Brüchige Texte, brüchige Identitäten: Avantgardistisches und exophones Schreiben von der klassischen Moderne bis zur Gegenwart [1 ed.] 9783737008136, 9783847108139

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Brüchige Texte, brüchige Identitäten: Avantgardistisches und exophones Schreiben von der klassischen Moderne bis zur Gegenwart [1 ed.]
 9783737008136, 9783847108139

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Broken Narratives

Band 3

Herausgegeben von der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Norbert Bachleitner / Ina Hein / K#roly Kjkai / Sandra Vlasta (Hg.)

Brüchige Texte, brüchige Identitäten Avantgardistisches und exophones Schreiben von der klassischen Moderne bis zur Gegenwart

Mit 11 Abbildungen

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2366-3596 ISBN 978-3-7370-0813-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung des Dekanats der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen FakultÐt, des Instituts fþr Ostasienwissenschaften und des Instituts fþr EuropÐische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft der UniversitÐt Wien.  2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: „Untitled“,  Vera Shoeyb

Inhalt

Norbert Bachleitner / Ina Hein / K#roly Kjkai / Sandra Vlasta Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Themenschwerpunkt 1: Kontinuitäten und Brüche in den mitteleuropäischen Avantgarden K#roly Kjkai Geschichten der ungarischen Avantgarden in Österreich. Eine narratologische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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P#l Der8ky Aktivismus, Dada, Proletkult und Konstruktivismus: Zerfall der ungarischen Avantgarde-Erzählung in Wien . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dietmar Unterkofler Sprache als Ding – Kunst als Fotografie: Zum Paradigmenwechsel des Medialen in der jugoslawischen Neoavantgarde und Konzeptkunst . . . .

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Norbert Bachleitner Digital Literature: Continuation of or Rupture with the Avant-gardes? . .

77

Zsuzsa G#ti Digitales Erzählen – Kontinuität der Brüche? (Mit einigen Beispielen aus der ungarischen digitalen Erzählkultur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Themenschwerpunkt 2: Von Brüchen und Versuchen, diese zu überwinden: Literarische Schreibstrategien im Kontext von Migration Mario Rossi Risse und Kontinuität im literarischen Werdegang von Migrierenden: Denotative und konnotative Wandlungen um die Ortschaft Uspallata in drei Etappen von Juan Rodolfo Wilcocks Werk . . . . . . . . . . . . . . . 115 Hannes Schweiger Brüchige Biographien? Migrationserfahrungen in literarischen Lebensgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Ina Hein / Sandra Vlasta Brüche erzählen – exophones Schreiben bei Levy Hideo und Guo Xiaolu

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Zu den AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Norbert Bachleitner / Ina Hein / K#roly Kjkai / Sandra Vlasta

Vorbemerkungen

Brüche charakterisieren die Geschichte und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts. Auch das konventionelle Erzählen ist ins Stocken gekommen, davon kündet die Literaturgeschichte, ganz zu schweigen vom Zerbrechen der vielzitierten ,großen‘ Erzählungen. Diese Phänomene wurden in einer im April 2013 an der Universität Wien abgehaltenen Konferenz unter dem Titel „Broken narratives“ thematisiert. Eine Sektion dieser Konferenz beschäftigte sich mit Brüchen, die durch die Avantgarde(n) hervorgerufen wurden, eine andere mit dem Phänomen der sogenannten Migrationsliteratur. Die Beiträge dieser beiden Sektionen finden sich in diesem Band versammelt. Was umfasst der Begriff der „Broken narratives“? Man kann den „Bruch“ in der Wahrnehmung von Geschichte und kulturellen Hervorbringungen sowohl auf der Ebene der Mimesis wie auch jener der Poiesis verfolgen. Literatur und andere Künste bzw. Medien berichten von Erfahrungen des Einschnitts, der Wende, des Neuanfangs in Form von Revolutionen, Kriegen, Katastrophen, dem Zerfall und der Neuschöpfung von Identitäten, Nationen, Wissens- und Religionssystemen. Hier bestehen zweifellos Verbindungen zur seit zwei Jahrzehnten verbreiteten Traumaforschung. Innerhalb der Avantgarde ist etwa die Auflösung des homogenen Ich-Bewusstseins allgegenwärtig. Insbesondere sorgt die Erfahrung der Migration und des Lebens in einer a priori mehr oder weniger unbekannten Zielkultur für Brüche auf vielen Ebenen, speziell aber in der Sprache und im kulturellen Wissen. Ob freiwillig oder erzwungen, das Verlassen der ,Heimat‘ bewirkt Brüche in persönlichen Biografien wie auch im kollektiven Gedächtnis von Gemeinschaften. Das oft schmerzliche Erleben der Deplatzierung und der damit verbundenen notwendigen Neu-Positionierung setzt aber zugleich ein kulturell enorm produktives Potential frei. Es bewegt zum Schreiben, zur Reflexion und Vermittlung von kulturellen Differenzerfahrungen. Freilich ,zerbrechen‘ in der Moderne und Avantgarde nicht nur die semantischen Tiefenstrukturen und die Kontinuität des Erzählens, sondern auch die Textoberflächen. In der klassischen Rhetorik galt der Stilbruch als Fehler, als zu vermeidender bzw. zu korrigierender Lapsus. Gleichzeitig wurden aber auch

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Norbert Bachleitner et al.

seine Wirkungsmöglichkeiten erkannt, in der Rede, aber noch mehr in Literatur und Kunst. Unterbrechung von Kontinuität, abrupter Wechsel der Stilebene, das Nebeneinanderrücken von nicht zueinander Passendem kann einen Schock bei BetrachterInnen oder LeserInnen auslösen. Was in den frühen Montagen und Collagen noch als Provokation gewirkt hat, ist spätestens in der Postmoderne zum verbreiteten Phänomen und beinahe zur Regel geworden. In der digitalen Literatur beruht eine der bedeutendsten Subgattungen, der Hypertext, geradezu auf der ständigen Unterbrechung, die durch die Fragmentierung einzelner Textbausteine zustande kommt. Der Bruch ist hier in Form des Links, der speziell in der Literatur weniger ,verbindet‘ als ,trennt‘, zur allgegenwärtigen Konvention geworden. „Broken narratives“ repräsentieren die Unterbrechungen von Kontinuität, sie bewirken aber auch Brüche. Die Avantgarde bricht stilistisch mit der Tradition, mit konventionellen Formen und Ausdrucksweisen; der Wechsel von bedrucktem Papier zu Bildschirmen und digitaler Programmierung verändert das Schreiben und Lesen in vielfacher Hinsicht. Autorinnen und Autoren mit ,Migrationshintergrund‘ schreiben anders als ihre Kolleginnen und Kollegen, die sich in ihrer Heimatkultur bewegen und ihre Muttersprache verwenden. Brüche infolge von Migration erzeugen Hybridität und machen eindeutige Zuordnungen obsolet. Die im hier vorliegenden Band versammelten Beiträge widmen sich den Panel-Themen Kontinuität und Brüche in den mitteleuropäischen Avantgarden und Von Brüchen und Versuchen, diese zu überwinden: Literarische Schreibstrategien im Kontext von Migration anhand von einzelnen Fallbeispielen. In den Texten des ersten Themenschwerpunkts geht es bei K#roly Kjkai und P#l Der8ky um die ungarische Avantgarde in Österreich, bei Dietmar Unterkofler um Jugoslawien und bei Norbert Bachleitner und Zsuzsa G#ti um die digitale Avantgarde. Somit umfasst der Betrachtungszeitraum die Perioden der klassischen Avantgarde, der Neoavantgarde und die Avantgarde unserer Gegenwart. Insgesamt ist hier der Fokus auf Mitteleuropa gelegt, wobei dieser Raum mit der digitalen Avantgarde als virtueller erscheint und somit seine geographische Abgrenzung in Frage gestellt wird. Eine zweite Grenzüberschreitung ist durch die Perspektive der Migration gegeben – was ein verbindendes Element zum zweiten Teil dieses Bandes ist. So war die ungarische Avantgarde in Österreich – das Thema von Kjkais und Der8kys Aufsatz – ja eine Kunstbewegung von Migranten. Ein weiteres verbindendes Element ist die Diskussion von Medialität – in Unterkoflers Beitrag explizit, indem er sich einem medialen Paradigmenwechsel widmet, bei den anderen Texten implizit, indem es um spezifische Medien geht, deren erzähltheoretische Analyse das zentrale Anliegen der einzelnen Aufsätze ist. K#roly Kjkai diskutiert in seinem Beitrag „Geschichten der ungarischen Avantgarden in Österreich. Eine narratologische Analyse“ vier Textausschnitte.

Vorbemerkungen

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Zwei stammen von den Avantgardisten selbst, zwei aus wissenschaftlichen Abhandlungen über die Avantgarde. Es handelt sich hier also um autobiographische und Sachtexte, die mit dem methodologischen Apparat bzw. vor dem Theoriehintergrund der Narratologie untersucht werden. Aus dieser Analyse versucht Kjkai nicht nur Aufschlüsse über die besprochene Avantgarde, sondern auch über die Narratologie als Methode und als Theorie zu erhalten. P#l Der8ky widmet seinen Aufsatz mit dem Titel „Aktivismus, Dada, Proletkult und Konstruktivismus: Zerfall der ungarischen Avantgarde-Erzählung in Wien“ dem zentralen Thema dieser Buchreihe, den Broken Narratives, während es in den anderen Beiträgen dieses Themenschwerpunkts nicht nur um Brüche, sondern (auch) um Kontinuitäten geht. Sein Text besteht aus zwei Teilen: Der einführende Teil des Aufsatzes stellt den Kontext her, aus dem heraus der 1922 in einer Wiener Zeitschrift erschienene, stilistisch dem Dada zuzuordnende Text Erstes Treffen der Wahnsinnigen in einer Sammelkiste für Straßenmist verständlich gemacht werden kann. Dieser ist im zweiten Teil in deutscher Übersetzung abgedruckt. Dietmar Unterkoflers Text „Sprache als Ding – Kunst als Fotografie: Zum Paradigmenwechsel des Medialen in der jugoslawischen Neoavantgarde und Konzeptkunst“ konzentriert sich auf das Jugoslawien der 1960er und 1970er Jahre, also auf ein Land, das mit seiner nationalen Vielfalt als exemplarisch für Mitteleuropa gelten kann. Was sich hier an Neoavantgarde entfaltete, ist nicht nur in ihrer Pluralität, sondern auch in ihrer Radikalität, ästhetischen Qualitäten sowie gesellschaftlicher, politischer und kultureller Bedeutung hervorragend. Die jugoslawische Neoavantgarde bietet als Laboratorium der Erneuerung ideale Möglichkeiten der Analyse an, aus dem Unterkofler die Bruchstellen in der Entwicklung der Dichtung und der Fotografie als beispielhaft auswählt. Norbert Bachleitner zeichnet in „Digital Literature: Continuation of or Rupture with the Avant-gardes?“ die Geschichte der digitalen Literatur seit den 1980er Jahren nach, mit Hinweisen zu ihrer Vorgeschichte im 20. Jahrhundert in der analogen experimentellen Literatur. Er gibt damit nicht allein eine Antwort auf die im Titel des Aufsatzes gestellte Frage, sondern weist im Detail und systematisch die Verbindungen zwischen den beiden nach und demonstriert damit die Kontinuität über den medialen Bruch hinweg. Der Nachweis der Ursprünge der digitalen Literatur in der analogen heißt selbstverständlich nicht, dass die Innovationen der ersteren außer Acht gelassen werden. Der zweite Teil des Aufsatzes von Bachleitner widmet sich einigen diesbezüglichen Beispielen. Zsuzsa G#tis „Digitales Erzählen – Kontinuität der Brüche? (Mit einigen Beispielen aus der ungarischen digitalen Erzählkultur)“ wendet sich nach Bachleitners allgemeiner Darstellung einem enger abgesteckten Bereich zu und vertieft so die im vorangehenden Aufsatz gewonnenen Einsichten weiter. Ihre Beispiele aus der ungarischen Literatur kehren auch zu der Perspektive von

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Kjkai und Der8ky zurück, die ebenfalls anhand von Übersetzungen aus dem Ungarischen auf die kulturellen Wechselbeziehungen in Mitteleuropa verweisen. G#tis Ausführungen etwa zum Spiel oder zur Komplexität des Autor-LeserVerhältnisses eröffnen zugleich Möglichkeiten des Neu-Denkens der Narratologie im ,digitalen Zeitalter‘. Am Ende ihres Beitrags widmet sie sich Überlegungen zur Bedeutung der Avantgarde unter den Bedingungen der permanenten Veränderung und rundet damit den ersten Themenschwerpunkt ab. Die Beiträge zum zweiten Schwerpunkt Von Brüchen und Versuchen, diese zu überwinden: Literarische Schreibstrategien im Kontext von Migration analysieren die literarische Bearbeitung von Migrationserfahrungen im 20. und 21. Jahrhundert, wobei Texten exophoner AutorInnen, das heißt SchriftstellerInnen, die nicht bzw. nicht ausschließlich in ihrer Erstsprache schreiben, besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bei der Untersuchung von literarischen Schilderungen modellhafter Situationen und signifikanter Migrationstopoi (wie z. B. die intensive Auseinandersetzung mit Sprache) wird u. a. gefragt, ob die Migrationserfahrung in den Texten tatsächlich als Bruch begriffen und thematisiert wird: Stehen Diskontinuitäten im Vordergrund – oder wird die Erfahrung der Migration Ausgangspunkt zur Schaffung von etwas Neuem, positiv Erfahrbarem? Außerdem wird untersucht, inwiefern die Entwürfe neuer, komplexer und teilweise fragmentierter Identitäten einhergehen mit der Erprobung experimenteller Erzählstrategien – wie z. B. einer nicht-linearen Strukturierung von Zeit, Raum und Erzählperspektiven oder Mehrsprachigkeit. Mario Rossi geht in seinem Beitrag „Risse und Kontinuität im literarischen Werdegang von Migrierenden: Denotative und konnotative Wandlungen um die Ortschaft Uspallata in drei Etappen von Juan Rodolfo Wilcocks Werk“ der Frage nach, wie sich Themen und literarische Formen im Werk des argentinischitalienischen Schriftstellers Juan Rodolfo Wilcock, der von einem geografischen und sprachlichen Raum in einen anderen übersiedelte, zueinander verhalten. Er analysiert die Gewicht- und Sinnverschiebungen, die Kontinuitäten und Transformationen, die ein wiederkehrendes Motiv – der Ort Uspallata – in den Werken Wilcocks im Laufe seines literarischen Schaffens in verschiedenen Sprachen und Gattungen durchlaufen hat. Dabei untersucht Rossi die Dynamik zwischen Tiefen- und Oberflächenstrukturen in Gedichten aus dem Band Persecucijn de las musas menores (1945), in der Erzählung „Los donguis“ (1955) und in dem Briefroman L’ingegnere (1973) und zeigt, wie fruchtbar es sein kann, nicht nur nach Brüchen, sondern auch nach Kräuselungen, Rissen, Falten, Verwerfungen und deren Bewegungen in Texten zu suchen. Im Mittelpunkt von Hannes Schweigers Beitrag „Brüchige Biographien? Migrationserfahrungen in literarischen Lebensgeschichten“ stehen die Romane Spaltkopf (2008) und Die Erdfresserin (2012) von Julya Rabinowich. Rabinowichs Texte sind gerade für die Auseinandersetzung mit der Frage nach den Brüchen in

Vorbemerkungen

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Migrationsbiographien besonders aufschlussreiche Beispiele. In den hier behandelten Werken werden Lebensgeschichten erzählt, in denen jeweils das Einund Auswandern zu einem zentralen Moment wird. Mit Bezug auf die Biographieforschung fragt Schweiger, welche spezifische Bedeutung die Frage nach der Identität im Laufe eines Lebens gewinnt, wenn sprachliche, kulturelle oder politische Grenzen überschritten werden, und welche Implikationen das für die Darstellung einer Lebensgeschichte hat. Welche Bedeutung wird der Migrationserfahrung in den Lebensgeschichten beigemessen? Im Rahmen der konkreten Textanalyse interessiert Schweiger, ob die Protagonistinnen und Protagonisten die Migrationserfahrung als Bruch wahrnehmen. Wie gehen sie mit der Erfahrung des Bruchs um? Wie stellen sie Kontinuitäten her? Und: Welche Konsequenzen hat die Migrationserfahrung für die jeweiligen Identitätskonstruktionen? Hintergrund für Schweigers Analyse bilden Ansätze zu einer transnationalen Biographik, die in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. Ina Hein und Sandra Vlasta vergleichen in ihrem Beitrag „Brüche erzählen – exophones Schreiben bei Levy Hideo und Guo Xiaolu“ zwei Texte exophoner AutorInnen: Seijiki no kikoenai heya (1992; in englischer Übersetzung 2012 erschienen als A room where the star spangled banner cannot be heard) des auf Japanisch schreibenden, U.S.-amerikanischen Schriftstellers Levy Hideo und A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers (2007) der auf Englisch schreibenden chinesischen Schriftstellerin Guo Xiaolu. Hein und Vlasta untersuchen das Thema des Erlernens der jeweiligen Fremdsprache, das in beiden Texten zentral ist; es wird neben der inhaltlichen auch jeweils auf der formalen und sprachlichen Ebene der Texte reflektiert. Die Auseinandersetzung mit Sprache ist außerdem eng verknüpft mit Fragen der (individuellen und kollektiven) Identität, die sich auch auf die außertextuelle Ebene erstreckt: So wird der Diskurs der Nationalliteratur von Levy und Guo hinterfragt, wenn nicht durchbrochen. Obwohl beide Texte eine gemeinsame Thematik haben, unterscheiden sie sich in anderer Hinsicht (inhaltlich, besonders aber stilistisch und formal) stark voneinander, wie Hein und Vlasta in ihrer gegenüberstellenden Analyse zeigen. Am vorliegenden Band haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Arbeitsfeldern – wie der Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Finno-Ugristik, der Romanistik, der Japanologie, der Germanistik und der Biographieforschung – mitgewirkt. Entsprechend unterschiedlich sind die hier vertretenen theoretischen Prämissen, methodischen Ansätze und Vorgehensweisen; ebenso folgen die einzelnen Beiträge teilweise unterschiedlichen fachlichen Konventionen. Die Autorinnen und Autoren sind selbst in sehr verschiedenen Sprachen ,zuhause‘, und für die – in ebenso vielen verschiedenen Sprachen verfassten – Literaturen, mit denen sie sich in den hier versammelten

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Norbert Bachleitner et al.

Beiträgen beschäftigen, sind jeweils unterschiedliche Entstehungskontexte von Bedeutung. Es war zwar das Bestreben der Herausgeberinnen und Herausgeber, eine gewisse formale Einheitlichkeit herzustellen; jedoch wurde angesichts dieser (beabsichtigten) disziplinären Pluralität auch Spielraum für Individualität gewährt. Trotz oder vielleicht gerade wegen der großen Diversität unter den Beteiligten haben sich, angestoßen durch die Konferenz „Broken narratives“ und die gemeinsame Arbeit an dieser Publikation, äußerst bereichernde Arbeitszusammenschlüsse in Forschung und Lehre ergeben. Unser Dank gilt daher dem Dekanat der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien für die Initiative, über die üblichen Fachgrenzen hinaus gemeinsam über Brüche und Widersprüche, die in der Literatur verhandelt und sichtbar gemacht werden, zu arbeiten. Ferner möchten wir allen denjenigen danken, die zu der Realisierung dieses Bandes beigetragen haben: Allen Autorinnen und Autoren sowie unseren Kolleginnen und Kollegen, die wertvolle Rückmeldung zu den einzelnen Beiträgen gegeben haben. Wien, im September 2017

Themenschwerpunkt 1: Kontinuitäten und Brüche in den mitteleuropäischen Avantgarden

K#roly Kjkai

Geschichten der ungarischen Avantgarden in Österreich. Eine narratologische Analyse

Die ungarische Avantgarde zeichnet sich dadurch aus, dass ein wesentlicher Teil ihrer Geschichte außerhalb Ungarns stattgefunden hat. Das gilt für das gesamte 20. Jahrhundert, also sowohl für die Periode der sogenannten klassischen Avantgarde als auch für die Periode der sogenannten Neoavantgarde. Beide fanden großteils im Ausland – in Jugoslawien und auch in Österreich – statt. Es gab also mehrere Avantgarden in Österreich. Und über beide gibt es natürlich mehrere Geschichten, erzählt durch die Beteiligten und durch Kulturwissenschaftler, die das Phänomen zu rekonstruieren versuchen. Somit wäre klar, was der Titel dieses Aufsatzes meint: Es geht um verschiedene Geschichten von verschiedenen Avantgarden. Im Folgenden werden vier Textstellen angeführt, um diese Vielfalt zu illustrieren.

Die Erzähltexte Die bekannteste Persönlichkeit der ungarischen Avantgarde hieß Lajos Kass#k. Er befand sich – und mit ihm eine ganze Gruppe ungarischer Avantgardisten – in der ersten Hälfte der 1920er Jahre in der österreichischen Emigration. Zur Flucht waren sie gezwungen, weil sie an der ungarischen Räterepublik im Frühjahr und Sommer 1919 beteiligt waren und nach deren Niederschlagung die Verfolgung fürchteten. So wurde Kass#k festgenommen und erst nach Intervention von außen durch Freunde und Familie freigelassen. Wegen der aufgeheizten Stimmung entschloss er sich zur Emigration. Die Erzählung, wie er nach Wien gelangt, ist in seinem autobiographischen Roman Das Leben eines Menschen im Buch VIII Die Kommune nachzulesen: Nachdem er aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, sah er bald ein, dass es besser wäre, wenn er auch das Land verlassen würde, wie so viele andere Kommunisten vor ihm. Die Flucht war aber erst zu organisieren, weil er keine Reisepapiere besaß. So entschloss er sich, illegal, auf einem Boot versteckt, von Budapest nach Wien zu fahren.

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Károly Kókai

Das Schiff fährt um sechs am Abend los, aber wir müssen schon um vier dort sein, damit ich unauffällig hinauf gelangen kann. Wir fahren mit dem Auto, nur mit Koronya. Das Mädchen saß direkt neben mir und redete über so beiläufige Dinge, als ob wir zu einem kleinen netten Ausflug aufbrechen würden. Ich war wohl eine schwere Last für den Kapitän, aber der Mann mit dem großen Schnurrbart und der roten Nase machte ein gleichgültiges Gesicht zu diesem Spiel. Er legte seinen rechten Arm um meine Schulter und spazierte so mit mir über den Anlegesteg. Ich sah für einen Moment, dass Koronya und Jol#n am Ufer standen. Dann verdunkelte sich die Welt um mich. Der Kapitän schloss mich in einen großen Eisenkasten ein, der neben dem Schiffsschornstein stand. Ein nicht sehr bequemer Ort, vom Schornstein glühte die eine Seite beinahe, und nach einer Minute wollte ich mich schon ausstrecken. Ich sitze hier in einer Position wie vor Langem unter dem Herzen meiner Mutter. Ich ziehe meine Knie bis zum Kinn hinauf und die Hände strecke ich auch nicht weit vom Körper weg. Ich bin wohl schon sehr, sehr lange in dieser Stellung. Wir fahren noch immer nicht los. Dann pfeift die Maschine, am Ufer wird mit einer großen Glocke geläutet. Das Schiff schwankt nach links und rechts, als ob es auf der Stelle tanzen würde, dann spüre ich, dass wir losfahren. Es ist jetzt sechs, wenn nichts Besonderes vorfällt, sind wir morgen um vier nachmittags in Wien.1

In Wien angekommen, organisierte Kass#k die Avantgarde und gab insbesondere ihr sichtbarstes Zeichen, die Zeitschrift Ma, also „Heute“ oder „Gegenwart“, heraus. Ma war dabei nicht bloß Sprachrohr der ungarischen, sondern auch ein Forum der internationalen Avantgarde. Die internationalen Verbindungen der ungarischen Avantgarde waren natürlich für die wissenschaftliche Forschung von großer Relevanz, ermöglichten sie es doch, die ungarische Literatur und Kunst in ihrem Umfeld zu verorten, so in einem 2003 in deutscher Übersetzung erschienenen Text der Kunsthistorikerin Krisztina Passuth. Kass#k baute im Lauf der Jahre – in erster Linie zwischen 1920 und 1923 – ein kompliziertes Beziehungsgeflecht mit von Ungarn bewohnten und mit nicht von Ungarn bewohnten Gebieten bzw. mit ungarischen und nicht ungarischen Blättern aus. All das erinnert an ein Netz, dem gerade die Mitte, Wien, fehlte. Für einen außenstehenden Beobachter ist es fast unmöglich, all die Fäden nachzuweisen, die von auswärts zur Ma und von der Ma in die Welt führten. Nach unserer Annahme ließ sich Kass#k bei der Schaffung des Wirkungsbereichs der Ma nicht nur von prinzipiellen, künstlerischen oder politischen, sondern auch von finanziellen Gesichtspunkten leiten. Ganz konkret ging es ihm darum, wo er seine Zeitschrift verkaufen konnte, denn er hatte selbst die geringsten Einnahmen dringend nötig, um die Zeitschrift am Leben zu erhalten. In Ungarn war das Blatt verboten, man konnte wohl einige Exemplare einschmuggeln, aber dort gewiss keine Abonnenten gewinnen. In Wien gab es für die Ma kein Interesse, so blieben die Tschechoslowakei, Gebiete des späteren Jugoslawien sowie Rumänien,

1 Lajos Kass#k, Egy ember 8lete, Budapest 1983, Bd., 2, S. 673f. Übersetzung K#roly Kjkai.

Geschichten der ungarischen Avantgarden in Österreich

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darauf verweisen auch die Preisangaben in den entsprechenden Währungen auf dem Blatt.2

So weit die ersten zwei Texte, die sich auf die klassische Avantgarde beziehen. Wir sehen, es handelt sich um ganz verschiedene Textsorten. Einmal um einen autobiographischen Roman, der den Schritt in die Emigration vergegenwärtigt, und einmal um einen wissenschaftlichen Text, der einen wichtigen Aspekt der Emigration der Avantgarde thematisiert und diese Migration als Teil eines internationalen Netzwerkes definiert. Wichtiges Charakteristikum dieses Netzwerkes ist, dass es nicht die beiden Knotenpunkte mit umfasst, die am nächstliegenden zu sein scheinen: den Punkt, an dem die Emigranten sich befinden („die Mitte, Wien, fehlte“ bzw. „In Wien gab es für die Ma kein Interesse“), und jenen, woher die Emigranten kommen („In Ungarn war das Blatt verboten, man konnte wohl einige Exemplare einschmuggeln, aber dort gewiss keine Abonnenten gewinnen“). Damit sehen wir auch, dass es sich bei der Emigration der ungarischen Avantgarde um eine problemgeladene Angelegenheit handelt. Die Probleme reichen von existenziellen Fragen, wie dem Umstand, dass Kass#k zweiundzwanzig Stunden lang zusammengekrümmt in einem heißen Eisenkasten verbrachte, um in die Freiheit und in Sicherheit zu gelangen, über das ebenfalls existenzielle Problem, dass Avantgardezeitschriften auch finanziert werden müssen, bis zur Tatsache, dass dem von Passuth beschriebenen Netzwerk der ungarischen Avantgarde in Österreich genau die beiden Knotenpunkte fehlten, die auch im Titel meines Beitrags genannt werden und um die es hier geht, nämlich Ungarn und Österreich. Die beiden nächsten Texte beziehen sich auf die Neoavantgarde. Der erste stammt von einem der Vertreter der Neoavantgarde. P#l Nagy publizierte vor ca. zehn Jahren in drei Bänden seine Erinnerungen. Der mittlere Band beschreibt die Periode seiner Emigration von 1956, als er von Ungarn über Österreich nach Frankreich ging, bis zum Ende der 1980er Jahre, bis zur sogenannten Wende im damaligen Ostblock. Die ungarische Neoavantgarde formierte sich ebenfalls um eine Zeitschrift, Magyar Mu˝hely, also „Ungarisches Atelier“. Die ab 1962 erscheinende Emigrantenzeitschrift Magyar Mu˝hely kann ab Anfang der 1970er Jahre als avantgardistisch bezeichnet werden. Die Wende vollzieht sich deutlich sichtbar von einer Ausgabe zur nächsten, wie das auch von den Redakteuren festgehalten wird. Die Nummer 37 (15. September 1970) ist eine Sondernummer. Wir bringen Mil#n Füsts Breviarium mit dem Titel Sexualpsychologische Überlegungen. Das Manuskript haben wir von Frau Mil#n Füst bekommen; sie sagte: Das Breviarium könnte zurzeit – viel2 Krisztina Passuth, Treffpunkte der Avantgarden Ostmitteleuropa 1907–1930, Budapest 2003, S. 109f. Übersetzung aus der 1998 erschienenen ungarischen Ausgabe durch Anikj Harmath; Passuth publizierte Les Avant-gardes de l’Europe centrale 1907–1927 bereits 1988 in Paris.

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Károly Kókai

leicht für Jahre, vielleicht für Jahrzehnte – in Ungarn nicht erscheinen. Die dortigen Vertreter der lebenden ungarischen Literatur brauchten aber Magyar Mu˝hely nicht mehr unbedingt, fast jeder bekam in Ungarn Publikationsmöglichkeiten. Gleichzeitig hat uns immer mehr die radikale Avantgardeliteratur beschäftigt. Die Nummern 38 und 39 sind Anthologienummern. Wir schreiben in der Einleitung „… wir möchten erfassen, wo die Autoren und Mitarbeiter von Magyar Mu˝hely in ihrer schöpferischen Arbeit sind. Wir publizieren Lyrik, Prosa, Essays zusammen: Nicht die Entwicklung der einzelnen Gattungen hat die Redakteure interessiert (falls wir heutzutage überhaupt noch über Gattungen sprechen können), sondern die Ergebnisse der jahrzehntelangen Arbeit einer nicht zu einer Generation organisierten, aber fast als eine Generation angesehenen Autorengruppe. – Wir hätten uns auch vornehmen können, nur die experimentelle Literatur zu zeigen, weil die Redakteure von Magyar Mu˝hely davon ausgehen, dass die Literatur, der geschriebene Text als Ergebnis einer langen Suche, eines langen Experimentierens zustande kommt, mit dem völligen Außerachtlassen von außerliterarischen Gesichtspunkten. – In der Zukunft wollen wir uns ausschließlich mit das Neue suchenden und bringenden Arbeiten beschäftigen.“3

Bei diesem Text stellt sich wohl als Erstes die Frage, was das mit der ungarischen Avantgarde in Österreich zu tun hat. Nagy spricht ja über Magyar Mu˝hely um 1970, als die Zeitschrift in Paris von Redakteuren herausgegeben wurde, die auch in Paris lebten. Dieser Text bezieht sich insofern auf Österreich, also auf das Thema dieses Aufsatzes, als Magyar Mu˝hely eine Reihe von Mitarbeitern in Wien hatte (insbesondere Alp#r Bujdosj, J#nos Megyik und Tibor Han#k) und diese ungarischen Migranten in Österreich exakt zur Zeit der avantgardistischen Wende der Zeitschrift gewichtigere Rollen übernahmen, eine Unterstützungsorganisation gründeten, einer von ihnen später als Redakteur mitmachte und wenige Jahre später als Redaktionsort „Paris-Wien“ angegeben wurde. Wir sehen also mit den zitierten Sätzen von Nagy nicht nur die avantgardistische Wende, sondern auch, dass in Wien lebende Mitarbeiter eine größere Rolle übernahmen. Das gilt übrigens auch für die erste zitierte Textpassage. Dort wird ebenfalls etwas beschrieben, was sich nicht in Österreich abspielte, sondern dem Folgenden – nämlich der ungarischen Avantgarde in Österreich 1920–1926 – unmittelbar voranging. Und als vierter Text P#l Der8kys Charakterisierung der ungarischen Neoavantgardeliteratur im Westen: 1) Die westliche funktionierte in einem beinahe völlig luftleeren Raum. Ihre Schöpfer wurden mehr von ihren Kollegen in Ungarn und in der Wojwodina gekannt und geschätzt als durch das Ungarntum der sogenannten freien Welt. 2) Sie waren beinahe alle ’56 in den Westen geflüchtete ungarische Jugendliche, damit lässt sich erklären, dass ihr Charakter beinahe ausschließlich literarisch ist (d. h. die das Neue suchenden Schriftsteller wollten ab Mitte der ’60er Jahre in ihren Werken keine aktuellen politi3 P#l Nagy, Journal in-time. 8l(e)tem 2, Budapest 2002, S. 254. Übersetzung K#roly Kjkai.

Geschichten der ungarischen Avantgarden in Österreich

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schen Aussagen mehr treffen). Sie kritisiert vor allem den verlogenen Charakter des ungarischen Sprachgebrauchs durch die Beschwörung und Bearbeitung der Tradition der klassischen ungarischen und der Weltliteratur. 3) Bei ihrer Entstehung spielte die spezifische Interpretation der historischen ungarischen Avantgarde (neben Kass#k Szentkuthy, Füst, Weörös etc.) zwar eine große Rolle, das Anfang der ’70er Jahre gewählte eigene Charakteristikum zeigte aber trotzdem eher das Präferieren der westlichen experimentellen Richtungen. 4) In Wirklichkeit war sie nicht verboten, nicht verfolgt, sondern durch die ungarischen Behörden sekkiert und ständig verdächtigt worden, waren in den Augen der Emigration des II. Weltkrieges hingegen die 56er von vornherein rosarot, pink, so erschienen für diese die Vertreter der westlichen ungarischen Avantgarde beinahe rot. 5) Einige (wenige) Autoren sind noch in der K#d#r-Zeit nach Ungarn zurückgekehrt. 6) Sie hatten Zeitschriften und eine legale Buchreihe. 7) Aus dem Gesichtspunkt der literaturkritischen und literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung ist sie ganz eigenartig, weil es vor Ort so gut wie niemanden gab, der sie übernommen hätte. So mussten gewollt oder ungewollt diese Aufgabe auch die Autoren selbst übernehmen, das ist auch der Grund für die Entstehung einiger nicht wirklich geglückter Arbeiten. In Ungarn begann zwar am Anfang der ’80er Jahre die Aufarbeitung der – mit dem Ausdruck von Kemenes G8fin – West[lichen]u[ngarischen]lit[eratur], aber für die Fachkollegen diesseits und jenseits der Grenze schien die in ihrem Heimweh Krokodilstränen weinende, verloren irrende ungarische Avantgarde auf der Flucht (nicht Alp#r) gelinde gesagt eine lächerliche Konstruktion zu sein. 8) Sie hat mit der Avantgardeliteratur in der Wojwodina einen engen, mit der in Ungarn immer engere Kontakte bis zur Einstellung von Ark#num und zur Übersiedlung von Magyar Mu˝hely nach Ungarn. 9) Ihre Autoren leben nach wie vor zerstreut in der Welt, viele zeitweise auch in Ungarn. 10) Ihre Tätigkeit erscheint in den Augen der jüngeren Literaturhistoriker immer interessanter und relevanter, weil – wie es scheint – beide ihrer dominanten Schichten, die experimentierende-multimediale und die mit der Tradition der klassischen ungarischen Literatur spielende und diese kritisch evozierende Schicht die ungarische in Ungarn und im restlichen Karpatenbecken, in deren Gesamtheit für die westliche ein beinahe leerer Platz sich anbietet, auf ideale Weise sich ergänzen.4

Ohne auf die zahlreichen und für ein adäquates Verständnis dieser Textpassagen unerlässlichen Details einzugehen, eine Bemerkung: Auffallend ist, dass hier, ähnlich wie bei Passuths Textstelle, gleich im ersten Satz ebenfalls über eine Fehlstelle berichtet wird: „die westliche funktionierte in einem beinahe völlig luftleeren Raum“. Zu den Textsorten: die beiden letzten Texte waren wissenschaftliche. Nagys autobiographische Erinnerungen beinhalten auch klassische erzählerische Elemente wie beispielsweise zahlreiche Anekdoten; was er in den drei Bänden erzählt, ist chronologisch geordnet und so gesehen gibt es eine deutliche Entwicklungslinie. Die zitierte Stelle war aber eine sachliche Darstellung von ins4 P#l Der8ky, „A ’80-as 8vek magyar avantg#rd irodalma k8t 8vtized t#vlat#bjl“ in: Magyar Mu˝hely 150 (2009), S. 4f. Übersetzung K#roly Kjkai.

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Károly Kókai

gesamt drei Ausgaben der Zeitschrift (Nr. 37, 38 und 39) und bestand größtenteils aus einem Zitat aus dem Editorial der Ausgabe 38. Der8ky zitiert hier einen Teil eines für die Drucklegung überarbeiteten Vortragstextes und erstellt eine Liste von Charakteristika der ungarischen Avantgarde, die er in drei Gruppen einteilt: in die ungarische, die jugoslawische (bei Der8ky heißt es vajdas#gi, also „aus der Wojwodina“) und die westeuropäische. So ist eine der Fragen, auf die ich im Folgenden eingehen möchte, ob ein wissenschaftlicher Text überhaupt eine Erzählung ist, die also sinnvoll erzähltheoretisch untersucht werden kann. Wir haben nun vier Geschichten der ungarischen Avantgarden in Österreich vor uns, erzählt von Lajos Kass#k, Krisztina Passuth, P#l Nagy und P#l Der8ky. Wie lassen sich diese Texte narratologisch analysieren?

Über die Analyse Die Erzähltheorie fragt nach einer Reihe von Aspekten und Elementen des zu untersuchenden Textes genauso wie nach seiner Gesamtheit: Was ist das Werk, das zu untersuchen ist? Wie erscheinen darin die erzählte Geschichte, die Figuren, vor allem der Protagonist und der Erzähler selbst? Wie ist der Text sprachlich, logisch, zeitlich, perspektivisch strukturiert? Was sind die Funktionen der einzelnen, in einer narratologischen Analyse zu differenzierenden Elemente? Mit welchen stilistischen Mitteln wird gearbeitet? Was bedeutet all das für die erzählte Geschichte, also welche ihrer Aspekte werden so hervorgehoben? Was wird mit all dem vermittelt? Welche Beziehungen werden zwischen den textlich gefassten Inhalten und den Ansichten des Lesepublikums hergestellt? Der Erzähltext hat dabei in allen Fällen zwei Ebenen, nämlich die Darstellungsebene und die Ebene dessen, was dargestellt wird, die dementsprechend zu unterscheiden sind und gesondert untersucht werden müssen. Zur Darstellungsebene (das eigentliche Gebiet der Narratologie) gehören alle formalen Eigenschaften und Mittel des Erzähltextes, also die Sprache und die Gliederung. – Auf die Gliederung kann hier kaum eingegangen werden, da die angeführten Textpassagen extrem kurz sind. So bleiben nur Hinweise wie z. B., dass die angeführte Kass#k-Stelle aus einem Roman, und zwar aus dessen Buch VIII, stammt oder dass Der8ky eine Reihe von Charakteristika als durchnummerierte Punkte auflistet. Die Autoren setzen bei den zitierten vier Textstellen verschiedene Erzählarten ein. Kass#k gibt eine Szene durch die Person wieder, die sie erlebte. Nagy interpretiert Geschehnisse, die er als einer der Akteure mitgestaltete. Passuth interpretiert ein Phänomen, indem sie ein Schema heranzieht, und Der8ky reiht

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Kriterien aneinander, vermeidet also die Einheit eines simplen Schemas. – Dass es sich bei den ausgewählten Passagen um Ausschnitte handelt und dass Kass#k, Passuth, Nagy und Der8ky im Rest ihrer Texte auch andere Erzähltechniken einsetzen, kann hier aus Gründen des Umfangs nicht berücksichtigt werden. In allen vier Beispielen sind die Texte klar strukturiert und für den Rezipienten transparent gestaltet. Es handelt sich um geschriebene literarische bzw. wissenschaftliche Texte, im Falle von Der8ky um einen für die schriftliche Version überarbeiteten Vortragstext, der sich direkt an die Zuhörer wendet. Die erzählende Person kommuniziert der lesenden ihre Erinnerungen (Kass#k, Nagy) und wissenschaftlichen Erkenntnisse (Passuth, Der8ky). Der Erzähler tritt also im Falle von Kass#k und Nagy als der Protagonist, somit als Zeitzeuge, im Falle von Passuth und Der8ky als Wissenschaftlerin bzw. Wissenschaftler auf, die und der auf eine wissenschaftliche Vergangenheit (Ausbildung, in Publikationen dokumentierte Arbeit, Diskussionsbeiträge, Forschungsaktivitäten) gestützt ihre bzw. seine Ansichten vorstellt. Eine narratologische Analyse des mit den vier angeführten Textpassagen konstruierten Textkorpus scheint also bereits nach einer ersten Auflistung von hier relevanten Aspekten und Fragen in einem kurzen Aufsatz undurchführbar. Mit dieser Auflistung ist aber eine Aufgabe formuliert, die nach einer spezifischen Lesart verlangt. Obwohl im Untertitel versprochen wurde, eine narratologische Analyse durchzuführen, kann hier nur eine Reihe von Hinweisen gegeben und die Frage gestellt werden, was es bedeutet, sich vorzunehmen, eine narratologische Analyse durchzuführen. Im Folgenden also drei Hinweise bezogen auf die Sprachebene der angeführten Stellen, auf die Figuren und drittens auf das Thema dieser Texte. Im Hinblick auf die sprachliche Oberfläche ist festzustellen, dass die von mir zitierten Texte Übersetzungen aus dem Ungarischen sind – was einige Probleme mit sich bringt. Um nur eines davon zu erwähnen: Dass sie Übersetzungen aus dem Ungarischen sind, ist auch ein Hinweis darauf, für welches Publikum die Texte geschrieben wurden, welches Vorwissen sie voraussetzen, in welchen Diskussionen der Autor seinen Beitrag zu leisten intendierte. Hier stellen sich Fragen wie die, welche sprachlichen Besonderheiten der Autor einsetzt – z. B. eine Milieusprache, die bei wissenschaftlichen Texten evidenterweise eine Wissenschaftssprache mit entsprechendem Fachvokabular, Argumentationsstruktur, Realitätsbezug, mit deutlich gekennzeichneten Zitaten und eindeutigen Quellenangaben etc. ist – oder welcher Zeitmodus gewählt wird. Bei wissenschaftlichen Texten ist der Schreibstil selbstverständlich an die Gattung angepasst. Die Autoren schreiben aus einer Außenperspektive und „allwissend“,5

5 Also auktorial, um einen Begriff von Franz Karl Stanzel zu verwenden, siehe Franz K. Stanzel,

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differenziert, sachlich, also auf eine Art, die ihre Zugehörigkeit zur Berufsklasse der Wissenschaftler betont. Witze, wie z. B. „bujdosj (nem Alp#r)“, kommen selten vor, und wenn, dann eher bei Vortragstexten wie hier bei Der8ky. Kass#k nähert sich diesem Schreibstil an, indem er seine körperlichen Zustände als situationsbedingtes Leiden (stellvertretend für den Druck, der ihn zur Emigration zwang) sachlich schildert. Der Sprachstil von Nagy wechselt auch zwischen sachlich und kolloquial, womit er die Stimmung der späten 1960er und frühen 1970er Jahre für den Leser erlebbar machen will. Und er liefert dadurch einen tatsächlich authentischen Bericht darüber, wie er selbst diese Situation erlebte – und zwar im Zentrum dieser Kultur, nämlich in Paris um 1968 – für die, die damals nicht dabei waren, also die Ungarn im Jahr 2002. Das zweite Problem ist die Unterscheidung zwischen Autor, Erzählfigur und Protagonist (wobei alle drei auch in der Mehrzahl auftreten können), die sich immer dem fiktionalen Adressaten der Erzählung gegenüber definieren und somit diesen als eine vierte Figur implizit in die Erzählung aufnehmen. Diese Figurenvielfalt wird noch komplizierter, wenn man weitergeht und sowohl zwischen einem angenommenen (impliziten, latenten) und einem realen (expliziten, manifesten6) Autor als auch zwischen einem angenommenen und einem realen Leser unterscheidet. Sowohl der reale Autor als auch der reale Leser sind „unbekannt“ und erst nach einer narratologischen Analyse zu bestimmen. Was wir im Text unmittelbar sehen, ist der angenommene Autor und der angenommene Leser, also die Person, die sich mit dem Werk präsentiert bzw. für die es offenbar geschrieben wurde. Das ist z. B. im Falle von Kass#ks Text, der 1935 erstmals erschien, eben ein Leser, der dem Autor 1935 vorschwebte. Er schrieb zwar für ’zukünftige Lesergenerationen’, aber wen er unmittelbar ansprechen wollte, war die Leserschaft um 1935. Fängt man an, Texte narratologisch zu untersuchen, kommt man also zu einer Vielfalt von Figuren und Rollen, die in einem wissenschaftlichen Text „eigentlich“ nicht vorkommen dürften. In wissenschaftlichen Texten geht man mit diesen verschiedenen Arten von Figuren bzw. Rollen auf eine spezifische Weise um.7 Dort wird suggeriert, dass man eindeutig zwischen zwei Rollen unterTheorie des Erzählens, Göttingen 1979. Stanzel verwendet den Ausdruck in einem Dreierschema in Abgrenzung zur Ich-Erzählung und Personalen Erzählung. 6 Real, explizit und manifest sind hier nicht als deckungsgleich gemeint. Es geht darum, dass narratologisch zwischen realem und angenommenem Autor, zwischen explizitem und implizitem Autor etc. zu unterscheiden ist, dass also kein simpler „Erzähler“ angenommen wird. Daher wäre es zu kurz gegriffen zu sagen, dass der reale Autor die Person ist, die auf dem Buchdeckel steht und der angenommene Autor die Erzählerfigur, die entweder explizit (als Kommentator etc. der Geschehnisse in einer Rahmenhandlung z. B.) oder implizit (indem der Leser z. B. langsam bemerkt, dass der Autor sich vom Beschriebenen distanziert) im Text erscheint. 7 Diese Ausführungen beziehen sich sinngemäß auf die sog. Human- oder Geisteswissen-

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scheiden könne. Es gibt den Autor, der über etwas spricht, was die Tätigkeit bzw. das Ergebnis der Tätigkeit konkreter und meist namentlich bekannter und identifizierbarer Personen, nämlich der Protagonisten, ist. Die Trennung zwischen den beiden (also Autor und Protagonist) ist Garant der Wissenschaftlichkeit. Eine narratologische Lesart zeigt, dass diese Trennung mit der notwendigen Sauberkeit nicht möglich ist, dass der Autor als Erzählfigur in die Geschichte selbst „einsteigt“ und somit erstens mehr als zwei Rollen vorhanden und zweitens die Grenzen der Rollen verwischt sind. Einem narratologisch geschulten Leser fällt dabei auch auf, dass der Wissenschaftler, indem er sich als Außenstehender präsentiert, ein gängiges literarisches Mittel einsetzt, das dazu dient, den Glauben des Lesers zu verstärken, dass die Erzählung realistisch und wahr ist. Was in den vier zitierten Stellen dargestellt wird, ist (drittens) die Avantgarde. Somit ist bereits eine zentrale Aussage getan, nämlich dass Avantgarde ein Narrativ ist. Es erzählt eine Geschichte von Künstlern (Akteuren), die etwas tun (die Avantgarde organisieren, Werke produzieren), sich zueinander verhalten (Gruppen bilden) und sich durchsetzen (sie machen weiter als Avantgardist wie z. B. Lajos Kass#k) oder scheitern (sie werden verfemt, hören auf – um nur je ein Beispiel aus dem Wiener Ma-Kreis aufzuzählen: S#ndor Bortnyik wurde in Ungarn sozialistischer Realist, S#ndor Barta wurde in der Sowjetunion Opfer des Stalinistischen Terrors). Diese Geschichte funktioniert wie alle ideologischen Narrative (so z. B. die Erzählung vom Sieg des Proletariats, die Erzählung von der Überlegenheit der weißen Rasse oder die Erzählung vom Sündenfall und der Erlösung) und vertritt ein Normensystem (so etwa das Normensystem der Wissenschaften oder das der Avantgarde). Die Frage „Was ist eine Erzählung?“ lässt sich sinnvoll beantworten, indem man angibt, wofür eine Erzählung da ist: Eine Geschichte wird erzählt, um die Geschichte überhaupt zu erschaffen. Kass#k und Nagy erzählen ihre Geschichten – aus denen hier jeweils kurze Abschnitte zitiert wurden, die für sich stehend wiederum kleine Geschichten sind –, um sich als Avantgardisten zu positionieren. Sie schaffen dabei die (bzw. eine Version der) Geschichte der Avantgarde. Da gibt es ein Repertoire von rhetorischen Figuren und typischen Szenarien, die mit individuellem Inhalt gefüllt werden. Avantgarde erscheint damit beispielsweise als gesellschaftliche Utopie, die von ihren Protagonisten gelebt wird. Sowohl Kass#k als auch Nagy positionieren sich – etwa auch mit ihren autobiographischen Werken, wie beispielsweise mit denen, aus welchen die angeführten Zitate stammen, sowie auch mit den angeführten Stellen selbst – in der großen schaften. Diese Ausführungen gelten aber auch für weitere Wissenschaftsbereiche wie auch die Naturwissenschaften oder die Medizin, soweit dort über reale oder abstrakte ,Figuren‘ und ,Rollen‘ gesprochen werden kann, wie z. B. im Falle von medizinischen Testpersonen.

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(politischen) Geschichte. Kass#k in der Erzählung über die Kommune, Nagy in der Erzählung über die Geschichte des Sozialismus in Ungarn, wobei sich 1970 die Aufgabe im Vergleich zu vorher verändert hatte, weil die Restriktionen der Zensur sukzessive lockerer wurden: Es ging nicht mehr darum, Texte zu publizieren, die in Ungarn nicht erscheinen können, sondern darum, der aktuell neuen Literatur Raum zu geben. Kass#k, Passuth, Nagy und Der8ky erzählen eine Geschichte der ungarischen Avantgarde in Österreich. Diese Geschichte ist vielstimmig, fragmentarisch und teils auch widersprüchlich.8 Was so Gestalt annimmt, sind die Protagonisten, also Redakteure von Zeitschriften wie Ma und Magyar Mu˝hely, was so entsteht, sind Erzählungen von Emigrationen und avantgardistischen Wenden, von produktiven Tätigkeiten, organisatorischen Bemühungen und von den diversen Versuchen, das zu reflektieren und zu interpretieren.

Die narratologische Analyse von wissenschaftlichen Texten Die Narratologie oder Erzähltheorie wurde entwickelt, um literarische Texte zu untersuchen. Ich habe bisher versucht, die narratologische Analyse auf wissenschaftliche Texte auszudehnen. Es gibt natürlich eine Reihe von Gegenargumenten, warum das nicht möglich ist. Ein Gegenargument ist die Behauptung, wissenschaftliche Texte erzählten keine Geschichte, weil das per definitionem nur literarische Texte und dort auch nur die epischen (also weder Lyrik noch Drama) täten. Der Gegenstandsbereich der Narratologie lässt sich jedoch bekanntlich über literarische Texte hinausgehend auf weitere Medien ausdehnen, so z. B. auf den Film. Genauso sinnvoll scheint es zu sein, etwa Gemälde oder Gerichtsakten und andere Sachtexte, die Gegenstand von historischer Forschung sind, narratologisch zu untersuchen. Diese Hinweise verdeutlichen, dass Narratologie eine effektive Methode sein kann, wenn man bereit ist, sie über ihren engsten Gegenstandsbereich hinaus einzusetzen. Im Falle der narratologischen Analyse von wissenschaftlichen Texten taucht unweigerlich die Frage auf, was der Plot, was die Fabel sei, die erzählt wird. Passuth gibt beispielsweise kein Geschehen wieder. Sie kommentiert Geschehnisse auf einer theoretischen Metaebene. Andererseits kann die Aufzählung von Fakten als eine starke Form von zeitlicher Raffung verstanden werden und somit 8 In den angeführten Passagen wird das nicht ersichtlich, sie bieten aber teilweise alternative Erklärungen, wie etwa die Diskussion zwischen Kass#k, Bortnyik und Uitz darüber, wer was zur Entstehung der Bildarchitektur, einer wichtigen künstlerischen Innovation der ungarischen Avantgarde im Wien der 1920er Jahre, beigetragen hat.

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als eine erzähltechnisch einordbare Sonderlösung, die narratologisch genau in dieser Besonderheit untersucht werden kann. Die Erzähltheorie unterscheidet zwischen narrativen und argumentativen Diskursen9 und ordnet wissenschaftliche Texte dem zweiten Diskurstyp zu. Somit wären wissenschaftliche Texte nicht narrativ und somit auch nicht narratologisch zu untersuchen. Wie wir jedoch bisher gesehen haben, ist diese Untersuchung nicht nur möglich, sondern erstens produktiv und zweitens sogar notwendig, um diese Texte verstehen zu können. Außerdem ist anzunehmen, dass der Leser ständig eine narratologische Analyse durchführt, ohne sie zu thematisieren, weil das menschliche Denken das Wahrgenommene in Plotstrukturen geordnet interpretiert: Man situiert alle Ereignisse in einen Sinnzusammenhang mit Ursachen und Folgen, Akteuren bzw. Bewegungskräften und fragt nach ihrer Bedeutung für die eigene Person. Die Abwehrhaltung gegenüber dem Vorhaben der narratologischen Analyse von wissenschaftlichen Texten ist wohl darin gegründet, dass so ein Zugang als ein Angriff auf das Genre selbst verstanden werden kann, da sie Fragen wie die folgenden impliziert. Betrachtet man wissenschaftliche Texte als erzähltechnisch strukturierte (und so gesehen „konstruierte“) Geschichten, nimmt man ihnen dann nicht ihre Wissenschaftlichkeit? Deutet eine narratologische Analyse nicht darauf hin, dass die Welt, die im analysierten Text erscheint, nicht real, sondern fiktional ist, und ist sie somit nicht eine fundamentale Kritik an der Wissenschaftlichkeit des zur Untersuchung ausgewählten wissenschaftlichen Textes? Stellvertretend für diese Kritik sei hier auf die Diskussion um die Arbeiten von Hayden White verwiesen. Die Kritik kam sowohl von der Seite der Geschichtswissenschaft als auch von der Literaturwissenschaft10 und führte im Endeffekt zur produktiven Einsicht, dass die Ergebnisse der Wissenschaftsdisziplin Geschichte Texte sind. Diese unterliegen daher den Gesetzmäßigkeiten der Textgestaltung. Sie werden so zwar nicht gleich zu Fiktion, verlangen aber nach diesbezüglicher methodischer Aufmerksamkeit. Betrachtet man wissenschaftliche Texte als Erzählungen, zeigt sich die Notwendigkeit ihrer gattungsspezifischen Besonderheiten. Bei wissenschaftlichen Texten kommt der Authentizität ein erhöhter Stellenwert zu. Der Autor muss sich deutlich bemühen, dass er auf dem Boden der Realität bleibt. Verliert er nur einmal diese Beziehung aus den Augen, wird sein Text als Gesamtes in Frage gestellt. Das schränkt seine narrativen Möglichkeiten erheblich ein und führt zur Behauptung, hier handle es sich überhaupt nicht um Erzählung, sondern um etwas völlig anderes, nämlich Wissenschaft. So gesehen ist die Abgrenzung der 9 Siehe z. B. Monika Fludernik, Towards a Natural Narratology, London/New York 1996. 10 Siehe z. B. G8rard Genette, Fiction et diction, Paris 1991 und Ansgar Nünning, „Verbal Fictions?“, in: Theodor Berchem et al. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 40 (1999).

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Wissenschaft von den Erzählungen nichts anderes als eine für wissenschaftliche Texte typische erzähltechnische Eigenheit.11 Die Ergebnisse einer narratologischen Analyse sagen also nicht bloß etwas über den wissenschaftlichen Text aus, sondern ermöglichen uns überhaupt, wissenschaftlich, also objektiv mit ihm umzugehen. Und die Argumente für eine Trennung von Wissenschaft und Literatur erweisen sich als literarische (und das heißt hier : wissenschaftliche) Figuren, um gattungsspezifische Eigenschaften wie Realismus und Authentizität zu betonen.

Ungarische Avantgarden in Österreich Die ungarischen Avantgardisten organisierten nicht nur ihre Bewegungen und produzierten nicht nur ihre avantgardistischen Werke, sondern sie trugen zur Bewegung auch damit Wesentliches bei, dass sie die Werke ihrer Kollegen – sowie ihre eigenen – interpretierten, sich mit ihnen kritisch auseinandersetzten, ihre theoretischen Überlegungen veröffentlichten und sich an – oft aussichtslosen – Diskussionen beteiligten. Und sie trugen auch zur Kunst-, Literatur-, Kultur- und insbesondere Avantgarde-Geschichtsschreibung bei, indem sie ihre Version der Avantgardegeschichte darstellten – Kass#k veröffentlichte z. B. eine Geschichte der Ismen – oder ihre Autobiographien verfassten. Insbesondere Kass#ks Laufbahn war von zahlreichen Auseinandersetzungen geprägt. Die Geschichte der klassischen ungarischen Avantgarde, deren zentrale Persönlichkeit er bekanntlich war, kann auch als eine Serie von Konflikten beschrieben werden, die entweder innerhalb der Gruppe stattfanden und daher in Abspaltungen resultierten oder durch die Mitglieder der Gruppe mit Widersachern von außen ausgetragen wurden. So hatte Kass#k Auseinandersetzungen mit Mih#ly Babits, B8la Kun, György Luk#cs und B8la Bal#zs bzw. S#ndor Barta, S#ndor Bortnyik, B8la Uitz und L#szlj Moholy-Nagy. Ihre Resultate waren sehr unterschiedlich. Die Konflikte mit Babits 191612 resultierten darin, dass der junge Dichter bekannt wurde, weil er von einem der führenden Kritiker der führenden Kulturzeitschrift des Landes in einer Stellungnahme zwar kritisch betrachtet, aber ernst genommen wurde. Die Konflikte mit Barta und Uitz 1922/1923 führten zu Ab11 Wissenschaftliche Texte tendieren zur Suggestion, dass die Welt – in die wir mit dem wissenschaftlichen Text blicken – unmittelbar einsichtig sei. Eine differenzierte Darstellung dieser Annahme ist freilich vom Argument zu unterscheiden, daher wäre einer Beliebigkeit Raum geschaffen, wie es in der Postmodernekritik geschehen ist. 12 Siehe Mih#ly Babits, „Ma, holnap 8s irodalom“, in: Nyugat 17 (1916), S. 328–340, Lajos Kass#k, „A rettenetes nagy hamu alol Babits Mih#lynak“, in: Nyugat 18 (1916), S. 420–424 und Mih#ly Babits, „V#lasz Kass#k Lajos ellenkritik#j#ra ,A rettenetes …‘“. in: Nyugat 18 (1916), S. 424–425.

