und die Wiener Schlußakte von 1820. 7 I n diesen Zusammenhang gehören die juristischen Bestrebungen, durch die Institute des Vorbehalts des Gesetzes u n d des Vorrangs des Gesetzes die A k t e des Herrschens zu verrechtlichen, die Sphäre des Parlamentsgesetzes auszudehnen u n d die einer parlamentarischen M i t w i r k u n g nicht bedürftigen Regierungskompetenzen zurückzudrängen. 8 Wenn die Verfassung i n A r t . 17 S. 2 sagte, daß der Reichskanzler m i t der Gegenzeichnung der Verfügungen des Kaisers „dadurch die V e r a n t w o r t lichkeit ü b e r n i m m t " , so w a r dies ein politisches D i c t u m ohne Rechtsfolgen. 9 Die neuartige parlamentsorientierte Regierungspraxis der letzten k a i serlichen Reichskanzler (v. Bethmann-Hollweg; Graf v. H e r t l i n g ; Prinz M a x von Baden) leitete die Änderung des A r t . 17 W R V i m Herbst 1918 ein: Der Reichskanzler bedurfte nunmehr zu seiner A m t s f ü h r u n g des Vertrauens des Reichstags.



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§ 9 Grundordnung des parlamentarischen Regierungssystems

3. I n der Regierungsform der Weimarer Republik bedurften, so bestimmte es die Verfassung expressis verbis, der Reichskanzler und die Reichsminister zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen mußte zurücktreten, wenn i h m der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzog (Art. 54 WRV). I n der damaligen Staatspraxis spielte freilich das parlamentarische Mißtrauensvotum keine große Rolle 10 . I m Blick auf das komplexe gouvernementale Gefüge darf die machtvolle verfassungsrechtliche Position des Reichspräsidenten gegenüber der Reichsregierung nicht außer acht gelassen werden. Weit entfernt von bloßen formellen Befugnissen war es Sache des Reichspräsidenten (und nicht etwa der Mehrheitsparteien i m Reichstag), das Kabinett zu bilden. Der Reichskanzler und auf dessen Vorschlag die Reichsminister wurden vom Reichspräsidenten kraft eigener Entscheidung ernannt und entlassen (Art. 53 WRV). Ohne verfassungsrechtliche Beschränkung war der — vom ganzen deutschen Volk unmittelbar gewählte (Art. 41 WRV) und unbeschränkt wiederwählbare 11 — Reichspräsident befugt, nach seinem Ermessen die Persönlichkeit zu bestimmen, die das Kabinett zusammenstellen und leiten sollte. Gegenüber der Reichstagsmehrheit konnte der Reichspräsident seinen politischen Willen durch Bestellung einer Minderheitsregierung durchsetzen 12 . Auch wurde aus der nicht nur förmlichen Befugnis des Reichspräsidenten zur Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers sein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Partizipation an der Bestimmung der „Richtlinien der P o l i t i k " abgeleitet 18 . Für den zwischen Reichspräsident und Reichsregierung möglichen K o n f l i k t aus der — dem parlamentarischen Regierungsprinzip gemäßen — Verfassungsrechtslage, daß die vom Reichspräsidenten ernannten Kanzler und Minister vom Vertrauen des Reichstages abhingen und i m Falle eines ausdrücklichen Mißtrauensvotums zurückzutreten hatten, gab es als ultima ratio die Möglichkeit, an das Volk zu appellieren 14 . Indessen wandelte sich i n der Verfassungs10 N u r zwei Regierungen (die Kabinette L u t h e r u n d M a r x , beide i m Jahre 1926) w u r d e n durch Mißtrauensbeschluß des Reichstags gestürzt, die Rückt r i t t e der übrigen Kabinette waren regelmäßig die Folge von Koalitionskrisen, vgl. R. Thoma, Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems, i n : Anschütz / Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1. Bd. (1930), S. 503, 506. 11 I m Verhältnis zum Reichstag w a r der Reichspräsident verfaßt als ein die Volkssouveränität ebenbürtig verkörpernder politischer Machtfaktor; er hatte gegenüber dem Parlament bedeutsame Kompetenzen, insbesondere die Befugnis, den Reichstag aufzulösen (Art. 25 WRV). 12 N u r i n der Frühzeit der Weimarer Republik tendierte der Reichspräsident zur Zurückhaltung i n der Ausschöpfung seiner verfassungsmäßigen Kompetenzen. 13 Siehe H. Pohl, Die Zuständigkeiten des Reichspräsidenten, i n : Anschütz/ Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, S. 482, 491. 14 Einerseits konnte der Reichspräsident, wozu die Gegenzeichnung auch eines n u r geschäftsführenden Reichskanzlers genügte, den Reichstag auf-

I. Geschichte u n d Gegenwartsprobleme der parlamentar. Demokratie

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Wirklichkeit der letzten Jahre der Weimarer Republik das parlamentarische Regierungssystem 15 zu einem Regime der Präsidialkabinette, die der Reichstag i n seiner zunehmenden Handlungsunfähigkeit nicht mehr zu kontrollieren vermochte 1®. 4. Aus den strukturellen Schwächen und Widersprüchen der Weimarer Verfassung nicht zuletzt auch i m Bereich der Zuordnung von Parlament, Regierung und Staatsoberhaupt hat das Bonner Grundgesetz bestimmte Lehren zu ziehen versucht. Dies zeigt sich namentlich — neben der Festigung der rechtsstaatlichen, repräsentativ-demokratischen und bundesstaatlichen Grundordnung — i n der neuen Konzeption einer auf Regierungsstabilität angelegten parlamentarischen Kontrolle der Exekutive. Kennzeichnend für das nunmehr geltende System ist vor allem, daß — ein Novum i n der deutschen Verfassungsgeschichte — der Regierungschef vom Parlament gewählt w i r d ; daß die übrigen Kabinettsmitglieder ohne rechtliche Beteiligung des Parlaments allein vom Regierungschef bestimmt werden; daß einzelne Bundesminister nicht durch separaten Vertrauensentzug des Parlaments zum Rücktritt gezwungen werden können; daß die Regierung nicht durch bloßes Mißtrauensvotum, sondern nur i n konstruktiver Weise durch gleichzeitige Wahl eines neuen Regierungschefs gestürzt werden kann. 5. Die gegenwärtige, nicht nur i n der Bundesrepublik Deutschland festzustellende prinzipielle Krise des parlamentarischen Regierungssystems ergibt sich aus dem historischen Wandel der staatssoziologischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen des Verhältnisses von Parlament und Regierung. I n diesem Problemzusammenhang ist zunächst von Bedeutung, daß m i t dem juristischen Untergang oder der realen Entmachtung des erblichen Königtums der ursprüngliche Hauptgrund für das Postulat parlamentarischer Regierungskontrolle weggefallen ist. Hinzu kommt, daß aufgrund des epochalen Vorgangs der Demokratisierung aller Träger staatlicher Herrschaftsmacht die seinerzeit zutreffende Entgegensetzung von Parlament und Regierung als gesonderter, balancierungsbedürftiger Gewalten i n der heutigen Verfassungswirklichkeit weitgehend hinfällig ist. Das klassische Spannungsverhältnis zwischen regierender Exekutive und kontrollierender Legislative, das einst lösen (Art. 25 WRV). Andererseits hatte der Reichstag die Möglichkeit, eine Volksabstimmung auf Absetzung des Reichspräsidenten durch qualifizierten Parlamentsbeschluß herbeizuführen (Art. 43 I I WRV). 15 Bezeichnend auch A r t . 56 S. 1 WRV, wonach der Reichskanzler die Richtlinien der P o l i t i k bestimmte u n d dafür gegenüber dem Reichstag die Verantwortung trug. 16 I n dieser Zeit (Kabinette: B r ü n i n g ; v. Papen; v. Schleicher; Hitler) entg l i t t dem Parlament auch die Gesetzgebung, die i n zunehmendem Maße v o m Reichspräsidenten k r a f t seiner Notverordnungskompetenz gem. A r t . 48 I I W R V ausgeübt wurde.

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Grundlage und Rechtfertigung des parlamentarischen Regierungsmodells war, besteht nicht mehr. I n der modernen parteienstaatlichen Demokratie haben sich statt dessen neuartige Entgegensetzungen entwickelt. Unter den heutigen Umständen demokratischen Verfassungslebens sind die eigentlichen Antipoden i m politischen Kampf nicht mehr die Regierung und das Parlament, sondern das von der Parlamentsmehrheit getragene Kabinett 1 7 einerseits und die parlamentarische Opposition andererseits. I n dieser neuen Kampfstellung aber fehlt es am Machtgleichgewicht der entgegengesetzten politischen Kräfte und damit an einer idealtypischen Bedingung wechselseitiger Balancierung und Herrschaftskontrolle. Der heutige Frontverlauf zwischen Regierung und Parlament i n Verbindung m i t der systemimmanenten Schwäche der Opposition 18 erfordert — u m des Gleichgewichts i m Ganzen und der Freiheitlichkeit des demokratischen Staatswesens w i l l e n — den stärkeren Ausbau anderer verfassungsrechtlicher Institutionen, wie sie das Bonner Grundgesetz namentlich i n den rechtsstaatlichen, grundrechtlichen und richterlichen Garantien geschaffen hat. I I . Parlament und Regierung im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes

Die konkrete Form eines parlamentarischen Regierungssystems mit den wechselseitigen Einwirkungen, Machthemmungen und Kontrollen zwischen Exekutive und Legislative w i r d durch die positive Staatsverfassung bestimmt. Wie das Bonner Grundgesetz die Zuordnung von Parlament und Regierung gestaltet hat, soll nunmehr i m Blick auf entscheidende Strukturen verdeutlicht werden. 1. Sieht man das eigentliche K r i t e r i u m des parlamentarischen Regierungssystems 19 — i m Unterschied zum demokratischen Präsidialsystem 20 — i n der verfassungsrechtlichen Einrichtung, daß außer dem Regierungs17 Dabei ist die Regierung, gerade unter den Bedingungen des modernen Gesetzgebungsstaats, praktisch gezwungen, zur Durchsetzung ihrer p o l i tischen Programme von einer verläßlichen Mehrheit des Parlaments ständig legislativ unterstützt zu werden. 18 Das herrschende Mehrheitsprinzip i m Zusammenhang m i t der typischen Fraktionsdisziplin sorgen dafür, daß die Opposition i n der Regel gegenüber den Regierungsparteien den Kürzeren zieht. Anders lagen die V e r hältnisse i n der Zeit der konstitutionellen Monarchie, als dem königlichen K a b i n e t t von F a l l zu F a l l wechselnde Mehrheiten gegenüberstanden. Aus der neuen Lage ergeben sich legitime Forderungen f ü r neue Rechte der heutigen Opposition. 19 Klassisches Beispiel ist Großbritannien, w o das Parlament k r a f t ungeschriebenen Verfassungsrechts sowohl das K a b i n e t t als ganzes, als auch jedes Kabinettsmitglied einzeln stürzen kann. 20 Besonders ausgeprägt ist dieses Konzept i n der Verfassung der USA, nach welcher der Präsident (Regierungschef) v o m V o l k gewählt w i r d , ohne dem gesetzgebenden Parlament verantwortlich zu sein.

I I . Parlament u n d Regierung i m Verfassungsgefüge des Grundgesetzes

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chef auch die einzelnen Kabinettsmitglieder vom Vertrauen des Parlaments abhängen 21 , so hat sich das Grundgesetz für eine modifizierte Weise parlamentarischer Kontrolle der Bundesregierung entschieden. Grundlegend für diese Sonderform der Wechselwirkung von Parlament und Regierung ist die konstruktive Gestaltung des Mißtrauensvotums, welches sich auf das Bundeskabinett als Gesamtheit bezieht. Nach geltendem Recht kann der Bundestag dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen (Art. 67 I GG). Diese Verfassungskonzeption w i l l es ausschließen, daß — entsprechend der von den Vätern des Grundgesetzes als warnendes Beispiel empfundenen Praxis unter der Weimarer Verfassung — eine Bundesregierung, die das Vertrauen des Parlaments verloren hat, gestürzt wird, ohne daß zugleich das Parlament die konstruktive K r a f t zur Schaffung einer anderen Bundesregierung m i t tels Wahl eines neuen Bundeskanzlers aufbringt 2 2 . 2. Wenn, wie dargelegt, die Bundesregierung nur i m Ganzen durch Neuwahl eines Bundeskanzlers gestürzt werden kann, so bedeutet diese Abschirmung der Kabinettsmitglieder gegenüber dem Bundestag freilich nicht, daß der einzelne Bundesminister nicht i n einem weiteren Sinne dem Parlament verantwortlich wäre. Zwar vermag der Bundestag nicht einen bestimmten Bundesminister durch ein Mißtrauensvotum zum Rücktritt zu zwingen. Doch kann eine — verfassungsrechtlich folgenlose — parlamentarische Mißtrauensbekundung erhebliche politische Rückwirkungen auf die Stellung des betroffenen Kabinettsmitglieds haben. I m übrigen steht es dem Bundestag rechtlich frei, den Ressortaktiviäten eines i n parlamentarische Ungnade gefallenen Bundesministers die finanzielle Grundlage zu entziehen, indem bei der Beschlußfassung über den Haushalt 2 8 der Etat des betreffenden Ministeriums abgelehnt wird. Doch ist auch i n diesem Zusammenhang daran zu erinnern, daß ange21 Diese A r t parlamentarischer Kontrolle galt unter der Weimarer V e r fassung gegenüber dem Reichskanzler u n d den Reichsministern. 22 Seit I n k r a f t t r e t e n des G G bis zum Sturz des Kabinetts Schmidt/Genscher (1982), dem das K a b i n e t t K o h l / Genscher folgte, w u r d e erst i n einem Falle versucht, eine Bundesregierung gem. A r t . 67 GG zur stürzen: der 1972 unternommene Versuch (Oppositionsführer Barzel vs. Bundeskanzler Brandt) scheiterte, unter dramatischen Umständen, m i t äußerst knappem A b s t i m mungsergebnis, vgl. dazu J. Groß, Barzels großer Anlauf, i n : F A Z v o m 26. A p r i l 1972 (Nr. 97, S. 1) u n d N. Benkiser, K e i n strahlender Sieg, i n : F A Z v o m 28. A p r i l 1972 (Nr. 99, S. 1). 23 A l l e Einnahmen u n d Ausgaben des Bundes sind i n den Haushaltsplan einzustellen. Der Haushaltsplan w i r d — f ü r ein oder mehrere Rechnungsjahre — durch Haushaltsgesetz festgestellt (Art. 110 I u n d I I GG). Z u rechtlichen u n d historischen Grundsatzfragen vgl. R. Mußgnug, Der Haushaltsplan als Gesetz, 1976.

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sichts des typischerweise fehlenden politischen Interessenwiderstreits zwischen der Bundesregierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit das Recht der Etatverweigerung i n praxi regelmäßig von der Opposition ausgeübt wird, wo es dann wegen des herrschenden Mehrheitsprinzips fast ausnahmslos ohne durchschlagende Wirkung bleibt. 3. Dem — vom Grundgesetz erschwerten — Sturz des Kabinetts durch das Parlament liegt die verfassungsrechtliche Macht des Bundestags bei der Bildung der Bundesregierung voraus. Auch hier hängt die Wahrnehmung der juristischen Zuständigkeiten des Gesamtparlaments entscheidend ab von den politischen Machtkonstellationen. Instrument der gestaltenden Einwirkung des Parlaments auf die Zusammensetzung des Kabinetts ist das Recht zur Wahl des Regierungschefs. Der Bundeskanzler w i r d auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache gewählt (Art. 63 I GG). I m Unterschied zur Weimarer Verfassungslage ist es dem Bundespräsidenten versagt, jemanden m i t der Bildung der Regierung zu beauftragen, w e i l dies der grundgesetzspezifischen Stellung des Bundestags als Kanzlerwahlorgan zuwiderliefe 24 . Doch ist der Bundespräsident rechtlich frei i n der Auswahl seines Kandidaten für das A m t des Bundeskanzlers. Freilich w i r d er klugerweise die parlamentarische Kräftekonstellation sondieren, ehe er seinen Kanzlerwahl-Vorschlag macht 25 . Nach der Ausübung des Rechts des Bundespräsidenten zum Erstvorschlag bei der Kanzlerwahl liegt die weitere Initiative beim Bundestag, sobald dieser i n die Abstimmung über den präsidentiellen Vorschlag eingetreten ist. Daß die primäre Verantwortung für die Bildung der Bundesregierung nicht dem Bundespräsidenten, sondern dem Bundestag und „dessen" Kanzler obliegt, zeigt sich auch darin, daß der Bundespräsident, der zur Ernennung des m i t absoluter Mehrheit vom Parlament gewählten Kanzlers rechtlich verpflichtet ist, ebenfalls die vom Bundeskanzler nominierten Mitglieder des Kabinetts zu ernennen hat. Nach dem Regierungssystem des Bonner Grundgesetzes bedeutet die Parlamentswahl des Regierungschefs zugleich auch die Akzeptation des vom Gewählten zu bildenden Kabinetts. Dieser Abhängigkeit des Regierungskollegiums von der parlamentarischen Vertrauensposition des Bundeskanzlers entspricht es, dem Recht des Bundespräsidenten, die Bundesminister zu ernennen und zu entlassen (Art. 64 I GG), i m wesentlichen nur formellen Charakter zuzuerkennen. 24 Bezeichnenderweise lehnte Adenauer 1949 vor seiner Wahlpräsentation durch Bundespräsident Heuss dessen Verlangen nach Vorlegung einer M i nisterliste ab; zur Berechtigimg dieser H a l t u n g vgl. H. Rein, J Z 1969, S. 574 ff. 25 Dies empfiehlt sich, u m der Gefahr einer — durchaus legalen — parlamentarischen Vereitelung des präsidentiellen Wahlvorschlags u n d den damit verbundenen Prestigeeinbußen auf Seiten des Präsidenten u n d des Präsentierten vorzubeugen.

I I . Parlament u n d Regierung i m Verfassungsgefüge des Grundgesetzes

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4. Die dem Bundestag zustehenden zentralen Befugnisse der Bildung und des Sturzes der Bundesregierung i m Wege der Wahl und A b w a h l des Bundeskanzlers (Art. 63, 67 GG) werden i m parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes flankiert von einer Reihe weiterer Kompetenzen des Parlaments. Von besonderer Bedeutung i n diesem Zusammenhang ist das dem Bundestag von der Verfassung anvertraute Recht zur Gesetzgebung. Durch die Prärogative der förmlichen Rechtsetzung gewinnt das Parlament maßgeblichen Einfluß auf die gesamte Politik des Kabinetts nach innen und außen. K r a f t des rechtsstaatlichen Vorrangs des Gesetzes ist die Bundesregierung als Spitze der vollziehenden Gewalt an alle Rechtsnormen gebunden, die der Bundestag gemäß der Verfassung beschlossen hat 2 6 . Dieser Primat der Volksvertretung — i n Verbindung m i t dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, wonach die Exekutive nur aufgrund eines Gesetzes i n wesentliche Rechtspositionen des Bürgers eingreifen darf — hat zu einer nachhaltigen Parlamentarisierung der heutigen Staatsleitung geführt. Die gouvernementale Macht des Bundestags w i r d freilich erheblich relativiert durch die bereits dargelegte systemtypische Gleichgerichtetheit von stabiler Regierung und regierungstragender Parlamentsmehrheit sowie durch das Recht der Gesetzesinitiative (Art. 76 I GG), welches i n praxi hauptsächlich durch die Bundesregierung ausgeübt wird. 5. Kennzeichnend für das vom Grundgesetz verfaßte parlamentarische Regierungssystem sind ferner jene Elektionsrechte, deren Ausübung dem Bundestag bedeutenden Einfluß auf das personelle Profil anderer Staatsorgane sichert. Wichtige Wahlkompetenzen des Parlaments sind zum Beispiel die Zuständigkeiten des Bundestags bei der Berufung des Bundespräsidenten, der Bundesverfassungsrichter und der Bundesrichter. Wahlorgan für den Bundespräsidenten ist die Bundesversammlung, die zur Hälfte aus den Mitgliedern des Bundestags besteht (Art. 54 I, I I I GG). Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts — es besteht aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern — werden je zur Hälfte vom 28

Die B i n d u n g der Bundesregierung durch die Gesetzesbeschlüsse des B u n destags zeigt sich nicht zuletzt beim „nervus r e r u m " aller politischen A k t i v i t ä t : Der Haushaltsplan, i n den alle Einnahmen u n d Ausgaben des Bundes einzustellen sind, ist i n Gesetzesform festzustellen (Art. 110 I I GG). Auch die Aufnahme von K r e d i t e n sowie die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben führen können, bedürfen einer hinreichend bestimmten Ermächtigung durch Bundesgesetz (Art. 115 I GG). Das Erfordernis gesetzlicher Ermächtigung oder Genehmigung von Maßnahmen der E x e k u t i v e findet sich ferner i n einer Reihe spezieller V e r fassungsbereiche. So ist z.B. f ü r das Gebiet der Außenpolitik die Bestimm u n g wichtig, daß Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung oder der M i t w i r k u n g der f ü r die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften i n F o r m eines Bundesgesetzes bedürfen (Art. 59 I I ) .

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Bundestag gewählt (Art. 94 I GG). Auch an der Wahl der Bundesrichter, d. h. der Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes (Art. 95 I GG), ist der Bundestag i n besonderem Maße beteiligt. Über die Berufung der Bundesrichter entscheidet der für das jeweilige Sachgebiet zuständige Bundesminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuß, der aus den für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Ministern der Länder und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern 2 7 besteht, die vom Bundestag gewählt werden (Art. 95 I I GG). 6. Wichtig für die geltende Regierungsform sind schließlich auch die speziellen Kontrollbefugnisse des Gesamtparlaments oder der Opposition. So besteht etwa, i m Zusammenhang m i t dem Interpellationsrecht 28 , die Zitierbefugnis des Parlaments. Danach können der Bundestag und seine Ausschüsse die Anwesenheit jedes Mitglieds der Bundesregierung verlangen (Art. 43 I GG). Die geschuldete Präsenz umfaßt sachnotwendig die Pflicht des zitierten Kabinettsmitglieds zur angemessenen Beantwortung zulässiger Fragen. Besonders interessant für die Opposition ist das Kontrollinstrument des Untersuchungsausschusses. Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, der die erforderlichen Beweise erhebt (Art. 441 GG). Da sich indessen i n der Zusammensetzung von Untersuchungsausschüssen die jeweiligen Parlamentsmehrheiten spiegeln und da für die entscheidenden Abstimmungen das demokratische Mehrheitsprinzip gilt, kann dieses i n früheren Epochen sehr w i r k same Enquête-Recht 29 des Parlaments gegenüber der Regierung unter den heutigen parteienstaatlichen Gegebenheiten nur noch eine recht begrenzte Macht entfalten 30 .

27 Die parlamentarischen Wahlmänner i m Bundesrichter-Wahlausschuß sind i n der Regel (wenn auch nicht verfassungsnotwendig) Mitglieder des Bundestages. 28 Z u m Verfahren vgl. §§ 100 ff. GO-BTag. — Über Einzelfragen der I n t e r pellation siehe G. Witte-Wegmann, Recht u n d K o n t r o l l f u n k t i o n der Großen, K l e i n e n u n d Mündlichen Anfragen i m Deutschen Bundestag, 1972. 29 Hiervon zu unterscheiden sind die „Enquête-Kommissionen", die der Bundestag, ggf. unter Heranziehung außerparlamentarischer Experten, zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche u n d bedeutsame Sachkomplexe einsetzen k a n n (§ 56 GO-BTag), vgl. etwa den umfangreichen Schlußbericht der Enquête-Kommission Verfassungsreform, B T a g - D r u c k sache 7/5924 (9.12. 76). 80 Z u grundsätzlichen Fragen der parlamentarischen Opposition vgl. H. Peters, Die Opposition i n der parlamentarischen Demokratie, ÖZöR 1959/60, S. 424 ff.; H. P. Scheider, Die parlamentarische Opposition i m Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1974.

I. Der Bundespräsident § 10

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Verfassungsgestalt

u n d Kompetenzen oberster Staatsorgane

I m folgenden geht es u m die Klärung staatsrechtlicher Hauptmerkmale zentraler Verfassungsorgane 31 i m Gefüge des Grundgesetzes. I . Der Bundespräsident L i t e r a t u r : E. Friesenhahn, Z u m Prüfungsrecht des Bundespräsidenten, i n : Festschrift f ü r G. Leibholz, 2. Bd., 1966, S. 679 ff.; K . Loewenstein, Der Staatspräsident, AöR 75 (1949), S. 129 ff.; U. Scheuner, Das A m t des Bundespräsidenten als Aufgabe verfassungsrechtlicher Gestaltung, 1966; R. Weber-Fas, Z u r staatsrechtlichen Stellung des Bundespräsidenten, i n : Festschrift für K . Duden, 1977, S. 685 ff.

A n der Spitze der vom Grundgesetz verfaßten Republik steht der Bundespräsident, wenngleich seine Rolle als Staatsoberhaupt nicht ausdrücklich bestimmt ist. I m Unterschied zum Reichspräsidenten der Weimarer Verfassung ist der Bundespräsident freilich nicht Inhaber machtvoller verfassungsrechtlicher Kompetenzen 32 . Die Schöpfer des Bonner Grundgesetzes haben das A m t des Bundespräsidenten bewußt herausgerückt aus dem neukonstituierten Entscheidungszentrum der Politik, dessen Schwerpunkt nunmehr i m Raum von Regierung und Parlament liegt 3 3 . Das nach herkömmlichem Protokoll vornehmste Staatsorgan der Bundesrepublik ist vielmehr, sieht man von verfassungsrechtlich und politisch seltenen Ausnahmetatbeständen ab, grundsätzlich verwiesen auf repräsentative, integrative, symbolische und formelle Aufgaben. Diese Funktionen, deren Bedeutung für Staat und Gesellschaft nicht zu unterschätzen sind, bieten einer überparteilichen Persönlichkeit besondere Entfaltungsmöglichkeiten gerade auch i m geistigen Raum der Nation. 1. Die i m Vergleich zur Weimarer Verfassungslage außerordentlich reduzierte Machtposition des Bundespräsidenten w i r d besonders deutlich i m Blick auf jene Kompetenzen des Reichspräsidenten, die das Bonner Grundgesetz dem gänzlich neukonzipierten A m t des Bundespräsi31 Verfassungsorgane i. e. S. sind staatstypusprägende oberste I n s t i t u t i o nen, deren Status u n d wesentlicher Kompetenzbereich i n der Verfassung selbst verankert sind; ihre innere S t r u k t u r bestimmen sie autonom. Nicht jedes oberste Staatsorgan (z. B. ein oberstes Bundesgericht oder die Bundesbank) ist zugleich ein Verfassungsorgan i. e. S. 32 Auch aus den Verfassungsberatungen ergibt sich, daß k a u m sonstwo i m G G der W i l l e zur A b k e h r von der Weimarer Konzeption so ausgeprägt ist w i e bei der Neukonzeption des Bundespräsidenten als Verfassungsorgan. 33 V o n einer „betonten Zurücksetzung" des Präsidentenamtes i m GG spricht 17. Scheuner, Die Lage des parlamentarischen Regierungssystems i n der Bundesrepublik, D Ö V 1974, S. 433.

