Briefwechsel: Band 1 Briefe von Friedrich Nietzsche Januar 1880 - Dezember 1884 9783110838152, 9783110079005

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Briefwechsel: Band 1 Briefe von Friedrich Nietzsche Januar 1880 - Dezember 1884
 9783110838152, 9783110079005

Table of contents :
Briefe von Nietzsche. Januar 1880—Dezember 1884
1880
1881
1882
1883
1884
Nachträge. Zu Band II/5
Zu Band III/1
Inhaltsverzeichnis

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Nietzsche • Briefwechsel

w DE

G

Nietzsche Briefwechsel Kritische Gesamtausgabe

Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari

Dritte Abteilung Erster Band

Unter Mitarbeit von Helga Anania-Hess

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1981

Friedrich Nietzsche Briefe Januar 1880—Dezember 1884

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1981

CIP-Kurztitelaujnahme

der Deutschen

Bibliothek

N i e t z s c h e , Friedrich: Briefwechsel: krit. G e s a m t a u s g . / Nietzsche. H r s g . v o n G i o r g i o Colli u. M a z z i n o M o n t i n a r i . — Berlin; N e w Y o r k : d e G r u y t e r N E : Colli, G i o r g i o [Hrsg.]; Nietzsche, Friedrich: [Sammlung] A b t . 3. A b t . 3, B d . 1. B r i e f e v o n F r i e d r i c h N i e t z s c h e : J a n u a r 1 8 8 0 — D e z e m b e r 1884 / Mitarb.: H e l g a A n a n i a - H e s s . — 1981. ISBN 3-11-007900-3 ISBN 3-11-007899-6

© 1981 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung —Georg Reimer —Karl J. T r ü b n e r — V e i t & Comp., Berlin 30 Printed in G e r m a n y Kritische Gesamtausgabe von Friedrich Nietzsches Briefwechsel nach den Originalmanuskripten. Alle Rechte der R e p r o d u k t i o n , der Übersetzung und der Ü b e r n a h m e f ü r alle Länder vorbehalten. Walter de G r u y t e r & Co., Berlin, f ü r die deutsche Ausgabe. Editions Gallimard, Paris, f ü r die französische Ausgabe. Adelphi edizioni, Mailand, f ü r die italienische Ausgabe. Satz und D r u c k : H . H e e n e m a n n G m b H & Co, Berlin 42 Schutzumschlag und Einbandgestaltung: Barbara Proksch, F r a n k f u r t / M . Buchbinder: Lüderitz u. Bauer, Berlin 61

Briefe von

Nietzsche

Januar 1880—Dezember 1884

i. An Otto Eiser in Frankfurt Naumburg. (Anfang Januar 1880) Lieber Herr Doctor, Herzlichen Dank! Gerade dieser Tage dachte ich Ihrer, es verlangte mich mit Ihnen einmal wieder zu reden; es giebt Niemanden vertrauenswürdigeres als Sie. Aber um einen Brief zu wagen muß ich durchschnittlich 4 Wochen warten, bis die e r t r ä g l i c h e Stunde kommt — und hintendrein habe ichs noch zu büßen! Deshalb Verzeihung, wenn alles auf meiner Seite beim alten bleibt schweigend, aber in Liebe. Meine Existenz ist eine f ü r c h t e r l i c h e L a s t : ich hätte sie längst von mir abgeworfen, wenn ich nicht die lehrreichsten Proben und Experimente auf geistig-sittlichem Gebiete gerade in diesem Zustande des Leidens und der fast absoluten Entsagung machte — diese erkenntnißdurstige Freudigkeit bringt mich auf Höhen, wo ich über alle Marter und alle Hoffnungslosigkeit siege. Im Ganzen bin ich glücklicher als je in meinem Leben: und doch! Beständiger Schmerz, mehrere Stunden des Tages ein der Seekrankheit eng verwandtes Gefühl einer HalbLähmung, wo mir das Reden schwer wird, zur Abwechslung wüthende Anfälle (der letzte nöthigte mich 3 Tage und Nächte lang zu erbrechen, ich dürstete nach dem Tode). Nicht lesen können! Sehr selten schreiben! Nicht verkehren mit Menschen! Keine Musik hören können! Allein sein und spazieren gehen, Bergluft, Milch- und Eier-Diät. Alle inneren Mittel zur Milde-

4

Briefe von Nietzsche

25 rung haben sich nutzlos erwiesen, ich brauche nichts mehr. Die Kälte ist mir sehr schädlich. Ich will in den nächsten Wochen südwärts, um die Spaziergehe-Existenz zu beginnen. Mein T r o s t sind meine Gedanken und Perspektiven. Ich 30 kritzele auf meinen Wegen hier und da etwas auf ein Blatt, ich schreibe nichts am Schreibtisch, Freunde entziffern meine Kritzeleien. Das letzte, womit meine Freunde fertig geworden sind, folgt nebenbei, nehmen Sie es gütig auf, auch wenn es vielleicht Ihrer eignen Denkungsart weniger willkommen ist. (Ich selber 35 suche keine „Anhänger" — glauben Sie es mir? — ich genieße meine Freiheit und wünsche diese Freude allen zur geistigen Freiheit Berechtigten) Ihre liebe Frau steht vor mir als eine edle und starke Seele, welche mir wohl will. Ich bin und bleibe Ihr 40 getreuer F. Nietzsche Ich habe schon einigemal längere Bewußtlosigkeiten gehabt. Im letzten Frühjahr hatte man mich in Basel aufgegeben Nach der letzten Untersuchung hat die Sehkraft wieder erheblich abgenommen. Antwort auf Otto Eisers Brief vom yi. Dezember 1879: Otto Eiser antwortet am IJ. Januar 1880: III/2, S. 14.

II 6, 2, S.

12¡5.

2. An Malwida von Meysenbug in Rom Naumburg den 14 Jan 1880. Obwohl Schreiben für mich zu den verbotensten Früchten gehört, so müssen Sie, die ich wie eine ältere Schwester liebe und verehre, doch noch einen Brief von mir haben — es wird 5 doch wohl der letzte sein! Denn die furchtbare und fast unablässige Marter meines Lebens läßt mich nach dem Ende dürsten, und nach einigen Anzeichen ist mir der erlösende Hirnschlag

1.-2.

Januar 1880

5

nahe genug, um hoffen zu dürfen. Was Qual und Entsagung betrifft, so darf sich das Leben meiner letzten Jahre mit dem io jedes Asketen irgend einer Zeit messen; trotzdem habe ich diesen Jahren viel zur Läuterung und Glättung der Seele abgewonnen — und brauche weder Religion noch Kunst mehr dazu. (Sie merken, daß ich darauf stolz bin; in der That, die völlige Verlassenheit hat mich erst meine eignen Hülfsquellen entdek15 ken lassen) Ich glaube mein Lebenswerk gethan zu haben, freilich wie einer, dem keine Zeit gelassen war. Aber ich weiß, daß ich einen Tropfen guten Oeles für Viele ausgegossen habe und daß ich Vielen zur Selbst-Erhebung, Friedfertigkeit und gerechtem Sinne einen Wink gegeben habe. Dies schreibe ich 20 Ihnen nachträglich, es sollte eigentlich bei der Vollendung meiner „Menschlichkeit" ausgesprochen werden. Kein Schmerz hat vermocht und soll vermögen, mich zu einem falschen Zeugniß über das Leben, w i e ich es e r k e n n e , zu verführen. Z u wem dürfte ich dies Alles sagen, wenn nicht zu Ihnen? 25 Ich glaube — aber es ist unbescheiden es zu sagen? — daß unser Charakter viele Ähnlichkeiten hat. Z. B.: wir sind Beide muthig, und weder Noth noch Geringschätzung kann uns von der Bahn, die wir als die rechte erkennen abdrängen. Auch haben wir Beide in uns und vor uns Manches erlebt, dessen 3° Leuchten Wenige der Gegenwärtigen gesehen haben — wir h o f f e n für die Menschheit und bringen uns selber als bescheidenes Opfer, nicht wahr? Hören sie Gutes von Wagner's? Es sind drei Jahre, daß ich nichts von ihnen erfahre: die haben mich auch verlassen, und 35 ich wußte es längst, daß W(agner) vom Augenblicke an, w o er die Kluft unserer Bestrebungen merken würde, auch nicht mehr zu mir halten werde. Man hat mir erzählt, daß er gegen mich schreibe. Möge er damit f o r t f a h r e n : es muß die Wahrheit auf jede Art an's Licht kommen! Ich denke in einer dauernden 40 Dankbarkeit an ihn, denn ihm verdanke ich einige der kräftigsten Anregungen zur geistigen Selbstständigkeit. Frau W(ag-

6

Briefe von Nietzsche

ner), Sie wissen es, ist die sympathischste Frau, der ich im Leben begegnet bin. — Aber zu allem Verkehren und gar zu einem Wiederanknüpfen bin ich ganz untauglich. Es ist zu spät. Ihnen, meine liebe schwesterlich verehrte Freundin der Gruß eines jungen Alten, der dem Leben nicht gram ist, ob er gleich nach dem Ende verlangen muß. Friedrich Nietzsche.

j. An Otto Eiser in Frankfurt (Naumburg, Mitte J a n u a r 1880) Welche Überraschung! Welcher Frühling! Wie gute Menschen wohnen in der Hirschgasse! — N e i n , lieber guter H e r r Doctor, ich machte Ihnen die Schilderung meines Zustandes nach dem D u r c h s c h n i t t des letzten Jahres, nicht nach der Ausnahme. Statistisch: ich hatte 1 1 8 s c h w e r e Anfallstage; die leichteren habe ich nicht gezählt. Könnte ich Ihnen das F o r t w ä h r e n d e beschreiben, den beständigen Schmerz und D r u c k im K o p f , auf den Augen, und jenes lähmungsartige Gesammtgefühl von K o p f e bis in die Fußspitzen! — Meine Schwester sah mich unter den günstigsten Umständen, ich selber w a r zum H o f f e n verführt. Ihnen treu zugethan FN.

Antwort auf Otto Eisers Brief vom 13. Januar 1880: III/2, S. 14.

4. An Franz Overbeck in Basel

(Naumburg, Ende J a n u a r 1880)

Es gieng schlecht, ich konnte nicht diese Paar Zeilen schreiben, konnte auch nicht abreisen.

2.-5.

7

Januar 1880

Bitte lege das Geld nach Deinem Gutdünken an, und recht bald. Willst Du auch die beifolgende Dettloffsche Rechnung bezahlen? (sie ist mir s e h r fragwürdig — aber ich kann nichts machen) D r Ree war auf j T a g e bei mir, mit beruhigenderem Zustande der Gesundheit und zu großer Herz-Erquickung für mich. Dir und Deiner lieben Frau herzlich ergeben und eingedenk Dein Freund Oh dieser Winter! (Im letzten Jahre hatte ich 1 1 8 s c h w e r e Anfallstage) Antwort auf Overbecks Briefe vom

und27. Januar ¡88o:III/z,

S. 16 und26.

j. An Paul Ree in Stibbe (Naumburg, Ende Januar 1880) Wie viel Freude haben Sie mir gemacht, mein lieber, außerordentlich lieber Freund! Also ich habe Sie noch einmal gesehen und so gefunden, wie mein Herz mir die Erinnerung bewahrt hatte; wie ein beständiger angenehmer Rausch war's, diese 6 T a g e hindurch. Ich gestehe Ihnen, ich hoffe nicht mehr auf ein Wiedersehen, die Erschütterung meiner Gesundheit ist zu tief, die Qual zu anhaltend; was nützt mir alle Selbstüberwindung und Geduld! J a , in Sorrentiner Zeiten-gab es noch zu hoffen, aber das ist vorbei. So preise ich denn, Sie gehabt zu haben, mein herzlich geliebter Freund! Ihren verehrten Eltern Dank und Gruß. F.N.

8

Briefe von Nietzsche

6. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte) (Riva, 14. Februar 1880) Geliebte Schwester gestern in Riva angelangt. In Bozen 2 Tage krank gelegen. Heute trübe. Ich wohne in einem immergrünen Garten, der an den See stösst, abseits von der Stadt. Adr.: Hotel du lac Riva, S ü d t i r o l Die besten Grüsse den Insassen des gastfreundlichen Hauses. Dir selber alles Schöne und Gute. FN.

7. An Franziska Nietzsche in Naumburg

(Postkarte) (Riva, 14. Februar 1880)

So bin ich in Riva, Wetter bisher trübe, heute Regen. Garten. Der Felsenweg entspricht meiner Erwartung. Immer nicht wohl. — Sende sofort bitte, den dünnen Uberrock und die graue Hose und ein Nachthemd. K o f f e r nicht senden! Die warme Decke behalte zurück. Sehr gut geheizt. In meiner kleinen Einrichtung machen mir die Augen sehr viel Schwierigkeit. An Lisb(eth) geschrieben. Bozen war nicht viel anders als Naumb(urg). Ich reiste noch krank ab. Deiner Pflege dankbar eingedenk meine gute Mutter! A d r : Riva ( S ü d t i r o l ) Hotel du lac

6.-10.

Februar 1880

8. An Heinrich Köselitz in Venedig

9

(Telegramm) (Riva, Mitte Februar 1880)

Köselitz, Venezia S. Canciano, calle nuova 5256 Hotel du lac ä Riva Nietzsche

9. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Riva, 16. Februar 1880) Hier bin ich, Freund, Riva (Südtirol) Hotel du lac. Am 13 ten März reise ich nach Venedig. Ihnen näher und immer s e h r nah F.N. Können Sie hierher kommen? Oder wollen wir warten?

10. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte) (Riva, 24. Februar 1880) N u r ein Wort, herzliebe Schwester. Seit gestern Abend ist Köselitz bei mir. Befinden abwechselnd. Die Natur erheitert mich wieder. N u r kann ich nicht schreiben, die Augen wollen's durchaus nicht. Sage dies auch Fr. Ov(erbeck)'s mit den herzlichsten Grüßen. und empfiehl mich Hrn und Frl. Rohr angelegentlich. In Treue Dein Bruder. Bitte kaufe für mich 2 Zahnbürsten, die härtesten bei C h r i stoph) Burckhardt (abgerundet)

10

Briefe von Nietzsche

ii. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Riva, 28. Februar 1880) Meine gute Mutter, Dein Brief war eine schöne SonntagsFreude. Heute wurde der Naumburger Zucker aufgebraucht. Auch der Thee hat bis jetzt gereicht. Ein Bildchen, das einen Olivenwald-Spaziergang darstellt, folgt nächstens. Köselitz grüßt auf das Beste, er ist ganz unübertrefflich. — Ich bin mit meinem Zustande recht unzufrieden und brauche Geduld In herzlicher Liebe D(ein) S(ohn). Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Franziska Nietzsches. Franziska Nietzsche antwortet am 2.-4. März 1880: IIII2, S. 46.

12. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Riva, 5. März 1880) Endlich, meine gute Mutter! Aber es gab 4 b ö s e Tage und ich mußte warten, bis ich Dir danken k o n n t e , für Briefe und Sendung. Sehr erfreut über die wie neuen Hosen. Wetter im Ganzen gut, schöne Spaziergänge. Weite Oelwälder, auch ein grünes Eichengehölz, sehr milde Luft. Nicht mehr einheizen. Hr Busse bringt mich mit langem Schreiben in Verlegenheit. Köselitz sehr angenehm und nützlich. Herzlich grüßend und im Geiste umarmend Dein Sohn. Antwort auf nicht überlieferte Briefe Franziska Nietzsches. Dieser Brief kreuzt sich mit Franziska Nietzsches Brief von 2.-4. März 1880: III/2, S. 46. Franziska Nietzsche antwortet am 19. März 1880: III/2, S.

11.-14.

F e b r u a r - M ä r z 1880

11

JJ. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte) (Riva, 9. März 1880) Allerschönsten Dank, meine liebe Schwester, ich freue mich mit Dir, daß Du jetzt in einen so angenehmen und friedlichen Hafen eingelaufen bist. Ich habe gerade etwas überwunden (4 böse Tage hinter mir) und bin freudiger gestimmt. Danke dem liebwerthen Overbeck auch für die Geldversorgung in meinem Namen, Schreiben wird mir zu schwer. Die Albert's werden wenn sie eintreffen, s e h r bereite Geister finden; sage ihnen das. Köselitz ist um mich. Schöne Olivenwälder und Schatten, so viel ich haben will, giebt es hier. Dein treuer F. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth Nietzsches.

14. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Riva, 12. März 1880) Theurer liebster Freund morgen reisen wir nach Venedig ab. Ich bin recht unzufrieden, mein Befinden ist in den 3 Wochen zurückgegangen, und der Schmerz fortwährend sehr peinigend. Nun also der vielerwogene Versuch mit Venedig, gegen den ich das Mißtrauen nicht los werde. Das Herzlichste und Dankbarste Dir und Deiner lieben Frau Overbeck antwortet am 27. März 1880: III/2, S.

12

Briefe von Nietzsche

iy An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Lichtbild) 13 März 1880 zum Abschiede von Riva. Euer Fritz, mit den innigsten Grüssen. Franziska Nietzsche antwortet am 19. März 1880: III/2, S. jj.

16. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Venedig, i j . März 1880) Vorgestern Abend kam ich in Venedig an, die letzte Woche in Riva war ich s e h r leidend. Hier wohne ich gut, ruhig, habe eben den warmen O f e n ; der Markusplatz ist in der Nähe. Gestern schön, aber kalt, doch konnte ich Nachmittags im Freien C a f e trinken, bei Musik, alles war mit Fahnen geschmückt, und die Tauben von St. Marcus flogen friedlich umher. Lauter schattige Sträßchen mit hartem ganz glatten Pflaster. Wohnung nur provisorisch einstweilen, schreibt an Köselitz' Adresse. In herzlicher Liebe Euer Fritz Franziska Nietzsche antwortet am 19. März 1880: III/2, S.

ij. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Venedig, 22. März 1880) Meine geliebte Schwester, schönsten Dank für Deinen V o r schlag, Verzeihung aber, daß ich noch kein rechtes Ohr dafür habe. Einstweilen hat die schreckliche Reiserei ein Ende! und ich mache das s e h r nöthige Experiment, ob ein entschieden „ d e p r i m i r e n d e s " Clima (medizinisch gesprochen) meinem

15.-18.

März 1880

13

K o p f e nicht wohlthätiger ist als das bisher allein angewendete excitirende. Venedig übt auf viele Kopfleidende günstigen Einfluß. Individuelle Diät und Hautkultur rechne ich sehr hoch und leiste mir in Beidem zur G e n ü g e ; mein Magen ist nicht leidend, wenn ich selber sorgen kann, ich habe über mich mehr Beobachtungen als ein A r z t nach monatelangem Zusammensein hätte. Herzlich dankbar! Über Kiste und Bücher nächstens. Den innigsten Gruß unsrer lieben Mutter. Antwort auf Elisabeth Nietzsches Brief vom 14. März 1880: III/2, S. 49. Elisabeth Nietzsche antwortet am jo. März 1880: III/2, S. 62.

18. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Venedig, 27. M ä r z 1880) Heute beziehe ich die neue Wohnung, so gelegen, daß ich einen langen schattigen Spaziergang (c. 20 Minuten) am U f e r habe und vom Fenster frei aufs Meer blicke (in der Stadt w a r mir's zu bedrückt). Mein Zimmer ist 22 Fuß hoch, 22 Fuß breit und 23 Fuß lang, mit schönem M a r m o r , eine Prachttreppe führt hin, dabei die sonderbarste Dürftigkeit. Es ist mein Fund. Sendet mir gleich den K o f f e r und legt folg(ende) Bücher hinein Spencer (Thats(achen) der Ethik); Baumann (Ethik), Martensen (Ethik) dann Stendhal, 2. Bd., Gsell Fels Südfrankreich, das Büchlein über die griechischen Inseln, liebe Lisbeth, dann den dicken Band über Byron (in den Köselitziana, die ich in Basel ließ; sende mir doch das Verzeichniß davon) Handschuhe, Handtücher, ein Glas und Tellerchen und Eierbecher usw.) V o n einem bösen Anfalle noch nicht erholt. — Lido besichtigt wegen der Meerbäder im Sommer: gut! Herzlichsten D a n k f ü r Brief. F.

14

Briefe von Nietzsche

Bitte! eine Büchse voll gemahlenem Caffe.! und Maizena. T a g vor Ostern. — Köselitz' Adresse. Antwort auf Franziska Nietzsches Brief vom ig, März 1880: III/2, S. Franziska und Elisabeth Nietzsche antworten am 29J3o. März 1880: III/2, S. 59 und S. 62.

19. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Venedig, 27. März 1880) Liebster Freund, ich weiß noch nicht, wie Venedig thut, vielleicht besser als ich erwartete. Einstweilen erst ein sehr böser Anfall. — Heute beziehe ich ein von mir gefundenes Logis, nach meinen Bedürfnissen n i c h t in den e n g e n Lagunen gelegen, sondern frei wie am Meere, mit dem Blick auf die Todteninsel. V(enedig) hat das beste Straßenpflaster und Schatten wie ein Wald: dabei keinen Staub. Das Wetter hell. Der Lido hat sich auch legitimirt. Möge Dir und Deiner lieben Frau Alles gut gehen! Denkt meiner in Liebe! Euer F. N . Immer noch die Adresse von Köselitz. Dieser Brief kreuzt sich mit Overbecks Brief vom 27. März 1880: III/2, S. 57.

20. An Franziska Nietzsche in Naumburg

(Postkarte)

(Venedig, 2. April 1880) Meine Lieben, es ist der erste Regentag in V(enedig) und ich spüre ihn etwas — aber im Ganzen thut mir der Ort viel wohler als Riva. Die Lebensweise ist sehr gut eingerichtet, ich werde wohl den Sommer hier bleiben. Kös(elitz) liest mir vor, er kommt 1 / 4 nach 2 Uhr und Abends halb acht, jedesmal auf 1

18.-21.

M ä r z - A p r i l 1880

15

bis i 1 / 2 Stunde. Die hohen Räume und die Stille kommen meinem Schlafe zu Gute, auch habe ich die Meerluft aus erster H a n d , noch nicht durch Venedig verdorben. — Mein K o f f e r trifft wohl nun bald ein? — Versteht diese Karte nicht falsch und erhebt kein Triumphgeschrei, im Einzelnen geht es von T a g zu T a g e wie immer, aber ich spüre eine calmirende Wirkung. V o n Herzen Euer F. Antwort auf Franziska Nietzsches Brief vom 29./JO. März 1880: III/2, 5.

21. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Venedig, 2. April 1880) Lieber fürsorglicher Freund, ich empfehle nach K(öselitz)'s reichlicher E r f a h r u n g : sende das Geld in einem gewöhnlichen r e k o m m a n d i r t e n Briefe (an Kös(elitz)'s Adresse) ohne j e d e Geldangabe darauf, nur j o o frs., in einer französ. oder e i d g e n ö s s i s c h e n Banknote (ja nicht Basler Bank). Die andern 250 frs. lege auf die Handwerkerbank. — Daß ich Dich so bemühe!! — Mein Zimmer ist 22 Fuß hoch, die Meerluft habe ich aus erster H a n d , ich spüre die calmirende Wirkung des Ortes. Ich habe noch kein Bild gesehen und mache mir aus Kirchen nicht genug. Sehr viel mehr aus Kirchengeschichte! und darum meine herzliche Gratulation zu deren neuester Förderung. D i r und der Deinen in herzlicher Freundschaft ergeben F. N . Antwort auf Overbecks Brief vom ij. März 1880: III/2, S. 57. Overbeck antwortet am 7. April 1880: IIII2, S. 64.

16

B r i e f e v o n Nietzsche

22. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Venedig, n . April 1880) Sonntag. Meine Lieben, der K o f f e r ist noch nicht da, unsre Briefe haben sich gekreuzt, und die Euren waren mir eine große Freude. Das Wetter war inzwischen f o r t d a u e r n d scheußlich, Scirocco, Regen: demnach kann ich nichts Gutes melden. Meine Wohnung hat sich aber bisher als gut gewählt erwiesen. Mit dankbaren Grüßen Euer F. Antwort auf nicht überlieferte Briefe Franziska und Elisabeth Nietzsches.

23. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Venedig, 1 1 . April 1880) Der Werthbrief kam glücklich und billigst (10 ct.) in meine Hände, schönsten Dank! Lieber Freund, wir hatten wochenlanges Regenwetter und Scirocco. — Meine Wohnung ist 22 Fuß hoch und ruhig, wie am Ende der Welt. Ich denke mit großem Vergnügen an den deutsch werdenden St. B(euve) (Wollt Ihr eine komische Travestie seiner Art, so lest Balzac, les caprices de Claudine) Weißt Du vielleicht, wo meine Bände Stendhal sind? Du schriebst mir einmal von einem Bücherverzeichniß. Bitte, abonnire für mich in der Buchhandlung Festersens auf das wöchentl(ich) erscheinende Verzeichniß neuer Bücher, das man mir früher zusandte. Doch will ich es immer v i e r t e l jährlich haben, den ersten Band von diesem Jahre also jetzt. Kös(elitz)'s Adresse). K(öselitz) empfiehlt sich, er hat viel zu thun, wir sehen uns erst den Abend, er liest Stifter vor. Dein Fr N. Antwort auf Overbecks Brief vom 7. April 1880: Overbeck antwortet am 20. April 1880:

IIH2, S. 64.

III/2, S. 6$.

22. - 25.

17

April 1880

24. An Franziska Nietzsche in Naumburg

(Postkarte)

(Venedig, 2 1 . April 1880) Schönsten Dank für Eure Briefe, ich hoffe daß D u , liebe Lisbeth Dich wieder ganz der Gesundheit erfreust und daß Deine Reise, meine liebe Mutter, glücklich gelingt. Hier ist das Wetter 5 ganz unbeständig; es fängt an warm zu werden, auch die Mükken kommen. Jetzt muß sich meine Wohnungs-Wahl bewähren. Das Wasser ist besser hier als in Naumburg. Von Dr Rée erträgliche Nachrichten. Von den Bayreuther Bl(ättern) will ich n i c h t s h ö r e n , ich lese sie n i c h t mehr seit Juli 1877. Wenn 10 Du, meine liebe Schwester, beim Lesen der Revue des deux mondes ein Buch sehr empfohlen findest (historisch oder philosophisch), so schreib es mir, ich werde sehr dankbar sein. Meine und Köselitzens herzlichste Empfehlungen. Antwort auf nicht überlieferte Briefe Franziska und Elisabeth Nietzsches.

25. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte). (Venedig, 28. April 1880) Der richtige Titel des neulich genannten Buchs v(on) Balzac ist un prince de la Bohême. Sehr Beachtenswerthes über St. Beuve finde ich bei George Sand, histoire de ma vie, 6 tes Capitel des 5 letzten Theils (cinquième partie) Alles Buchhändlerische ist angekommen. Allerbesten Dank. Scirocco sempre. Ich -hätte gern den Catalog der Bücher, welchen die socialistische Buchhandlung in Zürich vertreibt. Wie ist deren 10 genauere Adresse? Das Herzlichste für Dich und Deine liebe Frau. F. N Antwort auf Overbecks Brief vom 20. April 1880: III/2, S. 65.

18

Briefe von Nietzsche

26. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg

(Postkarte) (Venedig, 3. Mai 1880)

Willst D u mir, meine geliebte Schwester, die Overbecksche Bücherliste gelegentl(ich) übersenden? Und mir die 200 M., von denen D u schriebst, in zweckdienl(icher) A r t anlegen? (doch so, 5 daß ein Rest für Geburtst(ags)geschenke bleibt, es ist unsinnig, aus dieser Fern(e) und bei diesen Zollschwierigkeiten etwas zu schicken.) Es wird Dich viell(eicht) freuen zu hören, daß ich vornehml(ich) von Reis und Kalbfleisch lebe. Mein Magen hat seit meiner Abreise nicht die geringste Schwierigkeit gemacht. 10 D a g e g e n ist die geistige Diät ein unglaublich schwieriges D i n g für einen produktiven Menschen, und jeden V e r s t o ß (dessen ich mich o f t zu spät bewußt werde) muß ich mit einem Anfall büßen. Darin sind die Ä r z t e g a n z ohnmächtig, nur eigne V e r nunft kann helfen und h a t bei mir schon viel geholfen. 15 (Rechne, ich bitte, Maizena, C a f é , Hemden usw. auf mein Conto) Ich lebe sehr sparsam, es ist hier nicht schlimm In Liebe Dein Br(uder) Antwort

auf einen nicht überlieferten

27. An Franziska Nietzsche

Brief Elisabeth

in Naumburg

Nietzsches.

(Postkarte) (Venedig, 3. Mai 1880)

Meine liebe Mutter, der K o f f e r ist doch noch gekommen, fast wäre er als unbestellbar zurückgegangen, die Hausnummer w a r falsch, die Post hat 8 T a g e nach Hrn. Kös(elitz) gesucht. Er 5 kostete mich 10 frs. und einen T a g Herumlaufens und H e r u m stehens. Ich danke für alles, was darin ist! Die Hemden sind etwas zu prachtvoll für mein Auftreten, aber w o z u

weiße

Handtücher? Darf ich sie verkaufen? Ich muß sehr Platz spa-

26. - 28.

M a i 1880

19

ren. Die Rundtheilchen sind das erste Zuckergebäck, das ich hier esse. Maizena gebrauche ich zur Abendsuppe. Die Filtrirmaschine war auch unnöthig. Meine Wohnung bewährt sich fort und fort, bei dem abscheulichsten Wetter. Ich schlafe besser als irgendwo. Meine Zimmerthür ist 9 Fuß. Eine 8 theilige grüne spanische Wand macht das ungeheure Zimmer wohnlicher. Immer Regen und Sturm. In herzlicher Liebe De(in) Sohn. Dieser Brief kreuzt sich mit Franziska Nietzsches Brief vom 3. Mai 1880: S. 6j.

III/2,

28. An Ida Overbeck in Basel (Venedig,) den 24 Mai 1880 Liebe verehrte Frau Professor, ich danke Ihnen auf das Allerherzlichste — aber einen kleinen Gewissensbiss habe ich doch gehabt: es schien mir, dass ich einen s o l c h e n Act Ihrer Güte hätte auf jede Weise verhindern müssen, und ich habe nichts gethan! Der Aufsatz ist nicht so „aus der Sache" gewachsen, wie andere des gleichen Verfassers, aber ich bin jedem dankbar, der diese Sache auch nur streift. Zu w i s s e n , wie sich höhere Culturzeiten, als die unsere ist, mit den bittersten Schmerzen abgefunden haben — das ist doch sehr wichtig, und man dürfte wohl sehr viel mehr K r a f t und Wissen hierfür aufwenden, als Ms. A(lbert) sich diesmal zu Gebote stellte. Auch soll man nicht alle solche Dinge allzuviel mit christlichen Dingen zusammenstellen, man bekommt sonst falsche F a r b e n . Die Einwände gegen Seneca's Art zu trösten — wie wenn er gerade sie hätte hervorrufen wollen? Er mochte nicht das Wort aussprechen, auf welches es ihm ankam; er meinte, eine solche Trauer sei für eine Frau d i e s e s Ranges (in jedem Sinne)

20

Briefe von Nietzsche

20 nicht mehr a n s t ä n d i g — was rieth er denn? Das, worüber er sein ganzes Leben meditirt hat, was der allzeit gegenwärtige Gedanke in seinen Schriften ist, auch wenn kein W o r t davon dasteht — den Selbstmord. N u r bei diesem Worte verschwinden die Einwände; und jene vornehme Seele sollte es selber fin25 den! Ms. A(lbert) hat statt dessen Lorbe(e)rn f ü r das Christenthum pflücken wollen. — Vielleicht thue ich mit dieser H y p o these Beiden Unrecht. — Meinem Freunde sagen Sie insbesondere f ü r Alles D a n k , was er mir neulich durch H r . Köselitz sagen Hess; es erquickt so, 30 sich in der Ferne und doch in solcher N ä h e der Empfindung mit einander zu wissen. Z . B. haben wir Beide kein Wort mehr nöthig — zur Verständigung über Juden und Judengenossen. Ich gestehe, a l l e Nachrichten aus Deutschland werden mir lästig und fremd, und meine Gesundheit zwingt mich fast, der C o n 35 s e r v i r u n g halber mich zu verlöthen, wie eine Büchse. Leben Sie wohl! Innig dankbar und ergeben F Nietzsche 40

Aus Venedig, der Stadt des Regen's, der Winde und der dunkeln Gässchen. Glauben Sie der G e o r g e Sand nichts über Venedig (das Beste daran ist Stille und schönes Pflaster) Ida Overbeck antwortet am 28. Mai 1880: III/2, S. 69.

29. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Venedig, 28. Mai 1880) Deinem Briefe, der mir recht wohl that, meine liebe Schwester, antworte ich mit einer kleinen Liste jetziger Preise von V e n e dig.

2 8 . - 30.

Mai 1880

Kirschen ein Pfund Feigen (ganz leidliche) P f u n d Graham-Brot 1 1 / 2 P f u n d Beefsteak Risotto Maccaroni Kalbsbraten in Citronensauce

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15 24 28 45 38 — 45 24

Pfennige Pfennige Pfennige Pfennige Pfennige Pfennige

38 Pfennige

Eier 2 Stück 1 0 Pfennige Zucker, bester, gestoßen, das Pfund 68 ein großer Schwamm 24 Pfennige alles auf Euer Geld reduzirt, mit Rücksicht auf den gegenwärtigen Curs. — Dabei klagt man noch, wie theuer alles geworden sei. — Ich werde die Meerbäder in diesen Tagen anfangen. Denkt meiner, Ihr Lieben es geht so, so, ich mag nicht mehr die Einzelheiten schreiben. Euer F. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth Nietzsches. Elisabeth und Franziska Nietzsche antworten am JJ. Mai 1880: III/2, S. 7/ und S. 74.

jo. An Paul Ree in Stibbe (Postkarte) (Venedig, 28. Mai 1880) Ach liebster Freund, daß gerade Ihnen solche Wunden geschlagen werden! Ihnen, dem ich, — ich kann gar nicht sagen, wie sehr — eine gleichmäßige warme friedliche Sonne wünsche, vom Morgen bis zum Abend des Lebens, damit die ganze Fülle edler Früchte ohne Schärfen und Säuren reif und vollkommen werde. Aber der Gott der Kannibalen und Asketen hat Freude, wenn gerade solche Menschen, wie Sie sind, leiden, es ist die reine Grausamkeit. — U n d dabei denken Sie noch an mich und geben mir wieder einen T r u n k der besten Milch! — Das ist und bleibt f ü r mich W . Scott und und ich danke Ihnen s e h r dafür. In herzlicher Liebe Ihr F.N.

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Briefe von Nietzsche

JI. An Franziska Nietzsche in Naumburg

(Postkarte)

(Venedig, 15. Juni 1880) Herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Inzwischen Regen und Wind unausgesetzt T a g für T a g , die z letzten ausgenommen. In den dunkeln Gäßchen zu gehen thut meinen Augen wohl, es giebt wenig Orte, die für mich passen. Auch habe ich nichts geschrieben außer den Karten an Euch und Overbeck (an Euch von Venedig aus 10 Karten, diese mitgerechnet) Frau Overbeck hat eine große französ(ische) Abhandlung) (von P. Albert) ins Deutsche f ü r mich übersetzt. Dr. Rèe hat seine Pflegeschwester (27 J a h r alt) verloren. Der C a f f é ist wohlschmeckend, aber nicht gerade stark. Die neuen Hemden kneifen am Halse, etwas zu eng. Ich habe die Zahnbürsten nicht gefunden und mir welche gekauft. Meine Lebensweise ist sehr zweckmäßig, aber für j e d e n Anderen „unausstehlich". Das hilft nichts! Denkt meiner, Ihr Lieben. V o n Herzen F N Antwort auf Franziska und Elisabeth S. 7 / und S. 74.

Nietzsches Briefe vom 31.

Mai 1880:

III/2,

}2. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Venedig, 15. Juni 1880) Wenn ich Briefe schreiben könnte, w i e Deine liebe Frau sie schreibt, so würde ich ihr antworten (trotz aller Augen); so aber schäme ich mich und ziehe vor, ihr durch Dich, liebster Freund, meinen allerherzlichsten Dank auszusprechen. Nachträglich muß ich dies auch noch für den Katalog ihrer Handschrift thun, der mir jetzt von Naumb(urg) geschickt wird und mir nützlich ist. — Das Buch von Siebenlist ist ein Stück Schopenhauer-Philologie, gegen das nichts (oder alles!) einzuwenden wäre. — Drei Seebäder genommen. Ich denke bald abzu-

31.-33.

Juni 1880

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reisen und würde es am liebsten sehen, wenn ich das Geld vorher hier empfienge (250 + 750, bitte g a n z wie das letzte Mal, 2 franz. Scheine ä 500, k e i n e Werthbezeichnung, Adresse aber an Köselitz, n i c h t an mich, ich habe solche Schwierigkeit mich zu legitimiren) Wären für den Augenblick viell(eicht) nur 500 frs. zu schicken da, so möge das Andre zurückbleiben. Die Abreise d r ä n g t , es ist sehr warm. Dein Freund. Antwort auf Ida und Franz Overbecks Briefe vom 28. Mai 1880: III/2, S. 69 f.

JJ. An Franz Overbeck in Basel (zwei Postkarten) (Venedig, 22. Juni 1880) Liebster Freund, das Geld ist angekommen, schnell zum Erstaunen. Ich wußte noch nicht bestimmt, wohin reisen; auch heute weiß ich es noch nicht, wahrscheinlich) n i c h t weit weg, in Wälder, deren Schatten man mir garantirt (im K r a i n i s c h e n ) Genaues baldigst! nebst der neuen Adresse. Wäre es Dir möglich, 2 theologische) Bücher auf 4 Wochen zu entbehren? nämlich Lüdemann's Anthropologie) des Paulus und das Buch über J u s t i n u s , welches Du mir öfter genannt hast. Dann möchte ich Wackernagels gedruckten Aufsatz über die Bramanen und seinen andern (ungedruckten?) über den Buddhismus. Siehst Du ihn gelegentlich? — Ich habe Deine „Christlichkeit" wieder durchgelesen, mit sehr viel Freude an dem erstaunlich reichen Inhalte und der vorzüglichen Disposition, ich bin dieser Lektüre etwas würdiger geworden, denn ich habe inzwischen über mancherlei nachgedacht und zwar rechts und links. Ich freue mich sehr, daß J . Bur(c)khardt meiner gedenkt.

noch

(Fortsetzung.) Als Du das Buch schriebst, habe ich wie ich jetzt mit Beschämung merke, neun Zehntel nur zu verstehen

24

B r i e f e v o n Nietzsche

g e g l a u b t . Es sind so viele feine Linien darin, daß man recht genau zusehen muß, um alle Freude zu haben. — Von meinen Schriften höre ich kein Wort; glaube ja nicht, daß ich d a m i t unzufrieden bin! — Schm(eitzner)'s neuestes Unternehmen von dem Du schreibst, widert mich an; ich bin ungehalten, daß er nicht ein Wort gegen mich davon gesagt hat. — Meine Gesundheit hat in Venedig sich besser befunden als in Naumburg und Riva, mein Aussehen ist gut. Im Übrigen noch sehr beim Alten. — Von Dr. Ree beunruhigende Nachrichten. — Dir und Deiner lieben Frau die herzlichsten und dankbarsten Grüße sendend Dein Freund. Overbeck antwortet am 10. Juli 1880: III/2, S. 86.

34. An Louis Kelterborn in Basel (Postkarte) (Venedig, 27. Juni 1880) Das waren gute und erfreuliche Worte, die Sie an mich richteten, lieber Herr Doktor, und die Stimmung Ihres Briefes gieng auf mich über und ließ mich Ihrer und Basels sehr herzlich und dankbar gedenken. Gar zu gern möchte ich Ihnen das gewünschte musikal(ische) Unthier (welches unverdientermaßen Ihre Mitempfindung erregt hat) senden, aber ich weiß gar nicht, in welchem Walde es jetzt haust, mein Abschied von Basel hat mein Hab und Gut für mich ganz unhablich gemacht; dies ist in Zürich und j e n e s in Naumburg, und in Kisten vernagelt, die nicht von mir gepackt sind, so daß ich nicht weiß, was drin ist. Später also, lieber Freund! — Inzwischen bleiben Sie, was Sie waren, in gutem Muthe und im Vorwärtsstreben sich selber treu. — Der Antheil des ausgezeichneten Malers Hr. Br(ünner) ehrt mich sehr: ihm und ebenso Hrn. Huber meinen ergebensten Gruß. DrF.N. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Louis Kelterborns.

3 3 . - 36.

J u n i - J u l i 1880

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j j . An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Marienbad, 5. Juli 1880) So bin ich denn, lieber Freund, endlich in eine Art Nothhafen eingelaufen, nach der unangenehmsten Irrfahrt, die ich bisher gemacht habe. Alles, was ich mir in Krain Kärnten Tirol angesehn habe, paßte nicht für mich; vielmehr, es war Alles unmöglich. Jetzt also Marienbad in Böhmen — aber 2 Tage Regenwetter bisher. Die Reise hat meiner Gesundheit sehr geschadet, ich war ein paar Mal fast in Verzweiflung. Die Bergwelt erschien mir unbedeutend und „blödsinnig" (ich habe in Bezug auf Gebirge zu viel Calame'ische Ansprüche — dies wurde mir auf der Reise zur Calamität) Verlassen Sie das gute Venedig nicht so leicht, die Menschen sind hier so häßlich, das Beefsteak kostet 80 Kreuzer, man ist wie in einer schlechtem "Welt. Möge Ihnen oft die Stunde der Erhebung und Schönheit kommen! und s a g e n Sie es mir, wenn es Ihnen so geht: niemand kann daran mehr Freude haben als Ihr Freund F.N. II Marienbad Böhmen, „Ermitage." II Köselitz antwortet am 8. Juli 1880: III/2, S. 81.

36. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Marienbad, 5. Juli 1880) Meine Lieben, ich habe eine sehr schlechte Reise gemacht, um Wald und Berg zu suchen: a l l e s enttäuschte mich oder vielmehr: es war für meine Augen u n m ö g l i c h . So habe ich mich denn nach M a r i e n b a d in Böhmen zurückgezogen, mein Wohnhaus heißt Ermitage. Bisher aber Regen, Regen und Schmutz. Gräßlich theuer, das Beefsteak 80 Kreutzer. Kein Bis-

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Briefe von Nietzsche

sen schmeckt mir, und so gieng es auf der ganzen Reise. Ich finde nicht, was mir recht ist, und wie ich's in V(enedig) hatte. D o r t wurde es aber zu heiß. Selbst die Wälder sind mir noch nicht tief genug. Meine Gesundheit war während der ganzen Reise so schlecht wie möglich, bis zum Verzweifeln, ich schlief keine N a c h t vor Schmerz. — D a bin ich Euch nun wieder recht schön nah. Länger als 4 Wochen halte ich hier nicht aus, dann geht es in den Thüringer W(ald) w o er a m t i e f s t e n ist. In herzlicher Liebe Euer F. Franziska Nietzsche antwortet am 6. Juli 1880:

III/2, S. 80.

jy. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Marienbad, 7. Juli 1880) Lieber Freund, nach einer sehr unangenehmen und enttäuschenden Reise bin ich endlich hier, in Marienbad (in Böhmen) gelandet, meine Augen brachten mich an allen den angeblichen „Waldorten" die ich inzwischen sah, fast zur Verzweiflung. Hier geht es besser. Ich wohne im Wald: „ E r e m i t a g e " heißt es. Ich träume davon, daß wir uns vielleicht) diesen Sommer wiedersehen? — Im Fall D u die Bücher, von denen ich neulich schrieb, entbehren kannst, sende sie, ich bitte; ich habe inzwischen so o f t über „ c h r i s t l i c h e Moralität" nachgedacht, daß ich förmlich heißhungrig nach einigem S t o f f f ü r meine H y p o thesen bin. D i r und Deiner verehrtesten lieben Gefährtin die guten Wünsche eines Wassertrinkers und Waldläufers. Overbeck antwortet am 10. Juli 1880:

III/2, S. 86.

