430 17 4MB
German Pages [640] Year 2012
Felix Butschek
Österreichische Wirtschaftsgeschichte Von der Antike bis zur Gegenwart
2., verbesserte Auflage
B ö h l a u V e r l ag W i e n · K ö l n · W e i m a r
Gedruckt mit der Unterstützung durch die
Wirtschaftskammer Österreich
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78880-5 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 1. Auflage 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar © 2., verbesserte Auflage 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http ://www.boehlau-verlag.com Umschlaggestaltung: Michael Haderer Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck : Balto print, Vilnius
Meiner Frau Christine in Dankbarkeit
Vorwort zur zweiten Auflage
Die umfassende Darstellung der historischen österreichischen Wirtschaftsentwicklung traf im In- und Ausland auf ein derartig hohes Interesse, dass sich die Neuauflage der Arbeit als notwendig erwies. Der kurze Abstand gegenüber der ersten Ausgabe lässt es allerdings nicht sinnvoll erscheinen, den gesamten Text zu überarbeiten, wohl aber kann man überprüfen, ob die tatsächliche ökonomische Entwicklung der im Buch prognostizierten – zumindest auf die kurze Frist – entspricht. Weiters aber hat sich in dieser Periode erwiesen, dass die in der Arbeit aufgegriffenen Probleme indessen auch von der Wirtschaftspolitik als solche erkannt und einer Lösung näher gebracht wurden. Tatsächlich entwickelte sich die österreichische Wirtschaft in den Jahren 2009 bis 2011 wesentlich günstiger als jene der EU-15 als auch der EU-27. So erwies sich der Rückschlag des Jahres 2009 mit –3,8 % gegenüber –4,3 % in den beiden anderen Regionen als gedämpfter. Noch deutlich unterschied sich das Wachstum in den beiden folgenden Jahren mit 2,3% und 3,1% gegenüber 2,0 % und 1,4 % (EU-15) bzw. 2,0 % und 1,5 % (EU-27). Die Arbeitslosenquote blieb mit 4,4 % 2010 überhaupt die niedrigste in der gesamten EU und dürfte dies mit voraussichtlich 4,2 % 2011 auch bleiben. Damit wurde, zumindest für diese Periode, die Voraussage im Buch übertroffen, welche von einem durchschnittlichen Wachstum, gemessen an der EU, ausgegangen war. Mehrfach wurde in dieser Studie auf das Phänomen hingewiesen, dass die Ansprüche der Bevölkerung an den Staat, trotz langfristig permanent wachsender Realeinkommen, steigen. Dieser Umstand führte – in Österreich wie in fast allen anderen EU-Staaten – zu einer ebenso stetig wachsenden Staatsverschuldung. Diese erwies sich in der Folge der letzten Finanzmarktkrise als eine Gefahr. Wie im Buch ausgeführt, wurde sie durch massive Passivierung der Staatshaushalte – erfolgreich – aufgefangen. Damit entstand jedoch ein neues Problem, weil die Staatsverschuldung oft schon vor der Krise eine solche Höhe erreicht hatte (Tichy, G., Die Staatsschuldenkrise : Ursachen und Folgen, WIFO-Monatsberichte, 2011, 84[12], S. 798), dass damit die Zahlungsfähigkeit der Länder gefährdet erschien. Diese Problematik verstärkten vor allem in Ländern der europäischen Peripherie sicherlich noch andere Faktoren, wie der überproportionale Anstieg der Lohnstückkosten und Probleme der Wirtschaftsstruktur. Aber alle diese Umstände erhielten ihre hohe
VIII
Vorwort zur zweiten Auflage
Bedeutung dadurch, dass den betroffenen Staaten als Mitgliedern der Währungsunion nicht mehr die Möglichkeit einer externen Abwertung offenstand und eine interne hohe ökonomische wie politische Kosten verursacht. Da die Probleme der peripheren Länder und die schwierigen Sanierungsbemühungen der EU die Unternehmererwartungen drückten, ging die Finanzmarktkrise nach kurzer Erholung in die Staatsschuldenkrise über. Angesichts dieser Entwicklung sahen sich die EU-Mitgliedstaaten veranlasst, eine „Schuldenbremse“ einzuführen, also eine in der Verfassung verankerte Beschränkung der jährlichen Nettokreditaufnahme der Staaten. Wie immer man die Realisierbarkeit und Wirksamkeit dieser Einrichtung beurteilt, sicher scheint, dass damit den politischen Vertretern – zumindest einer Mehrheit davon – die Problematik der langfristig steigenden Staatsverschuldung klar geworden ist, und dadurch mit einem Bruch des Trends der letzten Jahrzehnte gerechnet werden kann. Wien, im April 2012
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1.
Die theoretische Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Der entwicklungsgeschichtliche Hintergrund . Die Wiege des europäischen Individualismus . . . Die Dynamik des europäischen Mittelalters . . . . Der Merkantilismus – die Phase der Vorbereitung Der Durchbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Catching up und Stagnation . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
7 7 10 14 16 19
3.
Von der Völkerwanderung zur karolingischen Stabilisierung . . . .
23
4. 4.1 4.2 4.3
Die Epoche des Protokapitalismus – Mittelalter und frühe Neuzeit Die Entstehung des Städtenetzes – das Hochmittelalter . . . . . . . . . . Ein Zentrum des Bergbaus – das späte Mittelalter . . . . . . . . . . . . . Krieg, Rekatholisierung und Refeudalisierung – die frühe Neuzeit . . . .
29 29 40 49
5. 5.1 5.2 5.3
Aus der Bedrängnis zum Triumphalismus – der österreichische Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krieg und Merkantilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gutsherrschaft und Protoindustrialisierung . . . . . . . . . . . . . . . Manufaktur und Verlagssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
59 59 64 67
6. 6.1 6.2 6.3
Die institutionelle Revolution – Maria Theresia und Joseph II. Institutionelles Catching up . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Merkantilismus zur Physiokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein erfolgreicher Aufholprozess ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
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74 74 80 90
7. 7.1 7.2
Der Entwicklungsbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Stagnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Folgen des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95 95 97
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X
Inhaltsverzeichnis
7.3
Die ersten Fabriken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
8. 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5
Industrialisierung im Biedermeier . . . . . . . . . . . . Die Ära der Restauration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzielle Stabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Basis der österreichischen Industriestruktur . . . . . Ein Ende mit Schrecken – die Revolution von 1848 . . . Österreichs Industrialisierung im europäischen Vergleich
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103 103 107 110 120 121
9. 9.1 9.2 9.3 9.4
Die Ära des Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Neoabsolutismus zum liberalen Reichstag . . . . Liberale Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . Die neuen Leitsektoren der industriellen Entwicklung Die soziale Problematik des Strukturwandels . . . . .
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126 126 128 137 142
10. 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5
Auf dem Weg ins „Silberne Zeitalter“ . . . . . . . . Massendemokratie und erste Ansätze des Sozialstaats Stabilisierung von Budget und Währung . . . . . . . . Elektrizität und Chemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Etablierung der Arbeiterschaft . . . . . . . . . . . Das „Silberne Zeitalter“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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150 150 154 159 164 167
11.
Das katastrophale Ende – der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . 171
12. Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Politischer und ökonomischer Zusammenbruch . . . . . . . . . 12.2 Sozialpolitische Gründerzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Galoppierende Inflation und „Genfer Sanierung“ . . . . . . . . . 12.4 Die Spätphase des Nachkriegsaufschwungs . . . . . . . . . . . . 12.5 Gewerkschaftliche Produktionsorientierung und sozialpolitische Stabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. 13.1 13.2 13.3
Weltwirtschaftskrise und Stagnation . . . . . . . . . . . . Der internationale Einbruch und seine Folgen für Österreich Das Ende der Demokratie und eine schwache Erholung . . Die Grenzen der Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . .
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182 182 192 197 205
. . . . . 214 . . . .
. . . .
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. . . .
219 219 232 245
XI
Inhaltsverzeichnis
14. 14.1 14.2 14.3
Deutsche Okkupation und die österreichische Wirtschaft Die Frage der Kriegsschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Boom zur Katastrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Okkupation und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . .