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denten ersatzlos entzogen hat. Weggefallen ist vor allem die umfassende Diktaturgewalt und Notverordnungskompetenz des Staatspräsidenten 34 . Fortgefallen ist ferner das frühere Recht des Staatsoberhaupts zur A u f lösung des Parlaments. Auch die militärische Befehls- und Kommandogewalt, die dem Reichspräsidenten allein zustand, ist dem Bundespräsidenten genommen 35 . Des weiteren sind die Kompetenzen der polizeilichen Bundeshilfe und der Bundesexekution (Art. 37, 91 GG) nicht dem Bundespräsidenten, sondern der Bundesregierung vom Grundgesetz übertragen worden 3 6 . Schließlich ist die oberste Organisationsgewalt, die der Reichspräsident innehatte 37 , nicht auf den Bundespräsidenten, sondern auf Bundeskanzler und Regierung übergegangen. 2. Nicht nur bei den gänzlich weggefallenen Kompetenzen des früheren Staatsoberhaupts, sondern auch i n anderen Bereichen, die vom Grundgesetz umgestaltet worden sind, begegnen w i r einer außerordentlichen Minderung der Befugnisse des Bundespräsidenten. Dies gilt insbesondere für sein Verhältnis zu Parlament und Regierung. Während der Reichspräsident nach freiem politischen Ermessen das Parlament auflösen konnte 3 8 , ist der Bundespräsident zur Auflösung des Bundestags nur i n zwei eng begrenzten Situationen berechtigt. Bei der einen Alternative setzt die présidentielle Befugnis zur Parlamentsauflösung voraus, daß die dem Bundestag zustehende Bundeskanzlerwahl schließlich nur zu einer relativen Mehrheit führte. I n diesem Falle hat der Bundespräsident die Option, entweder den nicht m i t absoluter Mehrheit gewählten Kanzler zu ernennen oder aber den Bundestag aufzulösen (Art. 63 I V GG). Auch die andere Alternative des Parlamentsauflösungsrechts ist an erschwerte Erfordernisse gebunden. Das Grund34 K r a f t der sog. D i k t a t u r g e w a l t nach A r t . 48 I I W R V konnte der Reichspräsident, w e n n i m Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit u n d Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wurde, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit u n d Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls m i t Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Z u diesem Zwecke durfte er sogar Grundrechte vorübergehend außer K r a f t setzen. 85 Der Oberbefehl über die Streitkräfte w u r d e v o m GG, abweichend auch von der vorweimarischen Verfassungstradition, auf das K a b i n e t t übertragen: i m Normalfall ist der Verteidigungsminister, i m Verteidigungsfall der B u n deskanzler zuständig (Art. 65 a, 115 b GG). 86 Demgegenüber w a r der Reichspräsident selbständig zur Reichsexekution m i t H i l f e der bewaffneten Macht befugt. 87 Entsprechend der einschlägigen Kompetenz des Kaisers unter der Bismarckschen Verfassung lag beim Reichspräsidenten der W R V die oberste Organisationsgewalt, vermöge deren er die reichseigenen Behörden errichten, ändern u n d aufheben konnte (Art. 179 I W R V i. V. m. § 4 des Übergangsgesetzes v. 4.3.1919; § 8 GO-ReichsReg). 88 Siehe A r t . 25 W R V ; v o n diesem Recht, das traditionsgemäß dem Träger der obersten Regierungsgewalt zustand, machte der Reichspräsident m e h r fach Gebrauch, vgl. G. Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reiches, 14. A u f l . (1933), A r t . 25, A n m . 1.

I. Der Bundespräsident

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gesetz verlangt hier, daß der Bundeskanzler einen entsprechenden A u f lösungsvorschlag macht, nachdem sein Antrag, i h m das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags gefunden hat. Doch selbst i n diesem Fall erlischt das Parlamentsauflösungsrecht des Präsidenten, sobald der Bundestag m i t der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt (Art. 68 I GG). 3. Sehr schwach i m Vergleich zum Weimarer Reichspräsidenten ist die verfassungsrechtliche Position des Bundespräsidenten auch gegenüber der Regierung, nachdem unter dem Grundgesetz die primäre Verantwortung für die Bildung und den Bestand des Kabinetts nicht beim Staatsoberhaupt, sondern beim Parlament liegt. Von seltenen Ausnahmefällen abgesehen39 beschränkt sich der Einfluß des Bundespräsidenten auf seine Befugnis gemäß A r t . 63 I GG. Nach dieser Bestimmung setzt die Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag einen Vorschlag des Bundespräsidenten voraus 40 . I n der Auswahl seines Kandidaten ist der Bundespräsident rechtlich frei 4 1 . Indessen erscheint aus Gründen der Staatsklugheit eine umsichtige Ausübung der präsidentiellen Befugnis zum Erstvorschlag auch deshalb geboten, w e i l die weitere Initiative bei der Kanzlerkreation auf den Bundestag übergeht, nachdem dieser i n die Abstimmung über den Vorschlag des Bundespräsidenten eingetreten ist. 4. Der vom Verfassungsgeber — i m Einklang m i t dem neukonzipierten parlamentarischen Regierungssystem — bewußt geschwächten Machtposition des Staatsoberhaupts begegnen w i r bereits beim Verfahren der Amtsberufung des Bundespräsidenten und bei der Begrenzung seiner Amtszeit. Deutlich verschieden vom Weimarer Reichspräsidenten — er wurde vom Volk unmittelbar gewählt für eine Regierungsperiode von sieben Jahren, und seine Wiederwahl war zeitlich unbeschränkt zu30 Es sind dies namentlich die Fälle der — zu Neuwahlen u n d m i t dem Zusammentritt des neugewählten Bundestags zum Ende der Amtszeit der Regierung führenden — Parlamentsauflösung einerseits u n d der Kanzlerernennung nach A r t . 63 I V GG andererseits. Siehe dazu auch Fn. 152 (Vertrauensfrage). 40 Ob dem präsidentiellen Vorschlagsrecht auch eine Pflicht zur Präsentation eines Kanzleramtsbewerbers entspricht (vgl. dazu H. Schneider, Die Regierungsbildung nach dem Bonner Grundgesetz, N J W 1953, S. 1330 ff.), mag hier dahinstehen. Jedenfalls ist der Bundespräsident nach seiner Stell u n g i m parlamentarischen Regierungssystem des GG nicht i n der Lage, durch Unterlassen eines Wahlvorschlags die K a n z l e r w a h l des Parlaments zu verhindern. Notfalls wäre der Bundestag, nach A b l a u f einer angemessenen Frist, auch ohne präsidentiellen Wahlvorschlag berechtigt, einen B u n deskanzler zu wählen. 41 Insbesondere besteht f ü r den Bundespräsidenten keine Verfassungspflicht, den Führer der stärksten Partei i m Bundestag zur Parlamentswahl als Bundeskanzler vorzuschlagen.

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lässig — verfügt der Bundespräsident lediglich über eine mittelbare demokratische Legitimation; seine Amtszeit ist auf fünf Jahre herabgesetzt und anschließende Wiederwahl ist nur einmal zulässig (Art. 54 GG). Die Entscheidung des Grundgesetzes, anstelle einer plebiszitären Wahl den Bundespräsidenten durch ein föderal erweitertes bundesparlamentarisches Wahlmännergremium i n Gestalt der Bundesversammlung berufen zu lassen, war das Resultat eingehender Verfassungsberatungen 42 . Hauptgrund der Ablehnung einer Volkswahl des Bundespräsidenten war der Gedanke der Verfassungsväter, auch insoweit dem neuen Staatsoberhaupt nicht die starke Stellung zu geben, die dem Reichspräsidenten 43 eigen war. I n der Bundesversammlung — gebildet aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Parlamenten der Länder nach Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden (Art. 54 I I I GG) — schuf der Parlamentarische Rat, abweichend von dem Herrenchiemseer Entwurf 4 4 , eigens für die Wahl des Bundespräsidenten ein neuartiges Verfassungsorgan. 5. Ohne nennenswertes Gewicht sind die Rechte des Bundespräsidenten bei der i h m formell zustehenden Ernennung oberster Amtsträger des Staates. Auch i n diesem Bereich zeigt sich seine reduzierte Machtposition i m Vergleich zum früheren Reichspräsidenten. Jenem Staatsoberhaupt wurde nicht nur die verfassungsmäßige Befugnis zur Partizipation an der dem Reichskanzler obliegenden Bestimmung der „Richtlinien der Politik" zuerkannt, sondern der Reichspräsident pflegte i n der Verfassungspraxis bereits den Auftrag zur Kabinettsbildung an bestimmte Direktiven für die personelle Zusammensetzung der Regierung zu binden. Demgegenüber beschränkt sich die M i t w i r k u n g des Bundespräsidenten an der Berufung der Inhaber höchster Staatsämter i n Exekutive und Judikative hauptsächlich auf formelle Befugnisse. Den vom Bundestag m i t absoluter Mehrheit gewählten Bundeskanzler muß der Bundespräsident ernennen (Art. 63 I I — I V GG). Dem entspricht, m i t Rücksicht auf das parlamentarische Regierungssystem 42

Vgl. G. Anders, Z u r W a h l des Bundespräsidenten, D Ö V 1970, S. 253 ff. Der Reichspräsident der Weimarer Republik sollte nach dem Wunsch der Nationalversammlung nicht zuletzt k r a f t seiner siebenjährigen, durch Wiederwahl unbegrenzt verlängerbaren Amtsperiode eine besonders stabile u n d konstante K r a f t i m Verfassungsgefüge sein. Durch eine kürzere A m t s zeit u n d eine bloß mittelbar-demokratische W a h l hätte der Reichspräsident, so nahm m a n an, „ v i e l von seiner Glorie" verloren, vgl. F. Stier-Somlo, Deutsches Reichs- u n d Landesstaatsrecht, 1. Bd., 2. A u f l . 1930, S. 74. 44 Dort w a r W a h l des Bundespräsidenten durch übereinstimmenden Beschluß des Bundestages u n d des Bundesrates vorgesehen. Gegen diesen W a h l modus sprach nach Auffassung des Parlamentarischen Rates die erhebliche zahlenmäßige Differenz dieser beiden Verfassungsorgane u n d die unterschiedlichen Abstimmungsgrundsätze i n beiden Körperschaften. 43

I. Der Bundespräsident

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des Grundgesetzes, die Pflicht des Bundespräsidenten, die Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers zu ernennen und zu entlassen (Art. 64 I GG) 45 . Es wäre schwerlich verfassungskonsistent, dem Bundeskanzler, der allein die Richtlinien der Politik bestimmt und der allein dem Mißtrauensvotum des Parlaments ausgesetzt ist, rechtlich nicht zuzubilligen, daß er allein befugt ist, die Ministerämter i n seinem Kabinett mit Personen seines Vertrauens zu besetzen. Die Frage, ob der Bundespräsident ein eigenes Entscheidungsermessen hat oder ob er nur zur Kontrolle der förmlichen Einhaltung von Amtsberufungsvorschriften berechtigt ist, stellt sich auch, freilich i n differenzierungsbedürftiger Weise, bei der Ernennung oberster Richter des Bundes sowie sonstiger Richter, Beamten und Soldaten. Letztlich geht es darum, ob der Bundespräsident i m Falle einer Kqntroverse verfassungsrechtlich verpflichtet ist, den Ernennungsvorschlägen der juristisch zuständigen und politisch verantwortlichen Stellen zu folgen 46 . Für die Lösung maßgebend müssen die sachlichen Erfordernisse des geltenden parlamentarischen Regierungssystems sein. Nach dem Grundgesetz ist die politische Entscheidungsmacht beim demokratisch unmittelbar legitimierten Parlament und i m Bereich der parlamentarisch verantwortlichen Regierung konzentriert 4 7 . Die präsidentiellen Möglichkeiten 48 personalpolitischer Mitregierung finden ihre Grenze i m Normengefüge des grundgesetzlichen Parlamentarismus, der eine besondere Ausprägung auch i m Institut der Gegenzeichnung gefunden hat 4 9 . Wenn nach A r t . 58 GG alle Akte des Bundespräsidenten — m i t Ausnahme der dort abschließend genannten, hier nicht einschlägigen Fälle — zu ihrer Gültig45

Keine rechtliche Befugnis, sondern n u r eine von der jeweiligen p o l i t i schen Konstellation abhängige Chance, einen bestimmten Ministerkandidaten abzulehnen, wurde v o m Bundespräsidenten gelegentlich wahrgenommen. So verhinderte Präsident Heuss beispielsweise, daß M d B Dehler i m zweiten K a b i n e t t Adenauer wieder Justizminister wurde, vgl. Th. Eschenburg, Z u r politischen Praxis i n der Bundesrepublik, 1966, S. 229, siehe aber auch E. Menzel, D Ö V 1965, S. 581 ff. 46 I n diesem Zusammenhang sind gewisse Clichévorstellungen zu meiden, welche die verfassungsrechtliche Diskussion belasten. Es handelt sich hier keineswegs darum, ob, w i e eine stereotype Behauptung lautet, der Bundespräsident zum bloßen Staatsnotar oder obersten Vollzugsbeamten degradiert u n d seiner präsidialen Würde entkleidet werde. 47 Vgl. auch H. Maurer, H a t der Bundespräsident ein politisches Mitspracherecht?, D Ö V 1966, S. 665, 672. 48 Daß die présidentielle Praxis i m Rahmen der Kompetenznormen der Verfassung j e nach Persönlichkeit, Staatsklugheit u n d A m t s s t i l des Staatsoberhaupts die verschiedensten Gestaltungen zuläßt, versteht sich. Nichts einzuwenden ist namentlich gegen gezielte Fühlungnahmen des BundesPräsidenten m i t dem Bundeskanzler, zumal dieser i h n durch Aktenvorlage, Berichte u n d persönlichen Vortrag zu unterrichten hat (§ 5 GO-BReg.). 49 Über einschlägige verfassungsgeschichtliche u n d rechtssystematische Grundsatzfragen vgl. R. Herzog, Entscheidung u n d Gegenzeichnung, i n : Festschrift f ü r Gebhard Müller, 1970, S. 117 ff.

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keit der Gegenzeichnung (das heißt: der Billigung des Bundeskanzlers oder des Ressortministers) bedürfen, so zeigt sich gerade an dieser Stelle die nicht m i t Subordination zu verwechselnde Bindung des Präsidenten 50 an die Politik der Regierung. Es entspricht dem Sinn und Zweck des parlamentarischen Verfassungssystems, wie es das Grundgesetz gewollt hat, daß der Bundespräsident als parlamentarisch verantwortungsfreies Staatsorgan nicht Träger einer selbständigen politischen Entscheidungsgewalt ist. M i t diesen grundsätzlichen Feststellungen steht es i n Einklang, daß bei der Ernennung von Bundesverfassungsrichtern für eine eigene, über die prozedurale Kontrolle hinausgehende Entscheidung des Bundespräsidenten kein Raum ist. Die présidentielle Ernennung 5 1 vollzieht lediglich die durch A r t . 94 I GG vorgeschriebene Richterwahl 5 2 , die ausschließlich i n die Entscheidungskompetenz von Bundestag und Bundesrat fällt. Ebensowenig wie bei der Berufung von Bundesverfassungsrichtern hat der Bundespräsident bei der i h m obliegenden Ernennung der Bundesrichter, d. h. der Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes (Art. 95 I GG), ein eigenes Entscheidungsrecht etwa des Inhalts, daß er einen zur Ernennung vorgeschlagenen, vorschriftsmäßig gewählten Bundesrichter m i t der Begründung mangelnder persönlicher oder fachlicher Eignung definitiv zurückweisen dürfte. Da für die Kreation dieser höchstrichterlichen Amtsträger eigens ein verfassungsgeschichtlich neuartiger — aus den Ressortministern der Bundesländer und einer gleichen Anzahl vom Bundestag gewählter Elektoren zusammengesetzter — Wahlausschuß konstituiert worden ist, der gemeinsam mit dem zuständigen Ressortminister des Bundes über die Berufung der Bundesrichter entscheidet (Art. 95 I I GG), wäre es verfassungssystemwidrig, dem Bundespräsidenten mehr als ein formelles Ernennungsrecht zuzuerkennen 53 . Die Ablehnung eines Ernennungsermessens des Bundespräsidenten w i r d bei Bundesverfassungsrichtern und Bundesrichtern durch die i n diesen Fällen vom Grundgesetz vorgesehenen, bundesparlamentarisch und bundesstaatlich strukturierten Wahlverfahren besonders unter50 Z w a r bedurfte auch der Reichspräsident f ü r seine Entscheidungen der Gegenzeichnung (Art. 50 WRV), doch w a r er verfassungsrechtlich i n der Lage, sich eine verweigerte Kontrasignatur notfalls durch Bestellung eines M i n d e r heitsministeriums zu verschaffen. 51 Gemäß § 10 B V e r f G G ernennt der Bundespräsident die Gewählten. 52 Näher geregelt i n §§ 5—9 BVerfGG. 58 Eine andere Frage ist es, ob nach erfolgter Bundesrichterwahl der B u n despräsident den f ü r den Ernennungsvorschlag zuständigen Bundesminister umzustimmen vermag oder ob der Präsident, w i e ζ. B. i m Jahre 1965 geschehen, durch schlichtes „Liegenlassen" des Ernennungsvorgangs, bei gleichzeitiger Diskussion der Angelegenheit i n der Presse, schließlich die Resignation des gewählten u n d designierten, aber noch nicht ernannten Juristen erreicht.

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mauert. Selbst ohne diese qualifizierten Ausleseprozeduren kann i m Ergebnis nichts anderes gelten für die verfassungsrechtliche Bestimmung der präsidentiellen Befugnis zur Ernennung der sonstigen Richter sowie der Beamten, Offiziere und Unteroffiziere (Art. 60 I GG). Auch hier sprechen vor allem die verfassungsrechtlichen Grundsätze des parlamentarischen Regierungssystems für eine Konzentration der personalpolitischen Sachentscheidungen bei dem von der Volksvertretung kontrollierten Kabinett. 6. Aus den bisherigen Darlegungen ergibt sich das Verfassungsbild eines Bundespräsidentenamtes, dessen kompetenzrechtliche Schwäche i m Vergleich zur Machtfülle des Weimarer Reichspräsidenten deutlich hervortritt. Die von den Vätern des Grundgesetzes gewollte relative Machtlosigkeit des Bundespräsidenten gegenüber Parlament und Regierung sowie sein fehlender Einfluß auf die Personalpolitik i m Bereich der Rechtsprechung und der Exekutive 5 4 finden ihre regierungssystemkonforme Ergänzung i n den politisch kaum ins Gewicht fallenden Befugnissen des Bundespräsidenten auf dem Gebiet der auswärtigen Beziehungen. Abgesehen von dem grundgesetzlichen Erfordernis der Gegenzeichnung 55 fast aller politisch relevanten Willensäußerungen des Bundespräsidenten (Art. 58 GG) ist zu beachten, daß nach geltendem Verfassungsrecht die selbständige Führung der Außenpolitik dem verantwortlichen Bundesminister i m Rahmen der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers obliegt (Art. 65 GG). Findet die — ihren eigenen Gesetzen folgende und der Natur der Sache nach einer laufenden parlamentarischen Diskussion und Kontrolle kaum zugängliche — Außen54 Der Reichspräsident hatte auf dem Gebiet der exekutiven Personalp o l i t i k eine rechtlich u n d faktisch außerordentlich starke Stellung. Wenn die Verfassung i h n befugte, die Reichsbeamten u n d Offiziere zu ernennen u n d zu entlassen (Art. 46 WRV), so bedeutete dies nicht bloß die formelle V o l l ziehung von Personalentscheidungen der Reichsregierung. Vielmehr konnte der Reichspräsident, hier w i e auch bei sonstigen verfassungsrechtlichen Kompetenzen, j e nach persönlichem N a t u r e l l u n d politischem Ermessen, „ebenso unumschränkt seines Amtes w a l t e n w i e ein monarchisches Staatshaupt" (J. Hatschek, Deutsches u n d Preußisches Staatsrecht, 1. Bd., 2. A u f l . 1930, S. 627). Insbesondere gab das damalige Erfordernis der Gegenzeichnung dem gegenzeichnungsberechtigten Regierungsmitglied keinen positiven E i n fluß auf das Handeln des Präsidenten, der an die personalpolitischen V o r schläge „seines" Reichskanzlers nicht gebunden, vielmehr v ö l l i g frei w a r zu eigener Prüfung einschließlich der Verwerfung. Besonders bei der Berufung leitender Diplomaten haben die Präsidenten Ebert u n d Hindenburg ihren maßgebenden Einfluß zu wahren gewußt. 55 Die Gegenzeichnung ist eine eigentümliche Hervorbringung des konstitutionell-monarchischen Staatsrechts. Sie diente einer Harmonisierung der Vorstellung von der Unantastbarkeit des Königs m i t der rechtsstaatlichen Forderung nach umfassender Verantwortlichkeit der Staatsgewalt. Seinerzeit w u r d e die Gegenzeichnung gefeiert als „eine der schönsten Entdeckungen des menschlichen Verstandes i n dem Gebiet der Staatskunst" (Κ . S. Zachariä, Vierzig Bücher v o m Staate, I I , 1820, S. 78).

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politik des Kabinetts nicht die Billigung des Bundestags, so bleibt als ultima ratio nur der Sturz des Bundeskanzlers durch konstruktives Mißtrauensvotum des Bundestags. Zwar vertritt der Bundespräsident den Bund völkerrechtlich und schließt i m Namen der Bundesrepublik die Verträge m i t auswärtigen Staaten (Art. 59 I GG). Doch ist diese Repräsentation des Staates auf die formelle Seite des Völkerrechtsverkehrs beschränkt. Die diplomatischen Sachentscheidungen der Außenpolitik dagegen sind vom Grundgesetz der Bundesregierung zugewiesen, die ihrerseits unter den Voraussetzungen des A r t . 59 I I GG an die M i t w i r kung der gesetzgebenden Körperschaften gebunden ist5®. 7. Z u klären bleibt noch die umstrittene Stellung des Bundespräsidenten i m Verfahren der Gesetzgebung. Auszugehen ist von der Verfassungsnorm, daß die nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und i m Bundesgesetzblatt verkündet werden (Art. 82 I GG). Die hier auftauchende Frage eines verfassungsjuristischen Prüfungsrechts des Bundespräsidenten bildet seit Bestehen der Bundesrepublik einen Brennpunkt immer wieder aufflammender Kontroversen i n Staatspraxis und Rechtswissenschaft. Wenn die gegenwärtig wohl noch nicht überwundene Lehre ein materielles Prüfungsrecht i n dem Sinne bejaht, daß der Bundespräsident m i t Vetowirkung befugt sei, einen Gesetzesbeschluß des Parlaments auf seine inhaltliche Vereinbarkeit mit der Verfassung zu überprüfen, so dürfte diese Auffassung, die aus dem Text und inneren System des Grundgesetzes kaum zu begründen ist, bestimmten konstitutionell-monarchischen Vorstellungen allzusehr verhaftet sein. Ein kurzer verfassungshistorischer Rückblick mag der Erhellung dienen. Die staatsrechtliche Rolle des Bismarckschen Kaisers und des Weimarer Reichspräsidenten unterschied sich i n bezug auf Entstehen und Bestand des Gesetzes grundlegend von der einschlägigen Funktion des Staatsoberhaupts i n der vom Grundgesetz verfaßten parlamentarischen Demokratie. Wenngleich jenen Staatsspitzen das Zustimmungserfordernis des früheren Königs als Bedingung gültiger Gesetzgebung 57 nicht 58 Z u den i n A r t . 59 I I GG verwendeten Begriffen „Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen" vgl. W. Rudolf, Völkerrecht u n d deutsches Recht, 1967, S. 192 ff. 57 I m konstitutionellen Staat stand die Gesetzgebung dem Monarchen gemeinsam m i t der Volksvertretung zu. Typisch f ü r den legislativen A n t e i l des Königs ist eine Bestimmung w i e A r t . 62 I der Verfassungsurkunde f ü r den Preußischen Staat v o n 1850, w o es heißt: „Die gesetzgebende Gewalt w i r d gemeinschaftlich durch den K ö n i g u n d durch zwei K a m m e r n ausgeübt. Die Übereinstimmung des Königs und beider K a m m e r n ist zu jedem Gesetz erforderlich".