36.- 39.

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Juli 1880

j8. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Marienbad, 7. Juli 1880) Meine geliebte Schwester, ich hätte Dir wohl etwas zu s e n d e n , um auch meinerseits unter den Feiernden Deines Geburtstages geziemend vertreten zu sein: heute aber, wo ich mir die Sache genau überlege, sehe ich nicht ein, wie ich den angedeuteten Gegenstand ( + ), eine Erinnerung an Venedig, unzerbrochen in Deine Hände befördere; hier habe ich anjetzo Niemanden, der mir in solchen Dingen zu Rathe ist, und so scheint m i r das Rathsamste, bis auf unser Wiedersehen zu warten — was mir freilich sehr leid thut. So mögen denn meine allerherzlichsten Glückwünsche ihren Weg allein zu Dir laufen: und vielleicht dauert es nicht zu lange, da feiern wir den 10 Juli noch einmal — in diesem Jahre, wo alle Monatstemperaturen durch einander laufen und jetzt zB. ein ganz artiges Spät-Oktober Wetter herrscht, muß alles erlaubt sein. — Ich habe Kopfschmerz und darf nicht mehr schreiben. Das ist freilich nichts, meine liebe Lisbeth, aber mit mir ist überhaupt nichts mehr, leider, leider. Genug, daß ich Marienbader Wasser und Wälder gebrauche und in b e i d e n Dein Fest zu feiern versuchen werde In Liebe Dein Bruder. ( + ) etwas blaue Seide und etwas Silber ist dran, Venediger Arbeit, sieht hübsch aus und ist unnütz, wie alles Hübsche. Elisabeth Nietzsche antwortet am 12. Juli 1880: III/2, S. 88.

39. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte). (Marienbad, 10. Juli 1880) Meine liebe Mutter, ich freue mich, daß Ihr heute einen schönen T a g habt: für uns hier ist es der erste. Ich leide an Müdig-

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Briefe von Nietzsche

keit und bösem Humor und nehme an, daß es die Wirkung des Wassers ist. Kopfschmerzen habe ich so viel wie voriges Jahr, das bleibt sich für St. Moritz Venedig Naumburg und Marienbad fast gleich, trotzdem glaube ich einen Fortschritt gemacht zu haben, denn die Schmerzen sind nicht so intensiv mehr. Die Wälder sind sehr schön hier — und doch für meine Augen noch nicht ausreichend. Anfang August will ich nach Ruhla (oder anderswohin?), dort kann man, denke ich, gute Wellenbäder haben? Und ist der Wald wirklich unmittelbar dabei? Heute Eurer in besonderer Herzlichkeit gedenkend Euer F. Adresse: „Eremitage"! M a r i e n b a d in Böhmen. Elisabeth Nietzsche antwortet am 12. Juli 1880: III/2, S. 88.

40. An Heinrieb Köselitz in Venedig (Marienbad, 18. Juli 1880) Mein lieber Freund, noch immer denke ich täglich einigemal an die angenehme Venediger Verwöhnung und an den noch angenehmeren Verwöhner und sage nur, daß man's eben nicht lange so gut haben d a r f und daß es ganz recht ist, jetzt wieder Eremit zu sein und zehn Stunden des Tages als solcher spazieren zu gehen, fatale Wässerchen zu trinken und ihre Wirkung abzuwarten. Dabei grabe ich mit Eifer in meinem moralischen Bergwerke und komme mir dabei mitunter ganz unterirdisch vor — es s c h e i n t mir jetzt so als ob ich inzwischen den leitenden Gang und Ausweg gefunden hätte, indessen will so etwas hundertmal geglaubt und verworfen sein. Hin und wieder tönt ein Echo Chopinscher Musik in mir, und das haben Sie nun erreicht, daß ich dabei immer an Sie denke und mich in Sinnen über Möglichkeiten verliere. Mein Vertrauen ist sehr groß geworden, Sie sind viel fester gebaut als ich vermuthete, und

39.-40.

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abgesehn von dem schädlichen Einfluß, den gelegentl(ich) Hr. Nietzsche auf Sie geübt hat, sind Sie von allen Seiten g u t b e d i n g t . Ceterum censeo Berge und Wälder seien besser als 20 Städte, und Paris besser als Wien. Darauf kommt aber nichts an. Unterwegs kam ich mit einem höheren Geistlichen in Verkehr, welcher zu den ersten Förderern alter kathol(ischer) Musik zu gehören schien, er war jeder Detailfrage gewachsen. 25 Ich fand ihn sehr eingenommen für Wagner's Arbeit an Palestrina; er sagte, das dramatische Recitativ (in der Liturgie) sei der Keim der Kirchenmusik, und wollte darnach auch den V o r trag so dramatisch wie möglich. R e g e n s b u r g sei jetzt die einzige Stadt auf Erden, w o man die alte Musik studiren, vor allem 30 aber hören könne (namentlich in der Passionszeit)

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Haben Sie von dem Brande von Mommsen's Hause gelesen? Und daß seine Excerpten vernichtet sind, die mächtigsten V o r arbeiten, die viell(eicht) ein jetzt lebender Gelehrter gemacht hat? Er soll immer wieder in die Flamme hineingestürzt sein, und man mußte endlich gegen ihn, den mit Brandwunden bedeckten, Gewalt anwenden. Solche Unternehmungen wie die M(ommsen)'s müssen sehr selten sein, weil ein ungeheures Gedächtniß und ein entsprechender Scharfsinn in der Kritik und Ordnung eines solchen Materials selten zusammen kommen, vielmehr gegen einander zu arbeiten pflegen. — Als ich die Geschichte hörte, drehte sich mir das Herz im Leibe um, und noch jetzt leide ich physisch, wenn ich dran denke. Ist das Mitleid? Aber was geht mich M(ommsen) an? Ich bin ihm gar nicht gewogen. — Hier in der allein im Walde gelegen(en) Eremitage, deren Eremit ich bin, ist seit gestern große Noth: ich weiß eigentlich nicht, was geschehen ist, aber der Schatten eines Verbrechens liegt auf dem Haus. Man hat etwas vergraben, Andre haben es entdeckt, man hörte schrecklich jammern, viele Gensdarmen waren da, Haussuchung fand statt, und nachts hörte ich im

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Briefe von Nietzsche

Zimmer neben mir jemand schwer gequält seufzen, so daß mich der Schlaf floh. Auch schien in der tiefsten N a c h t wieder im Walde gegraben zu werden, aber es fand eine Überraschung statt, und es gab wieder Thränen und Geschrei. Ein Beamter 55 sagte mir, es sei eine „Banknotengeschichte" — ich bin nicht neugierig genug, um so viel zu wissen, wie viel wahrsch(einlich) alle Welt um mich weiß. G e n u g , die Waldeinsamkeit ist unheimlich. Ich las eine Novelle von Mérimée, in der H . Beyle's C h a r a k 60 ter geschildert sein s o l l : „die etrurische V a s e " ; es wäre, falls dies w a h r ist, jener St. Clair. Das G a n z e ist spöttisch, vornehm und tief schwermüthig. Zuletzt eine Reflexion: man hört auf, sich selber r e c h t zu lieben, wenn man a u f h ö r t sich in der Liebe zu Andern zu 65 üben: weshalb dies letztere (das Aufhören) sehr zu widerrathen ist. (Aus meiner Erfahrung.) Leben Sie wohl mein geliebter und s e h r werthgehaltener Freund, gehe es Ihnen gut bei T a g und Nacht Treulich Ihr F . N . 70

In Ihrem Verhalten zum Deserteur würde Schopenhauer einen Beweis f ü r die Unveränderlichkeit des Charakters sehen — und Unrecht dabei haben, wie fast immer. Antwort auf Köselitz'Brief vom 8. Juli 1880: III/2, S. 81. Köselitz antwortet am 21. Juli 1880: III/2, S. 90.

41. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Marienbad, 19. Juli 1880) Mein lieber Freund, Deine Sendung und Überraschung thut die angenehmste Wirkung. Deine eignen Abhandl(ungen) sind sehr feine Sachen, es weht eine so gut-philologische L u f t darin, daß 5 mir ordentlich schwer zu Muthe wird. Nach der Geschmeidig-

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keit des Stils zu schließen, möchte ich glauben, D u habest Lust dabei gehabt. — Aber was ist Engelhart f ü r ein greulicher T y p u s ! D a er alles so viel besser weiß als Justin, so versteht er wahrscheinl(ich) denselben doch nicht, aus Hochmuth schon. Dagegen ist Lüdemann's Arbeit ein Meisterstück auf einem sehr schwierigen Felde: leider ist er kein Schriftsteller. (Wackern(agel) will ich ein W o r t des Dankes schreiben.) Mit meinen Augen steht es freilich sehr schlimm, ich kann sie n i c h t m e h r schonen als ich sie schone, und doch vertragen sie eigentlich w e d e r Lesen n o c h Schreiben mehr; gelegentlich eine Viertelstunde zu finden ist das Kunststück. — Herrlicher Gedanke: Wiedersehn in Naumburg. Deiner lieben Frau und den hochverehrten Verwandten in Zürich meine herzlichsten Grüße. F.N.

Antwort auf Overbecks Brief vom io. Juli 1880: III/2, S. 86.

42. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Marienbad, 19. Juli 1880) Meine gute liebe Schwester, Dein vergnügter blauer Brief ist mir ordentlich gut bekommen: T a g s darauf hatte ich den besten T a g bisher. Jetzt haben wir im Hause Trübsal, der Besitzer ist plötzlich ins Gefängniß geschafft worden, Gensdarmen kamen und gruben eine Druckmaschine f ü r falsche Banknoten aus, Haussuchung und viel J a m m e r hinterdrein. Die arme Frau ist seit 3 T a g e n in der vollsten und tiefsten Verzweiflung. Wie ich gesagt habe: im nächsten Monat will ich nach Ruhla, hoffentlich sind die Wälder dort so gut als hier. Aber hier zu bleiben auf die Dauer — f ü r mich g e h t es nicht. Für einen Gulden kann ich mich hier nicht satt essen. Alles ist 3 — 5 mal so theuer als in Venedig. D e r Sommer ist, merke ich, doch meine beste Zeit. In Ruhla sehen wir uns? Die herzlichsten Grüße unsrer guten Mutter Antwort auf Elisabeth Nietzsches Brief vom 12. Juli 1880: III/2, S. 88. Franziska Nietzsche antwortet am 2f. Juli 1880: III/2, S.

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Briefe von Nietzsche

4j. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Marienbad, 27. Juli 1880) Vielleicht, meine Lieben, sind meine letzten Karten nicht in Eure Hände gekommen, das Letzte, was ich von Euch bekam, war der liebe und mir herzlich wohlthuende Brief: vom 1 2 d . M. Wenn nicht „Eremitage" darauf steht, kommt kein Brief in meine Hände, die Menge der ab- und zuströmenden Fremden ist zu groß. (Es sind übrigens drei Viertel Juden) Gestern und heute Regenwetter; ich war nicht am Brunnen, was mich ärgert. Nächste Woche will ich fort, aber der Thüringer W(ald) ist, wie ich erst jetzt aus den Karten sehe, entsetzlich weit von hier, und Nordböhmen soll so schöne Waldorte haben. Ich denke eine moderirte Kaltwasserkur zu gebrauchen und glaube dann den Sommer gut angewendet zu haben. In herzlicher Gesinnung Euer F. Warum schreibt denn unsre gute Mutter kein Wörtchen mehr? Antwort auf Elisabeth Nietzsches Brief vom 12. Juli 1880: III/2, S. 88. Dieser Brief kreuzt sich mit Franziska Nietzsches Brief vom 25. Juli 1880: S. 9S. Franziska Nietzsche antwortet am ji. Juli 1880: III/2, S. 99.

III/2,

44. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Marienbad, 2. August 1880) Hier, lieber Freund, eine Zeile Dankes für Ihren letzten mannichfach mich bewegenden, auch beunruhigenden Brief; auch bitte ich Sie dringend, das Wort „nachsichtig" zu streichen; Sie wissen immer noch nicht, w i e ich von Ihnen denke, weder vorsichtig, noch nachsichtig — Sie h a b e n mein Vertrauen, und ich wünschte in diesem Punkte wenigstens das Ihre zu haben. Aber es ist seltsam zu beobachten: wer vom herkömml(ichen)

43.- 46.

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Allerweltsweg frühzeitig abweicht, um seinen r e c h t e n Weg zu io gehen, hat immer das halbe oder ganze Gefühl eines Exilirten, eines von den Menschen Verurtheilten und Entflohenen: diese Art schlechten Gewissens ist das Leiden der selbständig Guten. Das Heilmittel ist — was meinen Sie? — ein großer Erfolg bei eben denen, welchen man aus dem Wege gegangen ist. — Bitte, 15 lassen Sie sich 3 Aufsätze Ihrer freien Presse nicht entgehen: (vor 4 Wochen) G e o r g e S a n d und A. de Musset. (vor 8 Tagen S t i f t e r als Landschaftsmaler, und Hekt. B e r l i o z in seinen Briefen. — Die letzte Zeit immer in einer unbändig gehobenen Stimmung! Morgen Abreise — Sehr getreu Ihr 20 Freund F. N. Antwort auf Köselitz' Brief vom 21. Juli 1880: III/2, S. 90. Koselitz antwortet am 15. August 1880: III/2, S. /07.

45. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte) (Marienbad, Anfang August 1880) Bitte, bitte! Auch m i r eins der e r s t e n Exemplare! Und so rasch wie möglich! Z u s a m m e n mit dem für P(rofessor) Overbeck.

46. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte). (Marienbad, 2. August 1880) Morgen will ich, meine Lieben, von hier abreisen. Ich kann nicht bestimmt sagen, wohin? Es giebt so w e n i g Orte, wo ich es aushalte. Leider ist es regnerisch, seit 2 oder 4 Tagen schon. 5 — Deinen Brief, meine liebe Mutter, bekam ich doch noch, nach 6 Tagen! (es fehlte die genaue Adresse — aber warum?) es stehen lauter heitere Sachen darin: möge Eurem Kirschfest gutes Wetter bescheert sein. Overbecks werden vom izl- August

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Briefe von Nietzsche

ab in Dresden sein, ihr Rückweg führt n i c h t über Naumburg; dagegen würden sie, nach dem letzten Briefe, A n f a n g September nach Naumburg kommen, wenn ich dann schon dort sei. S e h r m ö g l i c h , daß ich die Heimreise über Dresden mache (je nach der Wahl meines Kurortes) Mein Befinden ist nicht unbefriedigend, und nichts kann regelmäßiger sein als meine Lebensweise! Ich bin mindestens 8 Stunden täglich unterwegs: so halte ich das Leben aus. Ich denke an Dich und unsre liebe Lisbeth mit dem herzl(ichen) Wunsche des Wiedersehens. F. Antwort auf Franziska Nietzsches Briefe vom 2/. und JI. Juli 1880: III/2, S. pj und 99.

4~/. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Marienbad, 12. August 1880) Immer noch bin ich, meine Lieben, in Marienbad, das Wetter ist Tag für T a g und Wochenlang abscheulich, ewiger Regen und grauer Himmel. Mein Befinden hat sich langsam dabei v e r s c h l i m m e r t , es gab wieder heftige Anfälle mit Erbrechen usw. — Doch will ich ja diese Misère nicht mehr schreiben. Wie lange entbehre ich schon das, was mir so merklich wohl thut, reine Luft und Sonne! Ich werde wohl nun bis zu Ende des Monates hier bleiben, ich bin zu mißtrauisch gegen Ortswechsel und finde so selten etwas für mich Geeignetes. Hier habe ich doch den Wald und die guten Wege darin, die ich oft unter Regen gehe. Anfang September komme ich zu Euch und denke da ein stilles wohlthuendes Herbstleben zu finden. Mitte Oktober aber führt es mich wieder südwärts, es hilft nichts — bis jetzt vertrage ich Deutschland noch nicht. Ich denke in vieler Liebe an Euch. ^ r N. Elisabeth und Franziska Nietzsche antworten am 12./14. August 1880: III/2, S. IOJ und 106.

4 6 . - 48.

August 1880

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48. An Ida Overbeck in Dresden (Marienbad, 18. August 1880) Mittwoch früh. V o r einer Stunde, liebe Frau Professor erhielt ich die „Menschen des 18. Jahrhunderts", ich blätterte darin und sah dies und jenes gute Wort und hinter jedem guten Wort so v i e l , v i e l m e h r ! Es entzückte mich, und zugleich ergriff mich das Gefühl einer tiefen unaussprechlichen E n t b e h r u n g . Ich glaube, ich habe geweint, und es müßte sonderbar zugehen, wenn dieses kleine gute Buch nicht manchem Anderen die Empfindung dergestalt erregte. — Warum ich nicht schrieb? Weil ich seit 3 Wochen mit den Flügeln flattere, um von Marienbad fortzukommen — und weil drei Wochen beständigen Regenwetters mich festhielten, meiner Gesundheit nachtheilig waren und mich, durch den unaufhörlichen Wechsel von Erwartung und Enttäuschung fast um alle Entschlußfähigkeit brachten. J e t z t will ich geduldig noch bis Ende des Monats aushalten, und einen mittleren Grad von Wohlbefinden w i e d e r zu erreichen suchen, den ich dem Walde, der Sonne, dem heitern Himmel und dem fatalen Trink-Wässerchen in den ersten Wochen meines hiesigen A u f enthaltes verdankte. Wäre es dabei geblieben, so würde ich meinen August in der Nähe D r e s d e n s verbracht haben — so war mein Projekt, und ich schrieb nicht, um etwas Bestimmtes über die Zeit der Ankunft zu schreiben. Aber immerhin! Es bleibt die schöne H o f f n u n g auf das Naumburger Wiedersehen! nicht wahr? — und die soll nicht zu Wasser werden! — Heute feiert man hier den Geburtstag des Kaisers, aber ich kann mir inmitten der schwarzen und gelben Farben immer nur etwas Schreckliches, etwa den Geburtstag der Pest, denken. — Ich blickte noch einmal in Sainte Beuve. Er hat sehr feine Sachen gesehen: p. 19 redet er von der Ungezwungenheit des Ausdrucks (Font(enelle)'s) welche sich — wie eine heimliche

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Briefe von Nietzsche

L i s t gegen die G r o ß a r t i g k e i t d e r D i n g e ausnimmt" Das ist in der Art Pascal's empfunden. Meinem lieben Freunde und dem gesammten verehrten Kreise die ergebensten Grüße Ihres dankbaren s e h r dankbaren Friedrich Nietzsche.

49. An Heinrich Köselitz in Venedig (Marienbad, 20. August 1880) Freund Köselitz, in meine Ernte- ja Erntefest-Stimmung klingt Ihr Brief hinein, zwar etwas düster, aber so gut und kräftig, daß ich auch heute wieder wie jedesmal mein Nachdenken über Sie mit dem Chorale zu Ende und zur Ruhe bringe „Was K. thut, das ist wohlgethan, Es bleibt gerecht sein Wille!" Amen. Sie sind aus stärkerem Stoffe als ich und dürfen sich schon höhere Ideale bilden. Ich für meinen Theil leide abscheulich, wenn ich der Sympathie entbehre; und durch nichts kann es mir z. B. ausgeglichen werden, daß ich in den letzten Jahren der Sympathie Wagners verlustig gegangen bin. Wie oft träume ich von ihm, und immer im Stile unsres damaligen vertraulichen Zusammenseins! Es ist nie zwischen uns ein böses Wort gesprochen worden, auch in meinen Träumen nicht, aber sehr viele ermuthigende und heitere, und mit niemanden habe ich vielleicht so viel zusammen gelacht. Das ist nun vorbei — und was nützt es, in manchen Stücken g e g e n ihn R e c h t zu haben! Als ob damit diese verlorne Sympathie aus dem Gedächtniß gewischt werden könnte! — Und Ähnliches habe ich schon vorher erlebt, und werde es vermuthlich wieder erleben. Es sind die härtesten Opfer, die mein Gang im Leben und Denken von mir

4 8 . - 49.

August 1880

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verlangt hat — noch jetzt schwankt nach einer Stunde sympa25 thischer Unterhaltung mit wildfremden Menschen meine ganze Philosophie, es scheint mir so thöricht, Recht haben zu wollen um den Preis von Liebe, und sein Werthvollstes nicht m i t t h e i len zu k ö n n e n , um nicht die Sympathie aufzuheben. Hinc meae lacrimae. — 30 Ich bin noch in Marienbad: das „österreichische Wetter" hielt mich fest! Denken Sie, daß es s e i t dem 24. Juli jeden T a g geregnet hat, und oft tagelang. Regenhimmel, Regenluft, aber gute Wege im Walde. Meine Gesundheit gieng dabei wieder rückwärts; in summa bin ich aber mit Venedig und Marienbad 35 z u f r i e d e n . Es ist gewiß hier seit Goethe noch nicht so viel g e d a c h t worden, und auch Goethe wird nicht so principielle Dinge sich haben durch den Kopf gehen lassen — ich war über mich selber weit hinaus. Einmal, im Walde, fixirte mich ein Herr, der an mir vorübergieng, sehr scharf: ich empfand in die40 sem Augenblicke, daß ich den Ausdruck strahlenden Glücks im Gesichte haben müsse und daß ich schon 2 Stunden mit ihm herumlaufe. Ich lebe incognito, wie der bescheidenste aller Kurgäste, in der Fremdenliste stehe ich als „Herr Lehrer Nietzsche". Es giebt viel Polen hier und diese — es ist wunderlich — 45 halten mich durchaus f ü r einen Polen, kommen mit polnischen Grüßen auf mich zu und — glauben es mir nicht, wenn ich mich als Schweizer zu erkennen gebe. „Es ist die polnische Rasse, aber das H e r z ist Gott weiß wohin gewandert" — damit verabschiedete sich einer von mir, ganz betrübt. 50 Anfang September bin ich in Naumburg. Dorthin kommen auch Overbecks. Auch Frau von Wöhrmann (sie löst ihren Haushalt in N(aumburg) auf und geht nach Venedig zurück) Der Sohn von Frau von W(öhrmann) und ebenso sein Freund Graf Werthern, die das Naumburger Gymnasium besuchen, 55 kommen zu uns in's Haus. Haben Sie die „Menschen des 18. Jahrhunderts" von St. Beuve? Es sind herrliche Gemälde von Menschen und St. B(euve) ist ein großer Maler. Aber ich sehe

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Briefe von Nietzsche

über jeder Gestalt noch eine Bogenlinie, die er nicht sieht, und diesen Vorsprung gibt mir meine Philosophie. M e i n e Philoso60 phie? H o l e mich der T e u f e l ! U n d Sie möge der liebe Gott holen — er hat Freude an allen Köselitzen. Treulich der Ihre FN. Antwort auf Köselitz' Brief vom 1August 1880: III/2, S. IOJ. Köselitz antwortet am 22. August 1880: IIII2, S. 109.

j o . An Franziska und Elisabeth karte)

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Nietzsche

in Naumburg

(Post-

(Marienbad, 21. August 1880)

Meine Lieben, allerbesten D a n k für Eure Nachrichten. A b e r das Lama! W i e es über die W e l t triumphirt, unter berühmten Thieren wandelt! Schließlich ist ihr der Bruder, der „der W e l t entsagt" und immer noch im W a l d e herumläuft, ein zu geringes und unansehnliches Thierlein geworden! T r o t z alledem! er wird Ende August oder am 1 Sept. oder 2 Sept. nach N a u m b u r g kommen. — Bis heute hat es j e d e n T a g , seit meinem letzten Briefe an Euch, g e r e g n e t . — Ist das herrliche gute Buch „Menschen des 18. Jahrhunderts" in Euren Händen? D a s ist die A r t von Menschen, von deren Existenz ich ohne Rührung gar nicht hören kann, ich vermisse sie und finde an der G e g e n wart nichts zum Ersatz. — Mein Befinden, in Folge der w u n derbarsten Klugheit meiner Lebensweise, hat sich wieder etwas verbessert. In herzlicher Liebe Euer F. Eben habe ich im W a l d e ein neugebornes Reh gefunden. Falls Berbig mein Maaß hat, soll er mir s o f o r t ein Paar Stiefeln machen. Antwort auf Franziska und Elisabeth Nietzsches Briefe vom 12J14. August 1880: III/2, S. ioj- 106. Dieser Brief kreuzt sich mit Elisabeth Nietzsches Brief vom 21. August 1880: vgl. Nachträge zu III/2 (Nr. 45 a).

49. - 52.

A u g u s t - O k t o b e r 1880

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j/. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Marienbad, 23. August 1880) Meine geliebte Schwester, ich antworte sofort: Overbecks Adresse ist Dresden, Sidonienstr. 7. III. Ich selber denke Mittwoch, spätestens Donnerstag im Anfange des September zu kommen. Die Nummer der „Gegenwart" ist bisher nicht in meine Hände gelangt; was liegt auch an dieser Berliner Weisheit! — Zu den neuen Pensionären wünsche ich Glück, mehr Glück als vom alten zu erlangen war. So ist der Wunsch freilich sehr bescheiden: um so eher wird er in Erfüllung gehen. — Sind die Stiefeln in Arbeit? — In herzlicher Erwartung unsres Wiedersehens (eines s e h r s t i l l e n Zusammenseins ohne andre Menschen) Euer F. Die „Gegenwart" kam: hast Du sie gelesen? Es ist n i c h t s draus zu l e r n e n , aber S c h m e i t z n e r ' s w e g e n mag sie gelobt sein! Antwort auf Elisabeth Nietzsches Brief vom 21. August 1880: vgl. Nachträge zu III/2 (Nr. 4; a).

j2. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte). (Stresa 14. Oktober 1880) Meine Lieben, bisher war es die schlechteste aller Reisen, die Einzelheiten sind abscheulich. In Frankfurt ging das Erbrechen los, in Heidelberg legte ich mich zu Bett. Wieder auf der Mitte des Gotthard kam der Anfall, und ich war 3 Tage in Locarno krank. Jetzt habe ich mich hier in Stresa nolens volens (um meine K o f f e r abzuwarten) auf einen Monat eingemiethet, fortwährend melancholisch oder verstimmt (was durchaus nicht dasselbe ist) Das Wetter bringt mir überall Landregen und Scirocco. Ich bin erstaunt, w i e wenig südlich dieser See ist (gar

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Briefe von Nietzsche

nicht zu vergleichen mit dem Gardasee!). Es ist noch recht schweizerisch hier, übrigens giebt es für den Nachmittag einen Schattenweg, für den Vormittag absolut nichts derart (keine hohen Mauern wie in Sorrent). Bis jetzt giebt es keine Speise 15 die ich ertrage. Heute Versuch mit Tapioca. Adr. Stresa, Lago maggiore (Italia) poste restante. Es dankt Euch innig Euer F.

j j . An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Stresa 14. Oktober 1880) Inzwischen gieng es betrüblich, liebe Freunde! Immer krank, von der Mitte der Gotthardfahrt an, und verfolgt von Landregen. In Locarno blieb ich gezwungen 3 T a g e , im übelsten 5 Zustande. Was mir hier in Stresa zu Theil werden soll, w o ich einen Monat bleiben will (um meine K o f f e r abzuwarten), sehe ich nicht ab — Der See ist mir nicht südlich genug, man spürt schon den Anhauch des Winters. Dringend und umgehend erwünscht wäre mir die Sendung eines französisch-deutschen 10 Wörterbuchs (klein, mit achtbarem Druck.) Adr.: Stresa, Lago Maggiore (Italia) poste restante. — Die Basler Stunden waren so erquicklich! Dankbar und innig grüßend F. N .

54. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Stresa, 20. Oktober 1880) Lieber lieber wunderlicher Freund, ich bin der Bösewicht, der sich rechtfertigen müßte, aber nicht kann: es sei denn, daß Sie den tiefen erbärmlichen Verfall meiner Gesundheit gelten las5 sen. Ich habe seit jenem Augustbriefe (den ich immer noch bei mir trage — er wiegt schwer) die Feder nicht in Tinte getaucht: so ekelhaft war, so gedulderheischend ist noch mein Zustand.

52.- 55.

Oktober 1880

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Wirklich, ich hatte bei nichts Freude, außer wenn ich Ihrer gedachte und Das was Sie mir jetzt melden, in Betreff von „Sch(erz), L(ist) und R(ache)" hat mich gestern ganz umgeworfen, und ich lief einige Stunden in glücklicher Trunkenheit herum. S o müssen sich die guten Künstler selber helfen, und den beengenden D r u c k aller Art in den Wind schlagen! Denken Sie, auch ich dachte mitunter, es sei Ihnen wohler zu Muthe, wenn ich wieder ferne sei — aber trotzdem, es verlangt mich doch sehr nach Ihnen, denn ich liebe Sie so als ich Sie ehre und schonen möchte. — Im November nach Neapel. Stresa, lago maggiore, poste restante. In T r e u e und Vertrauen Antwort auf Köselitz' Briefe vom 22. August und 12. Oktober 1880: III/2, S. /09 und i i f . Köselitz antwortet am 21. Oktober 1880: III/2, S. 116.

An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte). (Stresa, 20. Oktober 1880) Das sind heitere und gut gelungene Dinge, von denen D u schreibst, ich wünsche, daß alles so fort gehe. Bei mir immer noch Zustand der Erbärmlichkeit. D o c h habe ich vorgestern einen Spaziergang v o l l e r R u h e gemacht, ohne Freude, aber ohne Schmerzen — das w a r der Fortschritt, den ich sehr empfand. Die kleine Maschine bewährt sich herrlich, danke schön, meine liebe Schwester! Es ist kühl und nebelig. Meinen Geburtstag hatte ich vergessen, zum ersten Male. Bitte, geh zum Spediteur, wir müssen das Reiseziel des Gepäcks v e r ä n d e r n , da ich die Seereise von Genua nicht machen werde (ich halte sie nicht aus, so wie es steht) E r soll einen Laufzettel nachsenden und nun so addressiren: Castellamare (presso di Napoli) Italia. Pensione Weiss.

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B r i e f e von Nietzsche

Ich werde zu Lande reisen, in kleineren Stücken und z. i Klasse. Hier bleibe ich bis zum 10 November. Viel Geduld. Helft mir mit der Spediteur-Sache! Und denkt meiner in Liebe, wie ich in Dankbarkeit bin Euer Sohn und Bruder Antwort auf nicht überlieferte Briefe Franziska und Elisabeth Nietzsches.

}6. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Stresa, 27. Oktober 1880) Ja, senden Sie mir etwas, lieber Freund! Sie haben mich so streng in Bezug auf Ihre Musik gemacht, daß es mir g a r nicht in den S i n n g e k o m m e n ist, Sie um etwas zu bitten: ich freute mich auf Treu und G l a u b e n hin, ohne „den Finger erst auf die Nägelmale zu legen" — ich meine, diese christliche Tugend sollten Sie belohnen? Bin ich je in Hinsicht auf Sie auch nur einen Augenblick ein „ungläubiger Thomas" gewesen? Ich frage mich und prüfe mein Gedächtniß. — Aber keine Partitur! — Im Stillen zehre ich immer noch an einigen Takten Chopin's, die mir aus Ihrem Zimmer her geblieben sind: es gab dort für mich einen Hauch Sommerluft, den ich nicht wieder

Antwort auf Köselitz'Brief vom 21. Oktober 1880: III/2, S. Köselitz antwortet am 30. Oktober 1880: III/2, S. 119.

116.

J7. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Stresa, 31. Oktober 1880) Wenn ich nur, meine liebe, liebe Lisbeth, Dir was zu melden hätte, was Dir Freude machte, wie Dein Brief mir Freude

55.- 58.

Oktober 1880

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machte! Ich denke so oft an Dich — „aber so ein Bruder ist zu nichts nütze in der Welt" ist immer mein Schlußvers. — Es geht melancholisch-geduldig weiter, böse Tage und bessere eingestreut. Immer ist es mir zu k a l t , mir graut vor dem Winter mehr denn je. Gestern bei starkem Weststurm und reinem Himmel war der See wirklich südlich (wie der Gardasee im Februar) aber nicht in der Wärme. Danke herzlich für die kleine Verführung an die Riviera! Diese Woche sei der KofferMisere geweiht! (Ein Wort an Krugs, daß Gustav's Wunsch nach der Partitur der Meistersinger unerfüllbar ist) In vieler

Antwort

auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth

Nietzsches.

)8. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Stresa, 3 1 . Oktober 1880) Meine lieben Freunde, meinen Geburtstag hatte ich diesmal vergessen, zum ersten Male — woran lag dies? Wahrscheinlich habe ich den Kopf zu voll von anderen Gedanken, und d i e s e bringen es mit sich, daß ich mir zehnmal jedes Tags zurufe „was liegt an mir!" (Dies ist die Art, mir M u t h zu machen.) Ich weiß nämlich s e h r o f t nicht, wie ich meine Schwäche (an Geist und Gesundheit und andern Dingen) und Stärke (im Schauen von Aussichten und Aufgaben) mit einander ertragen könne. Meine Einsamkeit, nicht nur in Stresa, sondern in Gedanken ist außerordentlich. Um so erquicklicher ist jedes Wort und jede That der w a h r e n F r e u n d e , ach, ein wahres Bedürfniß! Von Herzen dankbar Euer F.N. Antwort

auf Overbecks

nicht überlieferten Brief zu Nietzsches

Geburtstag.

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Briefe von Nietzsche

An Paul Ree in Stibbe (Postkarte). (Stresa, 3 1 . Oktober 1880) Vielleicht, liebster Freund, sind Sie wieder heimgekehrt und haben sich und Ihre Philosophie vor den Gefahren des Meeres und des Amerikanerthums gerettet. Ich denke mit wahrer Sehnsucht an Sie, ohne irgend eine Aussicht zu haben, dieselbe zu befriedigen; denn ich mußte mich wieder nach dem Süden zurückziehn und diesmal, wie ich mir gelobt habe, auf länger. Als Recept sowohl wie als natürliche Passion erscheint bei mir immer deutlicher die Einsamkeit und zwar die vollkommne — und den Zustand, in dem wir unser Bestes schaffen können, muß man herstellen und viele Opfer dafür bringen können. Für einen solchen Einsamen ist aber „der Freund" ein köstlicherer Gedanke als hier die Vielsamen. — Meine Verehrung Ihren Eltern. Antwort auf Paul Rees Brief vom Sommer 1880: III/2, S. 100.

60. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Stresa, 7. November 1880) Theurer, Lieber! Immer krank, viel zu Bett, vom Winter überfallen, täglich 200 Male sagend „was liegt an mir!" — nun das ist ein Mensch, der Ihnen etwas anderes sagen soll als „ich vertraue!"? Mitunter fühle ich, durch Ihre Musik hindurch, w o v o n Sie sich losgerissen haben und losreißen. Dann wieder kommt mir ein Ideal komischer Musik in den Sinn, welches mich fast drängen möchte, nach Venedig zu kommen, um mit Ihnen davon zu reden. Drittens: ich habe kein Klavier, viertens ich habe in meinem Leben noch keine Singstimme gehört, welche nicht die gute Musik geschändet hätte — so daß ich gar nicht mehr an Stimmen denken mag, sondern immer nur an

59. - 61.

Oktober—November 1880

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komische Musik so denke, als ob usw. usw. Erbarmen und Geduld! Freund! V o n morgen an: G e n o v a , poste restante. Antwort auf Köselitz' Brief vom jo. Oktober 1880: III/2, S. 119. Köselitz antwortet am 8. November 1880: III/2, S. 123.

61. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Stresa, 7. November 1880) Inzwischen, meine Lieben, hat es T r a u e r und Sorgen bei Euch gegeben. Leider vermag ich auch nichts Aufhellendes hinzuzubringen, denn es ging und geht erbärmlich. D e r plötzliche Eintritt des Winters — auch hier! brachte mich plötzlich in jenen Zustand vom N a u m b u r g e r J a n u a r . Ich lag viel zu Bett. Ich wollte fort, aber die K o f f e r ! Endlich — heute! habe ich sie, ich komme soeben von Intra mit Barke zurück, es blieb nichts übrig als J a g d darauf zu machen. In summa hat mich diese Sendung c. 40 f r s . gekostet, ich bedaure die Thorheit. Morgen früh um 4 will ich nach Genua weiter (Adresse: G e n o v a , Italia, poste restante) An D r . R è e hatte ich kürzlich geschrieben. H a t Schmeitzner sein Blatt zurück? — Für das Salz mußte ich an der Steuer Strafe zahlen, und es wurde in den See geschüttet. Intra ist viel angenehmer als das eisige Stresa. Es grüßt und umarmt Euch Euer F. Das gute Lama hat so viel Mühe gehabt! Danke, D a n k e ! Antwort auf nicht überlieferte Briefe von Franziska und Elisabeth Nietzsche.

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Briefe von Nietzsche

62. An Gustav Krug in Köln (Genua, 16. November 1880) Hier in Genua, mein lieber Gustav, finde ich Deine Trauerkunde, ich schreibe schnell ein paar Zeilen, unvorbereitet, wie es auf der Reise zugeht und mehr ein Zeichen meines Mitgefühls als ein Ausdruck desselben. Dazu ist es, wie mich eben der Kalender belehrt, Dein Geburtstag — Du wirst mit einer besondren Wehmuth heute auf Dein Leben zurückblicken! Wir werden älter und damit e i n s a m e r : gerade jene Liebe v e r l ä ß t uns, die uns wie eine unbewußte Nothwendigkeit liebte, nicht wegen unsrer besondren Eigenschaften, sondern oft trotz derselben. Unsere Vergangenheit zieht sich zu, wenn die Mutter stirbt: da erst wird unsere Kindheit und Jugend ganz Erinnerung. Und dann geht es weiter, es sterben die Jugendfreunde, die Lehrer, die Ideale jener Zeiten — immer mehr Einsamkeit, immer kältere Winde umblasen uns. Du hast gut gethan, einen Garten der Liebe wieder um Dich zu pflanzen, lieber Freund! Ich glaube, daß Du heute Deinem Schicksal besonders dankbar sein wirst. Sodann bist Du Deiner Kunst treu geblieben, ich höre alles, was Du davon, mir meldest, mit einer innigen Befriedigung, und vielleicht kommt ein Alter, meinem Leibe günstiger als die jetzigen Zeitläufte, w o wir wieder zusammen sitzen und V e r g a n g e n e s aus D e i n e n Tönen heraus wieder auferstehen sehen, so wie wir wohl in unserer jugendlichen Musik Beide zusammen von unsrer Z u k u n f t geträumt haben. Mehr darf ich nicht sagen, mein Leiden (das immer noch, nach wie vor, jeden T a g seine eigne Geschichte hat) legt seine gebieterische Hand auf mich. Du darfst glauben, wenn Du an mich denkst (wie Du es zu meinem Geburtstag gethan hast, den ich selber diesmal vergessen hatte) daß ich nicht des Muthes und der Geduld ermangele und hohen, sehr hohen Zielen auch so, wie es nun einmal steht und geht, nachstrebe —

62.-64.

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November 1880

Du darfst ebenso bestimmt glauben, daß ich Dein Freund bin und bleibe In herzlicher Liebe mit Dir verbunden Friedrich Nietzsche. (Genova) Antwort

auf zwei nicht überlieferte Briefe Gustav

Krugs.

6j. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)

(Genua, 16. November 1880)

Endlich meine Lieben ein Wort! Inzwischen war alles Elend auf mich losgelassen, und ein solcher Wirrwarr von Anfällen u n d U n f ä l l e n eines U n b e r e c h e n b a r e n , daß ich kaum schlimmere Zeiten je durchgemacht habe. Keine Einzelheiten, wozu Euch quälen! Ich bitte aller Welt zu sagen, ich sei in San Remo: in Wahrheit bin ich in Genua und will hier bleiben (Beweis: ich habe gestern schon die vierte Wohnung hier bezogen) Sagt es N i e m a n d e m . Ich bin wieder m u t h i g e r . Genova, poste restante Italia Letzte Karte aus Stresa Tags vor der Abreise.

64. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 17. November 1880) Ihr Brief kam zur rechten Zeit: eben war der erste lichte und ruhige Moment erschienen, nach einer äußerst qualvollen unbegreiflichen Zeit, w o alle Übel des Leibes und der Seele über mich herfielen. O der tiefen Melancholie in Stresa! Ich sang und pfiff mir Ihre Melodien, um mir Muth zu machen: so werden sie mir im Gedächtniß bleiben! Und wahrlich, alles Gute

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Briefe von Nietzsche

der Musik muß sich pfeifen lassen, aber die Deutschen haben nie singen gekonnt und schleppen sich mit ihren Klavieren: daher die Brunst f ü r die Harmonie. — Verrathen Sie Niemandem, daß ich in Genua bin und b l e i b e n w e r d e , sagen Sie, ich bitte, gelegentlich, ich sei in San Remo. Ich will mir die unbekannteste Dachstuben-Existenz g r ü n d e n (ich habe jetzt das vierte Logis schon) Bleiben Sie muthig und so freudig-freundlich wie Ihr letzter Brief! Genova poste restante Antwort auf Köselitz' Brief vom 8. November 1880: III/2, S. 12j. Köselitz antwortet am 2/. November 1880: III/2, S. 126.

6y An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Genua, 1 7 . November 1880) Theurer Freund, ich gebe nur Nachricht, daß ich endlich die Ligurische Küste erreicht habe und zunächst nicht allzuweit von Genua leben werde. Seit unserm letzten Brief- und KartenAustausch stürzten alle Übel und Unzuträglichkeiten so über mich her, daß ich mich kaum einer schlimmeren Zeit erinnere, ich habe gelitten wie ein Bär in der Klemme, und auch der Kleinmuth und die Bitterkeit nisteten im Herzen — höchst frühwinterlich, wie die Natur. Inzwischen denke ich der Asche und des Phönix: aufwärts! Denkt meiner in Liebe! Euer Freund. (Unter allen Umständen: G e n o v a p o s t e r e s t a n t e . )

66. An Franz Overbeck in Basel (Genua, zweite Hälfte November 1880.) D u wirst in tiefer Arbeit sein, lieber Freund, aber ein paar Worte von mir werden Dich nicht stören. Es thut mir immer so

64.- 66.