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spaltungen innerhalb der avantgardistischen Emigrantengruppe in Wien und wurden großteils auf den Seiten der als Alternativpublikationen zum bekanntesten Organ dieser Avantgarde, der Ma, gegründeten Zeitschriften Akasztott Ember, Egys8g, 2x2 und Pk ausgetragen. In diesen Streitigkeiten formierte sich die ungarische Avantgarde und formierten sich die Avantgardisten selbst, indem diese Diskussionen zur Selbstdefinition und Identität beitrugen, wesentliche Produktionskräfte waren und in der Gestaltung von neuen Foren wie den erwähnten Zeitschriften resultierten. Um all das tun zu können, brauchte Kass#k einen Protagonisten. Das Werden dieses Protagonisten wird im Text erzählt, der mit der im ersten Teil dieses Aufsatzes zitierten Passage endet. Kass#k wählte dazu eine Sprache, die knapp und sachlich, betont einfach und direkt ist und so in starkem Gegensatz zur Dramatik der Situation steht und auch von der gehobenen literarischen Sprachweise der Zeitschrift abweicht, in der der Text zuerst abgedruckt wurde13, der Budapester Zeitschrift Nyugat, nicht zu reden vom experimentellen Stil der Avantgardeliteratur selbst. Gerade letztere Differenz dürfte es sein, die konstitutiv für die ausgewählte Textpassage war. Kass#k hat zahlreiche literarische Werke verfasst, die autobiographische Bezüge haben, am bekanntesten ist das Poem Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen hinaus14, das eine Schlüsselepisode in seinem Leben, eine Reise zu Fuß nach Paris im Jahr 1909, beschreibt. Diese Texte tragen aber im Kontrast zum hier behandelten Erzähltext stilistische Züge der Avantgardeliteratur. Das Überschreiten der Grenze zwischen Österreich und Ungarn wird in Das Pferd stirbt etwa so wiedergegeben: das schiff aber wackelte mit uns wie eine wöchnerin und hinter unserem rücken schob jemand die kulissen ineinander das war der erste durchgeschnittene tag meines lebens fackeln lohten in mir und abgründe papagallum o fumigo papagallum auf ufern krähten kupferrote vögel in gruppen zu je zwanzig auf bäumen schaukelten gehenkte und krähten ebenfalls wir aber hatten 21 jahre dem holzschnitzer kräuselten sich häßliche rosenrote haare aus dem kinn ansonsten ging es uns gut nur eben der durchmesser unseres magens 13 Die erste Folge des Textes erschien am 16. Mai 1924 in der wichtigsten Zeitschrift der ungarischen Moderne, in Nyugat. 14 Kass#k 1922, die erste deutsche Übersetzung erschien als Lajos Kass#k, „Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen hinaus“, in: Ma Buch. Gedichte von Ludwig Kass#k. Deutsch mit einem Vorwort von Andreas G#sp#r, Berlin 1923.

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umsonst zogen wir die schrauben an die ochsen machten sich immer wieder auf den weg durch die stoppeln und zuweilen konnten wir unsere augen kaum mehr von den knöcheln der mädchen abkratzen da gellten die cymbeln in mir immer auf in wien schliefen wir 3 tage auf dem pflaster nachher entwanden wir uns endgültig unserem eigenen selbst was heißt denn eigentlich zivilisation man beschmiert sich mit irgendeiner glasur und fängt an vor den läusen zu schaudern was heißt eigentlich familienzugehörigkeit man verlängert sich die nabelschnur mit einem zeug von der art eines seidenbandes was heißt eigentlich gottesfurcht man fängt an zu fürchten auf daß man nicht zu fürchten braucht wir nieteten uns die landstraßen auf die sohle und sonne zog mit uns im raum auf goldenen meilenbeinen15

Die erste Wienreise fand also ebenfalls mit einem Schiff statt, stand aber unter einem anderen Stern. Damals war nicht ein politisch verfolgter Avantgardist, sondern ein sozial benachteiligter Suchender aufgebrochen. Dem Assoziativen und Exaltierten der einen Beschreibung steht das Trockene und Faktische der anderen gegenüber, was die Untertreibung und somit Gefasstheit und Nüchternheit des erzählenden Protagonisten betont. Die Personen der anfangs zitierten Erzählung sind neben dem Erzähler noch ein Mädchen – die Helferin Koronya –, die Lebensgefährtin Jol#n und der Kapitän. Von den dreien kommen in der Szene dem Mädchen und dem Kapitän als Fluchthelfer konkrete Rollen zu. Wichtig ist aber Jol#n, die als Zeugin anwesend ist. Sie ist diejenige, die im autobiographischen Roman Das Leben eines Menschen neben Lajos Kass#k selbst eine differenzierte Gestalt annimmt und außerdem für das Lesepublikum identifizierbar und wohl auch bekannt ist. Sie war selbst auch Beteiligte der Avantgardebewegung und war kreativ tätig, indem sie als Schauspielerin und Vortragskünstlerin in Erscheinung trat. Avantgarde erscheint in der zitierten Passage als existenzielles Projekt, als etwas, das gefährlich ist, wofür man ins Gefängnis kommt, wegen dem man ins Exil gezwungen wird. Die klassische Avantgarde war ja eine direkte politische Antwort auf die Herausforderungen der Zeit, in ihren meisten Ausprägungen völlig inadäquat, damit aber umso radikaler, was es ihr ermöglichte, sich als Zeichen, als Symbol und somit als Kunst zu konstituieren. Radikalität und Unangemessenheit gelten auf Futurismus und Dada bezogen gleichermaßen, waren also nicht bloß durch die entgleiste historische Situation des Ersten Weltkrieges bedingt. Und das galt auch für Konstruktivismus und Surrealismus, also für

15 Kass#k, „Das Pferd stirbt“, S. 46.

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Bewegungen, die sich erst in den auf Kass#ks Flucht folgenden Jahren manifestierten.16 Wenn man das so gewonnene Bild mit Passuths Erzählung vergleicht, fallen gleich in allen drei Bereichen – Sprache, Personen und Thema – Unterschiede auf. Die Sprache ist bei Passuth noch ein Stück weiter objektiviert. Wir lesen nicht nur eine sachliche Schilderung, sondern eine aus der wissenschaftlichen Außenperspektive geschriebene, es geht also nicht um „ich“ und „wir“, sondern um „Kass#k“. Passuth trifft alle Vorkehrungen, um systematisch vorzugehen und klar zu argumentieren. Sie definiert Zeit und Raum mit präzisen Jahres(„zwischen 1920 und 1923“) und Ortsangaben („Beziehungsgeflecht mit von Ungarn bewohnten und mit nicht von Ungarn bewohnten Gebieten“ bzw. weiter unten „die Tschechoslowakei, Gebiete des späteren Jugoslawien sowie Rumänien“ und ebenfalls „die Mitte, Wien“). Es werden die wissenschaftlichen Gesichtspunkte angegeben, von denen aus der in der Beschreibung entstehende Sachverhalt betrachtet werden soll (prinzipiell, künstlerisch, politisch bzw. finanziell), um dann auf ein Argument zu fokussieren („ganz konkret ging es ihm darum“) und mit konkreten empirischen Daten auf der Ebene der Tatsachen anzukommen („darauf verweisen auch die Preisangaben in den entsprechenden Währungen“). Der ruhige Fluss der Argumentation bezieht seine Dramatik nicht aus entsprechenden Hinweisen (wie bei Kass#k: „damit ich unauffällig hinauf gelangen kann“, „dann verdunkelte sich die Welt um mich“ etc.), sondern aus dem Spiel auf den verschiedenen Ebenen der Interpretationswissenschaft: empirische Daten, übergeordnete Theorie und dazwischen die Entfaltung der Argumentationskette. In diesem mit präzisen Worten konsequent fortschreitenden Tonfall wird auch der zentrale Begriff eingeführt, dass es sich hier um ein „Netz“ handelt, und somit ein Interpretationsmodus vorgelegt, dass man sich nämlich die mitteleuropäische Avantgarde als ein Netzwerk vorzustellen habe. Darauf verweist ja Passuth bereits mit dem Titel ihres Buches. Passuth führt weiters einen hypothetischen Akteur, den „außenstehenden Beobachter“, ein, der zwar informiert und interessiert ist, seine Beobachtungen jedoch bloß aus der Distanz anstellen kann – im Falle der Autorin des Textes beträgt diese Distanz immerhin sechs bis sieben Jahrzehnte. Dieser außenstehende Beobachter sieht das Geschehen auch in dem Sinne aus der Distanz, dass er das große Muster, das übergeordnete Schema erkennt, ein großes Netzwerk, das nicht nur international ist, sondern auch Angehörige einer in verschiedenen Ländern Minderheiten bildenden Nation, nämlich die Ungarn, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges verbindet. Avantgarde erscheint hier als Netzwerk, also als ein virtuelles Feld, das durch 16 Die Manifeste der vier erwähnten Avantgardebewegungen erschienen bekanntlich 1909, 1916, 1920 respektive 1923.

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zwei Hauptkräfte, Ästhetik und Politik, gestaltet ist. Diese beiden nennt Passuth „prinzipiell“, also wohl bestimmend und offensichtlich. Das ergänzt sie mit weiteren, wohl nicht-prinzipiellen Kräften, so mit dem Finanziellen, das sie explizit nennt, aber auch mit dem Vertrieb der Zeitschrift Ma. – Insgesamt liefert also Passuth eine Darstellung, die sich sowohl mit der von Kass#k deckt als auch davon signifikant abweicht. Sie erschafft Authentizität nicht mit Zeugenschaft, sondern mit Wissenschaftlichkeit. Die ungarische Neoavantgarde bildete sich ab Mitte der 1960er Jahre in Budapest, in Novi Sad und in Paris bzw. in Wien. Sie formierte sich an allen diesen Orten in Kenntnis der übrigen Geschehnisse,17 aber in signifikant unterschiedlichen Formen, unter signifikant verschiedenen politischen Umständen und mit signifikant abweichenden Dynamiken. Diese Signifikanz war natürlich entsprechend der geopolitischen Logik des Kalten Krieges durch die verschiedenen Blocklagen bestimmt: Der Ostblock, der Westen und die neutralen Drittstaaten stellten andere Rahmenbedingungen bereit und generierten andere Lösungsansätze. Bemerkenswerterweise waren aber alle drei eindeutig auf das „Mutterland“ bezogen. Nicht nur sprachlich, sondern auch indem man die Geschehnisse in der Heimat kommentierte, diskutierte und ergänzte. Bis heute wird Magyar Mu˝hely von allen Beteiligten und Interpreten, außer den im Westen lebenden Mitwirkenden wie beispielsweise Nagy – und in krassem Gegensatz zu dem, was Nagy an der zitierten Stelle behauptet –, nicht als Werkstatt angesehen, in der etwas Eigenständiges entstand, sondern als Ort, wo man das publizieren konnte, was in Ungarn selbst verboten war. Nagys Sprache ist ein bemüht sachliches Aneinanderreihen von Informationen, das erst dann voll verständlich wird, wenn man die Geschehnisse kennt, also die Zeitschrift Magyar Mu˝hely regelmäßig gelesen hat. Sie spricht die Wegbegleiter an und will zugleich sowohl Dokumentation als auch persönliche Rechenschaft sein. Der Text ist im Stil eines knappe Aufzeichnungen enthaltenden Tagebuchs oder Notizheftes verfasst. Der Verfasser tritt augenscheinlich in den Hintergrund und agiert als Chronist. Bemerkenswert ist, dass die avantgardistische Wende der Zeitschrift damit begründet wird, dass einerseits „fast jeder“ Vertreter der lebenden ungarischen Literatur in Ungarn Publikationsmöglichkeiten bekommt, die im Westen lebenden Mitarbeiter aber immer mehr die radikale Avantgardeliteratur beschäftigt. Hier nicht erwähnt wird jedoch, wer mit dem Ausdruck „fast jeder“ ausgeschlossen wird, nämlich diejenigen, die keine Publikationsmöglichkeit in 17 Tam#s Szentjjby – um ein Beispiel hier anzuführen – veranstaltete 1966 in Budapest das Happening Az eb8d mit, wurde 1967–1968 in den Zeitschriften H&d und 5j Symposion in Novi Sad von Vertretern der Tradition und der Erneuerung, von Imre Bori und Otto Tolnai, in einer Art Dialog diskutiert und erhielt 1971 den Preis von Magyar Mu˝hely.

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Ungarn erhielten, also eben die ungarischen neoavantgardistischen Literaten wie Tam#s Szentjjby, Mikljs Erd8ly und Tibor Hajas. Was Nagy mit seiner scheinbar sachlichen Schilderung kreiert, ist also eine Erzählung, die sorgsam zwischen Protagonisten und Nichterwähnten trennt und damit zwei Entwicklungslinien, eine sichtbare und eine verborgene, schafft. Innerhalb zweier aufeinanderfolgender Sätze wendet er sich von Ungarn ab und dem Westen zu, führt die Abnahme der politisch bedingten Zensur in Ungarn und das Aufkommen der Neoavantgarde im Westen an, und konstruiert damit ein klares Argument. Die Personen der Erzählung sind der Sprecher selbst, der sich als Gruppenmitglied präsentiert und durchgehend in der „wir“-Form spricht. Einmal wird dieses Wir „die Redakteure von Magyar Mu˝hely“ genannt, steht also für Nagy und Papp bzw. für den in der Redaktion zunehmend integrierten Bujdosj. Zugleich ist dieses Wir „die Autoren und Mitarbeiter von Magyar Mu˝hely“, weil Nagy ja selbst auch schreibt und die Zeitschrift eines der wichtigsten Publikationsorgane seiner Texte war. Die mit dem „wir“ bezeichnete Gruppe wird aber noch einmal erweitert. Sie sei eine „nicht zu einer Generation organisierte, aber fast als eine Generation angesehene Autorengruppe“. Betrachtet man die ungarische Neoavantgarde im In- und Ausland, ist jedoch völlig klar, dass sie kein Generationsphänomen, sondern ein Randphänomen war. Das zeigt sich auch insofern, als von ungarischen Literaturwissenschaftlern damals und seither kontinuierlich und effektiv der Versuch unternommen wurde und wird, sie überhaupt verschwinden zu lassen, indem sie zu einer ausländischen Krisenerscheinung18 respektive zum Vorläufer der Postmoderne19 erklärt wird. Die Gruppe, die hier von Nagy heraufbeschworen wird, ist also auch in diesem Sinne eine geschlossene Einheit. Sie stellt eine gemeinsame Perspektive dar, die die Welt der Literatur von innen erklärt und sich selbst einen festen Platz zuweist. Somit ist der Text Nagys ein Beispiel für Erzählungen, die mit dem performativen Akt des Erzählens nicht nur der Geschichte einen Sinn geben, sondern auch ihren eigenen Ort und sich selbst erst erschaffen. Wir erfahren aus dem kurzen Zitat Nagys auch einiges über sein Thema, also über die Avantgarde. Diese sei radikal, aber keinesfalls politisch, weil in der allgemeinen D8tente der Kultur diese politische Aufgabe nicht mehr zukomme. Die avantgardistische Wende der Zeitschrift ergebe sich aus der Zusammenschau der aktuellen Tätigkeit der Autoren von Magyar Mu˝hely. Die aktuelle Avantgarde verwische die traditionellen Gattungsgrenzen. Worum es gehe, sei das Experimentieren. Nagy kommt in seinem Gedankengang zum Schluss wie18 Mikljs Szabolcsi, Jel 8s ki#lt#s. Az avantg#rd 8s a neoavantg#rd k8rd8seihez, Budapest 1971. 19 P8ter Szir#k, „Im Sog des Schrifttextes“, in: Erno˝ Kulcs#r Szabj (Hg.), Die Geschichte der ungarischen Literatur, Berlin 2013 und Zolt#n Kulcs#r Szabj, „Zwischen Sprachkritik, Neuer Sensibilität und ,Poesis memoriae‘“, in: Erno˝ Kulcs#r Szabj (Hg.), Die Geschichte der ungarischen Literatur, Berlin 2013.

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der auf die zentrale Aussage der Passage, dass diese Literatur eben apolitisch sei, sie entstehe ja „mit völligem Außerachtlassen von außerliterarischen Gesichtspunkten“. Die Sprache der zitierten Stellen von Der8ky ist von all den angeführten die dichteste. Das hängt mit der gewählten Form, einer Aufzählung von insgesamt zehn Punkten, zusammen. Zugleich ist umgekehrt zu vermuten, dass Der8ky diese Form wählte, um eng kompiliert die oft widerstreitenden Charakteristika seines Untersuchungsgegenstandes, der ungarischen Avantgardeliteratur der 1980er Jahre, wiederzugeben. Die Personen seiner Erzählung sind der Erzähler – in diesem Fall ein Vortragender – und die Avantgardisten, die er mit einer Vielzahl von Kategorien und Perspektiven greifbarer zu machen versucht. Diese Methode resultiert – nach einem Zwischenschritt, in dem wir eine große Anzahl von Informationen über die Protagonisten bekommen – in der scheinbar vom gesetzten Ziel abweichenden Erkenntnis, dass es diese Gruppe zwar eindeutig gibt, sie sich aber einer präzisen und eindeutigen Greifbarkeit entzieht. Womit Der8ky natürlich einen griffigen Anhaltspunkt zur Bestimmung dieser Avantgardisten liefert. Die Ungarische Neoavantgarde im Westen – deren Teilgruppe die ungarische Neoavantgarde in Österreich ist – erscheint so facettenreich, schillernd, im vollen Spektrum ihrer Faszination, was offenbar den Zugang von Der8ky bestimmt, der als junger Literaturwissenschaftler die Ereignisse aus unmittelbarer Nähe verfolgte. Kass#k und Nagy waren in die Ereignisse direkt involviert. Nagy bemühte sich um eine objektive Distanz, indem er eine längere Passage aus dem zeitgenössischen Text zitierte. Der8kys Distanz als Wissenschaftler ist einen Schritt größer, bleibt aber mit der Präsentation eines in seiner Fülle dem unmittelbaren Überblick sich entziehenden Katalogs dicht an der Sache. Von den vier Textpassagen repräsentiert Passuth die Wissenschaftlerin mit der wissenschaftlichen Distanz, die übergeordnete Strukturen – das Netzwerk – erkennt und beschreibt. Die Geschichten der ungarischen Avantgarden in Österreich erweisen sich also aufgrund einer narratologischen Analyse – auch wenn dies bloß anhand von kurzen, jeweils aus größeren Einheiten entnommenen Passagen gezeigt werden konnte – als ein Phänomen, das in dem Sinne schwierig ist, dass es in seinem vollen Reichtum erst dann sichtbar wird, wenn man es narratologisch analysiert. Das Narrativ, das sich in der Analyse dieser vier Textpassagen ergibt, ist das der ungarischen Avantgarde in Österreich. Dieses Narrativ ist nicht nur lebendig und dynamisch, sondern erst in seinen diversen Versionen komplett. Und dadurch, dass sowohl Avantgardisten selbst als auch Wissenschaftler, die die Ereignisse rund um die Avantgarde aus der unmittelbaren Nähe mitverfolgt haben, erzählen, entsteht diese Avantgarde nicht allein in ihren Werken, sondern auch in diesen Begleittexten, die selbst Teil des Narrativs werden.

Geschichten der ungarischen Avantgarden in Österreich

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Schlussbemerkung Was in diesem Aufsatz vorgenommen wurde, war, auf die ungarische Avantgarde in Österreich bezogene Texte narratologisch zu analysieren, um damit am konkreten Beispiel eines Textkorpusses vorzuführen, was eine solche Analyse ist, welche Möglichkeiten sie eröffnet, was sie an Ergebnissen bringen kann. Ein erstes Ergebnis ist die Einsicht, dass das zu berücksichtigende Textkorpus – bestehend aus verschiedenen Textsorten, so z. B. auch aus wissenschaftlichen Texten – sich erzähltheoretisch analysieren lässt. Eine narratologische Lesart zielt darauf ab, in einer Reflexion über narrative Strukturelemente zum Verständnis des untersuchten Textes beizutragen. Das führt zur Einsicht, dass wissenschaftliche Texte ihren wissenschaftlichen Sinn erst dann entfalten können, wenn sie narratologisch analysiert gelesen werden. Es geht hier also darum, ein Instrumentarium bereitzustellen, um einen produktiven Umgang mit wissenschaftlichen Texten und so weitere wissenschaftliche Fortschritte zu ermöglichen. Infolge der narratologischen Analyse werden Texte zu einzelnen und klaren Stimmen in einem bunten Chor, die zwischen ihnen bestehenden Konflikte (theoretischer, methodischer, ideologischer etc. Natur) wandeln sich zu konstituierenden Teilen der Diskussion.20 Es wird eine Vielfalt von alternativen Argumentationen erkennbar. Die hier zitierten Erzähler erzählen dieselbe Geschichte, was ein Grund ist, uns ihren Erzählungen narratologisch zu nähern. So geraten die gestaltenden Elemente wie Zeitmodus, Erzählart, Verhältnis von Erzähler, Erzählung und Erzähltem in den Vordergrund. Es lassen sich die Effekte der Gestaltung bestimmen. In der eng verstandenen Erzählforschung werden weder Sachtexte berücksichtigt noch Textinterpretationen durchgeführt. Bei einer Anwendung der narratologischen Analyse wie in diesem Aufsatz wird beides getan, weil wissenschaftliche Texte Teil einer Erzählung sind, indem sie selbst eine Version der Geschichte erzählen, und weil durch die Interpretation erst die narratologischen Mechanismen sichtbar und in ihrer Bedeutung einschätzbar werden. Daher plädiert dieser Text nicht nur für die narratologische Analyse von avantgardebezogenen Texten, sondern auch für eine breite und pragmatische Form der Narratologie. Die narratologische Perspektive auf Texte über die ungarische Avantgarde in Österreich, insbesondere beim Vergleich von verschiedenen Erzählungen, macht für den Leser die Strukturen der Texte sichtbar, gibt somit einen Leitfaden in die Hand und ermöglicht einen produktiven Umgang mit ihnen. Die hier präsentierten kurzen Ausschnitte sowie Ansätze zu ihrem Leseverständnis sind in jeder Hinsicht fragmentarisch. Worum es 20 Was deutlich zeigt, dass Narratologie auch für die Diskursanalyse eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben kann.

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hier geht, ist eine Anregung, sich mit der vorhandenen Literatur zu und über die ungarische Avantgarde in Österreich auseinanderzusetzen. Zugleich zeigt sich hier auch: Eine narratologische Analyse ist nichts anderes als ein Bedeutung-Geben, also die Formulierung eines Narrativs. Es war beabsichtigt, eine exemplarische narratologische Analyse vorzuführen. Und tatsächlich wurde eine Geschichte der ungarischen Avantgarde in Österreich erzählt. Eine Geschichte, die aus Bruchstücken zusammengesetzt ist und die die Kontinuitäten der ungarischen Avantgarden in Österreich wiedergibt.

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Aktivismus, Dada, Proletkult und Konstruktivismus: Zerfall der ungarischen Avantgarde-Erzählung in Wien

Sämtliche Avantgarde-Bewegungen wurden beinahe von ihrer Gründung an bis zu ihrer Auflösung von Abspaltungen, Ausschlüssen und Streitigkeiten geprägt. Ob diese wegen ideologischer bzw. künstlerischer Fragen oder persönlicher Animositäten erfolgten, spielte in fast allen Fällen eine maßgebliche Rolle. Der russische Futurismus distanzierte sich vom italienischen, Dada war bald überall,1 Surrealismus und Konstruktivismus existierten an zahlreichen Orten und in zahlreichen Ausformungen, und auch der Aktivismus, ursprünglich eine von Kurt Hiller 1914 in Deutschland gegründete pazifistische Bewegung, begann sich bald zu teilen. Der Aktivismus war kein markanter Stil, wie die großen Ismen, er war eher ein ästhetisches Programm um die „Aktivierung des Geistigen zur Herbeiführung einer neuen Menschheitsära“2, also Gesinnungsethik. Formal ließen sich die meisten aktivistischen Texte als expressionistisch bezeichnen, bzw. (wie die ungarischen) als eine Mischung aus Stilmerkmalen des Expressionismus und des Futurismus. In der ungarischen Malerei war die Gruppe Nyolcak (Die Acht, 1909–1918) die bedeutendste Vertreterin des Aktivismus, an ihren Werken lässt sich eine wilde Stilmischung aus Fauvismus, Kubismus, Postimpressionismus und Expressionismus feststellen. In der Musik ließe sich das Werk Bartjks in der fraglichen Periode mit Einschränkungen als aktivistisch bezeichnen.3 Vordergründig erfolgte die Spaltung und Auflösung der exilierten

1 Leah Dickerman, Dada: Zurich, Berlin, Hannover, Cologne, New York, Paris. Katalog der gleichnamigen Ausstellung, Centre Pompidou Paris, National Gallery of Art Washington, MoMA New York 2005–2006; Günther Dankl – Raoul Schrott, DADAutriche, Innsbruck 1993. Andreas Puff-Trojan, Wien, Berlin, Dada: Reisen mit Dr. Serner. Wien 1993. 2 In: Kurt Hiller, Der Aufbruch zum Paradies, 1922. Paradies = das Irdische Paradies für die leidenden Massen. Neben der Zeitschrift Die Aktion (1911–1932) waren die Ziel-Jahrbücher (Jahrbücher für geistige Politik, 1916–2924) die wichtigsten Publikationen der deutschen Aktivisten. 3 Gergely Barki – Evelyn Benesch – Zolt#n Rockenbauer (Hg.), Die Acht. A Nyolcak. Ungarns Highway in die Moderne. Berlin 2012. Gergely Barki – Zolt#n Rockenbauer (Hg.), Die Acht – Der Akt. Wien 2012. Gergely Barki – Claire Bernardi – Zolt#n Rockenbauer (Hg.), Allegro

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Budapester Aktivisten-Gruppe in den Jahren 1921–1922 in Wien zwar aufgrund ideologischer Differenzen, diese waren aber erst als Folge der Anwendung verschiedener Verfahren zur Textgestaltung und Bildgestaltung aufgetreten. In meinem Aufsatz möchte ich kurz die Entstehung und Entwicklung des Aktivismus des Kass#k-Kreises in Ungarn in den Jahren 1915–1919 skizzieren, die Geschichte ihrer Exilierung kurz zusammenfassen, und schließlich die Gründe und den Verlauf der Wiener Spaltung darlegen. Im Anhang folgt der von mir ins Deutsche übersetzte Text eines Dada-Pamphlets – auf die Wiedergabe der graphischen Teile habe ich, da sie zum Verständnis nicht unbedingt erforderlich sind, verzichtet –, zur künstlerischen Illustration der Unversöhnlichkeit, die durch die Spaltung hervorgerufen wurde. Die ungarischen Aktivisten-Künstler und -Schriftsteller formierten sich ab 1914 in Budapest um Lajos Kass#k (1887–1967), einem ehemaligen Schlossergesellen, der als Autodidakt in Paris zunächst durch die Malerei von Henri Matisse und Pablo Picasso beeinflusst, sich für den Futurismus zu interessieren begann, und schließlich durch die futuristische und expressionistische Wanderausstellung (Anfang 1913 in Budapest) vollends für die „neue Kunst“ und „neue Literatur“ eingenommen wurde.4 Seine aktivistische Frühdichtung zeigt Stilmerkmale sowohl des Futurismus als auch des Expressionismus. Als Beispiel können einige Zeilen aus seinem bekannten Frühgedicht mit dem Titel Mesteremberek dienen5, in der Übersetzung von Barbara Frischmuth: Wir sind keine Gelehrten, noch verträumte goldmäulige Priester, auch Helden sind wir nicht, die wildes Tschinderassa in die Schlacht begleitet, die nun bewusstlos auf Grund der Meere, auf sonnigen Bergen und auf vom Donner gerührten Feldern umherliegen, umher in der ganzen Welt. […] wir sind schon fern von allem. Wir sitzen auf dem Grund der finsteren Mietskasernen: wortlos und ganz, wie die ungespaltene Materie selbst. Gestern haben wir noch geweint, und morgen, morgen bewundert vielleicht das Jahrhundert unsere Sache. […]

Das waren programmatische Sätze: Gestern noch ging es euch, ging es uns schlecht, morgen soll uns allen besser gehen. Als sie erschienen waren, dauerte der Erste Weltkrieg bereits seit über ein Jahr. Trotz des Krieges konnten die Budapester Aktivisten ihre Vorstellungen von einer ethischen, d. h. nicht entBarbaro. B8la Bartjk et la modernit8 hongroise. 1905–1920. Mus8e d’Orsay, Ausstellungskatalog 2013. 4 P#l Der8ky, The Reception of Italian Futurism in Hungarian Painting and Literature. In: Günter Berghaus (Hg.) International Yearbook of Futurism Studies, Vol. 4. (2014), p. 301–327. 5 Lajos Kass#k, Mesteremberek in: A Tett (Die Tat, Budapest), Jg. 1 (1915), Heft 3, S. 42. Deutscher Titel: Schöpferische Menschen (in der früheren Übersetzung von Annemarie Bostroem Handwerksleute betitelt).

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zückenden, sondern instruktiven neuen Kunst und Literatur, Theater und Musik, sowie von einer freien (d. h. alternativen) Schule bis zum Sommer des Jahres 1919 voll verwirklichen. Im Sinne ihrer Gesinnungsästhetik sollten alle Werke der neuen Literatur, Kunst, Musik und des neuen Theaters stark, kraftvoll, allgemein verständlich und emanzipatorisch sein, emanzipatorisch im Sinne von aufrüttelnd, revolutionär, zur Nachahmung reizend.6 Ob sich ihr Programm, was die allgemeine Verbreitung betrifft, erfolgreich in die Tat umgesetzt hätte werden können, ließ sich nicht mehr verifizieren, denn noch während der 133 Tage der Räterepublik (vom 21. März bis zum 1. August 1919) erzwangen die kommunistischen Machthaber infolge einer schweren Auseinandersetzung die Einstellung ihrer Zeitschrift, und nach der Niederschlagung der Räterepublik mussten sie fliehen. Die meisten Aktivisten entschieden sich Ende 1919 und im Laufe des Jahres 1920 für Wien als Ort ihrer Emigration (einige zogen gleich weiter : L#szlj Moholy-Nagy nach Berlin, Gyula Illy8s nach Paris). Anfangs waren sie voller Zuversicht. Sie hielten es für ausgeschlossen, dass der Monarchie-Liberalismus, der selbst während des Krieges der äußere Rahmen ihres Alltags war,7 sich in Luft auflösen würde, und im 20. Jahrhundert, jedenfalls zu ihren Lebzeiten, in Ungarn ein autoritäres, scheindemokratisches – zeitweise diktatorisches – Regime das andere ablösen würde. Nicht, dass sie Demokraten gewesen wären: Sie waren Unterstützer der ungarischen Räterepublik, wollten aber die Links-Diktatur mit der Zeit konsolidieren. In Wirklichkeit waren im Sommer 1919 die meisten Idealisten, die keine Ahnung vom Wesen einer ausgewachsenen Diktatur hatten. Während ihres Wien-Aufenthaltes stellte es sich dann schnell heraus, dass die in Ungarn an die Macht gelangte rechtskonservative Regierung das Land in beinahe jeder Hinsicht bemerkenswert schnell stabilisieren und konsolidieren konnte, sich sogar stark genug fühlte, 1926 eine Amnestie zu erlassen, mit der ihnen, bei Erfüllung gewisser Auflagen, die Rückkehr nach Ungarn ermöglicht wurde. Die meisten Emigranten wählten diese Option, unter ihnen Kass#k, der damals bekannteste ungarische Avantgardist.8 Einige Wiener Aktivisten entschieden sich für die Rückkehr in ihre ehemals im Königreich Ungarn gelegenen Heimatstädte, nun in der Tschechoslowakei, im Königreich Rumänien bzw. im Königreich 6 B8la Bartjk im MA: Jg. 2 (1917), Heft 8., S. 119–121., bzw. Jg. 3 (1918), Heft 2., S. 17. und 22–23. 7 Als ATett (Die Tat), die erste aktivistische Zeitschrift, im Sommer des Jahres 1916 wegen ihres internationalistischen Heftes von der Zensur verboten wurde, konnte Kass#k gleich anschließend umstandslos eine neue gründen, das MA (Heute / Gegenwart). So etwas war dann in Ungarn für Jahrzehnte – bis 1989 – nicht mehr möglich. 8 Heute ist neben B8la Bartjk L#szlj Moholy-Nagy international am bekanntesten, vgl. die zahllosen Publikationen zu seinem Lebenswerk. Die gegenwärtig neueste wurde von Oliver A. I. Botar herausgegeben: Sensing the Future: Moholy-Nagy, die Medien und die Künste. Plug In Institute of Contemporary Art – Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin 2014 (Ausstellung im Berliner Bauhaus-Archiv 08. 10. 2014–12. 1. 2015, Katalog).

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Jugoslawien: Lajos Kudl#k in Bratislava, J#nos M#cza in Kosˇice, Robert Reiter in Timis‚ oara, György Sz#ntj in Arad, György M#ty#s in Subotica, etliche in Novi Sad. Bereits ab 1923 begann die Auswanderung in die Sowjetunion. Von den Wiener Ungarn aus dem Kass#k-Kreis wählten zunächst die Familien Uitz und Barta Moskau als Refugium, kurze Zeit später auch J#nos M#cza. S#ndor Barta (1897–1938) wurde Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft, B8la Uitz (1887–1972) überlebte. Er kehrte 1970 nach Budapest wie auf einen fremden Planeten zurück. J#nos M#cza (1883–1974) verstarb völlig lebensfremd in Moskau. Als ihn Carl Laszlo (L#szlj K#roly), ein Schweizer Kunsthändler (1923–2013), in den 1960er Jahren besuchte, klagte er, dass er Probleme mit seinen Beinen hätte, aber wohl keine Aussicht, ein Auto zugeteilt zu bekommen. Laszlo zeigte auf die Kunstwerke aus der Frühzeit der Avantgarde an den Wänden der Wohnung: Ein jedes von ihnen sei im Westen mehrere Autos wert. Der Wiener Neubeginn – angesichts der tristen Finanzlage der Emigranten ein Wunder – wurde am 1. Mai 1920 gefeiert. Mit diesem Datum erschien die erste Wiener Ausgabe der Zeitschrift MA – die seit der Digitalisierung durch die Österreichische Nationalbibliothek bequem erreichbar ist.9 Zur Einleitung des fünften (ersten Wiener) Jahrganges steht ein zweisprachiger Aufruf vom 15. April 1920, im Namen der ungarischen Aktivisten, gezeichnet von Lajos (Ludwig) Kass#k. Die letzten Sätze lauten: „Es lebe die gegen jede Tradition kämpfende Revolution! Es lebe das verantwortliche kollektive Individuum! Es lebe die Diktatur der Idee!“ Die drei Sätze beleuchten schlaglichtartig einen seit Jahren schwelenden Konflikt, der zu Beginn der Wiener Zeit, in den Jahren 1920/ 1921 für etwa zwölf Monate ruhte. Es ging um Akzeptanz oder Ablehnung des Weisungsrechts der kommunistischen Partei in allen Fragen der Literatur und der Kunst. Kass#k kannte die ungarischen Kommunisten vom ersten Augenblick an, bereits vor der Gründung der Ungarländischen Partei der Kommunisten (KMP, Kommunist#k Magyarorsz#gi P#rtja) am 24. November 1918 in Budapest. Als Vertreter der Ideen des Anarchosyndikalisten Ervin Szabj, eines „Moralisten der Revolution“,10 vertrat Kass#k bedingungslos die Autonomie der Literatur und der Kunst. Die erste Sezession kommunistischer Literaten aus seiner Gruppe erfolgte bereits 1917, als vier Mitglieder seines Kreises ihn verließen: M#ty#s György, Alad#r Komj#t, Jjzsef Lengyel und Jjzsef R8vai. Er hatte mit ihnen – außer mit R8vai – später nichts mehr zu tun. R8vai allerdings, der sich bis 1926 ebenfalls in Wien aufhielt, und ab 1925 in der Redaktion des Zentralorgans der Wiener ungarischen Kommunisten 5j M#rcius (Neuer März) tätig war, hatte maßgeblich Anteil an der vernichtenden Einschätzung Kass#ks in dieser Zeit9 http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno-plus?aid=maa (letzter Zugriff am 20. 10. 2015). 10 György Litv#n, Szabj Ervin, a szocializmus moralist#ja (E. Sz., der Moralist des Sozialismus), Budapest 1993.

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schrift.11 Nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion wurde R8vai zwischen 1948 und 1953 Alleinherrscher über das kulturelle Leben in Ungarn. Er ließ Kass#k aus der Partei werfen, aus Budapest entfernen und verhängte ein vollständiges Berufs- und Publikationsverbot über ihn, das erst 1956 aufgehoben wurde. Kass#k war sich 1919 im Klaren darüber, dass die Frage der Akzeptanz oder der Ablehnung des Weisungsrechts der Partei vom ersten Augenblick der Machtergreifung der KMP an eine Lebensentscheidung war. Er lehnte im vollen Bewusstsein der zu erwartenden Restriktionen die Einmischung der Partei in Fragen der Literatur und Kunst strikt ab.12 Nach der Gründung der KMP im November 1918 konnte daher die Frage der Unterscheidbarkeit seiner Bewegung von jener der Kommunisten nicht mehr aufgeschoben werden. Bis dahin wurden er und seine Leute als „neue Künstler“, „neue Dichter“ oder als ungarische Futuristen bezeichnet, aber nun drohte Gefahr, als Kommunisten eingestuft zu werden, was sie, nebenbei gesagt, weltanschaulich ja mehr oder minder alle waren. Deswegen proklamierte Kass#k in einer öffentlichen Rede am 20. Februar 1919 den ungarischen Aktivismus; der Text der Rede wurde im vierten Jahrgang von MA (1919), Heft 4, S. 46–51, publiziert. Hier entwarf er die Idee eines allumfassenden Bildungsangebotes für alle: Nicht nur für Arbeiter, sondern auch für Arbeitslose, Hausfrauen und ganz besonders für Jugendliche, für Jungarbeiterinnen und -arbeiter. Er meinte das todernst, und fing in der Familie an. Seine ältere Schwester wurde Ehefrau von B8la Uitz, dem (neben Moholy-Nagy) wohl interessantesten Maler der ungarischen Avantgarde; seine jüngere, eine Fabrikarbeiterin, die er als Siebzehnjährige zum Schreiben ermunterte, wurde unter dem Namen Erzsi 5jv#ri expressionistische Dichterin. Seine Lebensgefährtin Jol#n Simon, ebenfalls Fabrikarbeiterin, die drei eigene Kinder mit in die Ehe brachte (sie und Kass#k hatten keine gemeinsame), wurde „die erste ungarische dadaistische Schauspielerin“, die Texte von Lajos Kass#k, S#ndor Barta, Hans Arp, Kurt Schwitters, Richard Huelsenbeck, Ivan Goll, Hugo Ball, Guillaume Apollinaire, Blaise Cendrars, Marcel Lecomte und Stücke aus Cendrars’ Anthologie nHgre in einer unnachahmlichen Art und Weise interpretierte, die die meisten Zuhörerinnen und Zuhörer faszinierte, S#ndor Barta jedoch dermaßen auf die Nerven ging, dass er Jol#n Simon in seinem dadaistischen Pamphlet gnadenlos karikierte.13 Lajos Kass#k selbst wird im Pamphlet Lajos Kollektiv 11 György Luk#cs, Kass#k Lajos, in: 5j M#rcius, Wien 1926, S. 675–678. 12 Volkskommissar B8la Kun, Leiter der Räterepublik, nannte die Avantgarde in einer Rede im Sommer 1919 in Budapest „ein Produkt bourgeoiser Dekadenz“. Kass#k antwortete ihm mit einem offenen Brief, Lev8l Kun B8l#hoz a mu˝v8szet nev8ben (Brief an B.K. im Namen der Kunst) in: MA (Budapest), Jg. IV. (1919), Heft 7, S. 146–148. 13 Siehe Anhang:S#ndor Barta, „Az o˝rültek elso˝ összejövetele a szemetesl#d#ban“ [Erstes Treffen der Wahnsinnigen in einer Sammelkiste für Straßenmist], in: Akasztott ember [Der Gehenkte], Heft 1–2 (1. November 1922) und Heft 3–4 (20. Dezember 1922).

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genannt, denn er verwendete für das Ideal des verwirklichten Neuen Menschen den Ausdruck Kollektives Individuum. Dieser Neue Mensch sollte zunächst sich selbst bilden. Nachdem er auf ähnlich autodidaktische und kunstorientierte Weise wie Kass#k selbst sich Bildung im Sinne von Gesellschaftskunde und Orientierungsfähigkeit angeeignet hatte, würde er sich verantwortlich und aufklärerisch dem Gemeinwohl widmen. Die ungarländischen Kommunisten – allen voran Luk#cs – verwarfen das allumfassende gesinnungsethische, autodidaktisch zu verwirklichende Bildungsangebot Kass#ks. Sie vertraten ein anderes Bildungsideal, eine etwas modifizierte Variante von Proletkult, in der die Avantgarde gar keinen Platz hatte, gewisse fortschrittliche Strömungen der Moderne aber schon. Jedoch ruhte – wie gesagt – diese Animosität in Wien etwa zwischen Mai 1920 und dem Sommer 1921. In diesem Jahr kulminierte sogar die Verlagstätigkeit von MA, der Reihe nach erschienen die teilweise aufwändig gestalteten Sonderhefte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Heft 1 mit dem Titel Tisztelt Hullah#z (Hohes Leichenhaus) enthält dadaistische Manifeste und Bildgedichte von S#ndor Barta, Heft 2 ist Moholy-Nagy gewidmet. Heft 3 enthält die Prosagedichte von Erzsi 5jv#ri, der Kass#k-Schwester, mit Illustrationen von George Grosz, Heft 4 Texte von Mjzes Kah#na und Illustrationen von J#nos (Hans) Mattis-Teutsch. Heft 5 mit dem Titel Teljes szinpad (etwa: Gesamtbühne) skizziert die Vorstellungen eines Neuen Theaters von J#nos M#cza. Heft 6 ist Andor Simon gewidmet, er publizierte seine gesammelten Gedichte mit dem Titel Kinyilatkoztat#s (Offenbarung). In Heft 7 mit dem Titel Git#r 8s konflislj (Gitarre und Fiakerpferd) publiziert Diplomingenieur Lajos Kudl#k Gedichte, Manifeste und Essays.14 Zwei Wiener MA-Sonderhefte wurden von ÖNB-Anno bisher nicht digitalisiert: Das Bildarchitektur-Album von S#ndor Bortnyik, und das Buch Neuer Künstler / 5j mu˝v8szek könyve von Kass#k und Moholy-Nagy (1922).15 Zum Manifest vom 15. April 1920, das alle unterschrieben, gehörte allerdings ein Kommentar Kass#ks, der nicht öffentlich war. Er begann folgendermaßen: „Dieses Manifest habe ich im Juni 1919 in der Ungarischen Räterepublik verfasst, nachdem meine Zeitschrift MA verboten wurde. Ich musste endlich verkünden, was ich vom ersten Augenblick der Ausrufung der Proletarierdiktatur an klar gesehen habe: Diese Gesellschaft muss nicht erneuert, sie muss erlöst werden […]“16 „Erlösung“ meinte er sicher nicht im religiösen Sinne, 14 Neuauflage – ohne die Bildarchitekturen Kudl#ks, dafür aber mit einem Nachwort von Zolt#n Csehy – mit dem Titel Akasztjf#inkat csiklandozzuk [Wir kitzeln unsere Galgen], Bratislava 2011. 15 S. dazu: Gudrun Ratzinger, Bildtexte und imaginäre Ausstellungen: die Kunstpublikationen Buch neuer Künstler und Die Kunstismen. Diplomarbeit, Wien 2004. 16 Ferenc Csapl#r, Magam törv8nye szerint – tanulm#nyok Kass#k Lajosrjl [Aufsätze und Dokumente zu Kass#k zu seinem 100. Geburtstag], Budapest 1987, S. 156.

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sondern etwa so, dass die Gesellschaft nicht politisch indoktriniert, sondern vielmehr zu einer Gemeinschaft autonom und verantwortlich denkender und handelnder Individuen umgewandelt gehörte. Das war die Kass#ksche Formlierung der „Neue Mensch“-Idee, hier müssen wohl die Ursprünge seines „kollektiven Individuums“ liegen. Es mag sein, dass die Entstehung des Manifests durch die erzwungene Einstellung der Zeitungspublikation motiviert wurde. Aber die langsame Wandlung von Kass#ks Stil wurde in Wirklichkeit durch das Scheitern der großen Aktivisten-Verheißung einer baldigen Besserung der Lebensumstände der Arbeiterklasse ausgelöst. Nach der Niederschlagung oder Vereitelung der Räterepubliken in West- und Mitteleuropa (Budapest, München, Augsburg, Fürth, Rosenheim, Würzburg, Kosˇice, Versuche in Berlin und in Wien usw.) musste er sich und seinem Publikum eingestehen, dass das in seinem Programmgedicht Schöpferische Menschen17 1915 abgegebene Versprechen einer fundamentalen Besserstellung für alle Unterprivilegierten in absehbarer Zeit wohl nicht eingelöst werden könne. Daher verfasste Kass#k in Wien abstrakte – von ihm konstruktivistisch bezeichnete – Textmontagen, in denen kein Versprechen auf materielle Besserstellung mehr vorkam, aber die „Erlösung“-Idee neu formuliert wohl beibehalten wurde. Uitz und Barta stimmten darin mit ihm überein, dass in Westeuropa einstweilen keine Aussicht auf die Entstehung einer revolutionären Situation vorhanden sei, betonten jedoch, dass sie sehr wohl an die Verwirklichung der Arbeiterparadies-Idee in der Sowjetunion glaubten. Bartas 1923 erschienenes Poem Kristall der Zeit: moskau18 ist ein Paradebeispiel für diesen Glauben: „Kristall“ wurde damals (und wird im Poem) als die materialisierte Vollkommenheit verstanden, moskau als Gipfel der menschlichen Entwicklung. Äußerlich erfolgte die Spaltung der Wiener Kass#k-Gruppe durch die bedingungslose Moskau-Orientierung des einen, und durch das Festhalten an der künstlerischen Autonomie des anderen Teils. Sie hatte indes auch ästhetische Folgen. Als Konsequenz dieser Entscheidung schrieb in der Sowjetunion Barta Lobgedichte auf die soziale Wohnbau in Moskau, und fertigte Uitz lange Murales, propagandistische Wandmalereien auf Fabrikmauern, u. A. einer Traktorenfabrik an. Kass#k entwickelte in Wien seine abstrakten Textmontagen und die Bildarchitektur, und bezeichnete sich und die bei ihm Verbliebenen weiterhin als Aktivisten. Es ist fast überflüssig zu sagen, dass sich beide Gruppen für Kommunisten hielten, und zwar jeweils für die Richtigen. Barta und Uitz nannten Kass#k einen Opportunisten, einen miesen Verräter, Heuchler und Lügner, Kass#k nannte sie Agitatoren, Propagandisten, Auftragsbedienstete der KP. 17 In P#l Der8ky (Hg.), Lesebuch der ungarischen Avantgardeliteratur 1915–1930, Wien 1996, S. 289. 18 In Der8ky (Hg.), Lesebuch, S. 111f.

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Im Jahr 1922 trennten sich ihre Wege. Es gibt ein bekanntes, vielzitiertes Foto der Wiener MA-Gruppe vom Ende Februar, Anfang März 1922,19 erschienen am 5. März als Illustration eines Andor N8meth-Artikels in der Wiener ungarischen Zeitschrift Panor#ma. Es wurde aller Wahrscheinlichkeit nach von einem Profi im Schönbrunner Schlosspark aufgenommen – nahe der Amalienstraße, der Redaktion der Zeitschrift und der Wiener Wohnadresse Kass#ks –, vor einer noch kahlen Rosenlaube. Auf dem Foto sind von links nach rechts folgende MAisten zu sehen: S#ndor Bortnyik; B8la Uitz; die jüngere Kass#k-Schwester Erzsi (Erzsi 5jv#ri), Ehefrau von S#ndor Barta; Andor Simon; Lajos Kass#k; seine Lebensgefährtin Jol#n Simon, und S#ndor Barta. Kurze Zeit später wären fünf von ihnen nicht mehr bereit gewesen, sich mit Kass#k und Jol#n Simon auf einem Bild zu verewigen. Es ist schwer nachvollziehbar, doch Tatsache, dass Barta, Uitz und die anderen, die Kass#k seit Jahren aus nächster Nähe kannten, um 1922 angenommen haben, Kass#k wäre entweder wahnsinnig geworden (sei zu einem abgehobenen Esoteriker mutiert) oder gar zu einem Verräter der Arbeiterklasse und des Kommunismus. In der Gehässigkeit, mit der sie ihn und seine Frau angegriffen haben, spielte sicherlich der lang unterdrückte Aufstand gegen den Patriarchen auch eine Rolle. Beide haben ja Kass#k-Schwestern geheiratet, und Lajos war nun einmal das Familienoberhaupt, zweifellos ein unangenehm dogmatisches, rechthaberisches, kaum auszuhaltendes. Esoterik war indes seinem Wesen genauso fremd wie Verrat. Im Gegensatz zu den meisten MAAvantgardisten, die entweder verstummten oder in den Schablonen des sozialistischen Realismus weiterwerkelten, versuchte er, seinen Jugendidealen treu zu bleiben, vor allem die Idee der Jungarbeiter-Selbstbildung weiter zu verfolgen. Es wurde nun klar, dass die emanzipatorische, künstlerische Bildung der Arbeiterjugend das zentralste, beständigste Element sowohl seiner literarischen als auch seiner bildnerischen Tätigkeit war. Der Aktivismus der Jahre 1914–1919 ließ sich jedoch weder literarisch, noch bildnerisch fortsetzen. In dieser Notlage kam ihm der durch die MA-Mitarbeiter Erno˝ (Ernst) K#llai und L#szlj MoholyNagy vermittelte Konstruktivismus zu Hilfe. Vereinfacht gesagt, erblickte Kass#k im Konstruktivismus eine Art Fertigbaustein-Kreativität, deren Entfaltung keine jahrelange Vorbildung erfordere. Bilder wie Texte ließen sich einfach bauen, bilden. Von einfachen Geistern und von Minderbegabten eben einfachere, von Talentierteren hochwertige. Konstruktionsprinzipien der Fertigbaustein-Texte und -Bilder seien die gleichen, wie jene der zeitgenössischen Häuser, Industriebauten, Masten, Autos, Turbinen, Filmvorführmaschinen – einfach aller neuen Dinge. Davon handelt, das illustriert das Buch neuer Künstler. Die ne19 www.europeana.eu/portal/record/2048006/Athena_Plus_ProvidedCHO_Pet_fi_Literary_Mu seum_759514.html Die MA-isten (c) Peto˝fi Literaturmuseum Budapest (PIM) (letzter Zugriff am 18. 9. 2017).

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beneinandergestellen Bilder von Kunstwerken und Design-Arbeiten sollten die Aussage verdeutlichen: Seht her, es geht doch in allem um das Gleiche. Und habt ihr das einmal verstanden, seid ihr auch zur Nachahmung fähig, seid Künstler, seid kollektive Individuen geworden. Er selbst ging mit gutem Beispiel voran, und entwickelte auf dem Gebiet der bildenden Kunst die sogenannte Bildarchitektur20, auf jenem der Textproduktion die Nummerierten Gedichte.21 Zur gleichen Zeit schufen auch andere Wiener ungarische Künstler Bildarchitekturen – Aur8l Bern#th, S#ndor Bortnyik und Lajos Kudl#k beispielsweise –, aber der Nachbau der Texte wollte so richtig niemandem anderen gelingen, die Nachahmung schien nicht möglich zu sein. Nicht nur die Nachahmung nicht: Sie wurden komplett missverstanden bzw. als kryptische Rätsel aufgefasst. Wörtlich genommen schienen sie peinliche Eingeständnisse der Niederlage, des Verrats und der Depression zu sein – Luk#cs und Barta stürzten sich auf die Aussage, dass von Kass#ks Schrifttum kein Wort wahr sei – oder eben obskure Phantasmagorien eines irren Propheten. Die Bildarchitektur mit ihren farbigen Montagen geometrischer Objekte wurde als Spielerei, als Selbstzweck, als Ornament abgetan, seriöse Kunstkritiker stellten fest, dass die – ihrem Anspruch nach dreidimensionale – Bildarchitektur sich nicht von der Fläche zu lösen vermag. Der 1921 erschienenen ersten Sammlung Nummerierte Gedichte22 stellten selbst Kass#k wohlgesinnte Kritiker vernichtende Zeugnisse aus. Sie fragten ihn, wie er sich die Rezeption dieser weltfremden Stücke vorstellte, wer sollte sie wohl je verstehen.23 Kass#k ließ sich nicht beirren, er blieb dabei, dass es sich langsam wohl auch eine Lesergemeinde für diese abstrakten Textmontagen bilden werde. Dabei kam ihm der Umstand zugute, dass von der Kritik im Lichte dieser Textmontagen plötzlich – binnen weniger Monate – seine Kraft-Dichtung der Jahre 1915–1919 nicht nur aufgewertet, sondern sogar als „klassisch“ gepriesen wurde. Er erwartete daher auch im Falle der abstrakten Textmontagen etwas Ähnliches, was freilich nicht eintreffen wollte. Das musste er nach und nach einsehen, zumal die Verkaufsauflage von MA dramatisch im Sinken begriffen war. Er fand eine für ihn typische Lösung. Das Experimentalorgan MA dürfe nicht verwässert werden, aber warum nicht ein modernistisches Blatt für weniger Experimentierfreudige gründen? Die Nummerierten Gedichte bleiben wie sie 20 Vgl. MA, Jahrgang 8, Heft 1, und Lajos Kass#k, Bildarchitektur, Deutsch von Paul Ac8l, Wien 1921. 21 Vgl. Lesebuch der ungarischen Avantgardeliteratur, S. 335f. 22 Lajos Kass#k, MA 1. Versek [Gedichte], Wien o. J. [1921]. 23 Alad#r Komljs, Varga Luk#cs patikus k8rd8seket int8z Kass#k Lajos költo˝höz [Der Apotheker Luk#cs Varga richtet Fragen an den Dichter Lajos Kass#k], in: B8csi Magyar 5js#g (Wien) vom 18. Juni 1922, S. 5. sowie Andor N8meth, Kass#k Lajosn#l [bei Lajos Kass#k], in: Jövo˝ [Wien], 12. Februar 1922, S. 7–8. und 19. Februar 1922, S. 2–3.

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sind, aber warum nicht die immergleiche Grundaussage auf verständlichere und unterhaltsamere Weise noch einmal zusammenfassen? So gründete Kass#k 1922 gemeinsam mit Andor N8meth in Wien die Zeitschrift 2 x 2. Sie schafften nur die Herausgabe eines einzigen Heftes. Teil I – die Hälfte des Umfangs – wurde von Andor N8meth, Teil II von Kass#k redigiert. Es kann hier keine Blattanalyse geleistet werden, ja nicht einmal eine Beschreibung, hier soll einzig die Publikation eines der Hauptwerke der ungarischen literarischen Avantgarde der 1920er Jahre in 2 x 2 erwähnt werden, Kass#ks wirkungsmächtiges Poem Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen aus.24 Dies ist auch ein montierter Text, zumal in Blocksatz, die einzelnen Bedeutungseinheiten sind durch Sternchen voneinander getrennt. In den Textkörper sind zwei ganzseitige Bildarchitekturen montiert, diese Text-Bild-Montage soll wohl den universellen Anspruch des Poems verdeutlichen: In der Avantgarde funktioniere alles nach dem gleichen Prinzip. Was aber nicht mechanisch, sondern durchaus beseelt sei, darauf deutet schon der – heute selbstverständlich scheinende – Titel hin. Das Pferd verendet nicht (der damals übliche Ausdruck), sondern stirbt. Es handelt sich daher wohl um keinen Vierbeiner, sondern um eine Avantgarde-Allegorie, deren Grundpfeiler noch greifbar ist (Pferd=Vergangenheit), aber wer oder was die ausfliegenden Vögel sind, für was sie stehen (sicher nicht eindeutig für die Zukunft), soll wohl individuell konstruiert werden. Dessen ungeachtet handelt es sich hier um einen durchaus erzählenden Text. Gespickt mit lautmalerischen, stimmungsmachenden dadaistischen Streuseln wird die Geschichte der Wanderung eines jugendlichen Ichs von Budapest nach Paris erzählt. Im Zuge der fiktional 1907 (in Wirklichkeit 1909) erfolgten mehrmonatigen Fußwanderung wird aus dem ungebildeten Schlossergesellen ein Dichter.25 Die Landstraße ist seine Universität, Landstreicher, Prostituierte, wohltätige Christen und Juden, Arbeiterbildner seine Lehrer. Er verbraucht zwei Mentoren, und muss in Paris erkennen, dass die Welthauptstadt der Moderne für ihn nur eine Touristenattraktion ist. Die von ihm visionierte „neue Dichtung“ und die „neue Kunst“ weisen bereits über die Moderne hinaus. Schließlich reist der Held dieser Montage, der gegen die Herbstkälte bereits mehrere Hosen übereinander trägt, mit einem Gratisfahrschein III. Klasse der k.u.k. Österreichisch-Ungarischen Botschaft in Paris

24 Vgl. Lesebuch der ungarischen Avantgardeliteratur, S. 315f. Wirkungsmächtig deswegen, weil in der repräsentativen Umfrage der Klausenburger Zeitschrift Korunk nach den 100 besten Gedichten der ungarischen Literatur im 20. Jh. im Jahre 2001 dieses Poem Platz 6. belegte (A Korunk 2001-es körk8rd8se a 20. sz#zad legszebb magyar verseiro˝l). 25 Als Walz, als Gesellenwanderung kann dieser Fußmarsch trotz der formalen Ähnlichkeit deswegen nicht bezeichnet werden, weil ja nicht die Konstruktion, sondern die Dekonstruktion eines Berufsstandes angestrebt und erreicht wurde. Aus dem Schlossergesellen wurde kein „fertiger“ Schlosser, sondern ein angehender Dichter (Künstler, Intellektueller).