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mehr vorbehalten war, so hatten sie doch i m Gesamtgefüge der Verfassung eine Position, die jedenfalls das materielle Prüfungsrecht beim Gesetzgebungsverfahren mitumschloß. Unter den staatsrechtlichen Gegebenheiten des konstitutionellen Systems war die dem Staatsoberhaupt obliegende Ausfertigung und Verkündung der Gesetze nichts Geringeres als die maßgebliche und unanfechtbare Feststellung der Verfassungsmäßigkeit der gesetzten Rechtsnorm. Wenn daher der Kaiser ein Reichsgesetz promulgierte, so war damit zugleich i n „rechtswirksamer Weise konstatiert, daß das Gesetz verfassungsmäßig zustande gekommen ist", womit sich „die Frage nach dem sogenannten richterlichen Prüfungsrecht der Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze von selbst beantwortete" 5 8 . Dem hier zum Ausdruck kommenden dialektischen Zusammenhang zwischen richterlichem 59 und präsidentiellem Prüfungsrecht begegnen w i r später auch unter der Weimarer Reichsverfassung, deren Interpreten überwiegend ein spezifisches Prüfungsrecht des Richters verneinten 60 , zumal j a der Reichspräsident die Verfassungsmäßigkeit der von i h m zu verkündenden Gesetze zu kontrollieren habe 61 . Die dem Reichspräsidenten zuerkannte Funktion des „Hüters der Verfassung" 62 war freilich substantiell gebunden an ein höchst eigengewichtiges Präsidentenamt m i t machtvollen Kompetenzen gegenüber Parlament und Regierung, m i t umfassender Diktaturgewalt und mit einer dem Reichstag ebenbürtigen demokratischen Legitimation. Fundamental anders ist die Verfassungslage unter dem Bonner Grundgesetz. Ein materielles Prüfungsrecht i n dem oben dargelegten Sinn ist dem Bundespräsidenten weder ausdrücklich zugeteilt noch erscheint es einleuchtend, eine so gewichtige Kompetenz i m Wege der Verfassungsauslegung zu konstruieren. Eine derartige Interpretation findet i m Text und System des Grundgesetzes unter Berücksichtigung des Gesamtgefüges der neugeschaffenen Verfassungsinstitutionen und Staatsorgane keine hinreichende Stütze 63 . Der Wortlaut des haupteinschlägigen A r t . 82 I GG, demzufolge die nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustandegekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und i m Bundesgesetzblatt ver58

P. Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, 5. Aufl., 2. Bd., S. 44 f. Dazu auch verfassungsvergleichend H. Spanner, Die richterliche P r ü fung v o n Gesetzen u n d Verordnungen, Wien, 1951. 60 So insbesondere G. Anschütz, der andererseits das materielle Prüfungsrecht des Reichspräsidenten bejahte, vgl. ders., Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl., 1933, A r t . 70, A n m . 3 u n d 4. 61 I n diesem Sinne ausdrücklich auch R. Thoma, AöR 43 (1922), S. 267. 62 Siehe dazu die gleichnamige Schrift von Carl Schmitt, 1931 / Neudruck 1969. 63 I m Ergebnis w i e hier insbesondere E. Friesenhahn, Z u m Prüfungsrecht des Bundespräsidenten, i n : Festschrift f ü r G. Leibholz, 2. Bd., 1966, S. 679 ff. 59

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kündet werden, bietet bei unbefangener Lektüre keine Grundlage für ein mehr als nur formelles Prüfungsrecht des Staatsoberhaupts. „Zustande kommt" gemäß A r t . 78 GG ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz, wenn der Bundesrat zustimmt, den Antrag gemäß A r t . 77 I I GG nicht stellt, innerhalb der Frist des A r t . 77 I I I GG keinen Einspruch einlegt oder i h n zurücknimmt oder wenn der Einspruch vom Bundestag überstimmt wird. Die aus dem Zusammenhang der A r t . 82 I und 78 GG folgende grundsätzliche Verfassungspflicht des Bundespräsidenten, ein Gesetz zu verkünden, das nach den grundgesetzlichen Verfahrensvorschriften vom Bundestag beschlossen ist und bei dem die förmlichen Kriterien der legislativen M i t w i r k u n g des Bundesrats erfüllt sind, erfährt weder durch andere grundgesetzliche Normen noch durch ungeschriebene Verfassungsgrundsätze eine entscheidende Veränderung. Ein Recht zur materiellen Verfassungsmäßigkeitsprüfung kann insbesondere nicht, wie gelegentlich behauptet wird, aus dem Amtseid des Bundespräsidenten abgeleitet werden. Mag auch der Präsident bei seinem Amtsantritt vor den versammelten Mitgliedern des Bundestags und Bundesrats schwören, daß er das Grundgesetz wahren und verteidigen werde (Art. 56 GG), so werden doch durch diesen Eid nur bestehende Verfassungspflichten feierlich bekräftigt, nicht aber fehlende oder umstrittene Rechte des Amtsinhabers konstituiert 6 4 . Ebenso schon i m A n satz verfehlt ist eine Argumentation aus dem Gesichtspunkt der grundgesetzlichen Präsidentenanklage. Es ist doch gerade die Frage, ob der Bundespräsident eine materielle Prüfungskompetenz hat, so daß bei ihrer Nichtinanspruchnahme für eine Anklage „wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes" (Art. 61 GG) schlechterdings kein Raum ist. Ein Zirkelschluß ist schließlich auch die Deduktion aus dem Rechtsstaatsprinzip i m Sinne einer Bindung auch der obersten Staatsorgane an die verfassungsmäßige Ordnung. Eine derartige Bindung des Bundespräsidenten i n Gestalt einer materiellen Prüfungspflicht ist nur denkbar i m Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Organkompetenz, die ja insoweit erst zu beweisen wäre. Ist nach allem ein materielles Prüfungsrecht des Staatsoberhaupts weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinngehalt besonderer Verfassungsvorschriften noch aus der — i m Vergleich zum Reichspräsidenten grundlegend veränderten — allgemeinen Verfassungsposition des Bundespräsidenten zu begründen, so w i r d dieses Ergebnis m i t Nachdruck bestätigt durch die Existenz und Funktion einer vom Grundgesetz neugeschaffenen Institution, nämlich des Bundesverfassungsgerichts. A l l e i n diese Instanz ist nach geltendem Staatsrecht zum eigentlichen „Hüter der Verfassung" berufen. N u r die Entscheidungen dieses Gerichtshofs 64 Z u grundsätzlichen Aspekten des Schwurs i m Verfassungsleben E. Friesenhahn, Der politische Eid, 1928.

vgl.

I. Der Bundespräsident

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u n d Verfassungsorgans s i n d m i t a l l g e m e i n e r W i r k u n g e n d g ü l t i g v e r bindlich65. D i e v o m Grundgesetz b e w u ß t b e i m Bundesverfassungsgericht konzentrierte letztverbindliche Entscheidungskompetenz hat die — u n t e r a n d e r s k o n z i p i e r t e n f r ü h e r e n Staatsverfassungen l e g i t i m e — m a t e r i e l l e P r ü f u n g s k o m p e t e n z des S t a a t s o b e r h a u p t s n u n m e h r verfassungsrechtsdogmatisch u n d staatstheoretisch gegenstandslos g e m a c h t 6 6 . D a v o n abgesehen erscheint es auch d e r h o h e n W ü r d e des S t a a t s p r ä s i d e n t e n amtes n i c h t f ö r d e r l i c h , d u r c h Z u b i l l i g u n g eines m a t e r i e l l e n P r ü f u n g s rechts d e n B u n d e s p r ä s i d e n t e n d e r G e f a h r auszusetzen, sich i n v e r f a s sungsrechtlich k a s c h i e r t e A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n p a r t e i p o l i t i s c h e r u n d gesellschaftlicher M a c h t g r u p p e n z u v e r w i c k e l n . Gerade diese A m t s w ü r d e , d i e v o n B e f ü r w o r t e r n eines m a t e r i e l l e n P r ü f u n g s r e c h t s des P r ä s i d e n t e n o f t als stützendes A r g u m e n t m i t h e r a n g e z o g e n w i r d , d ü r f t e i n W a h r h e i t eher f ü r e i n e n „ V e r z i c h t " a u f d i e u m s t r i t t e n e K o n t r o l l b e f u g n i s sprechen. D e n n d e r e n I n a n s p r u c h n a h m e b r i n g t d e n B u n d e s präsidenten i n die mißliche Lage, nach B e j a h u n g der Verfassungsmäßigk e i t eines v o n i h m v e r k ü n d e t e n Gesetzes i m F a l l e späterer V e r n e i n u n g d e r V e r f a s s u n g s m ä ß i g k e i t d u r c h das B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t desa v o u i e r t z u w e r d e n u n d i n s e i n e m A m t s p r e s t i g e , das z u r E r f ü l l u n g d e r r e p r ä s e n t a t i v e n u n d i n t e g r a t i v e n A u f g a b e n des S t a a t s o b e r h a u p t s n o t w e n d i g ist, Schaden z u n e h m e n 6 7 . 65 Diese definitive allgemeine Verbindlichkeit fehlt jedoch den Entscheidungen des Bundespräsidenten, der eine materielle P r ü f u n g der Verfassungsmäßigkeit parlamentarisch beschlossener Gesetze i n Anspruch n i m m t . Gegen derartige présidentielle Entscheidungen könnte h i n w i e d e r u m v o n anderen Verfassungsorganen das Bundesverfassungsgericht angerufen w e r den. ββ I m Unterschied zu dem m i t ausgewählten Rechtsexperten besetzten Bundesverfassungsgericht ist der Bundespräsident, der j a nicht notwendigerweise ein i m Staatsrecht besonders erfahrener Jurist ist, zu eigener v e r fassungsrechtlicher Prüfung regelmäßig gar nicht i n der Lage. Angesichts der K o m p l e x i t ä t verfassungsrechtlicher Probleme sieht sich daher ein das materielle Prüfungsrecht i n Anspruch nehmender Bundespräsident gezwungen, demokratisch nicht legitimierte Verfassungsrechtler zu konsultieren. I n der Vergangenheit haben denn auch Bundespräsidenten mehrfach wissenschaftliche Gutachten v o n Universitätsprofessoren des öffentlichen Rechts eingeholt, so daß sich das présidentielle Prüfungsrecht gewissermaßen auf die Verfassungsrechtswissenschaft verlagerte. 67 Es liegt auf der L i n i e der hier vertretenen verfassungsrechtlichen Position, w e n n neuerdings Bundespräsident Carstens (vgl. B u l l e t i n v. 2. 7.1981, Presse- u n d Informationsamt der Bundesregierung) i n der Ausübung seiner Prüfungskompetenz eigene Akzente gesetzt hat. Der Präsident mußte sich i n jenem F a l l entscheiden, ob er ein i n seiner Verfassungsmäßigkeit zweifelhaftes Gesetz — das v o m Bundestag beschlossene Staatshaftungsgesetz, dem der Bundesrat seine Z u s t i m m u n g verweigerte — ausfertigen u n d verkünden solle oder nicht. Trotz erheblicher eigener verfassungsrechtlicher Bedenken unterzeichnete Präsident Carstens schließlich das umstrittene Gesetz. I n seinem Brief, der die Gründe seiner Entscheidung dem Bundeskanzler, dem Bundestagspräsidenten u n d dem Bundesratspräsidenten erläuterte, führte der Bundespräsident aus, daß die gegen die Verfassungsmäßigkeit des frag-

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§ 10 Verfassungsgestalt und Kompetenzen oberster Staatsorgane I I . Der Bundestag

L i t e r a t u r : N. Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, 1979; W. Kewenig, Staatsrechtliche Probleme parlamentarischer Mitregierung am Beispiel der A r b e i t der Bundestagsausschüsse, 1970; C. Schmid, Der deutsche Bundestag i n der Verfassungswirklichkeit, i n : Festschrift f ü r Schoettle, 1964, S. 269 ff.; H. Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestags, 1977.

Der Bundestag als Repräsentativorgan des Staatsvolks ist die zentrale Institution i m demokratischen Verfassungsleben der Bundesrepublik. Freilich gibt es keine Verfassungsrechtsvermutung des Inhalts, daß die ganze Fülle der Bundesgewalt dem Parlament zusteht, soweit Kompetenzen nicht ausdrücklich anderen Staatsorganen übertragen sind; schon das geltende rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung steht einem derartigen Primat des Parlaments entgegen. Das Grundgesetz enthält keine generalklauselartige Bestimmung der verschiedenen Aufgaben der Volksvertretung 6 8 , die Verfassung normiert vielmehr einzelne Kompetenzen und Rechte des Bundestags und seiner Mitglieder. Die beiden vornehmsten Funktionen des Bundestags sind die Aufgaben der Gesetzgebung und die parlamentarische Teilnahme an der Staatsleitung. 1. Der Deutsche Bundestag ist die staatsrechtliche Repräsentation des Bundesvolkes als des demokratischen Souveräns, von dem i n der Bundesrepublik alle Staatsgewalt ausgeht; sie w i r d vom Volke namentlich i n Wahlen und durch besondere Organe der Gesetzgebung ausgeübt (Art. 20 I I GG). Die Repräsentation 69 des Volkes durch das Parlament ist notwendige Grundbedingung des vom Grundgesetz verfaßten parlamentarischen Regierungssystems. Die Repräsentationsfunktion des Parlaments kann sich nur unter bestimmten Voraussetzungen v o l l entfalten. Dazu gehört vor allem die Existenz freier parlamentarischer Repräsentanten und freiheitlicher politischer Parteien. Verfassungshistorisch betrachtet ist die Repräsentation ein spezifisch westlicher Gedanke 70 , dessen erste institutionelle Verwirklichungen — von heutilichen Gesetzes erhobenen schwerwiegenden Bedenken nicht genügten, i h n von der Ausfertigung abzuhalten. Z u einer derartigen Ablehnung sehe er sich n u r veranlaßt, w e n n f ü r i h n die Verfassungswidrigkeit offenkundig u n d zweifelsfrei sei. 68 Nach einer klassischen, f ü r die Gegenwart modifizierungsbedürftigen Auffassung (vgl. W. Bagehot, The English Constitution, 1867) hat das Parlament folgende grundlegende Funktionen: Gesetzgebung (function of legislation), Regierungsbildung (elective function), F o r u m politischer Diskussion (expressive function), öffentliche Information (informing function) u n d Volkserziehung (teaching function). 69 Dazu allgemein H. Hofmann, Repräsentation: Studien zur W o r t - u n d Begriffsgeschichte von der A n t i k e bis ins 19. Jahrhundert, 1974. 70 Politische Repräsentation i. e. S. w a r der A n t i k e u n d dem europäischen Feudalzeitalter unbekannt, ebenso den feudalstrukturierten Gesellschaften

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gen demokratischen Einrichtungen freilich noch weit entfernt — i m ausgehenden Mittelalter erkennbar werden. Die politische Repräsentation als Idee und als Herrschaftstechnik hängt aufs engste zusammen m i t dem verfassungsstaatlichen Prinzip der Gewaltenteilung 71 , die ihrerseits zur Mäßigung der Macht und zur Sicherung der Freiheit des Menschen unerläßlich ist. 2. Für die freiheitlich-demokratische Hervorbringung des Parlaments als Verfassungsorgan der Volksrepräsentation ist eine adäquate rechtliche Ausgestaltung der Wahl der Parlamentsmitglieder von grundlegender Bedeutung. Anknüpfend an tradierte Verfassungsgrundsätze hat das Grundgesetz bestimmt, daß die Abgeordneten des Bundestags i n allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl 7 2 gewählt werden (Art. 38 I 1 GG). Nicht von der Verfassung entschieden, sondern dem einfachen Gesetzgeber überlassen ist die für die demokratische Staatswillensbildung wichtige Frage, ob das nationale Parlament nach dem System der Mehrheitswahl, der Verhältniswahl oder nach einem anderen Wahlsystem 73 gewählt werden soll. Die für Bund, Länder, Kreise und Gemeinden maßgebenden Wahlrechtsgrundsätze (Art. 38 I, 28 I GG) sollen i m folgenden kurz verdeutlicht werden. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, der sich i m 19. Jahrhundert auf der Basis wachsender Volksbildung und sozialer Wandlungen verfassungspolitisch durchsetzte, enthält das Gebot, daß i m Prinzip alle Staatsbürger wahlberechtigt sind 74 . Unzulässig wäre nach geltendem Recht etwa die i n früheren Epochen geübte Praxis, das Stimmrecht nach Maßgabe des Vermögens zu differenzieren. Der Allgemeinheitsgrundsatz verbietet generell dem Gesetzgeber, bestimmte Gruppen von i n Ägypten, Byzanz, Indien, Japan, China u n d der islamischen Welt, siehe R. Coulborn, (Hg.) Feudalism i n History, Princeton, 1956. 71 Über Machtteilung u n d Repräsentation vgl. auch K. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. A u f l . 1969, S. 34 ff. 72 Wahlberechtigt ist, w e r das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; w ä h l bar ist, w e r das A l t e r erreicht hat, m i t dem die V o l l j ä h r i g k e i t e i n t r i t t (Art. 38 I I GG). Z u r näheren Ausgestaltung siehe Bundeswahlgesetz, W a h l p r ü fungsgesetz u n d Bundeswahlordnung. 73 Über das optimale Wahlrechtssystem besteht i n der Theorie keine E i n i g keit. Der Bundesgesetzgeber hat sich f ü r die K o m b i n a t i o n der Verhältnisw a h l m i t der Personenwahl entschieden. Es g i l t eine personalisierte V e r h ä l t niswahl, wobei die i m Wahlkreis gewonnenen Mandate auf die LandeslistenMandate angerechnet werden; f ü r die Mandatsverteilung an die Parteien herrscht also i m Ergebnis das Verhältniswahlsystem. Die Hälfte der ζ. Z. 518 Bundestagsabgeordneten w i r d nach Wahlkreis Vorschlägen, die andere Hälfte nach Landeslisten gewählt (§§ 1 I, 4, 5, 6, 7 BWahlG). 74 Zulässige Ausnahmen v o n diesem Grundsatz sind u. a. die A n k n ü p f u n g der Wahlberechtigung an ein bestimmtes Mindestalter (Art. 38 I I GG) oder die Normierung anderer sachlich einleuchtender Voraussetzungen (§§ 13, 14 BWahlG), siehe dazu BVerfGE 36, S. 139, 141 f.

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Staatsbürgern aus politischen, ökonomischen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen75. Das Wahlrechtsprinzip der Unmittelbarkeit verbietet jede Form indirekter Wahl der Bundestagsabgeordneten. Unter dieses Verbot fällt zunächst die Wahl der Parlamentsmitglieder durch vorgeschaltete Wahlmänner. Unzulässig wäre es aber auch, das Wahlvolk durch nachträgliche Zwischenschaltung von Auswahlinstanzen zu mediatisieren 7®. Das Unmittelbarkeitsgebot bezweckt, daß die gewählten Volksvertreter maßgeblich vom V o l k durch die Stimmabgabe bei der Parlamentswahl bestimmt werden 77 . Der wählende Staatsbürger soll das entscheidende und letze Wort haben. Freiheit der Wahl bedeutet — i m Zusammenhang mit den anderen, ebenfalls freiheitlichen Zwecken dienenden Wahlrechtsgrundsätzen — insbesondere die Freiheit des Wahlaktes selbst. Es muß also gewährleistet sein, daß der Wähler sein Wahlrecht ohne äußeren Zwang oder unzulässigen 78 Druck ausüben kann. Für die Freiheit des Wahlaktes ist die Garantie der geheimen Wahl unerläßlich. Unfreiheitliche Herrschaftssysteme pflegen m i t totalitärem Druck die öffentliche Stimmabgabe durchzusetzen, u m geheime Voten gegen die Regierung zu verhindern. Der Grundsatz der geheimen Wahl verlangt eine Organisation der Stimmabgabe und der Wahlvorbereitung, die es ausschließt, daß andere Personen gegen den Willen 7 9 des Wählers erfahren, wie dieser sein Wahlrecht ausübt 80 . Das verfassungsrechtliche Wahlgeheimnis sichert das Freiheitsrecht des Wählers, seine Wahlentscheidung für sich zu behalten. Von besonderer Bedeutung ist schließlich das Prinzip der Gleichheit der Wahl. Dieser Grundsatz, ebenso wie das Allgemeinheitsgebot, ist eine Ausprägung des generellen Gleichheitssatzes der Verfassung. Kennzeichnend für den speziellen Gleichheitssatz des Wahlrechts ist seine formale Eigenart. Dies entspricht dem formalen Charakter der 75

BVerfGE 12, S. 139, 142. Es darf also weder v o r noch nach dem Wahlakt des Bürgers eine I n stanz eingeschaltet werden, welche die Abgeordneten aus den Wahlbewerbern selbständig auswählt. 77 BVerfGE 3, S. 45, 49 f.; 7, S. 63 ff.; 7, S. 77, 84 f. 78 Als statthafte, die Freiheit des Wahlaktes nicht berührende Einflußnahme w i r d die Wahlpropaganda der Parteien, aber auch ein „ H i r t e n w o r t " kurz vor der W a h l beurteilt (BVerwGE 18, S. 14 ff.); zur Unzulässigkeit sog. amtlicher Wahlbeeinflussung vgl. BVerfGE 40, S. 11, 41. 79 Unbedenklich unter dem Gesichtspunkt geheimer W a h l ist es, w e n n der Wähler seine Wahlentscheidung aus freien Stücken offenbart. 80 Über zwingende Gründe, die das Unterzeichnen von Wahlvorschlägen ausnahmsweise rechtfertigen, vgl. BVerfGE 3, S. 383, 396. 78

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vom Grundgesetz verfaßten demokratischen Ordnung, die i m Bereich der Wahlen ohne Rücksicht auf soziale und wirtschaftliche Unterschiede81 alle Staatsbürger prinzipiell gleich behandelt 82 . Beim Mehrheitswahlsystem erfordert der Grundsatz der gleichen Wahl i m wesentlichen nur, daß jeder Stimme gleicher Zählwert zukommt. Nicht so einfach liegt es beim Verhältniswahlsystem. Hier verlangt die verfassungsrechtliche Formalisierung der Wahlrechtsgleichheit, daß über den gleichen Zähl wert hinaus jeder Stimme grundsätzlich auch der gleiche Erfolgswert gewährleistet ist 8 3 . Diesem Gebot muß der einfache Gesetzgeber Rechnung tragen, wenn er sich ,was i h m unter dem Grundgesetz freisteht, für das Verhältniswahlsystem entscheidet 84 . Da der Gleichheit der Wahl grundsätzlich nur Genüge geschieht, wenn jede Stimme m i t gleichem Gewicht bei der Zuteilung von Parlamentssitzen berücksichtigt wird, entsteht nach der gegenwärtigen Gesetzeslage das Problem der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Sperrklauseln zur Abwehr von Splitterparteien. Geht man davon aus, daß demokratische Wahlen nicht zuletzt handlungsfähige Parlamentsmehrheiten und regierungsfähige Kabinette ermöglichen sollen, so lassen sich bestimmte wahlgesetzliche Modifikationen des Grundsatzes gleichen Erfolgswerts jeder Stimme i n gewissen Grenzen rechtfertigen 85 . Aus dem Prinzip der gleichen Wahl ergeben sich rechtliche Konsequenzen nicht nur für den Wähler und sein Stimmgewicht, sondern auch für die Wahlbewerber und die hinter ihnen stehenden politischen Parteien. I m freien Wettkampf u m die Stimmen des Wahlvolks bedeutet Gleichheit der Wahl insbesondere Chancengleichheit der konkurrierenden Kräfte. Gemäß 81 Anders verfuhren z.B. die preußische u n d englische Verfassung: I n Preußen galt bis zum Zusammenbruch der Monarchie 1918 ein Drei-KlassenWahlrecht, das nach Steuerleistungen differenzierte, so daß i m Ergebnis der vermögende Bürger höheres Stimmgewicht hatte als der „sozial Schwache". I n England w u r d e n bis i n die M i t t e des 20. Jahrhunderts gewissermaßen die „ i n t e l l e k t u e l l Schwachen" benachteiligt, indem z.B. die Universitätsprofessoren von Oxford u n d Cambridge doppeltes Stimmrecht besaßen. 82 BVerfGE 8, S. 51, 69. 83 BVerfGE 1, S. 208, 244 ff.; 24, S. 300, 340. 84 BVerfGE 34, S. 81, 100. 85 U m sicherzustellen, daß der Staat m i t handlungsfähigen Organen versehen ist, h ä l t das B V e r f G eine Gegensteuerung zu Lasten v o n (durch ein unbeschränktes Verhältniswahlsystem begünstigten, aber zur Zersplitterung des Parlaments i n funktionsunfähige Kleinstgruppen tendierenden) p o l i t i schen Gruppierungen i n bestimmten Grenzen f ü r verfassungsrechtlich v e r antwortbar. Demgemäß verstößt es nicht gegen die Wahlrechtsgleichheit, w e n n Parteien, die bei der W a h l weniger als 5 v. H. der Stimmen erhalten, bei der Zuteilung v o n Mandaten nicht berücksichtigt werden, vgl. BVerfGE 6, S. 84, 89 ff.; 51, S. 222, 236 ff. Die Sperrklausel v o n 5 v. H. g i l t als n u r ausnahmsweise überschreitbare Obergrenze, BVerfGE 34, S. 81, 101. — Siehe zum Grundsätzlichen auch G. Leibholz, Sperrklauseln u n d Unterschriftsquoren nach dem Bonner Grundgesetz, i n : ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, S. 41 ff.

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dem formalen Wesen der geltenden demokratischen Ordnung ergibt sich aus dem Grundsatz der Chancengleichheit i m Wahlkampf nun freilich nicht das Gebot, daß der Staat die durch unterschiedlichen Mitgliederbestand, Vermögensstatus usw. verschieden starken Parteien durch positive Ausgleichsmaßnahmen faktisch zu egalisieren habe. Vielmehr erfordert Chancengleichheit 88 nur die grundsätzliche Unparteilichkeit und Neutralität des Staates gegenüber den bei der Parlamentswahl konkurrierenden Parteien. Ein Anwendungsfall dieses Grundsatzes ist die Zuteilung von Sendezeiten an politische Parteien. Bei der Wahlpropaganda durch öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalten müssen indessen nicht alle Konkurrenten i m selben Umfang zu Wort kommen. Aus zwingenden sachlichen Gründen darf differenziert werden, wobei die Sendezeiten nach der jeweiligen Bedeutung 87 der Parteien verschieden bemessen werden können. 3. Für die Qualität des Parlaments und des gesamten parlamentarischen Regierungssystems grundlegend wichtig ist die staatsrechtliche Stellung der gewählten Parlamentarier 88 . Die i m Hinblick auf den Deutschen Bundestag zentrale Verfassungsbestimmung hebt hervor, daß die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes sind, daß sie an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind (Art. 38 I 2 GG). Diese einer freiheitlichen Verfassungstradition entsprechende Grundsatznorm steht i n einem besonderen Spannungsverhältnis zu dem neuartigen Prinzip, wonach die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes m i t w i r k e n (Art. 211 GG). Charakteristisch für den grundgesetzlichen Abgeordnetenstatus sind ferner auch die Vorschriften über die Indemnität und Immunität (Art. 46 GG), das Zeugnisverweigerungsrecht (Art. 47 GG) sowie die Diäten (Art. 48 I I I GG) der Bundestagsmitglieder. Diese besonderen Rechte der Parlamentsmitglieder dienen i m wesentlichen dem Zweck, das Verfassungsprinzip der Freiheit des Mandats auszuformen und abzustützen. 86 Z u diesem Problemkreis sind zahlreiche Entscheidungen des B V e r f G ergangen, vgl. dazu ff.-R. Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975. 87 Als zulässige Differenzierungsgesichtspunkte kommen u. a. i n Betracht die Vertretung der Parteien i m Parlament, ihre Beteiligung an den Regierungen i n B u n d u n d Ländern sowie die Ergebnisse der vorhergehenden Wahlen; doch muß auch neuen Parteien angemessene Sendezeit zugeteilt werden, vgl. BVerfGE 7, S. 99, 108; 34, S. 160, 164. 88 Dazu i m einzelnen Ν. Achterberg, Das rahmengebundene Mandat, 1975; H . H . v. Arnim, Abgeordnetenentschädigung u n d Grundgesetz, 1975; P. Häberle, Freiheit, Gleichheit u n d Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus, N J W 1976, S.537ff.; K . M . Meessen, Beraterverträge u n d freies Mandat, i n : FestFrotscher, Die E n t schrift f ü r Scheuner, 1973, S. 431 ff.; G.-C. v. Unruh/W. w i c k l u n g des Imkompatibilitätsprinzips i m neueren deutschen Verfassungsrecht, DVB1. 1969, S. 821 ff.