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wohl, Dich in Deiner Arbeit zu denken, es ist wie als ob eine gesunde Naturgewalt gleichsam b l i n d l i n g s durch Dich wirkte, und doch ist es eine V e r n u n f t , die im feinsten und häkelichsten Stoffe arbeitet und an der wir es wohl ertragen müßten, wenn sie sich ungeduldig und zweifelnd und gelegentlich verzweifelnd gebärdete. Ich verdanke Dir so viel, theurer Freund, daß ich dem S c h a u s p i e l Deines Lebens so in der Nähe zusehen durfte: in der That, Basel hat mir D e i n Bild und das Jakob Burckhardts gegeben; ich meine, nicht nur mit der Erkenntniß einen großen Nutzen aus diesen Bildern gezogen zu haben. Die W ü r d e und die A n m u t h einer eigenen und wesentlich einsiedlerischen Richtung im Leben und Erkennen: dies Schauspiel wurde mir durch die nicht genug zu verehrende Gunst meines Schicksals „ins Haus geschenkt" — und folglich verließ ich dies Haus anders als ich es betrat. Jetzt ist mein ganzes Dichten und Trachten darauf aus, eine idealische Dachstuben-Einsamkeit zu verwirklichen, bei der alle jene nothwendigen und einfachsten Anforderungen meiner Natur, wie viele, viele Schmerzen sie mich gelehrt haben, zu ihrem Rechte kommen. Und vielleicht gelingt es mir! Der tägliche Kampf gegen mein Kopfübel und die lächerliche Mannigfaltigkeit meiner Nothzustände erfordert eine solche Aufmerksamkeit, daß ich Gefahr laufe, dabei k l e i n l i c h zu werden — nun, es ist das Gegengewicht gegen sehr allgemeine, sehr hochfliegende Triebe, die mich so beherrschen, daß ich ohne große Gegengewichte zum Narren werden müßte. Eben habe ich mich von einem sehr bitterbösen Anfalle erhoben, und kaum ist die N o t h zweier Tage abgeschüttelt, so läuft meine Narrheit schon wieder ganz unglaublichen Dingen nach, vom frühsten Erwachen an, und ich glaube nicht, daß irgendwelchen Dachstubenbewohnern die Morgenröthe lieblichere und wünschbarere Dinge beleuchtet hat. Hilf mir diese Verborgenheit festzuhalten, verleugne meine Existenz in Genua, — für eine gute Spanne Zeit muß ich ohne Menschen und inmitten einer Stadt,

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Briefe von Nietzsche

deren Sprache ich nicht kenne, leben, m u ß ich — ich wiederhole es; fürchte nichts f ü r mich! Ich lebe, wie als ob die J a h r 40 hunderte ein Nichts wären und gehe meinen Gedanken nach, ohne an das Datum und die Zeitungen zu denken. Ich will auch mit den Bestrebungen des jetzigen „Idealismus", zumal des deutschen, nichts mehr zu thun haben — T h u n wir Alle unsre Arbeit, die Nachwelt mag dann uns so und 45 so in Ordnung stellen, oder sie mag es auch nicht thun: nur will ich mich frei fühlen und nicht J a ! und nicht Nein! sagen müssen, z. B. zu solchem echt-idealistischen Büchlein, wie das ist, welches ich Dir mitsende. Es ist das Letzte, was ich vom jetzigen „deutschen Geiste" kennen lernen will — ebenso rührend 50 als anmaaßend als unsäglich geschmacklos: lies es nur einmal, mit Deiner Frau zusammen, versteht sich! U n d dann verbrennt es und lest zur Reinigung von diesem deutschen Schwulste Plutarchs Leben des Brutus und des Dion. — Lebe wohl, lieber Freund! H a b e ich D i r denn zu Deinem Geburtstag gratulirt? 55 Nein. Aber m i r habe ich dazu gratulirt. In Liebe der Deine. Genova, poste restante.

67. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 24. November 1880) Lieber Freund, ich lasse ein Kärtchen zu Ihnen fliegen, bloß um Ihnen zu sagen, was ich eben stark empfinde: ich glaube, Sie und ich, wir sind auf dem rechten Wege! Einsamkeit, und 5 Strenge gegen uns vor unserm eignen Richterstuhl, kein Hinhorchen mehr nach Anderen, Mustern und Meistern! Ein Leben, das unserm innersten Wunsche gemäß ist und w i r d , eine Thätigkeit ohne Hast, kein fremdes Gewissen über uns und unserm T h u n ! S o versuche ich's nun wieder einmal, mir 10 herzurichten: und G e n o v a scheint mir der rechte Ort, drei Mal

66.-68.

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jedes Tages ist mir hier das H e r z übergegangen, bei dieser in die Ferne weisenden Größe und unternehmenden Mächtigkeit. H i e r habe ich Gewühl und Ruhe und hohe Bergpfade und das, was schöner ist als mein T r a u m davon, das campo santo. In Liebe und Treue der Ihre F.N. Köselitz antwortet am 2;. November 1880: III/2, S. 126.

68. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 24. November 1880) Meine Lieben, ich mache wieder den Versuch, ein Leben zu finden, das mit mir selber harmonisch ist, und glaube, es sei auch der W e g zur Gesundheit; mindestens habe ich auf allen andern W e g e n bisher meine Gesundheit nur eingebüßt. Ich will mein eigner A r z t sein, und dazu gehört bei mir, daß ich mir selber im Tiefsten treu bin und auf nichts Fremdes mehr hinhöre. Ich kann nicht sagen, w i e sehr d i e E i n s a m k e i t mir wohl thut! Glaubt ja nicht, daß es meine Liebe zu Euch verringere! H e l f t mir vielmehr, meine Einsiedelei verborgen zu halten: nur so kann ich mich selber in jedem Sinne fördern (und zuletzt vielleicht auch Andern nützlich w e r d e n ) Hier, die große bewegte Meerstadt, an der jährlich über 10,000 S c h i f f e anlanden — die giebt mir Ruhe und Für-mich-sein. D a z u eine Dachstube mit ausgezeichnetem Bett: einfache gesunde Kost (alles habe ich vereinfacht) Meerluft, unentbehrlich f ü r meinen K o p f ; W e g e mit herrlicher Pflasterung, und f ü r November eine allerliebste W ä r m e ! (Viel Regen leider) Für den schönen Brief den herzlichsten Dank. In Liebe Euer F. Genova poste restante Antwort auf einen nicht überlieferten Brief von Franziska und Elisabeth Nietzsche.

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B r i e f e v o n Nietzsche

An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 5. Dezember 1880) Meine liebe Lisbeth, unsre Nachrichten haben sich gekreuzt, ich gehe alle Wochen einmal zur Post. Gehen! Ja gegangen wird viel! Auch gestiegen! Denn ich habe, um in mein Dachstübchen zu kommen, im Hause 164 Stufen zu steigen, und das Haus selber liegt sehr hoch, in einer steilen Pallast-Straße, die wegen ihrer Steilheit und weil sie auf eine große Treppe ausläuft, sehr still ist und etwas Gras zwischen den Steinen hat. — Meine Gesundheit ist in einer a b s c h e u l i c h e n Unordnung, auch der Magen. Aber die Luft des Meeres thut mir unsäglich wohl. Verrathet meine Einsiedelei nicht. Geduld! Wie oft denke ich an Eure Güte vom Herbste! Euer F. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth Nietzsches.

70. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Genua, 5. Dezember 1880.) Genova poste restante. Theurer Freund, so geht es, wenn man so selten zur Post geht, wie ich! Da finde ich Deinen gütigen aufmunternden Freundesbrief vor, und hätte ihn haben können, bevor ich meinen an Dich absandte — aus ihm wirst Du wenigstens ersehen haben, daß immer noch etwas Kapital von Muth und Geduld da ist, um verbraucht zu werden. Übrigens geht es mir übel — doch preise ich die Meeresluft und die guten Wege in und um Genova. — Mit dem Geld und Schmeitznern bleibt es bei der Verabredung, er ist benachrichtigt. Mit dem herzlichsten Gruße an Deine liebe Frau. F.N. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief

Overbecks.

69.- 72.

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ji. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 15. Dezember 1880) Meine Lieben, was für hübsche Bilder gebt Ihr von Eurem Leben! Es thut mit ordentlich wohl, daß mein peinlicher Zustand nichts daran verdirbt; ich meine, daß ich diesen Winter nicht in Naumburg bin. Erzählt mir vom Wetter recht genau. Ich habe noch nicht daran gedacht einzuheizen (und leider! könnte es auch nicht, es giebt keinen Ofen) Die Luft, hell und mild, thut mir wohl. Aber trotzdem: täglich Kampf der Gesundheit, keine Diät will anschlagen, ewige Magenleiden, alle zwei Tage k r a n k u.s.w. Seit Marienbad geht es so! In Venedig war es besser geworden. — „Schöne Gedanken" habe ich nicht, es ist nicht meine J a h r e s z e i t dafür. Was kosten 5 Stearinkerzen gewöhnl(icher) Länge bei Euch? Und ein Pfund Zucker? — Um Alles!! ich bitte nichts zu s e n d e n ! Denkt aber gütigst etwas für Euch aus und gebt es Euch in meinem Namen (nehmt, ich bitte, 10 Thaler: so viel habe ich doch noch ?) Mit den allerherzlichsten Wünschen Euer dankbarer F. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief von Franziska und Elisabeth

Nietzsche.

72. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 22. Dezember 1880} Lieber Freund, von Keinem hätte ich lieber etwas über meinen guten alten Gersdorff gehört als von Ihnen. Er scheint also noch derselbe zu sein: was mir wohlthut, denn ich fürchtete, er wäre unter das ihm m ö g l i c h e Maaß von Wohlbefinden hinabgesunken. — Und Sie, Freund? Was haben Sie für ein

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Briefe von Nietzsche

November- und Dezember-Wetter gehabt? Hier war es unvergleichlich — so daß ich sehr mißtrauisch für den Rest des Winters bin. Es fehlt mir der Ofen, wie Ihnen. Aber bis jetzt konnte man Tag und Nacht im Freien sitzen (und l i e g e n — ich komme eben von der einsamen Felsenküste) Meine Gesundheit war in Venedig viel besser, aber ich habe meine Jahreszeiten im Leiden: nach dem Sommer zu bin ich gesünder, von da sinkt es. Schreiben Sie recht viele solche Takte, wie die am Schluß von „Arm und elend muß ich sein" (scherzando): sie gehören zur guten alten, sehr guten und stets guten Zeit: wohin wir Alle gehören möchten! Treulich F. Antwort auf Köselitz' Brief vom 2November 1880: III/2, S. 126. Köselitz antwortet am 2j. Dezember 1880: III/2, S. 128.

7j. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Genua,) 25 December 1880. Heute, meine innig Geliebten, ist Weihnachten, folglich ist Neujahr vor der Thür — so muß denn doch ein Briefchen geschrieben werden, was auch die Herren Augen sagen! — Gestern lag ich auf meinem Bette und dachte über das Leben nach und kam zum Schlüsse, daß doch sehr Vieles unvollkommen ist, und man die Zähne oft übereinander beißen muß: daher solle man sich etwas Gutes sagen und thun, so o f t es angeht, der Eine dem Anderen, damit doch etwas bei dem ganzen Leben herauskomme! (dabei fiel mir ein, daß ich die Tante Cäcilie niemals besucht habe, ebenfalls daß ich Euch den vorigen Herbst verdorben habe, durch meine Ungeduld und mürrisches Wesen) Und plötzlich merkte ich, daß es fünf Uhr sei und also die Stunde, wo bei Euch und allenthalben Bescheerung ist. — In der Stadt war es etwas regnerisch, aber m i l d e , wie ich mir nie einen 24. Dezember bisher vorgestellt habe. Ich bin

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doch sehr damit zufrieden, im Süden und am Meere sein zu können — mein K o p f hat ganz gewiß eine Wohlthat davon. Sonst geht es immer noch drunter und drüber, hin und her; ich will immer durch strenge Regelmäßigkeit und Gleichheit für einen wie den anderen T a g es z w i n g e n — aber meine Natur scheint gerade das Umgekehrte zu wollen: dasselbe was ihr gestern gut that, thut es heute nicht, es bedarf einer lächerlichen A u f s i c h t , und doch ist alle Augenblicke etwas versehen und wieder mit Mühe und N o t h gut zu machen. Ich bin sehr viel krank, aber unvergleichlich besserer Stimmung als andere Jahre zur gleichen Zeit. Das ist etwas! — In Venedig (das z e h n m a l w e n i g e r für mich paßt als Genua) ist jetzt Gersdorff, er verkehrt viel mit Köselitz. Er m a l t , aber, nach Köselitzens Urtheil, mit viel Übertreibung, alle Köpfe zu heftig, roth, aufgeblähte Nüstern u.s.w. Kann mir's recht gut denken! — Gehen wir also friedlich in's neue Jahr, meine Lieben! Ich weiß nicht, was aus ihm wird, glaube überhaupt nicht so recht mehr an wesentliche Veränderung meines Zustandes, er will eben abgewartet und ertragen sein, ohne daß man deshalb allen Lebensmuth verlieren müßte. Dagegen: bei Euch soll noch Gutes kommen, das nicht da ist, und alles Gute bleiben, das da ist: das wünsche ich in herzlicher Liebe! Lebt wohl! Euer F. NB. Ich war die letzte Woche desperat über L ä r m im Hause und wollte zum vierten Male a u s z i e h n , dachte mir eine Zornrede aus — und brachte es doch nur zu einer sehr verbindlichen Ansprache. Hinterher b i l d e ich m i r g a r n o c h e i n , dieselbe habe die selbe Wirkung gethan, wie jene gethan haben würde. — So geht es. Ich habe nicht für die guten Briefe dem Lama gedankt. Antwort auf nicht überlieferte Briefe Elisabeth Nietzsches.

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Briefe von Nietzsche

74. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 8. Januar 1881) Lieber lieber Freund, ich habe nichts zu schreiben, aber ich dachte eben an Sie recht lange, ich lag wieder still am Meere, wie eine Eidechse in der Sonne, an den fernen Bergesspitzen glänzte zum ersten Male der Schnee (näher ist er noch nicht gekommen). Ihr Brief, gut wie alles, was ich von Ihnen erfahren, zeigt mir wieder, daß ich Ihnen Noth mache, mehr als ich möchte. Ertragen wir es in Stille mit einander! Im späteren Leben, wenn wir immer mehr zusammengewachsen sind wie treue alte Bäume, lachen wir wohl noch einmal über die Jugend unsres Verkehrens! Bewahren Sie Sich mir auch im neuen Jahrzehnt — ich fürchte, am Ende desselben noch einsamer zu sein als ich jetzt bin (ich fürchte es und bin beinahe vorläufig schon stolz darauf!) Aber S i e müssen mir bleiben, und ich will Ihnen bleiben! Treugesinnt Ihr Freund F.N. Antwort auf Köselitz' Brief vom 23. Dezember 1880: III/2, S. 128. Köselitz antwortet am 22. Januar 1881: III/2, S. 130.

7j. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg karte)

(Post-

(Genua, 8. Januar 1881) Meine Lieben, Eure Briefe machten den Schluß des Jahres s c h ö n , es gab auch sonst blaues warmes Wetter zum Abschied. Inzwischen ist das neue Jahr etwas strenger aufgetreten, doch kann ich nicht sagen, daß ich bisher den Ofen wirklich vermißt hätte, bei meiner Art zu leben und zu wandern. An den ferneren Bergen der Küste ist der Schnee auf den Spitzen. Wir hatten drei bis vier Tage Regenwetter (Novemberwetter) Wenn die

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Januar 1881

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Sonne scheint, gehe ich immer auf einen einsamen Felsen am Meer und liege dort im Freien unter meinem Sonnenschirm still, wie eine Eidechse; das hat mehrere Male meinem K o p f e wieder aufgeholfen. Meer und reiner Himmel! Was habe ich mich f r ü h e r gequält! Täglich wasche ich den ganzen Körper und namentlich den ganzen Kopf, nebst starkem Frottiren. — Meinen schönsten D a n k und herzlichstes Bedauern über Geschenk und Mißgeschick desselben! Möge Freude und Zufriedenheit um Euch sein! In herzlicher Liebe Euer F. Antwort

auf nicht überlieferte Briefe von Franziska und Elisabeth

jG. An Franz Overbeck in Basel

Nietzsche.

(Postkarte) (Genua, 8. J a n u a r 18 81.)

Magst D u , theurer Freund, zusammen mit Deiner lieben verehrten Frau, in Deiner zuversichtlichen guten Art auch in's neue J a h r z e h n t übergetreten sein! Ich denke so o f t an Dich und namentlich, wenn ich nach Mittag, fast T a g f ü r T a g , auf meinem abgeschiedenen Felsen am Meere sitze oder liege, wie die Eidechse in der Sonne ruhe und mit den Gedanken auf Abenteuer des Geistes ausgehe. Meine Diät und Vertheilung des Tages sollte mir doch auf die D a u e r gut thun! Meerluft und viel reiner Himmel — das sehe ich nun ein ist mir unentbehrlich! Die W ä r m e ist im neuen Jahre geringer als im alten, ich habe keinen O f e n — aber wer hat hier einen O f e n ! — Ich habe noch nicht erfahren, ob das Büchlein und mein zugleich abgesandter Brief glücklich in Deine H ä n d e gelangt ist? Treulich der Deine und der Eure. F.N.

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Briefe von Nietzsche

77. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 25. Januar 1881) Lieber Freund, so lasse ich denn mein Genueser Schiff an Sie ablaufen! Der Winter ist hart geworden, seitdem hat sich meine Gesundheit zum S c h l i m m e n gewendet — ich bin glücklich, nichts mehr mit dem Manuscript zu thun zu haben. — Nun heißt es wieder: „Freund, in Ihre Hände befehle ich meinen Geist!" und noch mehr: „in Ihren G e i s t befehle ich meine Hände!" Ich schreibe zu schlecht und sehe alles krumm. Wenn Sie nicht errathen, was ich denke, so ist das Manuscript unentzifferbar. (Mit großem Ergötzen sehe ich aber aus Ihren beiden letzten Briefen, in welcher N a c h b a r s c h a f t unsere Gedanken laufen — leider kann ich nicht antworten wie ich möchte, verzeihen Sie es mir!) — Nun will ich sehen, ob sich das „ L e b e n " wieder erhalten läßt; ich habe doch meine A u f g a b e gelöst und denke mit gutem Gewissen an das Kommende — w i e es nun auch kommt! Daß so viel Schmerz mir bescheert wird! Alberne Oekonomie meines Leibes! Mag es Ihnen nur im Leibe und im Herzen gut gehen, mein guter lieber Köselitz! Treulich F.N. Bitte um Antwort: p o s t e r e s t a n t e ! Antwort auf Köselitz' Brief vom 22. Januar 1S81: III/2, S. Köselitz antwortet am 26. Januar 1S81: III/2, S. 134.

ijo.

78. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Genua, 29. Januar 1881) Meine liebe gute Mutter, so möge Dir das neue Jahr ein heiteres Gesicht machen! Und wenn es dabei ein Gesicht zeigt, das von dem des alten Jahres

77.- 78.

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5 nicht gar zu verschieden ist, so wollen wir Alle damit zufrieden sein! Denn im Grunde hast Du, meine liebe Mutter, Dein erträgliches und rechtschaffenes Maaß von irdischem Wohlbefinden, davon überzeuge ich mich bei jedem Besuche mit großem Vergnügen. Daß das „Glück" eines Tages mit Trommeln io und Trompeten erst noch k ä m e , daran glauben wir ja Alle nicht mehr; Jeder hat seine A u f g a b e und muß täglich zusehen und sich tummeln, daß sie g e r ä t h — und geräth sie, so ist man guter Dinge; schlimmsten Falls macht man eine gute M i e n e , wie ich jetzt zum bösen Spiele des Winters. 15 J a , das ist ein Spazierenlaufen! Denn im Zimmer ist es nicht lange Zeit auszuhalten, und ich habe bis jetzt noch keinen geheizten Raum betreten. Trotzdem bin ich nicht verstimmt, obschon meine Gesundheit entschieden seit dem Eintritt des harten Winters zum Schlechten sich wendet. Hoffentlich dauert 20 es nicht mehr zu lange. Es bedarf einer so sorgfältigen und peinlichen Überlegung, jeden T a g mit einer solchen Gesundheit durch alle Klippen hindurchzuschiffen, daß ich froh bin, es allein abzumachen, denn es sieht so kleinlich aus, selbst unmännlich. Aber ich habe meine Tapferkeit und Männlichkeit 25 in anderen Dingen und muß mich eben durchschlagen, um etwas Ordentliches in m e i n e r Art doch noch, trotz aller bösen Krankheit, zu Stande zu bringen. Ich esse diesen Winter, der Erwärmung und leichteren Verdauung wegen, mehr Fleisch. Dagegen wagte ich noch nicht wieder mit den Eiern zu begin30 nen: ich habe immer noch den Naumburger gestoßenen Zukker. Zum Frühstück esse ich altbacknes Weißbrod, zu Thee oder K a f f e . Ich bin regelmäßig wie eine Uhr. Sechs bis acht Stunden gehe ich herum. Eigentlich h a b e ich das Leben, wie ich es früher ersehnte, als ich von Rothenburg an der Tauber 35 träumte — erinnere doch unsre Lisbeth daran! — ja ich habe es gründlicher und tüchtiger als ich es damals mir ausdachte (ich war noch nicht unabhängig genug im Geiste und noch nicht so durch Erfahrung und Leiden durchgearbeitet, wie ich jetzt es

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Briefe von Nietzsche

bin — denn, meine liebe Mutter, ob man mir es ansieht oder nicht, ich habe in den letzten 10 Jahren unbändig viel erlebt.) Und nun nochmals! Frieden und Freuden um Dich! In Treue und Liebe . , Dein Sohn r.

79. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 3. Februar 1881) Oh mein lieber Freund, wie schön verstehen Sie es, mein Gewissen zu erleichtern — denn es wurde mir recht schwer, an Sie, auf dem so große Aufgaben ruhen, mein Ansinnen zu stellen. — Wir haben einen Winter von 30 Tagen gehabt, vorausgesetzt daß er v o r b e i ist. Ich liege seit dem 31. Januar wieder täglich in der Sonne und gestern war es mir zu heiß. Venedig hat den Fehler, keine Stadt für einen Spaziergänger zu sein — ich b r a u c h e meine 6—8 Stunden Wegs in freier Natur. Haben Sie nicht vielleicht an Bologna für den Sommer gedacht? Oder Albano und Ariccia bei Rom? Es verlangt mich so nach Ihnen. Hören Sie etwas vom Befinden der Frau v. Wöhrmann? — Ihre Duell-Geschichte zeigt, daß Sie mir sehr überlegen sind — ich bewundere und lache dabei. In herzlicher Freundschaft Ihr F.N. Antwort auf Köselitz' Brief vom 26. Januar 1881: III/2, S. Köselitz antwortet am 6. Februar 1881: III/2, S. 136.

134.

80. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 9. Februar 1881) Ach, welche Überraschung war das! Die Schönheit und männliche Anmuth dieses Ihres Manuskriptes zu sehen — das ist wie nach einem römisch-türkischen Bade sich fühlen, reingewaschen nicht nur, sondern verjüngt und verbessert. Ich las und

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gieng einige Stunden spazieren, voller inniger Gedanken gegen Sie und die Natur. Es scheint mir ein gehaltvolles Buch: aber es ist s c h w e r . In den Morgenstunden dieses herrlichen Februar habe ich noch einen Nachtrag gemacht, damit alles recht u n z w e i d e u t i g herauskomme. — Sie werden, meine ich, damit zufrieden sein. Darf ich diesen Nachtrag senden? — Auch will ich den Titel ändern; Sie haben mich dadurch, daß Sie den zufällig hingeschriebenen Vers aus dem Hymnus an Varuna als M o t t o nahmen, auf den Gedanken gebracht: sollte das Buch nicht heißen: „ E i n e M o r g e n r ö t h e . Gedanken über die moralischen Vorurtheile u.s.w.". Es sind so viel bunte und namentlich rothe Farben darin! Erwägen Sie es! (Das Titelblatt, mit einfachen, stark wirkenden Ornamenten, sei auch Ihrem Geschmack und Nachdenken empfohlen!) Der dankbarste Glückliche. Antwort auf Köselitz' Brief vom 6. Februar 1881: III/2, S. 136. Köselitz antwortet am 10. Februar 1881: III/2, S. IJJ.

81. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 12. Februar 1 8 8 1 ) Lieber armer Freund, vergeben Sie mir! Das Manuscript des Nachtrags ist stärker geworden als es billig ist in Hinsicht auf S i e ! Ich bitte Sie inständig, helfen Sie mir diesmal noch und tragen Sie es mir nicht nach, daß ich etwas thue, was wie eine Unverschämtheit aussieht! Machen Sie meine Sache einmal zur Ihrigen — es m u ß t e Mehreres in das Buch hinein, der Horizont desselben wollte r u n d werden, und ich war in der rechten Verfassung, bei diesem herrlichen Vor-Frühling! So ist es geschehn, was im Hinblick auf Ihre Freundschaft vielleicht hätte unterlassen werden sollen! Aber, wie gesagt, nehmen Sie es einmal als I h r e Sache; wer weiß, ob Sie nicht irgendwann einmal als mitschuldig an dem Zustandekommen dieses Buchs

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Briefe von Nietzsche

zu l e i d e n haben — sehen wir zu, daß wir Beide uns jetzt an ihm zusammen noch freuen können. Aber dazu ist ein W o r t des V e r z e i h e n s n ö t h i g ! N u r Ein Wort auf einer Karte, und, ich bitte dringend, nicht mehr als h ö c h s t e n s drei Worte!!!!! N u r ein Wort! Aber gleich, theurer armer Freund! Antwort auf Köseiitz'Brief vom 10. Februar 1881: III/2, S. 137. Köselitz antwortet am IJ. Februar 1881: III/2, S. 139.

82. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 13. Februar 1 8 8 1 ) V o n Euch Beiden, meine Lieben, habe ich so schöne ausführliche Nachrichten — und ich selber lasse so lange auf Nachricht warten! V o r Allem: wir haben den Winter hinter uns! Er hat gerade 30 T a g e gedauert. V o m 31 Januar an ist es sehr angenehm, ich liege fast täglich ein paar Stunden am Meere. V o n Hrn. Köselitz ließ ich mir Nachricht über Frau v. W(öhrmann) geben: sie will nicht nach Corfu. Die Einen sagen, sie leide an der Lunge, Andre nennen ein andres Leiden. Ein mir bekannter Maler malt ihr Töchterchen. — Wie lange bleibt sie in Venedig? Schreibt es mir doch. Jetzt ist Fürst Liechtenstein dort, er hat auch Hrn. Köselitz seinen Besuch gemacht, Gersdorff ist auch noch dort. — Liebe Lisbeth, zum L e s e n in Gesellschaft empfehle ich Voltaire's Mahomet, von Goethe übersetzt (in allen Goethe-Ausgaben) Daß Frau von Sevigne eingeschlagen hat, hörte ich mit großem Vergnügen, ja, ich wartete darauf, es zu hören. Nehmt, meine Inniggeliebten, die herzlichen und dankbaren Grüße Genaue Adresse, n i c h t wie das letzte Mal! Antwort auf nicht überlieferte Briefe von Franziska und Elisabeth

Eures F. Nietzsche.

81.-83.

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8j. An Heinrich Köselitz in Venedig (Genua, 22. Februar 1 8 8 1 ) Ist es wahr, lieber Freund, daß Sie einen guten Glauben an das Ganze haben? Oder haben Sie mich nur etwas e r m u t h i g e n wollen? Ich bin so durch fortwährende Schmerzen zerbrochen, daß ich nichts mehr beurtheilen kann, ich sinne darüber nach, ob es mir nun nicht endlich erlaubt sei, die ganze Bürde abzuwerfen; mein Vater als er so alt war wie ich es bin, starb. — Auf Ihre vorletzte Karte hätte ich gleich antworten sollen und mögen — aber ich konnte nicht! sie war von einem feinen und freundlichen Geiste eingegeben, Madame de Sévigné würde Ihnen ein Compliment dafür gemacht haben. — Titel! Der zweite ,,E(ine) Morgenr(öthe}" ist um einen Grad zu schwärmerisch, orientalisch und weniger guten Geschmacks: aber das wird durch den V o r t h e i l a u f g e w o g e n , daß man eine f r e u d i g e r e Stimmung im Buche v o r a u s s e t z t als beim andern Titel, man liest in anderem Zustande; es kommt dem Buche zu statten, welches, ohne das Bischen Aussicht auf den Morgen, doch g a r zu d ü s t e r wäre! — Anmaaßend klingt der andre Titel auch, ach, was liegt noch daran! Ein wenig Anmaaßung mehr oder weniger bei solch einem Buche! — Die Orthographie und die grammatische Correktheit, lieber Freund, sind wieder I h r e Sache, ich habe keine andre Orthographie als die Köselitzische. Mitunter mache ich Sprachfehler z. B. in der bildung der Conjunctive: verbessern Sie mich in allen Stücken, ohne irgend ein weiteres Wort! H i n t e r diesem ganzen Buche klingt mir meine Musik zu Manfred — denken Sie sich! — Was macht Freund Widemann? V o n Dr. Rèe höre ich das Betrübteste, sein Vater ist in der Nachwirkung einer Operation gestorben, seine Mutter schwer krank. Sind Sie wirklich diesen Sommer noch in Venedig? Frau v. Wöhrmann bleibt, wie ich höre. — Und Herr Racowitz? — Meinem alten Kameraden Gersdorff danken Sie des Herzlich-

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Briefe von Nietzsche

sten f ü r seinen Gruß, es steht zwischen uns beim Alten. (Wenn er sich nur f r e i machen wollte! Aber er ist so eigensinnig und zwar in Hinsicht auf Andre z . B . seine Verwandten! Denken Sie, was ich z u v e r l ä s s i g erfahre und was man nicht wissen darf, daß G(ersdorff)'s V a t e r sich erschossen hat.) N u n , mein lieber einziger Leser und Schreiber, wir müssen das einmal Unternommene g u t zu Ende führen, auch H e r r Schmeitzner und Oschatz müssen angetrieben werden. Inzwischen giebt es Niemanden, an den ich mit so herzlicher und dankbarer Gesinnung dächte als an Sie! In T r e u e der Ihrige F.N. Kennen Sie Jemanden in Bologna? Aber v i e l l e i c h t komme ich noch nach Venedig, etwa Mitte April, ich muß mich von mir selber abziehn, meine Gedanken fressen mich auf. Ich will rudern — wer hat ein Boot? Aber allein. — Und meine W o h nung? — Antwort auf Köselitz' Briefe vom ij. und 19. Februar 1881: III/2, S. ijy. Köselitz antwortet am 23. Februar 1881: III/2, S. 140.

84. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Genua, 22. Februar 1 8 8 1 ) J a , theurer Freund, ich bin noch in Genua und habe den härtesten Theil des Winters hoffentlich hinter mir. Z u m ersten Male im Winter ohne O f e n , mit erstarrten Gliedmaaßen o f t genug. Ich bin wieder leidender als vor Weihnachten, und werde die Kopfschmerzen kaum mehr los, mitunter werde ich aller Dinge sehr müde. Bitte, sende den nächsten Gehalt wieder an Herrn Schmeitzner, ebenfalls die j o frcs, von denen D u schriebst. Beunruhige Dich nicht, gegen den vorigen Winter gerechnet,

8 3 . - 85.

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bin ich doch gut gefahren, und vielleicht thut mir der Frühling wieder gut. — Die Augen stehn mir so selten noch zu Gebote! Verzeih meinen Anschein von Undankbarkeit, lieber guter Freund. V o n Herzen Dich und Deine liebe Frau grüßend F.N. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief

Overbecks.

8j. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Genua, 23. Februar 1 8 8 1 ) Werthester H e r r Verleger f ü r alle Ihre Dispositionen meinen ergebensten D a n k , ich glaube an Ihr aufrichtiges Wohlwollen f ü r mich und deshalb glaube ich auch an Alles, was Sie in Dingen f ü r mich thun, worin ich, wie Sie wissen, unerfahren bin. Was Geld betrifft, so verstehe ich nur Eins: wenig zu brauchen und zu sparen. W e r lebt denn wohl so philosophisch und gut (und doch keineswegs asketisch) als ich hier in Genua? Und doch brauche ich f ü r jeden Monat nicht mehr als 60 M a r k , Alles, auch das Zufälligste eingerechnet. D a f ü r habe ich, schon meiner fast erloschenen Augen wegen, keine Aussicht auf irgend ein ernährendes Amt in meinem späteren Leben. Also wollen wir fortfahren zu sparen und zu sammeln! Dies ist heute aber nur die Nebensache. — Ich frage nämlich an, ob Sie den Verlag eines neuen Buches übernehmen wollen, welches in der Abschrift des Herrn Köselitz vor mir liegt. Meine Bedingungen in Betreff der Ausstattung und des Honorars sind die alten. D a f ü r verlange ich aber, daß diesmal H e r r Oschatz an Güte und Pünktlichkeit sich selber übertreffe — es muß ein Musterbuch werden.

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Briefe von Nietzsche

Der Titel ist:

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Eine Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. Von Friedrich Nietzsche. „Es giebt so viele

Morgen-

röthen, die noch nicht geleuchtet haben." Rigveda.

Dies Buch ist das, was man „einen entscheidenden Schritt" nennt — ein Schicksal mehr als ein Buch. Geben Sie mir eine Antwort auf meine Anfrage, hierher, nach Genova (Italia) poste restante. Sie wissen, daß ich immer mit den aufrichtigsten Wünschen 35 für Sie bin und bleibe Ihr Dr F. Nietzsche



86. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 24. Februar 18 81) Heute, in Folge eines starken Abführmittels, ein guter Tag, und helle Sonne! Ich habe sofort die Anordnung des Ganzen (im Groben) vorgenommen — es legte sich leicht und natürlich in 5 4 Massen auseinander, jede mit ihrer Grundfarbe, und von ähnlichem Umfange. Das Gelingen hat mich erheitert. Als ich das Ganze so wieder zusammen gesehen hatte, mußte ich lachen — es wird kein dickes Buch, aber es giebt nicht viele Bücher mit so viel I n h a l t (rede ich jetzt als Vater des Buchs? ich glaube 10 nicht) Meine drei Genueser Schutzpatrone Columbus, Mazzini und Paganini haben, wie mir scheint, etwas die Hand im Spiele gehabt. — Im Herbst v e r z w e i f e l t e ich, daß ich je die Stimmung und Kraft und Lust für das Ganze wieder finden würde

85. - 88.

F e b r u a r - M ä r z 1881

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— es war mir in Marienbad durch den Kopf g e f l o g e n . Und heute! — Dank Ihrer großen großen Güte! F.N. Köselitz antwortet am IO. März 1881:

III/2, S. 143.

87. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 26. Februar 1881) Lieber Freund, mit der Einen Hand warf ich einen Brief an Dr. Ree in den Kasten, mit der andern empfieng ich den Ihrigen und finde darin die mich e n t z ü c k e n d e Idee, dem Armen im Norden eine solche unsäglich feine, angemessene, gedankenvolle, hintergedankenvolle Dedikation zu machen. J a , ihm etwas S o n n e schaffen! Und Sie, w a h r e r Freund meiner Freunde, wie r e i c h Sie immer zur rechten Zeit sind! So gegen Gersdorff! Ich schwärme und bin ganz glücklich! Wie v i e l des Guten kommt durch S i e zu mir! F.N. Antwort auf Köselitz' Brief vom 23. Februar 1881: III/2, S. 14o. Köselitz antwortet am 10. März 1881: III/2, S. 143.

88. An Heinrieb Köselitz in Venedig (Genua, 13. März 1881} Das ist nicht recht, lieber Freund! Sie machen mich zum Vertrauten Ihrer Noth — und einer solchen Noth! — nachdem sie vorüber ist! Und es geht mir diesmal wie in Marienbad — es ist mir als ob Sie vor mir zurückflöhen und mich irgend wofür bestrafen wollten. Ich schäme mich immer, an diese Geschichten zu denken. Ach, ein Kärtchen und ein Wörtchen darauf und hundert frs. oder mehr fliegen zu Ihnen. — Nun, nichts für ungut! Aber Sie sind mir zu fein.

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Briefe von Nietzsche

Ihre Nachrichten über Ihr Werk sind sehr gut. Fürst L i e c h tenstein) ist mir immer, von sehr glaubwürdiger und u r t e i l s f ä higer Seite aus (Frau C(osima) Wagner) als ein ausgezeichneter Mensch gerühmt worden, ich freue mich, daß er auch gegen Sie W i t t e r u n g verräth. Denn, lieber Freund, Sie sind zu entdekken. Heute soll das M(anu)s(cript) an Herrn Schmeitzner abgehen. Was habe ich inzwischen alles um dieses Buches willen in mir durchgemacht! N a c h einer kurzen kurzen Freude! Genug, ich fühle mich jetzt wieder auf offnem Meere, und die alte mir so wohlbekannte b i t t r e E n t s c h l o s s e n h e i t hat mich wieder. — Fragen Sie meinen alten Kameraden Gersdorff, ob er Lust habe, mit mir auf ein bis zwei Jahre nach Tunis zu gehen. Klima ausgezeichnet, nicht zu heiß — Überfahrt von Livorno über Cagliari sehr kurz, das Leben dort billig. Ich will unter Muselmännern eine gute Zeit leben, und zwar dort, wo ihr Glaube jetzt am strengsten ist: so wird sich wohl mein Urtheil und mein Auge für alles Europäische schärfen. Ich denke, eine solche Berechnung liegt nicht außerhalb meiner Lebensaufgabe. — Ein deutsch-schweizerisches Handelshaus in Tunis wird uns Logis besorgen. Aber erst muß das Buch fertig gemacht werden: ich will, daß bis Ende April ein Exemplar in Ihren Händen ist. V o n meinem Reiseplan bitte ich Sie und Herrn G(ersdorff) gegen andre Personen vorläufig zu schweigen. — Ein Maler des Genre's findet in Tunis sein gelobtes Land: nur darauf hin mache ich dem Freunde diesen Vorschlag. Lieber lieber Freund, warum kann ich Ihre Musik nicht hören! Ich bedarf aller Arten Gesundheit — es ist mir etwas zu tief in's H e r z gegangen, dieser „herzbrecherische Nihilismus"! N u n , bleiben wir tapfer! Treugesinnt F. N . Antwort auf Köselitz' Brief vom 10. März 1881: ¡11/2, S. 143. Köseiitz antwortet am 16. März 1881: III/2, S. 145.

8 8 . - 89.

März 1881

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89. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz Genova den i3ten März 1881. Werthester Herr, hier ist das Manuscript — es kostet mich einen bitteren Entschluß, es aus den Händen zu geben. — Es werden gegen 1 6 — 1 8 Druckbogen sein. Nach dem Titelblatt folgt ein Blatt mit der Aufschrift: E r s t e s B u c h . — Es sind 5 Bücher. — Als Norm für die Raum-Eintheilung betrachte ich „Menschliches Allzumenschliches". J a nicht eng zusammen drucken! Der Fehler des Buches ist so schon, daß die wesentlichsten Gedanken zu d i c h t sich folgen. Nun aber Eile! Eile! Eile! Ich will von Genua fort, sobald ich das Buch fertig habe und sitze bis dahin auf Kohlen. Helfen Sie! treiben Sie Herrn Oschatz! Kann er mir nicht ein schriftliches Versprechen machen, daß bis s p ä t e s t e n s E n d e A p r i l das Buch h i e r in meinen Händen ist — f e r t i g und v o l l k o m men? — Zu g l e i c h e r Zeit geht ein Bogen an Herrn Köselitz nach Venedig und ein Bogen an mich nach Genova (poste restante) ab. Die Blätter und Blättchen des Ms. sind r o t h numerirt. Vieroder fünfmal ist auch die Rückseite beschrieben. Lieber Herr Schmeitzner, wir wollen Alle diesmal unsre Sache so gut als möglich machen. Der Inhalt meines Buches ist so wichtig! Es ist unsre E h r e n s a c h e , in nichts es fehlen zu lassen, daß es würdig und makellos zur Welt kommt. — Ich beschwöre Sie, um meines Namens willen, jegliche Reklame zu unterlassen. Und manches Andere versteht sich von selber, sobald Sie selber erst das Buch gelesen haben. Mit dem wärmsten Wünschen (aber einigem Herzklopfen) Ihr ergebenster Dr. F. N.

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Briefe v o n N i e t z s c h e

po. An Heinrich Köselitz in Venedig

(Postkarte) (Genua, 14. M ä r z 1881)

Hier, lieber Freund, kommt doch noch das M(anu)s(cript). Ein Anfall meines Kopfleidens wird mich einige T a g e „dienstunfähig" machen — und so hilft vielleicht Gersdorff, die Zettel z u s a m m e n z u k l e b e n . Bitten Sie ihn darum in meinem N a m e n ! (Machen Sie ihn darauf aufmerksam, daß 5 oder 6 auch auf der Rückseite beschrieben sind) Es sind 5 Bücher. N a c h dem Titelblatt folgt ein Blatt mit der Aufschrift: E r s t e s B u c h , (u.s.w.) Für das Titelblatt liebe ich die symbolischen Bezüge n i c h t . Einfache starke und muthige Linien und höchste L e s b a r k e i t der W o r t e ! — Treulich Ihr Freund Nietzsche. Köselitz

antwortet

am 16. März 1881: IIII2, S. 145.

91. An Franziska und Elisabeth karte)

Nietzsche

in Naumburg

(Post-

(Genua, 14. M ä r z 1881) Meine Lieben, schönsten D a n k für die Briefe. Es gieng und geht mir immer noch n i c h t g u t . Ungünstiges Wetter. — V e r z e i hung, daß ich von B(aden-)Baden gesprochen habe — an m i c h habe ich dabei gar nicht gedacht! Sondern nur, daß unser Mütterchen einmal einen angenehmen milden unterhaltenden und idyllischen O r t für ihr Alter habe, damit sie nicht in der dummen Beamtenstadt N(aumburg) allein übrig bleibe (dies N a u m burg) ist im Winter und im Sommer abscheulich — ich habe nie ein heimatliches Gefühl dafür gehabt, ob ich schon mich r e d l i c h bemüht habe, es mir dort gefallen zu lassen.) U b e r das Befinden der Frau von W(öhrmann) in Venedig habe ich keine

90.-93.

71

März 1881

guten Nachrichten. — Glaubt nicht, daß ich in ärgerlicher Stimmung schreibe. Ich wünsche von Herzen Euch wohl zu 15 thun und denke viel an das, was Euch erfreuen könnte. Euer F. Antwort auf nicht überlieferte Briefe von Franziska und Elisabeth

Nietzsche.

92. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Genua, 18. März 1881) Lieber, lieber Freund, heute nur Ein Wort! Es giebt etwas, wovon Du zu allererst erfahren mußt — in Chemnitz ist ein neues Manuscript von mir in Arbeit. Dies ist das Buch, welches 5 wahrscheinlich an meinem Namen hängen bleiben wird. — Welche Last habe ich auf den Schultern gehabt! Und welche habe ich nun erst mir aufgelegt! Nun, vorwärts und das Auge weder rückwärts noch zur Seite gewendet! Ich bin sehr bewegt und möchte Deine treue H a n d fassen können. Meine paar 10 wirklichen Freunde werden mich von nun an noch mehr durchs Leben zu t r a g e n haben, ich werde ihnen und Dir Noth machen, aber es hilft nichts! Von Herzen Dein Freund. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz

(Postkarte) (Genua, 19. März 1881)

[ + + + ] (da)s erste Buch schon [ + + + ] Glück zu! — [ + + + ] > werthester H e r r ! [ + 4- + ] Bücher, nämlich: L e c k y Geschichte des Ursprungs der Aufklärung. 5 Deutsch. L e c k y Sittengeschichte Europas. Deutsch. (Beides bei C. F. Winter, Leipzig) G r a b b e ' s ges. Werke Herausgegeben von O. Blumenthal.

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Briefe von Nietzsche

(Ja nicht die andre neuere Ausgabe Gottschalls!) Immer Genova, poste restante. Der Correkturbogen wegen sehen Sie doch die Bestimmungen des Weltpostvertrags noch einmal ein! Ihr ergebener F. N .

94. An Heinrich Köselitz in Venedig Genova 20 März. 81. Aber, lieber Freund, Ihre gestrenge Freundschaft wird mir wenigstens nicht verwehren können, eine S c h u l d abzutragen: ich denke an die zahllosen Brief- Correktur- Paket-Porti und Papier-Unkosten et hoc genus omne und versuche heute, etwas davon Ihnen zu ersetzen. Der Augenblick scheint mir gut gewählt, denn diese Sendung giebt mir die Befriedigung einer kleinen Bosheit, in Anbetracht, daß ich gerade so auf Ihren letzten Brief a n t w o r t e . Sodann macht es mir Vergnügen zu denken, daß Sie nun ein paar Wochen länger in Venedig bleiben werden. Ich bin heute guter Dinge, denn der Kopfschmerz, der von S o n n t a g N a c h m i t t a g bis z u r l e t z t e n N a c h t dauerte, ist wieder fort. Danken Sie Gersdorff für die Aussicht, die er mir giebt. Ich liebe feste Termine: ist es möglich, den 15 September als solchen in's Auge zu fassen? — Die Titelblatt-Affaire wollen wir aufgeben! Es ist auch daran etwas zum Lachen! Nämlich: ich wünschte dabei n u r S i e zufriedenzustellen, da Sie das letzte Mal sich so ärgerlich über Herrn Schmeitzners und Oschatzens Ungeschmack äußerten — ich selber aber war gar nicht so unzufrieden und dachte im Stillen: „dies versteht eben Freund Köselitz besser" Nun, denke ich, beschränken wir uns darauf, Hrn. Oschatz einige V e r suchstitel mehr fabriziren zu lassen — und S i e wählen den relativ erträglichsten aus! — Überdieß: wir wollen Hrn.