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nach Hause. Das Poem wurde bereits 1923 ins Deutsche übersetzt26 und fügt sich in die Reihe ähnlicher (wenn man will, erzählender) Gedichte der Avantgarde wie Les P.ques / New York (1912) oder La prose du Transsib8rien et de la Petite Jehanne de France (1913) von Cendrars; Lundi rue Christine (1918) oder Le musicien de Saint-Merry (1918) von Apollinaire, bzw. Paris brennt: ein Poem nebst einem Postkartenalbum (1921) von Yvan Goll. Seinerzeit boten 2 x 2 und das Poem indes Anlass zur Entladung des geballten Zorns von S#ndor Barta. 1922, unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus dem Kass#k-Kreis, gründete er in Wien die Zeitschrift Akasztott Ember (Der Gehenkte) und rechnete dort in einem dadaistischen Pamphlet mit dem Titel Erstes Treffen der Wahnsinnigen in einer Sammelkiste für Straßenmist mit Kass#k gnadenlos ab. Der Gehenkte war Bartas Sinnbild für die niedergeschlagene Revolution. 1920 ursprünglich als Opfergestalt konzipiert, die sich nichts hat zuschulden kommen lassen, außer der Erhebung ihres Wortes für Menschenwürde und gerechte Bezahlung, wurde die Figur 1921 umgebaut, als eine, die wegen ihres mangelnden Einsatzes und Kampfgeistes mit Schuld an ihrem Schicksal trägt. Schließlich bestimmte Barta 1922 die Bedeutung des Gehenkten als Unterscheidungsbegriff zwischen Gut und Böse: Wer für ihn sei, sei ethisch und revolutionär, wer gleichgültig oder ablehnend gegen ihn, Verräter und Charakterschwein. Kass#k hat für Barta alle Kriterien des Letzteren erfüllt. Er griff ihn in seiner neugegründeten Zeitschrift direkt an. Unter der Überschrift 2 x 2 = 50.000 schrieb er : Kass#k und N8meth wollten den Boykott der Massen nicht abwarten, die wegen des unbezahlbaren Preises – 50.000 Kronen für ein Heft! – ihre in 500 Exemplaren erscheinende Zeitschrift 2 x 2 ächten werden, und schlossen sie daher wohlweislich aus: Das Blatt wird im Zeitschriftenhandel nicht vertrieben, es kann nur abonniert werden. Dadurch wurden die beiden auf direktem Weg zu Hoflieferentan der Bankiers und ihrer hysterischen Töchter, die sie nebenbei sogar beruhigen, dass im Blatt keinerlei Ismen und Schulen vorkommen sollen. 2 x 2 wird nur von jenen gelesen, die es kaufen können.27 So sehr wir die geschäftstüchtigen Verleger verstehen, so wenig verstehen wir Kass#k, der jede Sekunde für uns unverständliche Wandlungen durchzumachen scheint. Es ist kein Wunder, dass „Fischauge“ Andor N8meth – er wurde ausgerechnet von Kass#k vor einigen Tagen so treffend charakterisiert – einen Wels und einen Büffel nicht auseinanderhalten kann, aber wieso glaubt ihm dann Kass#k, ausgerechnet mit diesem Blatt Revolution machen zu können? Lajos Kass#k, Sie galten bis jetzt im Kreise der Jugend als der unbeugsame Steuermann der Bewegung der Zeitschriften A Tett28

26 MA-Buch. Wien-Berlin 1923. 27 Ende 1922 konnten für 50.000 Kronen ca. 25 Fahrscheine gekauft werden, d. h. (wenn ich mich nicht irre), dass das Heft nach heutiger Umrechnung etwa ein Wert von 50 E gehabt haben dürfte. 28 Vgl. Fußnote 7.

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und MA. Doch scheint jenes Schiff, das Sie gleichzeitig Richtung Bourgeoisie und Kommunismus steuern wollen, in der Mitte auseinanderzubrechen.29

In B8csi Magyar 5js#g (Wiener Ungarische Zeitung, 1919–1923), der bedeutendsten ungarischen Tageszeitung der Wiener Emigranten, wurde man bereits zuvor, im August des Jahres 1922, auf die Spaltung des Kass#k-Kreises aufmerksam. Anlässlich der Vorstellung des Manifestes von Barta, in dem er ankündigt, eine neue „satirische und antisatirische“ Monatsschrift herauszugeben, zitierte der Kritiker Alad#r Komljs lange Passagen aus der Ankündigung, mit Bartas Kritik an der Bildarchitektur und an den Nummerierten Gedichten (der einst so entschlossene Kampf von MA sei vor den schrecklichen Götzen der blauen Dreiecke, der roten Punktreihen und den exotischen Wortblumen zusammengebrochen). Um auf sein titelgebendes Sinnbild zu kommen, gab Komljs Barta wörtlich wieder : Am Mastbaum der Zeit hängt blutverschmiert der Gehenkte. Den MA-isten ist es jedoch beinahe schon gelungen, ihn durch ihre blauen und roten Dreiecke zu ersetzen. […] Sie können es noch so oft in Abrede stellen und mit Erklärungen umgarnen: In den blauen Grotten haben sie längst wieder die Kunst und die Dichtung als Selbstzweck proklamiert.30

Dichtung als Selbstzweck (l’art pour l’art) galt als Inbegriff der Dekadenz, die von „wahren Dichtern“ betrieben wird – in der ungarischen Avantgarde eine schwere Beleidigung. Alle diese Anschuldigungen werden in Bartas Pamphlet Erstes Treffen der Wahnsinnigen in einer Sammelkiste für Straßenmist aufgezählt. Der von Barta apostrophierte Verfasser – ein wahrer Dichter – ist Lajos Kass#k (Lajos Kollektiv). 2 x 2 heißt dort (wegen des Kass#k-Poems Das Pferd stirbt…) Wieher-Wieher. Das Blatt Wieher-Wieher will im gesellschaftpolitischen und künstlerischen Sinn nichts – außer zu gefallen. Die Redakteure seien infantil (zusammen zwei Jahre alt), asketisch (die Nahrung zu sich nehmen wollen, werden bestraft), Kass#k gesteht selbst ein, dass er lügt: „Erdo˝k 8s viharok s&rnak ki belo˝lem 8s semmi nem igaz abbjl, amit mondok.“31 Diese Wahnsinnigen treffen sich nachts in einer großen, leeren Kiste der Wiener Straßenreinigung – denn sie sind selbst Mist, Abfall, Kehricht der Gesellschaft. Der Erzähler des Pamphlets sieht fünf Männer und zwei Frauen in der Kiste. Körperlich sind folgende Personen anwesend: Jolantha Simpel (Jol#n Simon), Kass#ks Lebens29 In: Akasztott ember [Der Gehenkte] Wien, Heft 1–2 (1. November 1922), S. 13. Übersetzung P#l Der8ky. 30 (k) [Alad#r Komljs]: H&rek a MA kör8bo˝l (Nachrichten aus dem Kreis des MA), in: B8csi Magyar 5js#g, 23. August 1922, S. 6; zit. nach: P#l Der8ky, Ungarische Avantgarde-Dichtung in Wien 1920–1926. Wien 1991, S. 131., aus dem Ungarischen von G8za Der8ky. 31 Zitat – Schlusszeilen – aus Gedicht Nr. 44., ,Wälder und Stürme heulen aus mir und nichts ist wahr was ich sage‘ (aus dem Ungarischen von P#l Der8ky).

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gefährtin; J#nos im Nebel (J#nos Mattis-Teutsch), ein esoterischer Maler ; Lajos II. (Lajos Kudl#k) „Chemieingenieur und Lachgas“; ein stiller Gemütskranker (der Maler Aurel Bern#th); Herr Nüchtern (L#szlj Moholy-Nagy); die realistische Schriftstellerin (Zsjfia D8nes) und Alexander der Große (der Maler S#ndor Bortnyik), der tatsächlich alle um einen Kopf überragte. Während des Treffens materialisieren sich J#nos aus Kosˇice (J#nos M#cza) als Erscheinung an der Decke der Kiste sowie Simon (Andor Simon) als Erscheinung unter dem Bett. Wie ein Bett in die Kiste kommt, wird nicht thematisiert. Erwähnt wird außerdem Andreas (Endre) G#sp#r als Der Übersetzer. Kass#ks Aussprache wird vom Erzähler als von starkem slowakischem Akzent gefärbt beschrieben, was so nicht stimmt. Kass#k wurde zwar in Nov8 Z#mky (deutsch Neuhäusel, ungarisch Prsekffljv#r) geboren, sprach aber außer Ungarisch zeitlebens keine andere Sprache. Was als Akzent empfunden wurde, war die ungarische Paloczen-Mundart, die in Nordungarn und in der Südslowakei gesprochen wurde und wird – eine der erkennbaren Mundarten im sonst eher dialektarmen Ungarischen. In den Text des in Bratislava lebenden Chemieingenieurs – dem Verfasser des Textmontageund Bildarchitektur-Bandes Git#r 8s konflislj (Gitarre und Fiakerpferd) – werden Wiener Dialektausdrücken nachempfundene Brocken montiert, wohl zur Vorbereitung der direkt darauf folgenden Publikumsmeinung: Ein wahrer Dichter nur da Lajos Kollektiv,32 auch wenn Jolantha Simpel die p.t. Weltordnung33 vom Gegenteil zu überzeugen versucht, dass nämlich Kass#k kein „wahrer Dichter“, kein l’art pour l’art-Esoteriker, sondern Revolutionär sei. Bartas Pamphlet stellt Kass#k und die bei ihm verbliebenen MA-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Lügner, Heuchler, gesinnungslose Karrieristen, Verräter, Volltrottel und Perverse dar. Selbst die Datierung des ersten PamphletTeils (1921) ist Teil seiner Propaganda: Veröffentlicht hätte er im MA auch noch 1922, aber seine Desillusionierung hätte bereits ein Jahr früher begonnen. Indes stand auch er gegen Ende des Jahres 1921 vor den gleichen Problemen wie Kass#k: Die aktivistische Dynamik ließ sich nicht fortsetzen, und die direkte Agitprop-Dichtung schien ihm (einstweilen noch) wenig attraktiv zu sein. Letzten Endes landete er doch beim sozialistischen Realismus, aber nach Beendigung seiner aktivistischen und dadaistischen Phase in der Wiener Zeit hielt er sich ab etwa 1922 für einige Zeit an die 1919er Vorgaben einer Ausschreibung für neue Kunstmärchen des Budapester Volkskommissariates für Allgemeinbildung während der Räterepublik: Die Märchen sollten eine sozialistische Bewusstseinsbildung bewirken. 32 S. Anhang: S#ndor Barta, Erstes Treffen der Wahnsinnigen in einer Sammelkiste für Straßenmist Kursivierte Stellen sind im Originaltext auf Deutsch, bzw. wie „da“ = „der“ sind sie Imitationen der Wiener dialektalen Sprechweise. 33 P.t. = pleno titulo (lat.), „mit vollem Titel“, d. h. in etwa: die sehr geehrte Weltordnung.

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Die neuen Märchen müssen so beschaffen sein, dass sie nicht nur Kinder, sondern alle Leser als von edler Gesinnung, fühlendem Herz und wahrer dichterischer Inspiration motivierte Werke erkennen sollen. Verkünden sollen sie das Schöne, das Gute, die Treue, die Ehre, die Arbeit, die ganze Menschheit einende große Liebe – in einer solchen Form und in einem solch fesselndem Stil, die selbst anspruchsvollsten literarischen Standards entsprechen.34

Barta publizierte 1922 sogar noch im Wiener MA-Verlag eine solche Märchensammlung,35 aber als ein Jahr später seine Märchen eindeutig propagandistischer wurden, ließ er sie in einem Wiener kommunistischen Organ erscheinen.36 Bartas Dada-Pamphlet Erstes Treffen der Wahnsinnigen in einer Sammelkiste für Straßenmist kann sowohl als kommunistische Kritik am Kass#k-Kreis verstanden werden (wobei in der ersten Hälfte der 1920er Jahre „Kommunismus in der Kunst“ ständig neu definiert wurde) als auch als Ausdruck von künstlerischer Orientierungslosigkeit der Wiener ungarischen kommunistischen Künstlerinnen und Künstler in den Jahren 1921 und 1922. Ihr Weg führte ausnahmslos zum sozialistischen Realismus und in die Bedeutungslosigkeit. Kass#ks, Bortnyiks und Kudl#ks Bildarchitekturen, sowie den Nummerierten Gedichten und dem großen Poem Kass#ks wurde damals zwar auch kein großer Erfolg beschieden, aber ihr Werk wird zumindest im ungarischen Kontext von Zeit zu Zeit neu bewertet, jedenfalls in den letzten 25 Jahren. Die ungarische literarische Avantgarde geriet in Vergessenheit und musste bildlich gesprochen freigelegt, d. h. neu konstruiert und kontextualisiert werden. Diese Arbeit setzte erst mit der Wende um 1990 ein – zuvor konnte zu diesem Thema in Ungarn nur unter besonderen Voraussetzungen geforscht werden, indem die Avantgarde als eine Untergattung der sog. „sozialistischen Literatur“ anerkannt und behandelt wurde. Dies machte eine wissenschaftliche Arbeit unmöglich, bzw. sehr schwer. Kaum zu glauben, aber die Ergebnisse dieser Bemühungen konnten erst in in den Jahren 2007 bis 2010 realisiert werden, als in den neu erschienenen Literaturgeschichten Avantgarde und Neoavantgarde endlich als kompakte Perioden behandelt wurden.37 Das Erste Treffen… Bartas ist ein interessantes Werk der

34 Aus: Vorgaben einer Ausschreibung für neue Kunstmärchen des Budapester Volkskommissariates für Allgemeinbildung im Sommer 1919, während der Räterepublik Zit. nach Ambrus Miskolczy in: Nagy&t#s (Budapest), Jg. II. (2010), Heft 36, S. 22. (Aus dem Ungarischen von P#l Der8ky). 35 Barta, S#ndor : Mese a trombitakezu˝ di#krjl (Märchen vom Studenten mit der Trompetenhand, 1922). 36 Barta, S#ndor : Ido˝ krist#lya: moszkva (Kristall der Zeit: moskau), In: Pk (Keil), 1923 (s. auch in: Lesebuch der ungarischen Literatur, S. 111f.) 37 Mih#ly Szegedy-Masz#k: A magyar irodalom tört8netei Bd. III. [Ungarische Literaturgeschichten = Plural wegen der Vorlage: Denis Hollier (Ed.), A New History of French Literature. London-Cambridge, Mass. 1989] Budapest 2007; Tibor Gintli (Hg.): Magyar irodalom

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ungarischen Avantgardeliteratur. Er macht eine charakteristische Bruchstelle in der Kontinuität der ungarischen Avantgarde sichtbar, die eine wichtige Ursache der Schwierigkeiten ihrer Rezeption war.

Anhang Erstes Treffen der Wahnsinnigen in einer Sammelkiste für Straßenmist38 oder wie herrlich es ist, bekannt und allgemein beliebt zu sein; bzw. was den Unterschied zwischen einer aktiven und einer passiven Leiche ausmacht. Der Verfasser ist ein wahrer Dichter,39 er kennt sich in der Lyrik aus, und schreibt für die Herren Revolutionäre und Bürger allgemein verständlich – Amen – Kurzes Vorwort, d. h. die praktischen Parolen der Wahnsinnigen: 1. Wieher-Wieher ist die einzige Zeitschrift, die nichts will. 2. Deswegen ist sie auf Literatur, Kunst, Gesellschaftswissenschaft und Politik spezialisiert 3. Die Redaktionsmitglieder von Wieher-Wieher sind aktive Leichen 4. Die Leserschaft von W-W. besteht dagegen aus passiven (stinkenden) Leichen 5. Das zu beweisen erübrigt sich 6. W. ruft die Menschheit auf zu wiehern 7. Die Redaktionsmitglieder von W. könnten auch gute Schustergesellen sein 8. Zur Beruhigung der s.g. Leserschaft teilen wir mit, dass gestern 5 unserer erwachsenen Redaktionsmitglieder wegen versuchter Nahrungsaufnahme gehenkt wurden 16. Alle erwachsenen Redaktionsmitglieder von Wieher-Wieher sind zusammen 2 Jahre alt 18. Die Leserschaft und die Verfasser der Zeitschrift werden sich nie im Leben verstehen, dies garantiert die Direktion auf gleichbleibend hohem Niveau 25. Was natürlich unwichtig ist X. Von meinem bisherigen Schrifttum ist kein Wort wahr Y. Auch nicht von dem, was ich in Hinkunft schreiben werde Q. Dies berechtigt allerdings niemanden, uns zu überschätzen 100. Los geht’s! 100. – – “ – – ! 100. – – “ – – ! 60. Im Grunde genommen gibt es keine Unterschiede zwischen aktiven und passiven Leichen 00. Das alles war nur ein schlechter Witz [Ungarische Literatur], Budapest 2010; Erno˝ Kulcs#r Szabj (Hrsg.), Geschichte der ungarischen Literatur Berlin-Boston 2013. 38 S#ndor Barta: Az o˝rültek elso˝ összejövetele a szemetesl#d#ban. In: Akasztott ember [Der Gehenkte] Wien, Heft 1–2. (1. November 1922) S. 6. und Heft 3–4. (20. Dezember 1922), S. 13–14. – die graphischen Elemente des Textes können hier nicht wiedergegeben werden. 39 Kursivierte Stelle auf Deutsch im Original.

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47 – 0 – 92 Es gibt nur das Universum und die Aktivität A) Pljen! B) Hoch! C) Zˇivio! I. Wieher-Wieher ist ein Makkaroni ohne Loch II. Wieher-Wieher ist also eine Zeitschrift III. 2 Wieher-Wieher sind 2 Zeitschriften Lajos Kollektiv & Co. im Namen des weltanschaulichen und kosmetischen Salons Wieher-Wieher Die Personen der Handlung (Achtung! Hier beginnt der satirische Teil!) Lajos Kollektiv Die Figur wird von ihm selbst gespielt. Es stimmt nicht, dass in der letzten Zeit Lajos Kollektiv von Jolantha Simpel gespielt würde, denn, s.g. Menschheit! die schreckliche Wahrheit ist die, dass auch Jolantha Simpel von Lajos Kollektiv gespielt wird. J#nos im Nebel wird von J#nos dem Menschen gespielt, auf einer luftleeren Terrasse des Mount Everest, in den neutralen Zonen des Geistes Lajos II. ein gelernter Narr, Chemieingenieur und Lachgas 1 stiller Gemütskranker oder die geraffte Geschichte von 5 Jahren. Findet bei jedem Wetter statt! Dieses Prachtexemplar wurde uns liebenswürdigerweise vom Sirius zur Verfügung gestellt. Zutritt jederzeit! Kinder zahlen nur die Hälfte! Herr Nüchtern wird als Sitten-Drama (mit schrecklichen Magengeräuschen) von Herrn Leonardo, dem berühmten Zahnseide-Artisten gespielt. Die realistische Schriftstellerin, die die Kirche samt Pfaffen und Chor leerzufegen vermochte, wird von Frau Wüst gespielt, der berühmten Weit-Schriftstellerin Alexander der Große40 oder die erste wirkliche Begabung auf Erden scheint leer zu sein 40 Deutsch im Original.

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ˇ inkvecˇento, Mr. Rodcˇenko, Kvattrocˇento, Mr. Volk, Suprematismus, Abonnenten, Dr. C Zylinder. Sie streiten über die Frage, ob ein gutaussehender Hosenträger moderner sei als eine ebenfalls gutaussehende Hosenhebe? Die Antwort wird zur rechten Zeit bekanntgegeben. Chor der Übersetzer Chor der Kiebitze

wird vom guten Andreas G#sp#r gespielt. wird aus 5 einfachen Seelen gebildet.

Menschen! Pfui! Alovanti! Marsch! Dobre Jano! Mrs. Grün! Gespielt von der p.t. Menschheit. Kulissenschieber Die Revolution

ist der junge Klein wird von einem roten Dreieck auf gelber Ellipse gespielt

Vorsicht! Ab hier wird es antisatirisch! Lesen auf eigene Gefahr! Der Anfang der Welt 1. Am Anfang war das Individuum. 2. Als dem Individuum der ewige Anfang zu blöd wurde, kam der Mensch (ein Gesellschaftstier : Darwin) 3. Sodann folgte die Revolution (Die Revolution, das einzige ungarischsprachige Organ: Marx) 4. Dann kam der Kampf (das einzige Mittel, das die Menschheit zu ändern vermag: Mr. Verleger) 5. Gefolgt vom „Nieder mit dem persönlichen Imperialismus!“ Aus der Zeitschrift Große Phrasen) 6. Dann kam der anspruch („Trinkt das Bitterwasser anspruch zur Seelenhygiene“) 7. Gefolgt vom „Hoch mit dem persönlichen Imperialismus!“ 8. Dann kam endlich die Bildarchitektur 9. Das sind schon zusammen 8 Akte, 10. demnächst kommt erneut der Kampf, 11. als Krönung der gelungenen Darstellung, zur Feier der fertiggestellten gutbürgerlichen Existenz Fortsetzung folgt im nächsten Heft! Teil 12. Der König! (b.[Barta] s. [S#ndor] 1921) Erstes Treffen der Wahnsinnigen in einer Wiener Sammelkiste für Straßenmist, Teil 2. Es war Mitternacht. Das Wiehern des Mondes war noch gut zu hören. Unter einer Gaslaterne sah ich eine große Sammelkiste für Straßenmist, aus der ein leiser Stimmenwirrwarr hochstieg. Ich schaute durch den Lüftungsschlitz ins Innere: Ein schrecklicher Anblick bot sich mir. 2 marionettenhafte Frauen und 5 Männer mit versteinerten Gesichtern und wirren Haaren saßen an die Wände der Kiste gelehnt = 7. Sonst Stille, Ruhe, Nacht. 12 Turmuhren schlugen 12 = 144. Die Stimmung war dramatisch, wie eine Dienstmagd, die auf ihrem Weg zu Christus die Laugenflasche bereits an ihrem Mund angesetzt hat. Ajweh.

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Ich schlich mich hinein, der Robbengestank färbte mein Gesicht gelb. Die Kiste wurde durch eine einzige Kerze erleuchtet, aus einem blauen Totenschädel tropfte rote Tinte, über alle Gestalten steckte je 1 verrosteter Galgennagel in der Kistenwand. Die Spannung stieg! Psssst! Nun erhob jemand seinen Zeigefinger und sagte mit starkem slowakischem Akzent… doch davon später. Zugleich holten ehrenhafte Einbrecher 13 tote Mädchen, die im Honig erstickt waren, mit Spitzhacken aus dem Wertheim-Schrank eines argentinischen Milliardärs (Daily-Maily). der könig flüsterte eine dünne, andachtsvolle weibliche Stimme, und die Gewerkschaften der Paradiesvögel erblühten im Kosmos. Es geschah nun, dass Lajos Kollektiv den historischen Ausspruch tat, während er seine Schuhsohlen gegeneinander reibend Richtung Morgenstern zeigte: Der Hosenträger ist tot, es lebe der Hosenträger! Ho – O – osenträger, sang die dünne weibliche Stimme, Ho – oo – O – osenträger …. Der stille Gemütskranke oder die geraffte Geschichte von 5 Jahren machte eine überraschende Bewegung, und zog – bevor ihn Lajos Kollektiv hätte daran hindern können – eine Hutnadel aus dem Versteck in seinem Gesicht und stach alle seine Fingerkuppen auf. Er entnahm sich 2.452.678 Zellen, und begann eine Erzählung in atemberaubendem Tempo angefangen bei den Leichenfledderern von Madagaskar bis fast zu unseren Zeiten, während er mit seinen Fingern pro Sekunde 48 Kreise in die Luft zeichnete. – Alter Totenschänder! – zischte Herr Nüchtern und begann ein Expos8 von den linksdrehenden Kurven, die er als niederträchtige seelische Strukturen der Bourgeoisie bezeichnete, um fortzufahren: – Fettschädel! Kleinbürger! Nichtmaler! Die gerade Seele erkennt keine geometrische Krümmungen an! – Tod! – röchelte die Gemeinde. – Nieder mit dem Raum, dieser Dimension des Winters und des Magens! Der stille Gemütskranke wurde jetzt von niemandem mehr beachtet, er saß im Eck und spielte mit den Zellen aus seinen Fingern. An dieser Stelle steigerte sich das Gemurmel und die katatone Litanei fast bis zur Unerträglichkeit. Lajos Kollektiv bat um Wortmeldung, um klarzustellen, dass: – Verehrte Gesellschaftsrunde, geehrte Herrschaften, bei aller Hochachtung liegt mein Vorredner völlig falsch, denn besagter Kosmos ist mit mir! Der stille Gemütskranke und Herr Nüchtern sind 2 Maler, aber Herrschaften, die Malerei ist †. Sie wurde vom Leben hingemeuchelt, geehrte Trauergemeinde (mit brechender Stimme), von jenem Leben, das wir in unseren flammenden Zeilen stets in Kapitälchen setzten. Doch ich werde sie zu neuem Leben erwecken und euch die neue Schönheit bald vorstellen, wenn ihr sie nur leise bestaunt. Denn sie ist die Einzige, die endlich nichts will. Die Bildarchitektur will nichts! Die Bildarchitektur ist entstanden, weil es ihr gegeben wurde, zu sein! Die Malerei ist aber zweifelsohne †. Ich bin Lajos Kollektiv, meine Frau ist die erste dadaistische Schauspielerin. S#ndor Barta ist ein Genie und das alles wird nie enden. Jolantha Simpel trat nun hervor, auf ihrer ausgestreckten Handfläche lag eine Kondensmilchdose mit blauer Schleife und stellte fest, dass zweifelsohne aauuda – baauuda – hojo – modo – ho, ja: sogar hOO, und dann reckte sie sich in die Höhe, und ihre St – iiii – m-mm-e fl –o-o-o-o-o-o-g hoch an die Decke (&&&&&&&&&&&&&&&) denn sie war aus

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Stachelschwein-Stacheln, und aus Seidenpapier auf Kamm (&&&&&&&&&&&&&&&) aber diese schön modulierte Stimme vermochte die Decke der Kiste nicht zu durchstoßen und sich zu den bleichen Sternen zu erheben, sondern stürzte ab wie ein Flugzeug auf eine primelübersäte Wiese. Statt dessen materialisierte sich J#nos aus Kosˇice (der sich zu dieser Zeit tatsächlich dort befand) an der Decke der Kiste als Erscheinung inmitten leuchtender Kokospalmen. Ungeheure Haarbüschel stülpten sich aus seinen Ohren und seine Pergament-Lippen kaum bewegend sprach er Folgendes: – Ex, Mex, Lex! Schlange, Dörrzwetschke, Goldschlüssel! Vorhang blau, nicht grün! Bewegliche Schauspieler. Verschleierte Stimmen aus der Richtung des Orchesters. Noch 2–3 Extra-Vorhänge, und eine Frau, die auf Nachvorhang macht. 1 gelbes Auge, zwischen den Vorhängen hin und her pendelnd. Gelb gelb gelb blau blau blau. In der Mitte ein Orgelakkord in Unterhose. – Sporen, Bohnen, Fledermaus-Ohren! – sprach jemand in der gespenstischen Nacht, und wir erblickten Simon, der sich unter dem Bett wie bei einer S8ance spiritistisch kratzte. Seine inneren Augen waren durch Haarsträhnen verdeckt, die ausgestreckten Finger ruhten auf einem Teller mit den Resten des zu Mittag verspeisten Paradiesvogels. Den besang er gleich stotternd: o, Vögelchen, Lebenslust mein, werde ich zum Meteorstein? werde ich zum Meteorstein? In der Stille erhob sich nun Lajos II. um das folgende telegraphische Rundschreiben an die organisierten vierbeinigen Akkordarbeiter Europas zu richten: – Kollegen! Vierbeiner! Nicht-Juden! In Budapest wurde die Gleichberechtigung der Fiakerpferde und der Offiziere proklamiert! – Tod!!! – röhrte die Versammlung. – In geschlossenen Reihen vor die Parlamente marschiert! Gitarre und Butterbrot mitzubringen ist obligatorisch! Tschinnerassa den ganzen Tag! Heurigenwein in die Wasserleitungen! Nur für Proletarier, die durch schamlose kommunistische Propaganda nicht Antiviehe sein wollen! Bürgerschaft und Polizei werden gebeten auf den Gehsteigen Platz zu nehmen und auf gegebenen Zeichen mitsingen! Der Zug marschiert vor dem Grünen Jäger, wo ausgezeichnetes Futter der sehr geehrten Arbeiterklasse zur Verfügung steht. Auf, auf, vorwärts zum großen Bumsti! – Pfui –, sagte die Menschheit darauf zu Lajos II. – Ein wahrer Dichter nur da Lajos Kollektiv,41 auch wenn Jolantha Simpel die p.t. Weltordnung ständig vom Gegenteil zu überzeugen versucht. Jetzt aber kam die realistische Schriftstellerin an die Reihe, reckte zwei Finger in die Höhe und verlautbarte in der gespannten Stille:

41 Kursivierte Stellen Deutsch im Original.

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Ich bin klein, mein Herz ist rein, da drinnen wohnt mein Adylein!42 Das war nicht sehr überraschend, daher wurde jetzt alle Aufmerksamkeit Alexander dem Großen geschenkt. Der riss seinen Hut vom Kopf und intonierte die aktivistische Hymne: Ich bin ein universaler Spross des milchig schimmernden Kosmoss und grüße euch Aktivisten ethische Kollektivisten! – Halleluja! – schluchzte darauf der Chor herzzerreißend. Hier wurde dem Ritual ein Ende gesetzt. Die Mitglieder des Kreises klemmten die wenigen Einrichtungsgegenstände unter ihre Achseln und die Prozession schlängelte die Hymne singend hinaus in den Kosmoss. Vorne marschierte Lajos Kollektiv, neben ihm Jolantha Simpel. Hinter ihnen schlurfte der stille Gemütskranke oder die geraffte Geschichte von 5 Jahren mit seinen getöteten Zellen in seiner rechten Hand. Neben ihm Herr Nüchtern mit einer Tafel auf der die Aufschrift nur erfahrungsreisender zu lesen war, hinter ihnen J#nos aus Kosˇice mit einem Fallschirm (links und rechts schleppten Engelchen blau und grün), sodann die realistische Schriftstellerin, fast so strahlend, wie die Sonne, und dann stolzierte Alexander der Große mit zwei Lichtreklamen unter seinen Armen, sowie mit diversen Spendenaufrufen. Am Ende des Zuges schlenderte Lajos II, der Chemieingenieur und Lachgas, ständig in sich kichernd: Freunde und Kollegen, lachen, lachen, lachen, es gibt auf der Welt gar lust’ge Sachen, Sachen Sachen – – – bis der Zug bei einer giraffenhoher Gaslaterne angekommen war. Man blieb stehen. Und nun passierte etwas schreckliches! Die Tragödie oder die Dokumentation der Ursache der Spaltung des [Kass#k-]Kreises Lajos Kollektiv blieb unter der Gaslaterne abrupt stehen, da er mit seinen Röntgenaugen auf der Erde einen gelben Vorverkaufsschein für die Städtische Straßenbahnen der Gemeinde Wien erblickte. Doch die Schuhsohle des stillen Gemütskranken senkte sich blitzschnell und begrub ihn, bevor Lajos Kollektiv die nagelneue Fahrkarte hätte aufheben können. Ein optohaptisches Orchester ließ es plötzlich über die Gruppe blitzen und donnern. Lajos Kollektiv trat unwillkürlich zurück. Der stille Gemütskranke verzog das Gesicht und unter seiner Nase erblühte ein suprematistisches Quadrat. Als er sich bückte, um den Fahrschein aufzuheben, drehte sich Lajos Kollektiv um, und bückte sich ebenfalls, die Schöße seines Mantels lupfend. Oh weh! Oh Schreck! Aufgefädelt auf eine Drahtschlinge, die in den Schlaufen seines Leibgürtels steckte, wurden ca. 200 bunte Straßenbahnfahrscheine sichtbar. Und in der erschrockenen Nachtstille ließ sich sein Hohnlachen selbst noch aus der Amalienstraße43 vernehmen. 42 Gemeint ist der Dichter Endre Ady (1877–1919), dessen Verlobte sie kurz vor seinem Tod war. 43 Wiener Wohnadresse Kass#ks und seiner Familie, gleichzeitig MA-Redaktion: Wien XIII., Amalienstraße 26/11.

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Ende des ganzen [Kass#k-]Kreises und der ersten Zusammenkunft der Wahnsinnigen in der Kiste (Aus dem Ungarischen von P#l Der8ky)

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Dietmar Unterkofler

Sprache als Ding – Kunst als Fotografie: Zum Paradigmenwechsel des Medialen in der jugoslawischen Neoavantgarde und Konzeptkunst

Wo beginnt Kunst? Wie lassen sich künstlerische Ausdrucksformen von nichtkünstlerischen unterscheiden? Während diese scheinbar banale Fragestellung noch bis vor wenigen Jahrzehnten einer einigermaßen einfachen Antwort standgehalten hätte, nämlich einer Antwort, die bestimmten etablierten medialen Ausdrucksformen wie etwa dem gemalten Bild, der geformten Skulptur, dem komponierten Text etc. klar definierte künstlerische Gattungen zugeordnet hätte, erlebte die Topologie der Kunst spätestens seit dem Ende der 1950er Jahre tiefgreifende paradigmatische Veränderungen. Lucy Lippard und Raymond Chandler nehmen in The Dematerialization of Art, einem Schlüsseltext zum Verständnis jener Avantgardebewegungen, die gebündelt und international seit Mitte der 1960er Jahre die Grenzen zwischen Kunst und Lebenswirklichkeit aufheben wollten, Bezug auf diesen Paradigmenwechsel und führen dafür das „Auseinanderfallen (breakup) der traditionellen Medien seit 1958 und die Einführung von Elektronik, Licht, Klang und, noch wichtiger, performativen Haltungen in Malerei und Skulptur – die bisher unverwirklichte intermediale Revolution, deren Prophet John Cage ist,“1 an. Die These lautet, dass es in den Künsten seit den 1960 Jahren zu einem epistemologischen Bruch bzw. Paradigmenwechsel gekommen ist, der das Selbstverständnis von Kunst als sozialer Praxis neu bestimmen sollte. Im Einklang mit den internationalen sozialen Bewegungen, die in den Studentenprotesten 1968 ihren Höhepunkt fanden, trieb die Kunstavantgarde der 1960er Jahre eine radikale Neubestimmung vorherrschender kanonisierter ästhetischer Verfahren und medialer Ausdrucksformen voran, die das System Kunst auf gänzlich neue Fundamente stellen sollte. Das Hinterfragen und die Dekonstruktion vorherrschender Sprach- und anderer etablierter Symbolsysteme bildeten dabei oft den Ausgangspunkt für die Neuformulierung der künstlerischen Arbeit und die Überschreitung von fi1 Lucy R. Lippard, John Chandler, „The Dematerialization of Art“, in: Art International, Nr. 2 (Februar 1968), S. 31–36, S. 33.

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xierten Disziplinengrenzen. Der polnische Kunsthistoriker Piotr Piotrowski spricht vom Tafelbild als Sublimation des Kunstwerkes an sich.2 Die Werte, die damit in Verbindung stehen, seien folgende: Glauben an universelle Werte, wie die Autonomie der Kunst, das Primat des Visuellen, die Dominanz einer „hohen“, europäischen, männlichen Kultur. In den USA war es das Modernismus-Konzept von Clemens Greenberg mit seinen Forderungen nach Flatness und Intuition im Bezug auf die Malerei des Abstrakten Expressionismus, das von den Vertretern der Avantgarde angegriffen wurde und stellvertretend für die zunehmende Kommerzialisierung und Abgehobenheit der modernen Kunst stand. In England legten die Konzeptualisten rund um Art& Language einen stark strukturalistisch-theoretischen Zugang an den Tag, und in Italien stellten die Künstler der Arte Povera eine Alternative zum Material- und Warenfetischismus der Malerei dar. Ähnlich verhält es sich mit Jugoslawien. Dort standen die traditionellen Ausdrucksmedien und Kunstdisziplinen ebenfalls zur Disposition und wurden als Verkörperung eines traditionellen und offiziellen Kunstsystems entlarvt, zu dem man sich in Opposition setzte. Das Ende des Sozialistischen Realismus, der für kurze Zeit einzig gültigen und staatlich verordneten Kunstsprache nach dem Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien, wird angesetzt mit dem Kongress des jugoslawischen Schriftstellerverbandes in Ljubljana und der Rede von Miroslav Krlezˇa im Jahr 1952. Dies bewirkte die Schaffung eines dominierenden Wertesystems in Form modernistischer Kunst, die sehr bald als Liebkind der offiziellen Kulturpolitik fungierte. „Es war aber nicht der Modernismus im eigentlichen historischen Sinn“, so Dunja Blazˇevic´, „sondern modifizierter oder ästhetisierter Modernismus, in dem die ideologische und politische Elite ihre neue Repräsentation fand. Diese Elite bevorzugte eine ,reine Kunst‘, die sich nur um sich selbst drehte, die soziale und politische Sphäre nicht berührte und demnach harmlos für das Regime war“3 (also auch Ähnlichkeiten zum Modernismus amerikanischer Prägung hat). Einerseits erfüllte diese entpolitisierte Kunst ihre Funktion als Alternative zum Sozialistischen Realismus, andererseits galt sie als modern genug, um auch im Westen anerkannt zu werden. Sveta Lukic´ bezeichnet diese Spielart der modernistischen Kunst der 1960er Jahre, die in Einklang mit der Parteiideologie die Werte Kosmopolitismus, Fortschrittsglauben und Modernität verkörperte, als „sozialistischen Ästhetizismus“4. Dieser sei inhaltsleer, antiintellektuell, und neutral, sei eine Kunst für 2 Piotr Piotrowski, In The Shadow of Yalta. Art and Avantgarde in Eastern Europe 1945–1989, Berlin 2009, S. 179. 3 Dunja Blazˇevic´, „Wer singt da drüben? Kunst in Jugoslawien und danach … 1949–1989“, In: Lorand Hegyi (Hg.), Aspekte/Positionen, 50 Jahre Kunst aus Mitteleuropa 1949–1989, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien 1999, S. 81–96, S. 84. 4 Sveta Lukic´, „Socijalisticˇki estetizam. Jedna nova pojava“, in: Politika, 28. 4. 1963.

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eine neue Mittelklasse, die später, von der 1968er Bewegung, als „rote Bourgeoisie“ angegriffen werden sollte. Während also die angloamerikanische Konzeptkunst ihre Kritik v. a. auf die zunehmende Kommerzialisierung der Kunst bezog, auf den Kunstmarkt, der immer stärker spekulatorischen Interessen zu folgen begann, verhält es sich mit den Vertretern der ost-europäischen Avantgarde anders. Hier stellt in erster Linie das politisch-dogmatische Geflecht der von oben verordneten ästhetischen Richtungen den Bezugspunkt der Künstler dar. Die Geschichte der Avantgarde bzw. Neoavantgarde ist gekennzeichnet von Transgressionen und Grenzüberschreitungen im Bezug auf vorherrschende hegemoniale Hierarchien und Wertsysteme in der Kunst, Kultur und Gesellschaft. Die Entstehung einer genuinen, avantgardistischen Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien setzt gegen Mitte der 1960er Jahre ein und markiert einen Bruch mit den vorherrschenden Moderne-Konzepten, wie sie von der jugoslawischen Kulturpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert wurden. Die Unzufriedenheit der nach dem Krieg geborenen Generation mit den herrschenden Verhältnissen auf allen Ebenen sowie die Suche nach einer „Neuen Sensibilität“5 bestimmten auch die kulturelle Szene im titoistischen Jugoslawien6 dieser Jahre. In den Städten Novi Sad, Zagreb, Subotica, Ljubljana, Kranj und Belgrad etablierte sich eine lebhafte und urbane Avantgarde-Szene, die als „Neue künstlerische Praxis“7 bezeichnet wird und die ein neues Verständnis von Kunst als gesellschaftlicher Praxis sowie eine Zertrümmerung der vorherrschenden ästhetischen und ideologischen Normen vorantrieb. Die Heterogenität und der Pluralismus der zahlreichen avantgardistischen Initiativen in der Kunst und Literatur findet ihre Gemeinsamkeit in dieser Haltung, die den Bruch mit dem bisher Dagewesenen programmatisch betreibt. Misˇko Sˇuvakovic´ definiert diese kritische Haltung wie folgt: „Was eine bestimmte Kunstpraxis oder ein Werk offenbar als neoavantgardistisch identifiziert, ist ihr kritisches Verhältnis gegenüber der aktuellen hochmodernistischen früh- oder post-industriellen Kultur und deren hierarchischen und hegemonialen Modellen der Strukturierung kultureller autonomer Identitäten, Funktionen und Positionierungen der künstlerischen Praxis.“8 5 Herbert Marcuse, An Essay on Liberation, Boston 1969. 6 Die spezifische Form des Selbstverwaltungssozialismus während der Regierungszeit von Josip Broz Tito (1963–1980) machte Jugoslawien zum Sonderfall eines sozialistisch regierten Staates, in dem versucht wurde, eine Alternative zwischen dem kapitalistischen Modell des politischen Westens und dem Staatsozialismus sowjetrussischer Prägung zu realisieren. 7 Marijan Susovski (Hg.), The New Art Practice in Yugoslavia 1966–1978, Zagreb 1978. 8 Misˇko Sˇuvakovic´, „Eine handfeste Geschichte aus dem Kalten Krieg – Internationale Referenzen der Konzeptkunst im sozialistischen Jugoslawien“, in: Heinz Faßmann, Wolfgang Müller-Funk, Heidemarie Uhl (Hg.), Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989, Wien 2009, S. 373–382, S. 376.

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Quer durch die Genres und über Disziplinengrenzen hinweg standen das Experiment, der Bruch, das Neue und der Ruf nach der Ablösung des Alten hoch im Kurs. Ein wesentlicher Unterschied zu den westlichen experimentellen Kunstformen dieser Jahre liegt darin begründet, dass sie sich auf einen gänzlich anders gelagerten ideologischen Hintergrund beziehen, in welchem Abweichungen von zentral vorgegeben Inhalten meist mit Ablehnung begegnet wurde und nicht selten als offener Affront gelesen aufgefasst wurden. Misˇko Sˇuvakovic´ weist auf den implizit politischen Charakter avantgardistischer Praktiken unter totalitären oder semi-totalitären Bedingungen hin: Eastern European conceptual art was born of dramatic political conditions in which very different activities, including formal linguistic analysis or the language of art, public or private behaviour such as body art, performance art, and mystical, intersubjective experiments, have always had the same political consequences. Eastern European conceptual art is politicized by the very fact of its critical and decentralized positioning in the political landscape controlled by the bureaucratic structure of the single-party political system.9

Der politische Gehalt der Neuen Kunst im Kontext von 1968 zeigt sich also nur selten im direkten Aktionismus und ihrer Organisation in politischen Vereinigungen. Das implizit Politische dieser Kunst besteht darin, dass oft ästhetische und ethische Haltungen eingenommen werden, die in Opposition zu den vorherrschenden und geltenden Werten des Kunstsystems stehen. „However“, versucht Lucy Lippard den Zusammenhang mit dem systemischen Zugang der Konzeptkünstler zum politischen Aktivismus zu erläutern, it was usually the form rather than the content of Conceptual art that carried a political message. The frame was there to be broken out of. Anti-establishment fervor in the 1960s focused on the de-mythologization and de-commodification of art, on the need for an independent art that could not be bought and sold by the greedy sector that owned everything that was exploiting the world and promoting the Vietnam war.10

9 Misˇko Sˇuvakovic´, „Conceptual Art“, in: Misˇko Sˇuvakovic´, Dubravka Wuric´ (Hg.), Impossible Histories. Historical Avantgardes, Neoavantgardes, and Postavantgardes in Yugoslavia 1918–1991, Cambridge, London 2003, S. 210–245, S. 213. 10 Lucy Lippard, Six years: the dematerialization of the art object from 1966 to 1972, Berkeley, Los Angeles 2001 (1973), S. xiv.

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Erweiterungen – Kunst als soziale Praxis Ausgelöst vom „linguistic turn“ Anfang der 1960er Jahre erfährt das Repertoire der künstlerischen Ausdrucksformen eine Erweiterung; es wird mit Verfahren der Intermedialität und Intertextualität experimentiert, womit die traditionelle Bias von Malerei und Plastik aufgehoben wird. Tom Holert schreibt: Die selbstreferenzielle Arbeit an der Spezifik von „Medien“ wie der Malerei oder der Bildhauerei, von Clement Greenberg und anderen zum Kernbereich künstlerischer Praxis erklärt, wurde spätestens in den 1960er Jahren mit dem Phänomen konfrontiert, dass die Künste, aber auch andere Praktiken der Kultur- und Wissensproduktion dazu übergingen, sich grenzüberschreitend zu vernetzen und Intermedialität und Interdisziplinarität zu proben.11

Anstelle des institutionellen Kunstbetriebes und seiner formalistischen Vorgaben rückten die Avantgardisten der 1960er Jahre die Gesellschaft und die Funktionsweise der Kunst als Teil von dieser in den Mittelpunkt des Interesses. Kunst als soziale Praxis ist hierbei eines der zentralen Schlagworte. Fundamentale Fragen nach der (sozialen) Funktion der Kunst führten zur Erweiterung und Überwindung des herkömmlichen Kunstbegriffes. Gattungs- und Disziplinengrenzen, formalistische Vorgaben und Produktionsabläufe wurden zunehmend kritisch hinterfragt und erweitert. Die Losung der Einheit von Kunst und Lebenswirklichkeit, wie sie bereits in den historischen Avantgarden (v. a. Dada, Futurismus und Expressionismus) der ersten Jahrhunderthälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts formuliert worden war, erfährt nun eine enthusiastische Reaktualisierung. Das Aufbrechen von Normen und Konventionen im Gebrauch künstlerischer Medien, allen voran der Sprache, bedeutet immer auch eine Kritik an bestehenden Symbol- und damit Herrschaftssystemen. Die Forderungen nach einem radikalen Bruch mit traditionell verfestigten ästhetischen Kategorisierungen erfahren ihren unmittelbaren Ausdruck mit den Forderungen nach einer Neuordnung der politisch-sozialen Ordnung, wie sie von der globalen ’68er Bewegung formuliert wurde. Der Ruf nach einer neuen Kunst und nach einem veränderten Selbstverständnis des Künstlers, der unter diesen Voraussetzungen laut wurde, ist indes nicht als autonome Transformation innerhalb des Bereichs der Kunst zu verstehen, sondern als politischer Akt, der Auswirkungen auf die gesamte Kultur und Gesellschaft hat.12 11 Tom Holert, „,A fine flair forthe diagram‘. Wissensorganisation und Diagramm-Form in der Kunst der 1960er Jahre: Mel Bochner, Robert Smithson, Arakawa“, in: Susanne Leeb (Hg), Materialität der Diagramme: Kunst und Theorie, Berlin 2012, S. 135–178, S. 136. 12 Vgl.: Luc Ferry, Alain Renaut, French Philosophy of the Sixties – An Essay on Antihumanism, Amherst 1985, S. 33–67.

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Die Forderung nach dem „Neuen Menschen“ und einer „Neuen Sensibilität“ bedürfe, so Marcuse, einer neuen, nicht-verunreinigten Sprache. In seinem Versuch über die Befreiung formuliert er diese Forderungen wie folgt: Die neue Sensibilität und das neue Bewußtsein, die einen solchen Umbau entwerfen und lenken sollen, erfordern eine neue Sprache (Sprache in einem weiteren Sinn, der Wörter, Bilder, Gesten und Töne einbezieht), um die neuen „Werte“ zu definieren und zu vermitteln. Es wurde gesagt, daß der Grad, in dem eine Revolution qualitativ andere gesellschaftliche Bedingungen und Verhältnisse intendiert, sich vielleicht durch die Entwicklung einer anderen Sprache anzeigt: der Bruch mit dem Kontinuum der Herrschaft muß ebenso ein Bruch mit deren Vokabular sein.13

Die Neue Kunst der 1960er Jahre fühlt sich einer derart verstandenen (symbolischen) Neuordnung auf mannigfaltige Weise verpflichtet. 1968 ist hier als Chiffre für eine Periode zu lesen, die im jugoslawischen Kontext mit einer dezenten Liberalisierung im Zug des „Selbstverwaltungssozialismus“ einhergeht, dessen Endpunkt mit der Annahme einer neuen jugoslawischen Verfassung im Jahr 1974 angesetzt werden kann.14 Der Kunsthistoriker Jerko Denegri weist darauf hin, dass die Neue Kunst keine homogene Bewegung sei, der ein konzises ästhetisches Konzept zugrunde liege, sondern dass es sich um eine heterogene Bewegung handelt, die von einem gemeinsamen Lebensgefühl und einer ähnlichen Weltsicht geprägt ist.15 So vage diese Umschreibung auch ist, so entspricht sie doch am ehesten dem Versuch, die unterschiedlichsten kreativen Initiativen und künstlerischen Zugänge, die im „Jahrzehnt des Pluralismus“ das Verständnis von Kunst und Kultur einer radikalen Neubestimmung unterzogen, auf einen annähernd gemeinsamen Nenner zu bringen. Neben einem verstärkten Interesse an der lokalen historischen Avantgardetradition (Zenit, Dada-Tank, Surrealismus u. a.), waren es vor allem die internationalen Trends in der gegenwärtigen Kunst, denen die Aufmerksamkeit der jungen Intellektuellen gehörte. Die lokale Kritik und konservative Lehrmeinung etikettierte die Neue Kunst deshalb mit Vorliebe als „importiert“, „nicht au13 Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt 1969, S. 55. 14 Die jugoslawische Verfassung von 1974, die den einzelnen Republiken mehr Zugeständnisse und eine stärkere Autonomie bot, wird oft als Beginn der Desintegration des jugoslawischen Staatengebildes gesehen. Die nationalistischen Bestrebungen in den einzelnen Ländern (auch im Zug des „Kroatischen Frühling“) wurden dadurch nicht geschwächt, sondern verstärkten sich zunehmend. Zudem enthielt die Verfassung einen Artikel, der den einzelnen Teilrepubliken das Recht zur Sezession gab. Von diesem Recht machten die meisten ab 1991 dann auch Gebrauch. Vgl. ausführlich: Boris Kanzleiter, Die „Rote Universität“. Studentenbewegung und Linksopposition in Belgrad 1964–1975, Hamburg 2011. 15 Jesˇa Denegri, „Art in the past Decade“, In: Marijan Susovski (Hg.), The New Art Practice in Yugoslavia 1966–1978, Zagreb 1978, S. 5–12, S. 5.

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thentisch“ oder „epigonal“, eine Kritik, die immer dann laut wird, wenn eine tief verankerte lokale Tradition in Frage gestellt und reexaminiert wird.16

Sprachkritik und Synthese Die avantgardistischen und experimentellen Künstler und seltener Künstlerinnen, die global ab ca. Anfang der 1960er Jahre eine Neubestimmung der Kunst forderten, bedienten sich anfangs überraschend oft bei den theoretischen Erkenntnissen aus dem Bereich der Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie. Das Ausloten und das Experimentieren mit dem Wechselverhältnis von visuellen und sprachlichen Symbolsystemen findet dabei vorrangig in Ausformungen und Abwandlungen der Visuellen Poesie und Synthetisierungsversuchen von Text+Bild-Verfahren ihren Ausdruck. Mit den Experimenten der LiteraturAvantgarde und ihren multi- und intermedialen Ansätzen zur Überwindung der klassischen Literaturkonzeption geht laut Vujica Resˇin Tucic´, einem der führenden serbischen Protagonisten der experimentellen und Konkreten Poesie in der Vojvodina, der gesellschaftliche Anspruch einher, die bourgeoise Kultur zu überwinden und ein neues soziales Bewusstseins zu etablieren. Ein wichtiger Grund, den „konkreten“ Charakter der Werke, sei es in der Bildenden Kunst als auch in der Literatur, v. a. in der Konkreten und Visuellen Poesie, zu betonen, und der Versuch, Metaphern und andere verweisende Stilmittel zu vermeiden, liegt in der leichten, ideologisch motivierten, Manipulierbarkeit einer solchen Sprache und deren Inanspruchnahme für politische Zwecke. Sprache soll als Konvention entlarvt werden, die dazu da ist, Individuen zu disziplinieren und sie einem geregelten System der kapitalistischen (oder sozialistischen) Verwertbarkeit zu unterwerfen, oder – ins Positive gewendet – die nützliche Überschaubarkeit der Welt zu garantieren. Die Sprache sollte einer Revision unterzogen werden und ihren imaginativen Freiraum zurückerobern, indem sie ihrer zweckgerichteten Bestimmung, etwas Eindeutiges bedeuten zu müssen, entrissen wird. Das Primat visueller Perzeption, einst als zentrales Merkmal der Bildenden Kunst bestimmt, wird somit in der Neuen Kunst radikal in Frage gestellt. An die Stelle der visuellen Repräsentation in Form etwa von Objekten oder anderer ästhetisch bestimmter Verfahren, tritt die Materialität des sprachlichen Zeichens, oder, um es mit den Worten von Joseph Kosuth zu sagen: „Der Inhalt des

16 Vgl.: Jesˇa Denegri, „Art in the past Decade“, In: Marijan Susovski (Hg.), The New Art Practice in Yugoslavia 1966–1978, Zagreb 1978, S. 5–12, S. 5ff.

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künstlerischen Gedankens wird durch die semantischen Eigenschaften der geschriebenen Sprache ausgedrückt.“17 Üblicherweise war die Sprache eine sauber abgetrennte Domäne, welche der Kunstkritik oder -theorie zugeordnet wurde, und zu welcher der Künstler selbst nur bedingt Zugang hatte. Auf die (herkömmliche) visuelle Kunst übertragen würde dies bedeuten, dass das visuell Sichtbare, also die Form, Gestalt, Morphologie, eine primäre Sprache sei, während die herkömmliche verbale Sprachform, d. h. jene der sprachlichen Zeichen, die Funktion einer sekundär erklärenden Hilfssprache habe. Die Konzeptkunst versuchte in der Folge, dieses hierarchische Verhältnis zu durchbrechen, indem sie das Sprechen über Kunst in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellte. Der zentrale Stellenwert von Sprache und Linguistik in der Konzeptkunst bedeutet indes nicht nur die Einführung der linguistischen Zeichentheorie in die Bildende Kunst. Michael Corris, der Anfang der Siebzigerjahre mit Art& Language zusammenarbeitete, spricht davon, dass diese Kunst Verfahren aus der Sprachphilosophie auf den Bereich der visuellen Kunst übertragen habe, nämlich die Erkenntnis, dass die Vorstellung einer außersprachlichen Wirklichkeit in erster Linie das Ergebnis ihrer sprachlichen Vermitteltheit sei. Conceptual art was not necessarily meant to be about language as such, but to function as a significant metaphorical shift that took the structure of art to be language-like. […] Some Conceptual artists wished to go beyond the (weakly) metaphorical position that posited an analogy between grammar and syntax and the varieties of visual experience in art. They argued that language deserved to be a central concern for the visual artists because it frames our entire experience of visual art. We not only report what we see through the means of language; we see through language.18

Sprache hat in der Konzeptkunst den Charakter einer „Metasprache“, also die Funktion, über die Sprache selbst zu sprechen. So wie Konzeptkunst als „Kunst über Kunst“ bezeichnet wird, so funktioniert der Gebrauch der Sprache auf einer Ebene zweiter Ordnung, um über die Sprache und ihre Funktion als solche zu reflektieren. Dabei steht die Metasprache nicht außerhalb des „Werks“, sie ist intrinsisches Element desselben. In Wittgensteins Tractatus heißt es dazu: „4.01 Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken.“19 17 Joseph Kosuth, „Art & Language“, in: Gerd De Vries (Hg.), Über Kunst – Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965, Köln 1974, S. 28–49, S. 30. 18 Michael Corris, „The Dialogical Imagination. The Conversational Aesthetic of Conceptual Art“, in: David Hopkins (Hg.), Neo-Avant-Garde (Avantgarde Critical Studies 20), Amsterdam, New York 2006, S. 301–310, S. 302. 19 Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, Frankfurt a. Main 2003 (1922), S. 30.

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Als genuine Strömung der Neoavantgarde stellen die text- und sprachbasierten Experimente die damals vorherrschenden Modelle von Kunst und Literatur in Frage. Jene Künstler und Gruppen, die sich später vermehrt der Konzeptkunst als konsequenter Radikalisierung des Text-Bild-Experiments zuwandten, haben sich anfangs oft an den Forderungen nach einer Transformation der literarischen Sprache und der Literatur in unterschiedlicher Form beteiligt und experimentelle Text-Bild Arbeiten in Form von Konkreter Poesie, Visueller Poesie und anderen hybriden Formen am Schnittpunkt von Sprache und Bildender Kunst realisiert. OHO, Die Kid-Gruppe, Die Gruppen Januar und Februar, die Bosch+Bosch-Gruppe sowie die Gruppe (N, um nur einige zu nennen, haben vor allem in der Anfangszeit ihres Bestehens an Sprach-Experimenten gearbeitet. Die so entstandenen Arbeiten entsprachen nicht der etablierten Vorstellung von Literatur und stellten das Verständnis der modernen Literatur insgesamt in Frage. Gleichzeitig passten diese Arbeiten aber auch nicht in das gültige Schema der Bildenden Kunst, die sich bis dato noch ausschließlich über das Konzept des Visuellen definierte. Die antisymbolistische radikale poetische Praxis der Neoavantgarde distanziert sich vom traditionellen Literaturverständnis, das in der Betonung der Form des literarischen Textes höchstens ein Kennzeichen zur besseren Gattungsunterscheidung erkennt. In der Avantgarde hingegen wird das Materielle selbst zum Gegenstand des Interesses. Die Sprache wird auf ihre Möglichkeiten in Bezug zu anderen Disziplinen hin untersucht, Techniken aus anderen Medien werden ins Medium der Sprache übersetzt, und die starren Grenzen zwischen den einzelnen Disziplinen werden zugunsten eines interdisziplinären und intermedialen Zugangs aufgegeben. Im jugoslawischen Kontext, der hier behandelt wird, kommen die wichtigsten experimentellen Versuche zur Neubestimmung von Kunst und Literatur anfangs aus Slowenien, wo sich seit Mitte der 1960er Jahre eine authentische und lebhafte Avantgardeszene bilden konnte, die maßgeblichen Einfluss auch auf andere jugoslawische Städte ausübte. Entlang der Entwicklungsgeschichte der slowenischen OHO-Gruppe20, (von

20 Die slowenische OHO Gruppe entstand 1963 aus der Schülerzeitung Plamenica (Fackel), die ˇ iglicˇ, Iztok Geister und Marko Pogacˇnik herausgevon den damaligen Schülern Marjan C geben wurde. In den unterschiedlichen Phasen ihres Bestehens arbeiteten die Mitglieder des Kollektivs v. a. im Bereich von konzeptuellen Eingriffen und Aktionen, die ihnen bald auch zu internationaler Beachtung verhelfen sollten. Im Laufe ihres Bestehens durchläuft OHO drei unterschiedliche Schaffensphasen: – Die erste Periode ist jene des Reismus, mit dem Anspruch einer extremen Verdinglichung der Kunst, um eine radikale andere Beziehung zur Welt zu erreichen. Anstelle einer humanistischen Position, die eine vom Subjekt beherrschte Objektwelt impliziert, wollten sie eine Welt (der Dinge) erreichen, in der es keine hierarchischen Unterschiede zwischen Menschen und Dingen geben würde. OHO verwendete eine Vielzahl von Medien: Zeichnungen, Texte,

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slow. „oko“-Auge; und „uho“-Ohr) können die in diesem Text beschriebenen epistemologischen Brüche illustriert werden. Anfangs klar der neoavantgardistischen Poetik der Synthese verschiedener Medien verpflichtet, ist eine zunehmende Konzeptualisierung im Werk von OHO zu beobachten, die sich immer weiter von der konkreten Produktion künstlerischer Aussagen wegbewegt und sich zunehmend epistemologischen und ontologischen Fragen nach den Funktionsweisen des Systems Kunst, im Sinn der postavantgardistischen Konzeptkunst, zuwendet. Iztok Geister und Marko Pogacˇnik begründeten 1967 den „Reismus“ (vom lateinischen Wort res für „Ding“ abgeleitet), wo der Begriff des „Artikels“ den Begriff des Kunstwerks ersetzt. Die Identität der Dinge wie der Subjekte wurde aufgehoben, folglich ebenso die Realität der Wirklichkeit. Dieses spezifische phänomenologische Denkgebäude ist gekennzeichnet vom Anspruch einer extremen Verdinglichung der Kunst, um eine radikal andere Beziehung zur Welt zu erreichen, ein antihierarchisches Verhältnis von Menschen und Dingen. „Anstelle einer humanistischen Position, die eine vom Subjekt beherrschte Objektwelt impliziert, wollten sie eine Welt der Dinge erreichen, in der es keine hierarchischen Unterschiede zwischen Menschen und Dingen geben würde“21, schreibt der slowenische Kunsthistoriker und-theoretiker Igor Zabel diesbezüglich. Das Ziel war es dabei, ähnlich wie bei anderen Avantgarde-Gruppen, die Trennung von Kunst und Leben zu überwinden (indem die Kunst ihrer Aura entledigt wird und mit kleinen Dingen des alltäglichen Lebens in Verbindung gebracht wird), sowie den Prozess des bewussten Kunstschaffens durch den Zufall zu ersetzen. Diese Poetik des Reismus wird von Taras Kermauner im Essay The Humanist Critiqueandthe Reist Non-critique wie folgt beschrieben: The poets – from Tomazˇ Sˇalamun to the youngest at the head of the Slovenian poetic avant-garde – have increasingly begun to orient themselves toward the Thing. […] Works of art are not communications through which the inside of one man could communicate with the inside of his neighbour. That is why art objects are not work, they are not the product of our practice, but things: all thing – an apple, a forest, a shovel, a broom, a pencil, a word. A word does not have a meaning conferred on it by Film, Fotografie, Musik und auch die Art, wie sich die Mitglieder kleideten, wie sie lebten und sich verhielten wurde als Kunst begriffen. – In der zweiten Phase gab es einen Dialog mit anderen Avantgarde-Bewegungen der Zeit; die Prinzipien der italienischen Arte Povera, von Land Art und Body Art wurden aufgenommen. – In der dritten Phase kommt es zu einer Verbindung von Konzeptualismus, Esoterik und ökologischen Ansätzen, die sich in letzter Konsequenz in der Abkehr vom städtischen Leben und in der Gründung einer Kommune auf dem Land manifestiert, um dem Prozess der Musealisierung zu entgehen, als man sich am Beginn einer internationalen Karriere befand. 21 Igor Zabel, „Slowenische Kunst seit 1945“, in: Aspekte/Positionen: 50 Jahre Kunst aus Mitteleuropa 1929–1999, Museum Moderner Kunst, Wien 1999, vol. I, S. 149–156, S. 152.