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Das vom Grundgesetz gewährleistete Institut der freien Repräsentation läßt keinen Raum für ein sog. imperatives Mandat; dieses steht als eine Erscheinungsform der direkten Demokratie i n unversöhnlichem Gegensatz zum geltenden Prinzip freiheitlicher parlamentarischer Demokratie. Ist der Abgeordnete einmal gewählt, so hat er von Verfassungs wegen die Rechte eines weisungsfreien Repräsentanten des Gesamtvolks (Art. 38 I 2 GG). I m Unterschied zum imperativen Mandat, das den Volksvertreter wie einen Befehlsempfänger an Aufträge der Wählerschaft bindet, stellt das Prinzip des freien Mandats den Bundestagsabgeordneten verfassungsrechtlich unabhängig von Weisungen und A u f lagen seiner Wähler und seiner Partei. Diesem Freiheitsstatus entspricht es, daß der gewählte, nur seinem Gewissen unterworfene Abgeordnete während der Dauer des Mandats von der Wählerschaft nicht durch Mißtrauensvotum oder i n anderer Weise abberufen werden kann. Der freie Abgeordnete genießt — u m des Wohles der Gesamtheit 89 und der Würde des Parlamentes w i l l e n — den Status der Unabhängigkeit und I n struktionsfreiheit i n jeder Richtung: gegenüber dem Wahlvolk, dem Staatsapparat, den politischen Parteien und Interessengruppen aller A r t . I m Rechtsprinzip des freien Mandats als der magna Charta des Parlamentsmitglieds gründet auch die strikte Sphärentrennung zwischen parlamentarischer Rechtsstellung und politischer Parteizugehörigkeit. Daraus ergibt sich insbesondere, daß Parteiaustritt, Parteiausschließung oder Parteiwechsel eines Bundestagsabgeordneten den Status des Mandatsträgers unberührt lassen 90 . Auch ein sog. Fraktionszwang 9 1 ist m i t der verfassungsrechtlichen Freiheit des Mandats nicht vereinbar. Diese Verfassungsrechtslage w i r d durch die besondere, erstmalig auch i m Verfassungstext anerkannte Rolle der politischen Parteien (Art. 21 I GG) i m Grundsatz nicht relativiert. Zunächst ist bedeutsam, daß die Befugnis der Parteien, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, nur für den vorparlamentarischen Raum gilt, nicht aber für die parlamentarische Willensbildung der Volksvertreter, die vom Repräsentationsprinzip i n Gestalt des freien Mandats beherrscht wird. Auch die These, zwischen den A r t i k e l n 21 I und 38 I GG bestehe eine „prinzipielle Unvereinbarkeit" 9 2 , vermag nicht zu überzeugen. Zwar ist 89 Siehe dazu auch ff. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 184 f., 188 ff. 90 Demgemäß sind auch Vereinbarungen oder Blankoverzichte über die Mandatsniederlegung rechtsunwirksam. 91 V o n unzulässigem Fraktionszwang (sc. Unter-Drucksetzen des Abgeordneten, damit er i m Sinne der Mehrheitsbeschlüsse der F r a k t i o n stimme) ist die Fraktionsdisziplin zu" unterscheiden. Sie dient i m Interesse handlungsfähiger Fraktionen u n d Parlamente dem Z i e l möglichst einheitlichen p o l i tischen Vorgehens u n d widerspricht nicht grundsätzlich dem freien Mandat. 92 So das B V e r f G i n der SRP-Entscheidung (E 2, S. 1, 72); verfassungsrechtlich problematisch erscheint auch, unter dem Gesichtspunkt der p r i n z i -

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es richtig, daß i n der sog. Verfassungswirklichkeit sich die Macht der Parteien und das Eigengewicht des typischen Abgeordneten seit der Zeit des konstitutionellen Liberalismus wesentlich gewandelt haben. Der wachsenden Dominanz der Parteien entsprach die zunehmende Angewiesenheit des Wahlbewerbers auf „seine" Partei, m i t der er auch vom Wähler mehr und mehr identifiziert wurde. Gleichwohl wäre es verfehlt, hier einer vermeintlichen normativen K r a f t des Faktischen das Wort zu reden. Das Recht als Normenordnung würde sich selbst aufgeben, wollte es bloß registrieren, wie die Wirklichkeit sich darstellt. Zwischen Sein und Sollen besteht nicht nur i m vorliegenden Fall ein grundsätzlicher dialektischer Spannungszustand. Gerade unter den modernen freiheitsunfreundlichen Bedingungen einer vermachteten Gruppengesellschaft ist die Freiheitsgarantie des Abgeordnetenmandats eine für den freiheitlichen politischen Prozeß unverzichtbare Grundsatznorm. Die normative K r a f t des vom Grundgesetz gewährleisteten freien Mandats ist ein notwendiges Gegengewicht gegen die erhebliche faktische Bindung des Abgeordneten an Partei und Fraktion, deren Macht i m Interesse des gemeinen Besten durch die verfassungsrechtliche Unabhängigkeit des Parlamentariers begrenzt wird. Ohne das Rechtsprinzip des freien Mandats, das dem Abgeordneten Rückhalt und Würde gegenüber Wählern und Partei gewährt, ist die moderne parteienstaatliche Demokratie außerstande, ihren Verfassungsauftrag der Freiheitlichkeit zu erfüllen. Diese verfassungsrechtlich zentralen Grundsätze der freien parlamentarischen Repräsentation sind mannigfach flankiert, insbesondere durch die den Status des Bundestagsabgeordneten konkretisierenden Grundgesetzvorschriften über Indemnität, Immunität, Zeugnisverweigerungsrecht und Diätenanspruch. Die — auf parlamentarische Handlungen beschränkte, doch durch das Ende des Mandats nicht begrenzte — Indemnität besagt, daß ein Abgeordneter wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er i m Bundestag oder i n einem Parlamentsausschuß getan hat, zu keiner Zeit gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestags zur Verantwortung gezogen werden darf (Art. 46 I GG). Diese besondere Exemtion 9 3 des Abgeordneten, von der nur verleumderische Beleidigungen ausgenommen sind, bewirkt gleichermaßen eine Freistellung von strafrechtlicher, zivilrechtlicher, polizeirechtlicher und disziplinarrechtlicher Verantwortung. — Von der Indemnität des Abgepiellen Unabhängigkeit von Mandat u n d Parteizugehörigkeit, der Leitsatz i n derselben Entscheidung (jetzt: § 46 I Nr. 5 BWahlG), daß m i t der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei die Parlamentsmandate der Abgeordneten dieser Partei erlöschen. 93 Sie umfaßt n u r das Verhalten innerhalb des Parlaments, freilich einschließlich der Fraktionen.

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ordneten zu unterscheiden ist das verfassungsrechtliche Institut der Immunität 9 4 . Danach darf ein Abgeordneter wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung nicht ohne Genehmigung des Bundestages zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, daß er bei Begehung der Tat oder i m Laufe des folgenden Tages festgenommen w i r d (Art. 46 I I GG). Dieser Schutz vor Strafverfolgung gilt entsprechend für andere Beeinträchtigungen der persönlichen Freiheit des Parlamentsmitglieds (Art. 46 I I I und I V GG). Dient die Indemnität 9 5 vor allem der Freiheit der parlamentarischen Diskussion, so bezweckt die Immunität i n erster Linie die Erhaltung der personellen Funktionsfähigkeit des Parlaments. Beide Prinzipien haben sich historisch entwickelt aus dem Kampf des frühen Parlamentarismus gegen die Omnipotenz der Krone. Die Legitimität namentlich der Immunität — dieses Vorrecht gilt zwar nur für die Dauer des Mandats, bezieht sich aber hauptsächlich auf Handlungen außerhalb der parlamentarischen Sphäre — ist heute nicht mehr allgemein anerkannt, zumindest die traditionelle Begründung dieses vom Grundgesetz übernommenen Rechtsinstituts überzeugt nicht mehr ganz. Denn anders als i n der Zeit der konstitutionellen Monarchie steht i n der parlamentarischen Demokratie der Gegenwart die Volksvertretung nicht mehr einheitlich einer eigenständigen Exekutive gegenüber. Die neuen Kontrahenten sind vielmehr die Regierung und die sie tragenden Parlamentsfraktionen einerseits und auf der anderen Seite die Mitglieder der parlamentarischen Opposition. Diese gewandelte staatstheoretische Grundlage spricht für eine behutsame Umdeutung der Immunität: als eines Rechts nicht nur des Gesamtparlaments, sondern auch als eines rechtlichen Schutzinstruments des einzelnen Abgeordneten gegenüber der herrschenden Parlamentsmehrheit 9 ®. Der besondere Status der Bundestagsmitglieder w i r d akzentuiert durch das bereits i m früheren deutschen Verfassungsrecht bekannte Zeugnisverweigerungsrecht, dessen grundgesetzliche Verbürgung die schutzwürdige Vertrauenssphäre zwischen Staatsbürger und Volksvertreter sichert. Demgemäß sind die Abgeordneten berechtigt, über Personen, die ihnen i n ihrer Eigenschaft 97 als Abgeordnete oder denen sie 94 Dazu i m einzelnen P. Bockelmann, Die Unverfolgbarkeit der Abgeordneten nach deutschem Immunitätsrecht, 1951; R. Heydlauf, Die Praxis des Bundestags i n Immunitätsangelegenheiten, Diss. 1974. 95 Die Indemnität ist unaufhebbar u n d unaufgebbar: sie steht nicht zur Disposition des Parlaments oder des Parlamentariers. 96 Dies hätte etwa zur Folge, dem von einer sachfremden Ermessensentscheidung bei der Immunitätsaufhebung betroffenen Abgeordneten auch prozessuale Behelfe zuzubilligen, ζ. B. die Befugnis zur Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht. 97 Die zur faktischen Regel gewordene, doch unter dem rechtsstaatlichen Aspekt der Gewaltenteilung bedenkliche Parlamentsmitgliedschaft von M i t -

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i n dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis zu verweigern (Art. 47 GG). Diese Freistellung der Parlamentsmitglieder von der i n den Prozeßordnungen vorgesehenen allgemeinen Zeugnispflicht — soweit das Zeugnisverweigerungsrecht des A r t . 47 GG reicht, ist auch die Beschlagnahme von Schriftstücken unzulässig — steht nicht zur Disposition des Parlaments. Da der moderne Abgeordnete als soziale Erscheinung, weit entfernt vom Modell des frühliberalen Honoratiorentums, sich mehr und mehr zum Berufspolitiker 9 8 entwickelt hat — weshalb der Typus des nicht allein für, sondern auch von der Politik lebenden Parlamentariers zur Regel geworden ist —, kommt den materiellen Sicherungen der Abgeordnetentätigkeit besondere Bedeutung zu. Unter den einschlägigen Rechten, die das Grundgesetz normiert hat, bildet der Diätenanspruch des Parlamentsmitglieds besonders i n neuerer Zeit einen Gegenstand gesteigerten öffentlichen Interesses. Die Verfassung sagt nur lapidar, daß die Abgeordneten Anspruch haben auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung und überläßt das Nähere der Regelung durch ein Bundesgesetz 99 . Obwohl auch der heutige Abgeordnete als gewählter Amtsträger keineswegs staatlicher Beamter ist, faßt die neuere Rechtsprechung die i n A r t . 48 I I I GG zugebilligte Entschädigung als Alimentationsanspruch auf 100 . Diese Deutung vereinbart sich nur schwer m i t der deutschen 101 Verfassungstradition eines strikten Besoldungsverbots für Abgeordnete, die bisher — auch nach dem A u f geben des ursprünglich außerdem bestehenden Entschädigungsverbots — prinzipiell gewahrt worden war. Die heutige verfassungsgerichtliche Interpretation des Diätenanspruchs 102 führt zu einer Vollalimentation der Bundestagsmitglieder aus der Staatskasse, wobei aus Grüngliedern der Bundesregierung k a n n i m Bereich des A r t . 47 G G zu mißlichen Kollisionen führen, w e n n z.B. u n k l a r ist, i n welcher Eigenschaft ein M d B m i t Kabinettsrang (der als Minister auskunftspflichtig, als Abgeordneter aber aufkunftsverweigerungsberechtigt ist) i m konkreten F a l l t ä t i g wurde. 98 Dazu eindringlich schon Max Weber, P o l i t i k als Beruf, 6. Aufl. 1977. 99 Gesetz über die Entschädigung der Mitglieder des Bundestags (Diätengesetz) von 1968 (BGBl. I , S. 334), zuletzt geändert durch Gesetz von 1977 (BGBl. I, S. 297). 100 So insbesondere, m i t einkommensteuerlichen Konsequenzen f ü r die Bezüge des Abgeordneten, das D i ä t e n - U r t e i l des BVerfG, vgl. E 40, S. 296 ff. 101 I n der Frühzeit des Parlamentarismus galt, namentlich i n England, das ehrenamtliche Prinzip vollkommener Entschädigungslosigkeit des Mandats. Erst i m Zuge der französischen Revolution entwickelte sich eine A r t Diätenanspruch. Noch die deutsche Reichsverfassung von 1871 bestimmte: „Die M i t glieder des Reichstages dürfen als solche keine Besoldung oder Entschädigung beziehen" (Art. 32). Dieses Entschädigungsverbot w u r d e durch verfassungsänderndes Gesetz von 1906 aufgehoben u n d der neue Diätenanspruch durch die Weimarer Reichs Verfassung von 1919 bestätigt (Art. 40 WRV). 102 Siehe BVerfGE 40, S. 296, 315 ff.

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den formal-egalitärer Gleichbehandlung jedem Abgeordneten gleich hohe Bezüge zustehen. 4. Das staatsrechtliche B i l d des Bundestages w i r d wesentlich geprägt durch die dem Parlament zustehenden verfassungsmäßigen Kompetenzen und autonomen Hechte. Da nach der geltenden gewaltenteiligen Verfassung (Art. 20 I I GG) keine allgemeine Zuständigkeitsvermutung für die Volksvertretung als Inhaber der nicht anderweitig zugeteilten Bundesgewalt besteht, ist das Parlament als Verfassungsorgan handlungsbefugt 103 nur auf der Grundlage und i m Rahmen der besonderen Kompetenzzuweisungen des Grundgesetzes. Aus der Vielzahl der konstituierten Zuständigkeiten des Bundestags seien die folgenden als exemplarisch hervorgehoben. a) Grundlegend für das rechtsstaatlich verfaßte Regierungssystem ist das dem Bundestag primär zustehende Recht der Gesetzgebung (Art. 77 I GG), durch dessen Wahrnehmung das Parlament, i m Zusammenwirken m i t dem Bundesrat (Art. 50 GG), einen umfassenden rechtlichen Einfluß auf das Verhalten aller Staatsorgane und Staatsbürger auszuüben vermag. I n den Bereich der Gesetzgebung fällt insbesondere auch die Feststellung des Haushaltsplans des Bundes (Art. 110 I I GG) und damit die Möglichkeit einer zentralen Steuerung sämtlicher finanzwirksamer Aktivitäten der verschiedenen Ressorts des Gesamtstaats 104 . — I m Verhältnis von Parlament und Regierung ist die Kompetenz des Bundestages, den Bundeskanzler zu wählen 1 0 5 , von verfassungsprägendem Gewicht. Der Regierungschef w i r d vom Parlament i n sein A m t berufen (Art. 63 GG) und kann von diesem Kanzlerwahlorgan durch konstruktives Mißtrauensvotum wieder abberufen werden (Art. 67 GG). — Eine wichtige Kompetenz 1 0 6 des Bundestags ist sodann die Befugnis, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen (Art. 44 GG). Dieses allgemeine 103 Die hier i n Rede stehenden verfassungsrechtlichen Kompetenzen erschöpfen freilich nicht die politische Gesamtaufgabe des Bundestages, die sich namentlich i n den ständigen Interaktionen zwischen Parlament u n d Regierung v e r w i r k l i c h t . 104 Wichtig i n diesem Zusammenhang ist auch A r t . 115 I GG, wonach eine bundesgesetzliche Ermächtigung erforderlich ist f ü r die Aufnahme v o n K r e diten sowie f ü r die Übernahme v o n Bürgschaften, Garantien oder sonstigen finanziellen Gewährleistungen, die zu Ausgaben i n künftigen Rechnungsjahren führen können. 105 Hinzukommen andere wichtige Kreationsbefugnisse, die den M i t g l i e dern des Bundestages zustehen, so z.B. bei der W a h l des Bundespräsidenten (Art. 54 GG), der Bundes Verfassungsrichter (Art. 94 I GG) u n d der B u n desrichter (Art. 95 I I GG). 106 Z u erwähnen sind u. a. auch folgende Rechte des Bundestags bzw. seiner Ausschüsse: Zitierbefugnis gegenüber den Mitgliedern der Bundesregier u n g (Art. 43 I GG); Große u n d Kleine Anfragen (§§ 100ff., 104 GO-BTag); Berufung eines Wehrbeauftragten (Art. 45 b GG).

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Enquêterecht entspricht dem traditionellen Verfassungsbestand parlamentarischer Regierungssysteme. Die Untersuchungskompetenz des Bundestags ist nicht beschränkt auf Gegenstände der Regierungskontrolle oder der Skandalaufklärung i m Parlamentsbereich, sondern dient vor allem auch der Sachinformation des Parlaments als Vorbedingung adaequater Gesetzgebungsarbeit 107 . b) Der Bundestag, der nach geltendem Verfassungsrecht keine Kompetenz zur Selbstauflösung 108 hat, verfügt als oberstes Verfassungsorgan über eine Reihe autonomer Rechte zur institutionellen Selbstgestaltung des inneren Parlamentsbereichs. Zu dieser Autonomie gehört insbesondere die Wahl des Bundestagspräsidenten, seiner Stellvertreter und der Schriftführer sowie das Recht des Parlaments, sich eine Geschäftsordnung zu geben (Art. 40 I GG). I m Unterschied zum bloßen Parlamentsbrauch hat die — das förmliche Verfassungsrecht ergänzende — Geschäftsordnung des Bundestags 109 den Charakter von satzungsähnlichen Rechtsnormen, freilich i m Range unter dem Grundgesetz und regulären Parlamentsgesetzen 110 . c) Für die Beschlüsse des Bundestags, dessen Verhandlungen grundsätzlich öffentlich sind (Art. 421 GG), gilt das der demokratischen Grundordnung entsprechende Mehrheitsprinzip 1 1 1 . Erforderlich und genügend ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt (Art. 42 I I GG). Von dieser einfachen Mehrheit sind andere Formen der Majorität zu unterscheiden. Hervorzuheben sind insbesondere die absolute Mehrheit (Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl), wie sie etwa beim konstruktiven Mißtrauensvotum notwendig ist (Art. 67 I GG) und die qualifizierte Mehrheit (Zweidrittel der gesetzlichen Mitgliederzahl), die namentlich bei verfassungsändernden Gesetzen erforderlich ist (Art. 79 I I GG). Der Bundestag ist beschlußfähig, 107 A n diesem umfassenden Zweck des A r t . 44 GG hat auch die spätere parlamentarische Praxis der Einsetzung besonderer Enquête-Kommissionen nichts geändert (§ 56 GO-BTag). 108 Dies w i r d i n politischen Auseinandersetzungen, insbesondere bei der Forderung nach „Neuwahlen" während einer Legislaturperiode, häufig übersehen. Das Grundgesetz hat — darin bewußt abweichend v o n der Weimarer Verfassungslage u n d von ausländischen Modellen — aus wohlüberlegten Gründen die vorzeitige Parlamentsauflösung außerordentlich erschwert. N u r i n den beiden Fällen des A r t . 63 I V GG (der gewählte Bundeskanzler verfehlt die absolute Mehrheit) u n d des A r t . 68 I G G (die Vertrauensfrage des amtierenden Bundeskanzlers w i r d verneint) ist die Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten vorgesehen. 109 Abgedruckt i n : Sartorius I , Nr. 35 (Verfassungs- u n d Verwaltungsgesetze der Bundesrepublik). 110 Siehe auch BVerfGE 1, S. 144, 148; 44, S. 308, 315. 111 Z u r historischen E n t w i c k l u n g vgl. U. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, 1973.

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wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder i m Sitzungssaal anwesend sind (§ 45 I GO-BTag). I I I . Der Bundesrat L i t e r a t u r : F. K . Fromme, Gesetzgebung i m Widerstreit. Wer beherrscht den Bundesrat?, 1976; A. Pfitzer, Der Bundesrat, 28. A u f l . 1978; M. Schweitzer, Die Zustimmung des Bundesrates zu Gesetzen, Der Staat 15 (1976), S. 169 ff.; B. Vogel, Machtkontrolle u n d Machtbalance — Z u r Rolle des Bundesrates, i n : Festschrift f ü r D. Sternberger, 1977, S. 384 ff.

Wie bereits hervorgehoben, ist i m Bundesstaat des Grundgesetzes eine Verfassungsänderung, durch welche die Gliederung des Bundes i n Länder und die grundsätzliche M i t w i r k u n g der Länder bei der Gesetzgebung berührt wird, schlechthin unzulässig (Art. 79 I I I GG). Diese absolute Verbürgung bestimmter föderativer Grundstrukturen steht i m Kontext einer freiheitssichernden, gewaltenteilenden und individualitätsbewahrenden Verfassungsordnung, die sich insbesondere als minderheitsschützender Mäßigungsfaktor gesamtstaatlicher Herrschaftsmacht und als Rechtsgehäuse regionalen Eigenlebens zu bewähren hat. Zentrales Verfassungsorgan gliedstaatlicher Beteiligung an der hoheitlichen Willensbildung des Gesamtstaats ist der Bundesrat 112 , durch den die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes m i t w i r k e n (Art. 50 GG). 1. Eine Gesamtbetrachtung des Grundgesetzes zeigt, daß der Bundesrat nicht nur an den legislativen und administrativen Staatsfunktionen auf Bundesebene mitzuwirken berufen ist. Dieses Bundesorgan der Länder ist außerdem beteiligt an Regierungsfunktionen wie zum Beispiel an der Bundesaufsicht (Art. 84 I I I und I V GG), dem Bundeszwang (Art. 37 I GG) und der Bundesintervention (Art. 91 I I GG) sowie an der spezifischen Wahlfunktion bei der Berufung der Bundesverfassungsrichter (Art. 94 I GG). Der vom Grundgesetz normierte Bundesrat steht als Staatsorgan i n einer alten deutschen Verfassungstradition, die sich über vergleichbare Einrichtungen des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Bundes zurückverfolgen läßt bis h i n zum Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Ein Vergleich m i t den j ü n geren verfassungsgeschichtlichen Vorgängern ergibt, daß der Bundesrat der Bundesrepublik Deutschland i n seinem staatsrechtlichen und realpolitischen Gesamtgewicht wesentlich schwächer ist als der Bundesrat 112 Siehe auch das v o m Bundesrat 1974 herausgegebene sehr i n s t r u k t i v e Sammelwerk m i t Arbeiten zahlreicher Autoren: Der Bundesrat als Verfassungsorgan u n d politische K r a f t . Beiträge zum 25jährigen Bestehen des B u n desrats der Bundesrepublik Deutschland.