251 251 253 260
15. 15.1 15.2 15.3
Erfolgreicher Wiederaufbau . . . . . . Ambivalente Bedingungen . . . . . . . . Ökonomische und soziale Stabilisierung Der Weg zum „Friedensniveau“ . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
265 265 276 286
16. 16.1 16.2 16.3 16.4
Das „Goldene Zeitalter“ in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftswunder und Staatsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialpartnerschaft und Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturkrise und außenwirtschaftliche Integration . . . . . . . . . . . . Hartwährungspolitik und „längster Aufschwung der Nachkriegszeit“ – die Öffnung des Arbeitsmarkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
299 299 311 319
. . . .
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. 333
17. Das Ende des Nachkriegswachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.1 Erdölkrise, Austro-Keynesianismus und ein Wandel der Institutionenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2 „Wellblechkonjunktur“ und die Wiederkehr der Arbeitslosigkeit . . . . . 17.3 Die Auflösung der Verstaatlichten Industrie . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.4 Das Scheitern der Budgetsanierung – die große Koalition 1987 bis 2000
346
18. 18.1 18.2 18.3
398 398 411
Ostöffnung und Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wiederkehr der „Nachfolgestaaten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EU-Beitritt und EU-Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Konzentration zum Gleichgewicht (?) – die regionale Dynamik der österreichischen Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
346 364 370 381
422
19. Von der „Ära Schüssel“ zur neuen großen Koalition . . . . . . . . . . 435 19.1 Ein Paradigmenwechsel ? Die Regierungen Schüssel I und II . . . . . . . 435 19.2 Die Wiederkehr der großen Koalition und das Ende der Reformen . . . 458 20. 20.1 20.2 20.3
Problemzonen der österreichischen Wirtschaft . . . . . . . Landwirtschaftliche „Ordnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fehlallokation der Ressourcen : Verkehrs- und Energiepolitik . Die Wandlungen des Kapitalmarkts . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
461 461 470 486
XII
21.
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Die Finanzmarktkrise und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496
22. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 Statistischer Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607
Verzeichnis der Übersichten
Übersicht 1 : Übersicht 2 : Übersicht 3 : Übersicht 4 : Übersicht 5 : Übersicht 6 : Übersicht 7 : Übersicht 8 : Übersicht 9 : Übersicht 10 : Übersicht 11 : Übersicht 12 : Übersicht 13 : Übersicht 14 : Übersicht 15 : Übersicht 16 : Übersicht 17 : Übersicht 18 : Übersicht 19 : Übersicht 20 : Übersicht 21 : Übersicht 22 : Übersicht 23 : Übersicht 24 : Übersicht 25 : Übersicht 26 :
Pro-Kopf-Einkommen der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Edel- und Buntmetallproduktion in Österreich . . . . . . Die alpenländische Salzproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . Verkehr über den Brenner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Städte und Märkte sowie Häuser . . . . . . . . . . . . . . . . . Hausbesitz in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialstruktur der männlichen Bevölkerung des Bundesgebietes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschätzte europäische Getreideerträge um 1800 . . . . . . . Ernteertrag für Getreide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ochsenbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschäftigung in den Manufakturen Niederösterreichs . . . . Erwerbstätige in der Wiener Seidenindustrie . . . . . . . . . . Eisenproduktion in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . Banknotenumlauf und Staatsschuld des Kaisertums Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionale Verteilung der Industrieproduktion in den österreichischen Kronländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niveau und Veränderung des Pro-Kopf-Einkommens der westeuropäischen Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatsschuld, Notenumlauf und Inflationsrate der Monarchie Ausgabenstruktur des Budgets der österreichischen Reichshälfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dampfmaschinen und Lokomotiven . . . . . . . . . . . . . . . Verbrauch von Genussmitteln in der österreichischen Reichshälfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeiterorganisationen und deren Mitglieder in Österreich . Strukturwandel der österreichischen Staatsausgaben . . . . . Strukturwandel der österreichischen Staatseinnahmen . . . . Gebarung der österreichischen Reichshälfte . . . . . . . . . . An Zentralanlagen angeschlossene Elektromotoren in Wien Beschäftigte in der Wiener Industrie 1880, 1885 und 1890 . .
. 8 42 44 45 47 58 79 83 85 86 87 88 88 108 117 123 133 136 138 144 148 155 156 157 160 161
XIV
Übersicht 27 : Übersicht 28 : Übersicht 29 : Übersicht 30 : Übersicht 31 : Übersicht 32 : Übersicht 33 : Übersicht 34 : Übersicht 35 : Übersicht 36 : Übersicht 37 : Übersicht 38 : Übersicht 39 : Übersicht 40 : Übersicht 41 : Übersicht 42 : Übersicht 43 : Übersicht 44 : Übersicht 45 : Übersicht 46 : Übersicht 47 : Übersicht 48 : Übersicht 49 : Übersicht 50 : Übersicht 51 : Übersicht 52 : Übersicht 53 : Übersicht 54 : Übersicht 55 : Übersicht 56 : Übersicht 57 : Übersicht 58 : Übersicht 59 :
Verzeichnis der Übersichten
Beschäftigte in der Wiener Industrie 1890 und 1902 . . . . . Erwerbspersonen nach Wirtschaftssektoren . . . . . . . . . Erwerbspersonen nach ihrer Stellung im Beruf . . . . . . . . Wachstum des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner in Westeuropa und den überseeischen Industriestaaten . . . . Die Ressourcen der kriegführenden Staaten . . . . . . . . . Bruttoinlandsprodukt in der österreichischen Reichshälfte . Militärausgaben der österreichisch-ungarischen Monarchie Die Arbeitsmarktlage im Bundesgebiet . . . . . . . . . . . . Erträge der Kriegsanleihen in der österreichischen Reichshälfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Getreideernten in den Reichshälften . . . . . . . . . . . . . . Tägliche Lebensmittelrationen in Wien . . . . . . . . . . . . Regionalstruktur des österreichischen Außenhandels . . . . Bundesrechnungsabschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bruttoinlandsprodukt nach Wirtschaftszweigen . . . . . . . Die Wirtschaftsentwicklung der Industriestaaten . . . . . . . Interne Aufwertung von Effektenbeständen (= Auflösung stiller Reserven) der Credit-Anstalt . . . . . . Anteil der Einkommensarten am Volkseinkommen . . . . . Die Arbeitsmarktlage in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . Mindestwochenlöhne einiger Berufe . . . . . . . . . . . . . . Industrielöhne in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirtschaftsentwicklung von 1933 bis 1938 in den westeuropäischen Industriestaaten . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsbilanz Österreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitszeit in größeren Industriebetrieben . . . . . . . . . . Die Sozialausgaben in der Ersten Republik . . . . . . . . . . Entwicklung der Geldmenge . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzschuld des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlagevermögen (brutto) 1937 bis 1946 . . . . . . . . . . . . Die Rückschläge durch den Krieg . . . . . . . . . . . . . . . Auslandshilfe an Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bruttoinlandsprodukt nach Wirtschaftszweigen . . . . . . . Die Arbeitsmarktlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderung des Bruttoinlandsprodukts europäischer OECD-Staaten zwischen 1953 und 1962 . . . . . . . . . . . Streikhäufigkeit im internationalen Vergleich . . . . . . . . .
. 162 . 163 . 165 . . . . .
169 172 173 173 176
. . . . . . .
177 178 179 187 190 199 207
. . . . .
209 212 213 227 228
. . . . . . . . . . .