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man, its creator ; a word has no meaning at all that should and can be deciphered. Aword simply „is“, it carries its meaning within itself like any thing under the sun.22

Die Katalogisierung des Realen, nicht dessen künstlerische Verformung oder Erhöhung, ist ein Versuch der De-Mythologisierung des künstlerischen Erzeugnisses sowie der Figur des Künstlers selbst. Das bourgeoise Verständnis des Künstlers als Weltenerklärers qua besonderes Talent oder wegen seiner Feinfühligkeit und Weitsicht wird durch die Ästhetik des Dings ad absurdum geführt. Das OHO-Ding geht dabei noch einen Schritt weiter als das Duchamp’sche Readymade, das zweifelsohne in einem Naheverhältnis dazu steht. Es geht OHO nicht darum, die kontextabhängigen Selektionsmechanismen des Kunstbetriebs zu subvertieren, sondern ihr Ziel ist es, eine mikrosoziale Einheit außerhalb der Verifizierungs- und Interpretations-Institutionen zu erhalten. Dubravka Wuric´ verweist auf die bewusst provokative Haltung, welche die Künstler durch die Akte der Hybridisierung unterschiedlicher künstlerischer Genres einnahmen: Die Autoren waren sich dessen bewusst, dass ein Text üblicherweise einer klaren Struktur auf einem Blatt Papier zu folgen hatte, und dass jede Verschiebung und Abweichung des Üblichen und Gewohnten in der gegebenen Kultur eine Geste der Überschreitung der ästhetischen, aber auch der gesellschaftlichen und politischen Normen darstellt.23

Reismus, Visuelle und Konkrete Poesie sowie andere experimentelle Formen der Zeit stehen demzufolge in Zusammenhang mit „the aim of overcoming bourgeois humanism and the concept of literature; and, to a great extent, this coincided with self-governing social processes. In its greater part this was a negation of the inherited state of affairs yet, at the same time, an affirmation of a new social consciousness.“24 In Kristevas Bachtin-Lektüre findet sich der Hinweis von Sprache als „ideologischem Phänomen par excellence“25. Die Reduktion der Sprache auf ihren zeichenhaften Charakter sowie die Reflexion über die Natur der Sprache im Allgemeinen sind somit auch Versuche, die Sprache zu entideologisieren. Für Deniz Ponizˇ, den slowenischen Kritiker der Konkreten und Visuellen Poesie, sind dabei folgende Fragestellungen von Bedeutung: 22 Taras Kermauner, „The Humanist Critique and the Reist Non-critique“, zit. nach: Vladimir Kopicl, „Writings of Death and Entertainment: Textual Body and Decomposition of Meaning in Yugoslav Nei-avant-garde and Post-avant-garde Literature 1968–1991“, In: Sˇuvakovic´, Wuric´, (Hg.), Impossible Histories, S. 96–121, S. 98f. 23 Dubravka Wuric´, „Vojvod¯anski Tekstualizam“, in: Dragomir Ugren (Hg.), Centralnoevropski aspekti vojvod¯anskih avangardi 1920–2000, Novi Sad 2002, S. 84–88, S. 84. 24 Vujica Resˇin-Tucic´, Slovo je puklo, Novi Sad 1978, S. 93. 25 Vgl.: Julia Kristeva, „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, In: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Frankfurt a. Main 1972, S. 345–375.

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– Welches Verhältnis besteht zwischen dem typographischen Zeichen, allen voran dem einzelnen Buchstaben, und anderen visuellen Elementen? – Welches Verhältnis besteht zwischen dem poetischen (kreativen) und dem nicht-poetischen (dem a-priori Dagewesenen, dem Industriellen, Seriellen, mechanisch Produzierten) Material innerhalb dem Phänomen der visuellen (bildenden) Kunst (Poesie)?26 Ein paradigmatisches Beispiel für den „chirurgischen“ Zugang zu Sprache ist das Poem Mocˇvara (dt. Sumpf) von Slavko Bogdanovic´, einem Mitglied der Novi Sader Gruppe Kid27 aus dem Jahr 1970, das eine minutiöse linguistisch-morphologische Zerlegung des Wortes Mocˇvara in all seine möglichen semantischen Einzelteile durchexerziert. Der Autor reduziert Sprache dabei auf ihre radikale Materialität und verweist auf die Konstruiertheit und Kontingenz derselben. Die analytische Destruktion und Dekomposition, die in Mocˇvara vorgeführt wird, entspricht dem Bedürfnis einer Befreiung von Sprache (von ihrem ideologischen Ballast) und dem Versuch, den Nullpunkt der Expressivität zu erreichen, der einen Neuanfang der Symbolisierung der Welt ermöglichen würde. (vgl. Abb. 1) Wörter, Buchstaben oder Satzzeichen werden in ihrer „konkreten“ Funktion, d. h. für sich stehend, losgelöst von ihrer Inhaltsseite, verwendet. Die Sprache dient dabei vordergründig nicht mehr der Beschreibung eines Sachverhalts, eines Gedankens oder einer Stimmung, sondern sie wird selbst zum Zweck des Gedichts. Buchstaben aus ihrem Zusammenhang genommen, verlieren ihre inhaltliche Bedeutung, ebenso wie Ziffern als bloße Zeichen keine inhaltliche Bedeutung haben, wenn sie nicht in einem zahlenbezogenen mathematischen Zusammenhang stehen. Die Form steht im Vordergrund und nicht die verschlüsselte Information. Der Signalwert bleibt erhalten, weil er als bekannt in anderen Zusammenhängen vorausgesetzt wird. Man assoziiert mit Bekanntem, man versucht zu lesen oder zu rechnen, bleibt aber beim Betrachten der äußeren Form stehen. Die Verwendung des Sprachmaterials in der konkreten Dichtung funktioniert folglich nicht mehr nach innersprachlichen, d. h. syntaktischen Regeln. Die Konstitution von Bedeutung basiert also nicht auf der symbolischen Funktion von Sprache bzw. über Verweise auf eine außersprachliche Wirklichkeit, sondern auf einer ikonischen Funktion. Diese ikonische Funktion des Zeichens erschließt 26 Zit. Nach Misˇko Sˇuvakovic´, Asimetricˇni Drugi, Eseji o umetnicima i konceptima, Novi Sad 1996, S. 123. 27 Die Kid-Gruppe existierte vom 8. April 1970 bis zum März des darauffolgenden Jahres und bestand aus folgenden Mitgliedern: Branko Andric´ (1942–2005), Kisˇ-Jovak Ferenc (1946), Slavko Bogdanovic´ (1948), Miroslav Mandic´ (1949), Mirko Radojicˇic´ (1948–2004), Slobodan Tisˇma (1946), Janez Kocijancˇic´ (1950–1994) sowie Ped¯a Vranesˇevic´ (1946), der an manchen Aktionen teilnahm.

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Abbildung 1: Slavko Bogdanovic´, Mocˇvara, Ausschnitt, Künstlerbuch, 28 Blätter, Novi Sad 1971. (Quelle: MSUV)

sich meist durch bildnerische Verfahren, durch typografische oder topographische Anordnungen. Als Beispiele hierfür können stellvertretend Attila Cserniks Körper-Schrift-Arbeiten sowie die tautologischen Wort-Skulpturen der Novi Sader Kid-Gruppe genannt werden. Mit den Bezeichnungen „Badtext“, „Teletext“, „Protext“, „Rotext“, „Alfatext“

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und „Videotext“ benennt Csernik seine unterschiedlichen materiell-textuellen Ausführungen, die er entweder auf dem Körper, auf verschiedenen Objekten des Alltäglichen, im öffentlichen Raum oder in anderen medialen Repräsentationssystemen realisiert (vgl. Abb 2).

Abbildung 2: Attila Csernik, Telopis, 1975, Performance, MSUV Novi Sad.

Der Text erfährt bei Csernik eine visuelle Transformation und eine Überschreitung der konventionellen Medien. Die normierten Möglichkeiten zur Präsentation von Texten (Buch, Zeitung, Plakat, Papier ganz allgemein) werden dabei konsequent außer Acht gelassen, gleichwie das Hauptaugenmerk keiner semantischen Kohärenz gilt, sondern alleinig der situativen und syntaktischen Verbindung zwischen dem Material der Sprache und der Materialität des Präsentationsmediums (Körper, Natur, Holz, dreidimensionales Objekt usw.). Die Geschichte der Konkreten und Visuellen Poesie zeigt, dass es zwar eine Reihe von Alternativen zur Gestaltung sprachlich-visueller Texte gibt, doch das Problem des Medialen, d. h. die Zweidimensionalität und die Reduktion auf den Träger Papier, bleibt dabei meist ungelöst. Csernik thematisiert durch seine KörperPoesie also einerseits diese Problematik, andererseits kommt in diesem intensiven Körper-Text-Verhältnis ein stark vitalistisches Kunst-Konzept zum Tragen, welches dem Text in gewisser Weise „zu neuem Leben“ verhilft. Der Ausgangspunkt von Csernik liegt nicht in dem für die Konkrete Poesie maßgeblichen Verfahren der Visualisierung eines poetischen oder literarischen Textes, sondern er bezieht sich vielmehr auf die grafische Erscheinungsform des isolierten und de-semantisierten sprachlichen Zeichens an sich. In vielen seiner Arbeiten arbeitet er mit einzelnen Buchstaben, oft mit dem Buchstaben „a“. Er vergrößert oder verkleinert ihn, projiziert ihn auf seinen eigenen oder einen fremden Körper, druckt und stempelt ihn in Serie auf den nackten Körper, auf Papier, Stein oder Holz. Er bemalt Steine mit Buchstaben, stellt dreidimensionale Kugeln aus Papier her, die mit „a“ beschrieben sind. Er macht seine Buchstaben-

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Arbeiten zu performativen Ereignissen, Interventionen im öffentlichen Raum oder zu multimedialen Video- oder Fotodokumenten. Unter dem Titel „Öffentliche Kunst-Stunde“ (Javni as umetnosti) entstanden 1970 am Novi Sader Donauufer mehrere Arbeiten, die der Land-Art und der Konzeptuellen Poesie zugeordnet werden können. Miroslav Mandic´ von Kid etwa fertigte einige Arbeiten linguistisch-semantischen Charakters an, die das tautologische Verhältnis zwischen Sprache und außersprachlicher Wirklichkeit thematisieren sollten. Er formte dabei großformatige Wort-Skulpturen, die das Wort Donau (Dunav) und Gras (Trava) bildeten und legte diese anschließend in den Fluss Donau bzw. auf die Wiese (siehe Abb. 3).

Abbildung 3: Miroslav Mandic´, Dunav bzw. Trava, Novi Sad 1970. (Quelle: MSUV)

Das Durchbrechen von gattungsspezifischen Grenzen zwischen Bild und Text sowie das Experiment mit zahlreichen Variationen dieses Wechselverhältnisses kann als Ausgangspunkt für die Implementierung weiterer medialer Möglichkeiten in die künstlerische Arbeit gesehen werden. Neben der Erweiterung der Ausdrucksformen in Richtung Körper, Natur, öffentlicher Raum etc., ist es vor allem ein neues Verständnis von Fotografie – verstanden mehr als Aufnahmetechnik denn als ästhetische Komposition – welches die Neue Avantgarde der 1970er Jahre kennzeichnet.

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Fotografie als Index Die Verbreitung von Xerox-Maschinen und die relativ leichte Verfügbarkeit von Foto- und Filmkameras führt zu einer wahren Flut von neuen Ausdrucksmitteln, die es dahinin der Kunst noch nicht gegeben hatte, bzw. werden Medien zu Trägern künstlerischer Bedeutungen, die bis dato hauptsächlich nicht-künstlerisch gebraucht wurden. Durch die Ablehnung des gemalten Bildes, der Skulptur und überhaupt die Weigerung, sich an die herkömmlichen Disziplinen anzulehnen, ist es vor allem die Fotografie, die zum Hauptträger des Werks in der Konzeptkunst wird. Es ist in der Neoavantgarde auch nicht die ästhetische Seite von Fotografie und Film, die interessiert, sondern die technische, die zum Zweck der Dokumentation von künstlerischen Aktionen eingesetzt wird. A document is a ,trace‘, or ,conductor‘, a ,visual text‘ conceived by the artist to communicate or disclose information on her [his] action in the world of art, culture or nature. The purpose of documentation is to determine, describe, interpret or demonstrate the processes of realization of art events or situations, which cannot be recorded or presented (deferred for ,historization‘) by other means in a faithful and factual manner28

schreibt Sˇuvakovic´ bezüglich des Dokument-Charakters der Avantgarde-Fotografie. Da beliebte Kunstformen wie Happening, Performance oder Body Art keine materiellen Erzeugnisse produzieren, ist es notwendig geworden, die Arbeiten technisch zu registrieren und somit verfügbar zu machen. Die relative Objektivität und das Unpersönliche der technischen Reproduktion machen Foto und Film weiters zum idealen Medium der Aufnahme künstlerischer Situationen. Fotografie und Film/Video als Kunstwerk (im Unterschied zur Kunst-Fotografie) wird in der Neuen Kunst zum wichtigsten künstlerischen Medium, das bald aus dem Rahmen der reinen Technik-Möglichkeit heraustritt und zu einer eigenständigen Kunstform findet, die weit über die reine Vermittlungsfunktion hinausgeht und sehr bald auch unterschiedliche Richtungen hervorbringt (z. B. analytische Fotografie, strukturelle Fotografie, narrative art, storyart, Fotoperformance u. a.m.). Als immer wieder auftauchende Grundtypen etablieren sich so Bilderreihen oder Sequenzen, die das Performative und Ephemere einer Aktion oder Foto-Performance festhalten, aber auch mit den technischen Möglichkeiten des Mediums selbst experimentieren, wenn sie etwa den Prozess des sich verändernden Lichteinfalls aufgrund unterschiedlicher Blendenöffnungszeiten registrieren und sequenziell darstellen. 28 Misˇko Sˇuvakovic´, Katalin Ladik: Moc´zˇene – The power of a woman. Retrospektive 1962–2010, Novi Sad 2010, S. 169.

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Jesˇa Denegri zufolge29 ist ihr metasprachlicher und autoreflexiver Charakter im Gegensatz zu dem vorwiegend referentiellen Gebrauch der herkömmlichen Fotografie – mit dem Ziel, die Welt abzubilden und nicht sie zu interpretieren – die wichtigste Eigenschaft der konzeptuellen Fotografie. Er beschreibt die Rolle der Fotografie in der Konzeptkunst folgendermaßen: Die Künstler, die sich des Mediums Fotografie bedienen, legen in einem ersten Schritt jede direkte und beschreibende Referenz ab, die grundlegende Motivation ihrer Arbeit ist nicht das Ziel der fotografischen Präsentation von Aspekten der Wirklichkeit, sondern, im Gegenteil, die Motivation liegt in der Bestrebung einer spezifischen Artikulation von Zeichen innerhalb einer gegebenen, eigens für diese Gelegenheit aufgenommenen Situation.30

Die Bilder verweisen dabei auf nichts als auf sich selbst und ihre technische Seite der Reproduktion, es geht nicht um semantische Beziehungen zu einer abgebildeten Wirklichkeit, sondern um die syntaktischen, die sich durch das Medium oder die transmediale Verschiebung manifestieren. Die Fotografie wird als „Anti-Medium“ benutzt; der Grund für ihre Verwendung liegt in der Annahme des Künstlers, dass sie die in der künstlerischen Arbeit angelegten Präpositionen auf adäquate Weise dokumentieren kann. Das visuell Wahrnehmbare funktioniert als struktureller Bestandteil eines konzeptuellen Systems, und da die Arbeit sinnlich oft nicht wahrnehmbar ist, hängt ihre Vermittlung von einem Dokumentationssystem ab. Dieses besteht aus Fotografien, Karten, Zeichnungen, Erläuterungen, Diagrammen etc. Filiberto Menna sieht in La linea analittica dell’arte moderna31 in der analytischen Fotografie eine logische Weiterführung der Kritik des Ikonismus, gilt das Foto doch gemeinhin als exzellentes Beispiel einer wirklichkeitsgetreuen Abbildung der Realität. Die analytische Kunst sieht es in der Folge als ihre Aufgabe an, die konventionelle und kulturologisch bedingte Sprache der Fotografie zu thematisieren. In der Konzeptkunst wird der Mythos der Fotografie als „natürliche Sprache“ ohne Codex und Syntax – analog zur Kritik des „natürlichen Zeichens“ in der Sprache – in Frage gestellt sowie die Aufmerksamkeit auf ihre syntaktisch-pragmatische Komponente gelenkt. Fotografie reproduziert also nicht die Realität, sie funktioniert vielmehr selbst als eigenständiges Bedeutungssystem. 29 Jesˇa Denegri, Sedamdesete. Teme srpske umetnosti, nove prakse (1970–1980), Novi Sad 1996, S. 16f. 30 Dass das „Auge der Kamera“ per se natürlich nicht rein objektiven Charakter hat, sondern ihm vielmehr ein explizit individueller Vorgang der Selektion vorausgeht, wird in dieser Betrachtungsweise ausgeklammert, doch entspricht der Gebrauch der Fotografie in der Konzeptkunst tatsächlich dem Versuch, ein vorwiegend neutrales und „kaltes“ Aufnahmegerät zu sein. 31 Filiberto Menna, La linea analitica dell’arte moderna. Le figure e le icone, Torino 1975.

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Conclusio Der vorliegende Text stellt den Versuch dar, epistemologische Brüche innerhalb der jugoslawischen konzeptuellen Kunst entlang ihrer medialen Vermitteltheit herauszuarbeiten und zu analysieren. Der Text bietet ausgewählte künstlerische und theoretische Modelle einer kritischen künstlerischen Praxis, an denen die Logiken des Bruchs der Spätmoderne ablesbar sind. Mit dem Schlagwort der „Dematerialization“ lässt sich in der Poetik der Neoavantgarde und Konzeptkunst eine Verschiebung im Gebrauch des Medialen feststellen, welche eine radikale Wende für das Verständnis des Kunstwerk-Begriffs der Moderne bedeutete. Die Konzeptkunst führte gewissermaßen zu einer Befreiung der Medien und zur Auflösung des rigiden modernistischen Paradigmas, indem die bisherigen Grenzen zwischen so genannten künstlerischen (in erster Linie Malerei und Bildhauerei) und nicht-künstlerischen Medien (Text, Fotografie, Aktionen, Mischformen zwischen diesen u.a.m.) aufgehoben und eingeebnet wurden.

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Norbert Bachleitner

Digital Literature: Continuation of or Rupture with the Avant-gardes?

Although digital literature started to emerge only some twenty-five years ago, there is already a certain consensus about its principal forms. To quote just one example, the poet and scholar Loss PequeÇo Glazier mentions “hypertext, visual/ kinetic text, and works in programmable media”.1 These categories are rather vague of course, they may be narrowed or widened, e. g. “visual text” may be replaced by multimedia text or “programmable media” by automatically generated text. Hypertext is the most ancient form, emerging back in the 1980s, but is now only of minor importance in the spectrum of digital literary forms. Hypertexts use the possibility of linking more or less short units of text (also called lexias or textons) via hyperlinks (also called nodes) in order to construct an often labyrinthine textual structure. The users are obliged to navigate and make their way through the hypertext by choosing from a varying number of links. Hypertext is thus multi-linear, a fact that tends to make its meaning multiple as well. Multimedia texts and installations comprise visual poetry that “exploits the semiotic potential of the spatial arrangement of the words”,2 also known as “concrete poetry” in German, combinations of words and pictorial elements, and kinetic poetry that makes letters, words or phrases move so that they “become actors and dancers on the stage of the computer screen”.3 Considering other media, text may be combined with sounds and audio poetry, and all of the three media may, of course, be involved in a work. Furthermore, texts may be automatically generated by software that permutes verbal material saved in databases. More advanced software generates texts by selecting vocabulary, but also by creating syntax according to grammatical and narrative patterns. Such text generators are developed in the context of artificial 1 Loss PequeÇo Glazier, Digital Poetics. The Making of E-Poetries, Tuscaloosa and London 2002, p. 6. 2 Marie-Laure Ryan (ed.), Cyberspace Textuality : Computer Technology and Literary Theory, Bloomington 1999, p. 13. 3 Ryan, Cyberspace Textuality, p. 2.

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intelligence research. A special form of generators uses software combining text and pictures and sometimes music as well. These genres of digital literature correspond with the main characteristic features distinguishing printed and digital text, i. e. interactivity between humans and machines; intermediality, e. g. combination of two media or transposition of one medium into another (with the special case of intersemioticity in the case of visual poetry); and performativity, the main feature of animated poetry.4 Interactivity as it appears in digital media is reminiscent of the inclusion of the public in the collective writing experiments of Dada and Surrealism, of performance art and Fluxus. Regarding kinetic texts and animation, as early as 1960, Franz Mon, Walter Höllerer, and Manfred de la Motte published a collective book about “moving” works of art and interactivity with the public.5 Some additional and optional features of digital media include the transgression of the border between art and life (and particularly, the Internet, which I consider a part of the “world” here). The playful treatment of this border has already been a part of the program of the classical avant-garde and neo-avantgarde, but in digital media it is particularly easy and natural to establish the connection between the two spheres. Another important feature of digital literature and media art is self-reflexivity ; writing, reading, textuality, and authorship are again put into question and fundamentally reconsidered. In his lecture in Vienna on 19 May 2009, Jay David Bolter drew attention to the dichotomy of transparency and hypermediacy.6 Transparent texts and artworks try to represent reality with the aim of entertaining the public and skipping all questions concerning the problems of such a representation; as an example he mentions the Hollywood style of film-making. On the other hand, hypermediacy, which is typical for digital media, is characterised by the inclusion of reflections on the problems of creating a work of art into the work itself, e. g. by calculated fragmentation. Obviously, self-reflexivity has also been an important phenomenon in the classical avant-garde, to give an 4 See Roberto Simanowski, Interfictions. Vom Schreiben im Netz. Frankfurt/Main 2002. There are some variations regarding the third category, however: Roberto Simanowski, “Autorschaften in digitalen Medien. Eine Einleitung”, in: Text + Kritik 152 (2001), “Digitale Literatur”, pp. 3–21, suggests the term “Inszenierung” instead of performativity ; Christiane Heibach, “ist die neue medien-kunst wirklich neu? über das verhältnis von ideengeschichte und medien in ästhetischer theorie und praxis”, in: Johannes Auer (ed.), $wurm = ($apfel>0) ? 1 : 0; experimentelle literatur und internet, Zurich 2004, pp. 8–27, prefers to use the term “Prozessualität”. 5 Franz Mon, Walter Höllerer, Manfred de la Motte, Movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur, Wiesbaden 1960; see also the examples in Umberto Eco’s classic Opera aperta. 6 Jay David Bolter, “Zwischen Web 2.0 und digitaler Avantgarde” (http://www.ustream.tv/re corded/1530608, last access 20 September 2017).

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example, it is in the foreground in concrete and visual poetry. At the same time, the relation between “serious” avant-garde and irony or even entertainment has been and still is never clear-cut but, on the contrary, is ambivalent. The emergence of the new digital media was accompanied by a discourse that stressed the innovations of the electronic writing space in comparison to the printing press, the remediation of print. Hypermedia was supposed to level the traditional hierarchy between author and reader because of the interactivity necessary to create the text.7 Referring to Ted Nelson, George P. Landow stresses the democratizing effects of this form in literature as well as in the classroom: “anyone can choose the pathway or approach that best suits him or her ; with ideas accessible and interesting to everyone, so that a new richness and freedom can come to the human experience.”8 On the other hand, sceptics like Espen J. Aarseth maintain that the freedom supposedly bestowed by interactivity implied in many discussions of “interactive fiction” is pure ideology, “projecting an unfocused fantasy rather than a concept of any analytical substance”9 and neglecting the important question of who is in possession of the control of a media. Friedrich W. Block points out that each innovation of the media creates a momentary fascination leading automatically to exaggerations of its avant-garde potential: “Unbestreitbar ist im Diskurs der digitalen Literatur ein ‘neues’ Avantgardebewusstsein, das sich an aktuellen technischen Errungenschaften und damit zusammenhängenden künstlerischen Experimenten entzündet.”10 In the same vein, Loss PequeÇo Glazier understands electronic literature as a continuation of experimental print literature. It is obvious that many artists started in analogue media and continued their work in digital media without totally changing their habits and style. In discussions on the artistic possibilities and the degree of innovation of electronic writing, critics have recently come to the conclusion that continuity and innovation are in equilibrium. Here, I only quote Katherine N. Hayles, who confirms that “electronic literature can be understood as both partaking of literary tradition and introducing crucial transformations that redefine what literature is.”11 One should not forget Borges’ 7 See Jay David Bolter, Writing Space. The Computer, Hypertext, and the History of Writing, Hillsdale, NJ 1991. 8 George P. Landow, Hypertext 2.0, Baltimore and London 1997, p. 274; the quotation is taken from Theodor Holm Nelson, Literary Machines, Sausalito, CA 1993, pp. 1–4. 9 Espen J. Aarseth, Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature, Baltimore and London 1997, p. 51. 10 Friedrich W. Block, “Website: Zum Ort digitaler Literatur im Netz der Literaturen”, in: Text + Kritik 152 (2001), “Digitale Literatur”, pp. 99–111, here p. 99. (“It is indisputable that the discourse of digital literature includes a ‘new’ avant-garde consciousness that is excited by technical innovations and the corresponding artistic experiments”, author’s translation). 11 N. Katherine Hayles, Electronic Literature. What is it? (http://eliterature.org/pad/elp.html, last access 20 September 2017).

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Pierre Menard paradox, which reminds us that even if digital artists prolong techniques used by the classical and neo-avant-gardes, their meaning and effect changes according to the new context in which they are working. In the 21st century, digital technology has become almost omnipresent in the form of smartphones and machines, augmented reality and many others, and has lost much of its innovative and avant-garde image. Many avant-garde procedures have become mainstream, Bolter mentions, among others, flash mobs, which are a continuation of performance art and Fluxus.12

Continuities: Forebears of digital literature and art Mallarm8’s unfinished project entitled Livre is considered one of the first forebears of hypertextual structures in literature. In his Opera aperta, Umberto Eco describes this project as follows: “Nel Livre le stesse pagine non avrebbero dovuto seguire un ordine fisso: esse avrebbero dovuto essere collegabili in ordini diversi secondo leggi di permutazione. Posta una serie di fascicoli indipendenti (non riuniti da una rilegatura determinante la successione) la prima e l’ultima pagina di un fascicolo avrebbero dovuto esse rescritte su di uno stesso grande foglio piegato in due, che segnasse l’inizio e la fine del fascicolo: all’interno di esso avrebbero giocato dei fogli isolati, semplici, mobili, intercambiabili, ma in modo tale che, in qualunque ordine essi fossero stati messi, il discorso possedesse un senso compiuto.”13 It comes as no surprise that this project was never realised. Another inevitable reference for hypertext in print is Jorge Luis Borges, especially his short stories “Examen de la obra de Herbert Quain” and “El jard&n de senderos que se bifurcan”. Herbert Quain is a writer who tries to free his narratives from linearity and static meaning. His novel April, March is described as an interactive hypertext. The second story features motifs of crime novels, notably a spy committing murder, but concentrates on the work of one of the spy’s ancestors, which displays a bifurcating, labyrinthine form. Critics often overlook a pioneering German hypernovel, Der Fragebogen (1951) by Ernst von Salomon. The author inserted numerous instructions where 12 Bolter, Zwischen Web 2.0 und digitaler Avantgarde. 13 Umberto Eco, Opera aperta, Milan 2006, p. 48 (“In Livre, even the pages should have no fixed order: they should be open to arrangement according to laws of permutation. In a series of movable booklets (not held together by a cover determining their order), the first and last page, respectively, written on a large sheet folded in the middle should indicate the beginning and the end of the booklet; inside of these booklets, single, simple, and movable pages should be interchanged in a way that each combination would form a meaningful, continuous text.” Author’s translation, NB; this passage is not included in the English version of the book).

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to jump within the text in order to find answers to certain questions. Furthermore, William Burroughs’ cut-ups, fragments of cut pages rearranged by chance operations, are relevant for the prehistory of hypertext. Another famous example of a printed hypernovel is Rayuela (1966) by Julio Cort#zar. This book may be read continuously from the beginning to the end but also – according to instructions provided by the author – by jumping to and fro between chapters. The title Rayuela (English: Hopscotch, German: Himmel und Hölle) refers to a children’s game in which players kick or throw a marble from “hell” to “heaven”. The sketch of the “map” of the book (shown below) reminds us of a (very simple) hypertext with two bifurcations.14

Illustration 1: “Map” of Cort#zar’s Rayuela (1966).

Some stories are based on the permutation of chapters or passages, such as Italo Calvino’s Il Castello dei destini incrociati (1969). In this story, the narrator gets lost in the woods and spends the night in a castle where he is invited to dine with a

14 Julio Cort#zar, Rayuela. Edicijn Cr&tica, Julio Ortega – Saffll Yurkievich Coordinadores, Segunda edicijn, Madrid et al. 1996, p. 502.

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party of mute travellers. The host lays tarot cards on the table in order to make the visitors tell stories corresponding to the pictures on the cards. The pattern below shows the table with the outer cards as starting points for a large number of possible stories.15

Illustration 2: The table with the outer cards in Italo Calvino’s Il Castello dei destini incrociati (1969).

Already back in 1962, Marc Saporta published his Composition No. 1, consisting of 150 unpaginated loose pages the size of playing cards. In the instructions for the reader, the author recommends that the readers/players shuffle the cards and lay them on the table in the way fortune tellers do. Much more popular is Milorad Pavic´’s novel Hazarski Recnik. Roman leksikon u 100.000 reci (1984). The plot revolves around the “Khazar controversy”, i. e. the dispute about the “true” 15 Italo Calvino, Il castello dei destini incrociati, Torino 1973, p. 40.

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religion among Islam, Judaism and Christianity at the court of the Khazar ruler. The novel is divided into three sections representing the viewpoints of the three religions. Another “encyclopaedic” novel is Lexikon-Roman (1970) by Andreas Okopenko, about a boat voyage on the Danube. The main protagonist comes to the conclusion that you can continue everywhere, that everything is connected with everything else, in short that the world is a network offering a plethora of possible lives. The artists’ group “Libraries of the Mind” produced an electronic version of this novel entitled Elektronischer Lexikonroman, abbreviated as ELEX (1998). Among the new features of this version is a map that registers the traveller’s/reader’s position on a map.16

Illustration 3: Map in Elektronischer Lexikonroman, abbreviated as ELEX, 1998.

Furthermore, the electronic version contains photographs, graphics and the option of listening to the author reading his text. In addition, composer Karlheinz Essl designed a musical accompaniment in the form of a hypertext piece which is created on the fly by a software program using chance operations (Lexikon-Sonate).17 If we turn to the forebears of visual and kinetic poetry in classical modernity, Apollinaire and his Calligrammes (1913–16) must be mentioned. His “PoHme du 9 f8vrier 1915”, a sort of letter poem, is dedicated to his mistress Louise de Coligny-Ch.tillon. Writing and drawing merge, the objects may be interpreted as the stanzas of this visual poem.18 Futuristic texts such as Marinetti’s “Dune, 7. 8. Parole in libert/” are characterised by intricate typography, the inclusion of graphic elements (lines of different shapes, underlining, brackets, numbers) and the “graphic” arrangement of words on the page.19 In the German-speaking area, the so-called “concrete poetry” developed in the 1950s. This movement had great influence on many artists working in the digital medium. An early example of concrete poetry is “Schweigen” by Eugen Gomringer.20 16 http://www.essl.at/bibliogr/elex.html (last access 20 September 2017). 17 http://www.essl.at/works/lexson-online_js.html (last access 20 September 2017). 18 http://pierresel.typepad.fr/la-pierre-et-le-sel/2012/01/guillaume-apollinaire-un-chercheurpassionn8-dart-nouveau.html (last access 20 September 2017). 19 Herbert Spencer, Pioneers of Modern Typography. Revised edition, Cambridge, MA 2004, p. 22. 20 Hans H. Hiebel, Das Spektrum der modernen Poesie. Interpretationen deutschsprachiger

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Illustration 4: Apollinaire, “PoHme du 9 f8vrier 1915”.

While on the topic of forebears of automatically generated text, an example from the 4th century A.D., “Carmen XXV” by the Latin poet Publilius Optatianus Porfyrius, should be mentioned. The first and fourth and the second and third words, respectively, in every line may be substituted. In spite of these rather strict rules of exchange, the poem yields 1.62 billion different versions. The poem reads as follows: I Ardua conponunt felices carmina Musae II dissona conectunt diversis vincula metris III scrupea pangentes torquentes pectora vatis IV undique confusis constabunt singula verbis.21

Permutation poems were very popular in Renaissance and Baroque literature. Florian Cramer has digitised some of these poems on his Permutations website. Lyrik 1900–2000 im internationalen Kontext der Moderne. Teil II (1945–2000), Würzburg 2006, p. 204. 21 Carmi di Publilio Optaziano Porfirio. A cura di Giovanni Polara. Torino 2004, p. 214.

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Illustration 5: Marinetti, “Dune, 7. 8. Parole in libert/”.

Illustration 6: Eugen Gomringer, “Schweigen”.

Whereas in print the permutation process may be achieved by cutting out and moving words or simply “jumping” across the page when reading, the digital version permutes the words automatically, thus producing versions that would never have appeared to a human reader. One of the most famous permutation

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poems is Quirinus Kuhlmann’s “Der XVI. Libes-Kuss” from his collection of sonnets entitled Himmlische Libes-Küsse (1671).22 Auf Nacht / Dunst/ Schlacht / Frost / Wind / See / Hitz / Süd / Ost / West / Nord / Sonn / Feur und Plagen / Folgt Tag / Glantz / Blutt / Schnee / Still / Land / Blitz / Wärmd / Hitz / Lust / Kält / Licht / Brand und Noth / Auf Leid / Pein / Schmach / Angst / Krig / Ach / Kreutz / Streit / Hohn / Schmertz / Qual / Tükk / Schimpf / als Spott / Wil Freud / Zir / Ehr / Trost / Sig / Rath / Nutz / Frid / Lohn / Schertz / Ruh / Glükk / Glimpf / stets tagen. Der Mond / Glunst / Rauch / Gems / Fisch / Gold / Perl / Baum / Flamm / Storch / Frosch / Lamm / Ochs / und Magen Libt Schein / Stroh / Dampf / Berg / Flutt / Glutt / Schaum / Frucht / Asch / Dach / Teich / Feld / Wiß / und Brod: Der Schütz / Mensch / Fleiß / Müh / Kunst / Spil / Schiff / Mund / Printz / Rach / Sorg / Geitz / Treu / und GOtt / Suchts Zil / Schlaff / Preiß / Lob / Gunst / Zank / Port / Kuß / Thron / Mord / Sarg / Geld / Hold / Danksagen Was Gutt / stark / schwer / recht / lang / groß / Weiß / eins / ja / Lufft / Feur / hoch / weit genennt / Pflegt Böß / schwach / leicht / krum / breit / klein / schwarz / drei / Nein / Erd / Flutt / tiff / nah / zumeiden / Auch Mutt / lib / klug / Witz / Geist / Seel / Freund / Lust / Zir / Ruhm / Frid / Schertz / Lob muß scheiden / Wo Furcht / Haß / Trug / Wein / Fleisch / Leib / Feind / Weh / Schmach / Angst / Streit / Schmertz / Hohn schon rennt Alles wechselt; alles libet; alles scheinet was zu hassen: Wer nur disem nach wird=denken / muß di Menschen Weißheit fassen.

All of the words, except those in italics, can be permuted horizontally. The text is self-reflexive, a meditation on the ineluctable modality of all things. The author wants his readers to ponder upon the secrets of numbers, permutation and the infinite. According to Kuhlmann’s own calculations, the poem contains more than 6 billion virtual lines. An outstanding example of permutation texts in modern literature is Michel Butor’s Mat8riel pour un Don Juan (1977). This textual machine consists of a pack of twenty cards divided into ten lines with three fields, each containing one or more words. Each card also has four holes through which a part of the text on the card underneath is visible. Innumerable variations of text can be created by 22 http://permutations.pleintekst.nl/kuhlmann/41_libes_kuss.cgi (last access 20 September 2017).

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shuffling the cards or simply exchanging some of them. Other important permutation texts include Raymond Queneau’s Cent mille milliards de poHmes, John Cage’s mesostics, and Jackson Mac Low’s The Virginia Woolf Poems.

Differences and innovations: Digital literature In this section, I will focus on the differences between print and digital literature by analysing a few representative examples. Hypertexts must be put together by the user like a jigsaw puzzle or mosaic. Deena Larsen’s “Stained Word Window” employs the metaphor of a multi-coloured window right in its title. The poem consists of thirteen lexias that may be read in various orders of succession by moving the mouse over the anchors on the left side. The lexias deal with the issues of perception and cognition, each subject regarding the world through his or her own “window”, the transparency of which is limited by the opacity of language. To give an example, the word “windows” leads to the question: “What does the glass look like from your side?” If you click on “wholly”, the following message appears: “Our lives are separated between panes of glass. Even the atoms cannot live on the other side.”23 The problem of the isolation of every individual is discussed in the lexias, depending on the personal pronouns located in the corners of the surface text. The fragmentation of the poem corresponds perfectly with its theme, each reader staring through another window at the world that keeps changing in accord with the permutation of the lexias. The writing space and “window to the world” that everybody uses these days is, of course, the computer screen, in particular, still the “window” in the Word program. Deena Larsen’s hyperpoem embodies and demonstrates what Jay David Bolter considers to be the defining characteristic of electronic text, namely the oscillation between looking through a text (to the signified, the “world” represented) and looking at the text itself, its structure, materiality, etc.24 The word window is sometimes transparent, but other times, especially in avantgarde literature that concentrates on self-reflexivity, it is “stained” and opaque. It seems quite obvious that this particular meaning and performative representation of the term “window” would not be possible in a printed version of this digital installation. In addition, the pictorial dimension of the poem must be taken into consideration since “Stained Word Window” is also a visual poem. The opposition between “you” and “me” is visually represented by the position of the pronouns 23 http://www.wordcircuits.com/gallery/stained (last access 20 September 2017). 24 Bolter, Writing Space, pp. 166–168.

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being opposed to each other on the diagonal axes. Staring and understanding, opposed to each other as well, evidently represent the statuses of transparency and opacity mentioned above. Finally, the user may start to “travel” across the page and form phrases from the word material at the surface of the poem, e. g. “staring without understanding”, “your eyes staring at us”, “windows staring at you”, etc. Again, the performance of the rather literal “staring” of the words at the user can hardly be achieved by printing letters on pages. afternoon (1987), by Michael Joyce, is one of the oldest hypernovels and now already regarded as a classic. It is significant that the story told by Joyce is a riddle around a traffic accident. Wert, the main protagonist, is not sure if he actually saw his divorced wife and his son lying beside the road when he passed the site of the accident in the morning. When perusing the hyperlabyrinth, one quickly encounters this sentence of Wert’s: “I want to say I may have seen my son die this morning”, which perfectly sums up the problem. Wert may be an amnesiac or intentionally deceiving the others and himself, he may have seen other people dying and everything may be due to his bad conscience, he may even have been guilty of the accident, but not ready to accept that fact. These questions are not answered, the doubt lingers wherever one stops reading the hypernovel. The form is perfectly suited for this kind of plot, it is also well-suited for approaching the plot simultaneously through different characters and their individual perspectives. The user’s interpretation changes depending on the path which he or she chooses to approach certain lexias, sometimes a character seems rather reliable, on other occasions he or she seems to be hiding something. No matter which reading the user chooses, it will only be a guess, the hypertext keeps its secrets; this secrecy seems to be one of the main virtues of the form. In postmodern manner, Joyce reflects the problem of closure in his novel: Closure is, as in any fiction, a suspect quality, although here it is made manifest. When the story no longer progresses, or when it cycles, or when you tire of the paths, the experience of reading it ends. Even so, there are likely to be no more opportunities than you think there are at first. A word which doesn’t yield the first time you read a section may take you elsewhere if you choose it when you encounter the section again; and sometimes what seems a loop, like memory, heads off again in another direction. There is no simple way to say this.25

It is, of course, an important feature of the modern novel and/or modern storytelling to refuse to offer a solution to all questions raised and to resolve all contradictions. Hypertexts seem to be particularly apt for demonstrating the impossibility of finding an ultimate truth. Visual poetry is one of the main genres of digital literature that shows many 25 Michael Joyce, afternoon, a story. Watertown, MA, 1987 (CD-ROM).

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continuities with the print tradition, with many artists working in both areas. One of them is Reinhard Döhl, a leading member of the “Stuttgart Group”, which also comprised Max Bense and Helmut Heißenbüttel, among others. In 1965, Döhl created the text graphic “Apfel”, which soon became famous as a founding document of concrete poetry.26

Illustration 7: Reinhard Döhl, “Apfel”.

The text and illustration are in a tautological relation, form and content correspond perfectly with each other. But, of course, Marcel Duchamp’s observation may be applied here: This is not an apple, but only a two-dimensional form and it was never meant to be more than that. Johannes Auer, a young Stuttgart colleague of Döhl’s, has digitised the apple and entitled his work “worm applepie for doehl”.27 The worm is now brought to life, it eats the characters and makes the apple disappear. This feature goes clearly beyond the static print version that lacks any indication of the worm eating, crawling or even being alive. The eating of the apple is an automatised association of the observer, in Auer’s version it has become the centre of interest. At any rate, it remains a mere interpretation that leads to theoretical reflections as to the meaning of characters that may never be fixed, or to the instability and fluidity of text in general and particularly in the 26 http://www.reinhard-doehl.de/doehlapfel_rez.htm (last access 20 September 2017). 27 http://auer.netzliteratur.net/worm/applepie.htm (last access 20 September 2017).

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digital media. Kinetic poetry adds the temporal dimension to a textual installation; more precisely, time is transformed into space. Text movements may be simply ornamental and decorative, but very often in digital poetry they show and perform what the text “says”. Thus the print version of “Apfel” represents a still, whereas the digitised installation tells a story. Another poet who started in the era of print and later moved to digital art is Augusto de Campos, a Brazilian. In his installations he, like Auer/Döhl, tells little stories. “SOS” deals with life after a global or even cosmic catastrophe – this is at least one possible interpretation. The lines form circles that remind us of the orbits of planets or satellites, the “I”s on the outer orbits condense to become “we” on the inner orbit that asks what we will do afterwards. The dynamic graphics perform the catastrophe, and together with the conjuring voice of the author, they extend the text semantics. Furthermore, only the graphics reveal a significant and at the same time alarming detail: In the centre of the installation/ the cosmos is a circle, an O or the number zero, nothing – or a “black hole”.28

Illustration 8: Augusto de Campos, “SOS”.

The “infoanimated” texts of Canadian poet Jim Andrews also undergo metamorphoses. When opening his “Seattle Drift”, a simple poem with a clear message appears: I’m a bad text I used to be a poem but drifted from the scene. Do me. I just want you to do me.29

If you click on the “Do the text” button, the words start to float across the screen. The text justifies its reputation of being “bad” (in the sense of naughty). Clicking on the “Stop the text” button freezes the constellation on the screen, the “Discipline the text” button takes you back to the start. Only then does the past tense in lines two and three make sense. Nevertheless, the first line is, strictly speaking, 28 http://www2.uol.com.br/augustodecampos/clippoemas.htm (last access 20 September 2017). 29 http://www.vispo.com/animisms/SeattleDrift.html (last access 20 September 2017).

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a lie, because the text may easily be “disciplined” and reconstructed. Its badness stems from the user, who obeys the command “do me”. Interactivity is an essential part of this installation. Apart from this game-like aspect, the installation is highly self-reflexive. The meaning may not be fixed, the text changes and/or runs away. And it is obvious that only the user distorts and abuses the text. At the start, you could never guess that the text used to be a poem with a beautiful form. Interactivity, in this case, leads to an unsolvable paradox. A fast emerging genre of digital literature is automatically generated text. Nanette Wylde created a “haiku generator”. A haiku consists of three lines of five, seven and five syllables, respectively. Usually a haiku contains reflections about everyday life and refers to a season. Wylde’s software exploits three databases established by former users who contributed haiku lines. The lines are chosen and combined according to chance operations. In the case of this text generator, collaborative writing is the media-specific added value. Examples of generated haikus read as follows: great expectations hoping to relieve the days cleaning violence love me and kill me hoping to relieve the days it makes me happy30

An advanced text generator is Ray Kurzweil’s “Cybernetic Poet”.31This software is based on analyses of poems by Blake, Byron, Keats, Shelley, Stevenson, Emily Dickinson, Walt Whitman, T. S. Eliot, Robert Frost and many others. The software is able to evaluate single words, phrases, and rhythms. An algorithm produces new poems according to and similar to the saved patterns, but a “plagiarism avoidance algorithm” ensures that similarity remains within certain limits. After having “read” poems by Robert Louis Stevenson, the generator produces the following lines: Spite of Old Delight In spite of old delight And winter comes the streams And I know that I can see the foam, Here is full of dreams.

According to the Turing test, in which users give their opinion on creations of artificial intelligence, less than half of the sample readers could distinguish 30 http://preneo.org/nwylde/haikU/ (last access 20 September 2017). 31 http://www.kurzweilcyberart.com (last access 20 September 2017).

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between human created and automatically created poems. To deceive the users is the ultimate goal of programmers, who come from the field of artificial intelligence and aim at the commercial use of automatically generated text. Digital generators may easily exploit the Internet as a database. A new type of generator combines data mining and the transformation of the collected data into another form. “We Feel Fine” searches in blogs and social media for the phrases “I feel … ” and “I am feeling …” and their continuations. The adjectives and phrases following the introductory phrase are listed and charted statistically. This artistic installation – or is it perhaps social research? – provides insight into the real-time “human condition on a global scale”. The artists regard their work as an art form created by the community of bloggers that does not produce fictitious pictures, but instead a true representation of the status of the world and its population: At its core, We Feel Fine is an artwork authored by everyone. It will grow and change as we grow and change, reflecting what’s on our blogs, what’s in our hearts, what’s in our minds. We hope it makes the world seem a little smaller, and we hope it helps people see beauty in the everyday ups and downs of life.32

“SearchSongs”, an installation created by Johannes Auer, Beat Suter and Ren8 Bauer, processes data taken from the web.de browser. The letters of the words recently entered into the browser by users are saved and automatically transformed into musical notes and sounds whenever a letter or a group of letters corresponds with a note (c, d, e, f, g, a, h, ces, cis, des, dis, es, eis, fis, etc.). Letters that are not “transformable” and “playable” define the length of the sounds, i. e. they prolong the previously played note. The stream of words is thus translated into music, a technique that reminds us of John Cage’s installations. But in digital media, the transformation happens automatically. In addition, the users may enter words which are included in the word stream and thus change the music. The automatically generated music was performed in the course of a 2008 performance and thus “re-humanised” by a cellist.33 I would like to conclude this section with remarks by N. Katherine Hayles about the principle of “transcoding”, something which she finds is the most provocative of all procedures used in digital literature. The importation of ideas, artifacts and presuppositions from the cultural layer to the computer layer “makes the crucial point that computation has become a powerful means by which preconscious assumptions move from such traditional cultural transmission vehicles as political rhetoric, religious and other rituals, gestures and

32 http://www.wefeelfine.org (last access 20 September 2017). 33 http://www.youtube.com/watch?v=fl0VOWmhEv4 (last access 20 September 2017).

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postures, literary narratives, historical accounts, and other purveyors of ideology into the material operations of computational devices.”34

Conclusion To sum up, the question as to whether digital literature rather continues classical and neo-avant-garde procedures or breaks with them is of course analogous to the question of if the glass is half full or half empty. I wanted to demonstrate that, in spite of many continuations and traditions linking analogue and digital art, the innovations are important, and that a neo-neo-avant-garde urgently needed the new writing space to find new possibilities of expression in the digital age and to gain access to the widespread public that can only be reached via this medium. Literature produced with and for the computer and available via the Internet always has a strong relation to popular and commercial culture. In another work, I demonstrated that the status of digital literature is ambivalent, hovering undecidedly between highbrow and popular culture.35 Whereas the procedures of classical and neo-avant-garde tend to become mainstream, digital avant-garde tries to critically accompany and comment on what goes on in the Internet and mainly the popular and commercial culture. It is very likely that in the future, digital avant-garde must be compared with digital mainstream culture rather than with the classical and neo-avant-gardes.

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Digitales Erzählen – Kontinuität der Brüche? (Mit einigen Beispielen aus der ungarischen digitalen Erzählkultur)

Digitale Erzählungen stellen eine Herausforderung an die Forschung dar, denn schon die Frage, ob so manch ein digitales Medium sich überhaupt dafür eignet, Erzählungen zu transportieren, hat das Potenzial, heftige Diskussionen zu entfachen. Ob digitale Erzählungen die Tradition des Erzählens fortsetzen bzw. der Entwicklungsweg der Erzählung im digitalen Raum einen Bruch oder eine Kontinuität darstellt, ist keine einfache Frage. Auf der Suche nach einer Antwort werden wir genau diesem Entwicklungsweg nachgehen und einige seiner Meilensteine unter die Lupe nehmen. Die Erzählung soll dabei G8rard Genette folgend – und in seinem Sinne – verstanden werden. Genette beschrieb die Bedeutung des Begriffs Erzählung als Zusammenspiel dreier Aspekte, die er folgendermaßen definierte: „In einem ersten Sinn – der heute im gewöhnlichen Gebrauch am evidentesten und zentralsten ist – bezeichnet Erzählung die narrative Aussage, den mündlichen oder schriftlichen Diskurs (discours), der von einem Ereignis oder einer Reihe von Ereignissen berichtet […] In einem zweiten, weniger verbreiteten Sinn, der heute aber bei den Analytikern und Theoretikern des narrativen Inhalts üblich geworden ist, bezeichnet Erzählung die Abfolge der realen oder fiktiven Ereignisse, die den Gegenstand dieser Rede ausmachen, und ihre unterschiedlichen Beziehungen zueinander […] In einem dritten Sinn, der wahrscheinlich der älteste ist, bezeichnet Erzählung noch ein anderes Ereignis: diesmal nicht mehr das, von dem erzählt wird, sondern das, das darin besteht, daß jemand etwas erzählt: den Akt der Narration selber.“1

1 G8rard Genette, Die Erzählung, München 1994, S. 15 (Hervorhebung im Original).

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Hypertext, Cybertext und spielerische Erzählung als Remediation Im digitalen Umfeld erscheint die Erzählung in unterschiedlichen Formen: Sie kann als ganz gewöhnlicher, schriftlicher, ,klassischer‘ Text auf dem Bildschirm vorkommen (in einem Blog, in einer elektronischen Bibliothek, als E-Book, usw.) oder als ,Quasi-Fortsetzung‘ der oralen Tradition als Tondatei auftreten (beispielsweise als Hörbuch oder auf diversen Portalen) oder in multimedialer Form, wobei der Text durch andere mediale Elemente (Bild, Ton, Musik, usw.) unterstützt wird, dabei aber durchaus autonom bleibt. Mit diesen, aus älteren Medien bereits bekannten, Erscheinungsformen der Erzählung befinden wir uns auf der untersten Stufe der von Jay David Bolter und Richard Grusin in Anlehnung an Marshall McLuhan aufgestellten Treppe der Remediationsstufen.2 Hier passiert mit dem alten Medium – in unserem Fall der Erzählung in ihren traditionellen Formen – noch nicht viel: Es wird nur in eine neue Umgebung versetzt. Für die Erzählung (noch in ihrer gewohnten Form als lesbarer oder hörbarer Text) sichert das digitale Umfeld einen größeren potenziellen Wirkungsbereich – schließlich kann sie durch das Internet theoretisch jeder erreichen – ihre Eigenschaften werden allerdings auf dieser Ebene (noch) nicht berührt.

Hypertext Eine Stufe höher befindet sich die Variante, alte Erscheinungsformen der Möglichkeiten der neuen Umgebung anzupassen, ohne jedoch ihren Charakter zu verändern. Allgemein gesprochen erhält hier das alte Medium ein neues Gewand, es wird jedoch nicht grundlegend verändert. Dies ist der Fall, wenn die schriftliche Erzählung mit den hypertextuellen Elementen der digitalen Sphäre versehen wird, wenn also beispielsweise eine Linkstruktur zur Verfügung steht, um Ergänzungen zum Text aufrufen (statt beispielsweise zu den Fußnoten, bzw. Endnoten scrollen zu müssen), zwischen den Stichwörtern einer Enzyklopädie mit einem Klick wechseln oder gar um individuelle Pfade innerhalb der Erzählung verfolgen zu können. So funktionieren Hypertexte, in denen eine schriftliche Erzählung in die 2 Jay David Bolter, Richard Grusin, Remediation. Understanding New Media, Cambridge (MA) 1999 S. 44–48. Bolter und Grusin interpretierten den berühmten Satz Marshall McLuhans: „The medium is the message.“ Im Zuge des Remediationsprozesses nehmen neue Medien ältere in sich auf, wobei die ursprünglichen Eigenschaften der älteren Medien unterschiedlich stark im neuen Medium verändert werden. Diese Veränderungsgrade werden durch die Remediationsstufen ausgedrückt. Siehe: Marshall McLuhan, Understanding Media, New York 2006, S. 7.

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Möglichkeiten der digitalen Multilinearität eingewoben wird. Der Hypertext löst sich nicht komplett von seiner alten Erscheinungsform als geschriebener Text – er transportiert die Erzählung immer noch traditionell, verwendet aber schon die durch die digitale Umgebung ermöglichten und begünstigten räumlichen Erzählmethoden. Die Linkstruktur, die Multimedialität und die wachsende Interaktivität der digitalen Medien schaffen eine Räumlichkeit, die im Zusammenhang mit Texten allerdings bereits durch die Postmoderne in den traditionellen Medien eingeläutet wurde. Der „spatial turn“3 kam jedoch nicht als plötzliche Veränderung in den Diskurs geschossen, die Tendenz lässt sich durch die Literaturgeschichte der Moderne hindurch beobachten. Die Erscheinungen und Wellen der Avantgarde mit ihren Experimenten und Ismen haben wesentlich dazu beigetragen, dass sich Formen und Strukturen in der Erzählung etablieren konnten, die nach und nach zur „Verräumlichung“ (spatialization)4 führten. Die Postmoderne versuchte sich schließlich über die Grenzen der Printmedien hinauszubewegen und fand dann in der digitalen Umgebung und im Hypertext eine geeignete Spielwiese für ihre Versuche. Bei der Erforschung der Räumlichkeit lässt der Hypertext die Rezipienten allerdings weitgehend im Dunkeln tappen, bietet ihnen kaum Orientierungspunkte, beispielsweise in Form von (audio)visuellen Eindrücken, die im Falle einer räumlichen Erzählung unterstützend wirken könnten. Hypertextautoren gingen gern der avantgardistischen Tradition gemäß vor und ließen die neuen Möglichkeiten über die Rezipienten hereinbrechen, experimentierten mit neuen Wegen, spielten ohne Rücksicht auf Verluste mit Darstellungsarten der Erzählung bzw. der Erzählbarkeit.5 Sie bevorzugten die besser geeignete digitale Umgebung des Computers, da die sehr eingeschränkte Printform für offene Erzählkonzepte zu wenige Entfaltungsmöglichkeiten bot. Dabei vermochte man zwar an den Grenzen der traditionellen Literatur zu rütteln, sie konnten allerdings auf dieser Weise nie überwunden werden, zu stark war die Bindung an die gewohnte Art des Erzählens und an die traditionelle Form, der Einfluss der digitalen Umgebung mit der Tendenz zur Verräumlichung erwies sich oft als Verwirrung statt Bereicherung.6 Als Beispiel für einen gelungenen postmodernen Hypertext dient das Werk 3 Dieser Begriff wurde in den 1980er Jahren vom Stadtplaner Edward Soja geprägt. Siehe: Wolfgang Hallet, Birgit Neumann, „Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung“; in: Wolfgang Hallet, Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, S. 11. 4 Lev Manovich, The Language of New Media, Cambridge MA 2001, S. 86–87. 5 Vgl. Marie-Laure Ryan, Narrative as Virtual Reality, Baltimore 2001, S. 265. 6 Auch Gebrauchsanweisungen, Karten oder Schaltpläne konnten dabei kaum Abhilfe schaffen – die Texte blieben oft sehr abstrakt und schwierig nachzuvollziehen. Siehe z. B. P8ter Farkas, Gjlem (Schaltplan), 1997–2004 (http://www.interment.de/golem/golem_kapcsolasi.pdf; zuletzt eingesehen am 20. 9. 2017).