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des Kaiserreichs 113 , jedoch erheblich stärker als der Reichsrat der Weimarer Republik 1 1 4 . Diese mittlere Ausgestaltung des vom Grundgesetz konstituierten Bundesrats ist das Ergebnis besonders schwieriger Beratungen über die bundesstaatliche Verfassungsstruktur i m Parlamentarischen Rat 1 1 5 . 2. I m Unterschied zu vergleichbaren föderalen Einrichtungen anderer Bundesstaaten der Gegenwart 116 ist der Bundesrat ein Verfassungsorgan, das nicht aus gewählten Volksrepräsentanten, sondern aus bestellten Regierungsvertretern der Länder zusammengesetzt ist. Dem Fehlen einer befristeten direkten demokratischen Legitimation der Bundesratsmitglieder entspricht die Permanenz des Bundesrats, der als Verfassungsorgan kontinuierlich fortbesteht, ohne durch Wahlperioden unterbrochen zu werden. Personell w i r d der Bundesrat gebildet aus Mitgliedern der Regierungen der Länder, die sie berufen und abberufen (Art. 51 I GG). Welche Kabinettsmitglieder eines Landes i n concreto Mitglieder des die Länderregierungen repräsentierenden Bundesrats sind, richtet sich nach den jeweiligen Landeskabinettsbeschlüssen, die m i t konstitutiver Wirkung die einzelne „Bestellung" vornehmen oder widerrufen. 3. Während die Rechtsstellung der Bundestagsmitglieder als Repräsentanten des Gesamtvolkes beherrscht w i r d vom Prinzip des freien Mandats (Art. 38 I GG), sind die Mitglieder des Bundesrats an Aufträge und Weisungen ihrer Landesregierungen gebunden 117 . Dieses verfassungs113 Nach der Verfassung von 1871 w a r der Bundesrat ein recht eigenartig konstruiertes Reichsorgan der „verbündeten Fürsten". Seine starke Stellung zeigte sich — außer i n der M i t w i r k u n g an der Exekutive (Art. 7, Ziff. 2 u n d 3) u n d der Judikative (Art. 76), letzteres erklärbar aus dem Fehlen einer besonderen Verfassungsgerichtsbarkeit — namentlich i m Bereich der Legislative. Hier stand der damalige Bundesrat, dem die Erteilung des Gesetzesbefehls vorbehalten war, gleichgewichtig neben dem Reichstag, der — i m Unterschied zum heutigen Bundestag — keine selbständige, von der zweiten K a m m e r losgelöste Gesetzgebungskompetenz hatte. 114 Die W R V v o n 1919 gab, i n A b k e h r v o n dem früheren Z w e i k a m m e r system, dem Reichsrat k e i n eigentliches Mitwirkungsrecht bei der Gesetzgebung, sondern lediglich die Befugnis zum Einspruch, der indessen durch erneuten Reichstagsbeschluß wirkungslos gemacht werden konnte (Art. 74 I I I WRV). 116 Vgl. Schriftlicher Bericht zum E n t w u r f des Grundgesetzes f ü r die Bundesrepubik Deutschland, Drucks. Nr. 850, 854 des Parlamentarischen Rates (1948/49) S. 19. ne Verschieden von der deutschen Staatsrechtstradition ist das sog. Senatsprinzip, w i e es z . B . i m Bundesstaat der U S A verfaßt ist. Danach werden pro Gliedstaat zwei Senatoren als Mitglieder der (neben dem Repräsentantenhaus) zweiten K a m m e r des Kongresses v o m V o l k der Einzelstaaten gewählt. Über Entstehung u n d I m p l i k a t i o n e n dieser Senatsstruktur vgl. K . Carstens, Grundgedanken der amerikanischen Verfassung u n d ihre V e r w i r k lichung, 1954, S. 52 f.

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rechtliche Modell instruierter Abstimmungen der Länderrepräsentanten i m Bundesrat hat das Grundgesetz, i n bewußter Abkehr vom Senatsprinzip, den Verfassungen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, die ebenfalls dem Ratsprinzip folgten, entlehnt. Die grundsätzliche, durch den Umkehrschluß aus A r t . 77 I I Satz 3 GG gestützte Instruktionsgebundenheit der Ländervertreter gilt ausnahmsweise nicht für die Bundesratsmitglieder des Vermittlungsausschusses und des Gemeinsamen Ausschusses118. Ob die bundesratsspezifische Weisungsbefugnis beim Regierungskollegium oder beim Regierungschef liegt, entscheidet sich nach der Verfassung des jeweiligen Bundeslandes. W i r d i m Bundesrat weisungswidrig abgestimmt, so läßt dies die Gültigkeit der Stimmabgabe unberührt, w e i l vor allem Gründe der Rechtssicherheit dagegensprechen, daß ein oberstes Bundesorgan sich nachträglich auf die K l ä rung landesregierungsinterner Instruktionen einläßt 119 . 4. Zwar kann jedes Land so viele Mitglieder i n den Bundesrat entsenden, wie es Stimmen 1 2 0 hat. Doch müssen die — instruierten — Stimmen eines Landes einheitlich abgegeben werden, und zwar durch anwesende Mitglieder oder deren Vertreter 1 2 1 (Art. 51 I I I GG). Das Verfassungsgebot einheitlicher Stimmabgabe durch individuell bestellte Landeskabinettsmitglieder erklärt sich aus dem föderativen Bauprinzip, wonach sich die Länder als Staaten über ihre Regierungen mittels weisungsgebundener Organwalter i m Bundesrat politisch zur Geltung bringen. Der geschlossenen Stimmabgabe — sei es m i t Pro, Contra oder Enthaltung — dient einerseits die ausdrückliche Normierung der Notwendigkeit einer Abstimmung durch „anwesende" Stimmträger 1 2 2 des 117 Auch die den Bundestagsmitgliedern v o m GG gewährten Vorrechte w i e Indemnität, I m m u n i t ä t usw. stehen den Bundesratsmitgliedern als Mandatsträgern sui generis nicht zu. 118 Siehe A r t . 77 I I 3 GG u n d A r t . 53 a I 3 GG. 119 Eine wirksame politische Sanktion gegen instruktionswidriges Verhalten liegt darin, daß eine Landesregierung illoyale Bundesratsmitglieder jederzeit abberufen k a n n (Art. 51 I GG). 120 Das Problem, wieviele Stimmen jedem L a n d zukommen, hat die V e r fassung w i e folgt gelöst: Ohne Rücksicht auf die Einwohnerzahl hat jedes Bundesland mindestens drei Stimmen. I m übrigen haben Länder m i t mehr als zwei M i l l i o n e n Einwohner vier Stimmen, Länder m i t mehr als sechs Millionen fünf Stimmen i m Bundesrat (Art. 51 I I GG). 121 Auch die stellvertretenden Bundesratsmitglieder müssen Kabinettsmitglieder des vertretenen Landes sein. Wer personell zur Landesregierung gehört (dies können außer Ministern auch Staatssekretäre sein), richtet sich nach Landesrecht. Anders als beim Bundesrat selbst können seinen Ausschüssen (in denen die wichtige Detailarbeit zu leisten ist) auch bloße Regierungsbeauftragte angehören (Art. 52 I V GG). 122 I n der Verfassungspraxis hat sich ein gewohnheitsrechtsähnlicher Brauch herausgebildet, wonach ein einziges Bundesratsmitglied (als „ S t i m m führer") alle Stimmen eines Bundeslandes i m Bundesrat abgeben kann.

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Bundesrates. Z u m anderen w i r d die erforderliche Einheitlichkeit dadurch gesichert, daß, als Ergebnis teleologischer Verfassungsauslegung, bei divergierendem Abstimmungsverhalten eines Landes die Ungültigkeit der Stimmabgabe insgesamt anzunehmen ist. 5. Der Bundesrat, dessen Verhandlungen grundsätzlich öffentlich sind, faßt seine Beschlüsse m i t mindestens der Mehrheit seiner Stimmen (Art. 52 I I I GG). Verlangt das Grundgesetz eine qualifizierte Mehrheit wie namentlich i m Falle verfassungsändernder Gesetze, so sind zwei D r i t t e l der Stimmen des Bundesrats erforderlich 123 . Der Bundesrat, dem ein spezifisches Selbstversammlungsrecht zusteht, w i r d von seinem — autonom 124 gewählten — Präsidenten einberufen. Dieser ist verpflichtet, den Bundesrat einzuberufen, wenn mindestens zwei Bundesländer oder die Bundesregierung dies verlangen (Art. 52 I I GG). 6. Der Kooperation zwischen Bundesregierung und Bundesrat und damit der Aktivierung des föderativen Verfassungslebens dienen wechselseitige Hechte und Pflichten, die das Grundgesetz ausdrücklich festgelegt hat. So haben die Mitglieder der Bundesregierung das Recht, an den Verhandlungen des Bundesrats und seiner Ausschüsse teilzunehmen und dort jederzeit gehört zu werden. Umgekehrt sind die Bundeskabinettsmitglieder auf Verlangen des Bundesrats verpflichtet, an dessen Plenar- und Ausschußverhandlungen mitzuwirken. Über die Führung ihrer Geschäfte hat die Bundesregierung den Bundesrat auf dem laufenden zu halten (Art. 53 GG). 7. Wesentliche rechtliche Grundlage der politischen Gestaltungsmöglichkeiten des Bundesrats sind seine verfassungsmäßigen Kompetenzen i m Bereich der Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung des Bundes. Besonders ausgeprägt i m Grundgesetz ist die M i t w i r k u n g des Bundesrats an der fundamentalen Staatsfunktion der Gesetzgebung. Hier hat die „Länderkammer" nicht nur — wie die Bundesregierung und der Bundestag — das Recht der Gesetzgebungsinitiative (Art. 76 I GG), sondern sie ist auch am gesamten legislativen Verfahren auf allen Sachgebieten einschließlich der politisch weichenstellenden Haushaltsgesetze (Art. 110 I I GG) und der Ratifikationsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen (Art. 59 I I GG) kontrollierend und modifizierend beteiligt. Entscheidendes Gewicht erlangt der Bundesrat als Legislativorgan i m Bereich der sogenannten Zustimmungsgesetze. Während bei bloßen Ein123 Z u unterscheiden ist dabei zwischen Ländern m i t vollem Stimmrecht u n d den Stimmen des Landes B e r l i n (Art. 144 I I GG). 124 Die Autonomie des Bundesrates zeigt sich auch i n der selbständigen W a h l von Vizepräsidenten sowie darin, daß sich die „Länderkammer" — w i e der Bundestag — eine Geschäftsordnung gibt, welche die internen Angelegenheiten u n d das Verfahren des Bundesrates verbindlich regelt.

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spruchsgesetzen 125 der Bundestag sich durch erneute Beschlußfassung über den Willen des Bundesrats hinwegsetzen kann, hat die „Länderkammer" bei Zustimmungsgesetzen ein endgültiges Vetorecht. Ob der Bundesrat i m Falle zustimmungsbedürftiger Rechtssetzungsakte dem Gesetzesbeschluß des Bundestags zustimmt oder nicht, ist grundsätzlich eine Frage seines politischen Ermessens. Diese Freiheit des Bundesrats kann indessen durch ungeschriebene Pflichten der Bundestreue begrenzt sein 126 . I V . Die Bundesregierung L i t e r a t u r : E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt i m Bereich der Regierung, 1964; K.D. Bracher, Die Kanzlerdemokratie, i n : R. L ö w e n t h a l / H . - P . Schwarz (Hg.), Die zweite Republik, 2. A u f l . 1974, S. 179 ff.; W. Hennis, Richtlinienkompetenz u n d Regierungstechnik, 1964; K . Kröger, Die Ministerverantwortlichkeit i n der Verfassungsordnimg der Bundesrepublik Deutschland, 1972.

Der Bundesregierung obliegen i n erster Linie, auf der Grundlage ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen i m Rahmen der konstituierten Staatszielbestimmungen, die aktiv-schöpferischen Aufgaben politischer Führung der Exekutive des Gesamtstaats. Diese Eigenart der Regierungsfunktion erfordert, auch i m parlamentarischen System rechtsstaatlicher Verfassungsordnung, einen nicht zu engen juristischen Handlungsspielraum der obersten Leitungsorgane. Wie die Regierung der Bundesrepublik als Institution und Machtträger vom Grundgesetz ausgestaltet ist, soll n u n i m Blick auf wesentliche Strukturen beleuchtet werden. 1. I m vorliegenden Zusammenhang bedeutet Bundesregierung 127 jenes kollegial zusammengesetzte Verfassungsorgan, das aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern besteht (Art. 62 GG). Von dieser verfassungsrechtlichen Festlegung der Kabinettsmitgliedschaft zu unter125 Ob es sich i n concreto u m ein Zustimmungsgesetz oder n u r u m ein E i n spruchsgesetz handelt, ergibt sich nicht aus einer allgemeinen verfassungsrechtlichen Formel, sondern k a n n n u r den einschlägigen grundgesetzlichen Bestimmungen entnommen werden, die hinwiederum an verschiedenen Stellen des Verfassungstextes verstreut sind. Besondere praktische Bedeutung haben namentlich die Vorschriften des A r t . 106 I I I — V I GG (Verteilung der Steuererträge zwischen Bund, Ländern u n d Gemeinden) sowie A r t . 84 GG (Bundeseinfluß auf landeseigene V e r w a l t u n g von Bundesgesetzen) u n d A r t . 85 GG (BundesauftragsVerwaltung durch die Länder). 126 Siehe dazu auch W.-R. Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977, S. 91 ff. 127 Das GG, das i m Unterschied zu anderen Verfassungen der westlichen Welt auf eine Konkretisierung der eigentlichen Regierungsfunktion verzichtet hat, beschränkt sich i m regierungsorganisatorischen Bereich auf wenige Bestimmungen, die i m Einzelfall aus dem Sinnzusammenhang des geltenden parlamentarischen Regierungssystems auszulegen sind.

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scheiden ist die Frage, welche Personen an Kabinettsitzungen ohne Stimmrecht teilnehmen dürfen 1 2 8 . N u r der Bundeskanzler und die Bundesminister, nicht aber die jeweiligen Parlamentarischen Staatssekretäre oder andere Sitzungsteilnehmer, haben Stimmrecht i m Bundeskabinett. Wenn das Grundgesetz, wie es i n vielen Bestimmungen geschieht, die Bundesregierung 129 anspricht, so ist damit grundsätzlich das Kollegium der Regierungsmitglieder als Ganzes gemeint. Dieses gubernative Grem i u m bildet seinen Willen als zuständiges Verfassungsorgan durch Mehrheitsbeschluß 130 . I m übrigen ist, wie noch zu zeigen sein wird, der verfassungsrechtliche Status der einzelnen Mitglieder des Kollegiums 1 3 1 , vor allem kraft der besonderen Stellung des Bundeskanzlers, von unterschiedlichem Gewicht. 2. Für die rechtliche Strukturierung einer aus mehreren Personen 132 gebildeten Regierung stehen dem Verfassungsgeber verschiedene Grundmuster zur Verfügung. Von besonderer organisatorischer Bedeutung sind i n diesem Zusammenhang das reine Kabinettsmodell m i t Gleichordnung aller Regierungsmitglieder einerseits und das Premierministermodell m i t Vorrang des Regierungschefs andererseits. Das Grundgesetz indessen hat sich für eine eigenartige Kombination aus Elementen verschiedener Grundmodelle entschieden, und zwar durch die normative Zusammenfügung bestimmter Teilstrukturen des Premierministerprinzips, des Kabinettsprinzips und des Ressortprinzips. Nach dem einschlägigen A r t i k e l 65 GG bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern entscheidet die Bundesregierung. Deren Geschäfte leitet der Bundeskanzler, und zwar nach einer 128 Nach § 23 I GO-BReg (Sartorius I, Nr. 38) gehören zu diesem Teilnehmerkreis insbesondere: der Chef des Bundeskanzleramts, der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundeskanzler, der Chef des Bundespräsidialamtes, der Bundespressechef, der Persönliche Referent des Bundeskanzlers u n d der Schriftführer. 129 Die i m Bereich der Regierung liegenden verfassungsrechtlichen Befugnisse u n d Pflichten sind, w i e den einschlägigen GG-Vorschriften zu entnehmen ist, teils dem Kabinett als Kollegium, teils dem Bundeskanzler allein u n d teils einzelnen Ressortministern zugeteilt (vgl. f ü r letztere z. B. A r t . 65 a, A r t . 112, A r t . 114 I GG). 130 Siehe § 24 I I GO-BReg. 131 Das öffentlich-rechtliche Amtsverhältnis (nicht: Beamtenverhältnis), i n dem die Mitglieder des Kabinetts zum B u n d stehen, ist i m Bundesministergesetz näher ausgestaltet (BGBl. 1971 I, S. 1166). Das Grundgesetz beschränkt sich insoweit auf die Festlegung der I n k o m p a t i b i l i t ä t des Regierungsamts m i t sonstiger A m t s - , Gewerbe- oder Berufstätigkeit (Art. 66 GG). 132 Davon ist prinzipiell zu unterscheiden das Einpersonenmodell der Regierung, w i e es ζ. B. i m Präsidialsystem der U S A verfaßt ist.

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Geschäftsordnung, welche die Bundesregierung zu beschließen und der Bundespräsident zu genehmigen hat. a) Die verfassungsmäßige Richtlinienkompetenz, die dem Bundeskanzler i m Kabinett den spezifischen Vorrang nach A r t eines Premierministers 133 gibt (Art. 65 S. 1 GG), entspricht textlich 1 3 4 der Rechtsstellung des Weimarer Reichskanzlers, der nach dem Verfassungswortlaut mehr war als nur ein Primus inter pares des Regierungskollegiums. Diese dirigierende Rolle, die ein Kabinettsmitglied über die anderen heraushebt, ist ein besonderer 135 Ausdruck des Kanzlerprinzips i n der Regierungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland. Die dem Regierungschef nach dem Grundgesetz vorbehaltene Bestimmung der Richtlinien der Politik sichert dem Bundeskanzler eine führende — freilich durch Ressort- und Kollegialprinzip gemäßigte und deshalb keineswegs monokratische — Stellung i m Bundeskabinett. Der rechtliche Gehalt des für die geltende Kabinettsverfassung grundlegenden Begriffs „Richtlinien der Politik" ist weder i m Grundgesetz selbst noch i n der Geschäftsordnung der Bundesregierung noch i n der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien näher definiert. Auch die bisherige Regierungspraxis der Bundesrepublik bietet für die Konkretisierung dieses grundgesetzlichen Instruments, dessen Handhabung vom Kanzler weniger juristischen Scharfsinn als machtpolitischen Instinkt erfordert, keine greifbaren Anhaltspunkte. Versucht man, den i n einer knappen Formel kaum faßbaren unbestimmten Verfassungsbegriff rechtlich einzugrenzen, so läßt sich, wegen der gleichzeitigen Geltung des Ressortprinzips (Art. 65 S. 2 GG), jedenfalls negativ feststellen, daß ressorteingreifende Einzeldirektiven von der Richtlinienkompetenz des Kanzlers grundsätzlich nicht gedeckt sind. Vielmehr handelt es sich bei den von A r t i k e l 65 GG gemeinten Richtlinien der Politik u m prinzipielle Richtungsentscheidungen, denen kraft ihrer grundlegenden Bedeutung für die gesamte Regierungspolitik ressortübergreifender Charakter zukommt. Steht demgemäß dem Bundes133 Dagegen haben die Väter des Grundgesetzes das Modell des deutschen Reichskanzlers nach der Kaiserreichsverfassung (monokratische Spitze der Exekutive ohne ein K o l l e g i u m selbständiger Reichsminister) bewußt nicht übernommen. 134 Freilich wurde dieser Grundsatz (Art. 56 WRV) rechtlich durch die „ M i t regierung" des Reichspräsidenten u n d politisch durch die E n t w i c k l u n g der Koalitionsverhältnisse zum Nachteil der Stellung des Reichskanzlers m o d i fiziert. 135 w e i t e r e grundgesetzspezifische Erscheinungsformen des K a n z l e r p r i n zips sind u. a. die K a n z l e r w a h l durch den Bundestag (Art. 63 GG) ; die k o n struktive A b w a h l des Kanzlers durch das Parlament (Art. 67 GG) ; die p a r lamentarische Vertrauensfrage des Kanzlers (Art. 68 GG); das Kabinettsbildungsrecht des Kanzlers (Art. 64 I GG) ; die militärische Befehls- u n d Kommandogewalt des Kanzlers i m Verteidigungsfall (Art. 115 b GG).

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kanzler ein oberaufsichtliches Hineinregieren i n die Geschäftsbereiche der Bundesminister nach der Kabinettsverfassung nicht zu, so kann gleichwohl unter besonderen Umständen auch eine konkrete Ressortangelegenheit wegen ihrer politisch-grundsätzlichen Bedeutung der Richtlinienkompetenz des Regierungschefs unterfallen. Die Richtlinienentscheidungen sind an keine bestimmte Form gebunden13®, doch ist der Kanzler nicht befugt, verbindlich festzustellen, daß die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer solchen politischen Führungsdirektive gegeben sind 1 3 7 . I m übrigen t r i t t die allgemeine Richtlinienbefugnis des Kanzlers zurück gegenüber besonderen verfassungsrechtlichen Positionen bestimmter Ressortminister 138 . b) Innerhalb der vom Bundeskanzler festgelegten Richtlinien der Politik leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung (Art. 65 S. 2 GG). Dieses Organisationsprinzip 1 3 9 der Bundesregierung gewährleistet jedem Ressortminister eine Sphäre wesentlicher Eigenständigkeit gegenüber dem Kanzler, den anderen Fachministern und dem Kabinettskollegium. I m Rahmen seiner Ressortzuständigkeit obliegt dem jeweiligen Bundesminister vor allem das oberste Direktionsrecht i n seinem Ministerium und gegenüber nachgeordneten Behörden. I n welcher Weise der Minister seine rechtliche Letztentscheidungsbefugnis i n sämtlichen fachlichen, personellen und organisatorischen Angelegenheiten praktisch ausschöpft, w i r d m i t bestimmt von seinem politischen Gewicht und persönlichen Naturell. c) Gegenüber dem Kanzlerprinzip und dem Ressortprinzip als tragenden Strukturelementen der Bundesregierung t r i t t das Kabinettsprinzip i n der laufenden Staatspraxis an Bedeutung zurück. Freilich kennt das Grundgesetz eine Reihe wichtiger Kompetenzen, die dem Regierungskollegium als solchem zustehen. Abgesehen von der Bestimmung über die Geschäftsordnung der Bundesregierung (Art. 65 S. 4 GG) und der Entscheidung über Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundesmini138 Die A r t u n d Weise der Ausübung der Kompetenz hängt ab v o m persönlichen S t i l des Kanzlers, der sein politisches Direktionsrecht u. a. durch Regierungserklärungen, Bekanntmachungen i m Kabinett, Gespräche u n d Briefe geltend machen kann. 137 Dazu näheres bei E. U. Junker, Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, 1965, S. 54 ff. iss Vorrang haben ζ. B. die Sonderzuständigkeit des Bundesfinanzministers gem. A r t . 112 G G u n d diejenige des Bundesministers f ü r Verteidigung nach A r t . 65 a GG. 139 Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Bundesminister ist freilich durch den Bundeskanzler gewissermaßen mediatisiert, w i e sich insbesondere aus dem Kabinettsbildungsrecht des Kanzlers u n d dem n u r gegenüber dem Kanzler zulässigen parlamentarischen Mißtrauensvotum i. e. S. ergibt,

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stern (Art. 65 S. 3 GG) gehören zu diesen Kollegialzuständigkeiten — unter Beachtung der politischen Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers — zum Beispiel die Einbringung von Gesetzesvorlagen (Art. 76 I GG), die Anrufung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 I I S. 4 GG), der Erlaß von Rechtsverordnungen (Art. 80 I GG) und die A n r u fung des Bundesverfassungsgerichts 140 . 3. Die herausragende Stellung des Bundeskanzlers i m geltenden parlamentarischen Regierungssystem zeigt sich besonders ausgeprägt auch i n den verfassungsrechtlichen Institutionen der Kabinettsbildung, das heißt bei der Hervorbringung, Umgestaltung und Beendigung der Bundesregierung. I n Abkehr von der Kabinettsverfassung der Weimarer Republik hat das Bonner Grundgesetz, wie bereits einleitend zu diesem Kapitel hervorgehoben wurde, wesentliche Strukturen neuartig normiert. Grundlegend ist das allein dem Parlament zustehende Recht, den Regierungschef (und damit indirekt das ganze Kabinett) durch Mehrheitsbeschluß zu installieren und durch konstruktives Mißtrauensvotum zu stürzen. a) Der Bundeskanzler w i r d auf Vorschlag 141 des Bundespräsidenten vom Bundestag gewählt (Art. 63 I GG) 142 . Das Staatsoberhaupt muß den Gewählten zum Bundeskanzler ernennen, wenn dieser die Mehrheit der voll stimmberechtigten Mitglieder des Bundestags auf sich vereinigt (Art. 63 I I , I V GG). Das verfassungsgrundsätzlich dem Parlament zustehende Recht der Kanzlerwahl verlagert sich ausnahmsweise i m Verteidigungsfall des Staatsnotstandes 143 auf den Gemeinsamen Ausschuß 144 (Art. 115 h I I GG).

140 Siehe etwa die Antragsberechtigung der Bundesregierung bei der V e r w i r k u n g von Grundrechten (Art. 18 GG, § 36 BVerfGG), beim Parteiverbotsverfahren (Art. 21 I I GG, § 43 BVerfGG) u n d bei der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 BVerfGG). 141 I n seinem Vorschlag ist der Bundespräsident zwar rechtlich frei, doch w i r d er, angesichts der ausschließlichen Kompetenz des Parlaments bei der Kanzlerwahl, auf die politische Konstellation i m Bundestag Bedacht nehmen, damit er nicht v o m Kanzlerwahlorgan desavouiert u n d i m präsidialen Prestige beschädigt w i r d . 142 Die anderen Mitglieder des Bundeskanbinetts werden nicht v o m P a r lament gewählt, sondern v o m Bundeskanzler berufen (Art. 64 I GG). 148 Kurzer verfassungsvergleichender Überblick (Deutschland, Großbritannien, Frankreich, USA) bei R. Weber -Fas, Staatsnotstand u n d Verfassungsrecht. Einführung zur Textausgabe: Notstandsgesetze, 1968. 144 Der aus Mitgliedern des Bundestages u n d des Bundesrates gemeinsam gebildete „Notstandsausschuß" ist ein eigenständiges Verfassungsorgan m i t dem Hauptzweck größtmöglicher Aufrechterhaltung parlamentarischer u n d föderativer Grundsätze auch i m staatlichen Ausnahmezustand: dieser soll nicht n u r die „Stunde der E x e k u t i v e " sein.