235 237 240 244 246 248 252 260 275 292 297
. 300 . 303
Verzeichnis der Übersichten
Übersicht 60 : Übersicht 61 : Übersicht 62 : Übersicht 63 : Übersicht 64 : Übersicht 65 : Übersicht 66 : Übersicht 67 : Übersicht 68 : Übersicht 69 : Übersicht 70 : Übersicht 71 : Übersicht 72 : Übersicht 73 : Übersicht 74 : Übersicht 75 : Übersicht 76 : Übersicht 77 : Übersicht 78 : Übersicht 79 : Übersicht 80 : Übersicht 81 : Übersicht 82 : Übersicht 83 :
Bundesvoranschlag und Bundesrechnungsabschluss . . . . . . Veränderung des Bruttoinlandsprodukts europäischer OECD-Staaten zwischen 1962 und 1967 . . . . . . . . . . . . Regionale Verteilung des österreichischen Außenhandels 1958 und 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderung des Bruttoinlandsprodukts europäischer OECD-Staaten zwischen 1967 und 1974 . . . . . . . . . . . . Regionale Verteilung des österreichischen Außenhandels 1968 und 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsphasen des österreichischen Arbeitsmarkts . . . Determinanten der Angebotsentwicklung auf dem Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausländische Arbeitskräfte in Österreich . . . . . . . . . . . . Ausstattung österreichischer Haushalte mit dauerhaften Konsumgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bruttostundenverdienste je Industriearbeiter . . . . . . . . . . Ausländische Erwerbspersonen in Österreich . . . . . . . . . Determinanten der Beschäftigungsentwicklung in Österreich und Westdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorzeitige Alterspensionen seit 1963 . . . . . . . . . . . . . . . Beschäftigung, Umsätze und Investitionen in der gesamten sowie in der Verstaatlichten Industrie . . . . . . . . . . . . . . Budgetvollzug seit 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionalstruktur des österreichischen Außenhandels vor und während des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . Regionalstruktur des österreichischen Außenhandels nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verlagerung des Außenhandels der Nachfolgestaaten 1990 bis 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Österreichs Außenhandel mit den Nachfolgestaaten . . . . . Wirtschaftsentwicklung der neuen EU-Mitgliedstaaten seit 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die größten Siedlungen in Österreich . . . . . . . . . . . . . . Bruttoregionalprodukt je Einwohner nach Bundesländern . . Bevölkerungsveränderung nach Bundesländern . . . . . . . . Politische Bezirke mit den stärksten Veränderungen der Wohnbevölkerung zwischen 2002 und 2008 . . . . . . . . . .
XV
307 320 325 334 336 339 340 342 345 357 360 362 367 375 383 399 402 405 406 420 424 426 430 433
XVI
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Verzeichnis der Übersichten
Finanzielle Position privater Haushalte im internationalen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftspolitik in der Ära Schüssel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kennziffern zur Landwirtschaft im Ländervergleich . . . . . Infrastrukturinvestitionen in Schiene und Straße . . . . . . . Bruttoinlandsverbrauch von erneuerbaren Energien . . . . . Auslandskapital im österreichischen Bankwesen . . . . . . . Eigenkapital der österreichischen Banken . . . . . . . . . . . Bankenprofitabilität im internationalen Vergleich . . . . . . Die wichtigsten Währungseinheiten im österreichischen Bundesgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Valorisierung früherer Währungseinheiten zum Stand von Oktober 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Bevölkerung seit 1527 . . . . . . . . . . . . Natürliche Bevölkerungsbewegung in den österreichischen Alpenländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche Bevölkerungsbewegung seit 1871 . . . . . . . . . Die Arbeitsmarktlage seit 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . Pensionen und Renten aus der Sozialversicherung seit 1945 Pensionsbelastung seit 1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts seit 1830 . . . . . . Verbraucherpreisindex seit 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . Bundesvoranschlag seit 1918/19 . . . . . . . . . . . . . . . . Bundesrechnungsabschlüsse seit 1918/19 . . . . . . . . . . . Diskontsatz seit 1883 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zinssätze und Renditen auf dem Rentenmarkt . . . . . . . . Geldmengenaggregate seit 1946 . . . . . . . . . . . . . . . . Devisenkurse in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Misch- und Prämienkurse in Wien . . . . . . . . . . . . . . . Mittelkurse für Devisen in Wien seit 1952 . . . . . . . . . . . Ausfuhr und Einfuhr seit 1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsbilanz seit 1924 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalbilanz seit 1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anteile der Bundesländer am Bruttoinlandsprodukt des Bundesgebiets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 440 . . . . . . .
448 468 478 484 489 491 491
. 545 . 545 . 546 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
551 554 558 561 563 565 569 575 578 581 586 588 590 592 593 595 598 601
. 603
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung 1 : Abbildung 2 : Abbildung 3 : Abbildung 4 : Abbildung 5 : Abbildung 6 : Abbildung 7 : Abbildung 8 : Abbildung 9 : Abbildung 10 : Abbildung 11 : Abbildung 12 : Abbildung 13 : Abbildung 14 : Abbildung 15 : Abbildung 16 : Abbildung 17 : Abbildung 18 : Abbildung 19 : Abbildung 20 : Abbildung 21 : Abbildung 22 : Abbildung 23 : Abbildung 24 : Abbildung 25 : Abbildung 26 :
Agio der Banco-Zettel gegenüber der Conventionsmünze . Verbraucherpreisindex des heutigen Bundesgebiets und Banknotenumlauf des Kaisertums Österreich . . . . . . . . . Bevölkerungsentwicklung von 1527 bis 2008 . . . . . . . . . Agio des Silbers in der Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . Index der Industrieproduktion in Cisleithanien . . . . . . . . Löhne der Wiener Bauhilfsarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . Die Inflation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die monatliche Arbeitsmarktlage . . . . . . . . . . . . . . . . Hypothetische und tatsächliche Wirtschaftsentwicklung . . Löhne, Verdienste und Lebenshaltungskosten . . . . . . . . Offizielle und Schwarzmarktpreise in Österreich . . . . . . . Wachstum des Bruttoinlandsprodukts nach den Kriegen . . Abgabenquote seit 1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Inflationsrate . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitslosenquote in Österreich, Deutschland und OECD-Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die relative Einkommensposition Österreichs im Vergleich zur EU 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftswachstum seit 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . Die wichtigsten Unternehmen des ÖIAG-Konzerns . . . . . Finanzschuld des Bundes seit 1955 . . . . . . . . . . . . . . . Wirtschaftswachstum und Budgetdefizit . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Sozialquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärmarktrendite für Bundesanleihen . . . . . . . . . . Ausländische Beschäftigte nach Staatszugehörigkeit 2007 . Wohnbevölkerung nach Bundesländern . . . . . . . . . . . . Real- und Finanzvermögensbildung der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchschnittspensionen der Arbeiter und Angestellten nach dem ASVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
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. . . . . . . . . . . . .
109 118 135 141 143 192 257 262 281 291 298 349 350
. 358 . . . . . . . . .
364 365 373 384 385 387 392 410 425
. 441 . 450
XVIII
Verzeichnis der Abbildungen
Abbildung 27 : Anteil der Bundesbeiträge am Gesamtaufwand der Pensionsversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 28 : Der Altersaufbau der österreichischen Bevölkerung im zeitlichen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 29 : Effektive Pensionsbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 30 : Abwanderung aus der Landwirtschaft und Anteil an der Beschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 31 : Deckung des Personalaufwands der ÖBB durch Tariferträge Abbildung 32 : Durchschnittseinnahmen von ÖBB und SBB . . . . . . . . . Abbildung 33 : Modal Split im Personenverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 34 : Modal Split im Güterverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 35 : Entwicklung der Aktienindizes von Dow Jones und ATX . Abbildung 36 : Exposure österreichischer Banken in Ostmittel- und Südosteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 37 : Wirtschaftswachstum in OECD-Europa, Deutschland und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 451 . 452 . 453 . . . . . .