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Fuharosok CD-ROM, das P8ter Esterh#zys Prosagedicht oder Novelle (schon bei der Zuordnung zu den Gattungen der traditionellen Literatur fangen hier – ganz im Sinne der postmodernen Literaturphilosophie – die Probleme an) in die digitale Sphäre transportiert.7 Die Erzählung scheint in diese Umgebung tatsächlich besser zu passen, die sonst für viele Leser befremdlich wirkende Intertextualität bzw. die Gast-Texte bekommen durch die Linkstruktur eine spielerische Legitimation. Der Kurzroman wird sowohl innerhalb von Esterh#zys Gesamtwerk als auch außerhalb – durch Kritiken – kontextualisiert und mit multimedialen Materialien ergänzt: Der Leser erhält nach Programmstart die Möglichkeit, zwischen sechs verschiedenen Fenstern zu wählen: Hinter diesen verbergen sich der eigentliche Hypertext, Variationen des Textes (das Faksimile, Übersetzungen, die ursprüngliche Version aus 1986), Ausschnitte der dramatisierten Umsetzung, eine Galerie (mit Bildmaterial rund um Esterh#zy und das Werk), Notizen und Inhaltsverzeichnis. Der Hypertext erscheint zunächst als aufgeschlagenes Buch, wobei sich am unteren Ende des Bildschirmes acht Icons befinden, mit deren Hilfe unterschiedliche Verweisebenen aufgerufen werden können. Das erste Symbol verbindet die grün hervorgehobenen Textelemente mit ausgewählten Teilen von Esterh#zys Œuvre, das zweite ruft die Verbindungen zu Gast-Texten auf, das dritte verknüpft den Text mit Kritiken und Rezensionen, das vierte öffnet ein Lexikon, das fünfte deckt die im Werk befindlichen Motive auf, das sechste bietet die Assoziationspfade und Bemerkungen eines fiktiven (und recht frechen) Lesers als Vorlage an, das vorletzte Icon führt zu einer Hörbuch-Version und das letzte ermöglicht eigene, lokal gespeicherte Notizen und Bemerkungen. Wie die Herausgeber betonen, sollte diese „Lesemaschine“8 ursprünglich Mittelschüler bei der Rezeption des sehr komplexen Werkes unterstützen. Da Esterh#zys Erzählung aber nicht nur für Schüler eine Herausforderung darstellt, ist diese spielerische Annäherung und Kontextualisierung durchaus auch für höhere Semester interessant. Auch wenn die Auswahl und das Arrangement der Materialien durch die Herausgeber geschehen ist, bekommt der Leser durch die Notizfunktion auch die Möglichkeit, seine individuellen Rezeptionspfade festzuhalten. Die hypertextuellen Wirren werden durch die angebotenen Ergänzungen und Erklärungen aufgelöst und auch für einen Leser mit wenig Erfahrung wird eine gründlichere Immersion in die Textwelt ermöglicht.

7 P8ter Bocsor, u. a. (Hg.), Esterh#zy P8ter : Fuharosok CD-ROM, Szeged 2000. 8 Andr#s Müllner, P8ter Bocsor, „Rövid (kritikai) bevezet8s a hipertext t8m#j#ba: a Fuharosok c&mu˝ CD-ROM kapcs#n“, in: Apertfflra. Filmelm8leti 8s filmtört8neti szakfolyjirat (2006) (http://www.apertura.hu/2006/tavasz/fuharosok/; zuletzt eingesehen am 20. 9. 2017).

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Cybertext Das digitale Umfeld gestaltet das Medium auf der nächsten Stufe der Remediation um, sodass das Ursprungsmedium in der neuen Umgebung aufgelöst wird und nur mehr seine Fragmente erkennbar bleiben. Zwischen dieser und der vorhergehenden Stufe ist der Übergang fließend, denn es gibt auch schon Hypertexte, die ihre Erzählungen in multimedialen Erscheinungen aufgehen lassen und sich nicht nur auf die reine Textlichkeit beschränken. Erreicht wird die Stufe allerdings tatsächlich erst mit dem Begriff des Cybertexts. Dieses Konzept von Espen Aarseth geht über den linearen und statischen gewöhnlichen Text, aber auch über den ergodischen und statischen Hypertext hinaus und stellt einen ergodischen und dynamischen Text dar. Ergodisch ist dabei ein Text, wenn sein Konsum einen erheblichen Aufwand seitens der Rezipienten fordert. Ein Cybertext ist darüber hinaus eine literarische Maschine, die Zeichen, also Bedeutungen produziert und somit veränderlich ist. Die Textproduktion ist zwar teilweise automatisiert, kann aber ohne das Zutun eines menschlichen Rezipienten nicht entstehen.9 Als Beispiel hierfür dient Tibor Papps Disztichon Alfa, der sich in die bereits längere Reihe von Vers- und Textgeneratoren einfügt.10 Auch wenn Textgeneratoren meist kein allzu hohes ergodisches Niveau haben, demonstrieren sie wunderbar die Funktion von dynamischen literarischen Maschinen.11 Der Versgenerator Disztichon Alfa entstand 1993 und wurde in Begleitung eines Buches 1994 als Floppy Disk herausgegeben. Der Begleittext beinhaltet eine Art Gebrauchsanweisung, einen kurzen Abriss der allgemeinen Geschichte der Versgeneratoren, die Beschreibung der Funktionsweise des vorliegenden Werkes und einige Auszüge. Wie neu und ganz und gar nicht selbstverständlich der Umgang mit der Computertechnologie damals war, zeigt auch eine detaillierte Beschreibung des Startvorganges (inklusive einer Erklärung zum Doppelklick) sowie des Mauszeigers. Aus der Schilderung des Versgenerators erfahren wir, dass die Gedichte für eine kurze (wenn auch individuell einstellbare) Zeit auf dem Bildschirm erscheinen, um dann wieder zu verschwinden. Auch die Möglichkeit des Speicherns oder Ausdruckens bleibt dem Anwender versagt, das Werk ist für den Computer konzipiert und soll auf den Bildschirm beschränkt bleiben. Die (laut Angaben des Autors) 16 Billionen möglichen Distichen befinden sich also auf einer interessanten Existenzebene: Es verhält sich mit ihnen, 9 Espen Aarseth, Cybertext – Perspectives on Ergodic Literature, Baltimore 1997, S. 1, 53 u. 64. 10 Tibor Papp, Disztichon Alfa, Budapest 1994 (http://mek.oszk.hu/11700/11744/pdf/11744. pdf; zuletzt eingesehen am 20. 9. 2017). 11 Norbert Bachleitners Beitrag in diesem Band beschreibt einige internationale Beispiele aus dem Bereich der Computerkunst – teils mit höheren ergodischen Ansprüchen. In seinem Artikel wird vor allem die künstlerische Seite der digitalen Literatur erläutert.

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wie mit Schrödingers Katze – sie existieren und gleichzeitig auch nicht, denn niemand wird in der Lage sein, je alle Gedichte zu Gesicht zu bekommen. Der Leser sieht also gewissermaßen Gedichte, die ohne ihn wohl nicht ins ,Leben‘ gerufen worden wären. In Papps Formulierung: „[…] auch der Leser ist Teil des Schöpfungsaktes.“12 Die generierten Distichen sind sowohl grammatikalisch als auch metrisch richtig und wirken erstaunlich wenig künstlich, sie tragen tatsächlich die schöpferische Handschrift des programmierenden Dichters. Er wählte als Basis 24 unterschiedliche, der Versform entsprechende, leere Satzhüllen. Diese wurden dann, unter der Verwendung von regelnden Algorithmen aus einer Datenbank zufallsgesteuert gefüllt. Der Zufall ist dabei allerdings reguliert: Die Permutationen werden den sprachlichen und ästhetischen, vorprogrammierten Regeln entsprechend ausgewählt und zugeordnet, es handelt sich also um ein akribisch durchkonstruiertes Werk. Tatsächlich erfüllt somit Disztichon Alfa die an einen Cybertext gestellten Anforderungen: Hier erschafft die literarische Maschine selbständig und dynamisch Zeichen, ist jedoch auch auf das Zutun des Rezipienten angewiesen. In doppelter Hinsicht sogar : Einerseits ist bei diesem Werk – wie in der experimentellen Literatur üblich – die interpretatorische Fähigkeit des Rezipienten außerordentlich stark gefordert; andererseits wird dem Rezipienten durch die schier unvorstellbare Menge an möglichen Distichen (laut Papp würde man 8 Millionen Jahre nur mit Lesen verbringen, wenn man alle Permutationen mit einem 15 Sekunden-Intervall durchlaufen ließe)13 immer nur eine winzige Auswahl präsentiert, was vermuten lässt, dass einige der Gedichte nie tatsächlich auf einem Bildschirm erscheinen werden, obwohl sie im Programm verborgen schlummern.

Spielerische Erzählung Die höchste Stufe der Remediation ist dann erreicht, wenn das alte Medium absorbiert wird, also wenn es komplett im neuen verschwindet. Dies geschieht in digitalen Spielen, die tatsächlich eine veränderte Erzählweise an den Tag legen, denn sie schafften es, das Spiel zum Medium der Erzählung zu machen. Für viele Forscher ist die dabei entstandene Erzählung derart anders (und so stark von der klassischen Art der literarischen Erzählung abweichend), dass sie dem Phänomen nachsagten, es wäre gar nicht imstande zu erzählen, es tue etwas anderes: Aarseth beispielsweise meinte mit seinem Konzept der Ergodik und ihrer Interaktivität eine Alternative zur Narrative geschaffen zu haben, denn spielerische 12 Papp, Disztichon Alfa, S. 13. 13 Papp, Disztichon Alfa, S. 35.

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und erzählende Elemente stünden gerade durch ihre unterschiedlichen Aktivitätsgrade im Konflikt miteinander.14 Ein beliebter Einwand war auch die Behauptung, Spiele seien keine Erzählmedien, sondern Medien der Simulation: Spiele stünden also der Erzählung gegenüber wie Selbsterfahrung (ein Spiel spielen, also Aktivität) und Beobachtung (einem Spiel zuschauen, also Passivität). Diesen Gedanken brachte Markku Eskelinen auf den Punkt und formulierte damit den Leitspruch vieler Anhänger des Simulationsgedankens: „If I throw a ball at you I don’t expect you to drop it and wait until it starts telling stories.“15 In ihren Augen soll ein Spiel als eigenes Phänomen betrachtet werden und nicht als ein weiteres Medium der Narrativität. Der Simulationsaspekt an sich ist nicht von der Hand zu weisen – die Simulation ist tatsächlich eines der wichtigsten Elemente von digitalen Spielen – die Frage ist nur, ob er sich wirklich nicht mit Erzählungen verträgt. Tatsächlich gelten für digitale Spiele eigene Konventionen und ein Ball kann in der entsprechenden Umgebung (als Teil des Spiels) in der Tat anfangen, Geschichten zu erzählen, ob man es nun von ihm erwartet oder nicht. Simulation wird häufig der Repräsentation gegenübergestellt, wobei der Gedankengang von Jörg Pacher eine erste Annäherung der beiden Bereiche andeutet: „Dabei stellt sich die Frage, ob das Nachahmen von Regeln keine Repräsentation sei. In zweiter Instanz könnte man fragen, ob Simulation daher Superrepräsentation beziehungsweise Metarepräsentation sei, weil verschiedene Repräsentation zu einem Mechanismus vermengt werden – nach mathematischen Regeln.“16

Der Spieledesigner Chris Crawford betont die Notwendigkeit, Simulationen in Spielen zu verzerren, da diese sich als Unterhaltungsprodukte in erster Linie auf diesen Aspekt konzentrieren. Eine präzise Modellierung des darzustellenden Systems ist also (beispielsweise im Gegensatz zu ernsten Simulationen der Wissenschaft) zweitrangig. Um auf das Publikum und sein Genussbedürfnis einzugehen, sind Veränderungen in der Simulation nötig, die er als „dramatic laws of physics“17 bezeichnet. 14 Aarseth, Cybertext, S. 85 u. 94–95. Weitere Beispiele für die Thematisierung der Unvereinbarkeit von Spiel und Erzählung: Stefanie Röders, Literatur und Computerspiele – Analogien zwischen Detektivromanen und Adventure Games, Saarbrücken 2007, S. 11; Klaus Walter, Grenzen spielerischen Erzählens: Spiel- und Erzählstrukturen in grafischen Adventures, Siegen 2001, S. 73–74. 15 Markku Eskelinen, „The Gaming Situation“; in: Game Studies 1 (2001) (http://www.gamestu dies.org/0101/eskelinen/; zuletzt eingesehen am 20. 9. 2017). Vgl.: Britta Neitzel, „Computerspiele – ein literarisches Genre?“; in: Harro Segeberg, Simone Winko (Hg.), Digitalität und Literalität, München 2005, S. 112–113. 16 Jörg Pacher, Game.Play.Story? Computerspiele zwischen Simulationsraum und Transmedialität, Wien 2007, S. 61. 17 Chris Crawford,: „Response [to Aarseth]“, in: Noah Wardrip-Fruin, Pat Harrigan, (Hg.): First Person. New Media as Story, Performance, and Game, Cambridge (MA) 2004, S. 45–46, S. 46.

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Eugen Finks philosophische Annäherung zum Spiel trägt zusätzlich zur Klärung der Frage bei. In Finks Augen sind sich Spiel (als Wiederholung von Aspekten des realen Lebens oder Simulation) und Bild (als Abbild eines Originals oder Repräsentation) struktureller gesehen ähnlich. Die platonische Mimesis (Nachahmung) als Abbild der Wirklichkeit und des Abbildes als Spiegelung ist für ihn jedoch als Herleitungsgrundlage für den Spielbegriff nicht ausreichend: das Spiel „[…] spiegelt nicht passiv ab, wiederholt nicht bloß abbildlich ein Original.“18 Aktivität ist also der entscheidende Unterschied. Fink folgert daraus, dass das Spiel kein Abbild sei, sondern ein Symbol – wobei das Symbol als Sinnbild ebenfalls repräsentiere. Ein Abbild hätte allerdings eine negative Konnotation von weniger (als das widerzuspiegelnde Objekt), ein Sinnbild sei dagegen mehr, es repräsentiere eine Ebene des „Überwirklichen“.19 Finks Herleitung des Spiels als Weltsymbol (und auch die Gedanken Pachers von Simulation als Überrepräsentation) lässt die zur Debatte stehenden, vermeintlich gegensätzlichen Phänomene näher rücken, spricht zumindest aber für eine Vereinbarkeit der beiden. In diesem Sinn hält der Spieleforscher Klevjer Rune Simulation und Repräsentation für miteinander verstrickt, wenn er behauptet, dass digitale Spiele als Äußerungen sinnbildend funktionieren, also neben ihren (mit Aarseths Begriff gesprochen) ergodischen Eigenschaften auch gleichzeitig repräsentieren. Somit wird im digitalen Spiel Repräsentation durch Simulation ermöglicht, bzw.: „The simulation is a procedural representation […]“20 Der Literaturwissenschafter Julian Kücklich weist auch darauf hin, dass narrative Texte ebenfalls in der Lage sind, „[…] dynamische Prozesse zu ,simulieren‘“.21 Damit dieses Argument standhalten kann, muss allerdings noch ein Aspekt besprochen werden: nämlich die Möglichkeit der Simulation von imaginären Prozessen. Kücklich zitiert mit Gonzalo Frasca den Simulationsforscher Paul Fishwick, der die Simulierbarkeit von „non-real systems“22 bestätigt. Auch Marie-Laure Ryans Meinung unterstützt dies, sie unterscheidet Simulationen mit einem Zweck (nennen wir sie ernste Simulationen) und selbstzweckhafte (spielerische Simulationen), die nicht das darstellen, was ist, sondern das, was sein könnte. Sie modellieren also imaginäre Welten.23 An dieser Stelle muss man ergänzend hinzufügen, dass Spielsphären nicht nur imaginäre, sondern auch reale Systeme simulieren können, wie auch ernste Simulationen imaginäre (oder 18 Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, Stuttgart, 1960, S. 111 (Vgl. auch S. 80 u. 109–112). 19 Ebd., S. 174 (Vgl.: S. 138 u. 152). 20 Rune Klevjer, „In Defense of Cutscenes“, in: DiGRA (Digital Games Research Assiciation), Tampere 2002 (http://www.digra.org/dl/db/05164.50328.pdf; zuletzt eingesehen am 20. 9. 2017). 21 Julian Kücklich, Computerspielphilologie, München 2002, S. 18. 22 Ebd., S. 61. 23 Ryan, Narrative as Virtual Reality, S. 63.

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mögliche aber nicht verwirklichte) Prozesse untersuchen können. Die Unterscheidung zwischen ernst oder spielerisch hängt also nicht von der Realitätsebene der simulierten Welt ab, sondern davon, ob die Simulation einen bestimmten Zweck hat oder Selbstzweck ist. Simulationen als autotelische Spielsphären können auch narrative Dimensionen beinhalten. Viele Forscher haben zwischenzeitlich ihre Haltungen angepasst.24 Sie leugnen die Verträglichkeit von Spiel und Erzählung nicht mehr, betonen aber die Eigenständigkeit der (digitalen) Spiele als Medium und lehnen ein „Kolonisieren“ (colonising)25 durch andere Disziplinen ab. Sie haben recht, was ihre Forderung nach der Beachtung der besonderen medialen Eigenschaften betrifft. In ihrem Bemühen jedoch, eine Eingliederung der Game Studies in andere Wissenschaftszweige zu verhindern, tun sie Erzählungen und narrative Qualitäten von Spielen (auch wenn sie sie mittlerweile als existent anerkennen) als Nebensächlichkeiten ab. Sie konzentrieren sich auf die Spielmechanik – also auf die Simulationsaspekte der digitalen Spiele –, statt das gesamte Bild zu betrachten, zu dem unter anderem eben auch die Erzählung gehören kann, womit sie auch als Untersuchungsgegenstand eine Daseinsberechtigung hat.26 Zu betonen ist, dass Spiele tatsächlich einige besondere Eigenschaften haben, die es zu berücksichtigen gilt. Sie sind dabei jedoch komplexe Phänomene und beinhalten verschiedene Aspekte und Dimensionen, die man durchaus mit Theorien und Methoden der alteingesessenen Disziplinen untersuchen kann, ohne dem Phänomen Gewalt anzutun – mit der entsprechenden Beachtung ihrer Charakteristik: Wichtige Merkmale der komplizierten Spiele sind ihre Freiwilligkeit und ihre Autotelie (damit verbunden auch ihre Korrumpierbarkeit – verliert das Spiel seinen Selbstzweck, wird es zu etwas anderem), die Tatsache, dass sie eigene Spielsphären mit einer eigenen Zeitlichkeit und eigenen Regeln besitzen, dass sie interaktiv sind, Gemeinschaften bilden, wiederholbar sind und der Unterhaltung und Entspannung dienen.27 Innerhalb dieser Parameter kann ein Spiel jedoch unterschiedliche Aspekte 24 Siehe z. B.: Juul, Jesper : „Games Telling Stories?“; in: Game Studies 1 (2001) (http://www.ga mestudies.org/0101/juul-gts; zuletzt eingesehen am 20. 9. 2017). 25 Siehe: Aarseth, Espen: „Computer Game Studies, Year One“; in: Game Studies 1 (2001) (http://gamestudies.org/0101/editorial.html; zuletzt eingesehen am 20. 9. 2017). 26 Siehe z. B.: Eskelinen, „The Gaming Situation“. Pacher, Game.Play.Story? 27 Diese Aufzählung ist eine kurze Zusammenfassung, die anhand der folgenden spielphänomenologischen Arbeiten entstanden ist: F.J.J. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels – Das Spielen des Menschen und der Tiere als Erscheinungsform der Lebenstriebe, Berlin 1933. Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen – Maske und Rausch, Stuttgart 1960. Fink, Spiel als Weltsymbol. Johan Huizinga, Homo ludens, Reinbek bei Hamburg 2006. Hans Scheuerl, „Spiel – ein menschliches Grundverhalten? (1974)“, in: Hans Scheuerl (Hg.), Theorien des Spiels, Weinheim und Basel 1975, S. 189–208. Siehe auch: Zsuzsa G#ti, Verspielte Erzählungen – Die Veränderung der Erzählung im digitalen Raum, Diss., Wien 2013, S. 78–88.

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beinhalten und sogar den Schwerpunkt auf diese verlagern (selbstverständlich immer innerhalb seiner autotelischen Natur). So kann ein Spiel beispielsweise vermehrt auf die Räumlichkeit setzen und vielfältige Explorationsmöglichkeiten anbieten. Es kann den Kommunikationsaspekt in den Vordergrund stellen und die (zwischenmenschliche) Kommunikation inner- und/oder außerhalb der Spielsphäre fördern. Es kann Kreativität, Geschicklichkeit und Ehrgeiz der Spieler durch unterschiedliche Interaktionsmöglichkeiten herausfordern. Es kann sich aber auch auf die Narration konzentrieren und Geschichten erzählen. Spiele können Dimensionen und Qualitäten eines Mediums, eines Texts und sogar eines Kunstwerkes beinhalten – immer innerhalb ihrer eigenen Spielwelten. Der vermeintliche Konflikt zwischen spielerischen und erzählenden Elementen wurde auch in der Praxis durch die technische Entwicklung und Reifung der digitalen Spiele nach und nach entschärft. Sie wurden von einfachen, mechanischen Koordinationsübungen zu komplexen virtuellen Welten, und die Argumente für die Narrationsfähigkeit der digitalen Spiele wurden durch die Praxis bekräftigt. Spielsphären werden immer größer und ausgeklügelter : Vor allem virtuelle Welten sind Räume, in denen eine sehr hohe multimediale Komplexität, Handlungsfreiheit und Offenheit vorherrscht.28 So können sie als Orte auch das Setting für vielfältige Erzählungen sein. Der Simulationsaspekt spielt allerdings bei der Unterscheidung zwischen der spielerischen und der literarischen (narrativen) Darstellung nicht die Hauptrolle – schließlich haben wir gesehen, dass beide Darstellungsformen sowohl simulieren als auch repräsentieren können. Entscheidender ist die Art ihrer Organisation. In der literarischen Erzählung steht als Organisationsprinzip die Zeitlichkeit im Vordergrund, in Spielen herrscht dagegen die Räumlichkeit vor.29 Durch Spiele wurde die Erzählung als Phänomen Gegenstand eines Umdenkprozesses. Henry Jenkins weist darauf hin, dass der Erzählbegriff zu eng und zu traditionell verstanden wurde, wozu auch gehört, dass die Autorität des Erzählers eine viel zu große Rolle in den Überlegungen spielte, und nicht die gesamte narrative Kommunikationssituation berücksichtigt wurde.30 Tatsächlich erfuhr durch die notwendigen Anpassungen der spielerischen Erzählung an die besonderen Eigenschaften des Spiels die narrative Kommunikation zwischen 28 Der Spieledesigner Richard Bartle beharrt darauf, virtuelle Welten tatsächlich als Plätze, als neutrale Orte zu betrachten, was einerseits die Räumlichkeit der digitalen Umgebung betont, andererseits bietet ein neutraler Raum auch vielen Aspekten und Motivationen die Möglichkeit zur friedlichen Koexistenz. Richard A. Bartle, Designing Virtual Worlds, Berkeley (CA) 2004, S. 474–475. 29 Zum Thema Simulation vs. Narrative siehe: G#ti, Verspielte Erzählungen, S. 173–177 u. 225. 30 Henry Jenkins, „Game Design as Narrative Architecture“, in: Noah Wardrip-Fruin, Pat Harrigan (Hg.), First Person. New Media as Story, Performance, and Game, Cambridge (MA) 2004, S. 118–130, S. 121.

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Produzenten und Rezipienten die größte Veränderung.31 In der spielerischen Umgebung muss die gewohnte, autoritäre Erzählweise rezipientenseitigen Mitgestaltungsmöglichkeiten weichen, also ändert sich die klassische Darstellung der narrativen Kommunikation gemäß folgendem Modell: (empirischer) Autor ! Modell-Autor ! Erzähler ! [Zuhörer] ! Modell-Leser ! (empirischer) Leser.32 Die beiden impliziten Instanzen verschmelzen in der spielerischen Erzählung und der Modell-Leser wird ebenfalls zu einer Gestalterinstanz.33 So gibt es einen produzentenseitigen Modell-Autor und einen rezipientenseitigen Modell-Autor, die beide gewisse Gestaltungsfaktoren in der Hand haben. Je nach Art des Spiels variiert dabei die Hierarchie der beiden, davon abhängig, ob produzenten- oder rezipientenseitige Faktoren in den Vordergrund rücken. Der Erzähler verliert ebenfalls seine prominente Stellung und wird zu einer möglichen Funktion einer Instanz, die als Vermittler zwischen dem Spiel (das von der Art seiner Spielmechanik abhängig als Erzählung und/oder Simulation in Erscheinung tritt) und den beiden Modell-Autoreninstanzen steht. Diese Instanz (die je nach Spielart auch die Funktion des Erzählers besitzen kann) habe ich mit einem von Janet Murray ausgeborgten Begriff „Interaktor“34 genannt, der die – mit Neitzel gesprochen – „Erzählhandlungen“35 durchführt. Bei der Anordnung dieser Protagonisten sind eine von Cordula Kahrmann inspirierte Ebenenstruktur wie auch die narrativen Ebenen von G8rard Genette hilfreich.36 Nach einer solchen Aufteilung befinden sich also der empirische Produzent und Rezipient auf der extradiegetischen Ebene – außerhalb der Spielwelt. Die beiden Modell-Autoren mit ihren Gestaltungsfaktoren halten sich auf der intradiegetischen Ebene auf – bereits innerhalb der Spielsphäre. Die Ebene des Interaktors ist die metadiegetische, hier kommt die Erzählung bzw. Simulation durch den Interaktor gefiltert zustande. Der Spieler selbst ist dabei in einer ständigen Metalepse: als Modell-Autor ist 31 An dieser Stelle möchte ich absichtlich von der klassischen literaturwissenschaftlichen Terminologie abweichen – Autor und Leser sind der traditionellen Literatur verbunden, in der elektronischen Umgebung kann man ihre klassischen Rollenbilder nur bis zu einem bestimmten Punkt anwenden, ohne Missverständnisse heraufzubeschwören. Für die Bestimmung der Kommunikationsverhältnisse in elektronischen Medien ist es geschickter, neutralere Begriffe (z. B. Produzent und Rezipient) zu wählen, um durch Konventionen und Gewohnheiten vorbelastete Begrifflichkeiten zu vermeiden. 32 Zur hier verwendeten Terminologie siehe: Umberto Eco, Lector in fabula, München 1990. 33 Siehe: Britta Neitzel, Gespielte Geschichten – Struktur und prozessanalystische Untersuchungen der Narrativität von Videospielen, Weimar 2000. 34 In Janet Murrays ursprünglicher Verwendung bezeichnet der Begriff interactor den Rezipienten selbst. An dieser Stelle soll mit dem Interaktor eine Schnittstelle zwischen Spieler und Spielwelt gekennzeichnet werden. Janet H. Murray, Hamlet on the Holodeck, New York 1997. 35 Neitzel, „Computerspiele – ein literarisches Genre?“, S. 129. 36 Cordula Kahrmann (et al.), Erzähltextanalyse, Königstein 1993, S. 45–47. G8rard Genette, Die Erzählung, S. 162.

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er gleichzeitig eine gestaltende und aufnehmende Instanz. Diese Metalepse führt zu einem typischen Phänomen in einer aktiven Rezeptionssituation – zum doppelten Bewusstsein. Der Spieler ist sich dessen bewusst, dass er sich zur gleichen Zeit innerhalb wie auch außerhalb des Spiels befindet. Da er sich zusätzlich mit dem Interaktor identifizieren kann, ist sogar eine doppelte Metalepse vorstellbar, wobei der Spieler sich in den Interaktor hineinversetzt und als Protagonist empfindet, als Modell-Autor seine individuelle Erzählung zusammenstellt und gleichzeitig das Geschehen als Rezipient reflektiert und interpretiert.37

Bruch oder Kontinuität? – Ein Resümee Nachdem wir nun die Erzählung auf ihrem Weg zur ludischen Erzählung in der digitalen Umgebung über einige wichtige Stationen hinweg begleitet haben, stellt sich uns die Anfangsfrage wieder in den Weg. Es gab unterwegs schließlich genügend Punkte, wo man einen Bruch vermuten könnte. Zunächst widmen wir uns aber einer allgemeinen und eher philosophischen Hintergrundfrage im Zusammenhang mit der technischen Entwicklung am Anfang unseres Weges: Als Hyper- bzw. Cybertexte die Bühne der literarischen Produktion langsam zu betreten begannen, gab es schon Stimmen, die die aktuelle Entwicklung mit großer Skepsis betrachteten. Günther Anders sah in der Technisierung eine Bedrohung für die Integrität des Individuums: Durch die Reizüberflutung der Geräte würde der Mensch gespalten, zu einem „Divisum“38. Paul Virilio sah in der technischen Entwicklung eine Gefahr für die große Erzählung, die in Fragmente zu zerfallen drohe, wobei er auch auf die Möglichkeit hinwies, dass sich die Puzzlestückchen wieder zu einem Bild zusammenfügen könnten.39 Mit einem Blick auf die technischen Medien scheinen sich tatsächlich Kurzformen durchzusetzen. Die Tendenz, lange Erzählungen zu zerstückeln ist unübersehbar : Denken wir nur an die Flut an Serien im Fernsehen oder an das Internet, wo wir meist auf relativ kurze Texte treffen. Die von Virilio angedeutete Richtung scheint richtig zu sein: Neil Postman merkt (ca. 15 Jahre später) an, dass durch die Entwicklung der Technik und der damit verbundenen Globalisierung, eigentlich eine Verlagerung der Sichtweise 37 Eine ausführlichere Darstellung und Erklärung des von mir ludonarrativen Kommunikation genannten Themas ist in meiner Dissertation zu finden: G#ti, Verspielte Erzählungen – Die Veränderung der Erzählung im digitalen Raum, S. 178–189. 38 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen – Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (Band 1), München 1987, S. 135. 39 Paul Virilio: „Die Auflösung des Stadtbildes“; in: Jörg Dünne, Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie, Frankfurt am Main 2006, S. 261–272.

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stattgefunden habe – statt nur unsere unmittelbare Umgebung zu betrachten, sind wir heute in der Lage, das große Ganze zu sehen.40 Wie in einem pointilistischen Gemälde sahen wir früher nur die einzelnen Punkte, denn wir waren nicht imstande, weiter wegzugehen, um das Gesamtbild erfassen zu können. Janet Murray bezeichnet das Mosaik der Medienlandschaft als „kaleidoskopische“ Struktur.41 Ihrer Meinung nach ist diese keine zerstörerische Erscheinung und sie bedroht auch nicht die Integrität der Welt, sondern bietet eine Chance, uns weiterzuentwickeln. Wenn wir die durch die Computerisierung gebotenen Möglichkeiten ausnutzen, könnte sich unser Denken verändern: Die Linearität könnte auch in unseren Köpfen von Multilinearität abgelöst werden; wir wären in der Lage, Strukturen und Zusammenhänge anders zu sehen und zu verarbeiten. Dazu regen die Texte des Internets an: Sie sind kurz, aber miteinander vernetzt. Von einem kommt man zum nächsten, wobei es an den Rezipienten liegt, wie sie durch das Dickicht dieser Texte (und anderer medialer Elemente) navigieren.42 Die eventuell einsetzende Veränderung unserer Denkmuster – deren Vorbote möglicherweise die fragmentierte und zu Kurzformen neigende Erzählweise unserer Tage ist – wäre demnach eine Anpassung an die Entwicklung, ein evolutionärer Schritt bedingt durch die technischen Veränderungen, die unsere Erfindungen mit sich brachten und kein plötzlicher Bruch, wie die überlebensnotwendige Adaption nach einer (Natur-)Katastrophe. Aber Zurück zum Weg der Erzählung: Stellt der Hypertext mit seinen avantgardistischen Experimenten einen Bruch dar? Die Frage beantwortet sich bereits aus den obigen Darstellungen: Er hat seine Wurzeln in den Tendenzen der Literaturgeschichte, die in der Postmoderne so weit heranreiften, dass sie nach einem neuen Medium verlangten. Der Hypertext stellt sich somit als Meilenstein einer Entwicklung heraus, nicht aber als Bruch – die Erzählung verschwand nicht, sie begann nur einen Verwandlungsprozess. Dieser setzte sich dann im Cybertext mit seiner ergodischen und (inter-) aktiven Dynamik fort – ein weiterer Entwicklungsschritt auf dem Weg zur spielerischen Erzählung, der sich aber ebenfalls als Ergänzung, Erweiterung oder Weiterführung und nicht als Bruch erweist. Innerhalb der Thematik der spielerischen Erzählung finden sich auch einige Punkte, in denen man unter Umständen einen Bruch vermuten könnte. Ob dem wirklich so ist, sehen wir uns jetzt an: Die Frage nach der grundlegenden Funktionsweise von digitalen Spielen spaltete den immer noch recht jungen Wissenschaftszweig der Game Studies schon in seinen Anfangsjahren in zwei 40 Neil Postman, Die zweite Aufklärung, Berlin 2001, S. 144–146. 41 Murray, Hamlet on the Holodeck, S. 155. 42 Diese Beschreibung spiegelt auch die Erzählweise von digitalen Spielen wider : Auch hier wird die Erzählung typischerweise in kleinen Häppchen präsentiert, denen allerdings komplexe und verworrene Strukturen zugrunde liegen können.

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Gruppen: In die der Ludologen, die den Simulationsaspekt der Spiele in den Vordergrund stellten und die der Narrativisten, die ihnen erzählerische Qualitäten bescheinigten. Die Ludologen vertraten dabei den Standpunkt, dass Spiele ganz anders funktionierten als traditionelle Erzählungen und deshalb nicht mit den Maßstäben der ,alten‘ Disziplinen (wie beispielsweise Literaturwissenschaft mit ihrer Narrationsfokussiertheit) gemessen werden könnten, sondern nach eigenen Untersuchungsmethoden verlangten. Um einer Eingliederung der sich langsam formierenden, jungen Disziplin in alteingesessene Wissenschaften vorzubeugen, ließen viele Forscher der Narration überhaupt keinen Platz und behaupteten, sie würde als passive Form die (Inter-)Aktivität der digitalen Spiele stören und sei nicht damit zu vereinbaren. Wie wir gesehen haben, konnte dieser Standpunkt nicht lange gehalten werden. Was anfangs als Bruch erschien, entpuppte sich im Laufe der Zeit als Entwicklung. Es stellte sich heraus, dass Spiele sehr viel komplexer sein können, als man es zum Zeitpunkt ihres erstmaligen Erscheinens vermutete, aus einfachen Fingerübungen (die heute nicht nur aus erzählerischer Sicht rudimentär erscheinen) wurden virtuelle Welten, die eine komplexe Zusammensetzung haben und vielen Aspekten und Dimensionen Raum zur Entfaltung lassen. Das Stichwort Raum beinhaltet ebenfalls Potenzial für die These eines Bruchs, wenn wir von der veränderten Art der Erzählung sprechen. Wir haben gesehen, dass die Bedeutung der Räumlichkeit ab der Moderne in allen Bereichen angewachsen ist. So wurde sie auch in der in erster Linie zeitlich strukturierten klassischen Erzählung immer wichtiger, bis die Postmoderne anfing, die Grenzen zu überschreiben und die digitalen Medien eine logisch leichter nachvollziehbare Umgebung für die räumlichen Aspekte von Erzählungen anboten. In dieser besaßen schon der Hypertext und der dynamische Cybertext spielerische Elemente, obwohl es mit der Autotelie, mit der Interaktivität und vor allem mit der Gestaltung der Spielsphären noch ziemlich haperte. Die veränderte narrative Kommunikationssituation könnte man auch als Bruch mit einer alteingesessenen Tradition ansehen – vor allem durch die Neuerung in der Position des nun zum Gestalter avancierten Modell-Lesers. Wenn dieser Aspekt auch ungewöhnlich erscheint, ganz so revolutionär ist er nicht. Durch die veränderten Gegebenheiten der spielerischen Erzählung wird die Situation des Lesers bzw. Rezipienten wieder in den Vordergrund gestellt und thematisiert. Die vermeintliche Passivität des Lesers ist in der Literaturgeschichte und -philosophie seit langem ein vieldiskutiertes Thema – der Leser sollte teils mit radikalen Maßnahmen in eine aktive Position gehoben werden, beispielsweise durch die Exekution des Autors.43 Wolfgang Isers Ideen gehen da 43 Roland Barthes, „Der Tod des Autors“; in: Fotis Jannidis (et al.) (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 193. Siehe auch: Hans Magnus Enzensberger, „Baukasten zu

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weniger brutal vor und lösen den Leser sanft aus dem Machtbereich des Autors, indem der Leser Leerstellen in der Erzählung zu füllen vermag und dadurch zu einem Mitgestalter der Geschichte wird.44 Peter Brooks beschreibt die Bemühungen der Postmoderne den Leser bewusst zur aktiven Mitgestaltung zu verleiten.45 Für Rainer Kuhlen spielt die Rezeptionskompetenz des Lesers in Hypertexten die entscheidende Rolle für die Entstehung von Kohärenz.46 Zur Erstarkung des Lesers im Hypertext gab es allerdings auch etliche Gegenstimmen,47 wobei auch die unterschiedlichen (Inter-) Aktivitätsgrade eine Rolle spielten und einiges an Überlegungen auslösten48. Es hat sich also auch hier zwar einiges ereignet, aber im Grunde genommen fand nur eine Verschiebung der Kompetenzen statt, die zu einer (mediengerechten) Modifikation eines Modells geführt hat und nicht zum Umsturz oder gar zur Vernichtung einer kompletten Theorie. Den Entwicklungsweg der spielerischen Erzählung könnte man in gewisser Weise als Kontinuität der Brüche bezeichnen, wenn man ihn vom Standpunkt der Neuerungen und der eingeführten Veränderungen aus betrachtet. Die spielerische Erzählung hat tatsächlich eine neue Art des Erzählens geschaffen, die sich allerdings aus Komponenten zusammensetzt, die an sich schon länger bekannt sind. Die Präsentation im digitalen Medium und die dadurch eröffneten Möglichkeiten sowie die Erreichbarkeit durch ein breites Publikum und das folglich gewonnene Prestige sind neu, nicht aber die spielerische Erzählung selbst.49 Wie auch Norbert Bachleitner in seinem Beitrag in diesem Band betont, bietet die digitale Umgebung neue Ausdrucksmöglichkeiten – sowohl für die hohe Kunst als auch für popkulturelle Erscheinungen. Er weist auch darauf hin, dass zunächst

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einer Theorie der Medien“, in: Hans Magnus Enzensberger, Peter Glotz (Hg.), Baukasten zu einer Theorie der Medien – Kritische Diskurse zur Pressefreiheit, München 1997, S. 132. Wolfgang Iser, Der implizite Leser, München 1972, S. 7–12, S. 62 u. 67–68. Peter Brooks, Reading for the plot, Oxford 1984, S. 37 u. 316. Rainer Kuhlen, Hypertext – ein nicht-lineares Medium zwischen Buch und Wissensbank, Berlin und Heidelberg 1991, S. 3. Siehe: Frank Zipfel, „Hyperfiction, Adventures und MUDs – Neue Formen literarischer Fiktion?“, in: Axel Dunker, Frank Zipfel (Hg.), Literatur@Internet, Bielefeld 2006, S. 36–39. Nicole Mahne, „Zeitgestaltung im digitalen Erzählraum“, in: Yvonne Gächter (et al.) (Hg.), Erzählen – Reflexionen im Zeitalter der Digitalisierung, Innsbruck 2008, S. 238. Siehe: Ryan, Narrative as Virtual Reality, S. 205. Murray, Hamlet on the Holodeck, S. 126. Brenda Laurel, Computers as Theatre, Reading (MA) et.al. 1993, S. 20. Ein Beispiel für eine ehemals als Randerscheinung abgetane spielerische Erzählung vor der digitalen Ära sind die sog. Pen & Paper Rollenspiele. Diese komplexen Spiele beinhalten eine Hintergrundgeschichte, die von einem Spielleiter unter Einhaltung eines umfangreichen Regelwerks vermittelt wird. Die Spieler haben innerhalb der so geschaffenen Spielsphäre die Möglichkeit, ihre individuellen Erzählungen aktiv mitzugestalten und zu erleben. Dieses Gesellschaftsspiel lebt in den digitalen Rollenspielen weiter, in denen die Spielleitung vom Computer übernommen wird.

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bahnbrechend wirkende Neuerungen mit der Zeit abzuflachen pflegen.50 Tatsächlich neigen wir dazu, uns im Zeitalter des raschen technischen Fortschritts mit täglich neuen Gadgets und Apps schnell an die wechselnden, vorbeihuschenden Medienkonventionen anzupassen. Überwältigende Neuerungen behalten also ihren beeindruckenden Status nicht lange und aus Avantgarde wird bald Gewohnheit oder sogar Trend. Das führt natürlich zu einem Teufelskreis, wie man mit Umberto Eco formulieren kann: „Heute ist es die Avantgardekultur, die, in Reaktion auf die und als Komplizin der Massenkultur, einzelne Stilmittel dem Kitsch entlehnt. […] eine Rache der Avantgarde am Kitsch und gleichzeitig eine Lektion der Avantgarde für den Kitsch […]“51

Avantgarde – bzw. die Kunst überhaupt – reagiert also ihrerseits auf die Trends der Populärkultur, hebt Elemente heraus, formt um, betont, kontextualisiert neu und macht aufmerksam. Ihre Errungenschaften, Ideen und Neuerungen fließen dann wieder in den Konventionspool der Massenkultur – ein ewiger Kreislauf. Dabei entschärfen sich vermeintliche Brüche – also Erscheinungen, die im ersten Moment als Bruch wirken mögen – im Laufe der Medienentwicklung und machen ihre Wurzeln und ihre Vorgeschichten sichtbar. Es gibt also keinen Coup d’Etat: Die Entwicklung in jedem Bereich der Kultur ist eine ständig fortschreitende Evolution. Aus diesem Grund habe ich auch die Begriffe Paradigma und vor allem Paradigmenwechsel vermieden, denn Paradigma hat immer eine Konnotation von dogmatischen, aber zumindest kanonisierten Ansichten und Paradigmenwechsel impliziert eine Revolution, einen Umsturz. Die digitale Erzählung entwickelt sich heute (zum Glück) in einem so hohen Tempo, dass einfach keine Zeit bleibt, einen Kanon aufzustellen oder gar festgefahrene Lehrmeinungen zu formulieren. Vermeintliche Paradigmen oszillieren und verändern sich so schnell, dass als einzige Konstante die sich immer wiederholende Einführung und Assimilation von Neuerungen bleibt, womit eigentlich nichts anderes beschrieben wäre, als die erwähnte, progressive Evolution.

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Themenschwerpunkt 2: Von Brüchen und Versuchen, diese zu überwinden: Literarische Schreibstrategien im Kontext von Migration

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Risse und Kontinuität im literarischen Werdegang von Migrierenden: Denotative und konnotative Wandlungen um die Ortschaft Uspallata in drei Etappen von Juan Rodolfo Wilcocks Werk „To make sense of historical movement, we need more than mere succession and more than mere ruptures. […] Temporality acts through several layers, each possessing its own rhythm, each contributing in its own way to the shape of history. History, and I add literary history, needs a tectonics.“ Thomas G. Pavel1

MigrantInnen bewegen sich auf besondere Weise im Raum, in Sprachen und in Kulturen, was Traumata mit sich bringen kann. Für migrierende SchriftstellerInnen kommen die folgenden Faktoren hinzu: Fast notgedrungen bewegen sie sich sowohl zwischen literarischen Traditionen, die von bestimmten Themen und Gattungen geprägt sind, als auch zwischen materiellen Strukturen, wie denjenigen, die das Leben kultureller Kreise und kleinerer literarischer Gruppierungen sichern, und den Literaturzeitschriften und Verlagen. Obwohl auch Autoren und Autorinnen mit festem Wohnsitz durch Kulturen wandeln, ist daher zu erwarten, dass migrierende SchriftstellerInnen sich stärker als ihre fester verankerten KollegInnen die Frage stellen, wie sie sich in den genannten Situationen bewegen können und wollen. Im Folgenden wird geprüft, wie sich die Entwicklung des Schaffens von Juan Rodolfo Wilcock, eines Autors, der von einer Sprache und Kultur zu einer andern wechselte, in seiner literarischen Darstellung von Räumen niederschlägt. Zuerst wird dargestellt, wie in verschiedenen Schaffensperioden die gleichen oder vergleichbare Räume und Gegenden dargestellt werden und welcher Wert ihnen zukommt. In diesem ersten Schritt werden die ausgewählten Werke einzeln und, soweit möglich, nach einem textimmanenten Verfahren analysiert. Dieser textimmanenten und separaten Darstellung folgt der Versuch, dem Sinn der Wandlungen der Erscheinungsformen der Räume und Gegenden nachzuspüren. Um die dynamische Dimension von Wilcocks Schaffen aufzuzeigen, werden die 1 Thomas G. Pavel, „Narrative tectonics“, in: Poetics Today, 11 / 2, Sommer (1990), S. 354. Alle Übersetzungen aus dem Französischen, Spanischen und Portugiesischen stammen vom Verfasser.

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Auffassung der Mehrschichtigkeit der Geschichte des Historikers Fernand Braudel und das Modell der Tektonik des Literaturwissenschaftlers Thomas Pavel herangezogen, deren hierfür relevante theoretische Ansätze nach der Darlegung der Ergebnisse der Textanalysen kurz dargestellt werden. Juan Rodolfo Wilcocks literarische Entwicklung zeichnet sich durch prägnante Einschnitte in drei Bereichen aus: in der Gattung – vom Gedicht zu verschiedenen Prosagattungen; in der Sprache – vom Spanischen zum Italienischen; und im Ort – von Buenos Aires nach Lubriano, in der Nähe von Rom. Als roter Faden, der sich in den verschiedenen Werketappen unterschiedlich explizit zeigt, wird hier die in seinen Werken wiederholt vorkommende Ortsbezeichnung des Andendorfes Uspallata ausgewählt. Es wird analysiert, wie es in den einzelnen Werken beschrieben wird, welche Handlungen mit ihm explizit in Verbindung gebracht werden und durch welche Eigenschaften das so entstandene literarische Bild der Ortschaft gekennzeichnet ist. Am Ende der Analyse wird sich zeigen, dass motivische Veränderungen in Werken von SchriftstellerInnen mit Migrationshintergrund am besten durch den Rückgriff auf flüssigere Begriffe als den Ausdruck Bruch erfasst werden können: Risse, Verwerfungen, Kräuselungen und Falten können ein dynamischeres Bild der sprachlichen und motivischen Entwicklung eines Autors oder einer Autorin geben. Obwohl nicht auf landeskundliche Recherchen über das kleine Dorf in den Anden verzichtet wurde, wird versucht, die Denotationen, die Konnotationen und die Bedeutung der literarischen Erscheinungen dieses Ortes und deren Wandlung über drei Etappen des Schaffens des Autors möglichst textimmanent zu analysieren2. Am Ende werden Veränderungen in den Denotationen und Konnotationen der Texte als Bewegungen und Reibungserscheinungen zwischen den Schichten des Schaffens von Wilcock im Sinne des Eingangszitats aus Pavel herausgearbeitet, und dadurch wird deutlich werden, welche Rolle die Barbarei in Wilcocks Gedankenwelt einnimmt.

2 Informationen über die Gegend um Uspallata und über ihre literarische und bildliche Darstellung liefert Pablo Lacoste, El ferrocarril trasandino y el desarrollo de los Andes Centrales argentino chilenos, Santiago de Chile 2000. Die Gegend war bekannt für die Schönheit der durch fließendes Wasser und Trauerweiden gekennzeichneten Landschaft, für die thermalen Quellen und für die architektonischen Überreste der Routen der Inkas. Eine auf ungefähr 2700 Metern Seehöhe gelegene natürliche Brücke über den Fluss Las cuevas, die den Namen El puente del Inca trägt, ist durch das darunter fließende, schwefelhaltige Wasser gelblich gefärbt. Von dort kann man das imposante Panorama des Aconcagua-Gebirges bewundern, das oft von Wolken umgeben ist. Der Name Uspallata stammt angeblich aus der Quechua-Sprache und soll dort „Erde aus Asche“ bedeuten. Vgl. Francisco Solano Asta-Buruaga y Cienfuegos (Hg.), Diccionario Geogr#fico de la Repfflblica de Chile, Santiago de Chile 1899, Artikel Uspallata, S. 856. Man kann behaupten, dass die Gegend idyllische Züge – Bäche, Trauerweiden und Therme – mit Ungeheuerlichem – gewaltigen oder ungewöhnlichen Naturerscheinungen – vereint.

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Wilcocks Lebenslauf und Werk Juan Rodolfo Wilcock wurde 1919 in Buenos Aires geboren, als Sohn eines britischen Ingenieurs und einer Argentinierin, deren Familie aus dem Tessin stammte. Seine Jugendjahre verbrachte er zum Teil in Europa: in England und in der Schweiz. Nach Argentinien zurückgekehrt, studierte er Bauwesen in der Hauptstadt am R&o de la Plata; später, zwischen 1942 und 1944, war er bei der Wiederherstellung der Anden-Eisenbahnen in Mendoza tätig. Die Stadt ist im Inneren des Landes am Fuße der Anden gelegen, und in ihrer Nähe befindet sich die erwähnte Ortschaft Uspallata. Wilcock begann seine literarische Laufbahn als Lyriker im Jahre 19403 ; parallel dazu gab er zwei Zeitschriften selbstständig heraus4 und wirkte bei anderen mit. Ab Mitte der 1940er Jahre begann er auch, kurze Prosaschriften zu verfassen. Nach der freiwilligen Kündigung der Stelle als Ingenieur im Jahre 1945 lebte er von Übersetzungen aus dem Englischen, dem Italienischen, dem Französischen und dem Deutschen anfänglich ins Spanische und später ins Italienische; er übersetzte sowohl Gedichte als auch Romane und Novellen. Unter den von ihm übersetzten Autoren sind Schriftsteller zu erwähnen, die mit Sprache auf verschiedene Weisen experimentiert haben, wie Franz Kafka, Thomas Stearns Eliot, Flann O’Brian, James Joyce, Samuel Beckett und Christopher Marlowe. Nachdem er sich oft in Europa aufgehalten hatte, übersiedelte er im Jahre 1957 endgültig nach Italien, zuerst nach Rom und später nach Lubriano, in der Provinz Viterbo. Seine kreative Tätigkeit erfuhr eine Akzentverschiebung, was die von ihm bevorzugte literarische Gattung betrifft, weg von der Poesie hin zu Prosa und Theater ; sprachlich begann er, zwischen Spanisch und Italienisch zu pendeln5. Er erfand Autoren und erfolgreiche Theaterstücke: So lassen der fiktive Regisseur Llorenc Riber und seine ebenso fiktive Inszenierung der Philosophischen Untersuchungen von Ludwig Wittgenstein Wilcocks gattungsüberschreitende Interessen und Schreibweisen zu Tage treten. Seine facettenreiche Tätigkeit ist auch durch die Teilnahme an den Dreharbeiten von 3 Er publizierte folgende Gedichtbände: Libro de poemas y canciones, Buenos Aires: Sudamericana 1940; Ensayos de poes&a l&rica, Buenos Aires 1945; Persecucijn de las musas menores, Buenos Aires 1945; Paseo sentiruantal, Buenos Aires 1946; Los hermosos d&as, Buenos Aires 1946; Sexto, Buenos Aires 1953. 4 Von Verde memoria kamen insgesamt vier Hefte im Jahre 1942 heraus, von Disco zehn zwischen November 1945 und Juni 1947. 5 Erzählerische Texte: Il caos, Mailand 1960; Fatti inquietanti, Mailand 1960; Il tempio etrusco, Mailand: 1973; La sinagoga degli iconoclasti, Mailand: Adelphi 1972; Lo stereoscopio dei solitari, Mailand 1972; Frau Teleprocu, Mailand 1976; I due allegri indiani, Mailand 1971; L’ingegnere, Mailand 1975. Die Gedichtbände in italienischer Sprache nebst einer Auswahl von Selbstübersetzungen aus den spanischen Sammlungen sind in Poesie zusammengefasst. Gemeinsam mit Silvina Ocampo verfasste Wilcock das Theaterstück Los traidores, Buenos Aires 1956, dem die auf Italienisch verfassten Sammlungen Teatro in prosa e in versi, Mailand 1962 und L’abominevole donna delle nevi e altre commedie, Mailand 1982 folgten.

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Pier Paolo Pasolinis Film Il Vangelo Secondo Matteo in der Rolle des Kaifas im Jahre 1964 dokumentiert. Wilcock starb im Jahre 1978 an einem Herzinfarkt in seinem Landhaus in Lubriano6.

Dreimal Uspallata – drei Sondierungen Die Anfänge: Neoromantik mit seltsamen Erscheinungen Wie schon erwähnt, stößt der Leser von Wilcocks Texten mehrmals auf den Ortsnamen Uspallata. Erstmals kommt er im Gedichtband Persecucijn de las musas menores7 aus dem Jahre 1945 vor. Das Buch enthält Zeichnungen von Silvia Garc&a Victorica, einer Fotografin und Grafikerin8 : Da es im Folgenden darum geht, die sprachliche Darstellungsweise einer Ortschaft in einem literarischen Werk zu verfolgen, ist es sinnvoll, nach einer kurzen Beschreibung der Struktur des Bandes die erwähnten Zeichnungen genauer zu betrachten, um zu prüfen, ob sie nützliche Elemente zur Interpretation der Bedeutung der Präsenz von Uspallata im Gedichtband liefern. Aus dem vorangestellten Inhaltsverzeichnis ist zu entnehmen, dass der Band in drei Sektionen unterteilt ist, die durch eine im Verhältnis zu den restlichen Gedichten ziemlich lange Dedicatoria (Widmung[sgedicht]) eingeführt sind. Die erste Sektion des Bandes trägt den Titel Sonetos para una misma persona (Sonette für eine einzige Person) und enthält sechs Sonette; die zweite zählt 25 Gedichte unterschiedlicher Gattung, die unter dem Titel Las despedidas y otros poemas (Die Abschiede und andere Gedichte) versammelt sind; die letzte trägt 6 Für nähere Informationen zur Biographie, Bibliographie und literarischen Produktion von Rodolfo Wilcock verweise ich auf Roberto Deidier (Hrsg.), Segnali sul nulla. Studi e testimonianze per Juan Rodolfo Wilcock, Rom 2002. 7 Die Übersetzung des Titels ist problematisch aus syntaktischen und semantischen Gründen. Im Original kann der Genitiv sowohl als subjektiv als auch als objektiv interpretiert werden, sodass die Übersetzung entweder „Die Verfolgung der niedrigeren Musen“ oder „Die Verfolgung durch die niedrigeren Musen“ lauten könnte. Was die semantische Seite anbelangt, kann „menor“ sowohl mit „niedrig“ als auch mit „nicht bedeutsam“ oder „tiefer eingestuft“ wiedergegeben werden. 8 Genaue Informationen über die Künstlerin konnten nicht zutage gefördert werden: Da weder die Urheberrechte für ihre Zeichnungen erhoben werden konnten noch explizite Angaben zum Zweck der Bilder im Band gemacht werden, muss man sich mit einer detaillierten Analyse der Bilder abfinden. Es sei darauf hingewiesen, dass die Bilder in dem Band als ilustraciones – Illustrationen – bezeichnet werden: Der Terminus steht allgemein für Bild und verweist nicht auf besondere Verfahren wie zum Beispiel grabados – Kupferstiche –; außerdem kann er auch auf die Handlung des Erklärens durch Beispiele hinweisen. Die hier erfolgenden Beschreibungen erfüllen daher den Zweck, die potentiellen erklärenden Momente, die in den Bildern stecken, zu verdeutlichen.

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nach einer programmatischen hybriden Form insgesamt 16 Canciones en diverso estilo (Gedichte in unterschiedlichem Stil) zusammen. Schon einige Titel der Gedichte wie Despedidas (Abschiede), Le Revenant (Das Gespenst), Separacijn (Trennung), El Retorno (Die Wiederkehr) oder El Paseo (Der Spaziergang) verweisen auf Bewegungen, so dass der Leser zu einem Nachdenken über den Raum eingeladen wird. Wenn man das Buch durchblättert, stößt man auf die vier Zeichnungen von Garc&a Victorica, die in ziemlich regelmäßigen Abständen auf nicht nummerierte Seiten verteilt sind9. Die erste Grafik zeigt im Vordergrund einen freien Platz aus nackter Erde und dahinter im Mittelfeld ein Gittertor, vermutlich aus Schmiedeeisen, dessen Stäbe in ein zugespitztes, dünnes Blatt auslaufen; seine Funktion scheint durch das Fehlen eines Zaunes an den beiden Seiten des Tores, durch einen nur angedeuteten Pfad hinter dem Gittertor und durch eine überwuchernde, aus Palmen, Farnen und Schilf bestehende Pflanzenwelt in Frage gestellt zu sein. Wo beim ersten Blick ein Garten zu vermuten war, befindet sich eine Art Ruine: Die wilde Vegetation hat das, was sie von der Zivilisation trennen sollte, fast zur Gänze überwuchert10. Naheliegend ist es daher, von einer Art zwangsläufiger Reintegration der Kultur in die wilde Natur zu sprechen11. Es sei hinzugefügt, dass es nicht klar ist, ob der Standpunkt des Betrachters innerhalb oder außerhalb der ehemaligen Einfriedung liegt, was einen noch beunruhigenderen Eindruck hervorruft. Auf der Seite daneben, mit dem soeben be9 Die Bilder stehen zwischen den Seiten 18–19, 28–29, 44–45 und 64–65. Sie sind in schwarzweiß auf demselben Papier gedruckt wie die reinen Textseiten. 10 Die modernistische Erbschaft des Sinnbildes des verlassenen Gartens unterstreicht Carmen Alemany Bay ; als Motive in Wilcocks Schaffen erwähnt sie jardines desolados (verlassene Gärten) und lluvia (Regen), neben hojas secas (trockene Blätter), esp&ritu triste (trauriger Geist), sueÇo (Traum), paisajes viejos y melancjlicos (alte, melancholische Landschaften), pr&ncipes (Prinzen), ciudades damascadas (Städte aus Damask) und personajes mitoljgicos (mythologische Personen). Vgl. Carmen Alemany Bay, „Juan Rodolfo Wilcock: historia (no solo po8tica) de un argentino italianizado“, in: Arrabal 2–3 (2000), S. 111–120, hier S. 113. Für eine reich dokumentierte Darstellung des Gartens in der bildenden Kunst in allen seinen Formen und allen Epochen siehe Impelluso Lucia, Giardini, orti e labirinti, Milano 2005. 11 Hans von Trotha (Gartenkunst. Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, Berlin 2012, S. 9–10) unterstreicht die gemeinsame etymologische Wurzel von Garten, hortus und Paradies; es sind Begriffe, die in den jeweiligen Sprachen dem Oberbegriff „Gehege“ zuzuordnen sind: Wenn diese gemeinsamen Wurzeln mit der historischen Bemerkung ergänzt werden, dass – wie in Impelluso Lucia, Giardini, orti e labirinti, Milano 2005, passim, nahegelegt wird – der Garten auch Nutzgarten war, weil er wie eine „zweite Anrichte“ dem Anbau verschiedener Gemüsesorten diente, dann bekommt, allgemein gesprochen, die Auflösung eines Gartens eine lebensweltliche Relevanz für den Menschen: Seine Auflösung ist auch die Zerstörung der materiellen Basis des menschlichen Lebens, und die oben erwähnte Reintegration in die Natur nimmt daher die Farbe der Vernichtung der menschlichen Welt an. Von Trotha hebt auch hervor, dass jenseits der Mauern des Hortus conclusus die heillose Welt herrsche (Gartenkunst. Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, Berlin 2012, S. 28), so dass die Natur zum Raum des Heidentums wird.