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b) Während der Bundeskanzler prinzipiell vom Parlament gewählt wird 1 4 5 , vollzieht sich die Berufung der anderen Kabinettsmitglieder ohne rechtliche Beteiligung des Bundestages. Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen (Art. 64 I GG). Entsprechend der bereits früher dargelegten, gegenüber der Weimarer Verfassung grundlegend veränderten Stellung von Präsident und Kanzler i m geltenden parlamentarischen Regierungssystem ist der Bundespräsident, dem bei der Ministerberufung keinerlei Entscheidungsermessen zusteht, an den Vorschlag des Bundeskanzlers strikt gebunden. Diese juristisch starke Stellung des Kanzlers bei der personellen Formierung und Umbildung des Kabinetts w i r d freilich faktisch, wie die bisherige Regierungsgeschichte der Bundesrepublik belegt, durch die notwendige Rücksichtnahmen auf personalpolitische Vorstellungen der mehrheitsbildenden Fraktionen i n nicht unerheblichem Maße modifiziert. Das A m t eines Bundesministers endet — abgesehen insbesondere von den Fällen der Entlassung auf Vorschlag des Bundeskanzlers (Art. 64 I GG), des Zusammentritts eines neuen Bundestags 148 (Art. 69 I I GG) und des i m Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnten Rücktritts 1 4 7 — m i t jeder Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers. Unter diesen Erledigungsgründen, wozu insbesondere auch Rücktritt oder Tod des Kanzlers gehören, ist der Tatbestand des Kanzlersturzes von besonderem staatsrechtlichem und verfassungsgeschichtlichem Interesse. c) I m Unterschied zur Weimarer Verfassung — nicht nur der Reichskanzler, sondern auch die Reichsminister bedurften zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstages; jeder von ihnen muß te zurücktreten, wenn i h m der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzog (Art. 54 WRV) — kennt das Bonner Grundgesetz gegenüber Bundesministern überhaupt kein eigentliches Mißtrauensvotum m i t rechtlichen Konsequenzen und gegenüber dem Bundeskanzler kein lediglich destruktives Mißtrauensvotum m i t Rücktrittspflicht. Aus den Erfahrungen m i t dem Weimarer Regierungssystem haben die Väter des Grundgesetzes die Lehre gezogen, daß es nach der neuen Verfassung 145 Der W a h l a k t ist geheim, indem m i t verdeckten Stimmzetteln gewählt w i r d , §§ 4 I I , 54 a GO-BTag. 146 Es liegt i n der L o g i k des parlamentarischen Regierungssystems, daß die v o m Bundestag ausgehende Legitimation der Bundesregierung durch die Konstituierung eines neugewählten Parlaments h i n f ä l l i g w i r d ; das neue Parlament soll frei sein, eine neue Regierung hervorzubringen. 147 Vgl. aber § 9 I I S. 2 des Bundesministergesetzes (Sartorius I , Nr. 45) w o nach ein Minister jederzeit seine Entlassung verlangen kann. Daß auch der Bundeskanzler zurücktreten k a n n (Kanzler Brandt z . B . t r a t 1974 zurück), folgt rechtlich aus der Wortlautinterpretation von A r t . 69 I I GG ( „ i n jedem Falle" impliziert auch andere Fälle) u n d aus dem Sinnzusammenhang von A r t . 69 I I I GG (Zulässigkeit einer bloß geschäftsführenden Regierung).

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nicht mehr möglich sein soll, den Kanzler durch eine bloß negative, nur i n der Ablehnung des amtierenden Regierungschefs einige Parlamentsmehrheit zu stürzen. Unter der Geltung des Grundgesetzes kann vielmehr der Bundestag dem Bundeskanzler das Mißtrauen lediglich dadurch aussprechen, daß er m i t der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen (Art. 67 I GG). Entgegen einer verbreiteten Ansicht darf freilich die Einrichtung dieses konstruktiven Mißtrauensvotums i n seiner Wirkung für stabile und handlungsfähige Kabinette nicht überbewertet werden. Eigentliche Grundlage effektiver Regierung kann nicht ein einzelnes verfassungsrechtliches Institut wie der A r t . 67 GG sein, sondern nur ein Parlament, das die gubernative Staatsleitung durch zuverlässige Mehrheiten nachhaltig zu unterstützen vermag. Fehlt es an einer derartigen, erforderlichenfalls durch entsprechende Gestaltung des Wahlgesetzes zu ermöglichenden Parlamentsstruktur, so kann auch die Gegenwirkung des Art. 67 GG nicht das Entstehen von Minderheitsregierungen verhindern, die ihrerseits mangels ausreichenden parlamentarischen Rückhalts für die (von ihnen zu initiierende) i m modernen Staat laufend notwendige Gesetzgebung nicht funktionsfähig sind. d) Die grundgesetzliche Gestaltung des Kanzlersturzes durch konstruktives Mißtrauensvotum unterstreicht die Stellung des Parlaments als demokratisch legitimierten Wahlorgans bei der Berufung und Abberufung des Regierungschefs. Das den gewählten Kanzler während der Legislaturperiode abwählende Parlament handelt i n vollem Einklang mit dem Verfassungstext und den Grundprinzipien des geltenden Regierungssystems 148 . Daß ein nach A r t . 67 GG durchgeführter Kanzler- und Regierungswechsel einer zusätzlichen „Legitimation" durch vorgezogene „Neuwahlen" bedürfe, ist eine neuerdings zu hörende politische These, die i m Verfassungsrecht keine Stütze findet. I n bewußter Abkehr von der Weimarer Verfassungslage (Art. 25 WRV) hat das Grundgesetz das ausschließlich dem Bundespräsidenten zustehende Parlamentsauflösungsrecht auf zwei Ausnahmesituationen begrenzt 149 . Nach der ersten 148 Rechtlich fehlerhaft u n d verfassungspolitisch bedenklich ist es, w e n n i m Zusammenhang m i t der (im Herbst 1982 erstmalig i n der Geschichte der Bundesrepublik vorgenommenen) Auswechslung eines Bundeskanzlers i m Wege des A r t . 67 GG von einem T e i l der öffentlichen Meinung u n t e r schieden w u r d e zwischen „Legalität u n d L e g i t i m i t ä t " (C. Schmitt) des K a n z lersturzes durch das Parlament. Der Bundeskanzler w i r d n u n einmal de constitutione lata ausschließlich v o m Parlament gewählt u n d abgewählt. 149 D a r i n k o m m t der Verfassungswille zum Ausdruck, daß das Parlament grundsätzlich die Legislaturperiode a k t i v durchstehen u n d seine K r i s e n tunlichst selbst überwinden soll, ohne an den (ungewissen) W ä h l e r w i l l e n zu appellieren.

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A l t e r n a t i v e dieser b e i d e n verfassungsrechtlichen T a t b e s t ä n d e k a n n ( n i c h t : m u ß ) d e r B u n d e s t a g v o m S t a a t s o b e r h a u p t aufgelöst w e r d e n , w e n n b e i d e r K a n z l e r w a h l d e r G e w ä h l t e k e i n e absolute M e h r h e i t e r reicht, so daß er e i n M i n d e r h e i t s k a b i n e t t 1 5 0 f ü h r e n m ü ß t e ( A r t . 63 I V S. 3 GG). D i e z w e i t e A l t e r n a t i v e d e r p r ä s i d i a l e n B e f u g n i s ( n i c h t : V e r p f l i c h t u n g ) z u r P a r l a m e n t s a u f l ö s u n g setzt voraus, daß e i n g e w ä h l t e r u n d ernannter K a n z l e r die Vertrauensfrage m i t negativem Ergebnis gestellt h a t : F i n d e t e i n A n t r a g des B u n d e s k a n z l e r s , i h m das V e r t r a u e n auszusprechen, n i c h t d i e Z u s t i m m u n g d e r M e h r h e i t d e r M i t g l i e d e r des B u n destages, so k a n n 1 5 1 d e r B u n d e s p r ä s i d e n t a u f V o r s c h l a g des B u n d e s k a n z lers d e n B u n d e s t a g auflösen ( A r t . 68 I GG). Diese b e i d e n S o n d e r t a t b e s t ä n d e 1 5 2 , d i e a l l e i n nach g e l t e n d e m Recht d e n W e g z u „ N e u w a h l e n " eröffnen, s o l l e n n a c h d e r r a t i o c o n s t i t u t i o n i s d i e v o r z e i t i g e P a r l a m e n t s a u f l ö s u n g n u r f ü r N o t f ä l l e des p a r l a m e n t a r i s c h e n Regierungssystems r e s e r v i e r e n u n d so d i e V e r f a s s u n g s s t r u k t u r d e r r e p r ä s e n t a t i v e n D e m o k r a t i e s t ä r k e n . O b es s i n n v o l l erscheint, j e n e äußerst b e g r e n z t e n v e r fassungsrechtlichen M ö g l i c h k e i t e n d e r P a r l a m e n t s a u f l ö s u n g b e h u t s a m z u e r w e i t e r n , e t w a d u r c h N o r m i e r u n g eines Selbstauflösungsrechts des P a r l a m e n t s u n t e r q u a l i f i z i e r t e n V o r a u s s e t z u n g e n 1 5 3 , i s t eine F r a g e d e r Verfassungspolitik, die n u r durch Verfassungsänderung lösbar wäre. 150 E i n amtierender Kanzler ohne ausreichende parlamentarische Mehrheit ist zwar rechtlich nicht ausgeschlossen (Art. 68, 81 GG), doch unter dem Gesichtspunkt einer funktionsfähigen Regierung so problematisch, daß das GG dem Bundespräsident eine — unter Berücksichtigung der gesamten K o n stellation zu treffende — Ermessensentscheidung einräumt, den betreffenden Bundestag aufzulösen, u m durch „Neuwahlen" zu einem arbeitsfähigen Parlament zu gelangen. 151 Selbst dieses Ermessen ist an eine Frist von 21 Tagen gebunden u n d w i r d hinfällig, sobald der Bundestag m i t der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler w ä h l t (Art. 68 I S. 2 GG). 152 Es versteht sich, daß namentlich i m Falle des negativen Ausgangs einer Vertrauensfrage des Kanzlers n u r der tatsächliche Verlust des Vertrauens i m Parlament den Bundespräsidenten zur Parlamentsauflösung berechtigt (nicht: verpflichtet). E i n manipuliertes Mißtrauensvotum als A n t w o r t auf die Vertrauensfrage eines Kanzlers, der eine faktisch hinreichende Mehrheit i m Parlament besitzt (Beispiel: u m zur Parlamentsauflösung u n d damit zu „Neuwahlen" zu gelangen, bleiben die Abgeordneten der den Kanzler t r a genden Parlamentsmehrheit der Vertrauensabstimmung fern oder enthalten sich der Stimme), w ü r d e eindeutig gegen das Grundgesetz verstoßen. I n diesem Falle wäre der — an das Grundgesetz gebundene — Bundespräsident nicht befugt, den Bundestag aufzulösen. Eine faktisch hinreichende Parlamentsmehrheit i m Sinne des G G u n d ein erweislich funktionsfähiges parlamentarisches Regierungssystem (folglich keine jener seltenen Krisenlagen, die nach dem GG eine Parlamentsauflösung legitimieren) sind typischerweise nach positivem Ausgang eines konstruktiven Mißtrauensvotums gem. A r t . 67 GG gegeben, solange die zur A b w a h l des früheren u n d zur N e u w a h l des amtierenden Kanzlers ausschlaggebende Konstellation i m Bundestag t a t sächlich fortbesteht. — Z u dieser Problematik neuestens das (ζ. Z. noch nicht verkündete) B V e r f G - U r t e i l i n den Verfahren A z 2 B v E 1/83 bis 4/83. 153 So hat v o r allem die „Enquête-Kommission Verfassungsreform" i n i h rem 1976 vorgelegten Schlußbericht — nach Prüfung der Gründe f ü r die

V. Das Bundesverfassungsgericht

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V . Das Bundesverfassungsgericht Literatur: E. Friesenhahn, Die Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Bundesrepublik Deutschland, 1963; P. Häberle (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976; G. Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, i n : Das Bundesverfassungsgericht 1951—1971, 2. A u f l . 1971, S.31ff.; H. Mosler (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Gegenwart. Länderberichte u n d Rechtsvergleichung, 1962; C.Starck, Das Bundesverfassungsgericht i m politischen Prozeß der Bundesrepublik, 1976. E i n e i n d e r deutschen Staatsrechtsgeschichte n e u a r t i g e 1 5 4 I n s t i t u t i o n , d i e sich indessen z u e i n e r t r a g e n d e n S ä u l e des g e l t e n d e n Rechtsstaats e n t w i c k e l t h a t , i s t das v o m Grundgesetz geschaffene B u n d e s v e r f a s s u n g s gericht. Z e n t r a l e A u f g a b e 1 5 5 dieses besonderen Staatsorgans i s t d i e S i c h e r u n g des V o r r a n g s d e r Verfassung, d i e als oberstes Gesetz f ü r a l l e A k t e d e r S t a a t s g e w a l t r e c h t l i c h a b s o l u t v e r b i n d l i c h i s t ( A r t . 20 I I I G G ) . Dieser Verfassungsgebundenheit unterliegen nicht n u r Regierung, V e r w a l t u n g u n d Rechtsprechung, s o n d e r n auch d e r das V o l k r e p r ä s e n t i e r e n d e p a r l a m e n t a r i s c h e Gesetzgeber. D i e s t r i k t e W a h r u n g des G r u n d gesetzes d u r c h a l l e Staatsorgane d e r B u n d e s r e p u b l i k g e w ä h r l e i s t e t i n l e t z t e r I n s t a n z das Bundesverfassungsgericht, das als „ H ü t e r d e r V e r fassung" eigens 1 5 6 k o n s t i t u i e r t ist. 1. N a c h seiner staatsrechtlichen S t r u k t u r i s t das B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t z u g l e i c h G e r i c h t u n d Verfassungsorgan. D i e i n d e r B u n d e s r e p u b l i k ausschließlich d e n R i c h t e r n a n v e r t r a u t e rechtsprechende G e w a l t w i r d d u r c h das Bundesverfassungsgericht, d u r c h d i e i m G r u n d gesetz vorgesehenen B u n d e s g e r i c h t e 1 5 7 u n d d u r c h d i e G e r i c h t e d e r L ä n Möglichkeit der vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode außerhalb der Fälle des A r t . 63 I V G G u n d 68 G G — zwar widerraten, der regierenden Parlamentsmehrheit (als zusätzliche Prämie auf den legalen Machtbesitz) auch das Recht auf Parlamentsauflösung durch einfachen Mehrheitsbeschluß zu gewähren, jedoch empfohlen, zur Bewältigung besonderer Krisenlagen i m Parlament dem Bundestag durch Verfassungsänderung ein Selbstauflösungsrecht einzuräumen, sofern eine qualifizierte Mehrheit v o n zwei D r i t t e l der gesetzlichen Mitgliederzahl dafür stimmt, vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 7/5924, S. 40 f. 154 Z u m historischen H i n t e r g r u n d vgl. U. Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit i m 19. u n d 20. Jahrhundert, i n : C. Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, 1. Band, 1976, S. 1 ff. 165 Eine prägnante Übersicht über Grundlagen u n d Ausgestaltung gibt H. Steinberg er, Verfassungsgerichtsbarkeit, i n : R. Weber-Fas (Hg.), Jurisprudenz. Die Rechtsdisziplinen i n Einzeldarstellungen, 1978, S. 537 ff. ΐ5β F ^ r die organisatorische F o r m richterlicher Verfassungskontrolle gibt es zwei staatsrechtliche Grundmodelle: Zuweisung dieser J u r i s d i k t i o n an die allgemeine Gerichtsbarkeit (Beispiel: USA) oder Einrichtung separater V e r fassungsgerichte nach A r t des GG. 157 V o n besonderer Bedeutung sind — außer den einfachen Bundesgerichten nach A r t . 96 G G — die auch f ü r die Gerichte der Länder als Revisionsgerichte fungierenden obersten Bundesgerichte. I m Unterschied zur Gerichtsorganisation anderer Staaten (Beispiel: USA) gibt es i n der Bundesrepublik

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§ 10 Verfassungsgestalt u n d Kompetenzen oberster Staatsorgane

der ausgeübt (Art. 92 GG). Daß das Verfassungsgericht, außer seiner i m Grundgesetz erwähnten Eigenschaft als richterlicher Spruchkörper, ein Verfassungsorgan sui generis ist, läßt sich auch dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht entnehmen. Danach ist das Bundesverfassungsgericht ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes ( § 1 1 BVerfGG). Als Verfassungsorgan, das den anderen Verfassungsorganen gleichgeordnet ist, genießt das Bundesverfassungsgericht bestimmte autonome Rechte, die den obersten Bundesgerichten (Art. 95 GG) nicht zustehen. Kennzeichnend für diesen besonderen Status ist es zum Beispiel, daß das Bundesverfassungsgericht sich eine Geschäftsordnung 158 geben kann, daß es nicht bei der Bundesregierung oder einem anderen obersten Bundesorgan ressortiert und daß es über einen eigenen Etat i m Bundeshaushalt verfügt. 2. Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts sind Richter, die unabhängig und neutral die ihnen unterbreiteten Streitigkeiten durch Anwendung von Rechtsnormen verbindlich entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht besteht aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern. A l l e Mitglieder des Gerichts werden gewählt, und zwar je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate (Art. 94 I GG). Das Bundesverfassungsgericht ist verfaßt als Zwillingsgericht, gebildet aus zwei Senaten m i t festen Zuständigkeiten (§ 2 I, 14 BVerfGG), deren jeder das Gericht verkörpert. Jeder Richter w i r d i n einen der beiden Senate berufen, dem er für die Dauer seiner Amtszeit zugeordnet ist. Jedem Senat gehören acht 159 Richter an (§ 2 I I BVerfGG). Drei Richter jedes der beiden Senate müssen Bundesrichter sein, das heißt, jene sechs Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts werden aus dem Kreis der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes gewählt (Art. 94 I GG, § 2 I I I BVerfGG). Dieser zwingend vorgeschriebene Mindestanteil bundesrichterlicher Mitglieder soll einer personellen Politisierung des Bundesverfassungsgerichts entgegenwirken und die fachliche Qualität seiner Rechtk e i n allzuständiges Spitzengericht, das einheitlich f ü r alle Zweige der Rechtsprechung höchste Instanz ist. Das GG hat vielmehr den Gesamtbereich der Rechtsprechung i n fünf Fachgerichtsbarkeiten aufgeteilt, an deren Spitze fünf oberste Gerichtshöfe des Bundes stehen: der Bundesgerichtshof f ü r die Gebiete der ordentlichen Gerichtsbarkeit; das Bundesverwaltungsgericht f ü r die Verwaltungsgerichtsbarkeit; der Bundesfinanzhof für die Finanzgerichtsbarkeit; das Bundesarbeitsgericht f ü r die Arbeitsgerichtsbarkeit; das Bundessozialgericht f ü r die Sozialgerichtsbarkeit (Art. 95 I GG). 158 Z u den grundsätzlichen Problemen dieser erst relativ spät zustandegekommenen Geschäftsordnung vgl. R. Wand, Fragen zu einer Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts, i n : Festschrift f ü r G. Müller, 1970, S. 563 ff. 159 Wegen der geraden Z a h l der Senatsmitglieder g i l t die Vorschrift, daß bei Stimmengleichheit ein Verstoß gegen das Grundgesetz nicht festgestellt werden k a n n (§ 15 I I S. 4 BVerfGG).

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V. Das Bundesverfassungsgericht

sprechung durch Einbringung höchstrichterlicher helfen.

Erfahrung

sichern

3. Aufgabe der gesamten — statusrechtlich gleichgestellten 160 — Richterschaft des Bundesverfassungsgerichts ist die neutrale Entscheidung verfassungsrechtlicher Fragen nach juristischen Maßstäben. Angesichts des inneren Zusammenhangs zwischen Staatspolitik und Staatsverfassung sowie i m Hinblick auf die „politische" Wahl unabhängiger Verfassungsrichter und die „politischen" Auswirkungen verfassungsgerichtlicher Leitentscheidungen ist es nachvollziehbar, wenn ein gewisser verkürzender publizistischer Sprachgebrauch Formeln wie „politische Rechtsprechung" oder „politische Besetzung der Richterbank" verwendet. Derartige Ausdrucksweisen sind indessen wegen ihrer Mehrdeutigkeit nicht ungefährlich. Sie fördern eine gewisse Zeittendenz, den Bereich der Politik mit Parteipolitik oder Tagespolitik ineinszusetzen. Dem gilt es zu widerstehen, wenn objektive Staatsrechtswissenschaft und unabhängige Verfassungsrechtsprechung nicht abdanken wollen. Die Nichtidentität von Sein und Sollen, von Lebenswirklichkeit und Rechtsnorm ist unaufhebbar. Diese Spannung auszuhalten gehört zum Wesen des freiheitlichen Verfassungsstaats. Den Vorrang des Normativen der Verfassung gegenüber der Macht des Faktischen zu sichern, ist die vornehmste Aufgabe der Verfassungsrichter. 4. Anders als die Bundesrichter 161 werden die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts i n stärkerem Maße unmittelbar vom Bundesparlament und von der „Länderkammer" gewählt, und zwar je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate (Art. 94 I S. 2 GG). Der unterschiedliche Wahlmodus 1 6 2 hängt zusammen m i t der Eigenart der Verleo Die Amtszeit aller Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts dauert zwölf Jahre, Wiederwahl ist ausgeschlossen (§ 4 I , I I BVerfGG). Es gelten bestimmte I n k o m p a t i b i l i t ä t e n : Die Bundesverfassungsrichter — andere Berufstätigkeiten sind ihnen untersagt m i t Ausnahme der eines Rechtslehrers an einer deutschen Hochschule (§ 3 I V BVerfGG) — dürfen weder dem B u n destage, dem Bundesrate, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Bundeslandes angehören (Art. 94 I GG). 161 Bei der W a h l der Bundesrichter w i r d die maßgebende Beteiligung des Bundestages u n d der Länderregierungen w i r k s a m durch einen besonderen Richterwahlausschuß. Dieses G r e m i u m besteht aus den jeweiligen Ressortministern der Länder u n d einer gleichen A n z a h l von Mitgliedern, die v o m Bundestage gewählt werden (Art. 95 I I GG). 192 Die neuartige F o r m der Berufung höchster Richter durch die gesetzgebenden Körperschaften begegnet immer noch, abgesehen von der k o n kreten K r i t i k an einzelnen Wahlen, auch grundsätzlicher Skepsis. Da es ein „ideales" Verfahren der W a h l u n d Ernennung praktisch nicht gibt, hängen die Resultate bei jedem Modus entscheidend ab von der parteipolitischen Selbstbeschränkung der Auswählenden, damit w i r k l i c h e Richterpersönlichkeiten von bester fachlicher Qualifikation f ü r diese Spitzenämter gewonnen werden. — Den Versuch einer systematischen Erfassung u n d Würdigung der zurückliegenden Wahlen zum Bundesverfassungsgericht u n t e r n i m m t K. Krö-

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§ 10 Verfassungsgestalt u n d Kompetenzen oberster Staatsorgane

fassungsrechtsprechung, deren Entscheidungen sich namentlich i n den Verfahren der Normenkontrolle auf den Bestand von Rechtsetzungsakten der gesetzgebenden Körperschaften auswirken. Unbeschadet des paritätischen Anteils von Bundestag und Bundesrat 1 8 3 an der Berufung der Verfassungsrichter ist das Verfahren i n beiden Wahlorganen verschieden. Während der Bundesrat direkt i m Plenum wählt, handelt der Bundestag indirekt durch einen zwölfköpfigen Wahlmännerausschuß, der vom Parlament nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt wird. Diese nicht vom Grundgesetz selbst, sondern nur vom Gesetzgeber (§ 8 BVerfGG) seit langem eingeführte Wahlprozedur findet ihre Erklärung i n der für eine unmittelbare Richterwahl und ihre angemessene Vorbereitung zu großen Zahl der Bundestagsmitglieder. I n der Praxis hat das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten i n beiden Wahlkörpern seit jeher, da keine politische Gruppe die Verfassungsrichter wählen zu dominieren vermochte, einen Einigungszwang der Elektoren m i t sich gebracht. Demgemäß erfolgen, nach oft sehr schwierigen formlosen Vorgesprächen 184 zwischen den beteiligten Seiten, die schließlichen formellen Wahlen meistens einstimmig. Die Gewählten werden vom Bundespräsidenten ernannt (§ 10 BVerfGG). 5. Die neuartige Institution des Bundesverfassungsgerichts zeigt sich besonders ausgeprägt i n den vom Grundgesetz vorgesehenen Kompetenzen, die wesentlich umfassender sind als die Zuständigkeiten der traditionellen Staatsgerichtsbarkeit. Aus dem weiten Feld der verfassungsgerichtlichen Jurisdiktion (Art. 93 GG) seien i m folgenden als exemplarische Verfahrensarten 185 kurz beleuchtet die Verfassungsbeschwerde, die konkrete Normenkontrolle, die abstrakte Normenkontrolle, der Organstreit und der Bund-Länder-Streit. A l l e n verfassungsgerichtlichen Erkenntnissen kommt eine übergreifende Bindungswirkung zu, u m den Vorrang des Verfassungsrechts i m Staatsleben zu sichern. Während i m sonstigen Verfahrensrecht selbst höchstrichterliche Urteile rechtlich nur für die Prozeßparteien gelten, binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sämtliche Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden (§ 31 I BVerfGG). I n ger, Richterwahl, i n : C. Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht u n d G r u n d gesetz, 1. Bd. (1976), S. 76 ff. 168 I n beiden Wahlkörperschaften ist, u m der breiteren demokratischen Legitimierung der Gewählten willen, eine Zweidrittelmehrheit zur W a h l erforderlich, vgl. §§ 6 V, 7 BVerfGG. 164 i m Vorfeld der Verfassungsrichterwahlen spielen eine wichtige, nicht unumstrittene Rolle sog. „Findungskommissionen" (in denen Bundestag u n d Landesregierungen vertreten sind) u n d die Einigungen über „Vorschlagsrechte" der politischen Parteien (mit der Folge der grundsätzlichen Akzeptanz des vorgeschlagenen Kandidaten durch die andere Seite). les w e g e n der gesetzlichen Ausgestaltung i m einzelnen vgl. §§ 13 ff., 36 ff. BVerfGG.