467 473 475 479 479 498
. 505 . 525
Vorwort
Die vorliegende Geschichte der österreichischen Wirtschaft repräsentiert das Resultat einer lebenslangen Beschäftigung mit dieser Materie, sei es als Wirtschaftsforscher, sei es als Wirtschaftshistoriker. Sie bildet sozusagen den Abschluss einer Reihe von Studien, welche Teilaspekte des Bereichs analysierten. Einen spezifischen Akzent mag diese Arbeit dadurch aufweisen, dass der Autor die jüngeren Ereignisse, also jene, die sich im letzten halben Jahrhundert vollzogen haben, durch seine Forschertätigkeit unmittelbar und aktiv verfolgen konnte. Die Arbeit folgt in Inhalt und Stil den bisherigen Untersuchungen des Autors. Sie wendet sich daher in erster Linie an die akademische Welt, ist aber so verfasst, dass sie jeder Interessierte einigermaßen verfolgen kann. Die letzte umfassende österreichische Wirtschaftsgeschichte, welche Sandgruber verfasste, wurde 1995 abgeschlossen. Die vorliegende Studie strebt nicht die Breite dieses monumentalen Werkes mit dessen vielfältigen gesellschaftlichen Bezügen an (Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien, 1995), sondern bemüht sich trotz des umfassenden Themas um eine gewisse Kompaktheit mit dem Ziel, die Grundlinien der ökonomischen Entwicklung auf der gegebenen theoretischen und empirischen Basis herauszuarbeiten und möglichst verständlich zu präsentieren. Die Studie greift weit in die Vergangenheit zurück, obwohl nur beschränkt Daten und Informationen dieser Perioden für das Bundesgebiet existieren. Doch erwies sich die Darstellung dieser Zeitabschnitte als sinnvoll, nicht nur um die damaligen ökonomischen Bedingungen zu erläutern, sondern um die – wenigen – Informationen für das Bundesgebiet einarbeiten zu können. Die Finanzmarktkrise als der stärkste Wirtschaftsrückschlag in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erforderte es, besondere Aufmerksamkeit der jüngeren und jüngsten Zeit zuzuwenden. Daraus ergab sich, dass die letzten Abschnitte dieser Wirtschaftsgeschichte gleichsam eine umfassende aktuelle Darstellung der österreichischen Wirtschaft und ihrer Probleme enthalten. Daraus folgt auch, dass die Arbeit grundsätzlich chronologisch angelegt ist, jedoch für die jüngere Zeit auch eine Reihe von Sachkapiteln enthält. Die Arbeit wäre schwerlich zustande gekommen, hätte man dem Autor nicht vielfältige Unterstützung gewährt. Mein Dank gilt zunächst dem Leiter des Öster-
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Vorwort
reichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO), Karl Aiginger, welcher mir nicht nur die Möglichkeit einräumte, die Arbeit in den Räumen des Hauses zu verrichten, sondern mir auch dessen Infrastruktur zur Verfügung stellte. Ferner bin ich zahlreichen Mitarbeitern des WIFO zu Dank verpflichtet, weil sie jene Kapitel, die ihren Arbeitsbereich betrafen, mit mir diskutierten. Das gilt für Fritz Breuss, Kurt Kratena, Peter Mayerhofer, Wilfried Puwein, Stefan Schönfelder und Franz Sinabell. Ebensolche Unterstützung erhielt ich außerhalb des WIFO von Michael Mesch, Andreas Weigl und Franz Fally. Besonders fühle ich mich Franz Baltzarek, Günther Chaloupek, Gunther Tichy und Ewald Walterskirchen verpflichtet, welche sich der Mühe unterzogen, große Teile meiner Arbeit durchzusehen und mich mit einer Fülle von Ratschlägen zu versehen. Ähnliches gilt für Hans Seidel, der mir in fast täglichen Diskussionen unzählige Anregungen vermittelte. Mein Dank gilt auch Angelina Keil und Eva Novotny, welche mir aus der Bibliothek des WIFO, aber auch aus vielen anderen, die notwendigen Bücher beschafften. Für die aufmerksame verlegerische Betreuung bin ich Eva Reinhold-Weisz vom Böhlau Verlag verbunden. Besonders verbunden bin ich Christa Magerl, welche seit Jahren meine Studien hervorragend nicht nur statistisch betreut, sondern auch dafür sorgt, aus dem Urmaterial ein druckfertiges Manuskript zu formen. Ohne all diese Hilfe wäre das Buch nicht zustande gekommen. Wien, im Jänner 2010
1. Die theoretische Basis
Die Wirtschaftsgeschichte zieht aus der theoretischen Basis der Nationalökonomie nur beschränkten Nutzen. Das gilt natürlich in erster Linie für die Neoklassik, welche in den letzten Jahrzehnten bis zum Ausbruch der Finanzmarktkrise die akademische Lehre international fast unumschränkt beherrschte, aber auch für den Keynesianismus, insofern als dieser ja keine eigene mikroökonomische Basis entwickelte und sich hier mit der „neoklassischen Synthese“ zufriedengegeben hatte. Aber selbstverständlich bleibt der makroökonomische Aspekt für wirtschaftshistorische Analysen relevant. Zentrale Bedeutung für diesen Forschungsbereich erlangte dagegen die „Neue Institutionenökonomie“, welche alternative Ansätze entwickelt, freilich nur für beschränkte Theoriebereiche. Da jedoch den Bestimmungsgründen des individuellen Verhaltens der Wirtschaftssubjekte insbesondere unter längerfristigen Aspekten für die wirtschaftsgeschichtliche Forschung zentrale Bedeutung zukommt, scheint es angezeigt, sich mit den einschlägigen Hypothesen auseinanderzusetzen. Nach dem grundlegenden neoklassischen Ansatz wird das Verhalten der Menschen im zweiseitigen Tausch durch eine Reihe von Natur aus gegebenen Eigenschaften charakterisiert. Die Wirtschaftssubjekte sind darauf aus, unter allen Umständen ihren präzise unter Abwägung sämtlicher Alternativen kalkulierten Nutzen zu maximieren. Treten sie in eine Geschäftsbeziehung ein, dann geschieht das stets unter Bedingungen der vollständigen Konkurrenz. Die Präferenzen dieser Individuen bleiben konstant, und die Wirtschaftssubjekte sind über die – gegenwärtigen und zukünftigen – Bedingungen des Tausches vollständig informiert. Und dieser vollzieht sich nicht nur in einem Augenblick, sondern auch vollkommen kostenlos – am Ende steht das Marktgleichgewicht. Und das Bemerkenswerteste an diesem Modell scheint der Umstand zu sein, dass es für alle Zeiten und Räume gilt : Es repräsentiert das Menschenbild des „homo oeconomicus“. Es kann daher auch nicht weiter erstaunen, dass die neoklassische Wachstumstheorie weder etwas über das Wirtschaftswachstum auszusagen vermag noch darüber, wie es zu Einkommensunterschieden zwischen Ländern oder Regionen gekommen ist. Sie versucht nämlich, diese Phänomene aus dem Einsatz von Arbeit und Kapital zu erklären, welche tatsächlich nur für einen Bruchteil der Verände-
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Die theoretische Basis