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schriebenen Bild vor den Augen, liest man das Sonett La isla12 (Die Insel); es führt folgende Elemente vor Augen: eine einsame Platane, eine häufig besuchte Insel, Wasser, Eier einer Kröte und ein Liebesgelübde im Schlamm. Schon in der Wortwahl ist eine Spannung zu spüren: El pl#tano kann sowohl ein Bananenbaum als auch eine Platane sein. Während die erste Bedeutung auf die südamerikanische Lebenswelt hindeutet, könnte die letztere auf einen der Loci amoeni in der Antike anspielen: Unter einer Platane unfern von Athen setzten sich Sokrates und Phaidros im gleichnamigen platonischen Dialog nieder, um gemütlich unter freiem Himmel und bei sanft plätschernden Gewässern zu philosophieren13. Im Gedicht wird die Erhabenheit durch die Erwähnung des Kaulquappenlaichs und des Schlammes gestört. Die Kaulquappen sind Lebewesen, die sich vorwiegend im klaren, stauenden Wasser aus dem Laich entwickeln und sich schwerlich in einem fließenden Bächlein, wie in der platonischen Szenerie, entwickeln können. Außerdem wird ausdrücklich die Tierart erwähnt: Die Tierchen werden sich nicht zu ranas (Frösche) entwickeln, sondern zu sapos (Kröten), d. h. nicht zur niedlichen Tierart, in die – in den hispanischen wie in anderen Sprachen und Kulturen – üblicherweise die Prinzen verwandelt werden, sondern zum hässlicheren Verwandten. Und zum Schluss wird das Liebesgelübde nicht in den Sand geschrieben, sondern in den Schlamm14. Die beschriebene Natur zeigt unheimliche Züge, die auf das Eindringen von unerwünschten Elementen auf die isla verde y frecuentada, auf die häufig besuchte grüne Insel, hinweisen. Die zweite Zeichnung stellt eine Lichtung oder einen sich schlängelnden Pfad in einem Wald dar, dessen Bäume einem Europäer nur durch die leicht gewundene Linie der Stämme fremdartig erscheinen mögen, so dass eine angenehme Biegsamkeit an die Stelle des fremdartigen Zusammenhangs des ersten Bildes tritt15. Hier findet sich vielleicht eine weitere, weniger bedrohliche Anspielung 12 La isla, V. 7 und V. 10, S. 19. 13 Vgl. Platon, Phaidros, 230, b-c. Man erinnere sich, dass es im Dialog um die Schönheit und um die Liebe geht und dass Phaidros Sokrates sozusagen aus der Stadt lockt, wo er zu diskutieren pflegt. In den einführenden Zeilen des Dialogs wird der Mythos von Oreithyia kurz besprochen: Die Entführung der Magd durch den Nordwind Boreas wird als mythische Interpretation des konkreten Absturzes eines Mädchens durch einen Windstoß dargestellt. Im erwähnten Dialog scheint eine Spannung zwischen Urbanität und wilder Natur enthalten zu sein. Dies ist nur eine assoziative Gedankenkette, die aber durch die Berühmtheit der Stelle und durch die Stimmung des Gedichtbandes von Wilcock gerechtfertigt ist. 14 „La narracijn de mundos degradados y trastornados“ („Die Erzählung degradierter und durcheinandergebrachter Welten“), behauptet Carolina Su#rez Hern#n, sei typisch für die Prosa in italienischer Sprache von Wilcock: Diese Bemerkung kann auf die spanischen Gedichte erweitert werden. Vgl. Su#rez Hern#n, Carolina „Juan Rodolfo Wilcock: un ejemplo de transculturacijn y marginalidad en la literatura argentina e italiana“, in: Extrav&o. Revista electrjnica de literatura comparada 5, S. 80. 15 Über die mögliche Bedeutung gewundener Linien in der Gartenkunst siehe Birgit Wagner,

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auf die freie Entfaltung der Natur im Gegensatz zu den zähmenden, geometrisch ausgeführten Beherrschungsversuchen durch den Menschen, die durch die eisernen Gitterstäbe versinnbildlicht sein könnten. Das Bild ist nach einem Gedicht zu sehen, das aus sechs Sestinen besteht und eine unglückliche Liebe unter dem Titel La tumba de Leandro – das Grabmal des Leander – besingt. Hier fügt sich die Landschaft wirklich in den mythologischen Inhalt: Die Kulisse der abgebrochenen Liebesgeschichte sind Wellen (2. Str., V. 12), die Brandung schlägt auf die gegenüberliegenden Ufer des Hellespont (4. Str., V. 24.), Gewässer sorgen für das Vergessen (5. Str., V. 26), der Sand bildet den Hintergrund eines dunklen Meeres (6. Str., V. 31). Auch hier werden nochmals Platanen (2. Str., V. 8) erwähnt: Dass der Baum in eine klassizistische Szenerie gehört, und nicht in einem Regenwald oder in den Tropen anzusiedeln ist, wird durch die Erwähnung des Lorbeers (5. Str., V. 28) bekräftigt. Die dritte Zeichnung weckt wieder unheimliche Gefühle: Ein Haus, von dem fast nur ungewöhnlich verlaufende, teilweise steil und teilweise sanft herabfallende Dachwalme zu sehen sind, wird durch eine verschwommen umrissene Vegetation fast verschlungen. Links oben ist eine viereckige Öffnung unter einem Dachfirst von einer Schattierung umgeben, die den Eindruck eines Fensters, aus dem eine dicke Rauchwolke herausqualmt, vermittelt. Die Gefahr ist nicht nur draußen, wie im ersten Bild, in dem man das Ergebnis des Angriffs der Natur auf den Garten und dessen Strukturen erblicken konnte, sondern auch drinnen: In den Räumen tobt das Feuer. Bei näherer Betrachtung der Zeichnung fällt eine im Vordergrund unter dem eben beschriebenen Fenster stehende Amphora auf, die zwecklos erscheint, während ein Baum in der Mitte des Bildes herausragt, sodass er den Raum herrisch in zwei Teile trennt. Neben dem Baum kann man eine Spur auf dem Boden erblicken, aber auf dem Bild sieht man keine Tür ; falls die Spur ein Pfad wäre, würde sie zu keiner Eingangstür führen oder der Weg dorthin wäre sehr gewunden. Im daneben stehenden Gedicht Memorabilia liest man von einem Haus, dessen erinnerungswürdige Pflanzen der Wanderer nicht wahrnehmen kann, weil sie nicht mehr da sind, wo sie einst wuchsen, als das lyrische Ich vor dem Kamin Leandro16 eine Art Opfergabe darbrachte17. Die Gärten und Utopien. Natur- und Glücksvorstellungen in der französischen Spätaufklärung, Wien, Köln, Graz 1985, S. 47–50. 16 Leander und Hero sind zwei Gestalten aus der griechischen Mythologie. Hero war eine Aphrodite-Priesterin in Sestos, einer Stadt an der Meerenge Hellespont. Ihr Geliebter Leander aus Abydos, einer Stadt am gegenüberliegenden Ufer, durchschwamm allnächtlich die relativ kurze aber stürmische Meerstrecke, um sich mit ihr zu vereinen. Als Wegweiser pflegte Hero eine Lampe am Ufer aufzustellen. Eines Nachts aber erlosch diese in einem Sturm, sodass Leander sich verirrte und ertrank. Am darauffolgenden Morgen entdeckte Hero den leblosen Körper des Geliebten und stürzte sich von einer Klippe in den Tod. 17 Marcela Raggio hebt hervor, dass man bei Wilcock eine Aufwertung der Naturlandschaft im Vergleich zur ländlichen agrarisch umgeformten („rural“) Landschaft erkennen kann (S. 51).

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Zeichnung und das Gedicht bilden ein Gemälde mit zwei Tafeln: Die erste – die Zeichnung – könnte unheimliche Opfergaben an Leandro darstellen, die zweite – das Gedicht – die Erinnerung an jene Zeiten. Die letzte Zeichnung zeigt einen kleinen Bau in klassizistischem Stil, der aus einem breiten Becken besteht, auf dem ein kleines Podest steht, das auch ein zweites Becken sein könnte; im Hintergrund auf der Höhe des breiteren Beckens sieht man eine Nische, die von einer tempelähnlichen Struktur umrahmt ist. Der Bau ist von schlanken Pflanzen umgeben, deren Äste wieder gewundene Linien wie in der zweiten Zeichnung malen. Der Zweck der Konstruktion ist nicht klar : Das gesamte Gebäude könnte ein Brunnen mit einem aus der Nische hervorquellenden Wasserstrahl sein. Das zweite Becken könnte auch ein Grabmal sein, das auf einem beckenförmigen Podest steht und von einer tempelähnlichen Konstruktion geziert ist. Die durch das Bild hervorgerufene erhabene Stimmung wird durch das Gedicht Jard&n de Horacio – Garten des Horacio – mitgetragen. Das lyrische Ich lädt den Leser ein, die Augen zu schließen: Als unmittelbare Folge wird Wasser, das mit dem Geräusch eines Diamanten auf Onyx fällt, hörbar. Eine Rose verliert nach und nach ihre Blätter. Morgen wird das Ereignis dem Vergessen anheimfallen: wie ein Traum, könnte man vervollständigen18. Insgesamt zeichnen die kommentierten Zeichnungen und die daneben gedruckten Texte ein Umfeld, das durch die folgenden Eckpunkte abgesteckt scheint: Wucherung der Natur, Biegsamkeit der Pflanzenwelt und Befremdung des Lesers durch unheimliche Erscheinungen. Nach der Einleitung in die Gedankenwelt der Persecucijn durch die Bilder des Bandes gehen wir auf die Dedicatoria über, deren Bedeutsamkeit durch die nur für dieses Gedicht gebrauchte Kursivschrift hervorgehoben wird: Los dioscuros su el&seo laberinto prosiguen con fervor siempre distinto; y nosotros como ellos recorremos, por un amor unidos, los extremos variados de las tierras sublunares imaginando en torno otros lugares, donde multiplicado te agradezco el inmjvil placer que no merezco de tus ojos oscuros y perdidos, de los versos de Heine repetidos. In ihrer Analyse späterer Gedichtbände bemerkt sie, dass die Stadt in einem Spannungsfeld zwischen Idealität und Realität der Natur weicht. Eine ähnliche Spannung ist auch im Gedicht Memorabilia zu spüren: Das Haus und der Garten stellen einen zweipoligen Mikrokosmos dar, wobei das Haus für die Stadt und der Garten für die gepflegte und gebändigte Natur steht. Vgl. Raggio, Marcela, „La poes&a del ’40 revisitada hoy : im#genes y pre-visiones del espacio urbano en textos de Rodolfo Wilcock“, in: Cuadernos del CILHA 11 / 12 (2010), S. 53–54. 18 Juan Rodolfo Wilcock, Persecucijn de las musas menores, Buenos Aires 1945, S. 65.

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Yo comenc8 a vivir en tu memoria, y ser yo mismo en ella es mi victoria; un d&a somos uno, y otro d&a separamos en dos nuestra alegr&a, y a veces somos todos los paisajes que otros hombres soÇaron en sus viajes; al hablarnos sabemos el sentido que yace en el silencio permitido y en los jardines siempre deseamos las mismas flores y los mismos ramos.19

Was die Form anbelangt, zeichnet sich das Widmungsgedicht durch Regelmäßigkeiten sowohl im Reimgerüst als auch im Versmaß aus. Alle Verse sind Elfsilber, und die Reime sind durchgehend gepaart. Wenn man auf der Schwelle zwischen Form und Inhalt verweilt, kann man feststellen, dass sogenannte einfache Reime neben schwierigeren Reimen stehen: zu ersteren zählen agradezco / merezco, perdidos / repetidos, sentido/ permitido (alles morphologisch ähnliche Verbformen) und zu letzteren laberinto (Substantiv) / distinto (Adjektiv), recorremos (Verb im Indikativ) / extremos (Adjektiv), sublunares (Adjektiv) / lugares (Substantiv), deseamos (Verb) / ramos (Substantiv). Einfachere Reime sind memoria (Substantiv) / victoria (Substantiv), d&a (Substantiv) / alegr&a (Substantiv), paisajes (Substantiv) / viajes (Substantiv). An der Schnittstelle zwischen Syntax und Bedeutung liegt ein Enjambement vom Vers 13 zum Vers 14, das umso kruder wirkt, weil es in eine anaphorische Struktur eingreift (un d&a … otro d&a). Geht man definitiv zum Inhalt über, lässt sich bestätigen, dass die Orte schon dadurch eine herausragende Rolle spielen, dass sie in Reimwörtern vorkommen: Labyrinth (laberinto), Sublunar (sublunares), Orte (lugares), Landschaft (paisajes). Hinzufügen lassen sich Wörter, die mit Landschaft zu tun haben: Am Versende die Äste (ramos) und, innerhalb der Verse, Gärten (jardines) und Blumen (flores). Liest man das Gedicht weiter, lässt sich die Liste durch folgende Wörter ergänzen: Palmen (palmas), Freesien (fresias), Lorbeeren (laureles), Kirchen (iglesias), Mausoleum (mausoleo) am 19 Da sind sie, die Dioskuren, mit immer neuer Inbrunst,/ in ihrem Elysium-Irrgarten; / ihnen gleich, in einer einzigen Liebe vereint / schreiten wir immer wieder die unterschiedlichen Grenzen / der Gefilde unterhalb des Mondes ab / und denken uns umgeben von anderen Orten, wo ich dir stets aufs Neue / für den reglosen Liebreiz, den ich nicht verdiene, / deiner dunklen, verlorenen Augen / und der unermüdlichen Heine-Verse danke. / Ich fing an, in deinem Gedächtnis zu leben, /und in ihm ich selber zu sein, das ist mein Sieg; / an einem Tag sind wir eins, und an einem anderen Tag / teilen wir unsere Fröhlichkeit in zwei Hälften, / und manchmal sind wir all die Landschaften, / von denen andere Menschen auf ihren Reisen träumten; / in unseren Gesprächen wissen wir um den Sinn, / der im gewährten Schweigen ruht / und in den Gärten ersehnen wir immerzu / das gleiche Blühen und die gleichen Äste. Wilcock, Persecucijn de las musas menores, Buenos Aires 1945, S. 11–12. Im Folgenden wird auf diese Ausgabe mit einfacher Seitenangabe hingewiesen.

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Versende, und Blumen (flores), Hyazinthen (jacintos), Rosen (rosas) im Versinneren. Die Themen des ersten Teils des Bandes bündeln sich im Konzept der Liebe zu einer Person, wobei das lyrische Ich nach gewohnten Bildern greift: Die Lippen der Geliebten sind rot und heiß wie die Flamme; die Baumstämme haben die Einritzung des Ich erfahren; die Stimme der Geliebten verfolgt das Ich; der Spiegel gibt Erinnerungsbilder wieder. Die mythologischen Anspielungen sind teilweise bewusst abgedroschen: Odysseus, Eneas, Circe, Daphne und Elena, was die klassische Mythologie anbelangt, Lancelot, Tristan, Orlando, was berühmte Figuren der Weltliteratur angeht. Der Stoff des mythischen Paares Hero und Leander, der als Figur für das Scheitern der Vereinigung der Liebenden inszeniert wird, ist zwar in der abendländischen Kultur präsent, obwohl nicht sehr oft in seiner vollen Länge thematisiert. Aber wichtiger ist zu bemerken, dass die genannten Figuren von fragwürdigen Statisten begleitet werden, die in einer mythologischen Landschaft vollkommen unerwartet vorkommen. Das lyrische Ich sieht ein geflügeltes Feuer an seinem Fenster vorbeiziehen, was an die Figur des Eneas gemahnt20, Gestrüpp (breÇa)21 kommt vor, Eier von Kröten und Schlamm bilden den Hintergrund einer Kindheitserinnerung22, und die ganze Landschaft, obwohl ein Gedicht ausdrücklich den Titel Jard&n de Horacio23 trägt, neigt manchmal dazu, die Stimmung des locus amoenus gegen jene eines locus horribilis zu vertauschen. Um die Spannung zwischen den zwei Polen hervorzuheben, seien im Folgenden auch die Requisiten der in dem Band vertretenen Landschaft aufgelistet: Neben allgemeinen Gattungsbezeichnungen wie Rasen (c8sped)24, Blattwerk (follaje)25, Blumen (flores)26, Äste (ramas)27, Blätter

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El prodigio del fuego – das Wunder des Feuers – , V. 5–8, S. 17. Del Yermo – Wildnis –, V. 10, S. 44. La isla – Die Insel – , V. 7 und 10, S. 19. Der Garten von Horacio, S. 65. Der Garten kommt auch in der zweiten und in der vierten Ode der Sektion El Joven Enamorado –Der verliebte Junge – vor: In der vierten Ode hat er eine überragende Bedeutung (vgl. den ersten Vers, der mit der Anrede „Oh jard&n de verde c8sped“ – „O Garten aus grünem Rasen“ – beginnt, V. 1, S. 77), in der zweiten Ode liest man „jardines que est#n llenos de jazmines“ – „Gärten, die voll von Jasmin sind“ (V. 7, S. 75) und „jard&n solitario“ – „einsamer Garten“ – (V. 10, S. 75). De las cumbres – Aus den Höhen –, „Jardines“ (V. 4, S. 35); El paseo – Spaziergang –, „Jard&n reconquistado“ – „Wieder eroberter Garten“ – (V. 9, S. 54); im Gedicht En la verja de un parque – „Im Tor eines Parkes“ (S. 43) erscheint der Garten in der größer angelegten Form des Parkes schon im Titel. 24 El Retorno – „Die Wiederkehr“, V. 11, S. 51; Lluvia nocturna -„Der nächtliche Regen“ – , V. 4, S. 26. 25 El Exiliado – „Der Exilierte“ –, V. 1, S. 20; A un Aylantus – „An einem Aylantus“ – , V. 1, S. 41. 26 Le Revenant – „das Gespenst“–, V. 8, S. 29 und V. 17, S. 30; El Estudiante – „Der Student“ –, V. 1, S. 60; El Poeta – „Der Dichter“ –, V. 2, S. 40; La Ofrenda – „Die Gabe“ – , V. 29, S. 38; Las Despedidas – „Die Abschiede“ –, V. 47, S. 25; El Joven Enamorado I – „Der verliebte Junge“ – , V. 5, S. 74; El Joven Enamorado IV, V. 9, S. 77; Cancijn de Werther – „Lied des Werthers“ –,

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(hojas)28, Bäume (#rbol)29 und gewöhnlichen Pflanzenarten wie Pappel (#lamos)30, Eukalyptus (eucaliptos)31, Tanne (grandes pinos), Platane (pl#tano)32, Weide (sauces)33, Lilie (azucena)34, Distel (cardos)35, Dahlie (dalias)36, Hyazinthe (jacinto)37, Jasmin (jazmines)38, Lorbeer (laurel)39, Japanisches Geißblatt (madreselvas)40, Ginster (retama)41, Rose (rosa)42, Efeu (verde hiedra)43, und Myrte (mirto)44 zählt zur Pflanzenwelt ein seltsames Geflecht (Enramada extraÇa)45 aus Palmen, wo Fledermäuse hausen46, aus asiatischen Pflanzen wie aylantus47, Aloe

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V. 7, S. 53; Del Yermo, V. 8, S. 44; El Martirio de Aleusis – „Der Martyrium von Aleusis“ –, V. 18, 56; A Heine – „An Heine“ –, V. 5, S. 36; Edad en flor – „Alter in der Blüte“ – V. 7, S. 51. V. 7 S. 70 Las ramas – „Die Äste“– (Titel) S. 61 dann V. 6, 8; Dedicatoria, V. 33 und 20 S. 12; El Joven Enamorado I, V. 1, S. 74; El Retorno, V.1, S. 51; El Martitio de Aleusis, V. 10, S. 55; El Joven Enamorado IV, V. 4, S. 77; „ramaje“ Le Revenant, V. 10 S. 29; El Paseo, V.1–2, S. 54. La Isla, V. 13, S. 19; Cancijn con Env&o – „Lied mit Sendung“ –, V. 16, S. 78; El Martirio de Aleusis, V. 22, S. 56; El Jard&n de Horacio V. 5, S. 65; A un Aylantus, V. 6, S. 41; El Paseo, „Hojas de las vides y en las uvas violetas“ V. 5, S. 54. A un Aylantus, V. 4, S. 41; El Joven Enamorado II, V. 12, S. 75; El Estudiante, V. 4, S. 60; Cancijn con Env&o, „]rboles“ V. 8, S. 78; Las Ramas, „]rboles verdes“ V. 3, S. 61. El Paseo, V. 10, S. 54. El Aniversario – „Das Jubiläum“ –, V. 7, S. 49; Cancijn, V. 2, S. 73. La Isla, V. 1, S. 19; La tumba de Leandro, V. 8, S. 27. Nubes y el Recuerdo – „Wolken und Erinnerung“ –, V. 1, 59; Cancijn, V. 2, S. 62. Cancijn con Env&o, V. 6, S. 78. Titel, S. 64 und V. 1 und 8. „Rosas jazmines“, V. 3–4, S. 33. La Tarde – „Der Abend“ – , V. 3, S. 69 Las Despedidas, „jacintos“ V. 4, S. 23. Lluvia Nocturna, V. 4, S. 26; Memorabilia, „jazmines“ und „rosa“ V. 2–3, S. 45. La Tumba de Leandro, „laurel y asfodelo“ V. 5, S. 27 und „laureles“, V. 28, S. 28. La Isla,V. 5, S. 19; Villanela, V. 9; 15; 19, S. 71–72 und „hierbas prado madreselvas“, V. 2–3, S. 71. La Tumba de Leandro, V. 2, S. 27. Jard&n de Horacio, V. 4, S. 65 in der Mehrzahl rosas: Cancijn con Env&o, V. 32, S. 79; Las Despedidas,V. 7, S. 23 und V. 29, S. 24. EL Retorno, V. 9, S. 51. Mit „jazm&n laurel – rosa guirlanda verde“ – „Jasmin, Lorbeer – Rose, grüner Kranz“ – V. 12–13, S. 49; „mirtos dorados“ – „goldne Myrthe“ –V. 7, S. 36; „mirto follaje“– „Myrtenblätter“ – V. 19, S. 24. La Ofrenda, „calandrias“ V. 12, S. 37. El Exiliado „palmas y murci8lagos“ V. 11, S. 20; Lluvia Nocturna, V. 2, S. 26; La Invocacijn – „Aufruf“ –, „palmeras“ V. 9, S. 31. Es sei darauf hingewiesen, dass eines der typischen Merkmale des locus amoenus das Vogelgezwitscher ist: Im Bild von Wilcock stehen Fledermäuse; ihr Schrei bleibt unerwähnt, doch gerade durch ihre lautlose Anwesenheit scheinen die fliegenden Säugetiere zu Boten des Unheimlichen zu werden. Für eine Darstellung dieses literarischen Topos siehe Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, besonders das Kapitel X, „Die Ideallandschaft“, S. 191–209. So fasst Curtius die wesentlichen Züge des angenehmen Ortes zusammen: „Sein Minimum an Ausstattung besteht aus einem Baum (oder mehreren Bäumen), einer Wiese und einem Quell oder Bach. Hinzutreten können Vogelgesang und Blumen. Die reichste Ausführung fügt noch Windhauch hinzu.“ S. 202. An anderer Stelle erwähnt Curtius auch Mischwald.

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(#loes)48, Luzerne (alfalfa)49 und auch eine in Südamerika einheimische Grassorte, yuyo50. Diese befremdenden Einsprengsel fügen sich gut in die ebenso befremdende Dimension des landschaftlichen Gegensatzpaares Berg-Ebene, das in der bukolischen oder arkadischen Landschaft der Antike selten war. Es ist Zeit, zu einem Gedicht des Bandes Persecucijn de las musas menores überzugehen, in dem eine Ortschaft, die nicht im Verhältnis zur klassischen Welt steht, erwähnt wird. Das Gedicht trägt den Titel Nubes y el recuerdo und die darin erwähnte Ortschaft ist Uspallata. Die eben hervorgehobenen befremdenden Einsprengsel, die den ganzen Gedichtband durchziehen, können auch aus diesem Gedicht herausgelesen werden; der besondere Stellenwert dieses Textes ist jedoch, dass es das einzige Gedicht ist, in dem eine konkrete Ortschaft vorkommt. Hier der Text: El agua entre los sauces en Uspallata de tarde, y en los cerros la nieve blanca. Nubes grises, azules, celestes, pasan por el azul del cielo, por las montaÇas. Y en la tierra llovida se oyen, lejanas, las voces del deseo, casi olvidadas.51

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Titel, S. 41, Lluvia nocturna, „aylantus“ V. 2, S. 26. La Ofrenda, „verdes jardines“, V. 13–14, S. 37. El Joven Enamorado II, V. 12, S. 76, El Paseo, „Alfalfa viÇedos“ V. 13, S. 54. La Tarde, V. 4, S. 69. „Das Wasser zwischen den Weiden // in Uspallata // am Nachmittag, und auf den Bergen // der weiße Schnee // Graue, tiefblaue, //hellblaue Wolken ziehen // An der Tiefbläue des Himmels, // an den Bergen vorbei // Und in durch Regen befeuchteter Erde // Hört man, weit entfernt, // Die fast vergessenen Stimmen der Begierde. In dem Gedichtband Poesie bietet der Autor eine Selbstübersetzung dieses Gedichtes, die wie folgt lautet: L’acqua tra i salici // a Uspallata // di sera, e sui monti // la neve bianca. // Nuvole grigie, azzurre, // celesti, passano, // per l’azzurro del cielo, // per le montagne. // E sulla terra bagnata // si odono, lontane, le voci del desiderio, // quasi dimenticate“. Juan Rodolfo Wilcock, Poesie, Mailand 1980, S. 220. In der Selbstübersetzung sind zwei Stellen hervorzuheben: Im Vers 6 wird ein Komma nach dem Prädikat passano hinzugefügt, so dass die zwei Ortsbestimmungen noch mehr hervorgehoben werden; die letzte Strophe verzeichnet ein allgemeineres bagnata (durchnässt) anstelle des genaueren llovida (vom Regnen durchnässt). Eine wortwörtliche Übersetzung wäre nicht möglich gewesen. Man kann daher vermuten, dass Wilcock an dieser Stelle dem Rhythmus Vorrang gegeben hat.

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Die erste Zeile des Gedichtes führt Wasser und eine Weide an, die als Trauerweide gedeutet werden kann, da im Gedichtband oft Regen, Weinen, Tränen und Sehnsucht, ganz im Einklang mit der mythologischen Liebesgeschichte von Hero und Leander, erwähnt werden. Doch eine für das spanische Ohr klanglich ungewöhnliche Ortsbezeichnung nimmt die ganze zweite Zeile ein: Uspallata, die am Anfang des vorliegenden Beitrags erwähnte Kleinstadt am Fuße der Anden in der Provinz Mendoza. Die klangliche Fügung USP erscheint im Spanischen nur in zwei Wörtern, die aber nicht von der iberischen Halbinsel stammen; cuspa („eine kleine Palmenart“, Venezuela) und puspo („blaß“, El Salvador). Das heißt, dass die Ortschaft für spanische Muttersprachler tout-court, die über keine Kenntnisse der argentinischen Geographie und Geschichte verfügen und dazu fern von den Gegenden leben, wo die zwei Ausdrücke verwendet werden, umso exotischer klingt. Da der Gedichtband von Anspielungen auf die griechische und lateinische Welt durchsetzt ist, und sich daher an ein europäisch-klassizistisch gebildetes Publikum wendet, hallt die erwähnte Klangfigur noch fremdartiger wieder. Die unmittelbar darauffolgende Zeitangabe des Nachmittags führt wieder zur gewohnten Stimmung eines locus amoenus: Es ist die Zeit der Ruhe, aber Wolken trüben die Horizontlinie. Am Schluss wird durch das unpersönliche se (man) ein Mensch gezeigt, der sich niederbeugt, um den fast vergessenen Stimmen der Begierde aus einer mit Wasser durchtränkten Erde zu lauschen. Die Geste lässt an das medizinische Abhorchen denken, und dadurch senkt sie die erhabene Stimmung des Auftaktes (des Himmels und der Trauerweide) auf eine örtlich und lebensweltlich niedriger liegende Ebene52. In weiteren Gedichten aus Persecucijn de las musas menores tauchen oft Berglandschaften und Wasser auf, die aber keine Ruhe gewähren. Einerseits wirken die Berggipfel Furcht einflößend durch ihre Höhe, und andererseits bedrohen die herunterstürzenden Gewässer die Sicherheit des Hinüberfahrenden. Am Ende dieser Annäherung an Uspallata53 durch die Persecucijn de las musas menores darf man folgendes feststellen: Zwischen den soeben beschriebenen Motiven, die an Arkadien und an die intimistische und melancholische argentinische Neoromantik der 1930er und 40er Jahre erinnern, scheinen auch

52 Deshalb der Vorschlag, deseo eher mit der sinnlicheren Begierde als mit Verlangen zu übersetzen. 53 Im auf Spanisch verfassten Gedichtband Sexto – „Sechster (Gedichtband)“ – ist ein Gedicht zu lesen, das mit „Uspallata“ betitelt ist. Das Gedicht wird in die erste in Italien herausgegebene Übersetzung von Wilcocks Gedichten aufgenommen, aber die andinische Stadt schrumpft in dieser Ausgabe auf ihren Anfangsbuchstaben zusammen. Wie schon erwähnt, findet in der Übersetzung einer Auswahl aus den spanischen Gedichten auch das schon detailliert analysierte Gedicht seinen Platz, was die Bedeutung der Ortschaft für die literarische Welt von Wilcock unterstreicht.

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unheimliche Aspekte in einigen Zeichnungen und zwischen den Versen auf, die auf tierische und tellurische Lebenswelten hindeuten54.

Eine Gruselgeschichte „Esa maÇana vi los glaciares inexplicablemente sucios y encontr8 en los rodados de arriba flores negras, las primeras que veo […]; la flor med&a cinco cent&metros m#s o menos pero apartando las piedras desenterr8 unos dos metros de tallo blando que se perd&a entre los cascotes como un cordjn negro y liso; pens8 que seguir&a as& unos cien metros m#s y me dio un poco de asco. Ciertas noches el cielo es todo negro y la nieve luminosa como si absorbiera la luz de la luna y la reflejara hacia arriba; el paisaje parece entonces un negativo del mundo y valdr&a la pena describirlo.“55 – so schließt die Kurzerzählung „Los donguis“, mit der Wilcock zehn Jahre später literarisch nach Uspallata zurückkehrt56. Hier der 54 Vgl. Llanera Alicia, Espacio y literatura en Hispanoam8rica, in: Navascu8s de Javier (Hg.), De Arcadia a Babel. Naturaleza y ciudad en la literatura hispanoamericana, Madrid 2002, S. 41–57, bes. S. 41–42. Die Literaturwissenschaftlerin betont die tiefgreifende Bedeutung der Andersartigkeit der südamerikanischen Landschaft für die Definition der Identität der SchriftstellerInnen aus Lateinamerika. Sie behauptet, dass Autoren wie Miguel ]ngel Asturias, Jos8 Maria Arguedas, oder auch Gabriel Garc&a Marquez, um nur die bekanntesten zu nennen, der Naturlandschaft in ihren Werken tendenziell positive Eigenschaften zuschreiben; wir können hinzufügen, dass die Landschaft bei Wilcock in eine Darstellungsweise eingezwängt scheint, die starke Reibungserscheinung zwischen den Bedeutungsschichten Natur und Kultur zu Tage fördert. Es sei aber erwähnt, dass der Gegensatz zwischen Zivilisation und Barbarei große Teile der argentinischen Kultur seit dem 19. Jahrhundert bestimmt: Um den kulturellen Hintergründen der Gedankenwelt von Wilcock auf die Spur zu kommen, sollte man, auf der essayistischen Seite, sowohl Domingo Faustino Sarmientos Facundo o civilizac&on y babarie en las pampas argentinas (1845) als auch Ezequiel Mart&nez Estradas Radiograf&a de la Pampa (1933) und auf der fiktiven Seite El Gaucho Martin Fierro und Vuelta de Martin Fierro von Jos8 Hern#ndez (1872 und 1879) konsultieren. Für die drei Texte sei auf die folgenden Ausgaben hingewiesen: Domingo Faustino Sarmiento, Facundo o civilizac&on y babarie en las pampas argentinas, Yahni Roberto (Hg.), Madrid 1993; Ezequiel Mart&nez Estrada, Radiograf&a de la Pampa (1933), Edicijn cr&tica, Leo Pollmann (Hg.), Madrid 1991, Jos8 Hern#ndez, Martin Fierro, Edic&on cr&tica, Lois Plida (Hg.), Madrid 2001. 55 „Heute Morgen sah ich die Gletscher unerklärlich schmutzig und stieß ich in den Schutt von oben auf schwarze Blumen, die ersten die ich sehe; […] die Blume maß ungefähr fünf Zentimeter, aber, nachdem ich einige Steine entfernt hatte, entdeckte ich einen weichen Stängel, der sich in den Schutt wie eine schwarze, abgenutzte Schnur verlor ; ich dachte, sie gehe ungefähr hundert Meter weiter, was mich anekelte. In manchen Nächten ist der Himmel ganz schwarz und der grell leuchtende Schnee gibt den Eindruck, als ob er das Mondlicht aufsaugen würde und es hinaufstrahle; die Landschaft erscheint daher wie ein Negativbild der Welt und es würde sich lohnen, sie zu beschreiben.“, „Los donguis“, in Wilcock, El caos, S. 170. 56 Die Erzählung wird 1955 in der uruguayischen Zeitschrift Nfflmero, 6/27, Dezember (1955), S. 133–121 veröffentlicht; im Jahr darauf erscheint eine Fassung, aus der die fiktiven Ele-

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Stoff: Ein Ingenieur berichtet über seine Leitungs- und Überwachungsarbeiten von Hotels in einer abgelegenen, sonderbaren und unwirtlichen Ortschaft in den Anden, die in der Nähe von Uspallata gelegen ist. Dieses Unternehmen hat einen ungewöhnlichen Grund, der, in einer einfachen Prosa, allmählich offen gelegt wird: Unheimliche unterirdische Würmer, die donguis, die nur aus ihrem Verdauungsorgan bestehen, drohen, die Menschheit zu verschlingen, obwohl sie der Menschen nicht Herr werden können57. Der Erzähler, der Ingenieur, ist eine fragwürdige Figur. Er selbst ist den donguis in Buenos Aires begegnet und fürchtete sich nicht vor ihnen. Im Gegenteil, er hat sie für seine Zwecke genützt: Er hat ihnen seine zahlreichen Geliebten zum Fraß vorgeworfen. Der Ingenieur wird mit einer Arbeit – dem Aufbau von Unterschlüpfen gegen die donguis in den Anden, in der Umgebung von Uspallata – beauftragt, die im Gegensatz steht zu seiner Neigung, die donguis, in einer Art Mittäterschaft, für asoziale, verbrecherische Zwecke – Mord an Frauen, die ihm vertrauten – zu verwenden. Dieser Plot wird in drei mit römischen Ziffern gekennzeichneten Teilen entwickelt: Der erste Teil berichtet von der Fahrt an den Ort der Bauarbeiten, die über Uspallata führt, und enthält die Dialoge, die der Ingenieur mit zwei Kollegen namens Balsocci und Balsa führt58 ; der zweite Teil besteht nur aus einem Dialog, in dem die drei Protagonisten die Herkunft und die Verbreitung der dongui erörtern; der dritte Teil erläutert die Bekanntschaft des Ingenieurs mit den donguis und die Art und Weise, wie er sie verwendet. Die Naturerscheinungen und die Landschaft, die als Hintergrund dieser Gruselgeschichte dienen, ist ausgesprochen unheimlich: Sturzbäche, Schnee und starker Wind59. Betrachten wir zunächst mente entfernt wurden, in der Tageszeitung La prensa in Buenos Aires vom 12. 02. 1956 in der Seccijn segunda (ohne Seitennummerierung); 1960 erscheint sie in der vom Autor selbst besorgten italienischen Übersetzung in Il caos (Mailand, S. 139–152); später, im Jahre 1965, wird die Fassung aus der uruguayschen Zeitschrift in die zweite erweiterte Ausgabe der von Jorge Luis Borges, Alfredo Bioy Casares und Silvina Ocampo herausgegebenen Antolog&a de la literatura fant#stica (Buenos Aires, S. 206–211) aufgenommen; schließlich kommt es im selben Jahr zur Veröffentlichung einer neuen italienischen Übersetzung in Parsifal. I racconti del „Caos“ (Mailand 1974, S. 145–158) und einer spanischen Ausgabe in El caos (Buenos Aires, S. 156–170). Die Ausgaben sind nicht gleich: hier wird die zuletzt erwähnte benützt. 57 „Balsocci [ein Kollege des Ingenieurs]: – ¡Oh!, al hombre no lo dominan as& nom#s; al hombre no lo domina nadie, pero s& se lo comen …“ („Oh, den Menschen beherrschen sie nicht so einfach; niemand beherrscht den Menschen, aber sie fressen ihn doch …“, S. 166). 58 Die zwei Eigennamen basieren auf balsa, der spanischen Bezeichnung für Balsaholz und für Floß. Balsocci klingt grotesk, obwohl die Verbindung mit dem für das Italienische typischen Suffix -occio (dessen Mehrzahl -occi ist) und dessen potentiell negativer Nebenbedeutung für den spanischsprechenden Leser nicht transparent ist. Die Wahl der zwei verwandten Namen kann in einer Erzählung, in der es um die Rettung der Menschheit geht, kein Zufall sein: Die zwei Menschen stellen das letzte Rettungsfloß dar. 59 Nicht nur die Naturlandschaft ist durch unheimliche Züge gekennzeichnet. Eine Glühbirne der Firma Eclipse beleuchtet einen Innenraum (S. 157). Dass eine Firma, die Beleuchtungsvorrichtungen erzeugt, „Sonnenfinsternis“ heißt, ist ironisch.

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das erste Element näher. Die Flüsse reißen Menschen mit einer Geschwindigkeit von sieben Meter pro Sekunde mit, und die Steine reißen ihnen die Kleider vom Leib60. Hervorzuheben ist, wie ungewöhnlich dieser kaum vorstellbare Vorgang ist: Die Körper werden nicht zermalmt, sondern ihrer Kleider entledigt, sodass die Naturkraft gezielt auf den nackten Leib einzuwirken scheint und dadurch Züge gewinnt, die auf Willensakte schließen lassen. Der zweite Bestandteil der Landschaft ist der Schnee. Er hat hier keinen romantischen Nebenklang, sondern verhindert Bewegung und wird vom Erzähler als Störfaktor bei seiner Beziehung zu Frauen betrachtet: Der Ingenieur fürchtet, dass die weiße Decke ihn hindern könnte, die Strecke zwischen Baustelle und Dorf zurückzulegen, wo er seine sexuelle Begierde befriedigen kann. Und endlich der Wind: Er wird ausdrücklich als mögliche Quelle von Unannehmlichkeiten für die zukünftigen zivilisierten weiblichen Gäste aus Buenos Aires dargestellt, deren Haartracht durch die heftigen Luftströme zerzaust würden. Die wilde Landschaft und deren klimatische Züge bedrohen die Guten Lüfte (so würde die wortwörtliche Übersetzung von Buenos Aires lauten), die dort ihre Zuflucht suchen, und die Rettungsarbeiten vor den allesfressenden Würmern werden von einer Person geleitet, welche die Dienste der Würmer im offenkundigen Verstoß gegen die Konventionen der zivilisierten Gesellschaft genützt hat. Der am Anfang dieser Ausführungen erwähnte Schluss der Erzählung schildert zuerst eine seltsame Entdeckung durch die Erzählstimme: Sie findet eine schwarze, zierliche Blume, die aber unheimlich schwarz ist, unter Steinen wächst und einen langen Stängel aufweist. Die Farbe ist ungewöhnlich für eine Blume, und auch die Struktur der Pflanze ist sicherlich beunruhigend: Die zierliche Blume wächst aus einem langen, sich in das Gestein schlängelnden Stängel. Auch die Reaktion des Erzählers ist ungewöhnlich, weil man Staunen erwartet hätte, aber nicht Ekel, es sei denn die Konsistenz der Stängel, die als weich bezeichnet werden, erinnert an die eines Wurmes. Das Bild gibt eine verkehrte Welt wieder, in der die obere Schicht schwarz ist und die untere weiß; außerdem ist das Weiß der Gletscher nicht rein, sondern beschmutzt, und die Farbe der Blumen ist ungewöhnlich schwarz. Die mondbeleuchtete Landschaft wird als ein Negativbild dargestellt, aber das Bild ist in sich widersprüchlich: Wenn man das Negativbild in ein Positivbild entwickeln würde, würde der dunkle Himmel die heitere Stimmung eines sonnigen Tages annehmen, während der weiße Schnee sich in schwarzen Stoff – vielleicht Erde – verwandeln würde. Aber der helle Mond, der angeblich den Schnee beleuchtet, würde nicht ins Bild passen, weil er einer schwarzen Sonne entsprechen würde. Die Inkohärenz des Negativbildes scheint daher auf eine Inkohärenz der erzählten Geschichte zu deuten, ohne dass die LeserInnen klar verorten können, worin die Inkohärenz besteht. Der Schluss ist ungewöhnlich nicht nur inhaltlich, 60 Wilcock, „Los donguis“, S. 160.

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sondern auch hinsichtlich der Struktur des gesamten Textes61. Normalerweise gibt eine Beschreibung den Hintergrund für eine Handlungsabfolge ab; wenn eine Beschreibung nur angedeutet wird, als Wunsch vorgestellt wird und außerdem ans Ende einer Erzählung gelegt ist, wirkt sie ausgesprochen befremdend und lässt Gegebenheiten vermuten, die wegen des Verlaufs der Geschichte und des Inhalts der Beschreibung selbst keine rosigen Aussichten für das in Uspallata und seiner Umgebung inszenierte Unternehmen versprechen.

Ein erschreckender Briefroman Im Jahre 1973 erscheint in Italien L’ingegnere, ein Briefroman von Wilcock62, in dem fiktive Briefe an eine weibliche Person zu lesen sind, die ein Ingenieur schreibt, der für den Weiterbau der Transandiner Eisenbahn bei einer internationalen Firma arbeitet. Die Arbeitsstätte ist nicht fest: Der Ingenieur wechselt mehrmals seinen Wohnsitz rund um eine Baustelle in der Nähe von Uspallata63. Der erste Brief trägt das Datum „17. Juli 1943“ und der letzte das Datum „21. Mai 1944“; der Zeitraum entspricht ungefähr dem tatsächlichen Aufenthalt von Wilcock in den Anden. Hier der vollständige Text des ersten Briefes: Dall’ing. Tom#s Plaget alla sig. Marie Weidegg: Mendoza 17 luglio 1943 Sono a Mendoza. Oggi H sabato, piove, fa un po’ freddo. La citt/ H orribile, la gente stupida e mal vestita. Mentre attraversavo La Rioja faceva tanto caldo che ho dovuto mettermi in mutande davanti al ventilatore. Tra pochi giorni vado su in montagna, stark a duemila metri. Fino a quel momento non saprk se sono contento o no della sistemazione. Se non mi piace fark il possibile per farmi richiamare a Buenos Aires. Mesi fa H venuto un altro giovane ingegnere, ci rimase tre giorni e se ne andk. Vedremo. Ho qui il sacchetto con gli ossetti. Se ti domandano come sto, di’ che sto bene a tutti. Non ho ancora un indirizzo definitivo. Molti baci (anche a Cata). TOMMY II mio indirizzo potrebbe essere questo: Ing. Tom#s Plaget Ufficio di Ricostruzione della Ferrovia Transandina Mendoza64 61 Diese stilistischen Mittel passen gut in das gesamte Bild der Schreibweise von Wilcock, die nach Carolina Su#rez Hern#n durch Auslassungen, Verletzungen der Syntax, Änderungen der verbalen Reihenfolge und der textuellen Kohärenz, sowie gewagte Metaphern gekennzeichnet ist. Su#rez Hern#n, Carolina, „Juan Rodolfo Wilcock: un ejemplo de transculturacijn y marginalidad en la literatura argentina e italiana“, in: Extrav&o. Revista electrjnica de literatura comparada 5, S. 79. 62 Mailand 1973, neuaufgelegt Trento 1990. Im Folgenden beziehen sich die Seitenzahlen auf diese Ausgabe. 63 Die Ortschaft wird dreimal erwähnt (S. 57, 74 und 75), aber die wüste Landschaft der Anden ist immer anwesend. 64 Wilcock, L’ingegnere, S. 7. „Von Ing. Tom#s Plaget an Frau Marie Weidegg: Mendoza, 17, Juli

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Einige thematische Elemente, die im Laufe des Briefwechsels immer wieder auftauchen, kündigen sich hier bereits an und deuten auf verschwommene Grenzen zwischen nebeneinanderliegenden narratologischen Motiven hin. Es wird eine klimatische Spannung zwischen Kälte und Wärme genannt, d. h. zwischen zwei Polen, die sich gegenseitig ausschließen. Die Menschen in der Gegend werden als dumm bezeichnet, sodass der Leser den Eindruck einer massenhaften Regression des Menschlichen auf das Tierische hat, da die Menschen üblicherweise durch den Besitz des Verstandes gekennzeichnet sind. Ein Ortswechsel von unten nach oben steht dem Absender bevor, der noch nicht weiß, ob er mit der Situation zufrieden sein wird. Fernweh bestimmt das Verhältnis zu Buenos Aires. Ein durch den bestimmten Artikel eingeführtes fragwürdiges Säckchen birgt Knöchelchen ohne Erklärung zu deren Zwecken. Die abschließende Grußformel klingt etwas kindisch, aber dies ist kein Zufall, denn ähnliche Ausdruckweisen kehren in vielen Abwandlungen in der Briefsammlung wieder65. Die erwähnten Formeln sind leidenschaftliche Ausdrücke von Fernweh, die nicht zum Verhältnis zwischen einem mindestens 25-jährigen Mann und einer 80-jährigen Großmutter66 passen. Unter der Unterschrift des angeführten Briefes liest man, dass die Anschrift von Tom#s Plaget „Büro für den Wiederaufbau der transandinischen Eisenbahn sein könnte“ (Ivi, S. 7); das heißt, dass die berufliche Adresse und daher die Verortung des Absenders nicht ganz sicher ist, was eine weitere Unsicherheit in die Welt des Ingenieurs einführt. Die verschwommenen Anzeichen dafür, welcher Art die Beziehung zwischen Großmutter und erwachsenem Enkelkind ist, deuten auf eine Regression zurück in die Kindheit hin, die bis zur Tierwelt zu führen scheint67. Aus verstreuten 1943. Ich bin in Mendoza. Heute ist Samstag, es regnet und es ist etwas kalt. Die Stadt ist hässlich, die Leute sind dumm und schlecht gekleidet. Während ich über La Rioja fuhr, war es so heiß, dass ich mich in Unterhosen vor den Ventilator stellen musste. In einigen Tagen gehe ich hinauf in die Berge, ich werde auf 2000 Meter Höhe sein. Bis zu jenem Zeitpunkt werde ich nicht wissen, ob ich zufrieden mit der Unterkunft bin. Wenn es mir nicht gefällt, werde ich alles Mögliche tun, um wieder nach Buenos Aires versetzt zu werden. Vor einigen Monaten ist ein anderer junger Ingenieur gekommen, er blieb drei Tage und ging wieder. Wir werden sehen. Ich habe das Säckchen mit den Knöchelchen bei mir. Wenn man dich fragt, wie es mir geht, sag’ allen, dass es mir gut geht. Ich habe noch keine feste Adresse. Viele Küsse (auch an Cata) Meine Adresse könnte diese sein: Tom#s Plaget Ufficio di Ricostruzione della Ferrovia Transandina Mendoza“. 65 „Ti mando tutti i miei baci“ („Ich schicke dir alle meine Küsse“, S. 11), „molte carezze“ („viele Liebkosungen“, S. 12), „molte tenerezze e baci“ („viele Zärtlichkeiten und Küsse“, S. 24), „Addio piccola mia, ho molta voglia di rivederti“ („Leb wohl, meine Kleine, ich habe große Lust dich wieder zu sehen“, S. 36), „baci amorosi“ („liebevolle Küsse“, S. 41), „Il tuo vecchio coccolone“ („Dein alter Schmuser“, S. 57) und sogar ein „Baci : ++++++ +++++++++++++++++ (sic! )“ ( S. 37; 48 ; 62 ; 63; 97 „Küsse“). 66 Das Alter der Person, an die die Briefe gerichtet sind, wird erst auf S. 92 erwähnt. 67 Auf Seite 23 liest man, dass der Ingenieur von sich selbst sagt „non sono un mostro“ („ich bin kein Monster“), was voraussetzt, dass man ihn eben als Ungeheuer betrachten kann oder

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Stellen der restlichen Briefe sind Andeutungen herauszulesen, die die Vermutung nahe legen, dass der Ingenieur gewohnt ist, auf dem Boden zu schlafen68, und in der Nacht Flüssigkeiten69 absondert. Bemerkungen über die klimatische Lage tauchen sehr oft unter der zweipoligen Spannung Trockenheit und Feuchtigkeit auf. Der erste Brief erwähnt einen durch technische Mittel erzeugten Luftstrom: Auf der Reise zu seinem Ziel muss der Ingenieur wegen der Hitze nackt in Unterhosen vor einem Ventilator stehen70. Des Weiteren wird ein entsetzlicher Wind erwähnt, der die Landschaft und betrachtet hat. Die Überlegung fällt am Anfang eines Briefes, in dem er berichtet, dass man ihn in ein Häuschen („casetta“) übersiedelt, in dem er sehr einsam („tanto solo“) sein wird. Man merke das kindisch klingende Register : Die Einsamkeit kennt keinen Grad, und daher ist es nicht sinnvoll in diesem Zusammenhang, „sehr“ mit Bezug auf „Einsamkeit“ zu gebrauchen. „Tanto“ („sehr“) soll daher eher die Gefühlslage des Subjekts, d. h. des Ingenieurs ausdrücken. Unmittelbar darauf berichtet der Ingenieur, dass der Chef ihn als „ragazzetto“ („Bub“) betrachtet und anschließend, dass der Chef alt ist und eine junge Frau und ein kleines Kind im Alter von einem Jahr hat, dessen Aussehen dem eines Milchschweins ähnelt. In den folgenden Briefen sind Andeutungen verstreut, die vermuten lassen, dass der Ingenieur Kinder in seiner Küche schlachtet und dann isst. Mit anderen Worten: Er ist ein Ungeheuer. 68 „Imparo a dormire sopra il letto“ („ich lerne auf dem Bett zu schlafen“, S. 8); „dormo come un re in un vano sotto l’armadio sul mio telo nuovo“ („Ich schlafe wie ein König auf meiner neuen Plane in einem Leerraum unter dem Schrank“, S. 49); „Un manovale mi ha regalato una pelle di cincill/ o di lepre delle montagne, per poggiare i piedi sopra quando scendo dal letto; non so che farmene, la metto per terra sotto il cuscino“ („Ein Bauhilfsarbeiter hat mir ein Fell aus Chinchilla oder Berghase geschenkt, damit ich die Füße darauf setzen kann, wenn ich aus dem Bett steige; ich weiß nicht was ich damit anfangen soll, ich lege es auf den Boden unter das Kissen“ S. 87); „rannicchiato sotto l’armadio“ („zusammengekauert unter dem Schrank“, S. 88); „porcaio […] armeno che praticamente dorme sotto terra tra migliaia di pecore“ („armenischer Schweinhirte […], der fast unter der Erde unter Tausenden von Schafen schläft“, S. 107). Zu den Zitaten sei hinzugefügt, dass der Ingenieur in einem Bett schläft, das eigentlich seinem Hund gehört (S. 120–121). 69 Zwei Stellen weisen deutlich darauf hin: „stanotte ho dormito con un serpente nella mia bava calda“ („in der vergangenen Nacht habe ich mit einer Schlange in meinem warmen Schleim geschlafen“, S. 66) und „macchie del materasso“ („Flecken auf der Matratze“, S. 13). Eine Seite vor dieser Stelle kommt ein „Guancialetto“ („kleines Kissen“, S. 12) vor: es handelt sich um einen Gegenstand, den die Großmutter speziell für den Ingenieur aus Buenos Aires geschickt hat. Das Verkleinerungssuffix auf -etto deutet auf Kleinkinder hin. Außerdem hat das ungewöhnliche Grundwort „guanciale“ als ersten Bestandteil „guancia“ („Wange“): Die anatomische Nähe zu Mund und die weiteren Erscheinungen in diesem Bereich lassen das Bild eines auf der Wange schlafenden Kindes entstehen, das vielleicht in der Nacht sabbert. Im Brief vom 23. November erwähnt der Ingenieur eine Liste von Einkäufen: „ho comperato una quantit/ di cose […] anche un telo per la notte“ („Ich habe eine Unmenge Sachen gekauft […] auch eine Plane für die Nacht“, S. 44). „Un telo“ ist ein dicker Stoff: Wenn er für die Nacht gedacht ist und keine andere Information zu seinem Zweck geliefert wird, dann ist man berechtigt zu glauben, dass er für das Schlafen gedacht ist und dass das Schlafen durch Erscheinungen gekennzeichnet ist, die den Gebrauch eines dicken, d. h. robusten, strapazierfähigen Stoffes erforderlich machen. 70 Es sei erwähnt, dass die Abkühlungsmaßnahme auf der Durchreise in La Rioja geschieht, was mit sich bringt, dass der Ingenieur sich in einem Waggon entkleidet, wenn der Text wort-

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die Gesichter der Menschen austrocknet und oft den Fortgang der Arbeit behindert71. In den Briefen taucht das Flüssige oft in Form von Schnee und Gewässern auf. Das fließende Wasser verdient eine nähere Betrachtung. Es strömt in reißenden Sturzbächen die Täler herunter : In einen Abgrund fällt ein „caposquadra“ (Vorarbeiter), ein Mann, der wochenlang neben dem Ingenieur gesessen hatte. Der Unfall wird durch eine unsichere Brücke verursacht, deren Pfeiler vermutlich vom Wasser geschwächt waren72 ; der Ingenieur war kurz vor dem Unfall trotz der Warnungen mehrmals darüber gegangen. Der Zusammenbruch scheint durch reinen Zufall zu geschehen, dessen Kontingenz dadurch gesteigert wird, dass er eine Person – einen Vorarbeiter – betrifft, der vermutlich in seinem Beruf erfahren war. Körper und Knochen werden derart zermalmt, dass kein ganzes Stück zu bergen ist. Die Witwe wartet auf die Reste, und der Ingenieur legt nahe, dass man ihr irgendetwas anderes als Ersatz geben wird, was den Menschen in den Bergen eine zynische oder durch Gleichgültigkeit gekennzeichnete Einstellung zu durch Unglück heimgesuchten Mitmenschen verleiht. Durch diese Hintergrundinformation erwecken sowohl die im ersten Brief flüchtig erwähnten Knöchelchen als auch die schon erwähnte Annährung des Menschen an die Tierwelt – das Kind des Chefs des Ingenieurs wird mit einem Milchschwein verglichen – düstere Vorahnungen. Durch das Geflecht von Assoziationen, das wir aufzuspüren bemüht sind, erhalten andere Vorkommnisse eine genauere Bedeutung: Wenn man von Kindern liest, die spurlos verschwinden, oder von einer großen Marmorplatte mit einer Abflussrinne für Blut, wörtlich interpretiert wird, und die Situation nicht grotesk erscheinen soll: Entweder ist der Mann in einem Waggon mit anderen Fahrgästen und führt ein seltsames Striptease vor, oder er reist alleine, was dem Inneren des Waggons das Aussehen eines Luxuswaggons für eine privilegierte Person verleihen würde; ein Auskleiden auf der Straße wäre kaum denkbar. 71 „Vento terribile“ („fürchterlicher Wind“, S. 26), „le mani, con questo vento freddo; per quanto mi metta la crema, il vento e le spine me le rodono […] fa tanto vento che alle volte non si puk fare niente“ („die Hände bei diesem kalten Wind; so sehr ich sie auch mit Salbe einreibe, der Wind und die Dornen kratzen sie immer wieder auf […] es ist so windig, dass man manchmal nichts machen kann“, S. 16); „sono molto abbronzato per via del vento“ („Ich bin sehr gebräunt durch den Wind“, S. 76); „non piove mai in queste stupide montagne“ („Nie regnet es in diesen dummen Bergen“, S. 78); „sono due mesi che non piove“ („seit zwei Monaten regnet es nicht“, S. 92,); „Malargüe deserto di sabbie mobili con vento“ („M. Wüste aus Treibsand mit Wind“, S. 94); „vento piF gradevole a Agua nueva“ („angenehmerer Wind in A. n.“, S.103); „sabbia che entra da tutte le parti“ („Sand, der überall eindringt“, S. 108); „vento tiepido e pieno di sabbia“ („lauwarmer Wind voller Sand“, S. 14). 72 „L’acqua aveva cominciato a romperlo“ („das Wasser hatte angefangen, sie [die Brücke] kaputt zu machen“, S. 83;): Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass die Ausdrucksweise, auch unter Berücksichtigung des Verhältnisses zur Empfängerin, nicht zum Bildungsniveau des Ingenieurs passt. „Rompere“ kennt keinen Grad, aber „cominciare“ (anfangen) stellt den Vorgang als eine allmähliche Handlung dar. Vorstellbar wäre eine Aushöhlung der Pfeiler, und eine ähnliche Beschreibung könnte auch auf das sprachliche Verhältnis GroßmutterEnkel zutreffen.