93.- 94.

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Schmeitzner ja keine Kosten m e h r aufbürden — zuletzt ruinirt er sich noch mit meinen u n v e r k ä u f l i c h e n Büchern. W i e eigentlich so ein Buch empfunden wird, möchte ich gern 30 wissen; ich habe den schlimmsten Argwohn, wenn ich z. B. nach dem Briefe Rohde's weiter rathe und mir den u n g e n e i g t e n Leser denke — was im Grunde, für den Fall des neuen Buches, Jedermann sein wird! 35

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Dagegen freilich hat der Verfasser der Aera Bismarcks mich „den deutschen Montaigne Pascal und Diderot" genannt. Alles auf Ein Mal! Wie wenig F e i n h e i t ist in solchem Lobe, also: wie wenig Lob! — S c h ä d l i c h wenigstens wird das Buch nicht wirken — nur daß ich selber es zu büßen haben werde! Ich gebe ja nicht nur den hochmoralischen, sondern allen anständigen und braven Menschen einen Anlaß, sich ihrer Moralität und Bravheit auf meine Unkosten zu freuen. Ich will zusehen, wie ich davon komme; weiß ich doch besser als Alle es wissen können, d a ß A l l e s n o c h z u t h u n ist, und daß ich selber nur auf Tage und Stunden den C h a r a k t e r habe, der nöthig ist, um hier überhaupt noch an ein „Thun" zu denken. Ach, Freund, ich werde unklar, weil ich in diesen Nothdingen meines Selbst zu sehr umgetrieben bin und zuviel mit Einem Worte empfinde. Sagen Sie mir, daß Sie mir gut sind, auch trotz der heutigen Boshaftigkeit — aber schreiben Sie es nicht auf Briefpapier, sondern auf ein Kärtchen, damit es Ihnen so wenig als möglich Zeit nimmt. Von Herzen der Ihre: treugesinnt F. N. Jeder Titel muß vor Allem c i t i r b a r sein: also müssen wir ändern! Nicht „Eine Morgenröthe", sondern nur: Morgenröthe. So klingt es auch nicht so prätentiös. Antwort

auf Köselitz'

Brief vom 16. März I88I:III/2,

S.

14;.

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Briefe von Nietzsche

9J. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 2 1 . März 1 8 8 1 ) Ich bin so glücklich, lieber Freund, hier ein paar Büchlein Ihnen schicken zu können, die wie für Sie gerade geschrieben scheinen; wenigstens weiß ich Niemanden, der mehr Nutzen aus ihnen ziehn könnte. Es ist der Theil der musikalischen Aesthetik, der uns jetzt in Deutschland v o r e n t h a l t e n wird. — Und dann: w o findet sich ein zweiter Ohrenzeuge wieder, der zugleich auch so sehr Augenzeuge und mehr noch ist! — Er kennt den alten Haydn persönlich — und was weiß er zu erzählen! Einen herzlichen Gruß und Dank an Gersdorff! Denkt er wirklich daran, mich zu begleiten? — Herr Oschatz soll einige Versuchs-Titel mehr fabriziren, und Sie werden den erträglichsten auswählen — mehr wünsche ich nicht. Sie waren das letzte Mal (beim „Wanderer") so ärgerlich über den Ungeschmack: ich hatte bei der Anregung dieses Thema's nur den Wunsch, Ihnen diesen Arger d i e s m a l zu ersparen (ich selber nämlich war gar nicht unzufrieden: es ist zum Lachen!) Mein Kopfschmerz hat 6 T a g e diesmal gedauert! — Treulich Ihr Freund. Köselitz antwortet am 22. März 1881: III/2, S. 146.

96. An Erwin Rohde in Tübingen (Genua, 24. März 1 8 8 1 ) So läuft nun das Leben dahin und davon, und die besten Freunde hören und sehen nichts von einander! J a das Kunststück ist nicht gering: zu leben und n i c h t mißmuthig zu werden! Wie oft bin ich in dem Zustande, w o ich gerne bei meinem alten rüstigen blühenden tapferen Freunde Rohde eine Anleihe

9 5 . - 96.

März 1881

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machen möchte, w o ich eine „ T r a n s f u s i o n " von K r a f t , nicht von Lammblut, sondern von Löwenblut recht von N ö t h e n hätte — aber da steckt er in Tübingen, in Büchern und im Ehestande, io f ü r mich in allen Beziehungen u n e r r e i c h b a r . A c h , Freund, so muß ich denn f o r t und f o r t vom „eignen Fette" leben: oder wie J e d e r weiß, der dies einmal recht versucht hat, vom eignen B l u t e trinken! D a gilt es sowohl den Durst nach sich selber nicht verlieren als auch sich nicht a u s z u t r i n k e n . 15 Im G a n z e n bin ich aber erstaunt, um es D i r zu gestehen — w i e v i e l Quellen der Mensch in sich fließen lassen kann. Selbst einer, wie ich, der nicht zu den reichsten gehört. Ich glaube, w e n n ich alle die Eigenschaften besäße, die D u v o r mir voraus hast, ich w ü r d e übermüthig und unausstehlich. Schon jetzt 20 giebt es Augenblicke, w o ich auf den H ö h e n über G e n u a mit Blicken und E m p f i n d u n g e n herumwandele, wie sie von eben hier aus vielleicht einmal der selige Columbus auf das M e e r und auf alle Z u k u n f t hinaus gesandt hat. N u n , mit diesen Augenblicken des Muthes und vielleicht 25 sogar der Narrheit muß ich mein Lebensschiff wieder in's Gleichgewicht zu bringen suchen. Denn D u glaubst nicht, w i e v i e l T a g e , und wie viel S t u n d e n selbst an erträglichen T a g e n — ü b e r s t a n d e n werden müssen, um nicht mehr zu sagen. Soweit man mit „Weisheit" der Lebenspraxis einen schwierigen 30 Zustand der Gesundheit erleichtern und mildern kann, thue ich wahrscheinlich Alles, was man in meinem Falle thun kann — ich bin darin w e d e r gedanken- noch erfindungslos — aber ich wünsche Niemanden das L o o s , an welches ich anfange mich zu g e w ö h n e n , weil ich a n f a n g e zu begreifen, daß ich ihm g e w a c h 35 sen bin. A b e r D u , mein theurer lieber Freund, bist nicht in einer solchen K l e m m e , w o man sich d ü n n machen muß, um gerade sich durchzuwinden; O v e r b e c k ist es auch nicht, ihr thut eure schöne Arbeit und ohne viel davon zu sprechen, vielleicht ohne 40 viel davon zu denken, habt Ihr alles Gute vom Mittage des

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Briefe von Nietzsche

Lebens — und ein wenig Schweiß dazu, wie ich vermuthe. Wie gerne hörte ich ein Wort von Deinen Plänen, von großen Plänen — denn mit einem solchen Kopfe und Herzen, wie Du hast, trägt man hinter all der täglichen und vielleicht kleinen Arbeit, irgend etwas Umfängliches und S e h r - G r o ß e s mit sich herum — wie sehr würdest Du mich erquicken, wenn Du mich solcher Mittheilungen nicht für unwürdig hieltest! Solche Freunde wie Du müssen mir helfen, den Glauben an mich in mir selber aufrecht zu erhalten; und das thust Du, wenn Du mich für Deine besten Ziele und Hoffnungen zum Vertrauten behältst. — Wenn sich unter diesen Worten die Bitte um einen Brief verbergen sollte, nun ja! liebster Freund, ich hätte gerne etwas r e c h t , r e c h t P e r s ö n l i c h e s von Dir wieder einmal in Händen — damit ich nicht immer nur den vergangenen Freund Rohde im Herzen empfinde, sondern auch den gegenwärtigen und — was mehr ist — den werdenden und wollenden: ja den W e r d e n d e n ! den W o l l e n d e n ! Von Herzen der Deine. Sage Deiner lieben Frau ein Wort zu meinen Gunsten: sie soll nicht böse sein, daß ich sie immer noch nicht kenne: irgend wann einmal mache ich Alles gut. Genova (Italia) poste restante Erwin Rohde antwortet am 8. April 1881: III/2, S. 160.

97. An Heinrich Köselitz in Venedig (Genua, 30. März 1881) Aber, liebster Freund, das war eine V e r g i f t u n g ! Wahrscheinlich hat man Ihnen gefälschten Wein zu trinken gegeben; den-

96.-97.

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ken Sie ja darüber nach, w o Sie dies Gift in den Leib bekom5 men haben mögen! — Eben las ich in Ihrem Hefte „Carnevale von Venedig" und zwar z u m e r s t e n M a l e ! Sonderbar! das Vorurtheil, es sei viel von meinen Meinungen darin, hatte mich bisher dagegen eingenommen. Jetzt werde ich auf das Angenehmste überrascht: es ist purus Köselitzius, reiner guter und 10 nicht verfälschter Wein aus I h r e m Weinberge! Es thut mir alles so wohl; und ich glaube, es sind sehr n ü t z l i c h e T e n d e n z e n in diesem Hefte ausgesprochen, die nicht nur mir nützlich und wohlthuend erscheinen werden! Z . B . : alle diese Bemerkungen über A(dalbert) Stifter's Nachsommer! Das 15 könnte manchem D i c h t e r , manchem L e s e r und manchem, der beides noch nicht ist, recht zu Statten kommen! Ich wünschte, Sie machten sich einmal inmitten Ihrer Arbeit „Ferien" und schrieben dieses H e f t u m , mit allem Behagen und ohne jegliche Rücksicht auf das „mein" und „dein" zwischen 20 uns Beiden — welches ja, nach der Ethik der Pythagoreer, unter F r e u n d e n nicht existirt! Und so s o l l es sein! Ganz vertraulich und heimlich gesprochen: für wen schrieb ich denn das letzte Buch auf? F ü r u n s : wir müssen uns einen Schatz an Eigenem sammeln, für das Alter! Denn mit dem Gedächtniß ist 25 es nichts, ich habe z. B. den Inhalt meiner frühern Schriften fast vergessen, und finde dies sehr angenehm, viel besser jedenfalls als wenn man alles früher Gedachte immer vor sich hätte und sich mit ihm auseinandersetzen müßte. Giebt es vielleicht doch eine solche Auseinandersetzung in mir, nun, so geht sie im 30 „Unbewußten" vor sich, wie die Verdauung bei einem g e s u n d e n Menschen! Genug: wenn ich meine eignen Schriften sehe, ist es mir als ob ich alte Reiseabenteuer hörte, die ich vergessen hätte. Sehen wir zu, daß wir unser ganzes Leben derartig f ü r uns monumentalisiren — es ist mir ganz gleichgültig und 35 leerer Schall in den Ohren, wenn ein solches Begehren „Eitelkeit" heißt. Seien wir doch e i t e l f ü r uns und so sehr als möglich!

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Briefe von Nietzsche

Der Übelstand meiner A u g e n ist groß, jetzt z. B. nach der Arbeit dieses Winters muß ich viele T a g e verstreichen lassen, 40 ohne ein Wort zu lesen und zu schreiben; und kaum begreife ich's, wie ich mit diesem Manuscript fertig geworden bin. V o l ler Bedürfnisse, etwas zu lernen und recht gut w i s s e n d , w o das steckt, was gerade ich zu lernen habe, muß ich das Leben so hinstreichen lassen — wie es meine elenden Organe, Kopf und 45 Augen, fordern! Und es handelt sich nicht um ein Besserwerden! Es wird immer kümmerlicher, und die Dunkelheit nimmt zu! Also, lieber guter Freund, machen Sie ein V e n e d i g e r G e d e n k b u c h , geben Sie es anonym heraus (oder mit einem 50 neuen Namen) und denken Sie daran, wie uns so ein Buch d i e s e s Inhaltes erquickt haben würde, wenn es zu uns versteckten Jünglingen in unsere deutschen Winkel gelangt wäre, damals als wir 20 Jahr alt waren! Nun noch ein Wort von unsern Bekümmernissen! Herr Otto 55 Busse macht seinen Verwandten und Freunden die g r ö ß t e Sorge (— voller Größenwahn, (in Bezug auf sich und mich!)) und diese wenden sich nun an mich! — meinend, ich hätte ihm etwas in den Kopf gesetzt! D a s soll ich nun wieder hinausschaffen! Er hält sich für den Reformator der Deutschen und 60 mich für die „Autorität der Autoritäten" — kurz: Muhammed und Allah! E r behauptet, daß „wissenschaftliche Werke" von ihm in m e i n e n Händen seien! für die die Deutschen noch nicht reif seien! u.s.w. Alles unter sieben Siegeln Ihnen anvertraut! 65

Dann: Herr Schmeitzner behandelt mich nicht artig. V o r 5 Wochen hat er mir ein Kärtchen geschrieben, (mit der allzu sächsischen Wendung „Ei natürlich verlege ich Ihr Buch!") Seitdem tiefes Schweigen, trotzdem daß ich 2 Briefe und 2 Karten abgesandt habe! Daß ihm eine Ehre widerfährt, wenn er 70 dieses Buch herausgeben darf, davon hat er keine Vorstellung. Nun möchte ich gern etwas v e r r e i s e n , um meinen Kopf

97.-98.

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etwas zu zerstreuen und viel Spazieren zu gehn — es ist dies sehr nöthig, damit ich nicht von meinen Skrupeln aufgefressen werde! (Verfluchte Melancholei!) Aber Correkturbogen! Fast 75 hätte ich Lust, diese ganze Druckgeschichte Herrn Schmeitzner aus den Händen zu nehmen: ich warte nur, daß er mir einen Anlaß giebt. Vielleicht erweise ich ihm eben d a m i t einen großen Dienst: denn wer mag ein solches Buch gerne als Verleger vertreten ! 8o Frau von Wöhrmann hat ihre Söhne kommen lassen — es steht also wohl schlimm! Charron — vorzüglicher Gedanke! Es ist das Erziehungsbuch des alten französischen Adels! — Es lebe unser Stendhal! Ja, die Rangordnung der Geister ist noch nicht gemacht! — 85 P(rosper) Mérimée ist jetzt der best b e s c h i m p f t e Franzose unter Franzosen aller Parteien! ihr erster großer Erzähler aus diesem Jahrhundert! Gehen wir u n s e r e Wege nur weiter! Man trifft doch auf mancherlei G u t e s dabei! — 90

Von Herzen Ihr F. N. Antwort auf Köselitz'Briefe vom 22. und 26. März 1881 : III/2, S. 146 und Köselitz antwortet am j 1. März 1881 : III/2, S. 153.

98. An Heinrieb Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 6. April 1881) Sie thun mir so wohl, lieber Freund, mit Vielem und mit Ihren Briefen namentlich — und ich habe das Wohlthuende jetzt recht nöthig! Es geht mir gar nicht gut. Wie gerne käme ich zu 5 Ihnen, namentlich wenn ich jetzt denken darf, daß es nicht ganz wider Ihren Wunsch ist! Aber Venedig ist noch zu voll, ich k a n n nicht die Geselligkeit wieder aufnehmen, wie ich sie

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Briefe von Nietzsche

ehemals liebte, jede Unterhaltung ist jetzt, nach einem halbjährigen N i c h t - r e d e n , für mich eine ernste Sache. — Wann reist G(ersdorff) ab? — Aber da ist die arme Frau von W ö h r mann), unsrer Familie so nahestehend und mir selber (sie hat mir wieder und wieder versprochen, „wie eine Schwester" für mich sorgen zu wollen) Auch ihre beiden Söhne sind in V e n e dig). Dieses Ihr Venedig liegt an der Heerstraße für alle guten Menschen. Schlimm für mich! Ich käme gar zu gern. Treugesinnt Ihr F. N. Schmeitzner's Schweigen auf a l l e Briefe und Karten ist wider die „gute Sitte" — Antwort auf Köselitz' Brief vom 31. März 1881: III/2, S. 1 f j . Köselitz antwortet am 8. April 1881: III/2, S. 158.

An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 6. April 1881) Meine Lieben, Verzeihung, daß ich so spät antworte! Ich wartete l a n g e auf einen guten Tag. Diese Uebergangsmonate in Genua sind mir nicht dienlich, ich bin fast immer krank, die Unruhe des Wetters ist gar zu groß. Die vielen Wolken und Südwinde drücken Stimmung und Kopf, seit 6 Wochen habe ich gar nichts mehr g e t h a n . Nun, das muß man erfahren und sich anderemale darnach richten (Mit den Wintermonaten bin ich hier einverstanden) Auch wird die Sonne mir jetzt zu hell, wenn sie scheint — und meine Spaziergängerei ist nicht mehr durchzuführen, die doch von allen meinen Gesundheits-Maßregeln die wichtigste ist. — Die Genueser K ü c h e ist für mich gemacht. Werdet Ihr's mir glauben, daß ich jetzt 5 Monate fast alle Tage K a i d a u n e n gegessen habe? Es ist von allem Fleische das Verdaulichste und Leichteste, und billiger; auch die Fisch-

98.-101.

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chen aller Art, aus den Volksküchen, thun mir gut. Aber gar kein Risotto, keine Makkaroni bis jetzt! So veränderlich ist es mit der Diät nach Ort und Klima! — In herzlicher und dankbarer Liebe „ „ huer r . Antwort auf nicht überlieferte Briefe von Franziska und Elisabeth Nietzsche.

100. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Genua, 6. April 1881) Sonderbar! Den T a g v o r Deinem Brief, mein lieber Freund, habe ich endlich einen Brief an Rohde abgesandt; es that mir sehr wohl zu hören, daß er bei Euch sei — das ist wie eine 5 B a d e r e i s e für ihn. Hätte ich Dich nur auch so nahe! Ich hätte einigen Zuspruch und die gute beschwichtigende Nähe des Vertrauens auch recht nöthig. Die letzten Monate waren mir hier ungünstig, für andre Jahre will ich mir's merken (die Unruhe des Wetters ist gar zu groß — aber mit den Wintermonaten in io G(enua) bin ich einverstanden). — Was ich schrieb, daß mein Ms. in A r b e i t in Ch(emnitz) sei, muß ich seltsamer Weise widerrufen. Hr. Schm(eitzner) hat seit 6 Wochen sich in tiefes Schweigen gegen mich gehüllt und antwortet auf nichts mehr: selbst daß mein Ms. überhaupt in seinen Händen ist, kann ich 15 auf keine Weise erfahren. Völlig unverständlich! — Dir und Deiner lieben Frau den herzlichsten und dankbarsten Gruß. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Overbecks.

101. An Heinrich Köselitz in Venedig (Genua, io. April 1881) Sonntag früh. Als ich gestern Ihren Brief las, „gieng mein Herze in Sprüngen", wie das Kirchenlied sagt, — es war g a r n i c h t m ö g l i c h ,

82

Briefe von Nietzsche

mir jetzt zwei angenehmere Dinge mitzutheilen! (Das Buch, zu dem allmählich in mir ein nicht geringer Hunger entstanden ist, wird wohl heute in meine Hände kommen) Also: so soll es sein! Wir Beiden kommen noch ein Mal zusammen, auf dieser aussichtsreichen Kante des Lebens und schauen mit einander vorwärts und rückwärts und geben uns die Hand dabei, zum Zeichen, daß uns viele viele guten Dinge gemeinsam sind, mehr als wir in Worten sagen können. Sie können es kaum wissen, w i e erquickend mir der Gedanke dieser Gemeinsamkeit ist — denn E i n e r mit seinen Gedanken a l l e i n gilt als Narr, und oft genug auch sich selber: mit Z w e i e n aber beginnt die „Weisheit" und die Zuversicht und die Tapferkeit und die geistige Gesundheit. — — — — — — Also Recoaro! Ich habe nur noch bis Ende dieses Monates mein Zimmer in Miethe und gedachte jedenfalls den e r s t e n M a i abzureisen: nun, wenn es Ihnen gelegen kommt, so reise ich an diesem T a g e nach Vicenza (von da sind es 4 Stunden Fahrt — das ist für den nächsten Tag) Sehen Sie doch zu, noch Einzelheiten über Preise der Zimmer u.s.w. zu bekommen; ich habe gelernt, daß das W i s s e n um Preise die Hälfte der Sparsamkeit selber ist. (Hier habe ich monatlich, a l l e s in a l l e m , 80 lire gebraucht — so billig kann man nur in großen Seestädten leben!) Beim Weiterlesen im Venediger Hefte ist mir der Wunsch, den ich Ihnen ausdrückte, immer lebhafter gekommen. Wirklich, es steht der I n h a l t dieses Heftes n i c h t in meinem neuen Buche — aber es ist wie die gute Nachbarschaft dazu. Zweierlei fiel mir auf: einmal, Sie haben so viel e r l e b t und sodann, Sie haben mehr als irgend Jemand, den ich kenne, sich g e ü b t , seit vielen Jahren, sich hell gut und e i g e n t l i c h auszudrücken: die Worte strömen Ihnen jetzt zu, die rechten Worte. Sie dürfen mir ein wenig hierin vertrauen — ich habe in solchen Dingen Witterung und selbst einiges Wissen. Und damit Sie nicht glauben, ich wolle Sie jetzt loben, füge ich gleich hinzu: Sie verste-

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hen sich als Schriftsteller nicht auf das Schimpfen und nicht auf die Bosheit — und das zu wissen ist ganz gut. Es giebt Men40 sehen, deren C h a r a k t e r immer gerade zu derselben Zeit seine hohe Fluth hat, w o ihr I n t e l l e k t die seine hat: es scheint mir, daß Sie zu diesen gehören. Es hat dies auch einige kleinere Beschränktheiten in sich, welche man, wie gesagt, w i s s e n muß, um von sich nichts Falsches zu fordern. 45 Gestern habe ich, unter Anleitung meiner Wirthin, ein Genueser Gericht g e k o c h t , dessen Hauptbestandteile Artischocken und Eier waren. Ich bin jetzt so weit h i e r heimisch, daß a l l e , denen ich meiner Lebensbedürfnisse halber mich nähere, ein freundliches 50 Gesicht und Wort für mich haben. J a , ich habe Beispiele von einem mehr als artigen, „uneigennützigen" Betragen gegen mich. D a g e g e n schweigt Herr Schm(eitzner) fortgesetzt, was weder freundlich, noch artig ist: vor 7 Wochen kündigte er 55 einen Brief, durch jenes Kärtchen, an — aber der Brief kam nicht. Ich bat ihn vor 4 Wochen, mir ein paar Bücher zu schikken — aber die Bücher kamen nicht. Er nöthigt mich, nun auch zu schweigen. Das Titelblatt sah greulich aus! — Eine wesentliche Ände60 rung habe ich gemacht — Morgenröthe und n i c h t „Eine M." Ein Titel muß vor allem c i t i r b a r sein, — das war er bisher nicht. Zudem: in dem „Eine" lag etwas Pretiöses. Leben Sie wohl! Den allerschönsten Dank! Ihr Freund F. N. 65

Sagen Sie Gersdorffen, daß der ausbrechende K r i e g in T u n i s alle Reisepläne in's Weite schiebt, und daß es u n r a t h s a m ist, für diesen Herbst und Winter als Fremder dort anzulanden — man hat die mißtrauische Gesinnung und Schlimmeres gegen sich. — Ärgerliche Kreuzung! Antwort auf Köselitz'Brief vom 8. April 1881: III/2, S. 158. Köselitz antwortet am 15. April 1881: III/2, S. 163.

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B r i e f e v o n Nietzsche

102. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg

(Postkarte) (Genua, 10. April 1 8 8 1 )

Meine liebe liebe Lisbeth, einem so guten Briefe muß ich mit etwas Gutem antworten. Also: ein neues größeres Buch von mir! Mit dem Manuscript habe ich seit 2 Monaten nichts mehr zu thun, der Druck wird einen guten Theil des Sommers wegnehmen und ein Zusammensein mit Hrn. Köselitz n ö t h i g machen (doch n i c h t in Venedig!) Dies ist ein e n t s c h e i d e n d e s Buch, ich kann nicht ohne große Bewegung daran denken. — Und noch etwas Heiteres: gestern habe ich auf meiner Maschine ein G e n u e s e r G e r i c h t unter Anleitung meiner Wirthin gekocht, und siehe, es war vortrefflich! Hauptbestandt e i l e Artischocken und Eier (Die Artischocke kostet 7 — 8 Pfennige) Lebt wohl und behaltet mich lieb! Wetter und Gesundheit molto variabile. F.N. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth Nietzsches.

IOJ. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 16. April 1 8 8 1 ) In solchen herrlichen schlichten und fröhlichen Büchern wie dem Mayer's giebt es eine H a r m o n i e d e r S p h ä r e n zu hören: eine Musik, die n u r für den w i s s e n s c h a f t l i c h e n Menschen bereitet ist. — Was ist der Ruhm! Charron der Verfasser von „sur la sagesse" war vielleicht der gelesenste Autor zweier Jahrhunderte, nächst Montaigne. Und jetzt! — Er war Geistlicher und berühmt durch seine Predigten g e g e n Reformation; lebte in der Nähe und im Umgang mit dem alten M(on-

1 0 2 . - 104.

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taigne) — mehr hat mein Gedächtniß nicht über ihn. Es muß eine schöne neue Ausgabe etwa aus den fünfziger Jahren geben. Kräftiges schönes Altfranzösisch! — Vergessen Sie nicht, Badehosen nach R e c o a r o mitzunehmen! Verzeihung f ü r dies unanständige Durcheinander! Mit herlichem Gruße Ihr Freund _ xT F.N. („Uber Auslösung" ist f ü r mich das Wesentlichste und N ü t z lichste im Buche) Antwort auf Köselitz'Brief vom iApril 1881: III/2, S. 163. Köselitz antwortet am 22. April 1881: III/2, S. 167.

104. An Ernst Schmeitzner in

Cbemnitz(Postkarte) (Genua, 16. April 1 8 8 1 )

Aber, werther H e r r Verleger, unter solchen (Umständen) hätten Sie a n d e r s gegen mich handeln s(ollen! Ich bin) s e h r unzufrieden: meine w e s e n t l i c h e B e d i n g u n g war) die S c h n e l l i g k e i t der Herstellung und ein s c h ( n e l l e s Arbeiten) mit dem Drucker (bis zum 1 Mai fertig zu s(ein). (Soll ich) dieser verteufelten Correkturbogen wegen (noch den ganzen) Sommer v e r l i e r e n ? Mein Geist sollte gerade (für diese) Z e i t Ruhe und Freiheit von den Problemen haben, von denen diese Blätter handeln. — Freiheit f ü r e t w a s A n d e r e s ! Und nun kommen diese Bogen, wie T r o p f e n um T r o p f e n , mit einer schändlichen Hartnäckigkeit — alle Wochen e i n e r ! Warum schrieben Sie mir 7 Wochen nicht, nachdem Sie einen Brief mir angekündigt hatten! — Heute, am 16 April sind 2 Bogen erledigt!!! F . N .

Ernst Schmeitzner antwortet am 21. April 1881:

III/2, S. 166.

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Briefe von Nietzsche

/ o j . An Ernst Schmeitzner in Chemnitz

(Postkarte)

(Genua, 19. April 1881) Geehrtester Herr V e r l e g e r , der eben ankommende Brief des Herrn B. G. Teubner, in dem er mir wöchentlich 4 Bogen zusagt, besänftigt mich einigermaaßen — ich schreibe es Ihnen gleich, damit Sie nicht glauben, ich sei gallsüchtig. Ich ersuchte Sie, vor 4 W o c h e n , um die Zusendung von 3 Büchern: sollte die Karte nicht in Ihre H ä n d e gekommen sein? Ich gl(aube) [ + + ] in den 7 Woch(en Ihres Schwei)gens gehörte die (Erfüllung) meiner Bitte nic(ht zu den „Un)begreiflichkeiten". [ + + + ] Nach Empfang von. B. G. Teubners Brief vom 16. April geschrieben.

106. An Heinrich Köselitz in Venedig

1881

(III/2, S. 165)

(Postkarte) (Genua, 26. April 1881)

Also, lieber Freund, nächsten Sonntag reise ich Ihnen entgegen und denke h a l b s e c h s Nachmittag in V i c e n z a Sie zu f i n d e n ; für den Fall, daß irgendwie wir uns dort n i c h t finden, würde ich gerne noch von Ihnen den N a m e n des G a s t h a u s e s erfahren, in dem wir die N a c h t zubringen und nach welchem ich mich sofort v o m Bahnhofe begeben würde. Teubner ist von unserm Ortswechsel benachrichtigt. Sie bringen doch

Ihre

Musik mit? U n d vielleicht auch

Chopin ? Ich kann Ihnen nicht sagen, w i e ich mich freue, daß wir nun doch noch zusammenkommen! W e r weiß, wohin unsre W i n d e und Stürme uns n a c h h e r treiben! Es giebt leider zu viele H i m melsrichtungen (und nicht nur H i m m e l s - ! ) V o n ganzem H e r z e n Ihr treuer Freund Antwort auf Köselitz' Brief vom 22. April 1881: III/2, S. 16/. Köselitz antwortet am 28. April 1881: III/2, S. I6J.

F.N.

1 0 5 . - 108.

April 1881

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IOJ. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 28. April 1881) Meine Lieben, ich bin in vollem Einpacken, denn Sonntag verlasse ich auf einige Monate Genua, um mit Herrn Köselitz zusammen mein Buch zu corrigiren und Wald Berg und Freundschaft zu genießen. Es ist eine i t a l i ä n i s c h e Sommerfrische „Recoaro (presso di Vicenza) Italia" ist die Adresse fürderhin und poste restante. Meine K o f f e r lasse ich hier, gepackt, und ebenso habe ich schon für meine Rückkehr eine Wohnung in Genua. Es ist nicht dieselbe wie bisher, weil meine Wirthin nach Spezia übersiedelt. — Mein Befinden war gar nicht gut, die ganze letzte Zeit: auch 2 ganz harte Anfälle der alten Art (mit Erbrechen usw.) gab es. Doch weiß ich ungefähr die Gründe. — Schönsten Dank für den Brief mit Thüringer Luft und anderem Guten. Dies Jahr komme ich nicht nach Deutschland, aus Sparsamkeit usw. Es denkt Eurer in Liebe Euer F. Das Paket welches ich sende, ist erst am 10 Juli aufzumachen! Pardon!! Antwort auf einen nicht überlieferten Brief von Franziska bzw. Elisabeth Nietzsche.

108. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Genua, 28. April 1881) Lieber theurer Freund, Sonntag verlasse ich Genua auf einige Monate und gehe nach R e c o a r o (presso di Vicenza) einer ital(ienischen) Sommerfrische, wohin auch Hr. Köselitz kommt. Willst Du mir d o r t hin den neuen „grünen Heinrich" senden? Alle Jahre Ein gutes Buch zu lesen, ist gewiß keine Ausschwei-

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Briefe von Nietzsche

fung (voriges Jahr lasen wir den „Nachsommer"). — Fr(eund) Rohde hat einen langen Brief über sich geschrieben, an dem mir aber zweierlei fast w e h e t-hat i) die Art Gedankenlosigkeit in Betreff der R i c h t u n g des Lebens bei einem solchen Menschen! und 2.) die Masse schlechten Geschmacks in Wort und Wendung (vielleicht nennt man's auf deutsch(en) Universitäten „Witz" — der Himmel behüte uns davor!) Dir und Deiner lieben verehrten Frau einen guten Sommer und h e i t e r e n Himmel! (am Himmel hängt bei mir fast Alles, es gieng mir a l s o nicht gut!)

109. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Recoaro, 18. Mai 1881) Meine Lieben, es will mir scheinen als hätte ich recht lange nichts von Euch gehört. — Mir ist es seit meiner Abreise so gegangen wie voriges Jahr nach der Abreise von Venedig: schlecht, sehr schlecht — deshalb schrieb ich nicht. Die erwähnte Sendung von Genua mußte ich unterlassen, es gab Schwierigkeiten, die ich mit meiner Unkenntniß der Sprache nicht überwältigen konnte: Verzeihung! — Zu meinen schönsten und überraschendsten Erlebnissen gehört die Entdeckung, die ich hier mache, wo ich Freund Köselitzens komische Oper kennen lerne: er ist ein Musiker e r s t e n R a n g e s und was er kann, kann ihm unter den Lebenden keiner nachmachen. Dabei genieße ich noch etwas Persönliches: es ist gerade die Musik, die zu m e i n e r Philosophie gehört. — Leider gebietet meine Gesundheit mir die größte Enthaltsamkeit in diesem Genüsse. Meine Adresse habt ihr: R e c o a r o , presso di Vicenza, Italia, poste restante. In herzlicher Liebe Eurer gedenkend FN.

108.-111.

April-Mai

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IIO. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Recoaro, 18. Mai 1881) N u r ein Wort des Dankes, mein lieber Freund, für die Besorgung des „grünen Heinrich", er soll mir eine r e c h t e S o m m e r f r e u d e werden. Wenn Du mein nächstes Gehalts-Quartal 5 an Schmeitzner sendest, bringe dies Buch, bitte, in Verrechnung. — Mein Befinden ist schlecht. Der Druck wird sich vielleicht) noch über 2 Monate hinschleppen. — Nun aber noch eine frohe, sehr frohe Botschaft: unser Freund K(öselitz) ist ein Musiker e r s t e n R a n g e s , sein Werk von einem neuen und io eigenen Zauber der Schönheit, in dem Keiner der Lebenden ihm gleichkommt. Heiterkeit, Anmuth, Innigkeit, ein großer Bogen der Empfindung, von der harmlosen Lustigkeit hinauf bis zur unschuldigen Erhabenheit: dabei eine technische Vollkommenheit und Feinheit der Ansprüche an sich selbst, die mir, '5 in diesem groben Jahrhundert, unsäglich erquickend vorkommt. Zu alledem: es giebt eine Verwandtschaft zwischen dieser Musik und meiner Philosophie: letztere hat die wohltönendste Fürsprecherin gefunden! — Antwort

auf einen nicht überlieferten Brief

Overbecks.

Iii. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Recoaro, 31. Mai 1881) Lieber Freund, soeben rüstet sich H r . K(öselitz) zu seiner Abund Rückreise. Es ist so nöthig — für uns Beide. Meine Gesundheit verträgt, trotz a l l e r Vorsicht, ein solches Zusam5 mensein n i c h t mehr, es gab Anfälle von der übelsten Basler Manier. — Ich bleibe der Druckbogen wegen noch hier (die helle Sommersonne und die anscheinende U n m ö g l i c h k e i t , einen O r t zu finden, der für meine armen A u g e n und die ebe-

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Briefe von Nietzsche

nen langen guten Spaziergänge, die mein K o p f braucht, gleichmäßig sorgt, bringt mich mitunter fast zur Verzweiflung; voriges Jahr habe ich nach sorgfältigstem Aussuchen von scheinbar m ö g l i c h e n Orten a c h t mal eine Enttäuschung erlebt, und in diesem Sommer geht es ebenso los!) Sicher bleibe ich bis Mitte Juni. Die Fortsetzung des „grünen Heinrich" bitte ich mir später (etwa August) aus. Dir und Deiner lieben Frau von Herzen ergeben F.N.

112. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Recoaro, 5. Juni 1881) Lieber Freund, es geht gar nicht gut, — aber ein Gefühl der H e r z s t ä r k u n g ist mir von unserm Zusammensein übrig geblieben, das ich nicht missen möchte! Ich bin Ihnen sehr dankbar für die Uberwindung, nach Recoaro zu gehen und hier so lange auszuhalten. Noch nie gab es für mich einen M a i , der es so sehr gewesen wäre, wie dieser! Es ist so vieles o f f e n b a r geworden, und was noch alles von dem alten lieben Köselitzius absconditus an's Licht h i n a u s will, das ist gar nicht mehr abzusehen! — Ich träume davon u n t e r w e g s . Jeden Nachmittag war ich auf drei Viertel Höhe des Spitz. Veränderte Diät: a l l e Minestren, Risotti, Macaroni, Polenten abgeschafft! Tagesreglement, nach der M i n u t e abgelebt! Aber e l e n d e Kopfschmerzen trotzalledem, T a g für T a g Gewitter oder Gewitter-Umwölkung! Können Sie vielleicht aus einem Reisebuch (Amthor's Tirol oder „Die deutschen Alpen I") oder sonsther etwas über Brentonico erfahren? Ist es hoch? In herzlicher Liebe und Freundschaft Ihr F.N. Antwort auf Köselitz' Brief vom 31. Mai 1881: III/2, S. 168. Köselitz antwortet am 8. Juni i88i:III/2, S. IJO.

111.-114.

M a i - J u n i 1881

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uj.An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Recoaro, 5. Juni 1881) Meine Lieben, ich möchte Euch zum Danke für alles Gute, das Ihr mir schreibt und wünscht, Besseres zu melden haben — aber mein Befinden ist immer kläglich. Freund K(öselitz) hat mich schon seit einigen Tagen verlassen, es gieng nicht mehr, a l l e i n sein ist mir zuträglicher (und wie wenig waren wir eigentlich zusammen! Er hatte von früh bis in die Nacht zu arbeiten) Nun, ich muß Geduld und Vernunft brauchen! Die A n f ä l l e hatten Baslerischen und Naumburger Charakter, und einen Grad von Kopfschmerz werde ich gar nicht los. Vielleicht gehe ich an's Meer schon bald wieder zurück. Doch bleibe ich gewiß hier bis zum 15 Juni. In Liebe Euer F. Antwort

auf nicht überlieferte Briefe von Franziska und Elisabeth

Nietzsche.

114. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Recoaro, 1 1 . J u n i 1881) Meine Lieben, in ein Paar Wochen kommt mein Buch zu Euch. Seht es f r e u n d l i c h von außen an: so sieht das Wesen aus, das unsern nicht zu schönen Namen u n s t e r b l i c h machen wird! Aber ich bitte Euch von ganzem Herzen, es n i c h t zu lesen und es Niemandem zu leihen. Es bleibt dabei? — Herr Maler Rascowich ist in der größten Noth! Freund Köselitz (der selbst so wenig hat, und im letzten Jahre ein paar hundert frs. daran gewendet hat, Hrn. R(ascowich) vom Verhungern zu r e t t e n ) schreibt mir heute, daß Frau v. Wöhrmann noch mit fünf Monaten Honorar für den Zeichenunterricht, den das Töchter-

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B r i e f e v o n Nietzsche

chen bei Herrn R(ascowich) erhält, im Rückstände ist. Nun gehört unser Maler zu den delikaten Naturen, welche eher zu Grunde gehen als eine Rechnung einreichen. Erfindet doch ein feines Mittel, und schnellstens, um der lieben Frau v. W ö h r mann) das Gedächtniß in diesem Punkte zu schärfen. — Mein Befinden fort und fort miserabel, aber die Correctur hält mich fest. In Liebe F. ny

An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Recoaro, 1 7 . J u n i 1881)

Meinen Glückwunsch zu Ihrem F i n a l i s s i m o ! Und ebenso zur Beendigung unsrer unausstehlichen Correctur! (Das M(anu)script des letzten Bogens ist an mich geschickt worden.) Das Umschlag-Titelblatt aber ist I h r e Sache — wie ich Teubner geschrieben habe; ich will es gar nicht sehen. Das Exemplar für Frau v. W(öhrmann) geht an Ihre Adrese; Schm(eitzner) ist benachrichtigt. — Inzwischen war ich des Lebens m ü d e ; das schöne Recoaro ist eine H ö l l e für mich gewesen, ich bin i m m e r krank, und kenne keinen Ort der so ungünstig mit seinem beständigen Wetter-Umschlagen auf mich wirkte. Brentonico bei Mori (wir sind ja durchgefahren) ist viel zu tief, und der M(onte) Baldo ist noch dazu ein W e t t e r b e r g , wie der Pilatus: immer Gewölk! Ich zerbreche mir den Kopf und finde nichts als den Versuch mit dem Engadin zu wiederholen: was in 4 Tagen ungefähr geschehen soll. Ich bin ein gemartertes Thier und lechze nach einiger Schmerzfreiheit. In herzlicher Freundschaft FN. Pseudonymität und Verborgenheit unmöglich für Sie! V e r ä n d e r u n g des Namens g e n ü g t z. B. Coselli. Antwort auf Köselitz' Brief vom 8. Juni 1881: III/2, S. IJO. Köselitz' Brief vom 17. Juni 1881 (III/2, S. ij2) kreuzt sich mit diesem.

114.-117.

J u n i 1881

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ii6. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Recoaro, 1 9 . J u n i 1881) Ach, meine gute liebe Schwester, Du meinst, es handele sich um ein B u c h ? Hältst auch D u mich immer noch für einen Schriftsteller! Meine Stunde ist da. — Ich möchte Dir so v i e l ersparen, Du kannst ja meine Bürde nicht tragen (es ist schon Verhängniß genug, so nah mit mir verwandt zu sein) Ich möchte, daß Du Jedem mit reinem Gewissen sagen könntest „ich kenne die neueren Ansichten meines Bruders nicht". (Man wird es Dir schon zu verstehen geben, daß diese „unmoralisch" und „schamlos" sind.) — Inzwischen: guten Muth und Tapferkeit, jeder für s e i n e n Theil, und gute alte Liebe! — Meine Adresse: St. Moritz in Graubünden (Schweiz) poste restante. Es ist dies wieder einmal ein l e t z t e r Versuch. Seit Februar habe ich außerordentlich zu leiden gehabt, und nur sehr wenig Orte sind mir günstig. — Schönsten Dank für den Dienst in Betreff des Herrn Malers R(ascovich). Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth Nietzsches.

i iy. An Emst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte) (Recoaro, 19. Juni 1881) (Werthester) Herr Verleger, (hier i)st meine Adresse (St. Moritz ()Graubünden) (Schweiz), poste restante. — Die Correktur ist b e e n d e t ; oder was etwa noch zu thun ist, geht einzig Herrn Köselitz an. — Ich vermuthe, Sie haben Sich insgeheim geschworen, dies sollte die letzte Schrift sein, die Sie von mir verlegen. In der That, ich passe nicht mehr in Ihre Wagner-Schopenhauer-Dühring- und sonstige Partei-Litteratur hinein. — Aber deshalb

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Briefe von Nietzsche

io brauchen wir uns nicht b ö s e zu sein! Ich bleibe mit herzlichen Wünschen i m m e r der Ihrige F.N.

ii 8. An Ernst Schmeitzner in Bautzen (Recoaro, 21. Juni 1881)

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Roux, der Kampf der Theile im Organismus (W. Engelmann, Leipzig) Schüssler, eine abgekürzte Therapie 7 Aufl. (Schulze, Oldenburg) Kaltbrenner, der Beobachter (die erschienenen Lieferungen) (Wurster, Zürich) Kunze, Compendium der praktischen Medicin (F. Emke, Stuttgart) Johnston, Chemie des täglichen Lebens (die erschienenen Lieferungen) (Krabbe, Stuttgart) Foster, Lehrbuch der Physiologie (C. Winter, Heidelberg oder Leipzig) H o r n e m a n , Hygienische Abhandlungen (Vieweg, Braunschweig) Katscher, Bilder aus dem chinesischen Leben (C. F. Winter, Leipzig) Caspari, Z u s a m m e n h a n g der Dinge (Trewendt, Breslau) Post, Bausteine f ü r eine allg. Rechtswissenschaft (Schulze, Oldenburg) Buckle, Essays (C. F. Winter, Leipzig) Wollen Sie, werthester H e r r Verleger, die Güte haben und mir diese Bücher umgehend bestellen? U n d in einem H o l z -

117.-119.