rungen stehen, sowie aus einem Residuum, das technischer Fortschritt heißt, der für fast alles verantwortlich ist und über den man nichts weiß, sodass ihn manche Wirtschaftshistoriker als „measure of ignorance“ bezeichnen (Abramovitz). Die Situation theoretischer Unzulänglichkeit in der Nationalökonomie hat sich – wie bereits angedeutet – allerdings in jüngerer Zeit geändert. Mit der „Neuen Institutionenökonomie“ (NIE) und ähnlichen Konzepten, wie etwa der „Evolutionären Ökonomik“ oder der „behavioural economics“, zeichnen sich in jüngerer Zeit Elemente einer paradigmatischen Vielfalt ab. Der zentrale Unterschied zwischen den theoretischen Ansätzen liegt darin, dass die NIE zur Kenntnis nimmt, das menschliche Verhalten unterscheide sich über Raum und Zeit gravierend. Und die differenten Verhaltensweisen prägen nicht nur das Funktionieren der verschiedenen Gesellschaften allgemein, sondern auch das ihrer jeweiligen Volkswirtschaften. Was aber bestimmt das menschliche Verhalten ? Wie das der Name dieser Theorie besagt : die Institutionen. Diese sind nach der klassischen Definition des Nobelpreisträgers North „… the humanly devised constraints, that structure political, economic and social interactions. They consist of both informal constraints (sanctions, taboos, customs, traditions, and codes of conduct) and formal rules (constitutions, laws, property rights)“ (North, 1991, S. 97). Die neuere Forschung fügt allerdings hinzu, dass die Institutionen nicht nur den Handlungsspielraum und die Präferenzen der Menschen beschränken, sondern diese selbst bestimmen (Kubon-Gilke, 1997 ; Zouboulakis, 2005, S. 144). Das geschieht bereits durch die Art und Weise, wie die Individuen ihre Umwelt wahrnehmen, durch gemeinsame kognitive Schemata. North prägte dafür den Ausdruck „shared mental models“ ; auf diese Weise entstehen „ideologies“ (North, 1994). Und die Gesamtheit dieser Institutionen – in der betriebswirtschaftlichen Diskussion entstand dafür der Ausdruck „governance structure“, also die Institutionenstruktur – charakterisiert eine Gesellschaft. In diesem Zusammenhang bleibt anzumerken, dass diese neuere theoretische Entwicklung auch wieder die verschiedenen Zweige der Sozialwissenschaft zusammenführt. Die Diskussion über die Verhaltensbestimmung wird von Psychologen, Soziologen und Nationalökonomen gemeinsam geführt. Und es sind gerade Soziologen, welche für die Institutionenstruktur einer Gesellschaft wieder den Begriff „Kultur“ verwenden (Knight, 1997, S. 694). Für die Stabilität einer Gesellschaft sowie jeder Organisation ist die Übereinstimmung von formellen und informellen Institutionen wesentlich. Keine der beiden kann ausschließlich mit formellen Regeln funktionieren. Sie erreicht nur dann eine hohe Effizienz, wenn die formalen Strukturen durch die informellen Regeln ergänzt und verstärkt werden. Es lässt sich in diesem Fall auch der Begriff des
Die theoretische Basis
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Gleichgewichts verwenden. Das gilt etwa für die fairen Geschäftspraktiken in einer entwickelten Volkswirtschaft. Wenn den Institutionen aber eine derart zentrale Funktion für die Verhaltensbestimmung zukommt, stellt sich natürlich die Frage nach ihrer Entstehung und Veränderung. Letzteres wird noch dadurch kompliziert, als diese, da sie ja die Informationsverarbeitung durch das Individuum wesentlich erleichtern, ein hohes Maß an Stabilität erfordern. Auf der anderen Seite verlangt der soziale Wandel, insbesondere in einer Industriegesellschaft, eine gewisse Flexibilität. Grundsätzlich kann man sagen, dass – informelle – Institutionen durch wiederholte Interaktionen kleiner sozialer Gruppen entstehen. Sie vereinfachen nicht nur die Wahrnehmung der relevanten Umwelt, sondern kreieren Vertrauen in die zu erwartenden Reaktionen der anderen Akteure. Es entsteht „Sozialkapital“. Aus Erfahrungen entstehen aber nur dann Institutionen, wenn eine genügende Menge von Individuen diese akzeptiert, weil sie einen entsprechenden Nutzen stiften – sowie umgekehrt sich Institutionen überleben, wenn das nicht mehr der Fall ist und sie daher eine große Zahl von Menschen nicht mehr beachtet. Etablierte Institutionen sind dadurch gekennzeichnet, dass ihre Nichteinhaltung sanktioniert wird. Im Fall von formellen Institutionen tragen auch die Sanktionen entsprechenden Charakter, sie sind zumeist gesetzlich fixiert, im Fall informeller sind sie anderer Art, wie etwa gesellschaftliche Diskriminierung. Für alle informellen Institutionen gilt, dass sie keinem geplanten menschlichen Entwurf entstammen. Das trifft nicht für die formellen zu, also für normatives Recht. Historisch entstanden sie vielfach derart, dass zunächst informelle Regeln kodifiziert und mit bestimmten formalen Sanktionsandrohungen versehen wurden. Auf diese Weise entstand das Gewaltmonopol des Staates. Damit entwickelte sich ein umfassendes Rechtssystem, einschließlich formaler Gerichtsbarkeit, welches allmählich durch Steuern sowie Gerichtsgebühren finanziert und damit weitgehend der individuellen Intervention entzogen wurde. Da formelle Institutionen stets aus einem überlegten Akt entstehen, können die Angehörigen einer Gesellschaft in verschiedener Weise auf deren Inhalt Einfluss nehmen. Die Vorteile der formellen gegenüber den informellen Institutionen liegen vor allem in ihrer größeren Publizität und Widerspruchsfreiheit sowie in den wirksameren Sanktionen. Institutionen sind – wie schon gesagt – im Allgemeinen stabil und sollen es auch sein. Sie entstehen eben durch längere Erfahrungen und verleihen der Gesellschaft Sicherheit. Doch reagieren sie auf Änderungen in den Rahmenbedingungen. Wenn dem Individuum wiederholt Informationen zukommen, welche den gegebenen mentalen Hilfsmitteln, also Schemata, Stereotypen usw., nicht entsprechen, dann werden sie durch neue solche ersetzt. Ähnliches gilt auch für die Gruppe.
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Die theoretische Basis
Nimmt infolge geänderter Umstände eine kritische Masse von Betroffenen die Sanktionen auf sich, um die Regel nicht mehr einzuhalten, dann ist diese überholt und wird durch eine neue ersetzt. Dieser Wandlungsvorgang kann freilich zahlreiche Friktionen verursachen. Solche hatte sicherlich Marx für die Konzeption seines Basis-Überbau-Schemas vor Augen. Im Gegensatz zum Marktprozess, der im Allgemeinen in die Richtung einer Wissensoptimierung und damit zu einer Produktions- und Einkommenssteigerung tendiert, muss sich der Wandlungsprozess einer Institution nicht notwendigerweise einer solchen annähern : „It means that economies and societies do not evolve in an optimizing process looking for the best or the more efficient solution, but in an idiosyncratic way involving also errors and regressions“ (Zouboulakis, 2005, S. 149). Sicherlich bleibt die Annahme aufrecht, dass die – mit allen geschilderten Einschränkungen – angestrebte Maximierung des individuellen Nutzens ein wichtiges gesellschaftliches Koordinationsinstrument darstellt – umso mehr, als sich dafür auch biologische Bestimmungsgründe anführen lassen (Robson, 2001, S. 11). Und damit gilt auch, dass der Wandel informeller Institutionen dann eintritt, wenn sich Preise und Mengen sowie Technik und Organisationsmöglichkeiten ändern und auf diese Weise neue Chancen entstehen, Transaktionskosten, also jene, welche durch die Anbahnung, den Vollzug und die Überwachung jedes Geschäftsabschlusses anfallen, zu senken sowie den Markt auszuweiten. Aber ebenso werden die menschlichen Aktivitäten durch Kooperation koordiniert. Internalisierte Regeln bestimmen das Verhalten in der Gruppe ; und zwar nicht nur in der Familie, sondern in verschiedenen Organisationen. Ja noch mehr ; die Maximierung des individuellen Nutzens, soll sie in geregelter, friedlicher und gesellschaftlich weithin akzeptierter Form erfolgen, ist ohne kooperative Basis gar nicht möglich. Sicherlich jedoch wäre es verfehlt – wenn sich daraus plausible Erklärungen ergeben –, nicht von der individuellen Nutzenmaximierung auszugehen. Wiewohl manche Theoretiker alternativer Ansätze diesbezüglich manchmal recht puristisch verfahren, wird von anderen moniert, dass auch bei grundsätzlich institutionenökonomischem Herangehen an die Probleme das „basic economic reasoning“ nicht vergessen werden soll. Auf den erläuterten theoretischen Überlegungen beruhen die Analysen der vorliegenden Arbeit, in welcher daher der institutionellen Entwicklung stets größte Aufmerksamkeit gewidmet wird.