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die in der Küche der Wohnung des Ingenieurs eingebaut wird und die in Zusammenhang mit großen Kochtöpfen steht, schöpft man den Verdacht, dass hier Menschenfresserei betrieben wird73. Kehren wir aber zum Klima zurück. Die Trockenheit ist ein neues Element in der dichterischen Landschaft von Wilcock: Sie wird von starkem Wind und Sand begleitet. Ab und zu liest man auch Anspielungen auf die Öde der Gegenden, welche die Bauarbeiten umgeben. Und zum Schluss seien auch die seltsamen Lebewesen erwähnt, die im Text vorkommen: Der Ingenieur erzählt der Großmutter, dass die Tiere, die als quiriquinchos in den als wild dargestellten Anden und als mulitas in Buenos Aires bezeichnet werden, sich als Schutzmaßnahme in Lebensgefahr zu einer Kugel zusammenrollen. Sie sind die kleinsten Gürteltiere, die heute auf der Erde leben, und der Ingenieur bemerkt, dass sie schwer zu fangen sind, weil sie sich schnell in die Erde eingraben; trotzdem konnte er einige fangen. Da das Ziel der Jagd nicht angegeben wird, erhält sie unscharfe Züge: Handelt es sich um reinen Zeitvertreib, Nahrungsgewinn, Ausrottung von Schädlingen? Auf jeden Fall verleiht die Unschärfe der kurz erwähnten Tätigkeit des Ingenieurs dem Text eine unheimliche Nuance. 73 Der Ingenieur äußert, dass die Kinder in der Gegend, wo sich die Baustelle befindet, so zahlreich sind, dass man sie zur nationalen Pest wie die Kaninchen in Australien erklären sollte („Dovrebbero fare come nell’Australia i conigli, dichiararli peste nazionale“, S. 11); ein Kind, dem der Ingenieur Nachhilfestunden gibt, „sieht wie ein Kaninchen aus“ („sembra un coniglio“ S. 25); „vorrei farne uno al forno“ (S. 31), wobei es unklar ist, ob sich „uno“ auf das Kind oder das Kaninchen bezieht. Die Küche ist ungewöhnlich ausgestattet: „dovrei farmi dare un pentolone“ („ich sollte mir einen großen Topf geben lassen“ S. 48), „pentola grossa“ („großer Topf“, S. 49); „tavolo di marmo per tagliare la carne con la sua scanalatura nel marmo come a casa, per il sangue“ („großer Marmortisch zum Hacken des Fleisches, mit seiner Rinne im Marmor, wie zuhause, für das Blut“, S. 54); der Ingenieur versucht erfolglos, sein Hündchen zu erwürgen, ohne einen Grund für sein Verlangen anzugeben (S. 118); ein kleines Mädchen verschwindet, und alle Menschen in der Gegend machen sich auf die Suche, aber dann kehren sie unverrichteter Dinge nach Hause zurück, ohne dass der Erzähler, der Ingenieur, besondere Trauer ausdrückt (S. 120); der Hund des Ingenieurs geht auf die Suche nach gewissen Knochen, die ihm gehören („certi suoi ossi“ S. 122); zu Ostern bereitet der Ingenieur einen Schmorbraten zu, und der Hund „si 8 fatto un pancione“ („Er hat sich den Bauch vollgeschlagen“) mit der Gulaschsuppe (spezzatino) und mit den Knochen (S. 123); „volpi hanno delle tane dove puk entrare non dico una persona ma un bambino comodamente“ („ Füchse haben Bauten, wo gemütlich wenn nicht ein Erwachsener – eine Person – doch ein Kind hineinpasst“ S. 124), wobei zu bemerken ist, dass die Kinder den Personen gegenübergestellt werden und daher implizit nicht als Personen betrachtet werden; drei Wochen danach, in dem Brief, mit dem der Ingenieur seiner Großmutter seine Rückreise nach Buenos Aires ankündigt, schreibt er unvermittelt und zusammenhangslos, dass „du wegen der Knochen den Füchsen vertrauen kannst“ („per gli ossi puoi fidarti delle volpi“, S. 129): Der Satz spricht den Empfänger in der zweiten Person Singular an, aber der Inhalt könnte auch eine allgemeine Bedeutung haben; der letzte Satz des Briefromans hat ein Kind zum Thema: Ein Waise wird dem Ingenieur von der Großmutter anvertraut (S. 133). Die aufgelisteten Anspielungen aktivieren bei der Erwähnung des Osterfestes (S. 120 und 123) die Semantik von Tod und Opfer.

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Aus den zusammengetragenen Elementen kann man schließen, dass im Leben des Ingenieurs die Grenzen zwischen Wildheit und Zivilisation verschwimmen. Wenn man die Familiennamen der zwei Hauptfiguren dieser Geschichte näher betrachtet, ergibt sich ebenfalls ein Spannungsfeld, das zwischen Zivilisation und Urwelt liegt: Die Großmutter heißt Marie Weidegg, der Ingenieur Plaget. Im Familiennamen der Frau steckt die durch Axt oder andere Werkzeuge zur Weide gerodete Heide und die durch die Egge bearbeitete Erdoberfläche. Vielleicht im selben semantischen Feld „Heide“, das hier durch Weide impliziert ist, steckt Plaget, in dem das lateinische plaga „Heide“ wiederhallt. Der Familienname des Ingenieurs kann aber auch in Verbindung mit plagiarius gebracht werden, das auf Latein so viel wie Menschen- oder Sklavenhändler heißt. Die Zivilisationsarbeit – der Wiederaufbau der Eisenbahn –, die durch den Familienname der Großmutter symbolisiert sein könnte, scheint durch die zu Tage geförderten Neigungen des Enkelkindes in Frage gestellt. Das der Briefsammlung vorangestellte Motto klingt daher recht ironisch: „O engenheiro sonha coisas claras“ – „Der Ingenieur träumt klare Dinge“74. Man könnte eher sagen, dass der Ingenieur in klarer Weise düstere Dinge in der wüsten Umgebung von Uspallata träumt und sie zum Teil verwirklicht75. 74 Wilcock, L’ingegnere, S. 5. Das Motto stammt aus einem Gedicht des brasilianischen Autors Jo.o Cabral De Melo Neto. Der vollständige Text bekräftigt die hier vorgelegte Auslegung des Romans, aber man muss Wilcock eine ironische Strategie attestieren, weil das Gedicht das Bild einer Harmonie zwischen Menschen und Natur entstehen lässt, während die von Wilcock in Anlehnung an De Melo Neto vertretene Harmonie die Kultur (transandinische Eisenbahn, Bildung des Ingenieurs usw.) zur Barbarei (tierische Erscheinungen beim Ingenieur und wilde Züge der Landschaft) entarten lässt. Hier der Originaltext und eine deutsche Übersetzung: „O Engenheiro. A luz, o sol, o ar livre / envolvem o sonho do engenheiro. / O engenheiro sonha coisas claras: / Superf&cies, tÞnis, um copo de #gua. // O l#pis, o esquadro, o papel; / o desenho, o projeto, o nfflmero: / o engenheiro pensa o mundo justo, / mundo que nenhum v8u encobre. // (Em certas tardes njs sub&amos / ao edif&cio. A cidade di#ria, / como um jornal que todos liam, / ganhava um pulm¼o de cimento e vidro). // A #gua, o vento, a claridade, / de um lado o rio, no alto as nuvens, / situavam na natureza o edif&cio / crescendo de suas forÅas simples“; Jo.o Cabral De Melo Neto, O Engenheiro, Rio de Janeiro: Amigos da Poesia, 1945, S. 17. „Der Ingenieur. Das Licht, die Sonne, die freie Luft / umgeben den Traum des Ingenieurs. Der Ingenieur träumt von klaren Dingen: Oberflächen, Tennis, einem Glas Wasser. // Der Bleistift, das Dreieck, das Papier ; / die Zeichnung, der Entwurf, die Zahl:/ der Ingenieur denkt die richtige Welt, eine Welt, die kein Schleier umgibt// (An manchen Nachmittagen stiegen wir/ auf das Hochhaus. Die tägliche Stadt, / wie eine Zeitung, die alle lasen, / bekam eine Lunge aus Beton und Glas). // Das Wasser, der Wind, die Helligkeit, / auf der einen Seite der Fluss, oben die Wolken, / platzierten das Gebäude in die Natur / und es wuchs nur aus eigenen Kräften“ (Übersetzung d. Verf.). 75 Der Buchumschlag der bei Rizzoli erschienenen Originalausgabe deutet in diese Richtung. Ein Rahmen aus geometrischen Elementen, die an klassizistische Motive erinnern, enthält einen Hammer, einen Zirkel, einen Bleistift, eine Kugel, und ein Winkeldreieck. Diese Werkzeuge des Ingenieurs sind an die Innenränder des Rahmes gelehnt; in der Mitte steht die Büste einer Frau, deren Züge verwischt sind. Die Werkzeuge der Genauigkeit vermitteln den Eindruck, dass sie das Bildnis einer Person bedrohen.

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Die Tektonik im Leben und Werk Wilcocks Oben wurden Elemente, die in Zusammenhang mit der Ortschaft Uspallata und mit den ihr zugeordneten Konnotationen stehen, zu drei Stationen in Wilcocks Werk möglichst textimmanent gesammelt und semantisch zusammengefügt; dies geschah vorerst, ohne die einzelnen Ergebnisse nach und nach in ein Gesamtbild zu integrieren und ohne die drei Stationen miteinander zu vergleichen. Wie kann man die drei Momentaufnahmen der Erscheinungen von Uspallata und ihre Konnotationen nun in Verbindung setzen, um eine dynamische Darstellung von Wilcocks Schaffen zu gewinnen, die durch einen komparatistischen Ansatz die Bewegungen und Neubewertungen jener wiederkehrenden Elemente detailliert und überzeugend auslegen kann? Als Ansatz einer Interpretation komplexer und mehrschichtiger kultureller Erscheinungen schlage ich die Geschichtsauffassung des Historikers Fernand Braudel als aufschlussreiches Werkzeug vor und ergänze sie durch Anregungen von dem zu Beginn zitierten Literaturwissenschaftler Thomas Pavel. Folgende programmatische, zusammenfassende Zeilen liest man in der Einleitung von Braudels im Jahre 1949 erschienenen Buch über das Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II: Dieses Buch ist in drei Teile aufgeteilt, wobei jeder der Versuch einer Gesamtauslegung ist. Der erste Teil betrachtet eine fast unbewegte Geschichte, die des Menschen in seinen Beziehungen mit der Umgebung; eine Geschichte, die langsam durchsickert. Unterhalb dieser unbewegten Geschichte unterscheidet man im zweiten Teil die im langsamen Tempo fortschreitende Geschichte: […] eine Sozialgeschichte […] Der dritte Teil zeigt die traditionelle Geschichte, die Geschichte also nicht des Menschen sondern des Individuums, die Geschichte der Einzelereignisse – l’histoire 8v8nementielle –von Paul Lacombe und FranÅois Simiand: Eine Unruhe der Oberfläche, die Wellen, welche die Gezeiten durch ihre mächtigen Bewegungen emporschießen.76

In Anlehnung an Braudel, neben anderen Autoren, schlägt Pavel Ende der 1980er Jahre eine Art Tektonik vor, um der zeitlichen Dimension in literarischen Werken Rechnung zu tragen77. Der Literaturwissenschaftler bemängelt im erwähn-

76 „Ce livre se divise en trois parties, chacune 8tant en soi un essai d’explication d’ensemble. La premiHre met en cause une histoire quasi immobile, celle de l’homme dans ses rapports avec le milieu qui l’entoure ; une histoire lente / couler … Au-dessus de cette histoire immobile se distingue une histoire lentement rythm8e : […] une histoire sociale […]. TroisiHme partie enfin, celle de l’histoire traditionnelle, si l’on veut de l’histoire / la dimension non de l’homme, mais de l’individu, l’histoire 8v8nementielle de Paul Lacombe et de FranÅois Simiand : une agitation de surface, les vagues que les mar8es soulHvent sur leur puissant mouvement“, Fernand Braudel, La m8diterran8e et le monde m8diterran8en / l’8poque de Philippe II, Tome Premier, Paris 1949, S. 16–17. 77 Pavel bezieht sich auf Braudel ohne zu erklären, welche Elemente der Methode des franzö-

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ten Aufsatz, dass die zeitliche Dimension literarischer Texte in der Literaturkritik bislang nicht zufriedenstellend behandelt worden sei78. Er argumentiert, dass amerikanische Literaturwissenschaftler der Periode zwischen den 1940er und den 1970er Jahren wie Kenneth Burke Northrop Frey und Nelson Goodman zwar die innere Struktur literarischer Werke auf ihre wiederkehrenden Elemente hin untersucht, aber die zeitlichen Verhältnisse und die Dynamik in den Werken und zwischen Werken aus verschiedenen Epochen und Gattungen vernachlässigt hätten. Die Tel Aviv-Schule, die Dekonstruktivisten und die marxistisch ausgerichteten Kulturwissenschaftler hätten zwar die Zeit wieder ins Zentrum ihrer Analysen gerückt; diese hätten aber ein lineares Zeitverständnis gepflegt. Pavel drückt seine Furcht aus, dass diese (damals) neue Aufmerksamkeit für die zeitliche Dimension des literarischen Werkes zu einer Wiederbelebung des Interesses für rein linear interpretierte biographische und chronologische Aspekte literarischer Werke führen könnte sowie zu einer Analyse ihrer Entstehungsgeschichte, die Homogenität innerhalb von Epochen herrschen ließe, ohne die Wandlungen und die Ursachen der Brüche zu erklären. In den Schlussbemerkungen des programmatischen Teils seines Aufsatzes erwähnt er Braudel, schlägt die Tektonik vor, die dem hier vorliegenden Beitrag vorangestellten Zitat zu entnehmen ist, und schließt mit den folgenden Worten: „I will, therefore, call for a historical approach to narrative, which, sensitive to both the forces of stability and those of subversion, can demonstrate how the multilayered organization of temporality makes possible both artistic permanence and evolution“79. Die Sensibilität von Pavel hinsichtlich der zeitbedingten Kräuselungen an der Textoberfläche, die möglicherweise eine tiefere Ursache haben, zeigt sich auch in der Wortwahl: An verschiedenen Stellen seines Aufsatzes gebraucht er Wörter wie tremors (S. 353, 354, 357), tremulous surface (S. 354), wrinkles (S. 354),

sischen Historikers er aufwerten will und wie. Später wird erklärt, wie ich die dreifache Kategorie der Dauer interpretiere und anwende. 78 Der Aufsatz besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil ist der Darstellung der Tektonik gewidmet, im zweiten wendet Pavel seine methodischen Ansprüche auf die Wechselwirkungen zwischen narrativen Dramen und dramatischen Narrativen vom Barock bis zur Spätromantik an. Hier interessieren nur die methodologischen Aspekte und daher bleibt der historische Teil unberücksichtigt. 79 Pavel, „Narrative tectonics“, S. 354. Die Braudelschen Begriffe longue dur8e und histoire 8v8nementielle sind sowohl im Werk des französischen Historikers als auch hinsichtlich ihrer Anwendung auf andere Wissenssparten einer Kritik unterzogen worden. Trotzdem möchte ich sein durch Pavel aufgewertetes Konzept der mehrwertigen historischen Geschwindigkeiten am hier untersuchten Material erproben. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem methodologischen Ansatz von Braudel liefert Eric Piltz, „,Trägheit des Raums‘. Fernand Braudel und die Spatial Stories der Geschichtswissenschaft“, in Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn, Bielefeld 2008, S. 75–102, wo auch weitere bibliographische Hinweise zu finden sind.

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ravines (S. 354) und crease (S. 354), die auf die Wirkungen unterschiedlich starker Bewegungen hinweisen. Weitet man die von Pavel verwendeten Begrifflichkeiten aus, indem man sie um in der Fachliteratur zur Bruchschollentektonik übliche Begriffe wie Schichtverschiebungen, Falten, Verwerfungen und Störlinien ergänzt, kann man versuchen, die Auswirkungen der Bewegungen zwischen Sprachen und Ländern eines literarischen Autors auf sein Werk zu interpretieren, indem man versucht, die Änderungen wiederkehrender Themen auf mögliche tieferliegende Wandlungen zurückzuführen80. Im Folgenden wird nach wiederkehrenden Erscheinungen in den analysierten Werken von Wilcock gesucht und die Hypothese aufgestellt, dass seine Bewegungen in Sprachen und Kulturen ihn möglicherweise, unter Einfluss anderer Faktoren, dazu bewogen haben, einige Merkmale der thematischen Konstanten umzuändern. Die Veränderungen können semantische Züge betreffen, die sich auf verschiedenen Ebenen des literarischen Werkes finden. Sie können einfach die Eigenschaften des Elementes bestimmen; oder sie können ihre Funktion in der Struktur des Textes betreffen, die in unterschiedlichen Schichten jeweils ihre Spuren in seinem Schaffen hinterlassen haben81. Zuerst aber sei präzisiert, wie die drei Ströme der Braudel’schen Geschichtsauffassung genauer auf literarische Texte angewendet werden können. In der Auffassung von Braudel stellt die untere Strömung die fast unbeweglichen klimatischen und geographischen Ereignisse dar ; die mittlere Strömung besteht aus den lang andauernden, durch den Menschen geschaffenen sozialen Strukturen und Artefakten, wie Siedlungen, Gebäude, Verkehrssysteme; die alltäglichen Handlungen der Menschen bilden die äußerst bewegte oberflächliche 80 Ein anderer Ansatz wäre denkbar, und zwar der psychoanalytische. Freud hat sich nur sporadisch mit dem Thema der Mehrsprachigkeit in der Sprache des Unbewussten auseinandergesetzt und wohl nie mit dem Problem des Kulturschocks bei Menschen mit Migrationshintergrund befasst. Eine kritische Auseinandersetzung und Aufwertung der hermeneutischen Werkzeuge, die Freuds Begrifflichkeiten entnommen werden können, würde den Rahmen der vorliegenden Darstellung sprengen. Hingewiesen sei aber wenigstens auf das bahnbrechende Werk von Jacqueline Amati Mehler, Simona Argentieri und Jorge Canestri, La Babele dell’inconscio: lingua madre e lingue straniere nella dimensione psicoanalitica, Milano 20032 (neue revidierte Auflage); das Buch ist mittlerweile ins Deutsche übertragen worden: Babel des Unbewussten: Muttersprache und Fremdsprachen in der Psychoanalyse, Gießen 2010. 81 Durchaus analog zur unbewegten untersten Schicht sehen wir eine den einzelnen Metamorphosen im Werk Wilcocks trotzende Kontinuität, die dem argentinischen Migrantenautor von Chitarroni folgendermaßen bescheinigt wird: „El hombre de letras, el ingeniero civil no se fue a Europa para horrorizarse de lo que hab&a quedado atr#s, sino para coleccionar un nuevo museo de horrores“. „Der Literat, der Zivilingenieur ging nach Europa nicht um sich vor dem Zurückgelassenen zu fürchten, sondern um ein neues Museum der Grausamkeiten zu sammeln“ Zit. in Su#rez Hern#n, Carolina, „Juan Rodolfo Wilcock: un ejemplo de transculturacijn y marginalidad en la literatura argentina e italiana“, in: Extrav&o. Revista electrjnica de literatura comparada 5, S. 74.

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Strömung. Pavel erklärt nicht, wie diese Dimensionen auf literarische Werke anzuwenden sind. Zuerst scheint es sinnvoll und im Einklang mit dem tektonischen Modell von Pavel, die Braudel’sche Strömung durch Schicht zu ersetzen. Die obere Schicht eines literarischen Werkes, die der histoire 8v8nementielle entsprechen würde, sind die einzelnen Ereignisse der erzählten Geschichte der narrativen Werke oder die losen, einmaligen Handlungen, die in Gedichten vorkommen. Die mittlere Schicht, die der histoire sociale entsprechen würde, besteht aus den Strukturen, die als Hintergrund für die Ereignisse der ersten Schicht dienen: Landschaft, Gebäude und soziale Gepflogenheiten bestimmen diese Schicht. In unserem Auslegungsvorschlag wäre die tiefere Schicht die formende Instanz des Werkes eines Autors, seine Poetik, die sich wie die geologischen Ereignisse normalerweise langsam bewegt. Die oberste Schicht ist durch Akzentverschiebungen stark bewegt. Fängt man mit der Beschreibung der ausdruckvollsten Störlinien an, so kann man für die besprochenen Texte Wilcocks folgende mögliche Erzählstränge zusammenfassen: Im Gedichtband werden unglückliche Liebesgeschichten beschrieben, die durch unheimliche Erscheinungen und rätselhafte Landschaften charakterisiert sind. Sie werden von der Erniedrigung der Frau zu einem Gegenstand und von ihrer Entsorgung mithilfe der donguis, der hässlichen Würmer, die die Welt hinunterschlingen werden, in Wilcocks Kurzprosa abgelöst; die groteske Situation wird dadurch hervorgehoben, dass die Menschen versuchen, die Welt vor den donguis zu retten, indem sie unwahrscheinliche Hotels – d. h. durch Komfort gekennzeichnete Gebäude in einer öden Gegend, die sowieso den Würmern zum Opfer fallen wird – bauen, deren Konstruktion einem Mittäter der donguis anvertraut wird. Im Briefroman wird die Grausamkeit der wilden Würmer verinnerlicht und der Protagonist wird noch zynischer : Der Protagonist selbst ist vermutlich Menschenfresser in einer Natur, die durch die Erwähnung hässlicher Überreste aus fern liegenden geologischen Zeiten – der Gürteltiere – noch unheimlicher geworden ist. Auch die Auswirkung der wild herunterströmenden Sturzbäche im Verhältnis zur früheren Gruselgeschichte über die donguis ist im Briefroman schlimmer geworden: Die reißenden Gewässer zermalmen die Leiber. Was die Wetterlage anbelangt, herrscht im Gedichtband Nebel und Regen, während der Wind in den späteren Prosawerken Wilcocks hingegen immer mehr zunimmt: In „Los Donguis“ zerzaust er die Haare der Damen aus Buenos Aires82, 82 Hier eine mögliche Deutung des Namens der Würmer, donguis. In der Erzählung wird behauptet, dass die Tierbezeichnung sich auf Donneguy, den Eigennamen eines anscheinend erfundenen europäischen Biologen, beziehe. Eine Recherche in den Archiven der literarischen Welt Argentiniens jedoch führte zu Renata Donghi Halper&n, der Herausgeberin der Zeitschrift Insula, die ab 1943 herausgegeben wurde, also in der Zeit, in der Wilcock seine Zeitschriften Verde memoria und Disco veröffentlichte. Eine ironische Anspielung ist wohl möglich, da die Leiterin vermutlich eine poetische Richtung vertrat, die nicht mit der von

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in L’ingegnere trocknet er die Haut aus und behindert den Fortgang der Bauarbeiten. Die mittlere Schicht besteht aus einer Schicht, die sich aus verschiedenen Materialien zusammensetzt. Von schönen Gärten und spärlich erwähnten oder dargestellten architektonischen Elementen im Gedichtband wird sie in der Kurzerzählung „Los donguis“ von einer vornehmen Architekturlandschaft aus mit komplizierten Vorrichtungen ausgestatteten Hotels in einer wüsten Natur abgelöst, um schließlich bei ganz gewöhnlichen Baracken unter als dumm bezeichneten Andenbewohnern in L’ingegnere zu landen. Das unterste Schichtmaterial, welches die soeben beschriebenen höheren Schichten trotz seiner eigenen Trägheit mittels tektonischer Schübe bewegt, könnte als eine skeptische, konfliktbeladene zwischenmenschliche Welt aufgefasst werden, die vom lyrischen oder erzählenden Ich im Laufe der literarischen Entwicklung von Wilcock immer dramatischer dargestellt wird. Man könnte den Ansatz von Braudel nicht nur textimmanent anwenden, sondern die historischen und gesellschaftlichen Hintergründe der Welt, in der Wilcock gelebt hat, so berücksichtigten, dass einige sonst unerklärliche Elemente seiner Werke durch die oben skizzierte Darstellung der Schichtverschiebungen Bedeutung bekommen. Eine Verwandlung auf der sprachlichen Ebene bietet ein geeignetes Beispiel an. Das Säckchen und die darin enthaltenen Knöchelchen in L’ingegnere könnten in einer Weise ausgelegt werden, die mit dem beschriebenen literarischen Werdegang Wilcocks in Einklang steht. Die Knöchelchen haben sich als eine mögliche Anspielung auf Kannibalismus erwiesen. Aber sie sind auch Spielsteine im seit der Antike existierenden Spiel des Astragals, Spielsteine, die auf der spanischen Halbinsel als taba und in Argentinien als huesos (spanisch für „Knochen“) bekannt sind. Dieses Spiel war bei den Gauchos, den Rinderhirten der Pampa, sehr beliebt83. Die Spielsteine sind somit in einer einfachen, wilden, in Argentinien als primitiv auf- oder abgewerteten Welt beheimatet, in der Tiere zu Ernährungszwecken geschlachtet werden. Die Einfügung von ossetti (Italienisch für „Knöchelchen“), die auf Italienisch keine Spielsteine bezeichnen, kann als eine Art kulturelle Übersetzung betrachtet werden, die eher eine befremdende als eine kompensatorische Strategie verfolgt. Die Gegensatzpole Buenos Aires – Landleben, die in zweideutiger

Wilcocks Zeitschrift harmonierte. Vgl. Amanda Salvioni, „Wilcock e la generazione poetica argentina degli anni Quaranta“, in: Roberto Deidier (Hg.), Segnali sul nulla. Studi e testimonianze per Juan Rodolfo Wilcock, Rom 2002, S. 61. 83 Für eine ausführliche Beschreibung des Spiels in der Antike siehe Amandry P. in Enciclopedia dell’ Arte Antica II Supplemento, Milano 1994, Artikel „Astragalo“. Das Thema wird auch detailliert in der Ausgabe der Enciclopedia italiana aus dem Jahre 1930 behandelt. Siehe http://www.treccani.it/enciclopedia/astragalo_%28Enciclopedia-Italiana%29/ (20. 3. 2013).

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Weise für Kultur und Natur stehen könnten84, werden zwar nach Italien und ins Italienische übertragen; aber die Bezeichnung eines Gegenstandes, dem in Argentinien eine bestimmte Funktion zugewiesen wird, ist für die italienischen LeserInnen verwirrend und kann sie auf die Spuren von Kannibalismus führen. Eine Schicht ist untergegangen (das Spiel einfacher, wilder Menschen) und eine andere (Kannibalismus) ist an die Oberfläche geschoben worden. Die Zeit und die Erfahrung des Autors, die zwischen den analysierten Werken liegen, scheinen seine Auffassung des Wesens des Menschen negativer gefärbt zu haben, obwohl nicht eindeutig festzulegen ist, welche konkreten Ereignisse diese Wandlung in Gang gesetzt haben. Aber die schärfste Wende in Wilcocks Werk, diejenige, die die Form einer Verwerfung annimmt, ist die Wandlung des Stellenwertes der Frau im Gattungswechsel: Im Gedichtband hat die Frau einen positiven Wert und wird entlang gewöhnlicher Stereotypen beschrieben (rote Lippen, lange Haare etc.). Außerdem darf man nicht vergessen, dass die von Wilcock inszenierte mythologische Geschichte von Leander und Hero, die für das gegenseitige Verlangen zwischen zwei Liebenden steht, die Frau als Überlebende darstellt. In den anderen hier analysierten Werken dagegen rückt die Frau als passives begehrtes Subjekt in den Hintergrund. In Los donguis verschwindet sie als gleichwertiges Subjekt in Bezug zum Erzähler, um auf das Niveau eines Objektes herabgewürdigt zu werden, das nach Gebrauch weggeworfen und vernichtet wird. Im Briefroman erscheint sie als fragwürdige und gesichtslose85 Adressatin der Briefe eines Jungen, der auf das Tierische regrediert ist. Im vorliegenden Beitrag wurde der Versuch unternommen nachzuweisen, wie fruchtbar es sein kann, nicht nur nach Brüchen, sondern auch nach Kräuselungen, Rissen, Falten, Verwerfungen und deren Bewegungen in Texten bzw. schöpferischen Epochen von SchriftstellerInnen mit Migrationshintergrund zu suchen. Die Bewegungen und Wandlungen in Bezug auf nur ein Motiv – Uspallata und seine Präsenz in den analysierten Werken von Wilcock – haben dazu beigetragen, die Wandlungen in der poetischen Welt des Autors aufzuspüren, indem sowohl Kontinuitäten als auch Transformationen aufgezeigt werden konnten, welche sich auf andere Aspekte der Werke auswirken oder wenigstens in Einklang mit ihnen stehen. Die Ergebnisse stammen aus Bruchstücken eines poetischen Kosmos, dessen Fragmente mit Mühe gesammelt und 84 Die Beziehung der Werte Natur und Kultur zu den genannten Orten ist zweideutig, weil der Ingenieur aus Buenos Aires stammt, so ausgebildet ist, dass er auf Französisch dichten kann, sich aber auf die Stufe der Menschenfresser zurückgebildet hat. Die Menschen, die auf dem Lande leben, sind hingegen durch keine negative Eigenschaft gekennzeichnet, abgesehen von den abschätzigen Bemerkungen des Ingenieurs. 85 Man erinnere sich, dass die Büste der Frau auf dem Umschlag der ersten Ausgabe des Romans verwischte Züge zeigt. Vgl. Fußnote 75.

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mit sorgsamer Umsicht miteinander in Verbindung gebracht wurden. Diese scheinbar nebensächlichen Bruchstücke bieten jedoch ein tieferes Verständnis der analysierten Werke und der Entwicklung der Poetik des Autors.

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Hannes Schweiger

Brüchige Biographien? Migrationserfahrungen in literarischen Lebensgeschichten1

Glatte Lebensgeschichten, die eine durchgehende Entwicklung von der Geburt bis zum Tod – mit allen Höhen und Tiefen – suggerieren, sind Fiktion. Die Faszination des Biographischen besteht gerade in dieser „rhetorischen Illusion“, die uns das Leben „als kohärente Erzählung einer signifikanten und auf etwas zulaufenden Folge von Ereignissen“ betrachten lässt.2 „Die Annahme von Brüchen und Zufällen als wesentlichen Konstituenten biographischer Entwicklung ist schwer zu akzeptieren“, weshalb an der Gattung Biographie, trotz anderslautender soziologischer Befunde, literarischer Gegenentwürfe im Roman oder postmoderner Identitätsskepsis das Etikett ,Entwicklung‘ klebt.3 Die Biographik hat sich immer wieder mit der Frage auseinandergesetzt, wie die Vorstellung von der kohärenten Entwicklung einer Lebensgeschichte geschaffen und die Konstruktion einer das ganze Leben umfassenden Identität zur Darstellung gebracht wird. Bruchlose Biographien sind nur auf Kosten der Komplexität gelebten Lebens zu haben und erfordern Glättungen, Ausblendungen und rhetorische Strategien der Vereindeutigung. Doch welche spezifische Bedeutung gewinnt die Frage nach der Identität im Laufe eines Lebens, wenn sprachliche, kulturelle oder politische Grenzen überschritten werden? Welche Implikationen hat das für die Darstellung einer Lebensgeschichte? Welche biographischen Möglichkeitsräu1 Teile des vorliegenden Beitrags gehen auf die folgenden zwei Aufsätze zurück: Hannes Schweiger, „Sprechen ,Spaltköpfe‘ mit ,Engelszungen‘? Identitätsverhandlungen in transnationalen Familiengeschichten“, in: Hajnalka Nagy, Werner Wintersteiner (Hg.), Immer wieder Familie. Familien- und Generationenromane in der neueren Literatur, Innsbruck, Wien, Bozen 2012, S. 157–172; Hannes Schweiger, „Polyglotte Lebensläufe. Die Transnationalisierung der Biographik“, in: Michaela Bürger-Koftis, Hannes Schweiger, Sandra Vlasta (Hg.), Polyphonie – Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität, Wien 2010, S. 23–38. 2 Pierre Bourdieu, „Die biographische Illusion“, in: Bernhard Fetz, Wilhelm Hemecker (Hg., unter Mitarbeit von Georg Huemer und Katharina J. Schneider), Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin, New York 2011, S. 303–310, hier S. 305. 3 Bernhard Fetz, „Die vielen Leben der Biographie. Interdisziplinäre Aspekte einer Theorie der Biographie“, in: Bernhard Fetz (Hg., unter Mitarbeit von Hannes Schweiger), Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin, New York 2009, S. 3–66, hier S. 18.

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me werden durch Grenzüberschreitungen eröffnet? Welche Bedeutung wird migrationsbedingten Brüchen in Lebensgeschichten zugeschrieben? In Dimitr8 Dinevs Erzählung „Lazarus“ (2005) markiert die Migrationserfahrung den radikalen Bruch zwischen einem Leben vor dem Überschreiten der Grenze und einem neuen Leben danach: Die Migration führt zur Wiedergeburt. Effektvoll wird der Text mit dem Zuknallen des Sargdeckels eröffnet, das im Protagonisten Lazarus „ein paar Gedanken in Gang setzt […]“ und ihn dazu veranlasst über sein Dasein „nachzusinnen“.4 Er lässt sein Leben von der Geburt an Revue passieren und entledigt sich gerade durch den Vorgang des Erinnerns seiner bisherigen Existenz. Beim Überschreiten der Grenze nach Österreich schläft er ein und stirbt einen metaphorischen Tod. Sein neues Leben in Österreich beginnt damit, dass er (gemeinsam mit vier Albanern, zwei Bosniern und einem Rumänen) aus dem Sarg steigt. Er wird in einem neuen Land und in einer neuen Existenz wiedergeboren. Auch in Julya Rabinowichs Spaltkopf (2008) ist von Migration als Wiedergeburt die Rede: „Meine Eltern, begleitet von Großmutter Ada, haben die Wiedergeburt schon hinter sich. Sie stehen in der Halle, die zum Terminal der Flugzeuge führt.“ Die Verbindung zwischen altem und neuem Leben ist der Gang, „an dessen Anfang die heulenden Familienmitglieder versammelt sind, die der Sowjetunion erhalten bleiben. An dessen Ende steht das Licht einer neuen Welt.“5 Und in diese neue Welt tritt die Protagonistin und Ich-Erzählerin als Siebenjährige, die fortan einen „Riss quer mittendurch“6 spürt. Wie sie mit diesem Riss lebt, wie ihr Leben nach der Flucht weitergeht, welche Perspektiven sie auf ihr neues Lebensumfeld entwickelt und wie sie mit den unterschiedlichen Zugehörigkeitsangeboten zwischen Herkunftsland und gegenwärtigem Lebensmittelpunkt umgeht, sind wichtige thematische Aspekte in diesem Roman. Lebensgeschichten, in denen physische und sprachliche Grenzen überschritten werden, stehen auch im Mittelpunkt des Romans Engelszungen (2003) von Dimitr8 Dinev7: Es sind die Biographien von Iskren und Svetljo samt ihrer jeweiligen Familiengeschichten, die in einem komplexen Geflecht von Bezügen und Wechselwirkungen dargestellt werden. Im Fall von Iskren wird der biographische Bruch durch mehrfache Namenswechsel markiert. Die biographische Illusion eines Lebenslaufes, die auf der Annahme eines konstanten und einheitlichen, wenngleich nicht widerspruchsfreien Subjekts beruht, wird auch nicht mehr durch den Eigennamen aufrechterhalten, der laut Pierre Bourdieu „über alle Veränderungen […] hinweg die nominale Konstanz“ sichert, „die 4 Dimitr8 Dinev, „Lazarus“, in: Ders.: Ein Licht über dem Kopf. Erzählungen, Wien 2005, S. 56–92, hier S. 56. 5 Julya Rabinowich, Spaltkopf. Roman, Wien 2008, S. 20. 6 Ebd., S. 173. 7 Dimitr8 Dinev, Engelszungen. Roman, Wien, Frankfurt/M. 2003.

Migrationserfahrungen in literarischen Lebensgeschichten

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Identität im Sinne von Identität mit sich selbst, constantia sibi, welche die soziale Ordnung verlangt“8. Iskren wechselt seinen Namen mehrmals, weil er einerseits vor der Polizei flieht und andererseits einen möglichst einfachen Weg über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg sucht. Julya Rabinowich beendet ihren Roman Die Erdfresserin (2012) mit einer ins Fantastische gewendeten Szene, in der die Protagonistin buchstäblich in die Erde geht und dabei fortwährend ihren Namen wiederholt. Dies dient der Selbstvergewisserung, nachdem ihre Identität und ihr Leben durch die Belastungen als illegalisierte Migrantin immer wieder gefährdet waren: Diana, Diana, ich heiße Diana, sage ich mir vor, immer und immer wieder, das ist mein Mantra, das mich begleitet, ins Finstere hinein, ins Tiefere, das leicht modrig, aber sehr vertraut riecht, es ist eine Heimkehr voller Umarmung. Diana darf man nicht vergessen, jeder, der nach Betreten des Erdreiches seinen Namen vergisst, geht darin verloren.9

Migration kann traumatisierende Verlusterfahrungen mit sich bringen, die das „neue“ Leben nachhaltig prägen und es letztendlich zu zerstören drohen. In den genannten Texten von Dimitr8 Dinev und Julya Rabinowich werden auf unterschiedliche Weise Brüche in Lebensgeschichten, in denen Migrationserfahrungen eine zentrale Rolle spielen, thematisiert und dargestellt. Und es wird auch gezeigt, wie mit diesen Brüchen umgegangen wird, abhängig von einer Vielzahl an politischen, ökonomischen, sozialen und geschlechterbezogenen Faktoren. Julya Rabinowich spricht in einem Interview davon, dass es sich bei Spaltkopf um die Darstellung der „Entwurzelung einer jüdischen Familie und deren Umtopfung, Zerfall und Neudefinition“ handelt.10 Damit sind auch die drei Stadien des Migrationsprozesses in diesem Roman benannt, der zu einer Neudefinition der Identität der Protagonistin und ihrer Familie führt. Im Folgenden möchte ich mich der Frage widmen, welche Bedeutung der Migrationserfahrung in Lebensgeschichten beigemessen wird. Nehmen die Protagonistinnen und Protagonisten die Migrationserfahrung als Bruch wahr? Wie gehen sie mit der Erfahrung des Bruchs um? Wie stellen sie Kontinuitäten her? Welche Konsequenzen hat die Migrationserfahrung für die jeweiligen Identitätskonstruktionen? Wie wird Identität angesichts der Migrationserfahrung re-konstruiert, umgeschrieben, neu geschrieben? Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen stehen die Romane Spaltkopf und Die Erdfresserin von Julya Rabinowich, die die Autorin selbst einander gegenüberstellt: Spaltkopf sei 8 Bourdieu, „Die biographische Illusion“, S. 307; Hervorhebungen im Original. 9 Julya Rabinowich, Die Erdfresserin. Roman, Wien 2012, S. 235. 10 Julya Rabinowich, „,Dann hätten wir bald viele Würstelstand-Literaten‘. Schriftstellerin Julya Rabinowich über ihre Abneigung gegen den Begriff ,MigrantInnen-Literatur‘“, in: Der Standard, 19. 11. 2008, ohne Seitenzahlen, http://derstandard.at/1226396889022/InterviewDann-haetten-wir-bald-viele-Wuerstelstand-Literaten [letzter Zugriff 19. 12. 2015].

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die „Geschichte eines Zusammenwachsens einer Persönlichkeit“, Die Erdfresserin hingegen das „Porträt eines Zerfalls, einer Zersplitterung“.11 Hintergrund für die Analyse literarischer Darstellungen von Migrationserfahrungen im Zeichen eines Bruchs bilden Ansätze zu einer transnationalen Biographik, die in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen haben.

Transnationalisierung der Biographik Die Biographik stand lange im Zeichen des nationalen Paradigmas und erfüllte grundlegende Aufgaben für eine entsprechend gerahmte Erinnerungskultur : „die Beantwortung von Fragen nach gemeinsamer Herkunft, die Stiftung nationaler Identität und die Vermittlung bestimmter Werte und Normen“.12 Den Darstellungen von Lebensgeschichten kommt daher eine wichtige identitätsstiftende und -stabilisierende Funktion für das Selbstverständnis eines Kollektivs zu. Vor allem im 19. Jahrhundert dienten sie häufig der Etablierung von Nationalhelden, von denen Vorbildwirkung ausgehen sollte. Zudem spiegeln sich in den biographischen Darstellungen der Zeit auch Rivalitäten und Allianzen, Aneignungs- und Abwehrprozesse zwischen Nationen wider.13 Mit einer Transnationalisierung der Biographik ist nun eine Verschiebung der Perspektive gemeint, die unterschiedliche Konsequenzen hat:14 Erstens werden bestehende Lebensgeschichten umgeschrieben und erfahren eine Re-Perspektivierung. So wurde etwa Alexander von Humboldt seit dem 19. Jahrhundert immer wieder durch eine nationale oder nationalistische Brille betrachtet, was je nach Perspektive unterschiedliche Akzentuierungen und Auslassungen zur Folge hatte. Der deutsche Humboldt war somit ein anderer als der englische oder 11 Brigitte Schwens-Harrant, Ankommen. Gespräche mit Dimitr8 Dinev, Anna Kim, Radek Knapp, Julya Rabinowich, Michael Stavaricˇ, Wien, Graz, Klagenfurt 2014, S. 76. 12 Astrid Erll, „Biographie und Gedächtnis“, in: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Theorien, Traditionen, Stuttgart, Weimar 2009, S. 79–86, hier S. 79. Vgl. weiters Fetz, „Die vielen Leben der Biographie“, S. 22–29. 13 Vgl. Falko Schnicke, „19. Jahrhundert“, in: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Theorien, Traditionen, Stuttgart, Weimar 2009, S. 243–250; Deborah Holmes, „Internationaler Nationalismus. Überlegungen zur deutsch-italienischen Biographik im 19. Jahrhundert“, in: Bernhard Fetz (Hg., unter Mitarbeit von Hannes Schweiger), Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin, New York 2009, S. 441–469; Hannes Schweiger, „Abgrenzung und Aneignung. Deutsch-britische Transferprozesse in der Biographik des langen 19. Jahrhunderts“, in: Bernhard Fetz (Hg., unter Mitarbeit von Hannes Schweiger), Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin, New York 2009, S. 419–439. 14 Vgl. zuletzt Hannes Schweiger, „Lebensläufe über Grenzen. Zur Transnationalisierung der Biographik“, in: Christian Klein, Falko Schnicke (Hg.), Legitimationsmechanismen des Biographischen: Kontexte – Akteure – Techniken – Grenzen, Frankfurt/M. 2016.

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französische. Dem hält Ottmar Ette seine Darstellung entgegen, die Humboldt als globales Subjekt bzw. als Kosmopoliten zeigt,15 und Nicolaas Rupke vergleicht aus metabiographischer Sicht die unterschiedlichen Versionen seiner Lebensgeschichte im Hinblick auf die jeweiligen, national geprägten Schwerpunktsetzungen.16 Zweitens geraten bislang vergessene und nicht beachtete Lebensgeschichten in den Blick, nämlich gerade jene, für die das (mehrfache) Überschreiten nationalstaatlicher Grenzen konstituierend ist. Das Erkenntnisinteresse in der Beschäftigung mit solchen transnationalen Lebensgeschichten in der kulturwissenschaftlichen Biographik wie auch in der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung besteht unter anderem darin, der Bedeutung von Migrationserfahrungen für individuelle und kollektive Identitätskonstruktionen nachzugehen. Drittens bringt eine Transnationalisierung der Biographik auch ein verstärktes Interesse für Transferprozesse mit sich. Die Transnationale Geschichtsschreibung hat daher in den vergangenen Jahren die Verbindungen über nationale und kulturelle Grenzen hinweg, die Zirkulation von Waren ebenso wie von kulturellen Artefakten und die Migrationsbewegungen zwischen Ländern und Kontinenten in den Blick genommen. Dabei spielt der biographische Zugang eine wichtige Rolle, erlaubt er doch Mikro- und Makrogeschichte miteinander zu verbinden.17 Im Sinne einer Neuperspektivierung in der Geschichtswissenschaft fordert Madeleine Herren eine intensive Auseinandersetzung mit den Lebensgeschichten von Personen, die kulturelle und sprachliche Grenzen überschritten haben. Charakteristisch für globale, transgressive Subjekte sind mehrfache und vielfältige Grenzüberschreitungen, die territoriale, nationale, politische und soziale Ordnungsvorstellungen einbeziehen.18 Viertens führt die Transnationalisierung zu einer nachhaltigen und produktiven Verunsicherung: „The transnationalism – the mobility, confusion and 15 Vgl. Ottmar Ette, Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des Wissens, Frankfurt/M. 2009. 16 Vgl. Nicolaas A. Rupke, Alexander von Humboldt. A Metabiography, Chicago 2008. Vgl. dazu auch: Hannes Schweiger (gem. m. Deborah Holmes), „Nationale Grenzen und ihre biographischen Überschreitungen“, in: Bernhard Fetz (Hg., unter Mitarbeit von Hannes Schweiger), Die Biographie – Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin, New York 2009, S. 385–418. 17 Vgl. u. a. zuletzt Desley Deacon, Penny Russell, Angela Woollacott (Hg.), Transnational Lives. Biographies of Global Modernity, 1700-present, Basingstoke 2010. 18 Vgl. Madeleine Herren, „Inszenierungen des globalen Subjekts. Vorschläge zur Typologie einer transgressiven Biographie“, in: Historische Anthropologie 13 (2005), S. 1–18, hier S. 17; weiters: Madeleine Herren, „Between Territoriality, Performance, and Transcultural Entanglement (1920–1939): ATypology of Transboundary Lives“, in: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 23 / 6 (2013), S. 100–124; Madeleine Herren, Martin Rüesch, Christiane Sibille, Transcultural History. Theories, Methods, Sources, Berlin 2012.

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sheer messiness – of ordinary lives threatens the stability of national identity and unsettles the framework of national histories.“19 Biographien über transgressive Subjekte tragen daher zur Infragestellung und Entgrenzung national gefasster Biographik und damit auch zu einer eben solchen Geschichtsschreibung und Literatur- und Kulturgeschichte bei. Gerade angesichts von Renationalisierungstendenzen und gegenwärtigen Konfliktlagen in den europäischen Migrationsgesellschaften, in denen ethnische, religiöse oder kulturelle Konstruktionen eine entscheidende Rolle spielen, erhält die Beschäftigung mit transnationalen Lebensgeschichten auch eine (gesellschafts-)politische Signifikanz. Sie ist verbunden mit einer kritischen Analyse natio-ethno-kultureller Zugehörigkeitsordnungen, deren Wirkmächtigkeit sich anhand von Lebensgeschichten nachvollziehen lässt. Die Exilforschung widmet sich seit langem jenen Lebensgeschichten, die im Zeichen des Bruches durch Flucht oder Vertreibung stehen. Eine biographietheoretische Auseinandersetzung mit dem Bruch als konstitutivem Merkmal solcher Lebensläufe erfolgte allerdings kaum.20 Ein Interesse für „dynamics which challenge and transcend prevalent ideas of self-contained (usually Western) culture“21 ist in der Soziologie, Politikwissenschaft oder Geschichtswissenschaft ebenso anzutreffen wie in den ,Memory Studies‘, die sich im Sinne von „transcultural memory studies“ in zunehmendem Maße grenzüberschreitenden Prozessen kollektiven Erinnerns widmen. Der behaupteten Homogenität von Nationalstaaten wird ihre tatsächliche Heterogenität gegenübergestellt, und zugleich wird den transkulturellen und transnationalen Netzwerken kollektiven Erinnerns mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Astrid Erll versteht unter transkulturellem Gedächtnis „the incessant wandering of carriers, media, contents, forms, and practices of memory, their continual ,travels‘ and ongoing transformations through time and space, across social, linguistic and political borders“.22 In diesen Prozessen transkulturellen Erinnerns spielen literarische Texte eine wichtige Rolle als Speichermedien des kollektiven Gedächtnisses. Sie können Perspektiven auf Lebensgeschichten von Akteurinnen und Akteuren eröffnen, für die Grenzüberschreitungen konstitutiv sind und die die Effekte natio-ethno-kultureller Zugehörigkeitsordnungen und ihrer Wirkmächtigkeit vorführen. In transgressiven Lebensgeschichten lassen sich die Interaktionen des oder der Einzelnen in wechselnden Norm- und Sozialsystemen nachverfolgen, um so auch Lebensstrategien und Handlungs19 Desley Deacon, Penny Russell, Angela Woollacott, „Introduction“. In: Deacon, Russell, Woollacott, Transnational Lives, S. 1–11, hier S. 2. 20 Vgl. Katharina Prager, „,Exemplary Lives?‘ Thoughts on Exile, Gender and Exile Writing“, in: Charmian Brinson, Andrea Hammel (Hg.), Exile and Gender I: Literature and the Press (= Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 17), Leiden 2016. 21 Astrid Erll, „Travelling Memory“, in: Parallax, 17 / 4 (2011), S. 4–18, hier S. 8f. 22 Erll, „Travelling Memory“, S. 9.

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möglichkeiten in unterschiedlichen Zusammenhängen zu rekonstruieren.23 Dabei stellt sich nicht nur die Frage, welche Konsequenzen Migrationserfahrungen für die Identität des/der Einzelnen haben, sondern auch wie transnationale Lebensgeschichten unsere Vorstellungen von Identität verändern, gerade auch hinsichtlich der Bedeutung, die der Herkunft beigemessen wird.

Spaltkopf – Von der Überwindung der Spaltung Julya Rabinowich bildet die Schwierigkeit des Erzählens von der eigenen Migrationsgeschichte in ihrem erstmals 2008 erschienenen Roman Spaltkopf ab. Der brüchig gewordenen Identität entspricht die Form dieser lebensgeschichtlichen Darstellung. Spaltkopf besteht aus drei ungleich langen und unterschiedlich gestalteten Teilen. Der erste Teil, vier Seiten lang, führt unter dem Titel „Abgebissen, nicht abgerissen“ einige der zentralen Themen und Motive des Textes ein und beschreibt in assoziativen Bildern, ähnlich einem schnell geschnittenen Kurzfilm, eine Reise der Protagonistin, die mit den auch für ihre Lebenssituation als Migrantin entscheidenden Sätzen endet: „Ich bin nicht daheim. / Ich bin angekommen.“24 Ankommen kann sie nur in der Bewegung, im fortwährenden Unterwegssein. „Abgebissen fühle ich mich […], denn das Land, aus dem ich kam, hängt nicht an mir und ich nicht an ihm. Keine Fasern verbinden mich mehr damit.“25 Sie fühlt nicht nur keine Verbindung mehr mit ihrem Herkunftsland, sie fühlt sich selbst so, als ob ein Teil fehlen würde. Der Bruch in der Biographie führt zum Gefühl eines verwundeten, beschädigten Körpers, das Ich scheint fragmentiert. Die Situation der Ich-Erzählerin, die als Kind mit ihrer Familie aus der Sowjetunion emigriert war und die nunmehr in Österreich ihren Lebensmittelpunkt gefunden hat, fasst Rabinowich in folgendes Bild: „Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, wähle ich das Nagelbrett.“26 Von einem Leben zwischen zwei Stühlen zu sprechen, erscheint nicht als angemessenes Bild für die Migrationssituation. Auch wenn das Nagelbrett kein gemütlicher Platz zu sein verspricht, wählt die Ich-Erzählerin doch diesen „Dritten Ort“. In der Fremde bzw. im Unterwegssein lässt es sich nicht gemütlich einrichten. Unterwegs zu sein wird zur einzig möglichen Lebensform, auch wenn damit nicht unbedingt physisches Unterwegssein gemeint sein muss. „Wir sind Zugvögel, Mama“, er23 Bernd Hausberger, „Globalgeschichte als Lebensgeschichte(n)“, in: Ders. (Hg.), Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen, Wien 2006, S. 9–27, hier S. 21. 24 Rabinowich, Spaltkopf, S. 10. 25 Rabinowich, Spaltkopf, S. 7. 26 Rabinowich, Spaltkopf, S. 7.

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klärt die kindliche Ich-Erzählerin kurz nach der Einreise nach Österreich ihren Eltern.27 Unterwegs ist die Protagonistin eben auch in dem Sinn, dass sie an keinem Ort mehr heimisch sein kann und will. Nur die Sprache bietet ein Dach über dem Kopf, sie wird zum „tragbare[n] Himmel“.28 Im zweiten Teil des Romans wird unter dem Titel „Die Hunde von Ostia“ die Geschichte der Emigration der Familie, zu der die Ich-Erzählerin gehört, aus der Sowjetunion nach Österreich dargestellt. „Baba Yaga Girl“ nennt sich der dritte Teil, in dessen Mittelpunkt die Ich-Erzählerin Mischka in der Gegenwart und Zukunft steht. Wie auch in anderen literarischen Lebensgeschichten wird die Migrationsgeschichte in Spaltkopf nicht chronologisch erzählt, sondern mit Zeitsprüngen und einem Hin und Her zwischen Gegenwart und Vergangenheit, teilweise auch mit Sprüngen in die Zukunft. Das Erzählen funktioniert hier wie das Erinnern: assoziativ und sprunghaft.29 Der Großteil des Romans wird zwar von Mischka in der Ich-Form erzählt, es gibt aber eine weitere Erzählperspektive, die sich erst allmählich identifizieren lässt. In kursiv gedruckten Passagen spricht, mit teilweise lyrischem Tonfall, der so genannte „Spaltkopf“, ein erfundenes Fabelwesen, das sich selbst an einer Stelle als „Chronist“ bezeichnet.30 Der Spaltkopf diente in der Kindheit der Protagonistin der Abschreckung und war ein Drohmittel: „Wir sollen ins Bett, sonst, droht meine Mutter mit erhobener Stimme und Zeigefinger : ,Sonst kommt der Spaltkopf.‘“31 Das Bedrohliche an ihm: Er frisst Gedanken auf und lebt von der menschlichen Energie, die er in sich aufsaugt. Vom Erziehungsmittel und Schreckgespenst der Kindheit wird der Spaltkopf zu einem Sinnbild der Situation der Migrantin: In der Migrationssituation raubt er den Migrantinnen und Migranten ihre Energie und schwebt stets bedrohlich hinter ihnen. Die Doppelperspektive des Erzählens ist angesichts des von Mischka beschriebenen Spagats zwischen den Ländern bzw. Kontinenten nur konsequent. Hier wird also keine kohärente individuelle Lebensgeschichte als Familiengeschichte erzählt, sondern der Roman bildet in seiner Konstruktion, seiner Sprache und seinen Erzählstimmen die Komplexität des Erzählten und die Schwierigkeiten bei der Konstruktion von Geschichten und Identität ab. Spalt-

27 Rabinowich, Spaltkopf, S. 49. 28 Anna Kim, Die Bilderspur, Graz, Wien 2004, S. 23. 29 Weertje Willms, „,Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe, nehme ich das Nagelbrett‘. Die Familie in literarischen Texten russischer MigrantInnen und ihrer Nachfahren“, in: Michaela Holdenried, Weertje Willms (Hg., in Zusammenarbeit mit Stefan Hermes), Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2012, S. 121–141, hier S. 138. 30 Rabinowich, Spaltkopf, S. 119. 31 Rabinowich, Spaltkopf, S. 18.

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kopf ist ein vielstimmiger Roman und insofern bezeichnend für einen Roman über die Emigration einer Familie und eine migrantische Lebensgeschichte. Der Bruch in der Lebensgeschichte löst bei der Ich-Erzählerin eine fortwährende Auseinandersetzung mit der eigenen Identität aus: Um mein Gesicht nicht ständig zu verlieren, blicke ich in meinen Taschenspiegel. Manchmal bis zu dreißig Mal am Tag. Überall und immer blicke ich in den Spiegel. Und immer verfolgt mich das Gefühl, dahinter noch ein Augenpaar zu erkennen, das seinen Blick in ruhiger Konzentration auf mich gerichtet hat.32

Das Augenpaar, von dem die Bedrohung ausgeht, gehört dem Spaltkopf. Eine Konsequenz des biographischen Bruchs ist das Vergessen, das Ausblenden der Zeit davor : „Jahre später kann ich mich kaum daran erinnern, nicht hier [also in Österreich, Anm. HS] geboren worden zu sein.“33 Dabei kann es sich auch um eine biographische Strategie handeln: Die eigene Lebensgeschichte wird im Prozess des doing biography umgeschrieben und der – schmerzhafte – Bruch soll zum Verschwinden gebracht werden, indem das Leben vor der Migration ausgeblendet wird. Der Riss geht im Spaltkopf nicht nur durch die Ich-Erzählerin, sondern auch durch die Familie: Die Emigration reißt Menschen auseinander. Sie erfahren von Höhepunkten und Unglücksfällen über Brief und Telefon. Direkter Kontakt ist unmöglich. Als hätten sie sich auf einem anderen Planeten niedergelassen, geht ihr Atem schwerer in ihren Raumanzügen, die sie nicht abzulegen wagen, aus Angst, in der ungewohnten Atmosphäre keine Luft zu bekommen.34

Migration kann zu Entfremdung zwischen den Menschen führen, einerseits aufgrund des fehlenden direkten Kontakts und der großen räumlichen Distanz zu den Zurückgebliebenen, andererseits aufgrund der Schutzmechanismen, die in der neuen Umgebung notwendig sind oder zu sein scheinen. Den Raumanzug abzulegen und sich des Schutzes in der Fremde zu entledigen, hieße möglicherweise zu sterben – zumindest ist die Angst vorhanden, dass die Luft zum Atmen und damit die Lebensgrundlage fehlt. Zu prekär, zu gefährlich ist das neue Leben nach der Migration. Die Verbindungen zu Familienmitgliedern, die nicht mitgekommen sind, sind gekappt; der Tod der Verwandten verliert seine Unmittelbarkeit: „Ihr Tod ist nicht nachprüfbar. Ich kenne keine offenen Gräber und keinen Leichenschmaus. Ich kenne Menschen, deren Existenz sich allein aus ihren Stimmen im Telefonhörer speist. Dann verstummen diese Stimmen“35. 32 33 34 35

Rabinowich, Spaltkopf, S. 161. Rabinowich, Spaltkopf, S. 9. Rabinowich, Spaltkopf, S. 84. Rabinowich, Spaltkopf, S. 84.

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Baba Sara, die Großmutter, stirbt, doch ihr Sohn, der Vater der Protagonistin, kann nicht zum Begräbnis, weil dies der Eiserne Vorhang unmöglich macht. Während in Die Erdfresserin nur die Protagonistin Diana und ihre Freundin Nastja migrieren und ihre Familien zurückbleiben, ist es in Spaltkopf die aus Eltern, Kind und Großmutter bestehende Familie, die nach Österreich auswandert. Andere Mitglieder der Familie leben auch außerhalb ihres Herkunftslandes, die Familie ist verstreut in alle Welt: Wie die geballte Urmaterie vor dem Big Bang konzentriert sich die Familie jetzt um den riesigen Piratentisch: die einen werden nach Amerika fliegen, die anderen nach Israel versprengt werden, manche nach Südafrika und Japan, und wir werden bald unsere Galaxie um die sich stetig drehende Sonne Österreichs bilden.36

Über mehrere Länder verstreut zu sein, ist ein wesentliches Kennzeichen transnationaler Familien. Jene, die in Spaltkopf gemeinsam in Österreich bleiben, sind angesichts der geänderten Lebensumstände, der neuen Sprache und der Erfahrungen des Fremdseins aufeinander angewiesen. Mischka erfüllt dabei eine für die Eltern wichtige Hilfsfunktion – ein häufig zu beobachtendes Phänomen in der Migrationssituation. In jedem Fall bleibt das Leben als Migrant oder Migrantin ein fragiles und ist auf unsicherem Boden gebaut, trotz der erzwungenen Allianzen und neuen Gemeinschaften: In der Fremde sind sie [die Familienmitglieder, Anm. HS] durch Angstbande aneinander gefesselt. Wohin der Vertriebene auch geht, die anderen werden ihm folgen, während sie die Nasen hochziehen und ihren Blick arrogant nach oben richten. Doch die Identität ist so brüchig und die Heimat, die sie sich durch Rückversicherung täglich neu unter ihren Füßen bilden müssen, duldet keinen Abfall.37

Die Sehnsucht nach der alten Heimat und damit nach der Wiederherstellung eines bruchlosen Lebens ist mitunter so groß, dass sie in der neuen Heimat nachgestellt wird: Unsere Wohnung [in Wien, Anm. HS] wirkt wie aus St. Petersburg geschnitten, und meine Familie besteht stolz darauf, all ihre russischen Eigenheiten zu bewahren. Wie ein bolschewistisches Bollwerk trotzen sie den Spielregeln der Neuen Welt, ohne auf meine Dolmetschdienste und Orientierungshilfen verzichten zu können.38

Es handelt sich aber eben nur um eine Replik der alten Wohnung in St. Petersburg, die in der Differenz zum Original erst recht den Schmerz des Verlustes spürbar macht. Dabei zeigt sich der unterschiedliche Umgang der verschiedenen Generationen mit dem Leben in einem neuen Land: Während die Enkelkinder, aus deren Perspektive erzählt wird, sich sprachlich und hinsichtlich ihrer Le36 Rabinowich, Spaltkopf, S. 15. 37 Rabinowich, Spaltkopf, S. 62. 38 Rabinowich, Spaltkopf, S. 71.