Juni 1881

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k i s t e h e n a l l e zusammen nach St. Moritz (Graubünden) senden? Sehr verbunden Prof. Dr. Nietzsche.

¡19. An Heinrich Köselitz in Venedig (Recoaro, 23. Juni 1 8 8 1 ) Mein lieber Freund, hier sind Nachrichten — gute Nachrichten von Dr. Ree. In Betreff des Herrn Rascovicz schrieb mir meine Schwester 5 vorgestern, auf welche sinnreiche und delikate Manier sie Frau v. W(öhrmann) das Gedächtniß in diesem Punkte geschärft habe. Weder ich, noch sie haben eine Minute Zeit in dieser Angelegenheit versäumt — und doch scheint es zu spät gewesen zu sein. 10 Wenn das Exemplar der Morgenröthe in Ihre Hände kommt, so erweisen Sie mir noch eine Ehre: gehen Sie mit demselben auf einen T a g nach dem Lido, lesen Sie es als Ganzes und versuchen Sie ein Ganzes für sich daraus zu machen — nämlich einen leidenschaftlichen Z u s t a n d . Wenn Sie das nicht 15 thun, so thut es Niemand. — Jene hundert frs., mein lieber alter Vergeßlicher, haben Sie mir längst abgetragen, in Gestalt von zahllosen Porti, Papierauslagen und was sonst zum Zustandekommen meiner Schriften nöthig war. Verzeihung, daß ich daran erinnere! — 20 Es bleibt doch bei dem Engadin — denn von meinen vielen Versuchen in der Schweiz (vielleicht 20—30) ist der Engadiner der einzige leidlich gelungene. Es ist s c h w e r für meine Natur das Rechte in der Höhe und Tiefe zu finden, im Grunde ist es ein T a s t e n , es sind Faktoren dabei, die sich nicht streng fassen 25 lassen (z. B. die Elektricität der ziehenden Wolken und die Wirkungen der Winde: ich bin überzeugt, daß achtzigmal von

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Briefe von Nietzsche

ioo ich d i e s e n Einflüssen meine Qualen zu danken habe.) W o ist das Land mit viel Schatten, ewig reinem Himmel, g l e i c h e m kräftigen Meerwinde von Morgen bis Abend, ohne WetterUmschläge? D a h i n , dahin — will ich — ziehn! Sei es auch außer Europa! Recoaro ist, als Landschaft, eine meiner schönsten Erfahrungen, ich bin seiner Schönheit recht nachgelaufen und habe viel Mühe und Eifer verwendet. Die Schönheit der Natur ist, wie jede andere, sehr eifersüchtig und will, daß man ihr allein diene. Doch kam ab und zu Ihre Musik dazwischen, wie der beste Traum, den ich seit langem geträumt habe. Treulich Ihr Freund N . Adresse: St. Moritz in Graubünden (Schweiz) poste restante. Antwort auf Köselitz' Brief vom 17. Juni I88I:III/2, Köselitz antwortet am 27. Juni 1881: III/2, S. 174.

S. 172.

120. An Erwin Robde in Tübingen (Postkarte) (Sils-Maria) d. 4. Juli 1 8 8 1 . Nun, alter lieber Getreuer, hier kommt alter ego, und Du kannst Dich nach Herzenslust mit mir unterhalten, mit mir zanken, grollen, glücklich sein und über alle Wolken hinausblikken. Es wäre schlimm, wenn es nicht gerade ein Buch für Dich wäre — ich wüßte sonst gar nicht mehr, wie ich es auf Erden noch dazu bringe, Jemandem eine Freude zu machen. Du hast darin alle meine Ingredienzien; laß bei Seite, was Dir wehe thut und nimm alles zusammen, was Dir, gerade Dir M u t h macht. Anders weiß ich auch nicht für Deinen reichen und edelherzigen Brief dankbar zu sein — ich muß alle Viertelstunden, welche mir Kopf und Augen frei geben, im D i e n s t e einer großen Aufgabe verwenden, und ich träume in meiner Seele immer

119.-121.

Juni-Juli 1881

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davon, eben so auch am besten meinen Freunden zu d i e n e n . 15 Behalte mich lieb! Dein F. N. Sils-Maria (Engadin) Schweiz poste restante. Antwort auf Erwin Robdes Brief vom 8. April 1881: III/2, S. 160.

121. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Sils-Maria, 7. Juli 1881)

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So habe ich mich denn wieder nach dem Engadin hindurchgerettet, und mein erster Brief von hier aus soll an Dich sein, meine liebe Schwester und Dir meine Geburtstags-Wünsche und -Herzlichkeiten überbringen. Sehr gerne wäre ich auf Deinem Geschenktischchen vertreten — und d a f ü r bitte ich Dich nun selber zu sorgen, nach Deinem Geschmacke und in meinem Namen. Was ist Dir aber zu w ü n s c h e n ? — ich weiß es nicht recht und finde überhaupt von Jahr zu Jahr mehr, daß man, was man h a t , nützen und ausnützen soll (selbst sein Schlimmes, wie eine schlechte Gesundheit) und sich des Wünschens lieber enthalten sollte: die Dinge, die man so b e g e h r t , halten zuletzt, wenn man sie bekommt, nicht, was sie versprochen haben. Dies Alles sind freilich Theorien, die zu meinem Leibe und Leben mehr passen als zu dem Deinen; blase sie also ruhig in den Wind, wenn sie Dir nicht gefallen. I c h für meinen Theil wünsche mir nichts mehr: weiß ich doch kaum, wie ich mit dem fertig werden soll, was ich habe. Dies ist dunkel geredet, aber nicht dunkel gedacht. — Es war eine böse und gefährliche Zeit, ich bin aus Recoaro kaum mit dem Leben davon gekommen. Die Anfälle kamen j e d e n Tag, alle bösen Complikationen zeigten sich (Erbrechen u.s.w.) — und trotzdem s c h i e n Alles so günstig wie möglich

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Briefe von Nietzsche

eingerichtet (Diät Bewegung Ruhe schöne und erhabne 25 Gebirgsnatur, Alleinsein u. s. w.) Aber mit den Orten ist es jetzt bei mir ein reines Experimentiren, an den meisten gehe ich zu Grunde — es kommen Bedingungen in Betracht, die eben nur bei meiner Art von Natur so entscheidend sind (die der atmosphärischen Elektricität); darauf hin muß ich die Orte ausprobi30 ren. Basel Naumburg Genf Baden-Baden, fast alle Gebirgsorte, die ich kenne, Marienbad, die italiänischen Seen u. s. w. sind Orte zum Zugrundegehen. Der Winter am Meere ist erträglich, das Frühjahr (Sorrent und Genua) fortwährendes Leiden (wegen der unstäten Bewölkung) So oft mir nur einfällt, wie 35 fürchterlich und hart ich die letzten 2 Jahre wieder zugebracht habe, selbst wenn es in aller Geduld geschah, so kann ich hier die Thränen nicht zurückhalten. Hier im Engadin ist mir bei weitem am wohlsten auf Erden: zwar die Anfälle kommen hierher wie überall hin, aber viel milder und menschlicher. Ich habe 40 eine fortwährende Beruhigung und keinen Druck, wie sonst überall; die Aufregung hört hier für mich auf. Ich möchte alle Menschen bitten „erhaltet mir nur die 3, 4 Monate Engadiner Sommer, sonst kann ich wirklich das Leben nicht länger ertragen". Wie unvernünftig, im vorigen Sommer nach Marienbad 45 zu gehen, mir den Magen zu verderben und eine allgemeine Schwächung zu holen (durch die purgirende Wirkung dieser Wasser) Als ob ich Kraft fahren lassen dürfte und auf diesem Wege! Verzeihung! Ich hatte auf der Reise das Unglück, daß ein Zug seinen 50 Anschluß verfehlte; alle meine Pläne geriethen in Verwirrung, meine Gesundheit auch, die Reise dauerte schließlich noch einmal so lang und kostete auch noch einmal so viel. St. Moritz stieß mich heftig zurück, ich hielt es kaum 3 Stunden dort aus, dann nahm ich die Post. All das Elend, das ich dort durchge55 macht habe, trat vor mich, es war alles wie mit meinen Schmerzen bewölkt. Trotzdem: es ist der Ort, dem ich es verdanke, daß ich noch lebe. Die Preise waren nicht geringer geworden,

121.-122.

f ü r ein e i n f a c h e s monatlich.

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Z i m m e r wollte man überall 9 0 — 1 8 0 frs.

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A m Abend des ersten T a g e s fürchtete ich das Engadin verlassen zu müssen. A m andern T a g kam H ü l f e ; ein junger Engadiner, mit dem ich eine N a c h t gereist w a r , bemühte sich in uneigennütziger Weise um mich und hat mir ein stilles Plätzchen ausgemittelt, an dem ich gerne bis ans Ende sitzen bleiben 65 möchte: aber der Engadiner S o m m e r ist so kurz, und E n d e September will ich wieder nach G e n u a zurück. Ich habe es noch nie so ruhig gehabt, und die W e g e , Wälder, Seen, Wiesen sind wie f ü r mich gemacht; und die Preise sind nicht außer allem Verhältniß zu meinen Mitteln. D e r junge M a n n kam aus 70 N e a p e l , um sein H o t e l im S o m m e r zu führen, bei ihm esse ich zu Mittag (allein, wie natürlich) D e r O r t heißt Sils-Maria; bitte, haltet den N a m e n v o r meinen Freunden und Bekannten geheim, ich wünsche keine Besuche. Briefe erbitte ich mir mit dieser Adresse: „Silvaplana (Engadin) Schweiz poste restante." 75 U n d unsrer guten Mutter habe ich noch nicht einmal f ü r ihren schönen Reise-Brief gedankt! — Sende mir, liebe Schwester, 2 Bücher aus dem S c h r a n k e , jedes unter K r e u z b a n d . 1 ) Dühring, Cursus der Philosophie (das ist zum Lachen f ü r mich) und 2) C a r e y , Volkswirthschafts80 lehre (uneingebunden, dick) U n d nun t a p f e r w e i t e r , meine gute Lisbeth — wie es Dein Bruder auch thun wird. Sei unverzagt! F.N.

122. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Sils-Maria, 8. Juli 1 8 8 1 ) Liebster Freund, das w a r eine gefährliche Zeit; kaum bin ich von R(ecoaro) f o r t g e k o m m e n ! — Auf der Reise verfehlte ein

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Briefe von Nietzsche

Zug seinen Anschluß: V e r d o p p e l u n g der Reisezeit und Reisekosten war das Resultat. Ihr Brief war der erste Gruß im Engadin! St. Moritz stieß mich heftig zurück, es erschien mir unter der Krystallisation meiner dortigen Leiden vor 2 Jahren ren. Nach 3 Stunden verließ ich es, am Abend wollte ich sogar das E(ngadin) verlassen! Zuletzt bin ich, dank einem ernsten und liebenswürdigen Schweizer, mit dem ich die Nacht durch reiste und der aus Neapel in seine Heimat zurückkehrte, in dem lieblichsten Winkel der Erde untergebracht worden: so still habe ich's nie gehabt, und alle 50 Bedingungen meines armen Lebens scheinen hier erfüllt zu sein. Ich nehme diesen Fund hin als ein ebenso unerwartetes wie unverdientes Geschenk, gleich Ihrer herrlichen Musik, die hier, in dieser ewigen heroischen Idylle, noch schöner in's Herz geht als da unten. — Ich erhebe mich eben von einem dreitägigen Anfall (Gewitter). Treulich Ihr Freund FN. Sils-Maria (Engadin)Schweiz poste restante. Antwort

auf Köselitz' Brief vom 2j. Juni

Köselitz antwortet am 9. Juli 1881:

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III/2, S.

III/2, S. 174. ¡76.

123. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Sils-Maria, 8. Juli 1881) Mein lieber Freund, ich bin wieder im Engadin. Die ganze letzte Zeit äußerst schmerzhaft und gefährlich, ich dachte nicht lebendig aus R(ecoaro) fortzukommen. Das Engadin hat mich vor 2 Jahren im Leben festgehalten und wird es auch diesmal thun, ich habe es nirgends besser. — Ich hätte gern ein paar Bücher von der Biblioth(ek) oder Lesegesellsch(aft), nämlich die

122.- 124.

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z w e i Bände Hellwald, i) Culturgeschichte, 2) die Erde und ihre Bewohner. (Er kennt die neueste Litteratur der Historie, Reisen usw.) Sodann den Band Kuno Fischer's über Spinoza. — Schmeitzner (der mir den Geldempfang gemeldet hat) wird Dir mein Buch geschickt haben; Verzeihung, es war nicht möglich 2 Exemplare, wie ich wünschte, zu senden. Zudem muß ich leider noch hinzufügen, daß es durchaus kein Buch zum Vorlesen ist, sondern im Superlativ ein einsames Buch sein will. — Wie erquickt es mich, von der Förderung Deiner „christl(ichen) Litteratur-Genesis" zu hören! Wie viele Fragen habe ich dafür bereit! — Der grüne Heinrich ist mir für meinen (im Grunde pathetischen) Z u s t a n d ein wenig zu miniaturenhaft und bunt: aber es ist ein Ausbund von Poesie und Schelmerei, vielleicht sogar von Ernst. Dein treuer Freund F.N.

124. An Paul Ree in Stibbe (Postkarte) (Sils-Maria, 8. Juli 1 8 8 1 ) So wollen wir's nur fort treiben! Am Ende, mein lieber tapferer Freund, sind wir doch ein Paar tüchtige Schwimmer. Alle Welt hält uns schon f ü r ertrunken, aber da tauchen wir immer wieder auf und bringen sogar aus der Tiefe etwas mit herauf, was, wie wir meinen, Werth hat und vielleicht auch einmal für Andre G l a n z bekommen wird. Ich habe gerade auch eine gefährliche Zeit hinter mir und bin wieder im Engadin angelangt, meiner alten Rettungsstätte: „des Leibes noch nicht ledig" und was die Seele betrifft, so lesen Sie das Buch, welches unser Verleger Ihnen zusenden wird. Mir ist mitunter als ob ich als LängstGestorbener mir die Dinge und Menschen anschaute — sie bewegen, erschrecken und entzücken mich, ich bin ihnen aber

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Briefe von Nietzsche

ganz ferne. Der auf ewig Abhandengekommene und doch gerade

Ihnen so Nahe:

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In Treue F.N.

ny An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Sils-Maria, um den 9. Juli 1 8 8 1 ) Meine liebe Mutter, ich betrübe mich sehr über Deinen und unsern Verlust! Es war ein so sanftmüthiger und braver Mensch, unser Theobald, streng gegen sich und doch kein Fanatiker; ich hielt ihn für den besten unter den Oehlers. Wer weiß, ob nicht an seinem Nervenleiden, noch mehr als seine Theologie, die Quacksalberei seines Schwiegervaters den Hauptantheil hat! Er hat den T o d dem Irrenhause vorgezogen und wahrscheinlich klug daran gethan. Wir werden immer seiner mit Rührung gedenken. Nun noch ein Wort von mir, zur Beruhigung. Ich mache mir Vorwürfe über meine Thorheit, Euch meine kurzen Gesundheits-Kärtchen und nichts weiter zu schicken: — so müßt Ihr einen falschen Eindruck von mir gewinnen. Nie gab es einen Menschen, auf den das Wort „niedergedrückt" weniger gepaßt hätte. Meine Freunde, die mehr von meiner Lebensaufgabe und deren unaufhaltsamer Förderung errathen, meinen, ich sei wenn nicht der G l ü c k l i c h s t e so jedenfalls der M u t h i g s t e der Menschen. Ich habe Schwereres auf mir als meine Gesundheit und werde damit fertig, auch dies zu tragen. Mein Aussehen ist übrigens vortrefflich, meine Muskulatur in Folge meines beständigen Marschirens fast die eines Soldaten, Magen und Unterleib in Ordnung. Mein Nervensystem ist, in Anbetracht der ungeheuren Thätigkeit die es zu leisten hat, prachtvoll und der Gegenstand meiner Verwunderung, sehr fein und sehr stark: selbst die langen schweren Leiden, ein unzweckmäßiger Beruf und die fehlerhafteste Behandlung haben ihm nicht

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wesentlich geschadet, ja im letzten Jahre ist es stärker geworden, und, Dank ihm, habe ich eines der muthigsten und erhabensten und besonnensten Bücher hervorgebracht, welche jemals aus menschlichem Gehirne und Herzen geboren sind. Selbst wenn ich mir in Recoaro das Leben genommen hätte, so wäre einer der ungebeugtesten und überlegtesten Menschen gestorben, nicht ein Verzweifelnder. Mein Gehirnleiden ist sehr schwer zu beurtheilen, in Betreff des wissenschaftlichen Materials, welches hierzu nöthig ist, bin ich jedem Arzte überlegen. J a es beleidigt meinen wissenschaftlichen Stolz, wenn Ihr mir eurerseits neue Kuren vorschlagt und gar meint, ich „ließe meine Krankheit laufen". Vertraut mir doch ein wenig mehr auch hierin! Bis jetzt bin ich erst 2 Jahre in meiner Behandlung, und wenn ich Fehler gemacht habe, so lag es immer daran, daß ich dem eifrigen Zureden Anderer endlich nachgegeben habe und Versuche machte. Dahin gehört der Aufenthalt in Naumburg, in Marienbad u.s.w. Jeder verständige Arzt hat mir übrigens eine Genesung erst nach einer l ä n g e r e n Reihe von Jahren in Aussicht gestellt, und vor allem muß ich die schweren Nachwirkungen los zu werden suchen, von allen jenen falschen Methoden her, nach denen ich so lange Zeit behandelt worden bin. Seid mir ja nicht böse, wenn ich Eure Liebe und Theilnähme in diesem Punkte zurückzuweisen scheine. Aber ich will durchaus mein eigner Arzt nunmehr sein, und die Menschen sollen mir noch nachsagen, daß ich ein g u t e r Arzt gewesen sei — und nicht nur für mich allein. — Immerhin gehe ich noch vielen, vielen Leidenszeiten entgegen; werdet nicht darüber ungeduldig, ich bitte Euch von Herzen! Dies macht mich ungeduldiger als meine Leiden selber, weil es mir zeigt, daß meine nächsten Verwandten so wenig Glauben an mich haben.

So viel heute und Ein-für-alle-Mal! Schon viel zu viel für meine Augen! 60 Wer im Geheimen zusehen könnte, wie ich die Rücksichten auf meine Genesung mit der Förderung meiner großen A u f g a -

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B r i e f e von Nietzsche

ben zu verknüpfen weiß, der würde mir keine geringe Ehre zollen. Ich lebe nicht nur sehr muthig, sondern im höchsten Maaße vernünftig und unterstützt von einem reichen medicinischen 65 Wissen und unablässigen Beobachten und Forschen. Von ganzem Herzen und mit der Bitte, mir nichts übel zu deuten Euer Sohn und Bruder. Schreibt mir g u t e Dinge hier hinauf, wo ich über der 70 Zukunft der Menschheit brüte, und lassen wir alles das kleine persönliche Leiden und Sorgen bei Seite. Auch eine äußerst delikate Wurst würde zu den g u t e n Dingen gehören. Antwort auf nicht überlieferte Briefe von Franziska und Elisabeth

Nietzsche.

126. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Sils-Maria, 13. Juli 1881) Den herzlichsten Dank, meine liebe gute Mutter, für Deinen Brief! Er that mir recht wohl! J a so klingt es wahrscheinlicher: der arme Th(eobald) hat im Zustande der Gemüthserregung ein 5 Bad nehmen wollen (um sich zu beruhigen), und dabei traf ihn der Schlag. Das kommt oft, oft vor! — Hoffentlich hat m e i n Brief Dir wenigstens den Trost verschafft, daß Dein alter Sohn noch ziemlich tapfer durch's Leben geht. — Zwei zweitägige Anfälle bisher im Engadin. 10 Wenn die Wurst Ende nächster Woche eintrifft, so wäre es die beste Zeit! Dann bitte ich um 1 ) 1 Paar wollne Strümpfe, 2) einen Handschuh (gestrickt) zum W a s c h e n (wie das gute Lama mir sie zu machen pflegt) (ich meine zu meinem B a d e morgens) und 3) endlich ein Paar schwarze gestrickte recht 15 l a n g e Handschuh mit einem Daumen. Bitte bitte! Fr. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief von Franziska

Nietzsche

1 2 5 . - 128.

Juli 1 8 8 1

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i2j. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Sils-Maria, 13. Juli 1881) Verzeihung, mein lieber guter Freund! J a die Barbarei meiner Handschrift, die niemand mehr lesen kann, ich auch nicht! (Weshalb lasse ich meine Gedanken drucken? Damit die für m i c h lesbar werden. Verzeihung auch dafür!) — Also: Sils (Engadin) poste restante. Es giebt nämlich in Graubünden noch ein Sils. Eben von einem heftigen zweitägigen Anfalle zum Lichte erwachend und wieder an's Leben g l a u b e n d Treulich Dein und Euer F.N. 128. An Marie Baumgartner in Lörrach (Sils-Maria, 15. Juli 1881) Liebe verehrte Frau Baumgartner, hier kommt wieder einmal ein geschriebenes Wörtchen von mir zu Ihnen, und als Vorläufer oder Mitläufer eines gedruckten Wortes, für das ich um alle Ihre Theilnahme bitten möchte: — Besseres und Persönlicheres habe ich nicht mitzutheilen, und das alte Lied meiner körperlichen Nothzustände möchte ich wahrhaftig nicht mehr vor Ihnen absingen. J e d e r hat zu t r a g e n : verlernen wir über dem Tragen und Schwertragen auch das Auffliegen und Weit-Hinausschauen nicht! Es verträgt sich nicht so übel mit einander! Es giebt viele Mittel, um s t a r k zu werden und starke Flugschwingen zu bekommen: Entbehrung und Schmerzen gehören dazu, es sind Mittel im Haushalte der Weisheit. Uber allem Jammer immer wieder ein Lied der Freude — nicht wahr, das ist das Leben! Das k a n n es sein! Treulich F.N. Ich denke an Sie und die Ihrigen, namentlich an Ihren Gelehrten, mit dem herzlichsten Danke.

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Briefe von Nietzsche

129. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Sils-Maria, 19. Juli 1881) Meine liebe Mutter und Schwester, allen Euren guten Briefen folgt nun auch die gute Wurst nach, leider zerbrochen und durch die große Hitze etwas ausigedörrt (Ich würde vorschlagen, derlei Langes zwischen 2 glatte Hölzer zu packen) Die andern gewünschten Sachen schickt jetzt noch nicht — später, wenn vielleicht wieder einmal eine schöne Wurst mitzuschicken ist (und ebenso, zum Vorrath, für 5 Sgr. „abführende Pillen" aus der Tuchenschen (Herrenstr.) Apotheke; die italiänischen thun mir nicht so gut; h i e r habe ich dergleichen nicht nöthig oder doch nur nach den Anfällen) Bis jetzt 4 zwei- bis dreitägige Anfälle (mit langem Erbrechen: j e d e s m a l Gewitter im Spiel oder Gewitterwolken) heute bin ich sehr matt, aber froh — der vierte ist eben vorüber. Es ist für die Engadiner Begriffe unsäglich heiß. Wo bleiben die erbetenen Bücher? Wie sieht denn mein Buch aus? Mein Verleger, gegen mich taktlos und nachlässig — ich bin seiner müde und er vielleicht meiner — beehrt mich nicht mit einem Exemplar. Von Herzen Eurer gedenkend F. Adresse nunmehr: S i l s (Engadin, Schweiz)

IJO. An Ferdinand Laban in Pressburg S i l s (Engadin, Schweiz) 19 Juli 1881 Ihr Gesang, werther Herr, geht mir so n a h e und thut mit so wohl, daß ich alles Recht verliere, ihn zu loben. Zumal da ich annehme, Sie machen es jenen älteren Musikern gleich, welche ihre heitere lebenfunkelnde Symphonie mit einem ernsten schwermüthigen Satze wie mit einer Morgendämmerung beginnen: — sie waren darin Schelme. Und vielleicht haben Sie eben

129.-131.

Juli 1881

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auch nur ein V o r s p i e l uns geben wollen, daß uns ein wenig irre leiten soll? D e n n zuletzt, lieber H e r r , sind wir Beide doch wohl Einer Meinung, über diesen Einen Punkt: daß sich a u c h j e t z t noch der B o g e n des Lebens so straff spannen lasse, daß die Sehne der Begierde singt und pfeift? daß wir a u c h j e t z t n o c h so stolz und darüber-hinsehend leben können, wie jener herrliche römische Kaiser, in dessen V e r e h r u n g wir Beide e i n m ü t h i g sind (lesen Sie doch zum Beweise d a f ü r meine jüngst erschienene „Morgenröthe" — ich kann sie Ihnen leider nicht schicken) D a n k b a r der Ihrige F.N.

IJI. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Sils-Maria, Mitte Juli 1881) Meine liebe Schwester D u hast in so vielen Stücken über mich Recht, daß ich von H e r zen wünsche, D u mögest auch über Dich selber immer Recht haben und das Dir Zuträglichste beschließen. Ich denke, D u wirst über den Irrthum vieler Mädchen hinaus sein, welche ihren Zug zur Zurückgezogenheit und Unabhängigkeit auf dem W e g e der Ehe zu befriedigen denken; das Ergebniß ist gewöhnlich ganz wider Erwarten das Umgekehrte, von den seltensten Ausnahmen abgesehen. Dein Leben in Pforta gefällt mir sehr. Sieh Dich n u r reichlich um, wo O r t , Menschen und T h ä tigkeit (Klima nicht zu vergessen) gerade f ü r Dich gemacht zu sein scheinen. So denke ich f ü r meinen Theil auch, und müßte ich selber darüber Europa verlassen. Denn alles, was wir l e i d e n , müssen nicht nur wir, sondern das muß die andre Menschenwelt tragen — sehen wir also zu, so wenig wie möglich zu leiden. Ich werde Dich schwerlich abhalten können, meine „Morgenröthe" zu lesen; so dachte ich über ein Mittel nach, auch

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B r i e f e v o n Nietzsche

20 dies für Dich und mich zum Besten zu wenden. Lies das Buch also, wenn ich bitten darf, unter einem Gesichtspunkt, den ich allen andern Lesern gerade w i d e r r a t h e n würde, aus einem ganz persönlichen Sehwinkel (Schwestern haben zuletzt auch Privilegien) Suche alles heraus, was Dir verräth, w a s im 25 Grunde Dein Bruder am meisten braucht, am meisten nöthig hat, w a s er will und \fras er nicht will. Lies dazu namentlich das fünfte Buch, w o vieles zwischen den Zeilen steht. W o h i n a l l e s bei mir noch strebt, ist nicht mit Einem Worte zu sagen — und hätte ich das Wort, ich würde es nicht sagen. Es kommt auf 30 günstige aber ganz unberechenbare Umstände an. Meine guten Freunde (und Jedermann) wissen eigentlich nichts über mich und haben auch wohl noch nicht nachgedacht; ich selber war immer sehr schweigsam über alle meine Hauptsachen, ohne daß es doch so erschien. 35 Versorge mich, mein liebes Lama, doch mit schönen Notizbüchern und lege eine Werkstatt dazu an — ich brauche jährlich mindestens 4; feinstes, sehr starkes Papier (weiß), ungefähr 100 Blätter in jedem Buche. Wenn Du von Menschen hörst, die etwas mir zu Gefallen thun wollen — heiße sie Notizbücher 40 machen. Der Zustand, in dem ich in Bezug h i e r a u f lebe, ist s c h m a c h v o l l . Anbei das Format. J a nicht größer! In herzlicher Liebe und mit den besten Grüßen an unsre Mutter. Die Wurst ist doch sehr schön. Dein Bruder. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth Nietzsches.

132. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Sils-Maria, 2 1 . Juli 1 8 8 1 ) Mir fiel ein, lieber Freund, daß Ihnen an meinem Buche die beständige innerliche Auseinandersetzung mit dem C h r i s t e n -

131.-133.

109

Juli 1881

t h u m e f r e m d , ja peinlich sein muß; es ist aber doch das beste Stück idealen Lebens, welches ich wirklich kennen

gelernt

habe, von Kindesbeinen an bin ich ihm nachgegangen, in viele W i n k e l , und ich glaube, ich bin n i e in meinem H e r z e n gegen dasselbe gemein gewesen. Zuletzt bin ich der

Nachkomme

ganzer Geschlechter von christlichen Geistlichen — vergeben Sie mir diese Beschränktheit! — Frau L u c c a : ein sehr guter G e d a n k e ! Sie kann

sprechen

und Possen machen. A u c h mich hat sie einmal entzückt, vor nunmehr 18 Jahren. Sollte sie jung genug sein? — Bei der A r t , wie Sie Ihre Partitur machen, bin ich voll stiller H o c h a c h t u n g f ü r Sie und sehe zu, wie ich einem guten G o l d schmiede zusehe. T ä u s c h e n Sie sich nicht über meine E m p f i n dung! H i e r , auch hier giebt es f ü r mich zu leiden; bisher 4 schwere zwei- oder dreitägige Anfälle. D e r S o m m e r ist f ü r die Engadiner zu heiß; ich w a g e g a r nicht an Venedigs S o m m e r dabei zu denken. H r . Schmeitzner hat v e r g e s s e n , mir m e i n Buch zu senden; ich bin seiner satt. (Aber er hat all meine Ersparnisse!) In treuem G e d e n k e n der Ihre

F. N . in Sils.

Antwort auf Käselitz' Brief vom 9. Juli 1881: III/2, S. 176. Köselitz antwortet am 2. August 1881: III/2, S. 178.

IJJ. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Sils-Maria, 2 3 . Juli 1 8 8 1 } Es freut mich sehr, mein lieber Freund, daß auch in dieser Angelegenheit unsre Freundschaft Stand hält, ja sich neu b e s i e g e l t hat — ich denke mitunter mit Bangniß an alle die Feuer- und Kälteproben, denen die mir liebsten Menschen durch meine „ U n u m w u n d e n h e i t " ausgesetzt werden. W a s das

110

Briefe von Nietzsche

Christenthum betrifft, so wirst Du mir wohl das Eine glauben: ich bin in meinem Herzen nie gegen dasselbe gemein gewesen und habe mir von Kindesbeinen an manche innerliche Mühe um seine Ideale gegeben, zuletzt freilich immer mit dem Ergebniß der puren Unmöglichkeit. — Auch h i e r habe ich viel zu leiden, der Sommer ist diesmal heißer und elektricitätsreicher als gewöhnlich, zu meinem Nachtheil. Trotzdem weiß ich mir nichts meiner Natur Angemesseneres als dies Stück Ober-Erde. — Frau Baumgartner hat mir sehr gut und herzlich geschrieben. — Ich selber bin noch nicht im Besitz meines Buches. — Hellwald mit Dank empfangen; es ist ein Compendium einer Gattung von Meinungen. Dir und Deiner lieben Frau von Herzen zugethan F.N. Ich weiß absolut nicht mehr, mit welchen Ansichten ich noch wohlthue, mit welchen ich wehe thue. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief

Overbecks.

ij4. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Sils-Maria, 30. Juli 1881) An diesem unerwarteten Kästchen habe ich großes Vergnügen gehabt, meine liebe Mutter und Schwester! Gerade nach diesen Dingen hatte ich rechtes Verlangen; meine Kost, die sich nach der Decke strecken muß, ist hier sehr gut, aber wesentlich fleischig. Es fehlten mir gut-gewürzte süße Sachen. Der Handschuh ist schon im Gebrauche. Mein Befinden aber bleibt ü b e l : diese schreckliche Unbeständigkeit des Himmels, diese Wolken selbst im Engadin! Schon 3 schwere Anfälle durchgemacht! Und dazwischen immer etwas elend. Es ist ein Ausnahme-Wetter hier.

1 3 3 . - 135.

Juli 1 8 8 1

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Das Schmeitznersche Buch ist nun auch in meinen Händen. Die Wurst ist so mild und rein von Geschmack. Aber k e i n e Birnen schicken, meine liebe Mutter, ich danke Dir! Euer Sohn und Bruder.

J J J . An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Sils-Maria,30. Juli 1881) Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen V o r g ä n g e r und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich j e t z t nach ihm verlangte, war eine „Instinkthandlung". Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist — die Erkenntniß zum m ä c h t i g s t e n A f f e k t zu machen — in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in d i e s e n Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit —; die Zwecke —; die sittliche Weltordnung —; das Unegoistische —; das Böse —; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. — Wunderlich! Übrigens ist mein Befinden gar nicht meinen Hoffnungen entsprechend. Ausnahmewetter auch hier! Ewiges Wechseln der atmosphärischen Bedingungen! — das treibt mich noch aus Europa! Ich muß r e i n e n Himmel monatelang haben, sonst komme ich nicht von der Stelle. Schon 6 schwere, zwei- bis dreitägige Anfälle!! — In herzlicher Liebe Euer Freund.

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Briefe von Nietzsche

136. An Heinrich Köselitz in Venedig Sils-Maria den 14 August 1 8 8 1 . Nun, mein lieber guter Freund! Die Augustsonne ist über uns, das Jahr läuft davon, es wird stiller und friedlicher auf Bergen und in den Wäldern. An meinem Horizonte sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehn habe — davon will ich nichts verlauten lassen, und mich selber in einer unerschütterlichen Ruhe erhalten. Ich werde wohl e i n i g e Jahre noch leben müssen! Ach, Freund, mitunter läuft mir die Ahnung durch den K o p f , daß ich eigentlich ein höchst gefährliches Leben lebe, denn ich gehöre zu den Maschinen, welche zerspringen können! Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schaudern und lachen — schon ein Paarmal konnte ich das Zimmer nicht verlassen, aus dem lächerlichen Grunde, daß meine Augen entzündet waren — wodurch? Ich hatte jedesmal den T a g vorher auf meinen Wanderungen zuviel geweint, und zwar nicht sentimentale Thränen, sondern Thränen des Jauchzens; wobei ich sang und Unsinn redete, erfüllt von einem neuen Blick, den ich vor allen Menschen voraus habe. Zuletzt — wenn ich nicht meine K r a f t aus mir selbst nehmen könnte, wenn ich auf Zurufe Ermuthigungen Tröstungen von außen warten müßte, w o wäre ich! was wäre ich! Es gab wahrhaftig Augenblicke und ganze Zeiten meines Lebens (z. B. das Jahr 1878), w o ich einen kräftigenden Zuspruch, einen zustimmenden Händedruck wie das Labsal aller Labsale empfunden hätte — und gerade da ließen mich alle im Stich, auf welche ich glaubte mich verlassen zu können und die mir jene Wohlthat hätten erzeigen k ö n n e n . Jetzt erwarte ich's nicht mehr und empfinde nur ein gewisses trübes Erstaunen, wenn ich z. B. an die Briefe denke, die ich jetzt bekomme — alles ist so unbedeutend, keiner hat etwas durch mich erlebt, keiner sich einen Gedanken ü b e r mich gemacht — es ist achtbar und

136.

35



45

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65

August 1881

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wohlwollend, was man mir sagt, aber ferne, ferne, ferne. Auch unser lieber Jacob Burckhardt schrieb so ein kleinlautes verzagtes Brieflein. Dagegen nehme ich es als Belohnung auf, daß dies Jahr mir zweierlei zeigte, das zu mir gehört und mir innig nahe ist — das ist I h r e Musik und diese L a n d s c h a f t . Das ist keine Schweiz, kein Recoaro, etwas g a n z Anderes, jedenfalls etwas viel Südlicheres, — ich müßte schon nach den Hochebenen von Mexiko am stillen Ozeane gehen, um etwas Ähnliches zu finden (z. B. Oaxaca) und da allerdings mit tropischer Vegetation. Nun, dies Sils-Maria will ich mir zu erhalten suchen. Und ebenso empfinde ich für Ihre Musik, aber weiß gar nicht, wie ihrer habhaft werden! Notenlesen und Klavierspielen habe ich aus meinen Beschäftigungen ein- für allemal streichen müssen. Die Anschaffung einer Schreibmaschine geht mir im Kopf herum, ich bin in Verbindung mit ihrem Erfinder, einem Dänen aus Kopenhagen. Was machen Sie im nächsten Winter? Ich nehme an, daß Sie in Wien sein werden? Aber für den darauf folgenden Winter wollen wir uns eine Zusammenkunft ausdenken, wenn auch nur e i n e k u r z e — denn ich weiß jetzt wohl, daß ich nicht zu Ihrem Umgange tauge und daß es Ihnen freier und fruchtbarer zu Muthe ist, wenn ich wieder fortgeflogen bin. Mir liegt andererseits an der immer größeren Befreiung Ihres Gefühls und an dem Erwerbe eines innigen und stolzen Zu-Hause-seins, in summa an Ihrem glücklichen allerglücklichsten Schaffen und Reifwerden so unbeschreiblich viel, daß ich mich in jede Lage leicht finden werde, welche aus den Bedingungen Ihrer Natur erwächst. Ich habe nie gegen Sie irgend welche häßlichen Gefühle, vertrauen Sie darauf, lieber Freund! — Sagen Sie mir noch beiläufig, wie man jetzt deutsches M(ark) Papiergeld in Italien verkauft (für italienisches) Papier), ich meine, was der Cours ist.

114

Briefe von Nietzsche

Die Adresse von Fräulein von Meysenbugk habe ich auch nicht im K o p f e ; jetzt wird sie wohl mit Monods irgendwo zusammen sitzen, ich meine, H r . Schm(eitzner) mag das E x e m plar nach Paris schicken. — Mit Hrn. Schm(eitzner) ist alles auf's schonendste ausgeglichen; ich habe mir vorgenommen, ihn nicht dafür leiden zu lassen, daß ich auf voreilige Schlüsse hin manches von ihm erwartete, was nicht zu seiner N a t u r gehört. In herzlicher Freundschaft und Dankbarkeit Ihr F. N . (Ich bin viel krank gewesen.) Antwort

auf Köselitz'

Köselitz

antwortet

Brief vom 2. August

am 17. August

1881:

1881:

IIII2,

S.

III/2,

S.

178.

179.

137. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Sils-Maria, 18. August 1 8 8 1 ) Meine gute Mutter, seit der so angenehmen Sendung, f ü r welche ich mich sofort bedankt habe, hörte ich nichts mehr von Dir, auch unser Lama bekam damals einen Brief von mir, aber hat nicht geantwortet. Uberhaupt hat seit einem Monat keine Menschenseele an mich geschrieben. O f t krank gewesen, heute gerade erhebe ich mich von einem Anfalle. Sehr unruhiges Wetter. Wie vermisse ich in dieser Schneeluft die warmen H a n d s c h u h e ! W u r s t sende mir ja nicht mehr, ich habe Mittags Fleisch und möchte nicht mehr Fleisch essen. Aber bitte, einen D o c h t f ü r die Spirit(us) Lampe, ein K ä m m c h e n (mit Bürste) f ü r die Tasche, etwas alte L e i n w a n d f ü r Wunden, dann Z w i r n und N a d e l n . U n d sehr ist a l l e s Süße hier oben von mir geschätzt, z. B. die guten Pfefferkuchen (das einzig Preiswürdige, was ich in Naumburg kenne) J a ! Und ein s t a r k e s

136.- 138.

August 1881

115

Schreibheft, in gewöhnlichem Q u a r t f o r m a t , g u t e s Papier, und L i n i e n (in dieser E n t f e r n u n g Verzeihung! In herzlicher Liebe F.

ij8. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg

(Postkarte)

(Sils-Maria, 18. August 1881) Meine gute Lisbeth, ich bringe es nicht über's H e r z , H e r r n D r Ree abzutelegraphiren: obwohl ich J e d e r m a n n , der meinen Engadiner A r b e i t s - S o m m e r d. h. die Förderung meiner A u f g a b e , m e i n e s „Eins ist noth", u n t e r b r i c h t , als meinen Feind betrachte. Ein Mensch mitten hinein in das von allen Seiten aufschießende Gewebe meiner Gedanken — das ist eine furchtbare Sache; und kann ich meine Einsamkeit nicht f ü r d e r hin sicher stellen, so verlasse ich Europa auf viele Jahre, ich schwöre es! Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren und habe schon viel zu viel verloren; wenn ich nicht mit meinen guten Viertelstunden g e i z e , so habe ich ein schlechtes Gewissen. D u kannst nicht wissen, w a s ich noch von mir verlange. Genug, es soll der letzte Fall der Art sein, ich habe eine Verpflichtung gegen D r R(ee), die mir verbietet, Nein zu sagen: wie ich eine gegen H e r r n Köselitz hatte; ich m u ß t e nach Recoaro, als er mich b a t , dorthin zu kommen (es handelte sich n i c h t um mich, sondern um ihn und seine ganze Lebens-Entscheidung). V o n meiner G e s u n d h e i t und wie es d e r zu bekommen pflegt, rede ich nicht einmal. — Ich habe d a f ü r gesorgt, daß in meinem Nachbarhaus, Hotel Edelweiß, ein Zimmer f ü r meinen Freund bereit ist. In herzlicher Liebe und Aufrichtigkeit Dein Bruder. Antwort

auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth

Nietzsches.

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Briefe von Nietzsche

/J9- An Franz Overbeck in Zürich (Sils-Maria, 20./21. August 1 8 8 1 )

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Theurer Freund, zwischen uns steht es gut; und was die Wirkung meines Buchs betrifft, so sage ich, im Scherz und Ernst, „es gehört zu den s t ä r k s t e n geistigen Getränken", wenigstens nach der Wirkung zu urtheilen, die ich selber davon verspüre, wenn ich mich einmal müde und muthlos fühle. Zuletzt: es ist ein Anfang meiner Anfänge — w a s liegt noch vor mir! auf mir! Irgendwann werde ich g e n ö t h i g t sein, auf ein Paar Jahre von der Welt förmlich zu verschwinden — um alle meine Vergangenheit und menschlichen Beziehungen, und Gegenwart, Freunde, Verwandte, Alles, Alles mir aus dem Sinn zu schlagen. Da wird es gelten t a p f e r zu sein, und auch Du, mein geliebter Freund, wirst Deine alte große Treue, Deine Tapferkeit in der Treue zu mir, noch auf einer höchsten Probe bewahren müssen! Ich bin auf die Dauer ein l ä s t i g e r Kamerad, nicht wahr? Nun, Freund Romundt denkt anders, d e m wenigstens habe ich keine Lasten aufgelegt — er schreibt frisch und munter, daß er „die Lehre Kants von Gott — Seele — Freiheit — und Unsterblichkeit wieder aufbaue". Das hat mich wirklich erheitert! Es scheint doch, daß ich noch keine „schädliche und unmoralische" Wirkung ausgeübt habe (vielmehr — g a r k e i n e Wirkung!) — Seien wir guter Dinge! Sind wir doch die Freien, und nicht die „Kinder der M a g d ! " — Nun kommen Bitten über Bitten! Verzeihung! — Das nächste Mal möchte ich das Geld selber empfangen; ich reise den 27 September von hier fort, ist es möglich, es bis dahin zu erhalten? Wann kehrst Du nach Basel zurück? Nach Genua es zu senden hat die Schwierigkeit, daß es mir dort an Ausweise-Papier fehlt (ich habe keinen Paß, brauche ihn auch sonst nicht.) Schmeitzner soll fürderhin meine Ersparnisse n i c h t mehr empfangen, es giebt Gründe, ein wenig auf der Hut zu sein, er ist wagehalsig und thut manches, ohne erst um Erlaubniß zu

139.