2. Der entwicklungsgeschichtliche Hintergrund 2.1 Die Wiege des europäischen Individualismus
Die langfristige Analyse der Region, welche dem heutigen österreichischen Bundesgebiet entspricht, erfordert auch dessen Einordnung in die historische internationale Wirtschaftsentwicklung. Welchen Ländergruppen ist dieses Gebiet zuzuordnen, welchen Entwicklungspfad haben diese beschritten und welche Position hat es darin eingenommen ? In der Antike existierten keine grundlegenden ökonomischen Unterschiede zwischen den Kulturen. Alle wiesen den Charakter von Agrargesellschaften auf, welche im Wesentlichen das physische Existenzminimum erarbeiteten. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung siedelte auf dem flachen Land, nur einige städtische Zentren konnten durch landwirtschaftliche Überschüsse versorgt werden. Darin wurden in bescheidenem Rahmen gewerbliche Güter produziert, Handel betrieben und Dienstleistungen erbracht. Einer schmalen Oberschicht gestattete diese Konstellation mitunter eine luxuriöse Existenz. Diese grundsätzlich gleichartigen Gegebenheiten wiesen gewiss unterschiedliche Akzente auf ; so zeichnete sich die chinesische Kultur durch eine hoch entwickelte Zivilisation sowie ein ebensolches wissenschaftliches Niveau aus. Prinzipiell wichen aber die Einkommen wenig voneinander ab. Doch schon in der Antike begann sich Europa allmählich aus dieser Gemeinsamkeit zu lösen, zumindest soweit, als sich bereits damals manche Voraussetzungen für die in der Neuzeit explosionsartig einsetzende kapitalistische Expansion herausbildeten. Am Beginn der europäischen Entwicklung stehen die griechischen Stadtstaaten. Diese wurden entweder oligarchisch oder demokratisch regiert, das heißt, die Bürgerschaft war mehr oder weniger in die politische Willensbildung eingebunden. In dieser Gemeinschaft entstanden wohl definierte Eigentumsrechte, welche die freie Verfügung über Boden, Kapital und – in Form von Sklaven – Arbeit sicherstellten. Damit konnte sich eine Geldwirtschaft mit agrarischer und handwerklicher Produktion sowie mit umfangreichem Handel entwickeln. Ein schon beträchtliches Maß an Rechtssicherheit senkte die Transaktionskosten und schuf günstige Bedingungen für die schon von Adam Smith formulierten Elemente des Produktivi-
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Der entwicklungsgeschichtliche Hintergrund
Übersicht 1 : Pro-Kopf-Einkommen der Welt 1 bis 2000 1
1000 1500 1600
1700
1820
1870
1913
1950
1973
2000
Bruttoinlandsprodukt je Einwohner zu Preisen von 1990, in internationalen Geary-Khamis-Dollar Westeuropa
450
400
771
890
Belgien
–
–
875
976 1.144 1.319 2.692 4.220 5.462 12.170 20.742
998 1.204 1.960 3.458 4.579 11.416 19.002
Dänemark
–
–
738
875 1.039 1.274 2.003 3.912 6.943 13.945 23.010
Deutschland
–
–
688
791
Finnland
–
–
453
538
638
Frankreich
–
–
727
841
910 1.135 1.876 3.485 5.271 13.114 20.808
Großbritannien
–
–
714
974 1.250 1.706 3.190 4.921 6.939 12.025 19.817
Italien
–
–
910 1.077 1.839 3.648 3.881 11.966 18.596 781 1.140 2.111 4.253 11.085 20.235
1.100 1.100 1.100 1.117 1.499 2.564 3.502 10.634 18.740
Niederlande
–
–
761 1.381 2.130 1.838 2.757 4.049 5.996 13.082 21.591
Norwegen
–
–
640
760
900 1.104 1.432 2.501 5.463 11.246 24.364
Österreich1
–
–
707
837
993 1.356 2.075 3.465 3.706 11.235 20.097
Portugal
–
–
606
740
819
Schweden
–
–
695
824
977 1.198 1.662 3.096 6.739 13.493 20.321
Schweiz
–
–
632
750
890 1.090 2.102 4.266 9.064 18.204 22.025
Spanien
–
–
661
853
853 1.008 1.207 2.056 2.189
7.661 15.269
Übrige Staaten
–
–
472
525
584
711 1.027 1.840 2.538
7.614 15.343
Osteuropa
400
400
496
548
606
683
937 1.695 2.111
4.988
5.804
Ehemalige UdSSR
400
400
499
552
610
688
943 1.488 2.841
6.059
4.351
Europäische Abkömmlinge
400
400
400
400
476 1.202 2.419 5.233 9.268 16.179 27.065
USA
–
–
400
400
527 1.257 2.445 5.301 9.561 16.689 28.129
Übrige Staaten
–
–
400
400
408
761 2.244 4.752 7.424 13.399 21.530
400
400
416
438
527
692
681 1.481 2.506
4.504
5.838
Mexiko
–
–
425
454
568
759
674 1.732 2.365
4.845
7.218
Übrige Staaten
–
–
410
431
502
663
683 1.424 2.536
4.426
5.511
Japan
400
425
500
520
570
669
737 1.387 1.921 11.434 21.069
Asien (ohne Japan)
Lateinamerika
923
975 1.250 2.086
7.063 14.022
450
450
572
575
571
577
550
658
634
1.226
China
450
450
600
600
600
600
530
552
439
839
3.149 3.425
Indien
450
450
550
550
550
533
533
673
619
853
1.910
Übrige Staaten
450
450
565
565
565
584
643
882
926
2.049
4.010
Afrika
430
425
414
422
421
420
500
637
894
1.410
1.464
Welt
445
436
566
595
615
667
875 1.525 2.111
4.091
6.012
Quelle : Maddison, 2003, S. 262. – 1 Korrigiert nach Good – Ma, 1998.
Die Wiege des europäischen Individualismus
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tätswachstums : Arbeitsteilung und Marktausweitung. Damit war ein Freiraum für politische und wirtschaftliche Disposition geschaffen worden, welcher zur Entstehung eines neuen freien, individualistischen, verantwortungsbereiten und rational denkenden Bürgers führte. Zwar gingen im Römischen Reich die demokratischen Rechte großteils verloren, doch blieben auch dort viele egalitäre Elemente unübersehbar : Formulierungen, wie „senatus populusque romanus“ oder die Bezeichnung des Kaisers als „primus inter pares“ deuten auf ein entsprechendes Bewusstsein hin. Vor allem aber erlebte das Rechtswesen in diesem Staat eine eindrucksvolle Weiterentwicklung. Denn Rom schuf nicht nur gleichfalls wohldefinierte Eigentumsrechte, sondern ein umfangreiches Privatrecht, das bis in die Gegenwart weiterwirkt. Auch repräsentierte das Römische Reich während der „pax romana“ einen außerordentlich großen und sicheren Markt. Von daher wären also sehr günstige Voraussetzungen für langfristiges wirtschaftliches Wachstum gegeben gewesen. Dennoch kam es nicht dazu. Die römische Wirtschaft veränderte sich praktisch nicht. Wohl gab es von Zeit zu Zeit bescheidene Produktionszuwächse, doch diese blieben weit von dem entfernt, was Kuznets „modern economic growth“ bezeichnet, also ein stetiges Wirtschaftswachstum, welches durch kurzfristige Rückschläge nicht mehr beeinträchtigt werden kann und das ein Charakteristikum der kapitalistischen Wirtschaft darstellt. Dazu fehlten zwei zentrale Elemente des ökonomischen Wachstums : technischer Fortschritt und dynamisches Unternehmertum. Tatsächlich hielt sich die technische Entwicklung Roms in äußerst engen Grenzen. Wie in allen Kulturen dieser Zeit gab es Erfindungen, doch blieben diese vereinzelt und über große Zeiträume verteilt. Was sie von der kapitalistischen Epoche unterschied, waren eben ihr sporadisches Auftreten und der Mangel an Weiterentwicklung. Zwar kannte man etwa die Schraubenpresse, und in Palästina wurde im 1. Jahrhundert die Wassermühle entdeckt. Doch verbreitete sich diese Innovation in den folgenden Jahrhunderten kaum im Römischen Reich. Das außerordentlich hohe Niveau der antiken Wissenschaft war nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass diese ausschließlich Angelegenheit der Oberschichten blieb, sondern sie wurde – mit Ausnahme der Medizin – sehr fern von der Realität betrieben und zeigte keinerlei Anwendungsorientierung. Wenn technischer Fortschritt realisiert wurde, dann im militärischen Bereich oder im Bauwesen. Und dieser Umstand weist eben auf den zweiten Mangel der antiken Wirtschaft hin : das Fehlen des Unternehmers, also einer Gesellschaftsschicht, die durch innovatorischen Charakter gekennzeichnet ist ! Die Produzenten dieses Zeitalters kombinierten die Produktionsfaktoren in traditioneller, ererbter Weise. Ein dynamisches Vorgehen in dem Bestreben, die Kosten ständig zu minimieren, auch unter
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Einsatz des technischen Fortschritts, blieb ihnen weitgehend fremd. Offensichtlich mangelte es auch an den sozialen Voraussetzungen für eine derartige gesellschaftliche Gruppe. Da standen auf der einen Seite die reichen Latifundienbesitzer, die sich mit der Produktion überhaupt nicht beschäftigten – allenfalls mit Geldgeschäften –, sondern diese den Verwaltern – oft im Sklavenstatus – überließen. Auf der anderen Seite Kleinbauern am Rand des Existenzminimums. Die Handwerker zählten in ihrer Mehrheit zu den Sklaven und stellten in jedem Fall eine verachtete Klasse dar. Blieb der Handel, der gleichfalls geringes soziales Ansehen genoss. Hier fanden sich keinerlei Ansätze zu einer kapitalistischen Produktion. So kann es nicht überraschen, dass Finley immer wieder betont, der antiken Welt sei jedes rationale, ökonomische Denken fremd geblieben (Finley, 1977, S. 7). Ein solches Urteil mag in dieser apodiktischen Form nicht zutreffen – insbesondere nicht für den Handel –, illustriert aber doch die Gegebenheiten der Antike.