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bensgewohnheiten so weit an die neue Umgebung anpassen, dass sie sich dadurch notwendige Handlungsspielräume schaffen, tendieren die Eltern, mitunter auch die Großeltern dazu, sich nostalgisch an die alte Heimat zurückzuerinnern und diese zu verklären – oder sie wollen überhaupt dorthin zurückkehren.39 Der biographische Bruch wird aber keineswegs nur als Belastung thematisiert, denn Migration eröffnet auch neue Möglichkeitsräume und Handlungsoptionen, ins Bild gesetzt in der folgenden Szene: Während die Familie in Wien auf ein Visum für Australien wartet, widmet sich der Vater der Ich-Erzählerin verstärkt der Malerei. Die Ich-Erzählerin, noch ein Kind, reißt das „noch triefende Bild“ hoch. „Umgestaltung total, korrespondiert dieses Geschehnis mit unserem Schicksal: ein kleiner Ruck verwischt alle vorgezeichneten Formen, alles ist in Bewegung und möglich.“40 Damit entstehen auch neue Möglichkeiten zur Gestaltung der eigenen Lebensgeschichte und in der Konstruktion der eigenen Identität. Spaltkopf endet damit, dass die Protagonistin den Ort ihrer Herkunft und ihrer Kindheit noch einmal aufsucht. Mischka besucht das Grab ihrer Großmutter, die in der Sowjetunion geblieben ist, und betritt wieder die alte Wohnung. Doch sie weiß, dass sie nie wieder an den Ort ihrer Kindheit zurückkehren wird, dass es kein Zurück mehr gibt. Sie denkt an ihre Tochter, an deren Gesicht, das dem ihren so ähnlich ist. Und sie sieht den Spaltkopf im spiegelnden Fensterglas. Sie nähert sich ihrem Spiegelbild und damit dem Spaltkopf, der, größer als ihr Gesicht, dieses durchscheinen lässt. Der Spaltkopf besitzt „keine klar erkennbaren Züge“, hat etwas Gallertartiges, wabert und pulsiert.41 Schließlich taucht ihr Blick durch ihn hindurch in die St. Petersburger Hinterhöfe. Der Roman endet damit, dass der Spaltkopf nun nicht mehr zu sehen ist. Die Migration von Teilen der Familie hat damit zwar auch zu ihrem Zerfall geführt und eine Rückkehr in das alte Leben unmöglich gemacht. Aber am Ende dieses Entwicklungsromans verschwindet auch der Spaltkopf, der die Zerrissenheit der Protagonistin zwischen Herkunfts- und Zielland symbolisierte, und sie kann sich ihrem neuen Leben zuwenden, im doppelten Sinn: ihrem Leben in Österreich und ihrer Tochter, deren Geburt wesentlich dazu beiträgt, das Gefühl des Gespaltenseins überwinden zu können.

39 Vgl. Willms, „,Wenn ich die Wahl zwischen zwei Stühlen habe‘“, S. 133ff. 40 Rabinowich, Spaltkopf, S. 58. 41 Rabinowich, Spaltkopf, S. 185.

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Die Erdfresserin – Vom Zerbrechen an prekären Verhältnissen Im Gegensatz zur Ich-Erzählerin in Spaltkopf zerbricht die Protagonistin in Julya Rabinowichs 2012 erschienenem Roman Die Erdfresserin in Folge der Erfahrungen, die sie als illegalisierte Migrantin macht. Die Erdfresserin beginnt mit der Aufforderung: „Erzählen Sie mir ein wenig von sich.“42 Dieser Imperativ fungiert als Biographiegenerator, wie Alois Hahn von der Gesellschaft vorgesehene Diskursformen und Institutionen der Selbstthematisierung bezeichnet.43 In der Erdfresserin ist es eine therapeutische Situation, die das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte und damit auch den Prozess der Identitätskonstruktion initiiert. Die Ich-Erzählerin wurde in die psychiatrische Klinik eingewiesen und wird von einem Therapeuten aufgefordert, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Am Beginn jedes der 16 Kapitel des ersten Teils des Textes steht ein kurzer Dialog zwischen Therapeut und Patientin, die im restlichen Text als Ich-Erzählerin auftritt. Die Gesprächsfragmente bilden jeweils den inhaltlichen Ausgangspunkt für das folgende Kapitel, sie lösen Erinnerungen und damit Erzählungen aus. Die Erdfresserin ist ein Roman über die prekäre Situation und die Belastungen und Gefahren der Protagonistin Diana als illegalisierte Migrantin, die als Prostituierte Geld verdient; es ist ein Roman über das Weggehen – im konkreten Fall aus der Republik Dagestan nach Österreich; über einen Zusammenbruch, der zur Einlieferung in eine psychiatrische Klinik führt; über eine Lebensgeschichte, wie sie die Autorin in ihrer Arbeit als Dolmetscherin bei Therapiesitzungen oft in ähnlicher Weise gehört hat.44 Diana ist eine Pendelmigrantin, die immer wieder in ihr Herkunftsland zurückkehrt und dann wieder ins Ausland aufbricht (anders als in Spaltkopf, wo es sich um eine Emigration handelt und die Protagonistin erst sehr viel später wieder in die Stadt ihrer Kindheit auf Besuch kommt): „diese stetige sinnlose Vor- und Rückwärtsbewegung meines Lebens“.45 Diana verdient in Österreich als Prostituierte Geld und ist ständig der Gefahr ausgesetzt, abgeschoben zu werden. Der Text besteht aus zwei Teilen: einem ersten Teil mit dem Titel „Davor“ und einem zweiten mit dem Titel „Danach“. Der zentrale Bruch in dieser Lebensgeschichte, der mit diesen beiden Teilen markiert wird, besteht nicht im Überschreiten der Grenze im Zuge der Migration, sondern in einem Zusammenbruch der Ich-Erzählerin, der in der Einlieferung in eine psychiatrische 42 Rabinowich, Erdfresserin, S. 9. 43 Alois Hahn, Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt/M. 2000, S. 100. Ausführlich setzte sich Hahn mit dem Biographiegenerator Beichte auseinander, vgl. ebd., S. 197–236. 44 Schwens-Harrant, Ankommen, S. 74. 45 Rabinowich, Erdfresserin, S. 123.

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Klinik resultiert. Dort ist sie zwar vor der Abschiebung sicher, aber sie beschließt die Klinik dennoch zu verlassen, um sich auf den Weg nach Hause zu machen – doch die Suche nach ihrem Zuhause, nach dem Ort ihrer Herkunft verlangt ihr alles ab, viel mehr, als sie zu verkraften imstande ist. Diana beginnt Erde zu fressen, erschafft sich einen Golem, eine Vaterfigur, der sie nach Hause führen soll. Der Golem wird als Schlüssel zum Haus des Vaters bezeichnet, symbolisiert aber auch die Mutter, da er aus Erde, die für das Mütterliche steht, geformt wird. Diana zerstört den Golem schlussendlich wieder und geht nach Hause zu ihrer Mutter, nämlich buchstäblich in die Mutter Erde hinein: Ich gehe weiter. Ich gehe tiefer. Tiefer. Tiefer. Ich gehe. Ich gehe. Gehe. Gehe.46

Der zweite Teil des Romans beschreibt diese imaginierte Heimkehr in Form einer phantastischen Erzählung, die mit dem Realitätsverlust der erkrankten Protagonistin korrespondiert. Für Rabinowich war klar, dass Diana „die Realität verlassen muss, aus dem Grund, weil es in der Realität keine Lösungen gibt für ihren Fall“47. Im Vergleich der beiden Romane wird auch eines deutlich: Entscheidend dafür, welche Konsequenzen die Migration für die Identitätskonstruktion und für das doing biography hat, ist nicht so sehr das Migrationserlebnis selbst, sondern sind die politischen, ökonomischen, sozialen, familiären Umstände – eine Binsenweisheit, die in der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung längst common sense ist und die es auch für die Analyse literarischer Auseinandersetzungen mit Migrationserfahrungen zu berücksichtigen gilt. Der Anspruch biographischer Forschung zu Migration ist mit jenem der beiden Romane von Julya Rabinowich vergleichbar : Durch den biographischen Blick wird die Komplexität von migrantischen Lebensläufen sichtbar. Und im Sinne einer transnationalen Biographik werden Lebensgeschichten überhaupt erst wahrnehmbar, die ansonsten oft unsichtbar und unerkannt bleiben. Dementsprechend formuliert auch Julya Rabinowich ihre Absicht: Ja. Das Sichtbarmachen solcher Lebensrealitäten war und ist mir sehr wichtig. Da geht es ja nicht um etwas, das an den Haaren herbeigezogen ist, es geht um Menschen, die uns im Alltag umgeben, aber dieser Alltag verläuft unter unserer Wahrnehmung, und er ist erschreckend in seiner Einfachheit und Grausamkeit, auch in seiner Parallelität.48 46 Rabinowich, Erdfresserin, S. 235. 47 Schwens-Harrant, Ankommen, S. 75. 48 Josef Bichler, „Möglichkeitsform und Gegenwartsform“ [Interview mit Julya Rabinowich], in: Der Standard, 21. 7. 2012, ohne Seitenzahlen, http://derstandard.at/1342139730992/Moeg lichkeitsform-und-Gegenwartsform [letzter Zugriff 19. 12. 2015].

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MigrantInnen bleiben nicht eine nur sehr oberflächlich beschriebene und homogenisierte Masse, sondern werden in lebensgeschichtlichen Darstellungen – sei es in der Literatur, sei es in der Sozialforschung – als äußerst heterogene Gruppe sichtbar, deren Heterogenität nur ein Blick auf den Einzelnen oder die Einzelne gerecht werden kann.

Beyond the Nation Wie sehr Identitäten in Bewegung geraten, in Frage gestellt werden und einer ständigen Rückversicherung bedürfen, wird in Spaltkopf in der Vielzahl an Bildern für die Identität der Protagonistin Mischka sowie in ihren ständigen Versuchen, sich im Spiegel zu finden, manifest. Es ist ein zerbrochener Spiegel, in den sie blickt, um Salman Rushdies Formulierung49 aufzugreifen, und sie vermag die Spiegelstückchen nicht mehr zu einem Ganzen zusammenzusetzen: „Das letzte Teilchen steckt in meinem Auge.“50 Migration kann einen Spielraum für Identitätswechsel und die Generierung neuer identitätsstiftender Lebensgeschichten eröffnen, dies ist aber häufig auch verbunden mit Verlusterfahrungen, mit schmerzvollen und traumatischen Einschnitten und Brüchen. Ähnliche Beschreibungen von Migrationserfahrungen als Bruch wie in den eingangs zitierten Texten Dimitr8 Dinevs und den beiden hier besprochenen Romanen von Julya Rabinowich lassen sich auch in narrativen Interviews mit MigrantInnen finden, die in der sozialwisssenschaftlichen Forschung wichtige Quellen darstellen. So erlebte etwa Nihal Ongan, als sie 1985 im Alter von 26 Jahren nach Wien kam, dass sie von einer hervorragend ausgebildeten jungen Frau aus ökonomisch guten Verhältnissen und mit Selbstvertrauen zu einem ,unerwünschten NIEMAND‘ wurde.51 Sie verliert ihre Sicherheit und fühlt sich zurückgewiesen. „Sie war als Klassen- und Schulsprecherin daran gewöhnt, öffentlich zu reden. Und jetzt bin ich hier am liebsten unsichtbar“, meint sie im Gespräch mit der Migrationsforscherin und Kultur- und Sozialanthropologin Sabine Strasser,52 die sich in ihrer Studie mit dem Titel Bewegte Zugehörigkeiten (2009) Fragen der Identitätspolitik anhand von drei Lebensgeschichten von MigrantInnen und deren politischen Praktiken widmet. Im Fall von Nihal Ongan 49 Bei Salman Rushdie heißt es, Migrantinnen und Migranten seien „obliged to deal in broken mirrors, some of whose fragments are irretrievably lost“. Salman Rushdie, „Imaginary Homelands“, in: Ders., Imaginary Homelands. Essays and Criticism 1981–1991, London 1991, S. 9–12, hier S. 11. 50 Rabinowich, Spaltkopf, S. 49. 51 Sabine Strasser, Bewegte Zugehörigkeiten. Nationale Spannungen, Transnationale Praktiken und Transversale Politik, Wien 2009, S. 130. 52 Strasser, Bewegte Zugehörigkeiten, S. 130.

Migrationserfahrungen in literarischen Lebensgeschichten

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führt der erlebte Bruch in der eigenen Biographie auch zu einer politischen Praxis, die ihn produktiv zu machen versucht. Der Bruch in ihrer Biographie, niemand zu werden trotz des Wissens, jemand besonderer zu sein, erzeugt Krisen und ein besonderes Engagement. Ihre Strategie muss sich gegen die Mehrheiten richten, die ihr den Respekt verwehren. Es geht ihr um neue Positionen innerhalb der Machtgeometrie durch die Anerkennung von Differenz als Normalität.53

Sabine Strasser untersucht die Lebensgeschichten dreier MigrantInnen vor allem auch im Hinblick auf ihre Rolle als politische AkteurInnen und damit ihre Handlungsfähigkeit vor dem Hintergrund des Zusammenhangs „zwischen gesellschaftlichen Strukturen, Identitätsprozessen und den Mustern der Repräsentation in den politischen Taktiken“54. Sie zeigt, wie biographische Brüche aufgrund von Migrationserfahrungen wesentlich von Faktoren bestimmt werden, die das Individuum nur bedingt beeinflussen kann. Sie macht aber auch deutlich, wie migrationsbedingte biographische Brüche neue Handlungsspielräume schaffen und neue biographische Perspektiven eröffnen können. Welche Handlungsmöglichkeiten in Lebensgeschichten von Migrantinnen und Migranten entstehen können, macht die Figur des Miro in Dimitr8 Dinevs Roman Engelszungen deutlich. Miro führt schon in jungen Jahren das Leben eines Nomaden ohne Familie, eines Heimatlosen, der sich überall heimisch fühlen kann, zugleich aber überall nur Gast ist: „Egal, wo ich hingehe, bin ich zuhaus. Egal, wo ich ankomme, bin ich ein Gast“55. Miro lebt in einem Dritten Raum im Sinne Homi K. Bhabhas56, einem Raum zwischen den Ländern und Kulturen, und wechselt ständig seinen Ort, an keinem hält es ihn auf Dauer, nirgendwo hat er eine feste Heimat. Das Leben in einem transnationalen Raum bedeutet für Miro eine Erweiterung der Handlungs- und Strategiemöglichkeiten, die er letztendlich nicht nur in seinem eigenen Interesse, sondern auch zum Wohl von illegalisierten MigrantInnen zu nutzen versteht, denen er Aufenthaltsgenehmigungen in Österreich verschafft. Aufgrund seiner nomadischen Existenz kann seine Identität nicht auf Herkunfts- oder Zielland fixiert und reduziert werden. Er entkommt den Versuchen, ihn entweder auf das eine oder das andere festzulegen und bewegt sich – wie ein Engel zwischen Himmel und Erde – in einem Dritten Raum, für den hybride Identitätskonstruktionen und somit Uneindeutigkeit und Mehrdeutigkeit kennzeichnend sind. Mit Blick auf hybride 53 54 55 56

Strasser, Bewegte Zugehörigkeiten, S. 140; Hervorhebungen im Original. Strasser, Bewegte Zugehörigkeiten, S. 256. Dinev, Engelszungen, S. 10. Vgl. dazu u. a. Anna Babka, Julia Malle, Matthias Schmidt (Hg., unter Mitarbeit von Ursula Knoll), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Anwendung. Kritik. Reflexion, Wien 2012.

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Identitäten wie jene Miros lässt sich nicht mehr von biographischen Brüchen sprechen, die auf Migrationserlebnisse zurückzuführen sind. Vielmehr sind sie Beispiele für transnationale Biographien, die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen in Frage stellen und ihre Wirkmächtigkeit außer Kraft zu setzen vermögen.

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Brüche erzählen – exophones Schreiben bei Levy Hideo und Guo Xiaolu

Migration, Sprachwechsel und exophones Schreiben Migrationserfahrungen und die damit verbundene Auseinandersetzung mit neuen, ,fremden‘ Kulturen und Sprachen machen für Menschen eine Neupositionierung notwendig und führen zur Herausbildung neuer Identitäten. Dies kann ein schmerzhafter Prozess sein, zugleich aber auch ein kulturell enorm produktives Potential freisetzen. Es bewegt zum Schreiben – und dies oft nicht in der Muttersprache, sondern auch in der Sprache des Ziellandes. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit eben solchem, dem sog. ,exophonen‘, Schreiben. Der Begriff der Exophonie bezeichnet Anderssprachigkeit in der Literatur, d. h. den Sachverhalt, „dass Autorinnen nicht – oder nicht ausschließlich – in der Sprache schreiben, die sie als erste gelernt haben“1. Die in Deutschland lebende japanische Autorin Tawada Yiko2, die literarische Texte sowohl auf Deutsch als auch auf Japanisch verfasst, äußert sich wie folgt über diesen von ihr sehr weit verstandenen „Zustand des Heraustretens aus der Muttersprache“3 : Der Begriff Exophonie gefiel mir, weil er neu und frisch ist und mich an eine Art Symphonie denken ließ. Auf dieser Welt erklingen viele Arten von Musik – was für eine Musik kann man also hören, wenn man versucht, aus den Klängen der Muttersprache, von der man umschlossen ist, ein Stück weit herauszutreten? […] Ich habe Exophonie interpretiert als eine abenteuerliche Idee, die aus der Neugierde kreativen Schaffens heraus entsteht.4

1 Robert Stockhammer, Susan Arndt, Dirk Naguschewski, „Einleitung. Die Unselbstverständlichkeit der Sprache“, in: Susan Arndt, Dirk Naguschewski, Robert Stockhammer (Hg.), Exophonie. Anderssprachigkeit (in) der Literatur, Berlin 2007, 7–27, hier S. 8. 2 Dieser Aufsatz folgt der Konvention, dass bei japanischen Personennamen die natürliche Namensreihenfolge beinbehalten wird; das heißt, dass im Falle japanischsprachiger Publikationen zuerst der Nachname, dann der Vorname der jeweiligen AutorIn angegeben wird. 3 Tawada Yiko, Ekusofon% – Bogo no soto e deru tabi, Tikyi 2003, S. 3. Zitate aus dem Japanischen werden hier in eigener Übersetzung wiedergegeben. 4 Tawada, Ekusofon%, S. 6–7.

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Dieses Heraustreten aus der Muttersprache kann gleichzeitig auch eine bestimmte Positionierungsstrategie von AutorInnen sein, „die über mehrere Sprachen verfügen und die in ihren Texten ihre Zugehörigkeit zu bestimmten kulturellen Räumen, in deren Sprachen sie sich artikulieren, zu transzendieren versuchen“5. Das „Exophone“ kann also ideologie- bzw. kulturkritisch motiviert sein. Ihm kann transformatorische Kraft innewohnen: Die kulturelle Fremdheitserfahrung, die ihm vorausgeht, verändert die Sprache. Exophonen Texten ist gleichzeitig die kulturelle Differenzerfahrung und der Klang des Anderen eingeschrieben. So unterschiedlich und individuell literarische Texte, die im Kontext von Migration gegenwärtig entstehen, auch sein mögen, so lassen sich doch bestimmte Themen und Motive identifizieren, die auffallend häufig vorkommen. Eines davon ist die Sprache – die ,Muttersprache‘ bzw. die Sprache des Herkunftslandes, das sprachliche Nicht-Verstehen in der neuen Umgebung, das Ringen mit dem Erlernen der neuen Sprache, und die sprachlichen Mischungen, die dabei entstehen. Im vorliegenden Beitrag beschäftigen wir uns mit zwei exophonen Texten im Vergleich: Seijiki no kikoenai heya (1992; in englischer Übersetzung 2012 erschienen als A room where the star spangled banner cannot be heard; auf Deutsch 2012 veröffentlicht als Shinjuku Paradise) des auf Japanisch schreibenden, U.S.amerikanischen Schriftstellers Levy Hideo, dessen Protagonist ein in Tikyi lebender U.S.-Amerikaner ist, und A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers (2007) der auf Englisch schreibenden chinesischen Schriftstellerin Guo Xiaolu, dessen chinesische Protagonistin in Tagebuchform einen längeren Studienaufenthalt in London reflektiert. Ein zentrales Thema beider Texte ist das Erlernen der jeweils relevanten Fremdsprache durch die Hauptfiguren – Ben Isaac in Seijiki no kikoenai heya lernt Japanisch, Zhuang Xiao Qiao (genannt „Z“) in A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers Englisch. In beiden Fällen ist daher die Bedeutung von (fremden) Wörtern, Schriftsystemen und Büchern ganz offenkundig wichtig und wird in den Texten immer wieder explizit thematisiert. Gleichzeitig ist die Auseinandersetzung mit Sprache eng verknüpft mit Fragen der (individuellen und kollektiven) Identität. Das Thema des Sprache-Erlernens und seine Bedeutung für die Hauptfiguren (und auch für die AutorInnen beider Texte) lässt sich jedoch nicht nur auf der inhaltlichen Ebene fassen; es ist auch präsent in der Art und Weise, wie die literarischen Texte selbst sprachlich und formal gestaltet sind – und, zumindest im Fall von Levy Hideo, auch im Diskurs über ihn als Schriftsteller, der auf Japanisch schreibt und damit 5 Christine Ivanovic, „Exophonie, Echophonie: Resonanzkörper und polyphone Räume bei Yoko Tawada“, in: Paul Michael Lützeler (Hg.), Gegenwartsliteratur – ein germanistisches Jahrbuch VII, Tübingen 2008, S. 223–247, hier S. 223.

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in die Sphäre der japanischen ,Nationalliteratur‘ einbricht. Obwohl beide Texte eine gemeinsame Thematik haben, unterscheiden sie sich in anderer Hinsicht (inhaltlich, besonders aber stilistisch und formal) stark voneinander. Beide AutorInnen verfolgen ganz offensichtlich unterschiedliche Strategien bei der Gestaltung ihrer Themen: Levy scheint es in erster Linie um ein (kultur-)politisches Programm zu gehen, während bei Guo das ästhetische Programm prominenter hervortritt. Dies wird in den folgenden Analyseteilen detaillierter herausgearbeitet. Bei der Untersuchung der beiden hier zur vergleichenden Betrachtung ausgewählten Texte werden die folgenden Leitfragen ins Zentrum gestellt: Wie werden die Motive der Sprache(n) und des Sprachenlernens in den Texten jeweils behandelt? Wie treten sie auf der Ebene des Inhalts in Erscheinung, wie auf sprachlich-formaler Ebene? Welche Zusammenhänge werden in den Texten zwischen Sprache und Identität der ProtagonistInnen hergestellt? Werden die Migrationserfahrung und der damit einhergehende Sprachwechsel in den Texten als (schmerzhafter) Bruch begriffen? Werden sie – trotzdem oder vielleicht gerade deshalb – zum Ausgangspunkt für einen (ersehnten, befreienden) Neubeginn? Und schließlich: Wie sind die narrativen Strategien in den hier vorliegenden zwei Fällen im jeweiligen literarischen Kontext letztlich zu verstehen?

Levy Hideo: Seijôki no kikoenai heya Levy6, der sich als Autor japanischsprachiger Literatur R%b% (= Levy) Hideo nennt, wurde als Ian Hideo Levy 1950 in Berkeley geboren. Er hat einen jüdischen Vater, der als Diplomat in verschiedenen Ländern Asiens tätig war, und eine polnische Mutter. Aufgrund des Berufes seines Vaters wuchs er in Taiwan, Hongkong und Phnom-Penh auf; 1967 kam er im Alter von 17 Jahren erstmals auch nach Japan. Dort begann er, Japanisch zu lernen, und kam mit japanischer Literatur in Berührung, die er zunächst in englischer Übersetzung, später dann im japanischen Original las. Levy studierte in den USA und wurde 1978 Assistenzprofessor für japanische Literatur an der Universität Princeton; von den 1980er Jahren bis in die frühen 1990er Jahre hinein lehrte er in Stanford. Gleichzeitig verbrachte er nach eigener Aussage jeweils die Hälfte der Zeit in Japan und in seinen zwei Arbeitszimmern an der Ost- und Westküste der USA, lebte also in dieser Zeit ,zwischen den Kulturen‘ bzw. in zwei voneinander getrennten Welten7. Bekannt wurde er zunächst als Japanologe und Übersetzer des 6 Levy folgt als japanischsprachiger Autor dem japanischen Usus und gibt erst seinen Familienund danach den Vornamen an. 7 Vgl. Hideo Levy, „Vom Verfasser an den Leser – Zum ersten Mal Japanisch“, in: Hideo Levy,

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Manyish0, einer berühmten japanischen Gedichtsammlung aus dem 8. Jahrhundert, die er in die englische Sprache übertrug8. 1982 erhielt er dafür den National Book Award. Seit 1994 hat er eine Professur an der Hisei-Universität in Tikyi inne. Levys literarisches Erstlingswerk Seijiki no kikoenai heya, um das es im Folgenden gehen soll, wurde zwischen 1987 und 1991 in drei Teilen in der Literaturzeitschrift Gunzi veröffentlicht; er erhielt dafür 1992 den Noma-Literaturpreis. Inzwischen ist er als Autor mehrerer Prosawerke und Essaysammlungen eine feste Größe in der literarischen Welt Japans; dabei gilt er als erster Amerikaner, der literarische Werke in japanischer Sprache verfasst. Die Bedeutung seines Schreibens auf Japanisch bringt Levys Übersetzer Jeremy Scott sehr treffend wie folgt auf den Punkt: Levy’s work is about the struggle or productive tension between writing in Japanese and not being Japanese, or the dilemma of being a writer of Japanese but not a Japanese writer. Here lies the real power and significance of his literary project: it demonstrates that one does not have to be Japanese in order to write or have a voice in Japanese.9

So geht es in Seijiki no kikoenai heya im Speziellen, aber auch bei Levy Hideos gesamter schriftstellerischer Arbeit auf Japanisch im allgemeinen, um einen Kampf um das „,Besitzrecht‘ an der japanischen Sprache“10.

Seijôki no kikoenai heya – eine Einführung Seijiki no kikoenai heya setzt im Jahr 1967 ein. Der Text, der in drei große Abschnitte gegliedert ist, berichtet in der dritten Person von dem 17jährigen Ben Isaac, der zu Beginn des ersten Teils, dem titelgebenden Kapitel „Seijiki no kikoenai heya“, erst seit kurzem zusammen mit seinem Vater im US-Konsulat in Yokohama lebt. Zunächst werden Bens Familienverhältnisse und seine gegenwärtige Lebenssituation in Japan vorgestellt; autobiografische Züge sind dabei unverkennbar. Bens Vater Jacob Isaac war, bevor er nach Tikyi kam, im diplomatischen Dienst in verschiedenen Ländern Ost- und Südostasiens tätig; seine Mutter, eine polnischstämmige Katholikin, stammt aus West Virginia. Die Eltern lassen sich nach zehn Jahren Ehe scheiden. Die psychisch labile Mutter Shinjuku Paradise, Berlin 2012, S. 197–199, hier S. 197; außerdem R%b% Hideo, Nihongo o kaku heya, Tikyi 2001/2004, S. 13. 8 Manyoshu: a translation of Japan’s premier anthology of classical poetry, Princeton 1981. 9 Scott, Jeremy, „Translator’s introduction“, in: Hideo Levy, A room where the star spangled banner cannot be heard, Columbia 2011, S. vii–xii, hier S. x–xi. 10 Kiichiri Tomioka, „Sprachlicher Grenzgänger“, in: Hideo Levy, Shinjuku Paradise, Berlin 2012, S. 200–210, hier S. 204; R%b%, Nihongo o kaku heya, S. 46ff.

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nimmt Ben mit sich in die USA; der Vater heiratet die sehr viel jüngere Chinesin Gui-lan und bekommt mit ihr einen weiteren Sohn namens Jeffrey. Nach seinem Oberschulabschluss zieht Ben auf gerichtlichen Beschluss zu seinem Vater, der kurz zuvor als Konsul nach Yokohama versetzt wurde. Ben lebt zwischen den Welten – zwischen Asien und den USA, zwischen der exterritorialen Welt der Konsulatsangehörigen in Yohohama und Japan, und zwischen einem Japan, das er nur aus Büchern kennt, und einem ihm unbekannten ,echten Japan‘. Er fühlt sich heimatlos und offensichtlich auch in seiner (neuen) ,Familie‘ als Außenseiter – den Vater hat er zuvor sieben Jahre lang nicht gesehen. In Japan fällt er als anders auf, unterscheidet sich aber gleichzeitig auch von den dort lebenden Ausländern, die als gaijin (wörtl.: „außenstehende Menschen“) bezeichnet werden. Hat Ben bisher ausschließlich in ExpatriateKreisen verkehrt, so lernt er nun den 19-jährigen japanischen Studenten Andi Yoshiharu kennen. Er beginnt mit dessen Hilfe, Japanisch zu lernen und verlässt am Ende dieses Textabschnitts die Residenz seines Vaters in Yokohama, um fortan auf sich gestellt in Tikyi zu leben; bei sich hat er lediglich knapp 3000 Yen und seine ID-Card, die ihn als Angehörigen eines Diplomaten ausweist. Die Jahreszeit – es ist Ende November – stellt die Verbindung zum Kapitel „Nobenb.“ (dt.: „November“) her, das unmittelbar, nachdem Ben von ,zuhause‘ weggegangen ist, einsetzt. Ben betritt zufällig das „F0getsudi“, ein Caf8 in Shinjuku, wo eine Schallplatte mit gregorianischen Gesängen gespielt wird. Als einziges kann Ben die Textzeile „Libera me“ darin ausmachen11; am Ende dieser Szene verbrennt er seine ID-Karte und befreit sich damit endgültig von seiner amerikanischen Identität. Abrupt springt der Text nun zeitlich in die frühen 1960er Jahre zurück: Es wird beschrieben, wie Ben mit seiner Mutter in Virginia lebt, von der Ermordung John F. Kennedys erfährt und sich unter die Beerdigungsprozession auf dem Nationalfriedhof Arlington mischt. In diesem Kapitel werden hauptsächlich Reflexionen über das Verhältnis der USA zu Asien, insbesondere Vietnam, und der amerikanischen Täterrolle angestellt (z. B. S. 59). Der dritte Abschnitt, „Nakama“ (dt.: „Kameraden“), setzt wiederum sehr unvermittelt ein: Ben ist vorübergehend in Andis winzigem, nur viereinhalb Tatami-Matten großen Wohnheimzimmer untergekommen (S. 10, 46), nachdem er eine Nacht ohne Unterkunft in Shinjuku verbracht hat. Er taucht nun immer stärker in den japanischen Alltag ein: Ben sucht eine Arbeit und findet, allerdings erst nachdem Andi für ihn bürgt, eine Anstellung als Nachtschicht-Kellner in einem Restaurant in Shinjuku, dem „Cassle“. Hier muss Ben mit Masumura zusammenarbeiten, der eine stark ablehnende Haltung ihm gegenüber zeigt. 11 Hideo Levy, A room where the star spangled banner cannot be heard, Columbia 2011, S. 55–56. Im Folgenden wird bei Verweisen auf die englische Übersetzung nur noch die Seitenzahl angegeben.

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Zunächst wird Ben auch von den Gästen als ,Fremdling‘ angestarrt, erhält aber zunehmend Selbstvertrauen, da es ihm sprachlich gut gelingt, die Bestellungen aufzunehmen und an die Küche weiter zu geben. Immer wieder wird er jedoch damit konfrontiert, dass er als Amerikaner und damit als Repräsentant seines Herkunftslandes wahrgenommen wird. Genau von dieser Identifizierung mit den USA will er sich aber distanzieren und stattdessen ein Teil Japans werden. Die japanischen Angestellten, die ihn nicht akzeptieren und zunächst auch völlig ignorieren, wollen ihm deutlich machen, dass er niemals zu ihnen gehören wird, indem sie gemeinsam jeweils ein rohes Ei essen und Masumura Ben mit den Worten provoziert „,Bet you guys can’t do this.‘“ (S. 109). Ben zwingt und überwindet sich jedoch, ebenfalls ein rohes Ei zu essen – damit nimmt er die japanische Herausforderung an und fordert Gleichbehandlung für sich ein.

Entfremdung als Ausgangssituation Gleich zu Beginn deutet sich bereits eine Entfremdung Bens von seiner Familie und gleichzeitig von seinem Herkunftsland an. Wegen seines gemischt-ethnischen Hintergrunds, aber auch aufgrund der Tatsache, dass Ben zur Hälfte in Ostasien und in den USA aufgewachsen ist, fühlt er sich heimatlos. Als er nach der Trennung seiner Eltern mit seiner Mutter in die USA zieht, ist im Text so auch die Rede von der Rückkehr in ein „America that felt like a foreign country“ (S. 8). Ben kann sich nicht mit seinem ,Herkunftsland‘ identifizieren und scheint auch in seinem Leben in den USA nirgendwo dazuzugehören. Die Ablehnung, die Ben gegenüber den USA verspürt, hat außerdem auch eine politische Dimension: Nicht umsonst werden im Text immer wieder ganz konkrete Zeitbezüge hergestellt – zum Vietnamkrieg, zu den Protesten in Japan gegen den amerikanischjapanischen Sicherheitsvertrag (ANPO)12, zu den Studentendemonstrationen in Japan13 und der Ermordung John F. Kennedys. Sehr kritisch steht Ben hier zum Überlegenheitsanspruch der USA und zu der Rolle der USA als in Asien Krieg führende Nation. In der Residenz seines Vaters – bzw. in einem Leben, das ihn an die Gemeinschaft der westlichen Expatriates in Asien kettet – fühlt Ben sich gleich12 Der Sicherheitsvertrag zwischen den USA und Japan, der 1960 zunächst für 10 Jahre abgeschlossen und danach verlängert wurde, hatte von Beginn an Anlass für Proteste der politischen Linken in Japan gegeben; 1968 und 1969 waren diese u. a. wegen der anhaltenden militärischen Besatzung Okinawas nochmals stark aufgeflammt. Auf die Forderung nach der Rückgabe Okinawas wird in Seijiki no kikoenai heya auch explizit Bezug genommen (S. 20). 13 So wird beispielsweise der linksgerichtete „Zengakuren“ (Zen-nihon gakusei jichikai sirengi, dt. Alljapanischer Allgemeiner Verband der studentischen Selbstverwaltungen) erwähnt (S. 36).

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zeitig heimatlos und gefangen. Er ist eingeschlossen in eine Welt, die ihm nicht behagt und die von einem kolonialen Ambiente bestimmt ist: … he was reminded of his loneliness, trapped in that palatial bedroom in the consulate, surrounded by the banks and trading companies along Yamashita Park Avenue. How he hated those Venetian blinds that dripped extraterritoriality and those cold marble floors that called up Victorian-era missionaries and tradesmen (S. 27).

Das Symbol, das Bens Abneigung gegen die USA und sein gleichzeitiges Eingesperrt-Sein am pointiertesten zum Ausdruck bringt, ist letztlich die titelgebende US-Flagge, die vor Bens Zimmer im Konsulat flattert und von der es heißt: „Like a dazzling screen, the Stars and Stripes blocked out all other scenery“ (S. 13). Die ohnehin schon schwierige Beziehung Bens zu seinem Vater wird im weiteren Verlauf noch problematischer dadurch, dass Ben sich an Japan annähert. Als er Andi kennenlernt und zunehmend mehr Zeit mit diesem in Tikyi verbringt, kommt er immer später zurück nach Hause. Sein Vater will jedoch nicht, dass Ben sich auf Japan einlässt, dass er Japanisch lernt und sich mit japanischer Literatur beschäftigt: „… he didn’t like it when Ben changed the radio station from the Far East Network to a local broadcaster that played Japanese pop songs and ballads and made jokes no one in the Isaac household could comprehend“ (S. 41). Die genauen Beweggründe des Vaters bleiben zwar unklar ; jedoch gibt es zwei Hinweise im Text: Offensichtlich hält der Vater die chinesische Kultur für der japanischen überlegen, was interessanterweise an der jeweiligen Sprache und Schrift festgemacht wird. Ben entdeckt im Alter von etwa sieben oder acht Jahren, als seine Familie noch in Taiwan lebt, unter den vielen chinesischen Büchern auch ein japanisches Buch in der Bibliothek seines Vaters, das ihm wegen der andersartigen Schriftzeichen auf dem Einband ins Auge fällt: Taking the dust-covered book to his father, Ben asked what the symbol was. His father replied, ,That? That’s Japanese.‘ He didn’t seem particularly pleased by what Ben had dug up. That? That’s Japanese. Now, sitting in a caf8 in Tokyo and studying Japanese, Ben heard his father’s words again. Behind the contempt they expressed, his father must have seen the hiragana – which Ben now knew was pronounced ,no‘ – to be something suspicious and womanly, unlike Chinese characters, which represented the world of reason. That hiragana, his father no doubt thought, was the mark of a culture that cared nothing for the symmetry of reason and succumbed only to the senses; one would be far better off studying Chinese (S. 34).14

Vielleicht will er aber seinen Sohn auch nur davor bewahren zu scheitern – denn der Vater ist sich offensichtlich des ausgrenzenden Charakters der japanischen 14 Auch, als Ben später verkündet, er wolle Japanisch lernen, stimmt sein Vater nur mit der Bemerkung zu, dass Japanisch nicht so schön wie Chinesisch sei (S. 18).

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Gesellschaft bewusster als sein Sohn. Er sieht, wie sehr Ben sich bemüht, in Japan aufgenommen und anerkannt zu werden, hält genau dies aber anscheinend für unmöglich. So versucht er Ben denn auch zu warnen: ,You look like one of those Jap monks copying sutras at the temple‘. […] ,You really think you can become Japanese by doing that?‘ […] ,No matter how much you learn to speak their language, in their eyes you’ll always be like me: a dumb gaijin who can’t speak properly and never wanted to. Even if you go to the plaza in front of the Imperial Palace and scream ,Long live the Emperor!‘ in perfect Japanese and slit your stomach open, you’ll never be one of them‘ (S. 41–42).15

Ben wiederum lehnt sich mit dem Erlernen des Japanischen gegen seinen Vater auf, der die japanische Sprache und Kultur zu verachten scheint.

Bens ,Flucht nach Japan‘ Dies ist die Ausgangssituation für die Flucht, die Ben im Folgenden unternimmt – er wagt den Ausbruch, legt seine bisherige ,Identität‘ ab und versucht, in Japan eine Heimat, ein Zuhause zu finden16. Zunächst kündigt er an, dass er an einer Privatuniversität in Tikyi Japanischkurse belegen wolle. Von den JapanerInnen, auf die er dabei trifft, wird er jedoch konsequent als gaijin behandelt: „…everyone he met spoke nothing but English to him. If he tried speaking to them in Japanese, they would look at him as if he were some kind of talking animal“ (S. 25). Ben fühlt sich damit unwohl – was nicht zuletzt daran liegt, dass es hier auch um Machtbeziehungen zwischen Sprachen und SprecherInnen dieser Sprachen geht. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Dominanz des Englischen – von JapanerInnen und englischen Muttersprachlern gleichermaßen – akzeptiert wird, wird von ihm angezweifelt: 15 Der japanische Literaturwissenschaftler Tsuchiya Masahiko stellt ähnliches für Levy Hideo selbst und die Rolle, die die Haltung seines Vaters gegenüber Japan spielte, fest: „Überdies wollte Levys Vater wiederum die japanische Sprache und japanische Kultur gar nicht kennen lernen – er verachtete sie eher und wollte seinen Sohn sogar davon abhalten, sich damit auseinander zu setzen. Um sich aus diesem negativen Bannkreis des Vaters zu befreien, musste sich Levy also alleine hinaus in die japanische Welt begeben, wo er sich lebendiger und befreit auszudrücken lernte“; Masahiko Tsuchiya, „Fremdsprachiges Schreiben: Hideo Levy, David Zopetti und Yoko Tawada“, in: Martin Kubakcek, Masahiko Tsuchiya (Hg.), „Bevorzugt beobachtet“. Zum Japanbild in der zeitgenössischen Literatur, München 2005, S. 250–263, hier S. 253. 16 Vgl. auch Eduard Klopfenstein, „Der globalisierte Mensch – ein Phantom. Zur Bedeutung von Levy Hideos erstem Roman“, in: Hideo Levy, Shinjuku Paradise, Berlin 2012, S. 211–216, hier S. 212; ähnlich auch Rumi Sakamoto, „Writing as out/insiders. Contemporary Japan’s ekkyi literature in globalization“, in: Matthew Allen, Rumi Sakamoto (Hg.), Popular culture, globalization, and Japan, London u. a. 2006, S. 137–157, hier S. 141.

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Ben was fed up. Fed up with the foreign students who didn’t speak Japanese, fed up with the Japanese who only spoke English, and fed up with himself for being caught in the middle. He was trapped in this room of English, a room where the English language was the most powerful currency of all (S. 26).

Seinen japanischen Freund und Lehrer Andi lernt Ben zunächst in einer Konfliktsituation kennen: Andi tritt als Eindringling im Englisch-Club der Universität, dessen Mitglied Ben ist, in Erscheinung und fordert Ben heraus, indem er kritisiert, dass dieser kein Japanisch spricht („Why are you speaking English when you are in Japan?“, S. 24). Einer Meinung wie die Andis, dass auch Amerikaner in Japan Japanisch sprechen sollen, war Ben in ,seiner Welt‘ noch nie begegnet: „He had never heard such an opinion voiced in the Yokohama consulate or in the International Studies Center, which formed the two pillars of his ,Japan‘“ (S. 30). Schließlich weist Andi Ben darauf hin, dass dieser für die Mitglieder des Clubs lediglich eine „Dekoration“ (kazarimono) sei (S. 25). Daraufhin beginnt Ben, von Andi Japanisch zu lernen, und verlässt schließlich das Konsulat in Yokohama, um ganz in Tikyi zu leben. Diese Loslösung von seiner Familie (besonders vom Vater), vom Leben im amerikanischen Konsulat und in der Expatriate-Gesellschaft empfindet er als große Befreiung, die sich interessanterweise sofort sprachlich manifestiert. Im Text heißt es so auch: „… in the ten hours or so since he had left his father’s house, Ben suddenly realized, English had been erased from his mind“ (S. 52). Die räumliche Befreiung von der ihn bedrückenden Familie und Lebenssituation in Japan – aber eben doch nicht in Japan – drückt sich also auch in einer Befreiung von der englischen Sprache aus. Am Ende des ersten Kapitels verbrennt Ben schließlich auch seine amerikanische ID-Karte und legt damit seine ,amerikanische Identität‘ ganz bewusst und in einem freiwilligen Akt ab. Darauf, dass dies zunächst paradox erscheinen mag, weist Klopfenstein hin: Ein Bürger der USA von weißer Hautfarbe und mittelständischer Herkunft will nichts mehr von seinem Land und dem Englischen, diesem vermeintlichen Garanten der Weltläufigkeit, wissen; stattdessen taucht er ab in eine Sprache und Umgebung, die Vielen im Westen immer noch als der Inbegriff des Obskuren und Unverständlichen gilt…17

Andô als Brücke auf der Suche nach dem ,echten Japan‘ Obwohl Ben das Gefühl hat, niemals Teil der „crowd“ (S. 38) in Tikyi werden zu können – so hat er zum Beispiel noch nie ein japanisches Haus betreten (S. 45) und kennt den japanischen Alltag nicht – versucht er doch gleichzeitig, sich 17 Klopfenstein, „Der globalisierte Mensch“, S. 214.

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dieser für ihn fremden und zugleich faszinierenden Welt zu nähern. Dabei hilft ihm Andi, der sozusagen als Brücke für Ben fungiert, über die dieser das ,echte Japan‘ zu erreichen sucht. Im Wesentlichen erprobt Ben, angeleitet durch Andi, drei Strategien: Er streift durch Shinjuku, den Stadtteil im Herzen Tikyis, den sein Vater ihm verboten hat; er erlernt die japanische Sprache und Schrift; und er liest japanische Literatur. Andi eröffnet Ben also eine neue Welt – er bietet Zugang zu einem Japan, das Ben bis dahin verschlossen war. Als er den Freund zum ersten Mal zuhause besucht, stellt er denn auch fest: „The Japan described in Ben’s textbook was worlds away from the reality that confronted his eyes and ears…“ (S. 29), und weiter : „Andi’s room – and Andi’s world […] were so different from the ,Japan‘ he had read about in books. […] With Andi as his guide, he began exploring that new world“ (S. 29–30). Mit Andi in der Führungsrolle wird die sonst übliche Hierarchisierung zwischen dem ,Westen‘ und ,Asien‘ umgekehrt: „Like an older brother taking his deaf-mute18 younger brother out for a walk, the nineteen-year-old Andi did his best to ignore the seventeen-year-old Ben’s handicap, chatting quite normally with him as he walked one step ahead“ (S. 30), so heißt es im Text. Dies zeigt sich auch in den Dialogen: Während Andi ein natürliches Japanisch spricht und sich entsprechend umgangssprachlicher Verschleifungen bedient, verwendet Ben eine höflichere Sprachebene und formuliert grammatikalisch korrekte, aber einfache kurze Sätze. Damit wird zum Einen der Tatsache Rechnung getragen, dass Ben erst begonnen hat, Japanisch zu lernen, und sich in dieser Sprache noch nicht flüssig auszudrücken vermag; gleichzeitig zeigen die unterschiedlichen Höflichkeitsebenen jedoch auch eine Hierarchie zwischen (dem älteren) Andi in der überlegenen und (dem jüngeren) Ben in der unterlegenen Position an. Dass es hier nicht nur um Annäherungsversuche eines Amerikaners an Japan geht, sondern auch um Machtbeziehungen, thematisiert auch Sakamoto, die sich dabei allerdings weniger auf den Text selbst, sondern auf die Tatsache bezieht, dass Levy auf Japanisch über die Ausgrenzung schreibt, die er selbst in Japan erfahren hat; sie weist hier auf die Ambivalenz hin, die dieser Situation innewohnt: „It is not clear who the ,master‘ is when a white male author writes in Japanese about being ,racially‘ excluded from mainstream Japanese society while gaining literary prominence by critiquing Japanese society from the position of the ,authentic in-between‘“19.

18 Dass Ben kein Japanisch lesen kann wird im Text mehrfach mit verschiedenen Formen körperlicher Behinderungen verglichen. So heißt es z. B. an einer anderen Stelle, als Ben japanische Zeitungen sieht: „Running his fingers over page after page as though they were Braille…“ (S. 28). 19 Sakamoto, „Writing as out/insiders“, S. 140.

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Das Erlernen der japanischen Sprache Für Ben scheint Shinjuku, der Stadtteil Tikyis, in dem Ben ein neues Zuhause sucht20, ganz unmittelbar mit der japanischen Sprache verbunden zu sein, worauf auch Tomioka hinweist: Für diesen Roman bedeutet ,Shinjuku‘ die japanische Sprache an sich, die Seele der Sprache, die Beschwörungsformel zur Überschreitung der Grenze des ,Besitzrechtes‘ einer Sprache […]. Durch das Aussprechen dieser Beschwörungsformel wird Ben nicht auf das ,Japan‘ als Gegenstand eines asiatischen Hobbys oder des Orientalismus, sondern auf das Chaos eines wirklichen, ungeschminkten Japanisch losgelassen.21

Dabei ist Bens Erlernen der japanischen Sprache gleichzeitig als Annäherung an Japan und als Abkehr von den USA zu verstehen. Er strebt danach, seine amerikanische, mit der englischen Sprache verknüpfte Identität hinter sich zu lassen, und begehrt Einlass in Japan. Jedoch wird ihm gleichzeitig im ,echten‘ Japan, in dem er sich nun bewegt, immer wieder deutlich gemacht, dass er als Außenstehender betrachtet wird: … he soon forgot that the stream of sounds coming from his own mouth was Japanese. Maybe those sounds became Japanese the first time only when he forgot what language he was speaking in. Andi’s injunction to speak Japanese carried an undertone of forget. It was as though Andi were ordering him to forget English, forget America, forget all of it – whatever it was that happened to you in America. Indeed, as long as Ben listened to Andi’s Japanese and replied in his own clumsy Japanese, he was able to forget those things. Once he got to SHIN-JU-KU, however, Ben discovered that, unlike Andi, the Japanese he met would not let him forget. No, they were worried about what might happen if he did forget (S. 82–83).

Zunächst kann Ben nur die katakana-Silbenschrift22 lesen; er beginnt dann, mit Hilfe von flashcards in einem Caf8 auch die hiragana-Silbenschrift zu erlernen. Damit fällt er offenbar so sehr auf, dass er beim Lernen unverhohlen von japanischen Jugendlichen angestarrt wird (die ironischerweise gerade in ihre Englischlehrbücher vertieft sind, also ebenfalls eine Fremdsprache lernen; S. 34).

20 Möglicherweise lässt sich hier eine Verbindung zur wörtlichen Bedeutung der Schriftzeichen ziehen, aus denen sich die Ortsbezeichnung zusammensetzt und die so viel wie „neue Unterkunft“ oder „neue Herberge“ bedeuten. 21 Tomioka, „Sprachlicher Grenzgänger“, S. 207. 22 Das japanische Schriftsystem setzt sich aus drei, inzwischen sogar vier Schrifttypen zusammen: der katakana-Silbenschrift, die in der Regel für die phonetische Umsetzung fremdsprachlicher Begriffe verwendet wird; die hiragana-Silbenschrift, mit deren Hilfe grammatikalische Bezüge und Endungen dargestellt werden; kanji, die komplexen, aus China entlehnten Bedeutungsschriftzeichen; und in jüngerer Zeit immer häufiger auch die romaji genannte lateinische Schrift für westliche Begriffe, die so im Original belassen werden können.

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Japanisch setzt sich für Ben zunächst lediglich aus einer Aneinanderreihung von Silben bzw. fremden Lauten zusammen; er lernt Vokabeln und Namen rein phonetisch: „For Ben, it was a world of hiragana, a world confined to sounds“ (S. 31). Die Bedeutung der Wörter jedoch erschließt sich ihm noch nicht, da er keine kanji beherrscht – die aus China entlehnten Bedeutungsschriftzeichen. Japanisch erscheint Ben also noch als „meaningless string of sounds“ (S. 36). Der fremde Charakter der neu zu lernenden Wörter wird im japanischen Original dadurch kenntlich gemacht, dass die Begriffe nicht wie üblich in kanji geschrieben sondern in der hiragana-Silbenschrift lautlich abgebildet und gleichzeitig in Anführungszeichen23 gesetzt werden: Shibuya wird (statt ) geschrieben24, Kanda (statt ), Kudan (statt ), und Takadonaba (statt )25. Um dies in der englischen Übersetzung kenntlich zu machen, werden die für Ben noch fremden japanischen Begriffe in Großbuchstaben gesetzt und in ihre Silben zergliedert: …the sounds of place names he learned from Andi’s mouth that October were the most extravagant things he had ever heard. Still meaningless to him, they were filled with magical possibilities. […] For Ben, who lived in a world of sounds and syllables, they had a touch of elegance, of mystery, and even, at times, of humor. KAN-DA, KU-DAN, TA-KA-DA-NO-BA-BA – there was a ring to them, like the jangle of keys that could unlock the secrets of the city (S. 31).

Dass diese unübliche Schreibweise bei aller Faszination auch eine Distanz Bens zum bezeichneten Objekt anzeigt, wird besonders im Schlusskapitel deutlich, in dem die Namen aller japanischen Figuren, die im F0getsudi arbeiten, bis zum Ende konsequent in einfache Klammern gesetzt und in hiragana geschrieben sind: (Masumura)26, (Yasuda-kun), (Ishi27 guro-san), (Sati-san) und (Tachibana) . Es geht hier nicht nur darum, dass Ben die „Welt der kanji“ (das heißt die Welt der Bedeutungen, nicht nur die der Laute/Silben, wie sie in den hiragana und katakana ausgedrückt wird) noch nicht versteht, sondern auch darum, dass er im Verhältnis zu diesen Figuren nach wie vor ein Außenseiter, ein Fremder ist. Dagegen wird der Name von Andi bereits früh im Text in kanji als geschrieben, was auf die enge Verbundenheit Bens mit dem japanischen Freund, auf ein Gefühl der Nähe und Vertrautheit, verweist. 23 Im Japanischen übernehmen einfache eckige Klammern … diese Funktion. 24 R%b%, Seijiki, S. 18. 25 Alle R%b%, Seijiki, S. 54. Hierbei handelt es sich um die Namen von Stadtteilen Tikyis. Wenn Andi zu Ben über Shinjuku spricht, wird der Name des Stadtteils hingegen konventionell in geschrieben (R%b%, Seijiki, S. 63). kanji als 26 R%b%, Seijiki, S. 163ff. 27 Alle: R%b%, Seijiki, S. 174.

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Ben ist fasziniert von der japanischen Sprache und sehnt sich regelrecht nach ihr : „He dreamed of putting the pieces of the language together, of being reborn in a new tongue and unlocking all its secrets“ (S. 46). Gleichzeitig leidet er noch lange an seiner mangelnden Ausdrucksfähigkeit, die ihn dazu zwingt, vieles, was er eigentlich mitteilen möchte, für sich zu behalten: „He wanted to tell this to Andi but didn’t have the words for it, so, as with many of his discoveries at that time, he had no other choice but to keep it to himself“ (S. 33). Als Andi ihm einen geheimen Weg nach Shinjuku zeigt und Ben das Gefühl hat, erstmals ein ,Eingeweihter‘ zu sein, da er den Namen „Shinjuku“ bereits kennt (S. 38), ist dies wie ein Erweckungserlebnis für Ben, das mit dem von Helen Keller (1880–1968) verglichen wird – einer Amerikanerin, die als zweijähriges Kind ihr Seh- und Hörvermögen verlor28 : Helen Keller must have experienced the same kind of emotion that I’m feeling now, he thought. She couldn’t see anything, she couldn’t hear anything, and she couldn’t know anything. The deaf-mute little girl who lived in darkness was essentially a gaijin, an outsider to the people around her and even to her own family. When her generous, brilliant teacher wrote the letters W-A-T-E-R on the palm of her hand, she suddenly understood this to mean the cold water flowing over her skin. In that instant, by knowing water, Helen must have been shocked by the realization that she was part of the world for the first time, that she really existed“ (S. 38–39).

Sind es bei Helen Keller das Wasser und der entsprechende sprachliche Begriff dafür, die sie ihre eigene Existenz und die der Welt um sich herum begreiflich machten, so hat für Ben „SHIN-JU-KU“ dieselbe Wirkung. Auch bei ihm wird das Gefühl, etwas zu (er)kennen, mit dem sprachlichen Aspekt verbunden: „He had a premonition: unlike Helen, he could hear sounds loud and clear, and someday he would be able to solve the mystery of this country’s sounds and then be allowed to participate in it“ (S. 39). Und so hat er denn auch an dem Abend nach seiner Flucht aus dem Konsulat ein „Erleuchtungs-Erlebnis“: Mitten in Shinjuku hat er auf einmal das Gefühl, alle JapanerInnen um sich herum verstehen zu können (S. 83).

28 Helen Kellers Lehrerin gelang es, mit ihr zu kommunizieren, indem sie ihr die Bezeichnungen von Gegenständen, die sie das Kind vorher berühren ließ, in die Hand buchstabierte; den Zusammenhang erkannte Helen Keller erstmals mit dem Wort „Wasser“. Sie studierte, lernte mehrere Fremdsprachen und erhielt die Ehrendoktorwürde der Harvard University.

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Die Rolle der japanischen Literatur In der Bibliothek seines Vaters sucht Ben vergeblich nach japanischer Literatur ; sie beinhaltet lediglich zwei Werke von Koizumi Yakumo, nämlich Kwaidan und Kotti (S. 80). Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ,indigene japanischsprachige Literatur‘, wie zumindest das japanische Lesepublikum sofort erkennen wird – ist Koizumi Yakumo doch der japanische Name Lafcadio Hearns (1850–1904), eines Schriftstellers irisch-griechischer Abstammung, der von 1890 bis zu seinem Tod in Japan lebte, eine Japanerin heiratete und daraufhin einen japanischen Namen annahm. Hearn erhielt 1895 die japanische Staatsbürgerschaft. Er unterrichtete englische Literatur an der Kaiserlicher Universität Tikyi, verfasste Beobachtungen über Japan auf Englisch (wie eben jenes in Levy erwähntes Kotti – Being Japanese Curios, with Sundry Cobwebs 1903, oder auch Kokoro – Hints and Echoes of Japanese Inner Life, 1907) und gab mit Kwaidan – Stories and Studies of Strange Things (1909) eine Sammlung japanischer Geistergeschichten in englischer Sprache heraus. Seine Schriften prägten das Bild von Japan im ,Westen‘ des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts stark. Mit der Referenz auf Lafcadio Hearn könnte so eine Anspielung auf Levy selbst gegeben sein, der jedoch noch einen entscheidenden Schritt weiter geht, indem er sich nicht mit dem Schreiben über Japan auf Englisch begnügt, sondern beginnt, literarische Texte auf Japanisch zu verfassen. Kurz erwähnt werden in Levys Text außerdem der japanische Literaturnobelpreisträger Kawabata Yasunari (1899–1972)29 (S. 21), eine von Donald Keene (*1922)30 herausgegebene Anthologie moderner japanischer Literatur (S. 20), und der Roman Kokoro von Natsume Siseki (1867–1916) (S. 20)31. Zusammen mit Andi besucht Ben wiederholt eine Buchhandlung in der Nähe der Univer29 Kawabata gilt als einer der bedeutendsten japanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Viele seiner Werke wurden in westliche Sprachen übersetzt. Der Autor wird oft als Traditionalist charakterisiert, der tief in der japanischen Kultur (der Stille, des Ungesagten und des Stilisierten) verwurzelt sei. Gleichzeitig jedoch war er stark beeinflusst von verschiedenen westlichen literarischen Strömungen des Modernismus und experimentierte mit unterschiedlichen Schreibstilen. 30 Keene ist ein in den USA geborener Japanologe und Literaturwissenschaftler ; als Professor wirkte er über 50 Jahre lang an der Columbia University. Er ist Übersetzer zahlreicher japanischer literarischer Werke in die englische Sprache. Nach seiner Emeritierung 2011 zog er ganz nach Japan und nahm die japanische Staatsbürgerschaft an. 31 Natsume war zunächst als Professor für englische Literatur an der Kaiserlichen Universität Tikyi tätig; zuvor hatte er die Zeit zwischen 1900 und 1902 in England verbracht. Die Eindrücke während dieses Auslandsaufenthalts verarbeitete er in Rondon-ti (1905; ins Englische übersetzt als The Tower of London, 2004). Er ist einer der berühmtesten modernen japanischen Autoren und Verfasser eines umfangreichen Oeuvres an Prosawerken. Neben Mori