August 1881

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fragen. Nun, lieber Freund, möchte ich sehr gern, daß alles noch von der Basler Pension zu Ersparende von D i r angesam35 melt würde, und Zinsen zu Zinsen, so daß ich nach Ablauf der 6 Jahre, noch eine gute Zeit davon leben kann (sage mir: w a n n ist der letzte Zahlungstermin dieser 6 Pensionsjahre?) Ich bin auf der „ H ö h e " des Lebens d.h. meiner Aufgaben, die das Leben mir allmählich gestellt hat, und muß, wo irgend möglich, 40 diese nächsten vier Jahre o h n e a l l e und j e d e ä u ß e r e S t ö r u n g eben diesen Aufgaben weihen, und an g a r n i c h t s A n d e r e s mehr denken, hilf mir dabei, Treuester der Treuen!

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Nein, Littre's Buch werde ich gewiß nicht lesen, und ebenso wenig komme ich zu Keller's „grünem Heinrich": meine Augen erlauben mir solche „Luxusausgaben der Sehkraft" nicht mehr. Im Vertrauen gesagt: das Wenige, was ich mit den Augen arbeiten kann, gehört jetzt fast ausschließlich physiologischen und medizinischen Studien (ich bin so schlecht unterrichtet! — und muß so Vieles wirklich w i s s e n ! ) Bitte, sende den zweiten Band vom „grünen Heinrich" an unsern „grünen Heinrich" in Venedig, der j e t z t e b e n mit seiner herrlichen Partitur — Filigran-Arbeit auch als solche — fertig geworden ist. — Ich habe mit dem Erfinder der Schreibmaschine Hr. Malling-Hansen in Kopenhagen, Briefe gewechselt — ein solches Instrument, bei dem die Augen nach einer Woche Übung gar nicht mehr thätig zu sein brauchen, wäre unschätzbar für mich, aber es ist nichts für mich „Armen-Mann" — mit Kasten und „zur Versendung bereit verpackt", also noch ohne Transport kostet es 375 R.Mark. Es wiegt 6 Pfund und ist 8 Zoll lang. Eine Schriftprobe lege ich bei.

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Ich möchte ein paar Bücher durch Dich vom Buchhändler: 1. O. Liebmann, Analysis der Wirklichkeit. 2. O. Caspari, die Thomson'sche Hypothese (Stuttgart 1874 Horster.) 3. A. Fick, „Ursache und Wirkung".

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Briefe von Nietzsche

4. J . G . V o g t , die K r a f t . Leipzig, Haupt & Tischler 1878. 5. O. Liebmann, K a n t und die Epigonen. Sodann hätte ich eins von meinen Büchern aus den Züricher Kisten sehr nöthig: Spir, Denken und Wirklichkeit — es ist 70 uneingebunden, befindet sich also in der Kiste der Uneingebundenen und besteht aus 2 Bänden. Giebt es auf der Zürcher Lesegesellschaft (oder Bibliothek) die „philosophischen Monatshefte"? Ich brauche davon Band 9 Jahrgang 1 8 7 3 und ebenso Jahrgang 1 8 7 5 . Dann Zeitschrift 75 Kosmos, Band 1. Giebt es von Dubois-Reymond's Reden eine Gesamtausgabe? Endlich, endlich! Auch in die Apotheke möchte ich Dich schicken, es handelt sich um Vervollständigung meiner Privat80 apotheke. Ich bitte um 1. 2. 3. 4.

ferrum phosphoricum phosphorsaures Kali natrum sulfuricum natrum muriaticum

85 von jedem 1 0 G r a m m in Pulverform. Sehr gut verpackt. Sei mir nicht böse und nimm D i r Zeit zu Allem, mache es so gelegentlich wie möglich ab. Ich bin wegen meiner zudringlichen Bitten schon Deiner verehrten Schwiegermutter so beschwerlich geworden, und möchte doch bei ihr und bei Dir und bei Deiner 90 lieben Frau und bei allen Deinen werthen Verwandten in Zürich in recht gutem Andenken bleiben! F.N. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Franz Overbecks.

140. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Sils-Maria, 2 1 . August 1 8 8 1 ) Lieber Freund, ich habe Overbeck beauftragt, Ihnen den 2. Band von Keller's ,,gr(ünem) Heinrich" zuzusenden und bitte

139.-141.

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August 1881

Sie das G a n z e , als einen Labetrunk nach schwerer Arbeit, aus meiner H a n d freundlich anzunehmen. Ich juble mit Ihnen, wenn ich an Ihre Filigran-Partitur denke. Overbeck schrieb mir jüngst in einer Bewegung, die an ihm selten ist; charakteristisch schien mir dieser Satz „ D e i n Buch erfüllt mit höchstem Lebensmuthe, weil es so gründlich und ehrlich davon durchdrungen ist, daß zu trösten gar nicht der Beruf der Wahrheiten ist, und alle sancho-pansaartige Begehrlichkeit, mit der man gemeinhin an die Wissenschaft herantritt, niederschlägt". — Und der gute Ree hat, als Antwort, in der liebenswürdigsten Weise bei meiner Schwester angefragt, ob es erlaubt sei, von Stibbe nach Sils-Maria überzusiedeln. Endlich: Freund Romundt, der sich in Leipzig habilitirt hat, kündigt mir an, daß sein nächstes W e r k „die Lehre Kants über G o t t , S e e l e und U n s t e r b l i c h k e i t wieder a u f b a u e " — es soll, wie man mir meldet, B i s m a r c k gewidmet werden — — ! In Paris ist eine Ausstellung f ü r Electricität: ich sollte eigentlich dort sein, als Ausstellungsgegenstand, viell(eicht) bin ich in diesem Punkte empfänglicher als irgend ein Mensch, zu mei^

Treulich und dankbar der Ihre F. N .

Antwort auf Köselitz' Brief vom ¡y. August 1881.III/2, Köselitz antwortet am 26. August 1881: III/2, S. 180.

S. 179.

141. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Sils-Maria, 2 1 . August 1 8 8 1 ) Meine liebe Schwester, der Schrecken darüber, daß meine Einsamkeit nicht heilig geachtet wird, hat mich 4 T a g e krank gemacht, es schien als ob alle guten Geister mich verlassen hätten und die ganze geistige Arbeit des Sommers verloren sei.

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B r i e f e v o n Nietzsche

N u n , ich werde mir die Sache schon zurecht legen, und jedenfalls soll Freund R(ee) um so besser behandelt werden. Schon jetzt habe ich Gesichtspunkte, nach denen mir eine Zusammenkunft — j e t z t mit ihm — sehr wichtig erscheint. — Darüber hatte ich ganz vergessen, D i r f ü r Deinen ersten Brief zu danken, der mich so erheitert hatte; mir fiel ein W o r t meiner Genueser Wirthin über die Frauen ein: „tutte le donne sono f u r b e " (Ungefähr: „alle Frauen sind Spitzbuben"). — H e r r Malling-Hansen in Kopenhagen, der Erfinder der berühmten Schreibmaschine, hat mir jetzt zweimal geschrieben — aber es ist eine Sache f ü r reiche Leute. Mit Transport wird es mindestens frs. 500 kosten. Die Maschine ist 8 Zoll lang, 6 P f u n d schwer und befindet sich in einem Mahagonikasten. D e r genaue Preis f ü r Maschine Kasten und „zur Versendung verpackt" (also noch ohne Transport) ist R . M . 3 7 5 . — Ich friere so: Strümpfe! Viel Strümpfe! Mit herzlichem Gruße und Dank. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth Nietzsches.

142. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Sils-Maria, 24. August 1 8 8 1 ) J a , meine liebe Mutter, hier oben, 6000 Fuß höher als G e n u a , w o die Schneeschmelze bis zum Juni sich hinzieht, und im Juli und August Schnee fällt, hat man Wünsche, die unten in der Ebene etwas verrückt klingen mögen. Ich sehe nach dem T h e r mometer im Zimmer: 8 G r a d Reaumur. Dabei s c h n e i d e n d e Winde, und das unbeständigste Wetter, welches auch den Engadinern unangenehm und n a c h t h e i l i g ist: leider (für mich q u a l v o l l ! ) sehr viele Gewitter. Schreib mir doch, was

141.-143.

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io f ü r verschiedene Wirkungen die Nietzsche's vom Gewitter gespürt haben. — Mit meiner Nahrung bin ich sehr zufrieden: Mittag ( 1 / 2 1 2 ) j e d e s M a l ein Fleisch, mit Maccaroni, M o r gens ( 1 / 2 7) ein rohes Eidotter Thee und Aniszwieback (ländlich-kräftig), Abends (1/2 7) 2 rohe Eidotter, ein Stück Polenta 15 (wie sie alle Hirten und Bauern essen), T h e e (zweiter A u f g u ß ) und Aniszwieback. In Genua lebe ich noch viel „volksthümlicher", gleich den dortigen Arbeitern. Alle Morgen um 5 kalte Gesammtabwaschung, täglich 5—7 Stunden Bewegung. V o n 7 — 9 Abends still im Dunklen sitzen (so auch in Genua, w o ich 20 ohne Ausnahme j e d e n Abend von 6 an zu Hause w a r : n i e Theater, Concert u.s.w. Ihr könnt Euch nicht denken, w i e sparsam, j a g e i z i g ich mit meinen g e i s t i g e n K r ä f t e n und meiner Zeit umzugehen habe, damit ein so leidendes und unvollkommenes Wesen doch noch r e i f e F r ü c h t e trage: 25 nehmt mir in Hinsicht auf diese s c h w e r e Art zu leben nichts übel, ich muß gegen mich selber täglich, stündlich h a r t sein. In Liebe Euer F.

143. An Heinrich Köselitz in Venedig Sils-Maria Ende August 1 8 8 1 . Aber das sind ja herrliche Neuigkeiten, mein lieber lieber Freund! V o r allem, daß Sie f e r t i g sind! Mir wird bei dem Gedanken dieses ersten großen Fertigwerdens Ihres Lebens 5 unsäglich wohl und feierlich zu Muthe, ich werde den 24. August 1 8 8 1 im Gedächtniß behalten! Wie es nur zugeht! Aber mich überkommt, sobald ich nur Ihres Werkes gedenke, ein G e f ü h l von Befriedigung und eine Art von Rührung, dergleichen ich in Bezug auf meine eignen „ W e r k e " nicht kenne. An 10 diesen ist etwas, das immer und immer meine Scham beleidigt:

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Briefe von Nietzsche

sie sind Abbilder eines leidenden unvollständigen, der n ö t i g sten O r g a n e kaum mächtigen Geschöpfes — ich selber als Ganzes komme mir so oft wie der Krikelkrakel vor, den eine unbekannte Macht über's Papier zieht, um eine n e u e F e d e r zu probiren. (Unser Schmeitzner hat ganz gut verstanden, mich an diesem Punkt empfindlich zu berühren, indem er in jedem seiner letzten Briefe betonte, daß „meine Leser keine Aphorismen mehr von mir lesen wollten".) Nun, Sie, lieber Freund, sollen kein solcher Aphorismus-mensch sein, Ihr Ziel geht in's Höhere, Sie haben nicht nur, wie ich, den Zusammenhang und das B e d ü r f n i ß des Zusammenhanges a h n e n zu lassen — I h r e Aufgabe ist es, in Ihrer Kunst die höheren Stilgesetze wieder offenbar zu machen, deren Beseitigung die S c h w ä c h e der neueren Künstler fast zum Princip erhoben hat: Ihre Aufgabe ist es, Ihre Kunst wieder einmal f e r t i g zu zeigen! D a s fühle ich, wenn ich an Sie denke, und ich genieße in dieser Aussicht ein Vollendetwerden meiner eignen Natur wie im Bilde. Diesen Genuß haben S i e mir bisher allein gegeben, und erst seitdem ich Ihre Musik kenne, steht es s o zwischen uns. U n d dann die zweite Neuigkeit: daß Wien nach Venedig und der Berg zu Muhammed kommt! Welche Unruhe nimmt dies von mir! Ich sehe jetzt den G a n g der Dinge, Ihre erste festliche Einführung — ich vermuthe, Sie werden, unmittelbar in dem Erfolge, den Muth haben, Ihren aesthetischen n e u e n W i l l e n durch ein Paar beredte Schriftstücke der Welt kund zu thun und damit über die einzig zulässige Interpretation Ihres Werkes die Verwirrung beseitigen. Bekennen Sie sich ungescheut zu den h ö c h s t e n Absichten! Menschen wie Sie müssen ihre Worte v o r a n w e r f e n und sie durch ihre Thaten e i n z u h o l e n wissen (selbst ich habe mir bisher erlaubt nach dieser Praxis zu leben) Benutzen Sie alle Freiheiten, die man dem Künstler allein noch zugesteht und bedenken Sie wohl: unsre Aufgabe ist unter allen Umständen anzutreiben, „dorthin" zu t r e i b e n — gleichgültig beinahe, ob wir selber dorthin gelan-

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45 gen! (Die exhortatio indirecta finde ich zum Erstaunen oft in meinem letzten Buche z. B. in dem Abschnitte § 542 „der Philosoph und das Alter" — die direkte Ermahnung und Anreizung hat dagegen etwas so Altkluges.) So viel für heute — es ist gar nicht nöthig, hierauf zu ant50 worten, lieber Freund. Wenn wir uns einmal wieder sehen, spielen Sie mir Ihre Musik als Antwort (sie ist mir in diesen Monaten recht in's Herz gesickert, und, aufrichtig! — ich weiß jetzt nichts, was ich l i e b e r hören möchte —) Es war mir eine rechte Freude, die Handschrift meines alten 55 braven G e r s d o r f f wiederzuerkennen (leider in etwas zu blasser Tinte) und zwar von einem Interesse Zeugniß ablegend, welches annoch selten ist und das ihn mir recht in der Nähe m e i n e r Befürfnisse und Freuden zeigt. Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner als eines durch 60 Ihren letzten Brief Hochbeglückten. Ihr Freund Nietzsche. Antwort auf Köselitz' Brief vom 26. August 1881: III/2, S. /So. Köselitz antwortet am 8. September 1881: III/2, S. I8J.

144. An Paul Ree in Stibbe Sils-Maria Ende August 1881 Mein lieber lieber Freund, nur zweimal habe ich bis jetzt dem schönsten Schauspiele etwas zusehen dürfen — wie eine selbsteigne intellektuelle Natur sich plötzlich entfaltet, bei Ihnen und 5 bei unserm Freunde Köselitz. Letzterer hat, nach einer wunderbaren tiefen Umwandlung seines „Geschmacks", neuerdings ein Werk geschaffen, welches eine helle Heiterkeit und Höhe zeigt, daß ich darin wie in einem besseren Wasser schwimmen muß und im Schwimmen auf dieser neuen Fluth vor Vergnügen

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Briefe von Nietzsche

jauchze: — es ist seine komische Oper „Scherz List und Rache". U n d wenn er immer wieder mir zu verstehen giebt, daß meine Philosophie und Denkweise ihm zu dieser Umwandlung verholfen habe und daß diese hier in Tönen zu erklingen beginne, so bin ich sowohl als alter verunglückter Musikus und ebenso als neuer unmöglicher unvollständiger aphoristischer Philosophus allzu hoch geehrt, um mich nicht auch beschämt zu fühlen. Und dieses selbe Jahr, das jenes Werk an's Licht brachte, soll nun auch das Andre Werk an's Licht bringen, an dem ich im Bilde des Zusammenhanges und der goldnen Kette meine arme stückweise Philosophie vergessen darf! Welches herrliche J a h r 18 81! Ich empfinde gegen Sie, mein lieber Freund und Vollender, ein ganz unbegrenztes Wohlgefühl und möchte, was ich Ihnen vielleicht schon zehnmal sagte, eine eigne S o n n e schaffen können, die über Ihnen und dem Wachsthum Ihres Gartens allein zu scheinen hätte. Wie sollte ich es auch aushalten, ohne von Zeit zu Zeit meine eigne N a t u r gleichsam in einem gereinigten Metalle und in einer erhöhteren Form zu sehen — ich, der ich selber Bruchstück und wandelndes Elend bin und durch seltne, selt(e)n „gute Minuten" in das b e s s r e L a n d hinausschaue, in dem die ganzen und vollständigen Naturen wandeln. Es jammert mich immer zu hören, daß Sie leiden, daß Ihnen irgend etwas fehlt, daß Sie jemanden verloren haben: während bei mir Leiden und Entbehrung z u r S a c h e gehören und nicht wie bei Ihnen zum Unnöthigen und zur Unvernunft des Daseins. N u n gleich etwas von dieser Unvernunft! Lieber Freund, wenn Sie jetzt reisen wollen, so thun Sie es ja nicht im Hinblick (auf) eine Z u s a m m e n k u n f t m i t m i r (die doch nur sehr kurz sein dürfte, nach allen neuern Erfahrungen!) sondern um Ihrer Gesundheit und der Gesundheit Ihrer verehrten Frau Mutter Willen! Sollte aber das E n g a d i n nicht in letzterer Hinsicht u n g e e i g n e t sein? Es ist kalt und windig hierselbst, wir hatten

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A u g u s t — S e p t e m b e r 1881

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letzthin sogar einen vollen Schnee-Wintertag. Den i6. Sept. 45 reise ich nach Genua zurück, ich muß um diese Zeit dort sein, und will in den nächsten Jahren überhaupt nur zwischen Genua und Sils-Maria hin- und herreisen. (Ich vertrage Reisen nicht, habe kein Geld zu Ortswechsel und dergleichen und bedarf der u n b e d i n g t e n E i n s a m k e i t nicht als einer Liebhaberei, 50 sondern als der Bedingung, mit der ich v i e l l e i c h t das Leben noch ein paar Jahre aushalte (— es geht nämlich, im Vertrauen gesagt, sehr elend). So habe ich mich denn entschlossen, auf das W i e d e r s e h e n mit Ihnen zu verzichten und Ihnen dringend ans Herz (zu) legen, für die eigne Wohlfahrt und die der näch55 sten und zugehörigsten Seele bei dem Entwürfe des Reiseplanes zu sorgen. Ach, mein lieber Freund Rèe, bleiben wir z u s a m men auf den Höhen tapferer Gesinnung, hellen Schauens, fliegen wir miteinander durch Vergangnes und Zukünftiges und seien wir, im Wohlgefühle d i e s e r Gemeinsamkeit, nicht dem 60 Schicksale zu gram, wenn es uns von einander hält — wie es jetzt wieder zu thun scheint! — In herzlicher Liebe und Treue Ihr Freund Nietzsche Antwort

14An

auf einen nicht überlieferten Brief Paul Rées.

Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Sils-Maria, 2. September 1881)

Den schönsten Dank, meine Guten Lieben — aber das w a r mein Geburtstagspaket! Da Ihr mir schriebt, eins schicken zu wollen, hatte ich Euch ja d a r a u f h i n meinen Wunschzettel 5 geschickt. Alles ist recht und zum Theil schon im Gebrauch und

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Briefe von Nietzsche

im Verbrauch. N u n noch c. 3 Wochen, dann ist es wieder hier vorbei, am 26 t e n d. M. Abreise nach Genua. Das Wetter w a r in summa die ärgste Enttäuschung, die das Engadin mir machen konnte — und mir ä u ß e r s t nachtheilig. Seit der letzten Karte war mein Zustand mir besorgnißerregend, der K o p f s c h m e r z p e r m a n e n t , alle Speisen unmöglich. Draußen tiefer SchneeWinter, oder Stürme, Gewitter, Regentage, alles wild durcheinander. Jetzt versuche ich eine Milchkur (der gute Rath des guten Lama kam genau zur Stunde, als ich das Milchtrinken anfieng) R è e schrieb, er und seine Mutter würden „in einigen W o c h e n " reisefertig sein — aufrichtig, ich bin wenig zum Besuchempfangen mit meiner Gesundheit eingerichtet. Sonst — meine „ G e d a n k e n " würden j e t z t nicht mehr gestört werden! — ich habe gar keine mehr! Es ist Verfall. — Neulich fiel mir Frau Pastor Harseim ein, ich habe ihr als Knabe eine „ h e r o i s c h e Handlungsweise" zugetraut, sie war die erste Frau dieser Gattung, die ich kennen lernte. Ich freue mich über i h r e Freude. — Schreibt mir Gutes und Beruhigendes über Gesundheit — es ist genug, daß Einer von uns Sorge macht! In Liebe F.

146. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte) (Sils-Maria, 5. September 1 8 8 1 ) Lieber Freund, und armer Freund! — Denn ich denke mit Beschämung an die Zudringlichkeit meiner Nothstände ! — wir wollen die Geldsendung in den October verschieben. Ein r e k o m m a n d i r t e r Brief, G e n o v a poste restante, doch o h n e Angabe, was darin ist, kommt schon in meine Hände. Was die Handwerkerbank und überhaupt jede Anlegung des Geldes in B a s e l betrifft, so wäre mir die Nennung meines Namens dabei unerwünscht. Falls mein N a m e aber nothwendig ist, so würde ich einer Züricher Anlage den V o r z u g geben.

145.- 147.

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Ich habe schlimme Zustände durchgemacht, es trat, unter der Einwirkung des geradezu bösartigen und tollen Wetters, eine allgemeine decadence ein. Die H o f f n u n g auf das Engadin ist diesmal zu Schanden geworden, doch wäre es anderswo mir 15 nicht besser ergangen, mindestens in diesem aufgeregten Europa, das vor Neuerungssucht selbst die Jahreszeiten durcheinanderwirft. Hier hatten wir tiefen Schneewinter, Herbststürme und Sommergewitter und Märzthautage wild durcheinander. 20 Dein dankbar gesinnter Freund F.N. Antwort

auf einen nicht überlieferten Brief Franz

Overbecks.

14J. An Ida Overbeck in Zürich (Postkarte) (Sils-Maria, 5. September 1 8 8 1 ) Liebe Frau Professor, wenn ich mich heute an S i e mit einer Bitte wende, so wird es wohl wie schlechtes Gewissen aussehen — da ich mir bewußt bin, Ihrer verehrten Frau Mutter sowohl 5 wie meinem Freunde schon gar zu viel N o t h mit meinen Bitten gemacht zu haben! Ich möchte von Ihnen Auskunft über ein gelehrtes Kochgeräth, den sogenannten Papinianischen Topf (auch Digestor Papinianus, den Physiologen gut bekannt) Giebt es solche in Zürich? Und zu welchem Preise? 10 Ein kleines Format vorausgesetzt (etwa um ein halbes bis ganzes P f u n d Fleisch darin zu kochen) Oder finden Sie die l u f t d i c h t z u s c h l i e ß e n d e n Umbach'schen Bouillontöpfe vorrätig? Im Falle Sie etwas Derartiges entdecken, was sich f ü r meine 15 Genueser Küche eignen möchte und auch seinem Preise nach

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Briefe von Nietzsche

im Verhältniß zu mir steht, so senden Sie es mir noch in das Engadin. Und Sie werden doch mir deshalb nicht böse sein? Herzlich Ihnen zugethan und dankbar gesinnt FN

148. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte) (Sils-Maria, 6. September 1881) V e r s c h e n aus d e r B a u m a n n s h ö h l e . Die Weisheit spricht: da wo Gedanken fehlen, Da stellt der T h e e zur rechten Zeit sie ein, Ein Gott noch unbekannt den Griechenseelen, „Maschinentheos": — laßt uns w e i s e sein! (So sprach einst der eine Höhlenbär zum anderen, als er von ihm das Theetrinken lernte.)

149. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte) (Sils-Maria, 18. September 1881) Danke Deiner lieben Frau für ihre ebenso gütige als exakte Auskunft. Nein, ein solcher Topf paßt n i c h t für meinen Haushalt: welcher flüchtig und transportabel sein muß, wie ich selber (ebenso wenig als die erwähnte Schreibmaschine) Die Zeitschriften laß! Die gesuchten Aufsätze stehen in Liebmann's „Analysis" auch. Ceterum, missis his jocis, dicam quod tacere velim, sed non jam tacere possum. Sum in puncto d e s p e r a t i o nis. Dolor vincit vitam voluntatemque. O quos menses, qualem aestatem habui! T o t expertus sum corporis cruciatus, quot in caelo vidi mutationes. In omni nube est aliquid fulminis instar,

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quod manibus me tangat subitis infelicemque penitus pessumdet. Quinquies mortem invocavi medicum, atque hesternum diem ultimum speravi f o r e — frustra speravi. Ubi est terrarum illud sempiternae serenitatis caelum, illud m e u m caelum? V a l e amice. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Ida Overbecks.

ifo. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte) (Sils-Maria, 20. September 1 8 8 1 ) Lieber Freund, das Geld ist auch eingetroffen, insgleichen die delikaten B a c k w e r k e , f ü r welche ich der verehrten Senderin den herzlichsten D a n k auszudrücken bitte. In einer W o c h e reise ich ab. Die Abhandl(ung) von Fick ist mir jetzt nicht mehr nöthig. Bitte, habe die G ü t e , meine mannichfaltigen A u s g a b e n , zu denen meine leiblichen und geistigen Bedürfnisse in diesem S o m m e r Anlaß gegeben haben, bei D i r und den Deinen im H a u s e Falkenstein in O r d n u n g zu bringen! Es ist ja bald wieder Geld f ü r mich in Deinen H ä n d e n , das dazu dienlich ist. — H a s t D u vielleicht an Köselitz den 2ten Band des „grünen H e i n r i c h " geschickt? — D e n k e Dir, daß Freund R o h d e Buch und B r i e f , v o r 3 Monaten ihm zugesandt, unbeantwortet gelassen hat! W a s mag d e n wieder quälen! — M a n muß sich die Geduld zum A u s h a l t e n in Pfennigen zusammenbetteln. V e r traue mir, ich habe noch G r ü n d e auszuhalten. — Dein Freund.

i f i . An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Sils-Maria, 2 1 . September 18 81) Mein liebes L a m a , es ist nicht leicht möglich, mir mit einem Geschenk mehr V e r g n ü g e n zu machen als D u mir mit den

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B r i e f e v o n Nietzsche

Büchlein's gemacht hast; so oft ich sie gebrauche, werde ich dankbar Deiner gedenken, ebenso oft als ich bisher mich geärgert habe, daß ich in diesem Punkte wie der erste beste Schulknabe fürlieb nehmen mußte. (Sonst schwimmt nämlich ein nur einigermaßen geachteter Autor oder Künstler in einem Luxus von Geschenken, die sein H a n d w e r k s z e u g betreffen — und es ist der beste Beweis dafür, daß ich vollkommen o h n e A n e r k e n n u n g meinen Weg gehe (seit ich mir die „Parteien" der -ianer vom Halse geschafft habe) wenn ich constatire, daß nach i o J a h r e n Thätigkeit ich wie ein Anfänger mit dem geringsten Zeuge arbeite, das gar nichts mit meinen Gedanken zu thun hat. Es vermehrt meinen Stolz, daß ich diese s c h ö n e n und s i n n r e i c h geschmückten Büchlein meiner F a m i l i e und nicht irgendwelchen „Verehrern" verdanke.) Bleistift Nr. 2 ist recht, aber fürderhin wollen wir Faber abdanken. Romundts Buch, recht ausgequollen persönlich, scheint mir s e h r erquicklich und für ihn hoher Ehren werth; ich kenne etwas die inneren Widerstände, die er zu überwinden hatte; wie blutig-schwer ist jeder Schritt der Selbständigkeit! — Mit der herzlichsten Dankbarkeit Dein Bruder. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth Nietzsches.

152. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Sils-Maria, 2 1 . September 1881) Meine liebe Mutter, gestern hatte ich den besten T a g dieses Jahres — es war ein vollkommner September, Geist und Leib bei mir frei, Mittags kamen die Geschenke, und den ganzen Nachmittag lief ich mit glücklichen und dankbaren Gefühlen an den blauen Seen herum. Die Strümpfe sind ein wahrer Schatz, ich sehe mich schon wieder die langen stillen Abende mit dop-

151.-153.

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pelten Strümpfen in der Kälte sitzen. Die Uhr werde ich jetzt um der Uhrkette willen noch weniger gern verlieren, ich denke beide so lange als möglich zu tragen. Die Handschuhe kommen sehr erwünscht, ein klein wenig allerdings post festum, denn ich habe schon ein erfrornes Fingerchen. Nun, der Genueser Winter ist noch in Aussicht, vielleicht wird er härter. In Betreff der Hallischen Pfefferkuchen bin ich alles Lobes voll, es ist mein „Leib"-confekt, das mir immer gut thut — und es freut mich, wie ich schon einmal schrieb, daß Ihr in Naumburg doch wenigstens e t w a s habt, das b i l l i g ist. Dienstag geht es fort nach Genua, leider sehr unbequem, mit Nachtreisen und Nachtankunft (fast 3 Tage unterwegs!) Dann kommt die Noth, Wohnung zu finden: ach, diese nächsten Wochen sind eine große Aufregung, und ich werde wohl viel krank sein! Adresse wieder: Genova (Italia) poste restante. Der Name N i e t z s c h e unterstrichen, N s e h r d e u t l i c h .

/jj. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Sils-Maria, 22. September 1881) Hier die letzte Karte aus dem Engadin, von jetzt ab heißt es wieder: Genova poste restante. Gefährliche Zeiten waren es, der T o d schaute mir über die Achsel, ich habe den ganzen Sommer über fürchterlich gelitten: wohin soll ich mich wenden! Daß ein Himmel mit monatelanger Reinheit eine L e b e n s b e d i n g u n g für mich geworden ist, sehe ich nun ein: lange vermag ich diesem ewigen Wechseln, diesem Wolken-aufziehen nicht mehr Stand zu halten! Und welche Energie der Geduld verbrauche ich nutzlos im Kampfe mit dem unvernünftigen Element! Denken Sie, ich habe in summa hier oben 10 erträgliche Tage gehabt, und die schlimmen Tage brachten Zustände so gräßlich als ich sie in Basel erlebt habe. — Der größere Theil derer, welchen ich mein Buch geschickt habe, hat, in 3 Monaten, nicht einmal ein Wort des Dankes für mich gehabt. Nun,

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B r i e f e von Nietzsche

das kann mich stolz machen: ach, Freund, ich b r a u c h e noch etwas Leben, denn ich habe noch etwas damit anzufangen! Mögen die Menschen mir keine Freude machen: so will ich mir selber Freude machen! Aber I h r e M u s i k muß mich umtönen, das wird mir n ö t h i g , merke ich jetzt. Treulich F.N. Heinrich Köselitz antwortet am 28. September 1881:

III/2, S, 185.

154. An Hermann Pachnicke in Berlin (Postkarte) (Sils-Maria, 24. September 1881) Mein lieber Herr Pachnicke, Ihre Anhänglichkeit thut mir wohl, und fast scheint es mir als wenn, mit der Zeit, sich daraus auch irgend eine A n ä h n l i c h u n g ergeben müßte. Erwägen Sie recht innerlich, was ich in der „Morgenröthe" gesagt habe — deren Aushängebogen ein Geschenk für Sie sein sollen. In philologicis wenden Sie sich ja an meinen Freund, Professor Dr. Rohde an der Universität Tübingen — ich selber lebe ferne und ohne Bücher und k a n n keine Briefe schreiben. Muth und eine hohe Gesinnung Ihnen wünschend der Ihrige F.N. (Genova (Italia) poste restante. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Hermann Pachnickes.

i A n Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 4. Oktober 1881) Meine Lieben, so bin ich wieder im alten Genua eingerichtet, mitten im Gäßchengewühl und recht im Gegensatz zu der Ele-

153. - 156.

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ganz der Kranken in N i z z a . (Inzwischen hat mich Vieles f ü r N i z z a bereden wollen, ich widerstrebe) Müde und wie betäubt bin ich hier angekommen, mein Zustand war u n b e s c h r e i b l i c h geworden, und die Reise selber w a r nur durch einen Krampf von Energie möglich. Fast fürchte ich, mir einzugestehn, daß R e c o a r o und Engadin endgültige W i d e r l e g u n g e n meiner Bergaufenthalte sind (wegen der größeren N ä h e der W o l k e n ) Daß D r . Ree mich h i e r besuchen wird, ist sehr f e i n und praktisch f ü r mich ausgedacht. — Es ist mir ein Paar Mal gelungen durch meine medizinischen Künste einen entschiedenen Anfall aufzuhalten — zu meinem großen Erstaunen! — Die Notizbücher sind h e r r l i c h , aber — es steht noch nichts drin. G e n o v a poste rest(ante) Antwort auf nicht überlieferte Briefe von Franziska und Elisabeth Nietzsche.

i}6. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 4. Oktober 1 8 8 1 ) Drei Worte, lieber Freund, die ersten wieder aus Genua! Und wieder waren Sie es, der mich hier zuerst begrüßte — Sie glauben nicht, wie empfänglich ich f ü r solche Zeichen der Seele bin. — Ich bin gereist fast mit der Energie eines Tollen, denn der Wechsel meiner Zustände und die Quälerei, an der meine halbe Blindheit auf Reisen schuld ist, überstiegen alles Maaß, und mit „ G e d u l d " w a r nichts mehr auszurichten. Bleiben Sie bei Ihrem Matrim(onio) segr(eto)-Projekt! E s g i e b t n o c h k e i n e O p e r , bei der einem Nordländer völlig südländisch zu Muthe wird, — das bleibt I h n e n aufgespart! Treulich Ihr F . N . Antwort auf Köselitz'Brief vom 28. September 1881: IIH2, S. 18}. Köselitz antwortet am 14. Oktober 1881: III/2, S. 187.

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Briefe von Nietzsche

An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg karte)

(Post-

(Genua, 8. Oktober 1881) Meine Guten Lieben! So schwer es mir wird, es mir einzugestehn — ich k a n n nur noch am Meere leben. Das M a r t y r i u m vom i Mai bis i Oktober war gräßlich und barg alle und die schlimmsten Gefahren für mich in seinem Schooße. Auch hier leide ich viel, wie Ihr wißt, aber es ist doch m e n s c h e n m ö g l i c h , damit zu l e b e n , während im Engadin, in Marienbad, in Naumburg und Basel mir das Leben zur Thierquälerei wurde. — Freund Ree soll mir einen g r o ß e n Gefallen thun, nämlich die gebundenen 2 Bände meiner eignen Schriften, die Ihr in Naumburg habt (gut im Carton verpackt, mit Seidenpapier) mitbringen. Ich brauche sie — und überdieß machen sie mir Vergnügen. Wenn ich sie nicht lese, wer liest sie! — In herzlicher Liebe (bei Scirrocco)

Euer F.

i}8. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Genua, 14. Oktober 1881) Nun, alter lieber Freund, so habe ich wieder meine Stadt Genua, die unmodernste, die ich kenne und die zugleich von Lebenskraft strotzt — so etwas ganz und gar U n romantisches und doch höchst Ungemeines: so will ich denn weiter leben in der Obhut meiner h i e s i g e n Schutzheiligen Columbus Paganini und Mazzini, die z u s a m m e n sehr gut ihre Stadt vertreten. Von Dir und von Deiner verehrten Schwiegermutter erhielt ich die e i n z i g e n Ermuthigungen im Engadin — ich habe einen fürchterlichen Wechsel von Zuständen durchgemacht, und meine Abreise und Reise wurde nur durch eine gewisse Tollheit von Energie möglich. F.N.

157.- 160.

Oktober 1881

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/J5>. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 21. Oktober 1881) Ich schreibe im Café, mein Zimmer hat nicht Licht genug zum Lesen und Schreiben (aber am 2jten d. M. wechsele ich — die d r i t t e Wohnung wieder!) Ach, meine Lieben, es ging und geht nicht gut! Ich mag gar keine Einzelheiten melden. Es ist ein fortwährender K a m p f , T a g für Tag. Möchten Eure guten Wünsche endlich einmal „einschlagen"! Inzwischen heißt es: tapfer sein! — Wir haben eigentlich Winter, eisige Regen mit Sturm, mir graut vor dem, was kommt, vielleicht ein harter Winter — und ich wieder ohne Ofen. Aber die giebt es hier nicht. Der fürchterliche Aufenthalt im Engadin hat mich vorbereitet. — Denkt, daß zu den Ubelständen d i e s e s Monates gehörte, Abends von 8 — 1 2 a u ß e r m e i n e m Z i m m e r zu sein (in Folge einer schrecklichen Musik nebenan) Genug, es bedarf wieder der Geduld. Habt auch mit mir Geduld! In Liebe und Dankbarkeit.

160. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Genua, 21. Oktober 1881) Eisige Regen, heftige Winde, kurz Winter, es ist hart und läßt Schlimmes fürchten. J. Burckhardt hat R e c h t , aber mir dem Fast-Blinden sind j e t z t alle neuen V e r s u c h e mit Städten und alle Reisen überhaupt unausstehliche M a r t e r n geworden; d i e s e Stadt (auch diese Bevölkerung) sagt meinem Charakter zu und hält mich in der Tapferkeit und im Streben fest. Ach, Freund, wie gieng es inzwischen! J e d e r Tag ein K a m p f — die Summe von Energie, Geduld, Besinnung und Erfindung, die täglich von mir verbraucht wird, ist wahrlich nicht gering, aber da Niemand darum näher weiß, wird sie mir einmal auch Nie-

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B r i e f e v o n Nietzsche

mand anrechnen — und zuletzt nennt man gar mein Leben ein müßiggängerisches. — Lege das Geld doch auf 6 monatl. Kündigung an. — Ich denke Deiner und der Deinigen in herzlicher 15 und steter Dankbarkeit, lieber guter Freund! F.N. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief

Overbecks.

161. An Erwin Rohde in Tübingen (Postkarte) (Genua, 2 1 . Oktober 1 8 8 1 ) Lieber alter Freund, da Du mir inzwischen nicht geschrieben hast, so nehme ich an, daß es irgendwelche Schwierigkeiten dabei für Dich giebt. Deshalb spreche ich heute die herzlich 5 gemeinte B i t t e und dies ohne alle für Dich peinlichen Hintergedanken aus: schreibe mir jetzt nicht! Es verändert sich damit gar nichts zwischen uns, aber unerträglich ist mir die Empfindung, anscheinend durch die Zusendung eines Buches auf einen Freund eine Art Z w a n g ausgeübt zu haben. Was liegt an 10 einem Buche! Ich habe noch Wichtigeres zu thun — und ohne dies wüßte ich nicht, wozu leben. Denn es geht mir hart, ich leide v i e l . In Liebe Dein F. N .

162. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 27. Oktober 1 8 8 1 ) Es war eine f ü r c h t e r l i c h e Zeit für mich, und ich hatte meine Genueser Kühnheit nöthig, um durchzukommen. Ich führe täglich einen K a m p f durch, von dem Niemand einen Begriff hat,

160.- 163.

Oktober 1881

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5 die Anfälle meiner Schmerzen sind so mannichfaltig und verlangen von mir so viel, viel Energie, Geduld, Nachdenken und E r f i n d u n g — ja es ist fast lächerlich: Erfindung! Ihr B r i e f w a r wieder das Beste, was die letzten Wochen mir vom Dasein zeigten — ich w a r glücklich, Sie wieder mir IO s c h a f f e n d denken zu dürfen, und noch mehr erquickte es mich zu hören, daß Sie Ihrem Leben einen großartigen langen P l a n einzuverleiben gedenken — mit dieser Ihrer P r a x i s errathen Sie beinahe die Ausschweifungen meiner neuesten Theorien. 15 In treuer Neigung Ihr Freund F.N. Antwort auf Köselitz'Brief vom 14. Oktober 1881: III/2, S. 187. Köselitz antwortet am 1. November 1881: III/2, S. 189.

163. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Genua, 28. Oktober 1 8 8 1 ) Willst D u mir, lieber Freund, folgendes Buch unter Kreuzband senden lassen (durch Deinen Leipziger Buchhändler, mit dem D u es vielleicht vereinbarst, daß ich d i r e k t mit meinen 5 Bücheraufträgen mich an ihn wenden kann, und daß die Z a h lung jährlich zugleich mit Deinen eigenen Zahlungen erfolgt?) Foissac, Meteorologie, Deutsch von Emsmann. Leipzig 1859. (Es ist von wegen der fürchterlichen Einflüsse der atmosphä10 rischen Elektrizität auf mich — sie werden mich noch auf der Erde herumtreiben, es m u ß bessere Bedingungen des Lebens f ü r meine N a t u r geben. Z . B. in den Hochebenen Mexicos, auf der Seite des stillen Ozeans (schweizerische Colonie „ N e u Bern"). Sehr, sehr, sehr gequält, T a g um T a g . 15 Dein Fr.

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Briefe von Nietzsche

164. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 29. O k t o b e r 1 8 8 1 ) D a s waren wieder s c h r e c k l i c h e Zeiten! J e d e r T a g ein Elend und ein K a m p f ! D a s unglaublichste Wetter! Ich bildete mir ein, hier m i l d e r f o r t z u k o m m e n als im Engadiner S o m m e r — aber die Schmerzen sind dieselben. — Seit gestern habe ich die neue W o h n u n g , welche mir schöne R u h e zu geben erscheint. Es ist gut, daß Freund R è e mich nicht in den letzten W o c h e n hier gesehn hat — ich w a r auf die tiefste Stufe meiner Ansprüche herabgestiegen. J e t z t kann ich mich schon „sehen lassen" — es hat mich viel N a c h d e n k e n gekostet, d i e s H a u s zu finden. Adresse: G e n o v a , salita delle Battistine 8 (interno 6), aber nur f ü r R è e und n i c h t f ü r Briefe. In Liebe E u e r Philoktet.

i6y An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 6. N o v e m b e r 1 8 8 1 ) Ich erhebe mich eben von der letzten N i e d e r l a g e . A b e r lassen w i r die Gesundheit (und ogni speranza)! Ich bin hier in G e n u a so reich, so stolz, so g a n z principe D o r i a und verlange nach nichts als nach Ihnen, lieber Freund — ich biete Ihnen alle Güter dieser m e i n e r Welt, um Sie, vielleicht f ü r einen M o n a t , nach G e n u a zu locken, Sie sammt Ihrer neuen und alten Musik! Ich w a r — in allem Ernste gesagt I h r e t w e g e n — im T h e a t e r und hörte Rossini's Semiramide und Bellini's Giulietta e R o m e o (dies 4 mal). Dieser M o n a t ist hier s e h r s c h ö n ; ich sitze Abends in einem Weingarten, mit M e e r , Bergen und Villen unter mir, ja ich nehme ein M e e r b a d , in meiner Grotte der Morgenröthe. Wenn die Lotterie uns günstig ist, kommen Sie? Ein Rundreise-

164. - 167.

O k t o b e r - N o v e m b e r 1881

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i5 billet für 40 Tage kostet 44 lire (ein Zimmer für 15 — 20) und sonst alles sehr billig. Ihr Freund N. Antwort auf Köselitz' Brief vom 1. November 1881: III/2, S. 189. Köselitz antwortet am 8. November 1881: III/2, S. 192.

166. An Paul Rèe in Naumburg (Postkarte) (Genua, 6. November 1881) Mein lieber Freund, eben giebt mir ein Brief meiner Schwester ein Bild von Ihnen, genug und zuviel für meine Ungeduld und mein — Tage-Abzählen: — ich meinte, der A n f a n g des 5 November werde uns zusammenbringen! Halten Sie ja an dem Wiedersehen in G e n u a fest — dieser Ort gehört zu m i r , ich will Ihnen denselben schon präsentiren und repräsentiren, ganz als principe Doria, wenn Sie wollen. — Heute nur eine Bitte: bringen Sie mir zwei Chemiealien mit, welche ich hier nicht 10 aufzufinden weiß 1) Magnesia phosphorica 2) Kali phosphoricum; von Jedem 50 Gramm, in Pulver und Jedes wohlverschlossen in Glas (wegen der leichten Löslichkeit). Wollen Sie so gut sein? Von Herzen Ihr Freund Nietzsche. Paul Rèe antwortet um den 2$. November 1881 : III/2, S. 196.