2.2 Die Dynamik des europäischen Mittelalters
Beide dieser fehlenden Elemente wuchsen erst im Lauf des Mittelalters heran, wofür es freilich einer zentralen Voraussetzung bedurfte. Schon in der Spätphase des Römischen Reiches begann sich eine Position herauszubilden, welche für die spätere europäische Entwicklung zentrale Bedeutung erlangte : die positive gesellschaftliche Einschätzung der Arbeit. Dieser Prozess war auf das Engste mit der christlichen Religion verbunden. Im klassischen Griechenland wurde jegliche produktive Arbeit verachtet. Darin unterschied sich diese Gesellschaft nicht von allen anderen Hochkulturen der Epoche. Nur die Begründung dafür variierte etwas : Die dem freien Bürger angemessenen Tätigkeiten beschränkten sich auf Politik, Wissenschaft und Krieg. Jede Arbeit unter dem Zwang, seinen Lebensunterhalt sicherzustellen, musste danach die Fähigkeiten des Menschen zu Höherem verkümmern lassen. Würde und Ansehen des freien Mannes gingen mit der ökonomischen Unabhängigkeit einher. Die römische Antike definierte, derselben Linie folgend, nur die „artes liberales“, wie Architektur, Medizin und Wissenschaft, als akzeptabel. Das frühe Christentum schreibt der Arbeit zunächst ambivalenten Charakter zu. Einerseits war sie Teil des Schöpfungsauftrags – „Macht Euch die Erde untertan“ –, andererseits strafte Gott Adam für seinen Ungehorsam damit, dass er „im Schweiße seines Angesichts“ sein Brot essen sollte. In den folgenden Jahrhunderten jedoch entwickelte sich das christliche Arbeitsverständnis mit nachhaltigen Folgen weiter.
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Augustinus betonte das Wesen der Arbeit als Teilhabe am göttlichen Schöpfungsprozess : „… erstmals wird in der Weltgeschichte der Arbeit die Arbeit positiv gedeutet …“ (Frambach, 1999, S. 51). Darüber hinaus wird, ganz im Gegensatz zur Antike, der Müßiggang als etwas Schädliches betrachtet. Und es war gerade die katholische Theologie des Mittelalters, von der wesentliche Impulse für die Entstehung des kapitalistischen Menschentyps ausgingen. Dies gilt insbesondere für die Naturrechtsethik des Thomas von Aquin. Die Grundidee dieser sei in der Rationalisierung des Lebens gelegen : „Sünde in den menschlichen Tätigkeiten ist das, was sich gegen die Ordnung der Vernunft richtet“ (Thomas, zitiert nach Sombart, 1923, S. 307). Die eigentliche ökonomische Tugend ist den Scholastikern die „liberalitas“, das vernünftige Haushalten ; man könne es auch Wirtschaftlichkeit nennen. Verwerflich sei aber in jedem Fall der Müßiggang. Dieser sei sündig, weil er die Zeit, dieses kostbarste Gut, vergeude. Hier wird also nicht nur die Arbeit rehabilitiert, sie wird zur Verpflichtung des Christen erhoben. Insgesamt schuf also die naturrechtliche Thomistik einen Komplex von Regeln – „Institutionen“ –, der in hohem Maß geeignet war, jenen neuen Menschentyp zu kreieren, der die industrielle Entwicklung in Europa tragen konnte. Die Reformation radikalisierte diese positive Arbeitsbewertung, indem sie ihr göttlichen Berufungscharakter verlieh – wie sich das auch im deutschen Wort „Beruf “ dokumentiert. Der Mensch ist Gott gegenüber zur Arbeit verpflichtet. Noch weiter geht der Calvinismus. Sein Ausgangspunkt ist die Prädestination, die Auserwähltheit des Menschen. Diese kann zwar der Mensch nicht beeinflussen, aber sie lässt sich an harter Arbeit und deren sichtbarem Erfolg erkennen (Frambach, 1999, S. 69). Damit ist nur ein Faktor des Einflusses dargestellt, welchen die Kirche auf die Entwicklung Europas in Richtung des Kapitalismus ausgeübt hat. Die weiteren werden im Folgenden dargelegt. Doch kommt ihrer Arbeitsbewertung darin eine zentrale Rolle zu. Freilich wäre anzumerken, dass die Kirche die industrielle Entwicklung nicht nur positiv beeinflusste. Manche frühchristliche Theologen standen dem Handel mit großer Skepsis gegenüber. Wenn er gar zur Wohlhabenheit führte, dann verstieß er gegen das christliche Armutsideal, und das Zinsverbot wurde die längste Zeit vehement vertreten. Trotz aller Ambivalenzen muss man ihr aber doch eine zentrale Rolle für die Ausbildung jener Regelstruktur und damit des Menschentyps zuschreiben, welche die Industrialisierung Europas ermöglichten. Von der Statik der Antike hob sich die Dynamik des europäischen Mittelalters deutlich ab. Seine soziale Struktur war durch den Feudalismus gekennzeichnet. Im Prinzip erwuchs dieses System aus einer Unzulänglichkeit. Die frühmittelalterli-
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chen Reiche Europas sahen sich nicht in der Lage, eine zentrale Verwaltung und ein entsprechendes Heerwesen aufzubauen, wie das den römischen Staat oder andere Hochkulturen ausgezeichnet hatte oder noch auszeichnete. Daher übertrugen die Territorialfürsten die militärischen Aufgaben sowie Verwaltung und Gerichtsbarkeit an Lehensmänner, welche für diese Leistung mit dem Nutzungsrecht an Grund und Boden ausgestattet wurden (Vasallität und Beneficium). Diesen verliehen die Grundherren wieder an Leibeigene weiter. Damit entstand ein charakteristisches Element des europäischen Institutionensystems, nämlich die Verrechtlichung der sozialen Beziehungen. Diese beruhten grundsätzlich auf Verträgen, die Leistung und Gegenleistung beinhalteten. Den fixierten Abgaben und der Fronarbeit von Bauern standen persönlicher Schutz, Verwaltung und Gerichtsbarkeit gegenüber. Auch blieben innerhalb dieses Systems der Leibeigenschaft den Hintersassen einige autonome Bereiche erhalten. Das galt für die Selbstverwaltung im Gemeindeverband sowie die Mitwirkung an der niederen Gerichtsbarkeit und schließlich für die Einrichtung des „Gesindedienstes“, also der regelmäßigen außerhäuslichen Erwerbsarbeit durch Bauernkinder (Mitterauer, 1992, S. 301). All diese Gegebenheiten führten schon zu einer gewissen Individualisierung der agrarischen Bevölkerung. Als entscheidend für die europäische Entwicklung erwies sich jedoch die Stadt. Sie vermochte sich sozusagen in den Nischen der Grundherrschaft anzusiedeln. Die mittelalterlichen Städte entstanden aus Überresten von römischen Siedlungen sowie aus Märkten. Das meist königliche Marktprivileg sicherte ihnen Immunität gegenüber der ländlichen Umgebung zu und verlieh ihnen das Recht, eigene Gerichte zu etablieren sowie Rechtsvorschriften zu erlassen. Darüber hinaus erlangten die Marktteilnehmer sehr früh Einfluss auf die Verwaltung des Marktes, da dessen Gründer infolge der zu erwartenden Abgaben ein sehr hohes Interesse daran hatten, Handelstreibende und Handwerker anzuziehen und solchen daher größere Freiräume einräumten (Bindseil – Pfeil, 1999). Ein zentrales Element dieser neuen städtischen Struktur lag damit in der Rechtssicherheit. Meinungsverschiedenheiten im kommerziellen Leben wurden vor Gericht ausgetragen. Im Gegensatz zum Teileigentum des Feudalismus entwickelten die Städte wohldefinierte Eigentumsrechte, welche überhaupt erst die Anreize zur wirtschaftlichen Aktivität schufen. All diese Gegebenheiten trugen dazu bei, dass sich die Städte allmählich von äußeren politischen und rechtlichen Einflüssen befreiten und ihre Angelegenheiten autonom sowie im Wesentlichen demokratisch regelten. Es entstanden die „… governments of the merchants, by the merchants, for the merchants …“ (Lopez, 1976, S. 70), und „Stadtluft macht frei“ wurde zum Wahrspruch des Mittelalters.