V. Das Bundesverfassungsgericht

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den Fällen der Normenkontrolle haben die Verfassungsgerichtsentscheidungen sogar Gesetzeskraft (§ 31 I I BVerfGG). a) Von entscheidender Bedeutung für einen effektiven Grundrechtsschutz 166 i m geltenden Rechtsstaat ist die grundgesetzliche Gewährleistung der Verfassungsbeschwerde. Danach kann jedermann m i t der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt i n einem seiner Grundrechte oder i n einem seiner i n A r t . 20 I V , 33, 38, 101, 103 und 104 des Grundgesetzes enthaltenen Rechte verletzt zu sein, die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben (Art. 93 I Nr. 4 a GG). Verfassungsbeschwerdebefugt ist nur der unmittelbar Betroffene 167 und das Verfahren dient ausschließlich der Durchsetzung von Grundrechten und bestimmter grundrechtsähnlicher Positionen 168 . Die gerügte Grundrechtsverletzung kann i n A k t e n des Gesetzgebers, der Exekutive und der Rechtsprechung liegen. Die Verfassungsbeschwerde direkt gegen ein Gesetz (nicht erst, wie es dem Normalfall entspricht, gegen den gesetzesanwendenden Vollzugsakt) ist freilich nur zulässig, wenn der Beschwerdeführer bereits durch den Erlaß des Gesetzes169 i n seinen Grundrechten betroffen wird. Für die Praxis wichtig ist ferner das grundsätzliche Erfordernis der vorherigen Erschöpfung des Rechtswegs gegen die behauptete Grundrechtsverletzung. Ausnahmsweise kann das Bundesverfassungsgericht bereits vor Erschöpfung des Rechtswegs zu den Fachgerichten über eine Verfassungsbeschwerde entscheiden, wenn diese von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde (§ 90 I I BVerfGG). Zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit des — m i t Verfassungsbeschwerden außerordentlich belasteten 170 — Bundesverfassungsgerichts gibt es den nicht 1ββ Ohne verfassungsgerichtliche Sanktion wäre der Grundrechtsinhaber weitgehend auf das Verfassungsverständnis u n d den Verfassungsgehorsam von Parlament, Regierung, V e r w a l t u n g u n d Fachgerichtsbarkeit angewiesen. 187 Das GG hat sich bewußt gegen eine jedermann zustehende Popularbeschwerde entschieden. 168 Die Verfassungsbeschwerde ist k e i n zusätzliches Rechtsmittel (das dem Betroffenen eine A r t von „Superrevision" eröffnet), sondern ein spezifischer Rechtsbehelf zum Schutz des objektiven Verfassungsrechts, sie erschöpft sich also nicht i m individuellen Grundrechtsschutz, vgl. BVerfGE 33, S. 247, 259. ιββ Voraussetzung ist, daß das Gesetz den Betroffenen selbst, gegenwärtig u n d unmittelbar i n einem Grundrecht verletzt, vgl. BVerfGE 50, S. 290, 319. 170 V o n den bis Ende 1975 beim B V e r f G insgesamt anhängig gemachten 33 323 Verfahren w a r e n nicht weniger als 31 300 Verfassungsbeschwerden. Demgegenüber gab es n u r 2 Parteiverbots verfahren, doch i m m e r h i n 1556 Normenkontrollverfahren. Die restlichen 465 Verfahren verteilten sich auf Bund-Länder-Streitigkeiten, Organklagen u n d andere Verfassungsstreitigkeiten. Bemerkenswert ist auch die m i t rd. 1 % außerordentlich niedrige Erfolgsquote der Verfassungsbeschwerden. Vgl. die Zahlenangaben bei H. F. Zacher, Die Selektion der Verfassungsbeschwerden, i n : C. Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht u n d Grundgesetz, Bd. I (1976), S. 396, 399.

11 Weber-Faa

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§ 10 Verfassungsgestalt u n d Kompetenzen oberster Staatsorgane

unumstrittenen prozeßrechtlichen Filter des Annahmeverfahrens. Zunächst muß eine Verfassungsbeschwerde die Hürde des aus drei Richtern bestehenden Vorprüfungsausschusses nehmen 171 , alsdann entscheidet das Plenum des zuständigen Senats über deren Annahme 1 7 2 . Das rechtsstaatliche Problem dieses Verfahrens liegt namentlich i n der für dezisionistische Entscheidungen offenen gesetzlichen Regelung, daß jene Entscheidungen des Ausschusses und des Senats nicht begründet zu werden brauchen (§ 93 a V BVerfGG). b) Die konkrete Normenkontrolle ist ein verfassungsprozessuales Institut, das i n Verbindung m i t einem gerichtsanhängigen Einzelfall der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm dient. Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich u m die Verletzung des Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen (Art. 100 I GG). Bei der konkreten Normenkontrolle ist zu unterscheiden zwischen dem ungeschriebenen richterlichen Prüfungsrecht und dem geschriebenen verfassungsgerichtlichen Verwerfungsmonopol. Das Grundgesetz geht aus von einem umfassenden Prüfungsrecht auch der Instanzgerichte, soweit es sich u m die Verfassungsmäßigkeit des i m konkreten Rechtsstreit entscheidungserheblichen Gesetzes handelt. Indessen dürfen (und müssen) die Instanzgerichte ein von ihnen für verfassungswidrig gehaltenes Gesetz erst dann endgültig außer Anwendung lassen, wenn ihr negatives Prüfungsergebnis vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden ist. M i t dieser Monopolisierung der definitiven „Verwerfung" (Nichtigerklärung) bei einem Höchstgericht i m Range oberster Verfassungsorgane des Bundes soll der nachkonstitutionelle Gesetzgeber 173 vor der Mißachtung seiner Normsetzung durch beliebige Gerichte geschützt werden. 171 Der Ausschuß (§ 93 a I I BVerfGG) k a n n durch einstimmigen Beschluß die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnen, w e n n sie unzulässig ist oder aus anderen Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 93 a I I I BVerfGG). 172 Der Senat n i m m t die Verfassungsbeschwerde an, w e n n mindestens zwei Richter der Auffassung sind, daß entweder von der Entscheidung die K l ä r u n g einer verfassungsrechtlichen Frage zu erwarten ist oder daß dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein schwerer u n d unabwendbarer Nachteil entsteht (§ 93 a I V BVerfGG). 173 Da Gesetze i m Sinne von A r t . 100 I GG n u r Gesetze i m formellen Sinne (BVerfGE 1, 184 ff.) u n d n u r nachkonstitutionelle Gesetze (BVerfGE 2, 124 ff.) sind, behalten die Instanzgerichte die Verwerfungskompetenz uneingeschränkt f ü r formelle Gesetze, die vor I n k r a f t t r e t e n des GG verkündet w u r d e n sowie f ü r vorkonstitutionelle Rechtsnormen, die keine formellen Gesetze sind, also insbesondere f ü r Rechtsverordnungen. Allerdings erfolgt die instanzgerichtliche „ V e r w e r f u n g " n u r incidenter f ü r den Einzelfall, während bei der v e r fassungsgerichtlichen Normenkontrolle die Verwerfung allgemeinverbindlich ist u n d Gesetzeskraft hat (§ 31 BVerfGG).

V . Das Bundesverfassungsgericht

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c) I m Unterschied zum Normenkontrollverfahren nach A r t . 100 I GG steht die abstrakte Normenkontrolle nicht i m Zusammenhang m i t verfassungsrechtlichen Vorfragen eines nichtverfassungsrechtlichen Gerichtsprozesses. Vielmehr entscheidet hier das Bundesverfassungsgericht — auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages — bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Rechtsnormen m i t dem Grundgesetz (Art. 93 I Nr. 2 GG). Ferner erstreckt sich bei der abstrakten Normenkontrolle die Kompetenz des Verfassungsgerichts nicht nur auf die Überprüfung formeller nachkonstitutioneller Gesetze, sondern sie umfaßt, ohne zeitliche und rangmäßige Begrenzung, sämtliche Rechtsnormen des Bundes und der Länder 1 7 4 . Diese weitgespannte Zuständigkeit des Gerichts als Hüter der Verfassung soll, abstrahiert von subjektiven Berechtigungen und konkreten Streitfällen, die Gesamtrechtsordnung vor verfassungswidrigen Normen schützen und so den effektiven Vorrang der Verfassung sichern. Allerdings judiziert auch i n diesem Verfahren, wie es dem Grundprinzip der Richterrolle entspricht 175 , das Bundesverfassungsgericht nur auf A n trag 1 7 6 , wobei Voraussetzung ist, daß „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel" über die Verfassungsmäßigkeit der zu prüfenden Rechtsnorm vorliegen 177 . d) Anders als i n den Verfahren der konkreten und abstrakten Normenkontrolle geht es i m sog. Organstreit nicht u m die Nichtigerklärung eines Gesetzes178, sondern u m die gerichtliche Feststellung, ob die angefochtene Maßnahme oder Unterlassung gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt 179 . I m Organstreit entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten 174 Einschließlich insbesondere auch der Haushaltsgesetze, der Vertragsgesetze u n d der Rechtsverordnungen. 175 Daß der Richter nicht v o n sich aus t ä t i g w i r d , gehört zum Wesen der Rechtsprechungsfunktion, vgl. auch Κ . A. Bettermann, Verwaltungsakt u n d Richterspruch, i n : Gedächtnisschrift f ü r W. Jellinek, 1955, S. 361, 371. 176 Wenn, neben Bundesregierung u n d Landesregierungen, bereits ein D r i t tel der gesetzlichen Mitglieder des Bundestags (und nicht der Bundestag selbst als Verfassungsorgan) gem. A r t . 93 I Nr. 2 GG antragsberechtigt ist, so dient dies zugleich dem parlamentarischen Minderheitenschutz u n d der Stärkung der Oppositionsrechte. 177 Unerheblich ist, w o die Meinungsverschiedenheiten u n d Zweifel entstanden sind: die einschlägigen Differenzen u n d Unklarheiten sind nicht auf die Sphäre der Antragsberechtigten begrenzt. Indessen muß es sich u m reale, praktische, ein Normenkontrollbedürfnis rechtfertigende Meinungsverschiedenheiten handeln, so daß rein akademische, hypothetische, theoretische Differenzen hier nicht genügen. na BVerfGE 20, S. 119, 129. 179

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Siehe § 67 BVerfGG.

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§ 10 Verfassungsgestalt u n d Kompetenzen oberster Staatsorgane

Bundesorgans oder anderer Beteiligter 1 8 0 , die durch das Grundgesetz oder i n der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans m i t eigenen Rechten ausgestattet sind (Art. 93 I Nr. 1 GG). Während die abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 I Nr. 2 GG) lediglich bestimmte, nicht notwendigerweise zwischen den Beteiligten bestehende Meinungsverschiedenheiten voraussetzt, erfordert der Organstreit mehr als bloße verfassungsrechtliche Auffassungsunterschiede zwischen den „Organen" 1 8 1 . Es muß als Voraussetzung dieses Verfahrens zwischen den Parteien ein echter Streit bestehen i n dem Sinne, daß der Antragsteller geltend macht, durch Maßnahmen oder Unterlassungen des Antragsgegners i n einer verfassungsrechtlichen Position verletzt zu sein 182 . Der Organstreit ist also, wie sich insbesondere aus den einschlägigen Prozeßvorschriften ergibt 1 8 3 , ein kontradiktorisches Parteiverfahren über bestimmte Rechtsfolgen, die zwischen den Beteiligten des konkreten verfassungsrechtlichen Verhältnisses umstritten sind 1 8 4 . e) Nicht verfassungsrechtliche Streitigkeiten zwischen Beteiligten desselben Organträgers (Organstreit), sondern bundesstaatsrechtliche Konflikte zwischen verschiedenen Organträgern bilden den Gegenstand des Bund-Länder-Streits. Hier entscheidet das Bundesverfassungsgericht i m Falle von Meinungsverschiedenheiten über verfassungsrechtliche Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder, insbesondere bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der Ausübung der Bundesaufsicht (Art. 93 I Nr. 3 GG). I n der bisherigen bundesstaatlichen Praxis 1 8 5 wurde der Bund-Länder-Streit hauptsächlich ausgelöst durch (behauptete) Verletzungen der vom Grundgesetz verteilten Zuständigkeiten i m Bereich von Gesetzgebung und Verwaltung. Auch die Beeinträchtigung ungeschriebener verfassungsrechtlicher Pflichten kann 180 Z u den „anderen Beteiligten" (Antragstellern i m Organstreitverfahren gem. § 63 BVerfGG) k a n n u. U. auch der einzelne Abgeordnete gehören, sofern sein verfassungsrechtlicher Status durch bestimmte Maßnahmen beeinträchtigt w i r d , vgl. BVerfGE 2, S. 143, 164; entsprechendes g i l t f ü r das A n tragsrecht v o n Fraktionen (BVerfGE 45, S. 1, 28 f.) u n d politischen Parteien (BVerfGE 44, S. 125, 136 f.). 181 Gem. § 63 B V e r f G G können i m Organstreit Antragsteller u n d A n tragsgegner n u r sein: der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung u n d die i m GG oder i n den GOen des Bundestages u n d des Bundesrates m i t eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe. 182 Siehe auch § 64 I B V e r f G G ; das Streit-Erfordernis ist nicht erfüllt, w e n n n u r geltend gemacht w i r d , die andere Seite lege das Verfassungsrecht unrichtig aus. 183 Da der Wortlaut des GG insoweit mehrdeutig u n d die Entstehungsgeschichte widersprüchlich ist, darf das B V e r f G G hier (§§ 63, 67 BVerfGG) als zulässige Verfassungskonkretisierung verstanden werden. 184 Es genügt insbesondere nicht, daß zwei Träger verfassungsrechtlicher Zuständigkeiten bloß unterschiedlicher Meinung über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes sind. 185 Siehe etwa BVerfGE 1, 14 ff.; 4, 115 ff.; 11, 6 ff.

V . Das Bundesverfassungsgericht

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i n diesem Verfahren gerügt werden 1 8 6 . Eine prozeßrechtliche Begrenzung des verfassungsrechtlichen Bund-Länder-Streits liegt i n dem Erfordernis, daß die föderalen Streitigkeiten durch bestimmte Maßnahmen oder Unterlassungen der anderen Seite ausgelöst sein müssen 187 . Da auch ein Gesetz eine Maßnahme sein kann, die einen Partner i m Bund-Länder-Verhältnis i n seinen Rechten verletzt, steht es gegebenenfalls dem Antragsteller frei, statt des Bund-Länder-Streits den verfahrensrechtlichen Weg der abstrakten Normenkontrolle zu wählen 1 8 8 .

186 Grundlegend hierzu (und zum Bund-Länder-Verhältnis überhaupt) ist das sog. Konkordatsurteil von 1957, vgl. BVerfGE 6, S.309, 328; dort ging es allgemein u m Fragen der „Bundestreue" u n d speziell u m die Pflicht der Länder zur Respektierung v o n völkerrechtlichen Verträgen des Bundes. 187 Vgl. § 69 i. V. m. § 64 I BVerfGG; antragsberechtigt sind n u r die B u n desregierung oder eine Landesregierung (§ 68 BVerfGG). 188 Beide Verfahrensarten stehen insoweit selbständig nebeneinander, vgl. BVerfGE 7, S. 305, 310 f.

Viertes Kapitel

Die Grundrechte in der Verfassungsordnung des Bandes L i t e r a t u r : A. Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren, 1979; E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie u n d Grundrechtsinterpretation, N J W 1974, S. 1529 ff.; E. Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechts Verständnisses, i n : 50. D J T I I (1974), G I f f . ; F. Härtung, Die E n t w i c k l u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, 4. A u f l . 1972; H . H . Klein, Die Grundrechte i m demokratischen Staat, 1974; F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1969; G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte u n d G r u n d freiheiten i m Umriß, 1968; ü . Scheuner, Die rechtliche Tragweite der G r u n d rechte i n der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts, i n : Festschrift f ü r E . R . Huber, 1973, S. 139 ff.; R. Schnur (Hg.), Z u r Geschichte der E r k l ä r u n g der Menschenrechte, 1974; A. Voigt, Geschichte der G r u n d rechte, 1948.

Wie bei der Erörterung der verfassungsgestaltenden Fundamentalentscheidungen dargelegt wurde 1 , dient das formelle Normengefüge des grundgesetzlichen Rechtsstaats (Vorrang der Verfassung, Gewaltenteilung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Rechtsweggarantie usw.) letztlich den substantiellen Grundprinzipien der Menschenwürde, der Freiheit und der Gleichheit. Diese mehrdimensionale Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik findet ihre spezifische staatsrechtliche Ausprägung vor allem i n den Grundrechten der Verfassung. Die besondere juristische und politische Bedeutung dieser höchstrangigen Rechte unter der Geltung des Bonner Grundgesetzes gewinnt klare Konturen erst vor dem verfassungsgeschichtlichen Hintergrund ihrer gegenwärtigen normativen Gestalt. Aus diesem Grunde folgt zunächst ein kurzer Rückblick auf wichtige Marksteine der neuzeitlichen Grundrechtsbewegung.

§ 11 Z u r politisch-historisdien E n t w i c k l u n g der Grundrechtsidee

Die heutigen Grundrechte haben ihre tieferen Wurzeln i n verschiedenen Phasen der politischen Geistesgeschichte der Neuzeit. Die Epochen der Antike und des Mittelalters vermochten aus unterschied1 Siehe Zweites Kapitel, § 6: Die verfassungsrechtliche Gestalt des Rechtsstaats (Abschn. I I I : Substantielle Verfassungszwecke der Rechtsstaatlichkeit).

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§ 11 Z u r politisch-historischen E n t w i c k l u n g der Grundrechtsidee

liehen Gründen wirkliche Menschen- und Bürgerrechte noch nicht herauszubilden. So fehlte namentlich i m politischen Denken des griechischen Altertums die klare begriffliche Unterscheidung von Einzelperson und politischem Verband und damit eine entscheidende theoretische Grundlage für die Entwicklung individueller, gegen die Polis gerichteter Freiheitsrechte des als Zóon politicón aufgefaßten Menschen. Nicht nur dem klassischen Griechenland, sondern den antiken Gemeinwesen überhaupt gebricht es, bei aller politischen Freiheit, an den gedanklichen und staatsrechtlichen Voraussetzungen der Individualfreiheit i m modernen Sinn 2 . Nachdem der „Staat" des Mittelalters, schon wegen seiner geringen Herrschaftsintensität und begrenzten Regelungskompetenz, der Hervorbringung von Freiheitsrechten kein hinreichendes politisch-juristisches Widerlager geboten hatte 8 , vollzog sich ein entscheidender dialektischer Wandel m i t der zunehmenden Erstarkung der landesherrlichen Gewalt i m Zeichen einer sich integrierenden absolutistischen Hoheitsmacht des Monarchen. Erst nach epochalen Kämpfen gelang es, Rechtsgarantien eines von der Obrigkeit zu respektierenden Raums persönlicher Autonomie und insbesondere religiöser Freiheit zu erwirken. Bedeutsame Dokumente dieses stets von Rückschlägen bedrohten Siegeszuges der Grundrechtsidee sind vor allem die englische „ B i l l of rights" von 16894, sodann die nordamerikanische „ B i l l of rights" von 17765 und für K o n t i nentaleuropa die grundlegende „Declaration des droits de l'homme et du citoyen" der Französischen Revolution von 1789®. Diese von der amerika2 Näheres zu diesen Fragen bei O. v. Gierke , Naturrecht u n d Deutsches Recht, i n : W. Maihof er (Hg.), Begriff u n d Wesen des Rechts, 1973, S. 244, 264; K. Löwenstein, Rom u n d die allgemeine Staatslehre, AöR Bd. 96 (1971), S. 1, 12, 22; T. Mayer-Maly, Z u r Rechtsgeschichte der Freiheitsidee i n A n t i k e u n d Mittelalter, ÖZöR 1955, S. 419 ff. 8 Die vielzitierte (und w e n i g gelesene) Magna Charta L i b e r t a t u m von 1215 w a r nicht eine A r t Grundgesetz m i t Menschen- u n d Bürgerrechtsgarantien, sondern eine feudale Freiheitsverbürgung des Königs zugunsten des Adels, was schon die ursprüngliche Bezeichnung „Carta B a r o n u m " erkennen läßt. Z u r Rechtsnatur dieses „ s t a b i l i m e n t u m " vgl. McKechnie, Magna Carta, 2. A u f l . 1914 (Glasgow), S. 103 f. 4 T e x t bei G. Franz (Hg.), Staatsverfassungen, Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit u n d Gegenwart i n U r t e x t u n d Übersetzung, 3. A u f l . 1975, S. 512 ff. — Z u dieser schon recht modern anmutenden Beschränk u n g monarchischer Macht (u.a. durch Garantien parlamentarischer Redefreiheit; Gewährleistung des Petitionsrechts; Ausschluß der königlichen Suspension v o n Gesetzen; keine Prärogative der Krone auf Abgabenerhebung) vgl. auch R. v. Gneist, Englische Verfassungsgeschichte, S. 614 f. 6 T e x t der „Grundrechte von V i r g i n i a " bei G. Franz, Staatsverfassungen, (Fn. 4), S. 6. ff. 6 Die Hauptgrundrechte auf Freiheit, Eigentum u n d Widerstand (in der E r k l ä r u n g von 1789 fehlten Religionsfreiheit u n d Vereinigungsfreiheit), f i n den sich auch i n den französischen Verfassungen v o n 1793, 1795 u n d 1848. I n der Verfassung von 1875 waren sie nicht mehr verbrieft, doch galten

§ 11 Zur politisch-historischen E n t w i c k l u n g der Grundrechtsidee nischen V e r f a s s u n g s b e w e g u n g i n s p i r i e r t e 7 G r u n d r e c h t s d e k l a r a t i o n 8 h a t t e i d e e n p o l i t i s c h eine w e l t w e i t e Resonanz u n d b e e i n f l u ß t e n i c h t z u l e t z t auch das R i n g e n u m d i e G a r a n t i e v o n F r e i h e i t s - u n d G l e i c h h e i t s r e c h t e n i n Deutschland9. Freilich w a r e n Nationalstaat u n d V o l k s v e r t r e t u n g die p r i m ä r e n p o l i t i s c h e n Z i e l e , d i e das deutsche B ü r g e r t u m i m R a h m e n d e r k o n s t i t u t i o n e l l e n B e w e g u n g n a c h d e n F r e i h e i t s k r i e g e n anstrebte. D e r deutsche K o n s t i t u t i o n a l i s m u s des 19. J a h r h u n d e r t s , d e r d i e A l l m a c h t des a b s o l u t e n K ö n i g t u m s z u b e s c h r ä n k e n suchte, w a r g e r i c h t e t a u f u r k u n d l i c h e V e r f a s s u n g e n ( K o n s t i t u t i o n e n ) als u n v e r b r ü c h l i c h e r G r u n d l a g e n insbesondere d e r M i t w i r k u n g d e r P a r l a m e n t e b e i d e r G e setzgebung u n d d e r G a r a n t i e b ü r g e r l i c h e r F r e i h e i t s r e c h t e . I n d e n d e u t schen S t a a t e n w u r d e n d i e k o n s t i t u t i o n e l l e n F o r d e r u n g e n i n u n t e r s c h i e d lichem Maße u n d Tempo verwirklicht 10. D e n Grundrechten i n den frühen süddeutschen V e r f a s s u n g e n d i e n t e als V o r b i l d insbesondere d i e f r a n zösische C h a r t e c o n s t i t u t i o n e l l e v o n 1814. D i e V e r w i r k l i c h u n g d e r G r u n d r e c h t s i d e e i m n e u e r e n deutschen S t a a t s recht e m p f i n g n a c h h a l t i g e I m p u l s e d u r c h d e n G r u n d r e c h t s k a t a l o g d e r — p o l i t i s c h gescheiterten — Reichsverfassung v o n 1849, w e l c h e v o n d e r verfassungsgebenden N a t i o n a l v e r s a m m l u n g i n d e r P a u l s k i r c h e z u sie i m Rechtsbewußtsein der Franzosen weiter, vgl. Lebon, Das Verfassungsrecht der Französischen Republik, 1909, S. 174. 7 Formulierungshilfe bei Vorentwürfen der Déclaration w u r d e v o m amerikanischen Gesandten i n Paris, Jefferson , geleistet. 8 Die Declaration ist eingegangen i n die Französische Verfassung von 1791 (Text bei: F. Härtung, Die E n t w i c k l u n g der Menschen- u n d Bürgerrechte, 4. A u f l . 1972, S. 45 f.) i m Anschluß an folgende Präambel: „Nachdem die Repräsentanten des Volkes, konstituiert als Nationalversammlung, erwogen haben, daß die Unkenntnis, das Vergessen oder die Mißachtung der Rechte des Menschen die alleinigen Ursachen des öffentlichen Unglücks u n d der Verderbtheit der Regierungen sind, so haben sie beschlossen, i n einer feierlichen E r k l ä r u n g die natürlichen u n d unveräußerlichen u n d geheiligten M e n schenrechte darzulegen, damit diese E r k l ä r u n g allen Gliedern des gesellschaftlichen Verbandes ständig gegenwärtig sei u n d sie ohne Unterlaß an ihre Rechte u n d Pflichten erinnern möge; damit die Handlungen der gesetzgebenden u n d die der ausübenden Macht, w e n n sie i n jedem Augenblick m i t dem Endzweck aller politischen Satzungen verglichen werden können, mehr geachtet werden u n d damit die Ansprüche der Bürger des Staates, welche k ü n f t i g auf einfache u n d unwidersprechliche Grundsätze gegründet sein sollen, sich i m m e r auf die W a h r u n g der Verfassung u n d das allgemeine W o h l richten mögen. Daher erkennt u n d erklärt die Nationalversammlung, i n Gegenwart u n d unter dem Schutze des höchsten Wesens, folgende Rechte des Menschen u n d des Bürgers:" 9 Wie G. Jellinek hervorhebt (in: R. Schnur, Z u r Geschichte der E r k l ä r u n g der Menschenrechte, 1974, S. 2), hat sich erst unter dem Einfluß der Declarat i o n der französischen Konstituante v o n 1789 i m positiven Rechte der europäischen Staaten die Vorstellung v o m subjektiven öffentlichen Recht des Individuums entwickelt. 10 Förmliche Verfassungen kamen relativ f r ü h zustande i n Bayern (1818), Baden (1818), Württemberg (1819), Hessen (1831) u n d Sachsen (1831).