167. An Franz Overbeck in Basel (Genua, 14. November 1881.) Mein lieber Freund, was ist dies unser Leben? Ein Kahn, der im Meere schwimmt, von dem man nur dies mit Sicherheit weiß, daß er eines Tages umschlagen wird. Da sind wir nun zwei alte

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Briefe von Nietzsche

5 gute Kähne, die sich treulich Nachbarschaft gehalten haben, und namentlich hat Deine Hand redlich dabei geholfen, mich vor dem „Umschlagen" zu behüten! So wollen wir denn unsere Fahrt fortsetzen und einer um des Andern Willen r e c h t l a n g e ! recht lange! — wir würden uns so vermissen! Einiger10 maßen glatte See und gute Winde und vor allem Sonne — was ich mir wünsche, wünsche ich auch Dir; und traurig, daß meine Dankbarkeit sich eben nur in einem solchen W u n s c h e äußern kann und daß sie gar nichts über Wind und Wetter vermag! Foissac ist eingetroffen, schnell und billig von Deinem Buch15 händler besorgt: diese medizinische Meteorologie, obschon von der Academie gekrönt, ist aber leider eine Wissenschaft in der Kindheit und für meine persönliche Noth eben nur ein Dutzend Fragezeichen mehr. Vielleicht weiß man j e t z t mehr — ich hätte in Paris bei der Elektrizitäts-Ausstellung sein sollen, theils 20 um das Neueste zu lernen, theils als Gegenstand der Ausstellung: denn als Witterer von elektrischen Veränderungen und sogenannter Wetter-Prophet nehme ich es mit den A f f e n auf und bin wahrscheinlich eine „Spezialität". Kann H a g e n b a c h vielleicht sagen, durch welche Kleidung (oder Ketten, Ringe 25 u.s.w.) man sich am besten gegen diese allzustarken Einflüsse schützt? Ich kann mich doch nicht immer in einer seidenen Hängematte aufhängen! Besser, sich ganz aufzuhängen! Und sehr radikal! Wann ist der Gotthardtunnel fertig? Wann soll er befahren 30 werden? Er soll mich zu Dir und zu den Ärzten (Augen- und Zahnärzte einbegriffen) bringen; ich habe eine l a n g e C o n s u l t a t i o n in's Auge gefaßt. (Dieser Tunnel ist den Genuesen vor die Thür gebaut, sie sind äußerst dankbar, ja, sie sind gegen j e d e n Schweizer jetzt dessenthalben a r t i g . ) 35 Meine Augen versagen immer mehr — die außerordentliche Schmerzhaftigkeit nach k ü r z e s t e m Gebrauche hält mich geradezu von der Wissenschaft e n t f e r n t (ganz abgesehn von der großen Schwachsichtigkeit.) Seit wie lange habe ich nicht

167.- 168.

November 1881

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l e s e n können!! Romundt's Buch habe ich n i c h t gelesen — 40 nach einem musternden Blicke aber glaube ich, es ist Schleicherei auf verbotenen, uns v e r b o t e n e n Wegen — das m a g ich nicht! — Paesiello's Meisterwerk ist das matrimonio segreto: da kam Cimarosa und componirte denselben Text noch einmal, und 45 siehe! es wurde auch sein Meisterwerk. Und nun kommt Köselitz und — das ist das Neueste — er hat es zum dritten Male componirt und ist im Wesentlichen fertig damit. Der Text verdient es — das Wagniß und die Kühnheit des Gedankens hat mir zu denken gegeben. So wie ich K(öselitz) kenne, f r e u e ich 50 mich dieses Charakterzugs: Uberhebung und Dreistigkeit sind ihm sehr fremd. — — Die „Nacht o holde" hat auf Dich vielleicht etwas anders gewirkt als auf mich, nach Deinen Worten zu schließen — und so ist es natürlich. Genug, es war beide Male ein Eindruck, der zu Ehren des Componisten auslief. — 55 Mit der Bitte, mich Deiner lieben Frau des Herzlichsten zu empfehlen verbleibe ich Dein Freund Friedr. Nietzsche. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief

Overbecks.

168. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 18. November 1881) Lieber Freund, vielleicht bringt gerade das Interesse Ihres Schaffens eine zeitweilige Nöthigung der Ruhe oder der energischen Abziehung mit sich: ich weiß das nicht — aber kom5 men Sie, wenn Sie m ü s s e n , angemeldet oder unangemeldet: I h r e r bin ich immer gewärtig! Vom „Gelde" sage ich nur so viel: ich e r s p a r e i m m e r e t w a s : warum soll ich dies nicht für den gegebenen Fall eines Besuchs auf I h r e Z u k u n f t a n l e g e n , statt auf die des Hrn. Schmeitzner? Was ist siche10 r e r ? Sagen Sie selber! (— Ich rede recht g e n u e s i s c h ! —)

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Briefe von Nietzsche

Freund, ein großer Fund für Sie! Ich hörte zweimal eine ganz junge Sängerin als Somnambula: Emma Nevada. Zweimal hat sie mich in eine sanfte Trunkenheit versetzt (was noch keine S t i m m e über micht vermocht hat) Immer schwebt jetzt „Nau15 sicaa" um micht, ein Idyll mit Tänzen und aller südlichen Herrlichkeit solcher, die am Meere leben, Musik und Dichtung von Freund Köselitz; Nausicaa gesungen von Emma Nevada. Meine Genuesen waren ganz außer sich, sie haben sie behandelt wie Ihr F.N. einen E n g e l v o m H i m m e l . 20 Gab es je so schönes Wetter? — Antwort auf Köselitz' Brief vom 8. November 1881: IIIÍ2, S. 192. Köselitz antwortet am 20. November 1881: ¡II/2, S. 194.

169. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 18. November 1881) Meine liebe Schwester, vom Tode der Frau von W(öhrmann) hatte ich sogleich durch Köselitz Nachricht, schreiben kann ich nicht, obschon ich es herzlich gern thun möchte. Ach, die 5 A u g e n — Ich weiß mir damit gar nicht mehr zu helfen, sie halten mich förmlich mit G e w a l t ferne von der Wissenschaft — und was habe ich außerdem! Nun, die Ohren! könnte man sagen. — Wir hatten das schönste Wetter inzwischen, und alles in allem, ich habe nie Besseres erlebt. Jeden Nachmittag sitze 10 ich am Meere. Durch die Abwesenheit der Wolken ist mein K o p f f r e i , und ich bin voller guter Gedanken und Absichten — aber, wie gesagt, die Augen! sie halten nicht mehr eine Viertelstunde Lesens aus, ohne Schmerzen zu machen. Es genügt mir, daß hier und da ein Wörtchen in Dein herrliches Notiz15 buch kommt — es muß mir genügen! Eurer immer dankbar gedenkend — in Liebe F N. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth

Nietzsches.

168.-171.

November 1881

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IJO. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 27. November 1881) Mein lieber Freund, es wäre unbescheiden, auf meine „Aufforderung zum T a n z " der Reise zurückzukommen, aber erzählen will ich doch, daß die erste Seite Ihres Briefes mich l a c h e n machte, vor freudiger Erwartung. Ich war in meinem Garten, d. h. dem der Villetta Negro, neben der ich wohne (Stendhal nennt sie einmal „eine der malerischesten Stellen Italiens") und dachte Ihrer in vieler Liebe. — Der liebliche Singevogel ist davongeflogen (er singt jetzt „Mignon", in Florenz). — Das Goldmännchen von Mailand ist an mir vorübergegangen — und an Ihnen auch, wie ich fürchte? — Dr. Ree schreibt von Gersdorff in Leipzig, und daß er es da nicht lange aushalten werde, „vor Sehnsucht nach Venedig und Köselitz". Ohime! Sie seufzen! — T „ _ , _ T, In Ireue Ihr rreund r . JN. Antwort auf Köselitz'Brief vom 20. November 1881: III/2, S. 194. Köselitz antwortet am 29. November 1881: III/2, S. 19/.

IJI. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 27. November 1881) Lieber, guter Freund, ich und alles „Meinige" macht Ihnen Noth! Dieser Herr Busse! Aber es waren ein paar so delikate Empfindungen in seinem Briefe, daß ich ergriffen war — ergriffen und voller Spott über mein Schicksal! Niemand (wenn ich einen einzigen Menschen ausnehme —) hat mich bisher so g e e h r t wie dieser arme Herr Busse. Senden Sie nur seine Sendschreiben, ich will ihm sogar antworten —: er ist mein ganzes „Publicum". — „Zeitschriften" — etwas mir g a n z f r e m d Gewordenes: wozu! ich kenne die Z e i t nicht mehr, nehme mir Zeit und brauche keine Publicität: w e n n ich aber eine brauchte, dann

144

B r i e f e v o n Nietzsche

würde ich nicht an ein Journal denken, das sich selber lesen muß, um Leser zu haben. (Oder wird auf die Anti-Juden spekulirt?) Seien wir geduldig!!! Soll ich die Briefe zurück an Sie schicken? Köselitz antwortet am 29. November

1881 : III/2, S. 797.

ij2. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 28. November 1881) Hurrah! Freund! Wieder etwas Gutes kennen gelernt, eine Oper von François B i z e t (wer ist das?): C a r m é n . Hörte sich an wie eine Novelle Mérimée's, geistreich, stark, hier und da erschütternd. Ein acht französisches Talent der k o m i s c h e n O p e r , gar nicht desorientiert durch Wagner, dagegen ein wahrer Schüler von H(ector) Berlioz. S o e t w a s habe ich (nicht) für möglich gehalten! Es scheint, die Franzosen sind auf einem besseren Wege in der dramatischen Musik; und sie haben einen großen Vorsprung vor den Deutschen in Einem Hauptpunkte : die Leidenschaft ist bei ihnen keine so w e i t h e r g e h o l t e (wie z. B. a l l e Leidenschaften bei Wagner). Heute etwas krank, durch schlechtes Wetter, nicht durch die Musik: vielleicht sogar wäre ich viel kränker, wenn ich sie nicht gehört hätte. D a s G u t e ist mir M e d i z i n ! Darum meine Liebe zu Ihnen!! Köselitz antwortet am 29. November

¡881 : JII/2, S. 197.

iyj. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 4. Dezember 1881) Das war ein Wort zur rechten Zeit, meine liebe Lisbeth! J a , die Schreibmaschine ist mir u n e n t b e h r l i c h (sonderbar! ich hatte

171. - 174.

November- Dezember 1881

145

sie aus den G e d a n k e n verloren und doch leide ich so an den A u g e n ! sie sind bei jedem A n f a l l s e h r b e t h e i l i g t ! ) A l s o : i c h will

die M a s c h i n e

kaufen

— vorausgesetzt, daß Freund

R è e sie mir mitbringt (daß sie nicht geschickt werden muß!) A u c h möchte ich nicht gerade das Exemplar haben, auf dem Jedermann

gespielt

hat.

In der zweiten

Hälfte

Dezember

schicke ich das n o c h n ö t h i g e Geld an Dich — wie viel? — daß D u über 200 M . f ü r mich vom Oktober an v e r f ü g e n könntest, schriebst D u mir. Ich habe neulich auf meiner Karte Freund R è e nicht einmal f ü r seinen schönen Brief gedankt! N e i n ! W i e zur rechten Zeit Dein Brief kam! Ich erhob mich von einem schweren A n f a l l und wußte gar nicht mehr, was machen. Ich habe so viel zu schreiben. Eurer in Liebe gedenkend! Antwort

auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth

Nietzsches.

174. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 5. D e z e m b e r 1 8 8 1 ) Lieber guter Freund, von Zeit zu Zeit (wie kommt das?) ist es mir w i e e i n B e d ü r f n i ß , so etwas Allgemeineres und U n b e dingteres über W a g n e r zu hören, und am liebsten v o n Ihnen! Auch über C h a m f o r t gleich zu fühlen, soll eine Ehrensache f ü r uns Beide sein, er w a r ein M a n n vom Schlage Mirabeau's, nach C h a r a k t e r , H e r z und großem Sinne — M(irabeau) selber urtheilte so über seinen Freund. D a ß Bizet t o d t ist, gab mir einen tiefen Stich. Ich hörte C a r m e n zum zweiten Male — und wieder hatte ich den Eindruck einer N o v e l l e ersten R a n g e s , wie etwa von Mérimée. Eine s o leidenschaftliche und s o anmuthige Seele! Für mich ist dieses W e r k eine Reise nach Spanien werth — ein höchst Süd-

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B r i e f e v o n Nietzsche

ländisches W e r k ! — Lachen Sie nicht, alter Freund, ich vergreife mich mit meinem „ G e s c h m a c k e " nicht leicht so g a n z und gar. — In herzlicher Dankbarkeit Recht krank inzwischen, doch wohl durch C a r m e n Antwort auf Köselitz' Brief vom 29. November Köselitz antwortet am 9. Dezember 1881:

1881:

III/2, S. 797.

III/2, S. 200.

175. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 5. D e z e m b e r 1 8 8 1 ) Meine liebe Schwester, ich kenne die Hansen'sche Maschine recht gut, H r . Hansen hat mir zweimal geschrieben und P r o ben, Abbildungen und Urtheile K o p e n h a g e n e r Professoren über dieselbe geschickt. Also d i e s e will ich ( n i c h t die amerikanische, die zu schwer ist.) H a u s Falkenstein ist v e r k a u f t , Rothpietzens siedeln s p ä t e s t e n s 1 April nach M ü n c h e n über. M a n f r a g t w e g e n meiner Bücher an; ich möchte sie eigentlich m i t nach München transportiren lassen — das ist ein Universitätsort mit herrlichem H o c h w a l d in der N ä h e — möglich, daß ich da einmal eine Zeitlang arbeite oder C o l l e g i e n h ö r e . Schreib mir über diesen Punkt. Herzlichste G r ü ß e an unsre gute Mutter Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth Nietzsches.

176. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Genua, 6. D e z e m b e r 1 8 8 1 ) Lieber Freund, verzeihe, daß ich nur Ein W o r t des Dankes f ü r Deinen guten Brief habe — die A u g e n erlauben mir nicht mehr die geringste „Freigebigkeit im Schreiben". W e g e n der Bücher-

174.- 177.

Dezember 1881

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kisten erbitte ich mir noch etwas Bedenkzeit. Wenn der Gehalt fällig ist, so sende mir doch wieder 500 frs. davon, poste restante und r e c o m m a n d i r t , aber o h n e Bezeichnung des Geldwerthes, als Brief somit. Mein alter Paß von 1876 wirkt immer noch bei der Post. — Deinem Buchhändler schulde ich 3 Mark 90 Pfennige. — In Leipzig essen jetzt Ree, Gersdorff und Romundt zusammen, es wird da viel unser gedacht. — Die Schreibmaschine ist eine Nothwendigkeit geworden, ich habe den Auftrag dafür gegeben, meine Schwester war deshalb in Leipzig und hat dort eine solche arbeiten sehn. — Mehrere b ö s e Anfälle. Das Wetter aber in Summa sehr gesund. V o n ganzem Herzen grüßend N. Antwort

auf einen nicht überlieferten Brief

Overbecks.

I J J . An Heinrich Köselitz in Genua (Postkarte) (Genua, 8. Dezember 1 8 8 1 ) Sehr spät bringt mein Gedächtniß (das mitunter verschüttet ist) heraus, daß es w i r k l i c h von M é r i m é e eine Novelle „Carmen" giebt, und daß das Schema und der Gedanke und auch die t r a g i s c h e C o n s e q u e n z dieses Künstlers noch in der Oper fortleben. (Das libretto ist nämlich bewunderungswürdig gut) Ich bin nahe daran zu denken, Carmen sei die beste Oper, die es giebt; und so lange w i r leben, wird sie auf allen Repertoiren Europa's sein. Herr O. Busse verspricht seine Gedanken über die „ F o r t p f l a n z u n g des Menschen" zu veröffentlichen (oh ich Unglücklicher! —) einstweilen empfiehlt er in seinem Sendschreiben die Kindes-Aussetzung nach Art der Spartaner. Ich finde das Wort und das Gefühl nicht, um ihm zu antworten. Eine lateinische Abhandlung über Epicur will m i r gewidmet sein: bravo!

148

B r i e f e v o n Nietzsche

Ich lebe s e l t s a m , wie auf den Wellenspitzen des Daseins — eine Art fliegender Fisch. S i e sind mir immer g e g e n w ä r t i g , mein lieber Freund! F.N.

ij8. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte) (Genua, 12. Dezember 1 8 8 1 ) Lieber Freund, ich danke Dir für Deine Mittheilung und Mühwaltung! Heute erfahre ich durch Dr. Ree, daß Hr. Schmeitzner für seine zu begründende Z e i t s c h r i f t Mitarbeiter wirbt durch die Versicherung, daß D u u n d ich f e s t z u g e s a g t h ä t t e n ! Unverschämt! Die Wahrheit ist, daß er noch gar nicht an mich eine Anfrage gestellt hat, und daß ich unsäglich weit davon entfernt bin, mich an dieser Zeitschrift zu betheiligen! — Auf die genannte Weise hat er Hrn. Dr. von Stein (in Halle Privatdozent) gewonnen. — Ich sehe weder ein Princip, noch einen großen Namen, noch irgend ein Bedürfniß — w o z u diese Zeitschrift? Und Herr Widemann halte ich für merkwürdig ungeeignet, Redacteur zu sein. — Für den nächsten Monat hoffe ich auf den Besuch Dr. Ree's, dessen Buch „das Gewissen" tüchtig gefördert wird. In alter Liebe und Dankbarkeit F.N. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief

Overbecks.

179. An Carl von Gersdorff in Leipzig (Genua,) 18 Dezember 1 8 8 1 . Mein lieber alter Freund, das nenne ich eine g r a n d i o s e A r t , der Verfinsterung unsrer Freundschaft ein Ziel zu setzen und L i c h t zu schaffen! Ich war vor Vergnügen ganz außer mir, als ich Deine Karte gelesen hatte — ich lief mit einem so glücklichen Gesichte durch die

177.- 180.

Dezember 1881

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Straßen Genua's, daß die Leute mich verwundert ansahen; zuletzt hielt ich ein Tuch vor das Gesicht. Nun! Glaube es mir nur, ich bin wirklich noch Dein alter Freund, ja ich meine, ich werde Dir fürderhin ein b e s s e r e r Freund sein können als ich es früher war — das ist eine Frucht der letzten schweren seltsamen entscheidenden Jahre! Viel Wetter und Unwetter sind uns Beiden über den Kopf (und über das Herz) gegangen, manche Rinde mußte brechen — aber, wir Beide sind inzwischen trotz alledem, gleich guten alten Bäumen, in d i e H ö h e g e w a c h sen — wer weiß wie hoch! Heute weiß ich nichts Besseres zu thun als einem l i e b e n s w ü r d i g e r e n Wesen als ich bin nachzufolgen und Dir auch ein G e l ö b n i ß zu machen. J a , mein alter Freund, ich will bis an mein Lebensende beflissen sein, Dir Freude und Muth zu machen; Dein Vertrauen zum Leben und zu Dir selber soll immer im Wachsen sein, und große edle und freie Gedanken sollen vor Dir herziehn —: in dem Allen will ich die Genossin Deines Lebens zu unterstützen suchen, welche, wie ich mit d e r t i e f s t e n D a n k b a r k e i t empfinde, Deine tapfere und großmüthige Grundart e r r a t h e n hat und vertrauensvoll ihre Hand in die Deine gelegt hat. Und nun kein Wort mehr — es giebt Vieles, was nicht ausgesprochen werden soll, zwischen uns, und Eines giebt es, was ich wieder gut machen will (ich habe Dir Einmal w e h e g e t h a n — das vergesse ich nie, und Du sollst den V o r t h e i l davon haben!) In Treue Dein Freund Nietzsche. Antwort auf Gersdorffs Verlobungsanzeige

vom 15. Dezember 1881:

III/2, S. 202.

180. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 18. Dezember 1 8 8 1 ) Im G e i s t e habe ich über so viel Dinge Ihnen Kärtchen zugesandt, daß ich gleich von der allerletzten Neuigkeit ein Wort

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Briefe von Nietzsche

sagen will — V e r g a n g n e s m a g v e r g a n g e n sein! G e r s d o r f f hat auf eine grandiose A r t dem Mißverhältniß z w i s c h e n uns ein Z i e l gesetzt! — D i e s e Familie meines N a m e n s (ohne e) ist mir v o n meiner K i n d h e i t her bekannt, ich habe einmal die S o m m e r f e rien auf ihrer schönen Besitzung z u g e b r a c h t (es giebt eine weitschweifige A r t v o n V e r w a n d t s c h a f t ) . S c h ö n e

Mädchen!

W ü n s c h e n Sie mir G l ü c k und h e l l e s W e t t e r ! ich nehme die Feder z u r H a n d , u m das l e t z t e Manuscript z u machen (die Schreibmaschine trifft erst in einem Vierteljahre ein). Es gilt der Fortsetzung der „ M o r g e n r ö t h e " (6. bis 10. Buch). E s i s t Zeit, sonst v e r g e s s e i c h meine Erlebnisse (oder „ G e d a n k e n " ) ! Jede „ Z e i t s c h r i f t " , die S i e z u m Schreiben bringt, soll mir l i e b u n d w e r t h sein!

— .. . 1 reulich F.N.

Antwort auf Köselitz' Brief vom 9. Dezember 1881: III/2, S. 200. Köselitz antwortet am 20. Dezember 1881: III/2, S. 20j.

181. An Franziska und Elisabeth

Nietzsche

in

Naumburg

( G e n u a , 21. D e z e m b e r 1881) M e i n e Lieben, ein Briefchen v o n mir soll wenigstens z u W e i h n a c h t e n in Eure H ä n d e k o m m e n — im Ü b r i g e n setze ich v o r aus (und bitte darum!) d a ß ich auf Eurem Geschenktische v e r t r e t e n sein m ö g e — in der A r t w i e voriges W e i h n a c h t e n , und daß Ihr E u c h v o n mir etwas bescheert, was E u c h

Vergnügen

macht oder n ü t z l i c h ist. D i e letzte N e u i g k e i t ist meines alten Freundes G e r s d o r f f Verlobung

— aber w a s könnte i c h E u c h N e u e s e r z ä h l e n !

(Seine Braut, Frl. M a r t h a N i t z s c h e (Gohlis Leipzig) w e r ist das? K e n n t Ihr sie?) Er hat auf eine grandiose A r t unsre Freundschaft w i e d e r in O r d n u n g gebracht.

180.-181.

Dezember 1881

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Meine Bücherkisten in Zürich ärgern mich. Ich möchte nämlich die Bücher (mit wenigen Ausnahmen) überhaupt l o s s e i n 15 und dachte sie zu v e r k a u f e n (und andre nützlichere zum Theil dagegen eintauschen) Nun kommt der theure Transport nach Naumburg, der fast das Geld verschlingt, das ich dafür in Leipzig lösen könnte! Meine Augen gehen reißend abwärts, ich kann es nicht ver20 hehlen. Ich werfe jetzt öfters etwas um, zerbreche etwas oder stolpere. W o finde ich eine andre Stadt, die so herrlich mit breiten Platten gepflastert ist, wie Genua, w o ich weit in der Umgebung herum gehen kann und immer auf glattem harten Steine (mit Riefen darin, w o es auf- oder abwärts geht)? 25 Uberhaupt ist Genua doch eigentlich mein glücklichster G r i f f , in Bezug auf Gesundheit und geistige Ungestörtheit. Ich habe ein sehr helles, s e h r h o h e s Zimmer — das wirkt gut auf meine Stimmung. G a n z in der Nähe ist ein reizender Garten, der offen steht, mit mächtigem waldartigen Grün 30 (auch im W i n t e r ) Wasserfällen, wilden Thieren und Vögeln und herrlichen Fernblicken auf Meer und Gebirge — alles auf sehr kleinem Räume. Jetzt verzehren die Genuesen ihr Weihnachtsbackwerk, ihr pane dolce di Genova in ungeheuren Massen und senden es 35 nach aller Welt hin. Es ist ganz genau unsre S t o l l e , oder vielmehr: unsre Stolle ist die deutsche Nachahmung des pane dolce di Genova. Ein Gebäck mit Mandeln Rosinen Citronat kann nicht gut rein d e u t s c h e Erfindung sein — das liegt auf der Hand. 40

Und nun wollen die Augen nicht mehr — und vielleicht könnt Ihr dies Geschreibsel nicht l e s e n ? Nach der Schreibmaschine wäre eine Vorlesemaschine eine sehr schöne Erfindung. Jeder V o r l e s e - M e n s c h ist eine Störung für ein denkendes und sensibles Thier, wie ich bin. 45 Adieu! meine Lieben, die Ihr mir so schöne lange Briefe geschrieben habt! Lauft glücklich das alte Jahr zu Ende ab —

152

Briefe von Nietzsche

wer weiß, was das neue alles bringen wird, Gutes und Neues! Das ist ja das Beste vom Leben — le long e s p o i r et les vastes p e n s é e s , nach Lafontaine. In herzHcher Liebe Mittwoch früh.

Euer Fritz.

Antwort

Nietzsche.

auf nicht überlieferte Briefe von Franziska und Elisabeth

182. An Heinrich Köselitz in Venedig (Genua, 28. Dezember 1 8 8 1 ) Gebe Ihnen, mein lieber Freund, das neue Jahr etwas Neues, irgend ein sehr schönes Geschenkchen — ich weiß nicht was — und erwägen Sie, ob ich Ihnen nicht irgend einen Wunsch erfüllen kann; ich habe ein solches Bedürfniß, von Ihnen einen W u n s c h zu hören! Augenblicklich bin ich elend daran, ich komme nicht recht wieder zu mir, der letzte Anfall war zu hart (am 2 3ten Dez.) Weihnachten lag ich zu Bett und dachte, daß ich nicht mehr „denken" dürfe. Soll ich Ihnen den Klavierauszug von Carmen schicken? Oder macht er eine Störung? — Diese Nacht gieng meine Seele zwischen Ihren Melodien aus Sch(erz) L(ist) und R(ache) herum und war sehr glücklich dabei! W a n n erlebe ich das wieder und das matr(imonio) segr(eto) dazu!! Machen wir Pläne! In Treue Ihr Freund. Antwort auf Köselitz' Brief vom 20, Dezember 1881: III/2, S. 20j. Köselitz antwortet am jo. Dezember 18S1: III/2, S. 205.

i8j.An ^

Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postarte

)

(Genua, 28. Dezember 1 8 8 1 )

Meine Lieben, seit dem 23ten bin ich krank, es gab einen der allerheftigsten Anfälle, der mich nachdenken gemacht hat —

181.-184.

Dezember 1881

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und jetzt komme ich gar nicht recht wieder in Ordnung und lege mich alle Nachmittage wieder zu Bett, trotz allem schönen Wetter. — Verzeihung! Ich habe den letzten Brief, wie ich zu spät merkte, nicht frankirt, ich finde wenigstens die dafür bestimmte Postmarke noch in meinem Portemonnaie. — Auch hier konnte ich ein Paar Geschenkchen machen. Dem Sohn meiner Wirthin, der im Irrenhause ist, habe ich eine schöne Stolle (Pane dolce) geschickt. — Liebe Lisbeth, schreib doch gleich ein Wort an Frau Rothpietz wegen der Übersiedelung der Bücher nach Naumburg. — Tapfer vorwärts in's n e u e J a h r , im Vertrauen auf alles a l t e Gute! F.

184. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte) (Genua, 28. Dezember 1881) Ich wollte Dir und ebenso Frau Rothpietz in den Weihnachtstagen einen Brief schreiben — und nun bin ich k r a n k geworden und, ob ich schon wieder aufgestanden bin, erhole ich mich schlecht und muß mich jeden Nachmittag wieder zu Bett legen. So verzeih dies Kärtchen und bitte auch die verehrte Frau um Nachsicht für mich: möge das neue Jahr Vieles besser machen als das alte und auch mich etwas a u s b e s s e r n ! Also die Bücher fort nach Naumburg! (fast hätte ich gesagt: fort zum Teufel! W o z u habe ich halbblindes Thier noch Bücher! Es ist nur eine Last und namentlich wenn ich denke, w e m Alles es Last ist!) Das Geld ist g u t angekommen, der alte Paß wirkte wie der allerneueste. — Was Hr. Schmeitzner ableugnet, hat Herr Dr. von Stein (im Gespräch mit Ree) erzählt. — Gersdorff hat auf eine grandiose Art seine Freundschaft mit mir wiederhergestellt. — In Treue Dein F.N.

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Briefe von Nietzsche

185. An Heinrich Köselitz in Venedig (Genua, 5. Januar 1882) Hier, lieber Freund, kommt Carmen: aber zur Strafe für Ihre Moralpredigt über „Glücksgüter" soll sie Ihnen nur bis zu unserm nächsten Wiedersehen angehören! — Der Klavieraus5 zug, den ich gestern durchlas, ist französisch-mager, es fehlt alle Zukost! Doch sind die Gesangspartien vollständig — und S i e errathen doch alles! Ich habe mir erlaubt, einige Randglossen hineinzuschreiben — im Vertrauen auf Ihre Humanität und Musikalität. In summa gebe ich Ihnen vielleicht eine schöne 10 Gelegenheit, über mich zu l a c h e n — Carmen gehörte wirklich in diesem Winter zu meinen „Glücksgütern", und Genua ist mir um dieser Oper willen sehr viel werther geworden. — Ihr Brief hatte eine himmlische venetianische Farbe, ich bin glücklich über das Versprechen, sich mit Venezia n i c h t n u r in h e i m l i 15 e h e r Ehe zu vermählen. F.N. Antwort auf Köselitz' Brief vom 30. Dezember 1881: Köselitz antwortet am 7. Januar 1882: III/2, S. 208.

III/2, S. 205.

186. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte) (Genua, 8. Januar 1882) Meine liebe Schwester, Deine Verse sind vom allerbesten T a k t e eingegeben — Takt nach fünf Seiten hin: und für alle Dinge mit 5 Seiten hat Dein Brüderchen so gute Äugelchen. Im 5 ersten Gedicht würde ich vorschlagen zu ändern: „denn da soll Jeder fragen", und im zweiten sind richtige Hexameter überall herzustellen 1 —

12 13 14 uu| — u u | — uu| —

15 uu| —

16 uu| — u

1 8 5 . - 187.

Januar 1882

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Statt der i Kürzen kann auch eine Länge stehn, außer im 5 t e n Fuße. — Wegen des 2 t e n Februars bin ich ganz einverstanden. — Schmeitzner hat wahrsch(einlich) keine Einbanddecken mehr, sondern alles nach Bayreuth abgeliefert: und nach B a y reuth) möchte ich nicht gerne schreiben — ich habe es a b g e l e h n t , diese Blätter noch zu l e s e n , und man weiß das dort. Meinen Jahresbeitrag von 1 0 Mark zahle ich fort — scheint Dir dies schicklich? — Wie viel Jahrgänge sind es? Dir und unsrer lieben Mutter den schönsten Dank für die guten Weihnachtsbriefe und Neujahrswünsche. Ich bin wieder krank gewesen. Antwort auf nicht überlieferte Briefe Franziska und Elisabeth Nietzsches.

i8y. An Heinrich Köselitz in Venedig

(Genua, 17. Januar 1882)

Welche Freude machte mir Ihr Brief! Wie haben Sie mich über mich selber b e r u h i g t ! — So ein einsames Wesen ist allen Gefahren der Geschmacks-Verirrung preisgegeben; nun, w e n n ich jetzt mich verirrt habe, so d o c h mit I h n e n z u s a m men! — Ich hätte Ihnen jeden T a g schreiben mögen, aber Arbeitsamkeit oder Krankheit (abwechselnd) disponiren über meine A u g e n - K r ä f t e . Werde ich es a u s h a l t e n ? Das Wetter ist so, daß ich jeden T a g mit der Frage beginne und schließe: „gab es je so gutes Wetter?" — wie gemacht für meine Natur, frisch, rein, mild. Das neue Jahr brachte ein „Huldigungsschreiben" aus Amerika, im Namen von 3 Personen (darunter ein Professor des Peabody-Instituts in Baltimore) — Ich bin Ihnen so n a h e , Stunde für Stunde! p^ Antwort auf Köselitz' Brief vom 7. Januar 1882: Köselitz antwortet am 19. Januar 1882:

III/2, S.

III/2, S. 208. 211.

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Briefe von Nietzsche

188. An Ida Overbeck in Basel Mitte (19.) J a n u a r 1 8 8 2 G e n o v a Meine liebe und verehrte Frau P r o f e s s o r , wenn ich zu Ihrem Briefe, mit dem Sie meinem N e u j a h r e einen festlichen G l a n z gaben, den letzt angelangten amerikanischen Brief hinzunehme, so muß ich sagen: ich verdanke zweien F r a u e n den beredtesten Ausdruck d a f ü r , daß meine G e d a n k e n wirklich auch g e d a c h t und bedacht werden und nicht nur gelesen (oder richtiger: „und nicht nur n i c h t gelesen!") J e n e r Brief kam von der Gattin eines Professors des Peabody-Instituts in Baltimore; welche im N a m e n ihres Mannes und eines Freundes mir dankt, wie Sie mir danken, auf eine d e n k e n d e Art! N u n , das sind die Ausnahmen, und ich genieße sie g a n z als A u s n a h men; die Regel w a r bisher: keine W i r k u n g oder eine gedankenlose W i r k u n g ! Sie werden mir es glauben, daß ich d e s h a l b nicht von den Menschen gering denke und daß von allen Mienen mir die Miene des „verkannten Genies" die lächerlichste dünkt. Eine s e h r langsame und lange Bahn wird das L o o s meiner G e d a n k e n sein — ja ich glaube, um mich etwas blasphemisch auszudrücken, an m e i n Leben erst n a c h dem T o d e und an meinen T o d w ä h r e n d des Lebens. U n d so ist es billig und natürlich! — W e n n ich Sie wiedersehe, werde ich Ihnen einige c u r i o s e Einzelheiten erzählen — heute nur ein W o r t über die Möglichkeiten dieses „Wenn-ich-Sie wiedersehe". Ich bin in G e n u a durch eine Arbeit gebunden, die hier, nur hier zu Ende kommen kann, weil sie einen Genueser C h a r a k t e r an sich hat — nun, w a r u m soll ich es Ihnen nicht sagen? Es ist meine „ M o r genröthe", angelegt auf i o C a p i t e l und nicht nur auf 5; und sehr Vieles, was in der ersten H ä l f t e steht, ist nur der Unterbau und die Vorbereitung v o n etwas Schwererem, H ö h e r e m (ja! es wird auch manches „ S c h a u d e r h a f t e " noch gesagt werden müssen, liebe Frau P r o f e s s o r ! ) K u r z , ich weiß nicht, ob ich im S o m -

1 8 8 . - 189.

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mer nordwärts fliegen kann: reise ich aber, so komme ich über Basel und zu Ihnen ins Haus. 35 In Bayreuth werde ich dies Mal durch meine Abwesenheit „glänzen" — es sei denn, daß Wagner mich noch persönlich einlüde (was nach meinen Begriffen von „höherer Schicklichkeit" sich recht wohl schicken würde!) Mein Anrecht auf einen Platz will ich ganz schlafen lassen. Im Vertrauen gesagt: ich 40 würde „Scherz List und Rache" lieber hören als den Parsifal. Damit Sie wissen, was zwischen Herrn Köselitz und mir vorgeht, und wie ich fortfahre „die Jugend zu verderben" (— der Schierlingsbecher wird mir wohl nicht entgehen!) so lege ich den letzten Brief des Herrn Köselitz bei: er wird Ihnen viel45 leicht einige „Verwunderung" machen, aber ganz gewiß keinen „Schauder"! Das Wetter der letzten Monate war der Art, daß ich nichts Schöneres und Wohlthätigeres aus meinem ganzen Leben dagegen zu setzen hätte — frisch, rein, mild: wie viele Stunden habe 50 ich am Meere gelegen! Wie viele Male sah ich die Sonne untergehen! Liebe Frau Professor, „alles Gute ist unter Freunden gemeinsam" — sagen die Griechen: möge uns *! das Leben noch viele Gemeinsamkeiten schenken! — das dachte ich als ich Ihren V o n Herzen Ihnen dankbar und ergeben v

Dr. F. Nietzsche.

uns D r e i e n !

Antwort

auf Ida Overbecks

Brief

vom 30. Dezember

1881:

III/2,

S.

207.

189. An Heinrich Köselitz in Venedig (Genua, 2 1 . Januar 1882) Lieber Freund, ich habe mir eben einen Brief an Hofkapellm(eister) Levy in München ausgedacht, der mir ehedem bekannt

158

Briefe von Nietzsche

war — zuletzt muß ich mir aber doch erst Ihre Erlaubniß zu diesem Schritt erbitten. Vielleicht könnte ich selbst einen Brief an den König bewerkstelligen (mit Benutzung der „Gelegenheit", daß ich ihm meine „Morgenröthe" überschickte!) Ich bin seit Ihrem Briefe zu Allem bereit und zu mehr noch. Soll ich an Bülow schreiben? Geben Sie mir schnell einen Wink, so geschieht's. Würde Ihre Reise nach dem Norden ein Abbrechen Ihrer Venediger Existenz bedeuten? Und wann würden Sie reisen? — Ich habe auf Gersdorff's Karte sofort geantwortet (Leipzig Lindenstr. 10) und erwartete, nach der A r t dieses Briefes, daß G(ersdorff) u n m i t t e l b a r schreiben würde. Aber ein Monat ist fort ohne einen Brief. Was ist geschehen? — Ich schrieb vorgestern an Frau Overbeck, daß ich „Scherz, List und Rache" v i e l l i e b e r hören möchte als den Parsifal. Aber ein „Philosoph" ist seinen Freunden so unnütz! — Antwort

auf Köselitz' Brief vom 19. Januar

Köselitz antwortet am 22. Januar:

1882:

III/2, S.

211.

III/2, S. 214.

19o. An Heinrich Köselitz in Venedig (Genua, 25. Januar 1882) Nun, mein lieber Freund, ich schreibe Ihnen ein paar Zeilchen — am liebsten wäre ich jetzt bei Ihnen. Wirklich, Sie waren in der Gefahr, von mir ü b e r r a s c h t zu werden — nichts als die Meldung meiner Angehörigen, daß der längst angekündigte Besuch des Dr. Ree n a h e bevorstehe, hat mich hier in Genua zurückgehalten. Was Sie jetzt erleben, das ist die R e g e l — ich war im vorigen Sommer so erstaunt, so außer mir vor Erstaunen, daß die Dinge in Bezug auf Sie und Ihre Schätzung einmal anders und a u s n a h m s w e i s e gehen sollten. Aber ich möchte gern Ihnen ein wenig über diese verfluchte „Regelmäßigkeit" hinweghelfen oder — um die Wahrheit zu sagen — mir von

1 8 9 . - 190.

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Ihnen darüber hinweghelfen lassen; denn ich bin über dieser Wienerischen Zurückweisung nicht nur böse, sondern beleidigt, ja förmlich krank und aller guten Dinge unfähig g e w o r d e n . Es klang mir wie ein höhnischer Protest gegen meine eben zu Papier gebrachte friedliche Denkweise und „Gott-Ergebenheit". Das beste Gegenmittel wäre nun: miteinander etwas zu lachen und gute Musik zu machen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, w i e s e h r es mich nach Ihrem matr(imonio) segr(eto) gelüstet. An dem Tage, an dessen Abende Ihr Brief anlangte, hatte ich mir überlegt, daß alle nähere Disposition über meine Aufenthalte und alle Eintheilung dieses und des nächsten Jahres von der Musik des Hrn. Peter Gast und vom S c h i c k s a l e dieser Musik abhänge, — ich erwog einen Winter in Wien und Venedig. Wahrlich, lieber Freund, es giebt so erstaunlich wenig des Guten, das von außen her zu mir käme, ich bin in meiner Einsamkeit wie eingeschneit und lebe so hin, ein wenig a l l z u verlassen und a l l z u t o d t g e s c h ä t z t , selbst von meinen Freunden. N u r Sie und Ihre Zukunft — Nausikaa eingerechnet —, nur Ihre Briefe und Gedanken sind die schöne Ausnahme in meinem „Winter", und wahrscheinlich das, was mir am meisten W ä r m e bringt und erhält.

Ein paar Worte über meine „Litteratur". Ich bin seit einigen 35 Tagen mit Buch VI, VII und VIII der „Morgenröthe" fertig, und damit ist meine Arbeit für diesmal gethan. Denn Buch 9 und 10 will ich mir für den nächsten Winter vorbehalten — ich bin noch nicht r e i f genug für die elementaren Gedanken, die ich in diesen Schluß-Büchern darstellen will. Ein Gedanke ist 40 darunter, der in der T h a t „Jahrtausende" braucht, um etwas zu w e r d e n . Woher nehme ich den Muth, ihn auszusprechen! Heute las ich, zum ersten Male seit letztem Sommer, etwas in meiner „Morgenröthe" und hatte Vergnügen dabei. In Anbetracht daß diese Dinge s e h r a b s t r a k t sind, ist die Munterkeit 45 des Geistes, mit der sie behandelt sind, ganz achtbar. Lesen Sie zur Vergleichung i r g e n d e i n Buch über Moral — ich habe

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B r i e f e v o n Nietzsche

immer noch meine Sprünge und Hopsasa's für mich. Daneben zog mich an, wie reich das Buch an u n a u s g e s p r o c h n e n Gedanken ist, wenigstens für mich: ich sehe hier und dort und 50 an allen Enden verborgene T h ü r e n , die weiter und oft sehr weit führen (und nicht nur auf „Abtritte" — Pardon!) Wollen Sie mein neues Manuscript! Vielleicht macht es Ihnen eine Unterhaltung und Zerstreuung. (Denken Sie ja nicht an's Abschreiben — das hat noch ein Jahr Zeit und vielleicht 55 sogar sehr viel mehr) Es fällt mir ein, daß ich das M(anu)s(cript) aber selber noch einmal durchlesen muß, damit S i e es lesen können (Es fehlen viele Zeichen und auch einige Worte) In Anbetracht, daß Gesundheit und Augen mich in Stich lassen, dürfte ich vor 60 2 Wochen mit dieser Correktur und Durchsicht nicht fertig werden. D e r Januar ist der schönste meines Lebens. Aber er hatte nur 21 Tage! V o n Herzen Ihr Freund F N . Antwort auf Käselitz' Brief vom 22. Januar 1882: Köselitz antwortet am 26. Januar 1882:

IIII2, S. 214.

III/2, S. 21 j.

191. An Heinrich Köselitz in Venedig (Genua, 29. Januar 1882) Lieber Freund, Hr. v. Bülow hat die U n a r t e n preußischer Offiziere an sich, ist aber ein „ehrlicher Kerl" — daß er sich mit deutscher Opernmusik nicht mehr befassen will, hat geheime 5 Gründe aller Art; mir fällt ein, daß er mir einmal sagte „ich kenne Wagner's neuere Musik nicht". — Gehen Sie im Sommer nach B a y r e u t h , da finden Sie alle Theater-Menschen Deutschlands bei einander, und auch Fürst Liechtenstein u.s.w., Levy ebenfalls. Ich denke, daß alle meine Freunde dort sein

190.- 192.

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werden, auch meine S c h w e s t e r , nach ihrem gestrigen Briefe (und das ist mir s e h r l i e b !). W ä r e ich bei Ihnen, so w ü r d e ich Sie mit H o r a z e n s Satyren und Episteln bekannt machen — ich meine, d a f ü r sind wir Beide gerade reif. Als ich heute hineinguckte, fand ich alle Wendungen b e z a u b e r n d , wie einen w a r m e n Wintertag. Mein letzter Brief w a r Ihnen zu „ f r i v o l " , nicht w a h r ? H a b e n Sie Geduld! In B e z u g auf meine „ G e d a n k e n " ist es mir nichts, sie zu h a b e n ; aber sie l o s w e r d e n , wenn ich sie lossein will, wird mir immer verteufelt schwer! — O h welche Zeit! O h diese W u n d e r des schönen Januarius! Seien wir guter D i n g e , liebster Freund! Antwort auf Köselitz' Brief vom 26. Januar 1882: III/2, S. 215. Köselitz antwortet am 31. Januar 1882: III/2, S. 217.