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§ 11 Z u r politisch-historischen Entwicklung der Grundrechtsidee

Frankfurt beschlossen worden war 1 1 . Die dort formulierte Verbürgung von „Grundrechten des deutschen Volkes" 1 2 , die i m Bewußtsein jener Verfassungsväter insbesondere auch auf der Idee unveräußerlicher Menschen- und Urrechte beruhte 13 , hatte ihren verfassungspolitischen Zweck, abgesehen vom Ziel der Einheit des deutschen Volkes, vor allem i n der Überwindung des absolutistischen Polizeistaates und i n der Entwicklung eines freiheitlichen Rechtsstaats 14 . Der Frankfurter Grundrechtskatalog war angereichert durch institutionelle Garantien wichtiger Rechtsbereiche, wozu namentlich Grundaussagen über das Verhältnis von Staat und Kirche sowie über die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Gemeinden gehörten. Anders als die Paulskirchenverfassung entfaltete die preußische Verfassungsurkunde von 185015 nicht nur politisch-intellektuelle, sondern auch positiv-staatsrechtliche Wirkungen. Der Grundrechtskatalog dieser vom belgischen Recht beeinflußten Verfassung des führenden deutschen Einzelstaats 16 der spätkonstitutionellen Epoche ist kennzeichnend für den damaligen Stand der Entwicklung. Typisch sind die dort fixierten Ausprägungen der Freiheits- und Gleichheitsidee wie etwa die Gleichheit aller Preußen vor dem Gesetz unter Wegfall von Standesvorrechten sowie die Grundrechte der persönlichen Freiheit, der Religionsfreiheit, der Meinungsäußerungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Vereinigungsfreiheit, der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Garantie des Privateigentums. Diesen textlich recht modern anmutenden Grundrechtsverbürgungen des konstitutionellen 19. Jahrhunderts fehlte indessen die erhöhte Geltungskraft, die den Fundamentalrechten nach heutigem Verfassungsrecht zukommt. Die begrenzte rechtsdogmatische und verfassungspraktische 11 Text der Verfassung des Deutschen Reiches von 1849 bei: E. R. Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, B a n d 1 (3. A u f l . 1978), S. 375 ff. 12 Siehe Abschn. V I der Paulskirchenverfassung (E. R. Hub er, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte) §§ 131—189. 13 Nähere Einzelheiten bei J. Franke, Das Wesen der Frankfurter G r u n d rechte von 1848/49 i m System der E n t w i c k l u n g der Menschen- u n d G r u n d rechte, Diss. Bonn 1970, S. 74 ff. 14 Dies w i r d besonders deutlich i n den Beratungen des Grundrechtsausschusses, vgl. F. Wigard, Stenographische Berichte der deutschen constituierenden Nationalversammlung, Bd. 1, S. 701. 15 Abgedruckt bei G. Dürig/W. Rudolf (Hg.), Texte zur deutschen V e r fassungsgeschichte, 1967, S. 91 ff., siehe insbesondere T i t e l I I „ V o n den Rechten der Preußen", A r t . 3 bis 42. 16 Die Bismarcksche Reichsverfassung v o n 1871 konnte von der Proklamation von Grundrechten absehen, da die i m Reich vereinigten Monarchien entsprechende Normen zumeist schon konstituiert hatten, vgl. zum ganzen E. R. Hub er, Grundrechte i m Bismarckschen Reichssystem, Festschrift für Scheuner, 1973, S. 163 f.

§ 11 Zur politisch-historischen Entwicklung der Grundrechtsidee

Bedeutung der damaligen Grundrechte hatte verschiedene Ursachen. Eine besonders wichtige Rolle spielte der Umstand, daß die Verfassung seinerzeit noch nicht als maßgebende rechtliche Grundordnung des Staates galt mit unverbrüchlichem Vorrang vor allen A k t e n der Gesetzgebung, der Exekutive und der Rechtsprechung. Symptomatisch für diese Geltungsschwäche der konstitutionellen Verfassungen war es, daß man i n der herrschenden Staatsrechtslehre der Zeit ein richterliches Prüfungsrecht der materiellen Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen nicht anerkannte 17 . Hinzu kam die Neigung wichtiger Autoren, die Freiheitsrechte nur als objektive Normen und nicht als subjektiv-öffentliche Rechte gegenüber dem Staat aufzufassen 18 . Teilweise wurden die Grundrechte nicht einmal als juristische Vorschriften i m engeren Sinn, sondern nur als geistige, geschichtliche und politische Bestandteile des Staatslebens gedeutet 19 . Insgesamt waren die damaligen Grundrechte kaum mehr als Richtpunkte für eine künftige Gesetzgebung; einschlägige Rechtsansprüche des Individuums ergaben sich nicht unmittelbar aus den Grundrechten, sondern allenfalls aus speziellen Verwaltungsgesetzen20. Jene juristische Geltungsschwäche der Grundrechte w i r k t e nach bis ins Staatsrecht der Weimarer Republik. Zwar hat das Reichsgericht die Grundrechte der Weimarer Verfassung als „Heiligtum des deutschen Volkes" bezeichnet 21 , doch wurden grundrechtliche Bestimmungen i n Rechtslehre und Staatspraxis dieser Zeit überwiegend nur als rechtsunverbindliche Programmsätze und richterlicher Kontrolle entzogen behandelt. Das damals vorherrschende Bewußtsein mangelnder normativer Vollwertigkeit der Grundrechte 22 ließ w o h l auch deren Außerkraftsetzung 23 durch Notverordnung Anfang 1933 als nicht so schwerwiegend empfinden, wie es heutiger grundrechtssensibler Beurteilung erscheint. 17 Siehe hierzu etwa K. Kaltenborn, Einleitung i n das constitutionelle V e r fassungsrecht, 1863, S. 351. 18 I n diesem Sinne noch C. Bornhak, Preußisches Staatsrecht, 2. A u f l . 1911, S. 295. 19 Vgl. dazu υ. Rönne! Zorn, Das Staatsrecht der preußischen Monarchie, 5. Aufl., 2. Bd. (1906), S. 150. 20 Näheres zu diesen Fragen bei F. Giese, Die Grundrechte, 1905, S. 24, 74; J. Pözl, Lehrbuch des Bayerischen Verfassungsrechts, 3. A u f l . 1860, S. 94. 21 RGZ 102, S. 165. 22 Nähere Darlegungen zu den „Grundrechten u n d Grundpflichten der Deutschen" (Art. 109 ff.) nach der Weimarer Reichsverfassung v o n 1919 (RGBl. 1919, S. 1383 ff.) finden sich i n den Beiträgen insbesondere v o n C. Schmitt, R. Thoma, H. Jahrreiß, L. Waldecker, K. Häntzschel u n d G. Anschütz, i m Zweiten B a n d des v o n G. A n s c h ü t z / R . Thoma herausgegebenen Handbuchs des Deutschen Staatsrechts, 1932, S. 572—689. 23 Die förmliche Aufhebung der Grundrechte lag i n der L i n i e des nationalsozialistischen Staatsdenkens, das eine gegenüber dem völkischen K o l l e k t i v rechtlich geschützte Freiheitssphäre des I n d i v i d u u m s grundsätzlich ablehnte.

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§ 12 Grundrechtsprinzipien u n d exemplarische Einzelgrundrechte § 12 Grundrechtsprinzipien der Verfassung u n d exemplarische Einzelgrundrechte

Wie i n verfassungsgeschichtlicher Perspektive die unumschränkte Staatsgewalt des absoluten Königtums die Grundlage bildete für die Entwicklung moderner Freiheitsrechte des Individuums, so schuf die totalitäre Überwältigung der individuellen Freiheit i m nationalsozialistischen Führerstaat 24 die politische Voraussetzung für eine Renaissance und Neukonzeption der Grundrechte i n Deutschland. Gegenüber der Weimarer Verfassung, deren liberaler Grundrechtskatalog an die Vorstellungen der Paulskirche 25 anknüpfte, haben die Grundrechte unter dem Bonner Grundgesetz, das gerade i n diesem Bereich über die Bahnen der Tradition hinausging, eine verfassungsrechtlich neuartige Dimension gewonnen. Dies zeigt sich vor allem i n der höchstwertigen Normativität der geltenden Grundrechte m i t ihrem absoluten Vorrang gegenüber allen Hoheitsakten der konstituierten Staatsgewalt. I . Der Vorrang der Grundrechte i m geltenden Rechtsstaat

Die Grundrechte der Bundesverfassung binden die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 I I I GG). Dieser klar und eindeutig bestimmte Primat der Grundrechte i m gesamten öffentlichen Recht der Bundesrepublik w i r d durch seine Verankerung i m ersten A r t i k e l des Grundgesetzes auch äußerlich hervorgehoben. Überhaupt wollten die Väter der Verfassung m i t der Voranstellung des Grundrechtsabschnittes i m äußeren Aufbau des Verfassungswerkes den Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates besonders unterstreichen 26 . Der generelle Vorrang der Verfassung (Art. 20 I I I GG) ist, i m geschichtlichen Bewußtsein der totalitären Vereinnahmung der grundrechtsschwachen Weimarer Republik, speziell für die Grundrechte i n A r t . 1 des Grundgesetzes nochmals betont. Auch m i t dieser verfassungstextlichen Hervorhebung ist freilich die volle normative K r a f t der Grundrechte noch nicht zureichend gesichert. Für ihre nachhaltige Aktualisierung kommt es, neben den notwendigen institutionellen Stützen, entscheidend an auf die fortzeugende Hervorbringung und Pflege jenes lebendigen Geistes menschlicher Würde und Freiheit, ohne den die Grundrechte auch i m besten Verfassungsstaat nicht gedeihen können. Für die deutschen 24 Z u r Grundlagenproblematik vgl. H. Arendt, Elemente totaler Herrschaft, 1958; R. Aron , Demokratie u n d Totalitarismus, 1970; K.D. Bracher, Zeit deri Ideologen, 1982; C. J. Friedrich, Totalitäre D i k t a t u r , 1957. 25 Dazu i m einzelnen ff. Scholler (Hg.), Die Grundrechtsdiskussion i n der Paulskirche, 1973. 26 So auch BVerfGE 7, S. 198, 205.

I. Der Vorrang der Grundrechte i m geltenden Rechtsstaat

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Grundrechte gilt i m übrigen dem Sinne nach, was man i n der englischen Jurisprudenz über das Verhältnis von Freiheitsrechten und Verfassung gesagt hat: „Each man's individual rights are far less the result of our constitution than the basis on which that constitution is foundet 27 ." Individuelle Selbstbestimmung, persönliche Autonomie und politische Freiheit sind die wesentlichen Grundlagen und Zwecke der rechtsstaatlichen Verfassung. Zwar kann die bloße verfassungstextliche Voranstellung der Grundrechte (Art. 1 ff. GG) diesen fundamentalen Normen keinen rechtsdogmatisch höheren Rang innerhalb der prinzipiell gleichrangigen, eine innere Einheit bildenden Gesamtheit der Verfassungsvorschriften verleihen. Doch äußert sich hier der legitime verfassungspolitische Wille, die strenge normative Bindung aller Staatsorgane an die Grundrechte i m Rahmen des allgemeinen Primats der Verfassung besonders hervorzuheben. Das Grundgesetz hat die maßgebenden Freiheits- und Gleichheitsrechte aus der verfassungsgeschichtlichen Sphäre feierlicher Proklamationen und unverbindlicher Programmsätze m i t Entschiedenheit abgelöst 28 und sie auf die Ebene umfassend verpflichtender, auch den demokratischen Gesetzgeber bändigender Verfassungsnormen emporgehoben. U m der unantastbaren Würde des Menschen w i l l e n (Art. 1 I GG) verweist das Grundgesetz m i t Nachdruck auf unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte als den Grundlagen friedlichen und gerechten Zusammenlebens (Art. 1 I I GG). Dieses Bekenntnis des Verfassungsgebers zu vorstaatlichen, überpositiven Urrechten hat seinen positiven, die gesamte Staatsgewalt rechtlich bindenden Niederschlag gefunden i n den Grundrechten der Bundesverfassung 29 . Solche Grund27 Vgl. Dicey , Introduction to the Study of the L a w of the Constitution, 8. A u f l . 1923, p. X X X V I I . 28 I n der Tat ist es ein großer Fortschritt, w e n n „der Gerechtigkeit Suchende nicht — w i e es Schiller formuliert — i n den H i m m e l greifen muß, sondern n u r zur Verfassung, u n d w e n n diese verfassungsrechtlichen Garantien m i t einer Fülle v o n rechtsstaatlichen Sicherungen umgeben sind", so Gebhard Müller, Die Grundrechte — I h r Wesen u n d ihre Grenzen, i n : FamRZ 1969, S. 5. 29 I n der Bundesrepublik sind, abgesehen v o n den Grundrechten der B u n desverfassung, auch Grundrechte der Landesverfassungen u n d bestimmte Grundrechte internationalrechtlicher A r t i n Geltung. Der Landesverfassungsgesetzgeber ist freilich eingeschränkt durch die Homogenitätsklausel (Art. 28 I GG) u n d durch den Vorrang des Bundesrechts bei Kollision m i t Landesrecht (Art. 31 GG) ; i m übrigen bleiben Grundrechts verbürgungen der Länder i n K r a f t (Art. 142 GG). — Keinen höheren Rang gegenüber Bundesgesetzen, sondern n u r technischen Vorrang als lex specialis / lex posterior genießen die international-rechtlichen Grundrechte. Ohne allgemeine Regeln des V ö l kerrechts i. S. v. A r t . 25 GG zu sein, stehen sie nach ihrer innerstaatlichen Transformation einfachen Bundesgesetzen gleich. Z u diesem besonderen Normenbereich gehören: die Europäische Konvention zum Schutze der M e n schenrechte u n d Grundfreiheiten —- M R K — (BGBl. 1952 I I , S. 685); die Europäische Sozialcharta (BGBl. 1964 I I , S. 1261); ferner die internationalen

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§ 12 Grundrechtsprinzipien u n d exemplarische Einzelgrundrechte

rechte können auch außerhalb des formellen Grundrechtsabschnitts (Art. 1—19 GG) normiert sein 30 . Keinen Grundrechtscharakter i m engeren Sinn hat die Präambel 3 1 des Grundgesetzes. Der i m deutschen Staatsrecht neuartige Vorrang der Grundrechte ist institutionell gesichert — auch dies eine A n t w o r t der Verfassungsväter auf die geschichtlich präzedenzlose Mißachtung menschlicher Würde i m totalitären Regime des Dritten Reiches — durch ein umfassend ausgebautes System richterlicher Kontrolle 3 2 . Ohne wirksame Einrichtungen eines justiziellen Verfassungsschutzes 33 bliebe der von der Verfassung gewollte Primat der Grundrechte, insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive nur unvollkommen i n der Staatspraxis gewährleistet. Dem gerichtlichen Rechtsschutz der Grundrechte dienen insbesondere — außer den ebenfalls grundrechtsschützenden, doch vom Einzelnen nicht initiierbaren Verfahren der konkreten und abstrakten Normenkontrolle (Art. 100 I, 93 I Nr. 2 GG) — die verfassungskräftige Rechtsweggarantie und die individuelle Verfassungsbeschwerde. W i r d jemand durch die öffentliche Gewalt i n seinen Rechten verletzt, so steht i h m der Rechtsweg offen (Art. 19 I V GG). Diese prozessuale Verbürgung, ein tragender Pfeiler des vom Grundgesetz konstituierten Rechtsstaats, gewährleistet, daß jedermann den Weg zu einem unabhängigen Gericht beschreiten kann, u m sich gegen grundrechtsverletzende A k t e der Regierung und Verwaltung zur Wehr zu setzen. Die generelle Rechtsweggarantie, m i t der sich ein altes verfassungsstaatliches Desiderat erfüllt hat, eröffnet freilich noch nicht den Weg des einzelnen auch zum Bundesverfassungsgericht. E i n derartiger, i m deutschen Verfassungsrecht neuartiger Rechtsbehelf ist durch besondere Grundgesetznorm eingeräumt worden. Danach kann jedermann m i t der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt i n einem seiner Grundrechte oder i n bestimmten grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein, Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben (Art. 93 I Pakte über bürgerliche u n d politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale u n d kulturelle Rechte (BGBl. 1973 I I , S. 1533 u n d 1569). — Keine u n mittelbare Rechtsgeltung haben die U N - D e k l a r a t i o n der Menschenrechte von 1948 u n d die KSZE-Schlußakte von Helsinki. 30 Dazu gehören insbesondere die Rechte der A r t . 33 1 — I I I GG, 101 I GG, 103 GG, 104 GG, ferner auch die Wahlrechtsgrundsätze des A r t . 38 I GG. 31 Der Vorspruch zum Grundgesetz f i x i e r t i n erster L i n i e politische Staats ziele, setzt jedoch zugleich der Gestaltungsfreiheit der Regierung rechtliche Schranken, vgl. BVerfGE 5, S. 85, 127; 36, S. 1, 17. 32 Dieses Rechtsschutzsystem ist so perfektioniert, daß m a n den Rechtsstaat Bundesrepublik gelegentlich i n polemischer Zuspitzung als „Richterstaat" u n d „Rechtswegestaat" bezeichnet hat. 33 Verfassungsimmanenten Schutz genießen die Grundrechte nicht zuletzt durch die Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 I I GG) u n d durch die von der sog. Ewigkeitsklausel (Art. 79 I I I GG) erfaßte Menschenwürdegarantie (Art. 1 I GG), die ihrerseits auf die Substanz der verfaßten Grundrechte ausstrahlt.

I I . Grundrechte als subjektive Rechte u n d objektive Normen

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Nr. 4 a GG). M i t dieser Verfassungsbeschwerde kann der Grundrechtsträger, wesentlich weitergehend als i m Wege der Rechtsschutzgarantie nach A r t . 19 I V GG, auch A k t e der gesetzgebenden und der rechtsprechenden Gewalt einer justizförmigen Verfassungskontrolle zuführen. I I . Grundrechte als subjektive Rechtspositionen und objektive Maßstabsnormen

Unbeschadet ihrer historischen Verwurzelung i n den klassischen Menschen- und Bürgerrechten erschöpft sich der normative Gehalt der geltenden Grundrechte nicht lediglich i n der Garantie individueller Abwehrrechte gegen die Staatsgewalt. Freilich bildet diese subjektive Komponente gerade unter dem Grundgesetz, nicht zuletzt i m Verfassungsverständnis der Rechtsgenossen34, den personbezogenen Ausgangspunkt für die Entfaltung der Grundrechte i m Verfassungsleben. 1. Geschichtlich betrachtet hat die Anerkennung der Grundrechte als subjektiver Rechtspositionen des einzelnen noch größere Schwierigkeiten bereitet als deren objektiv-rechtliche Entwicklung. Auch als allmählich einzelnen Grundrechten schon objektive Rechtssatzqualität 35 und nicht mehr bloßer Programmsatzcharakter zugebilligt wurde, war damit noch nicht die weitergehende Frage geklärt, ob Grundrechte außerdem subjektive öffentliche Rechte 36 sind, die einklagbare Ansprüche verbürgen. Diese Frage hat das Grundgesetz m i t aller Entschiedenheit und Deutlichkeit positiv beantwortet. Die strikte Bindungsklausel des A r t . 1 I I I GG bewirkt nicht lediglich die objektive Rechtsverpflichtung aller staatlichen Organe, die Grundrechte v o l l zu respektieren. Diese Grundsatznorm drückt überdies den Willen des Verfassungsgebers 37 aus, daß sich der einzelne gegenüber den Gerichten und Behörden des 34 Z u grundsätzlichen Fragen der Einbeziehung der Bürger i n die Verfassungsauslegung i m weiteren Sinne vgl. P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, 1975. — Siehe auch die Besprechung von R. Weber-Fas (BayVerwBl. 1981, H. 24) zu P. Häberles gedankenreicher Schrift über: Klassikertexte i m Verfassungsleben, 1981. 35 Die bloß objektive Qualifizierung bedeutete, daß, ohne korrespondierenden Anspruch des Individuums, die Staatsorgane der V e r w a l t u n g u n d Rechtsprechung verpflichtet waren, die statuierten Grundrechte zu beachten. 36 Einen wichtigen dogmatischen Beitrag zur Durchsetzung der G r u n d rechte als subjektive Rechte i. e. S. leistete O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte u n d i h r Schutz i n der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, 1914, passim. 37 Die subjektiv-rechtliche N a t u r der Grundrechte des GG w i r d bestätigt durch die Verfassungsmaterialien, vgl. hierzu etwa die Feststellungen i m Parlamentarischen Rat: „Diese Grundrechte sollen nicht bloß Deklamationen, Deklarationen oder D i r e k t i v e n sein, . . . sondern unmittelbar geltendes B u n desrecht, auf G r u n d dessen jeder einzelne Deutsche, jeder einzelne Bewohner unseres Landes vor den Gerichten soll Klage erheben können" (Abg. Dr. Schmid , SPD, i n : JöR Bd. 1 — 1951 — S. 43).

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Staates auf die i h m verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte soll berufen können 88 . Der subjektiv-rechtliche Gehalt der umfassenden Bindungsklausel (Art. 1 I I I GG) w i r d prozessual zu voller Geltung gebracht durch die grundgesetzlichen Garantien des allgemeinen Hechtswegs zu den Gerichten (Art. 19 I V GG) und des besonderen Rechtsbehelfs der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 I Nr. 4 a GG). 2. Die negatorische Bedeutung der Grundrechte als Abwehrrechte des Individuums gegen den Staat — das Bedrohungspotential des von Theoretikern schon totgesagten staatlichen Leviathan ist, zum unermeßlichen Schaden der menschlichen Würde und Freiheit, gerade i n der jüngsten Geschichte mit verstärkter Intensität wieder und wieder virulent geworden—, also jene fundamentale grundrechtliche Funktion der Sicherung individueller Freiheitsräume w i r d i n der mehrschichtigen Struktur moderner Grundrechte vor allem ergänzt durch die Bedeutung der Grundrechte als objektiver Prinzipien der Rechtsordnung. Diese i n Grundrechtstatbeständen objektiv mitenthaltenen verbindlichen Leitsätze für die staatliche Normenordnung haben die individualrechtliche Natur der Grundrechtsverfassung u m eine entscheidende Dimension erweitert. Dergestalt bilden die Grundrechte eine normative Basis der gesamten gesellschaftlichen Ordnung, die durch jene fundamentalen Festsetzungen maßgeblich strukturiert wird. Die subjektbezogenen Grundrechtsnormen entfalten auf diese Weise ihre volle W i r k u n g zugunsten des Einzelnen, indem sie auch als objektive Verfassungsgrundsätze gelten. I n der — vielleicht nicht ganz glücklichen, w e i l für Mißdeutungen offenen — Sprache des Bundesverfassungsgerichts sind m i t den Grundrechtsverbürgungen zugleich „Wertentscheidungen" 89 getroffen, die auf alle Rechtsgebiete ausstrahlen. Diese i n den Grundrechten enthaltenen normativen Richtpunkte objektiver Ordnung gelten insbesondere auch i n den Bereichen, die das Grundgesetzt nicht punktuell 4 0 angesprochen hat. I I I . Rechtsstaatliche Grenzen der Grundrechtsauslegung

Die überragende Bedeutung der Grundrechte für den Einzelnen und für die gesamte Rechtsordnung einerseits sowie der hohe Grad ihrer Konkretisierungsbedürftigkeit angesichts der besonders lapidaren und abstrakten Normfassungen andererseits führen dazu, daß i n diesem Rechtsbereich grundlegenden Fragen der Interpretation ein erhöhtes 38

So bereits BVerfGE 6, S. 386, 387. Diese Ausdrucks weise läßt sich zurück verfolgen bis zum K P D - U r t e i l , vgl. BVerfGE 5, S. 85, 204 ff. 40 Wie ζ. B. i n A r t . 6 G G (Ehe u n d Familie), A r t . 7 G G (Schulwesen), A r t . 14 GG (Eigentum) u n d A r t . 15 GG (Sozialisierung). 39

I I I . ßechtssiaatliche Grenzen der Grundrechtsauslegung

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Gewicht zukommt. I n den Jahrzehnten nach Inkrafttreten des Grundgesetzes haben Rechtsprechung und Literatur eine ganze Reihe verschiedener, i n ihren Konsequenzen erheblich divergierender grundrechtlicher Deutungssätze entwickelt, denen regelmäßig — explizit oder unausgesprochen oder gar unbewußt — eine spezifische Staatsauffassung zugrunde liegt. Aus der Fülle dieser staatstheoretisch fundierten Grundrechtsauffassungen 41 erscheinen die folgenden von besonderer Bedeutung für die Praxis. 1. Nach der streng liberalen Theorie, welche die bürgerlich-rechtsstaatliche Tradition geprägt hat, sollen die Grundrechte bestimmte, nach historischer Erfahrung besonders schutzbedürftige Sphären der autonomen Lebensgestaltung des Menschen gegen Eingriffe der Staatsgewalt verläßlich sichern. Die Grundrechte sind i n dieser Sicht ausschließlich Freiheitsrechte des Einzelnen oder vereinigter Einzelner m i t der Konsequenz einer klaren Begrenzung staatlicher Herrschaftsmacht gegenüber der Gesellschaft. Die individuelle Freiheit w i r d durch die verfaßten Grundrechte nicht begründet, sondern sie existiert i m vorstaatlichen Raum. Der Staat ist lediglich befugt und verpflichtet, die i h m vorausliegende Freiheit der Einzelnen rechtlich zu schützen und gegen die koexistierende gleiche Freiheit der anderen abzugrenzen. Da die grundrechtlich garantierte Freiheit vom Staate nicht konstituiert wird, soll er sie auch weder inhaltlich regeln noch i n der A r t ihrer Ausübung beeinflussen dürfen 42 . Für die Grundrechtsdogmatik folgt aus dieser Theorie, daß es ausschließlich Sache der Grundrechtsträger ist, ob und wie sie von ihrer individuellen Freiheit Gebrauch machen. Die Grundrechte der Verfassung garantieren diese Freiheit als solche und um ihrer selbst w i l l e n ohne Rücksicht auf die persönlichen Motive und sachlichen Zwecke des konkreten Freiheitsgebrauchs. Da die individuelle Freiheit der Gestaltungskompetenz des Staates prinzipiell entzogen ist, dürfen die konstituierten Gewalten auch nicht differenzieren zwischen einzelnen Arten des individuellen Freiheitsgebrauchs 43 . Sofern die Ver41

Z u diesen Fragen sehr i n f o r m a t i v E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie u n d Grundrechtsinterpretation, N J W 1974, S. 1529 ff. 42 Siehe dazu insbesondere H.H. Klein, öffentliche u n d private Freiheit, i n : Der Staat, Bd. 10 (1971), S. 145, 164 f. unter Hinweis auf J.St. M i l l („On Liberty"), wonach die einzige Freiheit, die diesen Namen verdiene, diejenige sei, die uns gestatte, unser eigenes W o h l auf unsere eigene Weise zu erstreben, solange die berechtigten Interessen anderer dadurch keinen Schaden nehmen. 48 Folglich geht es z.B. nicht an, die politisch motivierte Ausübung der Versammlungsfreiheit (Art. 8 I GG) oder der Demonstrationsfreiheit