192. An Franz Overbeck in Basel G e n o v a , den 29 J a n u a r 1882. Mein lieber Freund, gestern schrieb mir meine Schwester, daß sie gerne von meinem „ A n r e c h t " auf einen Platz in Bayreuth Gebrauch machen w ü r d e : nun, wenn es nicht zu spät ist, w o h l an, so will ich das Formular, von dem D u mir schriebst, unterzeichnen — denn v o n den Quittungen habe ich nichts mehr. — Übrigens ist es mir l i e b , von diesem Entschlüsse meiner Schwester zu hören; ich denke, daß alle meine Freunde dort sein werden, auch H e r r Köselitz. Ich selber aber habe W a g n e r ' s zu n a h e gestanden, als daß ich ohne eine Art von „Wiederherstellung" ( K a x d a t a a i g nävxcov ist der kirchliche A u s d r u c k ) , als einfacher Festgast dort erscheinen könnte. Z u dieser Wiederherstellung, die natürlich von W a g n e r selber ausgehen müßte, ist aber keine Aussicht; und ich wünsche sie nicht einmal. Unsere L e b e n s - A u f g a b e n sind v e r s c h i e d e n ; ein persön-

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Briefe von Nietzsche

liches Verhältniß b e i dieser Verschiedenheit wäre n u r möglich und angenehm, wenn Wagner ein v i e l d e l i k a t e r e r M e n s c h wäre. Ich denke, lieber Freund, D u verstehst mich hierin. Jene nun einmal eingetretene Entfremdung hat ihre Vortheile, die ich nicht so leicht, gegen einen Kunstgenuß, oder aus reiner „Gutmüthigkeit", wieder aufgeben werde. Freilich: ich verliere die einzige Gelegenheit, einmal alle, die mir nahe stehen oder standen, wieder zu sehen, und viele wacklig gewordene Verhältnisse wieder fest zu machen. D a ist Freund Rohde, der mir seit der Übersendung der „Morgenröthe" kein Wort gegönnt hat, ganz wie Fräulein von Meysenbug u n d s o w e i t e r . N u n , wenn Du mit Deiner lieben Frau dort bist, so bitte ich, f ü r m i c h bei dem und Jenem ein freundliches Wort einzulegen. Ich bin wahrlich kein „Unmensch" geworden! — Gestern sandte ich das neue Manuscript an Hrn. Köselitz nach Venedig ab. Es fehlen noch das 9 t e und i o t e Buch, welche ich j e t z t nicht mehr machen kann — es gehört f r i s c h e K r a f t dazu und t i e f s t e Einsamkeit (Dr. Rèe kommt in n ä c h s t e r Woche) Vielleicht finde ich einen Monat in diesem Sommer, der mir beides giebt, in irgend einem Walde: ich habe an die Wälder C o r s i c a ' s gedacht, aber auch an den S c h w a r z w a l d (St. Blasien?) Vielleicht aber muß ich mit dieser schwersten aller meiner Aufgaben bis zum Winter warten. Inzwischen giebt es böse Neuigkeiten von Hrn. Köselitz. Die Wiener haben die Partitur ihm z u r ü c k g e s c h i c k t ; ein Versuch, den er darauf anstellte, Bülow's Interesse für sein Werk zu gewinnen, mißlang ebenfalls (er will nichts mehr mit deutscher Opermusik zu thun haben). — Ich bin für Alles unsäglich dankbar, was unserem armen Freunde in dieser schweren L a g e wie eine Ermunterung und Genugthuung klingen könnte. — Übrigens ist er P h i l o s o p h , mehr als ich. Wahrhaftig, ich selber trage härter an seinem Mißerfolg als er! — Mein lieber Freund, was mache ich Dir doch immer für Mühe und N o t h ! — Wenn wir uns wiedersehn, so erweisest D u

192.- 193.

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mir die Ehre mir Deinen Vortrag über die Entstehung der christl. Litteratur vorzulesen? — Habt Ihr auch einen solchen „Frühling" wie wir? Die wahren „Wunder des heiligen Janui«

arius! — Von Herzen Dein und Euer Friedrich Nietzsche Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Overbecks. Overbeck antwortet am JI. Januar 1882: III/2, S. 220.

193. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg

(Postkarte)

(Genua, 30. Januar 1882) Ja, wie soll ich Dir nur gleich antworten, meine geliebte Schwester? Ich bin nämlich mit Deiner Schreibmaschinen-Schenkung noch nicht bei mir im Reinen; wenn ich Dich wiedersehe, werde ich Einiges zu sagen haben, was ich nicht zu schreiben wüßte. — In Betreff des Bayreuther Platzes, der Dir natürlich ganz zu Gebote steht, habe ich sofort an Overbeck geschrieben. H o f fentlich ist es nicht zu spät. Es ist mir s e h r l i e b , daß Du dort sein willst; Du wirst alle meine Freunde dort finden. Ich aber — Verzeihung! — komme g e w i ß nicht hin, es sei d e n n , daß W(agner) mich persönlich einladet und als den geehrtesten seiner Festgäste behandelt. (Ich muß nachgerade die „Etiquette" für mich etwas feststellen). — Gestern sandte ich das neue M(anu)s(cript) an Hrn. Köselitz (Fortsetzung der „Morgenröthe") Aber gedruckt wird dies Jahr nicht! — Von Herzen dankbar F. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Elisabeth Nietzsches.

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Briefe von Nietzsche

194. An Franziska Nietzsche in Naumburg G e n u a Ende (30.) J a n u a r 1 8 8 2 . Meine liebe Mutter, so laufen die J a h r e dahin, eines immer schneller als das andre. M a n lernt eben das Spiel des Lebens endlich auswendig — man bekommt es, wie die Klavierspieler sagen, zuletzt „in die F i n g e r " ; deshalb geht es so geschwinde! D a s merke i c h schon: um wie viel mehr wirst D u es merken! U n d ebenso wenig wie mir, wird D i r an Deinem Geburtstage mit W ü n s c h e n gedient sein; f e s t h a l t e n , was man hat, ist das Haupt-Kunststück des späteren Lebens, und w i s s e n , was man v o r a u s hat v o r so V i e l e n , und namentlich vor allen U n z u f r i e d n e n ! D a s J a h r macht D i r ein heiteres Gesicht: sehen wir zu, daß auch w i r D i r G r u n d zur Heiterkeit und zum W o h l g e f ü h l e des Lebens geben! Gleich diesem schönsten aller Januare! — H i e r ist es immer wie im Frühling: man kann schon des V o r mittags im Freien sitzen, und z w a r im Schatten — ohne zu frieren. Kein Wind, keine W o l k e , kein R e g e n ! Ein Greis sagte mir, es habe noch nie einen solchen Winter in G e n u a gegeben. D a s M e e r still und tief gesunken. D i e Pfirsiche blühen! — Giebt es freilich einen N a c h - W i n t e r , so ist es mit den Oelbäumen und dem ganzen Obste schlimmer als je! — Ich sehe die Soldaten im leichtesten L e i n e n - A n z u g e ; ich selber habe auf meinen Spaziergängen dieselben Kleider an, wie im Engadiner S o m m e r , mit dessen g u t e n T a g e n das jetzige Wetter verwandt ist. A b e r freilich: das mir schädliche Wetter w a r bei meinem letzten A u f e n t halte da oben so überwiegend, und das G a n z e in summa eine solche Geduldsprobe, daß ich dieses J a h r mir das Engadin verbiete. — T r o t z diesem Wetter ist mein Befinden sehr sen; und es hätte mir viel besser gehen müssen, auch in diesem Winter etwas zu arbeiten gehabt regelmäßige geistige Arbeit T a g für T a g

variabel g e w e wenn ich nicht hätte. U n d eine zu b e s t i m m -

194.

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t e n S t u n d e n ist immer noch das sicherste Mittel, mich unvermerkt zu Grunde zu richten. „Unvermerkt" — das heißt, es 35 k o m m t ein Tag, w o ich merke, daß es s e h r s c h l i m m steht, und wo die Erholung nicht mehr in einigen Ruhetagen geschafft werden kann. - - - Zu alledem bin ich seit O c t o b e r vielen Zahnschmerzen u n t e r w o r f e n gewesen — es giebt etwa 6 hohle Zähne, und das W o r t „Zahnoperationen" hat mich mit 40 Neid erfüllt. Vielleicht muß ich mich schließlich doch entschließen, nach Florenz zu Dr. van Marter zu reisen, der mich schon einmal unter den H ä n d e n gehabt hat. — Neuerdings bin ich mit einem anderen Leiden bekannt geworden, das seine eigene Unannehmlichkeit hat; mich quält jetzt ein Blasen-Leiden und 45 will nicht vor mir weichen. Kurz, Du siehst, es ist noch manches von mir a u s z u h a l t e n , und ich habe guten Muth nöthig, der sich nicht so leicht auf dem nächsten Markte kaufen läßt. So! Mehr darf ich f ü r diesen T a g nicht schreiben, die Augen schmerzen schon. — — Ich erwarte mit großem Verlangen die 50 A n k u n f t des Dr. Rèe — er wird gerade in dem Carneval hineinkommen, der diesmal den Besuch der berühmten Französin S a r a h B e r n h a r d t bietet. W i r werden 3 T a g e (am 5 t e n , 6 t e n und 7 t e n Februar) f r a n z ö s i s c h e s Schauspiel haben, in unserm großen Carlo-Felice-Theater, welches 3000 Menschen faßt — 55 und es wird voll sein. — Nochmals, meine liebe gute Mutter, ich will zusehen, daß D u in diesem Deinem neuen Jahre durch mich keine n e u e N o t h hast — bei der a l t e n wird es wohl verbleiben! — V o n H e r z e n Dein Sohn 60 Friedrich. Nicht wahr, ich erfahre genau die Stunde der A n k u n f t meines Freundes, daß ich am Bahnhof sein kann? Will er einen M o n a t hier bleiben und soll ich darauf hin miethen? — S a l i t a d e l l e B a t t i s t i n e 8, i n t e r n o 6 ist die Adresse.

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Briefe von Nietzsche

19.5. An Heinrich Köselitz in Venedig G e n o v a den 5ten Februar ( 1 8 8 2 ) Mein lieber Freund, ich finde Ihre Behandlung des B ü l o w ' s c h e n Falles g a n z a n g e m e s s e n — ich glaube, B ü l o w selber wird sie angemessen finden; er ist liberaler Impulse fähig. 5 — Gestern kam D r . R é e an; er wohnt im Nachbarhause und bleibt einen Monat. H e u t e Abend werden wir Beide zusammen im Theater C a r l o Feiice sitzen, um S a r a h B e r n h a r d t zu bewundern, als la dame aux camélias (Dumas fils). Die Schreibmaschine (eine Sache von 500 frs.) ist h i e r , aber — mit einem 10 Reise-Schaden: vielleicht muß sie wieder zur Reparatur nach K o p e n h a g e n , heute w e r d e ich von dem ersten hiesigen M e c h a niker darüber Bescheid erhalten. — G e r s d o r f f glaubt, daß eine A u f f ü h r u n g von S c h e r z L(ist) und R a c h e in Leipzig zu ermöglichen ist — erzählt Rèe. — N e r i n a 15 hat die V e r l o b u n g G(ersdorffs)'s ziemlich tragisch genommen und macht dem A r m e n N o t h . — W i e ? Sie gehen zuletzt nicht nach Bayreuth? — Ich empfinde bei dieser Möglichkeit zu verschieden auf Ein M a l , um sagen zu können, wie es mich berührt. A b e r es scheint mir nicht 20 n ü t z l i c h — und sei es auch nur, daß Sie W a g n e r ' s Orchester und seine Orchester-Erfindungen kennen lernen müßten. Zuletzt: ich wüßte Sie sehr gerne einmal unter allen meinen Freunden, die, wie ich mir vorstelle, an Ihnen versuchen werden gut zu machen, was sie in B e z u g auf mich auf dem „lieben H e r 25 z e n " haben — P a r d o n , daß ich davon rede! „Causalitäts-Sinn" —ja, Freund, das ist etwas Anderes als jener „ B e g r i f f a priori" von dem ich rede (oder fasele!) W o h e r kommt der unbedingte G l a u b e an die Allgültigkeit und AllAnwendbarkeit jenes Causalitäts-Sinnes? Leute wie Spencer 30 meinen, es sei eine Erweiterung auf Grund zahlloser durch viele Geschlechter gemachter E r f a h r u n g e n , eine zuletzt absolut a u f tretende Induktion. Ich meine, dieser Glaube sei ein Rest eines

195.- 196.

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Februar 1882

älteren viel engeren G l a u b e n s . D o c h w o z u dies! Ich d a r f

über

so etwas nicht schreiben, mein lieber F r e u n d , und muß Sie auf 35 das „9 t e B u c h " der M ( o r g e n r ö t h e ) verweisen, damit Sie sehen, daß i c h am wenigsten v o n den G e d a n k e n a b w e i c h e , w e l c h e Ihr Brief mir darlegt: — ich f r e u t e mich dieser G e d a n k e n und unsrer U b e r e i n s t i m m u n g . D a s neue „ J o u r n a l " hat mich g a r nicht u n a n g e n e h m

über-

40 r a s c h t . O d e r täusche ich mich? Ist dieser G r u n d g e d a n k e seiner Einleitung — das E u r o p ä e r - t h u m der V e r n i c h t u n g d e r Nationalitäten

mit der Perspektive

— ist dies nicht

mein

G e d a n k e ? S a g e n Sie mir d a r ü b e r die W a h r h e i t : vielleicht f ü h r t mich irgend w e l c h e S p i e g e l f e c h t e r e i der Eitelkeit irre. — 45

N e u l i c h gehe ich spazieren und d e n k e an g a r nichts unterw e g s als an die M u s i k meines F r e u n d e s G u s t a v K r u g ,

— rein

z u f ä l l i g und ohne alle V e r a n l a s s u n g . D e n T a g darauf

kommt

ein H e f t L i e d e r v o n ihm mir zu H ä n d e n (von K a h n t verlegt) und darunter g e r a d e das L i e d , welches ich auf meinem S p a z i e r 50 g a n g mir reconstruirt hatte. Wunderlichstes Spiel des Z u f a l l s ! W e t t e r nach w i e v o r , unbeschreiblich! R è e und ich w a r e n gestern an jener Stelle der K ü s t e , w o m a n mir in hundert J a h r e n ( o d e r 500 o d e r 1 0 0 0 , w i e Sie gütigst a n n e h m e n ! ) ein S ä u l c h e n zu E h r e n der „ M o r g e n r ö t h e " aufstellen w i r d . W i r lagen f r ö h 55 lieh w i e z w e i Seeigel in d e r S o n n e . M i t den herzlichsten G r ü ß e n Ihr g e t r e u e r S e e l e n - N a c h b a r F.Nietzsche. Antwort auf Köselitz' Brief vom 3/. Januar 1882: 111/2' S. 217. Köselitz antwortet am 6. Februar 1882: III/2, S. 223.

196. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg ( G e n u a , 5. F e b r u a r 1 8 8 2 ) Ein einziges W ö r t c h e n heute nur, meine L i e b e n ! D a s w a r ja ein förmliches W e i h n a c h t e n , das da über mich her fiel, und noch

168

Briefe von Nietzsche

dazu ein rechter Weihnachtsmann dazu, obwohl keineswegs ein 5 Brummbär! N u n wollen wir Alles versuchen, die schönen Pelzfüße und die meiner kaum erschlossenen V o g e l n a t u r so sehr willkommenen, obwohl allzustolzen Notizbüchlein. (Eins der früheren schwarzen ist vollgeschrieben, das andere schwarze habe ich heute dem Freunde R e e verehrt — : so habe ich denn 10 zum Gebrauche f ü r dies J a h r die beiden Kunst- Lust- T h i e r und Genie-Büchlein) U b e r m o r g e n mehr, heute nur den allerherzlichsten Gruß und D a n k ! F.

iyj. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg G e n u a den 10. F e b r 1 8 8 2 . H i e r ist zunächst der Revers f ü r Bayreuth, welcher nun, nach Overbecks Anweisung, seinen Weiterweg an F e u s t e l in B a y reuth) zu machen hat, und z w a r mit einer ausdrücklichen E r k l ä 5 rung Deinerseits, meine liebe Schwester, f ü r w e l c h e n von den drei T a g e n der H a u p t a u f f ü h r u n g D u Dich entschieden hast (26. 28 oder 30 Juli) D a n n wird er D i r die K a r t e senden. Bis jetzt ist es gegangen, wie es zu erwarten stand, n i c h t g u t . D e r erste T a g sehr guter D i n g e ; den zweiten hielt ich mit 10 Benutzung aller Stärkungsmittel aus; den dritten E r s c h ö p f u n g , Nachmittags eine O h n m a c h t ; die N a c h t kam der A n f a l l ; den vierten zu Bett; den f ü n f t e n stand ich wieder a u f , um mich Nachmittags wieder zu legen, den sechsten und bis jetzt immer K o p f s c h m e r z und Schwäche. K u r z , wir müssen es noch 1 e r 15 n e n , zusammenzusein. Es ist eben g a r z u a n g e n e h m mit D r . R è e zu verkehren; es giebt nicht leicht einen erquicklicheren V e r k e h r . A b e r ich bin an das G u t e nicht gewöhnt. — Es gefällt ihm oder vielmehr: er ist ganz überrascht, sehr es ihm hier gefällt. —

wie

196.- 198. 20

Februar 1882

169

Mit S a r a h B e r n h a r d t hatten w i r U n g l ü c k . W i r w a r e n in der ersten A u f f ü h r u n g ; nach dem ersten A k t e fiel sie w i e todt nieder. N a c h einer peinlichen S t u n d e W a r t e n s spielte sie w e i t e r , aber mitten im dritten A k t e überfiel sie ein B l u t s t u r z , auf der B ü h n e — da w a r es denn aus. E s w a r ein unerträglicher E i n -

25 d r u c k , zumal sie eben eine K r a n k e d e r A r t spielte (la d a m e aux camélias von D u m a s fils) — T r o t z d e m hat sie mit u n g e h e u r e m Erfolg

am

nächsten

gespielt und G e n u a

und

nächstnächsten

überzeugt,

Abende

wieder

daß sie „die erste lebende

K ü n s t l e r i n " sei. — Sie erinnerte mich, in A u s s e h e n und M a n i e 3° ren, sehr an F r a u W a g n e r . — Mitte M ä r z geht D r . R è e nach R o m zu Frl. v. M e y s e n b u g . — M i t der Schreibmaschine ist noch nichts entschieden; ein äußerst geschickter M e c h a n i k e r hat jetzt e i n e W o c h e d a r a n gearbeitet, sie herzustellen. M o r g e n soll sie „ f e r t i g " sein. H o f f e n w i r das Beste! 35

W i e bin ich v o n E u c h , meine Lieben, beschenkt w o r d e n ! U n d ich höre auch v o n D r . R(ée) lauter E r f r e u l i c h e s v o n E u c h . Ich d e n k e , daß unsre liebe Lisbeth jetzt o d e r sehr bald G e l e g e n heit haben w i r d , F r a u R è e nützlich zu sein; sie reist S o n n t a g ab. M e h r erlaubt die G e s u n d h e i t durchaus nicht, zu schreiben.

40 V e r z e i h u n g !

In der grö

ß t e n Dankbarkeit E u e r Fr.

Welches ist A d r e s s e und T i t e l G u s t a v K r u g s ?

198. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Genua, 1 1 . Februar 1882) F r e u n d R è e und ich — ja w i e o f t reden w i r v o n Ihnen und sorgen und h o f f e n mit einander in B e z u g auf Alles, w a s H e r r n P e t e r G a s t angeht! W i e w ü n s c h e n w i r Sie herbei! — denn ich 5 habe jetzt eine W a h r s c h e i n l i c h k e i t m e h r , daß G e n u a g e f a l l e n w i r d : R(ée) ist g a n z außer sich v o r E r s t a u n e n ,

Ihnen wie

s e h r es ihm gefällt. Ü b r i g e n s verspricht er Ihnen, den nächst-

170

Briefe von Nietzsche

jährigen Carneval in Venedig zu erleben, vorausgesetzt, daß Sie dabei „betheiligt" sind — auch ich will dort sein. — Gersdorff hat in Leipzig über Sie gesagt: „was Carlsbad ist für einen verdorbnen Magen, das ist Köselitz für einen verdorbnen Geist". Die Schreibmaschine ist da, aber schwer beschädigt — es wird schon eine Woche an ihr „reparirt". Mit unserem herzlichsten Gruße R. und N . Antwort auf Köselitz' Brief vom 6. Februar 1882: III!2, S. 22J. Köselitz antwortet am 12. Februar 1882: III/2, S. 226.

i ganz an Sie und nur an Sie allein es richte weiß ich nicht anders zu thun als ich es früher that als die bestverehrte Frau, die es meinem Herzen giebt. Wir sind nicht Gegner in kleinen Dingen gewesen nicht was sie verlieren, sondern was Sie jetzt besitzen, steht 25 mir vor der Seele: und es wird wenig M(enschen) geben, die mit Einem so tiefen Gefühl sagen: so war es Alles meine Pflicht — es war auch mein ganzer Besitz — was ich um diesen Einen that, und nichts [ ] Ich denke, ich spreche mit diesem Allem von Ihnen meine 30 hochverehrte Frau? Aber ich denke, ich sprach mit diesem Allem auch ganz und gar von i h m . J a es ist jetzt schwer geworden, von Ihnen allein zu reden. — ich glaube durchaus nicht an irgendwelche noch versteckte Welten, aus denen etwas Tröstungen zu entnehmen wären. Das 35 Leben ist genau so tief und schwerwiegend als wir es tief (und) schwerwiegend zu machen wissen: aber es giebt Einige die aus hundert furchtbaren Zufällen die nicht in unserer Hand stehen, immer wieder Vernunft und Schönheit aufzurichten wissen durch den Glauben an V(ernunft) und Sch(önheit) — das ist 40 nun der beste gute Wille und die beste gute Kraft, das war und ist im Höchsten Ihre Kraft. Es ist immer noch K a m p f ; und die ersten Bildwerke sind immer noch zu erstürmen. D a ist der Anblick des Lebens hart, gräßlich, — und wenn man Einen sieht, der um neuer Farben 45 und Töne willen, wie ein

332

Briefe von Nietzsche

Sie haben es sich früher nicht verwehrt, in ernsten Lagen auch meine Stimme (zu) hören: und jetzt, w o die Kunde zu mir kommt, daß das Ernsteste Sie getroffen hat, weiß ich nicht anders zu thun als ich früher that und bitte Sie desgleichen zu 5 o thun — ich habe kein Mittel, das Gefühl, das mir diese Kunde giebt, a u s z u h a l t e n als indem ich es ganz auf Sie und nur allein auf Sie richte. Nicht was Sie verlieren, sondern was Sie jetzt erst besitzen, soll vor meiner Seele stehen: wie Sie jetzt wohl zu sich sprechen 55 dürfen: dies nun habe ich vollbracht, so wollte es meine Pflicht, was ich um diesen Einen that, und Alles habe ich gethan und dargebracht und mich nicht geschont, ich war unerbittlich, und wo ist der Tropfen Blutes, den ich für mich behielt: eine tiefe Ruhe hinter allem Schmerze: ich fühle es. Und so habe ich es 60 einstmals gewollt." — bis um letzten Blutstropfen s i c h vergeben und ohne Schonung so Uber die Liebe jenes Menschen hinaus erfaßte ich das Höchste, was seine H o f f n u n g erdachte: dem diente ich, und diesem 65 Höchsten, das nicht stirbt, gehöre ich an und mein Name für immerdar. So sehe ich heute auf Sie, und so sah (ich), wenn gleich aus großer Ferne, immer auf Sie — als auf die bestverehrte Frau, die es meinem Herzen giebt. 70 Wenige wollen so etwas von sich wie Sie es wollen: und von diesen Wenigen — wer kann es dann so wie Sie es können und konnten! Ein Kampf ist fortwährend, jedes große Leben durch und durch, und es gäbe Gründe über Gründe, wenn der Anblick eines solchen kämpfenden Lebens immer hart und 75 gräßlich wäre.

380.- 381.

Februar 1883

333

J8I. An Heinrich Köselitz in Venedig (Rapallo, 19. Februar 1883) Lieber Freund, jeder Ihrer letzten Briefe war eine W o h l t h a t für mich: ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür. Dieser Winter war der schlechteste meines Lebens; und ich betrachte mich als das Opfer einer N a t u r - S t ö r u n g . Das alte Sündfluth-Europa bringt mich noch um: aber vielleicht kommt mir noch ein Mensch zu Hülfe und schleppt mich auf die Hochlande von Mexiko. Allein kann ich solche Reisen nicht unternehmen: das verbieten die Augen und einiges Andre. Die ungeheure Last, die in Folge des Wetters auf mir liegt (sogar der alte Aetna beginnt zu speien!) hat sich bei mir in Gedanken und Gefühle verwandelt, deren Druck f u r c h t b a r war: und aus dem plötzlichen L o s w e r d e n von dieser Last, in Folge von 10 absolut heitern und frischen Januartagen, die es gab, ist mein „Zarathustra" entstanden, das l o s g e b u n d e n s t e meiner Erzeugnisse. Teubner druckt bereits daran; ich selber habe die Abschrift gemacht. Übrigens meldet Schmeitzner, daß im vergangnen Jahre a l l e meine Schriften besser gekauft worden sind, und ich erfahre sonst allerlei über eine wachsende Theilnahme. Sogar ein Mitglied des Reichstags und Anhänger Bismarcks (Delbrück) soll seinen äußersten Unwillen darüber ausgedrückt haben, daß ich nicht — in B e r l i n lebe, sondern in St. Margherita!! Verzeihen Sie dies Geschwätz, Sie wissen, was mir sonst jetzt gerade im K o p f e und am Herzen liegt. Ich war einige T a g e h e f t i g krank und machte meinen Wirthen Besorgnisse. Es geht nun wieder, und ich glaube sogar, daß der T o d Wagners die wesentlichste Erleichterung war, die mir jetzt geschafft werden konnte. Es war hart, sechs Jahre lang Gegner dessen sein zu müssen, den man am meisten verehrt hat, und ich bin nicht grob genug d a z u gebaut. Zuletzt war es der altgewordne Wagner, gegen den ich mich wehren mußte; was den eigentli-

334

Briefe von Nietzsche

chen W a g n e r betrifft, so will ich schon noch zu einem guten Theile sein E r b e werden (wie ich es oft gegen Malvida gesagt 35 habe) Im letzten Sommer empfand ich, daß er mir alle die Menschen weggenommen hatte, auf welche in Deutschland zu wirken überhaupt Sinn haben kann, und sie in die verworrne wüste Feindseligkeit seines Alters hineinzuziehn begann. Es versteht sich, daß ich an Cosima geschrieben habe. 40 Im Übrigen, alter Freund, auch Ihnen hat sich mit diesem T o d e der Himmel aufgehellt. Es ist jetzt Verschiedenes m ö g l i c h zB. daß wir noch einmal im Bayreuther „ T e m p e l " sitzen, um S i e zu hören. W a s Ihre W o r t e über Lou betrifft, so habe ich sehr lachen 45 müssen. Glauben Sie denn, daß ich d a r i n einen andern „Geschmack" habe als Sie? Nein, durchaus nicht! A b e r im gegebnen Falle handelte es sich v e r d a m m t wenig um „mit oder ohne Liebreiz", sondern darum, ob ein g r o ß angelegter Mensch zu Grunde geht oder nicht. — 50 Also die Correcturen dürfen wieder zu Ihnen laufen, mein alter hülfreicher Freund? — Schönsten D a n k für Alles. FN. Antwort auf Köselitz' Briefe vom 3. und 16. Februar I88J : III/z, ¡32 und JJ6. Köselitz antwortet am 22. Februar i88j:

III/z,

jjy.

382. An Malwida von Meysenbug in Rom (Rapallo, zi. Februar 1883) Liebe verehrte Freundin, so geht es! Ich warte T a g um T a g um Ihnen schreiben zu k ö n n e n : „ich komme!", weil ich T a g um T a g denke, es wird besser 5 gehn. Aber es geht immer schlechter, und jetzt, nach dem T o d e Wagner's zumal, g a n z schlecht. Meine Gesundheit ist jetzt, wie

381.- 382.

Februar 1883

335

vor drei Jahren; es ist A l l e s krank an mir, und ich will und mag keinen Menschen sehn und sprechen. Es soll mein altes strenges Selbst-Régime noch einmal versucht werden: denn io mein Erfahrungs-satz ist „wenn ich mir selber nicht a l l e i n helfe, werde ich keine Hülfe finden." Das heißt also: ich komme n i c h t nach Rom. W(agner)s T o d hat mir fürchterlich zugesetzt; und ich bin zwar wieder aus dem Bett, aber keineswegs aus der Nachwir'5 kung heraus. — Trotzdem glaube ich, daß dies Ereigniß, auf die Länge hin gesehn, eine Erleichterung für mich ist. Es war hart, sehr hart, sechs Jahre lang Jemandem Gegner sein zu müssen, den man so verehrt und geliebt hat, wie ich W(agner) geliebt habe; ja, und selbst als Gegner sich zum Schweigen ver20 urtheilen müssen — um der Verehrung willen, die der Mann als G a n z e s verdient. W(agner) hat mich auf eine t ö d t l i c h e Weise beleidigt — ich will es Ihnen doch sagen! — sein langsames Zurückgehn und -Schleichen zum Christenthum und zur Kirche habe ich als einen persönlichen Schimpf für mich emp25 funden: meine ganze Jugend und ihre Richtung schien mir befleckt, insofern ich einem Geiste, der d i e s e s Schrittes fähig war, gehuldigt hatte. Dies so stark zu empfinden — dazu bin ich durch unausgesprochne Ziele und Aufgaben gedrängt. 30 J e t z t sehe ich jenen Schritt als den Schritt des alt werdenden Wagner an; es ist schwer, zur rechten Zeit zu sterben. Hätte er noch länger gelebt, oh w a s hätte noch zwischen uns entstehen können! Ich habe furchtbare Pfeile auf meinem Bogen, und W(agner) gehörte zu der Art Menschen, welche 35 man durch W o r t e t ö d t e n kann. — Dies war bei weitem der härteste und qualvollste Winter meines Lebens, und mein Leid gieng außerordentlich in die Tiefe und die Abgründe; — die A n l ä s s e dazu sind fast gleichgültig. Es gab irgend eine große N o t h w e n d i g k e i t für mich, 40 einmal g e m a r t e r t zu werden und zu sehn, ob mein Ziel mich

336

Briefe von Nietzsche

leben läßt und am Leben festhalten läßt. Der T o d Wagner's gab in diese Empfindungen hinein einen tiefen dumpfen Donner; aber vielleicht geht mein Ungewitter j e t z t seinem Ende zu. Mit der wärmsten Dankbarkeit Ihr Nietzsche. Ich habe an Cosima geschrieben. Sie werden dies billigen? Antwort auf Malwida von Meysenbugs Brief vom iy. Februar 1883:

III/2,

339.

383. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte) (Rapallo, 22. Februar 1883) Lieber Freund, von jetzt an ist meine Adresse G e n o v a , Salita delle Battestine 8 (interno 6) Ich bitte, diese Adresse Niemandem mitzutheilen; insgleichen aus meinem Zarathustra-Unternehmen (es wird bereits gedruckt!) eine Sache des Schweigens zu machen. (Es geht mir s e h r , s e h r schlecht.) Treulich F N . Köselitz antwortet am 23. Februar 1883:

III/2,

342.

384. An Franz Overbeck in Basel (Rapallo, 22. Februar 1883) Lieber Freund, es geht r e c h t übel. Meine Gesundheit ist jetzt auf dem Punkte, wie vor drei Jahren. Alles ist kaput, und der Magen nachgerade so sehr, daß er auch die Schlafmittel nicht mehr verträgt — was schlaflose, äußerst gequälte Nächte zur Folge hat, und in weiterer Folge eine g r ü n d l i c h e Nervosität. — Ah, ich bin fürchterlich von der Natur zum „Selbstquäler" ausge — rüstet. Es versteht sich von selber, daß, von außen her gesehn, ich das vernünftigste Leben führe. Aber meine Phanta-

3 8 2 . - 384.

Februar 1883

337

io sie et hoc genus omne von Geist sind stärker als meine Vernunft. Was Rom betrifft, so habe ich gestern abgeschrieben; ich will Niemanden jetzt sprechen. Auch habe ich auf einem Umwege gehört, daß meine Schwester in Rom erwartet wird, und daß sie 15 über Venedig reisen will. Sonnabend siedle ich nach Genua über; meine Adresse ist von jetzt ab (und ich b i t t e darum, sie nicht mitzutheilen!) Genova (Italia) salita delle Battestine 8 (interno 6) Ich will auf dem schon gegangenen Wege in größter Zurückge20 zogenheit meine Gesundheit suchen. Mein Fehler im vorigen Jahre war, daß ich die Einsamkeit a u f g a b . Ich bin durch das ausschließliche Zusammensein mit idealischen Bildern und Vorgängen so reizbar geworden, daß ich im Verkehr mit den jetzigen Menschen unglaublich leide und entbehre; zuletzt werde 25 ich dabei hart und ungerecht, kurz, es bekommt mir schlecht. W a g n e r war bei weitem der v o l l s t e Mensch, den ich kennen lernte, und in d i e s e m Sinne habe ich seit sechs Jahren eine große Entbehrung gelitten. Aber es giebt etwas zwischen uns Beiden wie eine tödtliche Beleidigung; und es hätte furchtbar 30 kommen können, wenn er noch länger gelebt haben würde. L o u ist bei weitem der k l ü g s t e Mensch, den ich kennen lernte. Aber u.s.w. u.s.w. Mein „Zarathustra" wird schon im Druck sein. Ich habe an Cosima geschrieben, sobald ich konnte. Das 35 heißt: nach einigen der allerschlimmsten Tage, die ich zu Bett zubrachte. Nein! D i e s e s Leben! Und ich bin der Fürsprecher des Lebens!! Sobald die Jahreszeit es erlaubt, will ich in die Berge, zu den 40 Süd-Abhängen des Mont-Blanc. Es hilft Alles nichts: ich muß mir helfen, oder es ist aus. — Was macht bei Dir und Deiner lieben Frau die Gesundheit? Dein Freund F N.

338

j8j.

Briefe von Nietzsche

An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte) (Rapallo, 23. Februar 1883)

Zugleich mit dem h e r z l i c h s t e n D a n k f ü r I h r e n B r i e f sende ich heute meine neue Adresse (die ich auch schon Teubnern mitgetheilt habe) „ .. . /T Genova (Italia) salita delle Battestine 8 (interno 6) F.N. Antwort auf Emst Schmeitzners Brief vom 1 y Februar 1883: III/2, j j

j 86. An Franz Overbeck in Basel (Genua, 6. März 1883) Lieber Freund, Dein Brief that mir herzlich wohl. Verzeihung, wenn ich jetzt wenig schreibe. Ich bin krank, fast vom Augenblick an, wo ich Genua betrat. Fieber, Kopfschmerz, Nachts Schweiß, g r o ß e Müdigkeit. Zumeist zu Bett; ich habe weder Appetit noch Geschmack. Man nennt diese Krankheit hier Influenza. Dr. Breiting (der e r s t e Arzt Genua's und mir äußerst zugethan) hat mir Chinin verordnet; das hatte ich mir natürlich auch selber schon verordnet. — Es soll eine Sache von 4—6 Wochen sein. Wie gut, daß ich allein und n i c h t in Rom bin! Sonst sieht der Himmel fortwährend rein und klar aus, und auch in mir ist Alles geordneter und zufriedener. Ich b e g r e i f e eine gewisse Nothwendigkeit für mich, darin, daß ich so gelitten habe; ich habe mir drei oder vier Glücks-Wünsche persönlicher Art, die ich noch hatte, damit aus der Seele geschnitten, und bin wieder freier als ich es vorher war. — Die Loslösung von meinen Angehörigen fängt an, sich mir als wahre Wohlthat darzustellen; ach, wenn Du wüßtest, was ich in diesem Capitel (seit meiner Geburt —) Alles zu überwinden gehabt habe! Ich mag meine Mutter nicht, und die Stimme meiner Schwester zu

385. - 386.

339

Februar-März 1883

hören macht mir M i ß v e r g n ü g e n ; ich bin i m m e r k r a n k g e w o r den, w e n n ich mit ihnen z u s a m m e n war. „ G e z a n k t " haben wir uns fast gar nicht, auch im v o r i g e n S o m m e r nicht; ich w e i ß 25 schon mit ihnen u m z u g e h e n , aber es b e k o m m t mir schlecht. Eine andere „ B e f r e i u n g " will ich D i r nur andeuten: ich habe es a b g e l e h n t , daß Ree's H a u p t b u c h „ G e s c h i c h t e des G e w i s sens" mir g e w i d m e t wird —

und damit einem V e r k e h r e ein

E n d e gesetzt, aus d e m manche unheilvolle V e r w e c h s l u n g ent30 standen ist. — O b mein letztes W e r k g e d r u c k t w i r d , ist mir z w e i f e l h a f t ; ich höre und sehe nichts mehr davon. N u n , es hat auch Z e i t !



Malvida schrieb mir eben, auch von Frau W a g n e r „C(osima) will für die W e l t , u n s A l l e einbegriffen, ebenso abgeschieden 35 sein w i e er, will nie die Freunde wiedersehn, nie einen Brief mehr lesen, k u r z w i e eine N o n n e leben, nur seinem A n d e n k e n und den K i n d e r n . " — U n g e f ä h r will ich's ebenso machen, w e n n auch nicht aus gleichen Motiven. Ich w e r d e „ v e r s c h w i n d e n " — ich glaube, das 40 habe ich schon v o m E n g a d i n aus D i r einmal in Aussicht gestellt. Vorher

aber bedarf ich noch vieler E r w ä g u n g e n und auch

einer langen persönlichen U n t e r r e d u n g mit Dir. Mein

Leben

gestaltet

sich

allmählich

und

nicht

ohne

K r ä m p f e — aber es s o l l Gestalt b e k o m m e n ! 45

S o ! U n d nun will ich mich w i e d e r hinlegen. W a s ich müde bin! D i r und D e i n e r verehrten Frau immer auf das d a n k b a r s t e eingedenk

F.N.

G e n o v a Salita delle Battestine 50

8 (interno 4) D i e n s t a g den ? Deussens V e d a n t a - W e r k ist a u s g e z e i c h n e t . Ü b r i g e n s bin ich für d i e s e Philosophie beinahe das böse Princip. Antwort auf einen nicht überlieferten Brief Franz

Overbecks.

Franz Overbeck antwortet am 2;. März I88J: III/2, 353.

340

Briefe von Nietzsche

3 87. An Heinrich Köselitz in Venedig (Genua, 7. März 1883) Krank! Lieber Freund, so geht es! Kaum hatte ich Genua betreten, so gieng's los. Fieber, Frost, Nachts Schweiß, intensiver Kopfschmerz, große beständige Müdigkeit, Mangel an 5 Geschmack und Appetit: das ist das Bild der Krankheit. Ich bin zumeist im Bett und schleiche hier und da einmal in die Stadt. Ein Basler Arzt sorgt für mich und hat mir natürlich Chinin verordnet: aber meine eigne „Weisheit" hatte schon vorher Chinin „verordnet". Das ist eine Sache von 4—6 Wochen, sagt man 10 mir; man nennt's Influenza. — Wie gut, daß ich allein bin! Für Ihren letzten Brief bin ich Ihnen besonders dankbar. Wirklich, lieber Freund, Sie sind einer der festesten Knoten, mit denen ich mich an's Leben gebunden fühle; ich kann es gar nicht ausrechnen, wie viele ermuthigende Gefühle ich einem 15 gelegentlichen Hinblick nach Ihnen oder einem gelegentlichen Herblick von Ihnen zu mir verdanke. So wie Sie's machen, gefällt mir's ungemein: Ihre Kraft, Ihre Spannung, Ihre Forderung an sich selber wächst mitten unter der gleichmäßigen ehrlichsten A r b e i t und kommt nicht nur 20 wie eine Convulsion einmal „über" Sie — und deshalb sind Sie in der Praxis s t o l z e r als jene Künstler, bei denen K r a f t und Ehrgeiz das Leben zum Krämpfe machen. Habe ich Ihnen gar nichts zu erzählen? — Gestern kam ein deutscher Musiker zu mir, Herr Bungert, im Alter von 3 5 Jah25 ren, früher Klavierspieler, neuerdings Componist. Er stammt, was Klavierspielen betrifft, aus der Schule Chopin's (er lebte 4 Jahre in Paris und hatte einen Schüler Chopin's zum Lehrer); was Contrapunkt betrifft, ist Kiel sein Lehrer. Auch war er schon ein Jahr praktischer Kapellmeister (in Kreuznach). Das 30 Erste, was er mir erzählte, war, daß er mit einer Oper eben fertig sei, deren Text er selber gedichtet habe: sie heiße Nausikaa. Ich erfuhr, daß N(ausikaa) zuletzt sich in's Meer wirft und sich

387.- 388.

35

40

45

50

55

März 1883

341

dem Poseidon zum Opfer bringt. Ein andres Werk von ihm „die Studenten von S a l a m a n c a " sei von 3 deutschen Bühnen angenommen, und er werde deshalb wohl nach Deutschland reisen müssen. Er hatte die Absicht gehabt, der Nausikaa wegen nach Griechenland zu gehen, aber der englische Consul Brown habe ihm klar gemacht, daß man „dies näher haben könne" und zwar — bei Porto fino. Er hat in einem gut eingerichteten Castell daselbst, das jenem Consul gehört, ganz allein gelebt und die Nausikaa componirt. — Vielerlei gieng mir bei diesen Dingen durch den Kopf. Er scheint den Umgang mit mir zu wünschen, es ist eine Ahnung in ihm, daß es bei mir irgend welche Griechische und auch wohl Goethische H o f f n u n g e n giebt. — Aber er gefällt mir noch gar nicht. Haben Sie je von ihm gehört? Bungert heißt er. Endlich, lieber Freund: ich bin ganz zweifelhaft geworden, ob mein Werk, von dem ich Ihnen in einem meiner letzten Briefe schrieb, gedruckt wird. Es giebt Hindernisse. — Und alle Dinge haben Zeit oder sollten sie haben. N u n wieder in's Bett. Mit herzlichem Gruß und Wunsch F.N. Salita delle Battestine 8, interno 4. Antwort auf Köselitz' Brief vom 22. Februar i88j: III/2, 339, Köselitz antwortet am 9. März 1883: III/2, 343.

388. An Franz Overbeck

in Basel (Postkarte)

(Genua, 9. März 1883) Soeben kam „Gsell-Fels Italien" bei mir an. — Ich leide g r ä ß l i c h am Kopfe, Tag für Tag. Es s c h n e i t , s e i t gestern Abend. Gab es je so viel Schnee in 5 Genua? So war's, als ich von Leipzig abreiste.

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Briefe von Nietzsche

Ein deutscher Componist, H e r r Bungert, hat mich besucht; zum ersten Male, daß mich Jemand hier besucht. — Was denkt man über seine Musik bei Euch? — Ich lag zu Bett mit verbundenem K o p f e , und er hat mich ein paar Stunden auf das Beste 10 unterhalten — er erzählte mir seine Opern, die er selbst gedichtet hat, namentlich seine Nausikaa (er lebte in Porto fino) Es ist ein Dichter. — ( E b e n b l i t z t u n d d o n n e r t e s ) . Dein Freund F.N. Franz Overbeck antwortet am 2;. März 1883: III/2,

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