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Die wirtschaftliche Aktivität vollzog sich in den mittelalterlichen Städten auf sehr unterschiedliche Weise. Produktion und regionaler Handel waren in Zünften organisiert. Diese stellten Selbstverwaltungskörper dar, welche die Bedingungen für Produktion und Handel strikt festlegten. Ganz im Gegensatz dazu entwickelten sich der interregionale und internationale Handel. Hier vollzog der Markt die Koordination von Angebot und Nachfrage. In diesem Zusammenhang hatte sich auch ein neuer Moralkodex herausgebildet, welcher, zunächst noch ohne Einflussnahme der Behörden, den kommerziellen Umgang regelte und damit die Transaktionskosten senkte sowie das unternehmerische Risiko verringerte. Lässt sich für die spätere Industrialisierung vom Zunftwesen dessen Autonomie sowie Rechtscharakter gewinnen, so weist der interregionale und internationale Handel schon auf das künftig dominierende Koordinationssystem des freien Marktes hin. Diese Entwicklung vollzog sich vor einer folgenschweren Veränderung des geistigen Hintergrunds dieser Periode. Zwar war das Leben des mittelalterlichen Menschen in hohem Maß durch die christliche Religion geprägt, doch hatte diese niemals einen allumfassenden Anspruch gestellt, wie das schon durch die Worte des Stifters „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ zum Ausdruck kommt. Daher ist auch das Mittelalter durch die beständige Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst charakterisiert. Doch auch die theologische Diskussion vollzog sich im frühen Mittelalter bemerkenswert offen. Sie integrierte die jüdisch-arabischen Philosophen und blieb stets dem logischen und rationalen Denken verpflichtet ; so wurde der Klerus zum Träger der wissenschaftlichen Forschung. Als die Kirche versuchte, diesen allzu freien Diskurs zu bremsen, war es bereits zu spät. Die rationale und wissenschaftliche Fundierung des europäischen Denkens, die intellektuelle Neugier hatten sich schon zu sehr verfestigt, in den Städten einen Freiraum gefunden und sich von religiösen Beschränkungen emanzipiert. Am Ende dieser Periode stand schließlich der Humanismus (Butschek, 2002A, S. 70). Diese Entwicklung sowie der Zwang für die städtischen Kaufleute, an ihre Probleme rechenhaft heranzugehen, führten schließlich zu einer Veränderung ihres Weltbilds in eine Richtung, die man als „quantitative Revolution“ (Crosby, 1997) bezeichnen kann. Diese fand ihren Ausdruck durch die „Linearisierung der Zeit“, welche durch die Erfindung der Uhr ermöglicht wurde, die Konzipierung verlässlicher See- und Landkarten, die Übernahme und erfolgreiche Weiterentwicklung der arabischen Mathematik, die Entwicklung der doppelten Buchführung, die Einführung der Perspektive in der Malerei sowie die Erfindung der Notenschrift, welche die Melodie in zeitliche Quanten unterteilte und damit die Polyphonie begünstigte.
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All das ging einher mit der Übernahme oder Erfindung zahlreicher technischer Neuerungen. Am Ende dieses Prozesses stand ein neuer Mensch : Der städtische Bürger trug dem tief verwurzelten Trieb zur Einkommensmaximierung nicht durch Gewalt gegen andere Rechnung, sondern durch Produktion, Handel, Leistung und Forschung. Ein Menschentyp, dessen Selbstbewusstsein sich auf die Arbeitsbewertung der katholischen Kirche gründete und der einem neuen Wertekanon verpflichtet war, welcher sich krass von jenem der Aristokratie abhob. Ein ganz zentrales Element dieser Entwicklung lag jedoch darin, dass dieser neue Menschentyp in seiner kommerziellen Tätigkeit eine vielfältige Dynamik an den Tag legte. Seine Arbeit vollzog sich nicht, wie in der Antike oder den außereuropäischen Kulturen, vorwiegend im traditionellen Rahmen, sondern er ging daran, neue Möglichkeiten zu erproben, also die Produktionsfaktoren zur Kostenreduktion oder zur Schaffung neuer Produkte neu zu kombinieren. Und der entscheidende Faktor in diesem seinem Bemühen lag darin, dass er dazu auch schon den technischen sowie organisatorischen Fortschritt einsetzte. Damit war ein entscheidender Schritt zur Industriellen Revolution getan. 2.3 Der Merkantilismus – die Phase der Vorbereitung
Im Zeitalter des Merkantilismus wurden all die Ansätze des Mittelalters weiterentwickelt, doch traten einige neue hinzu. Da war zunächst die Staatenbildung, welche man als einen historischen Nachholprozess bezeichnen kann. Das Feudalsystem ging mit dem Wandel der Militärtechnik zu Ende. Durch die Entwicklung insbesondere der Feuerwaffen verlor der gepanzerte Ritter seine Kampfkraft. Er vermochte seine Leibeigenen nicht mehr zu schützen. Innere und äußere Sicherheit wurde Angelegenheit der Zentralgewalt – es bildete sich das Gewaltmonopol des Staates heraus. Die Territorialfürsten waren gezwungen, zur Erfüllung dieser Aufgaben nicht nur neue Armeeformationen heranzuziehen, sondern diese auch zu bezahlen. Darauf waren die mittelalterlichen Staaten in keiner Weise vorbereitet. Sie bezogen ihre Einnahmen aus Kron- und Kammergütern sowie einigen Zöllen und Abgaben. Steuern für außerordentliche Belastungen, wie für Kriege, mussten von den Ständen bewilligt werden. Angesichts deren Unwilligkeit, solches zu tun, suchten die Territorialherren nach neuen Einnahmen. Sie gingen daher dazu über, Steuern zu erheben. Diese mussten fixiert, eingehoben, kontrolliert und administriert werden – sobald sie nicht mehr Steuerpächtern überlassen blieben. Das erforderte daher den Aufbau einer Verwaltung, welche allmählich auch eine Fülle anderer Aufgaben übernahm.
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Parallel dazu erfolgte in den Staaten auch die Vereinheitlichung des Rechtswesens. Zunächst wurde oftmals das gebräuchliche Recht kodifiziert, darüber hinaus begann der Staat, gesellschaftliche Bereiche gesetzlich neu zu regeln. Wurde damit also der notwendige rechtliche und administrative Rahmen für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung geschaffen, erwies sich dafür auch die geänderte Einstellung des Staates zur nationalen Ökonomie als wesentlich. Zwar hatte in Europa stets ein relativ hohes Maß an Rechtssicherheit existiert. Zu willkürlichen Konfiskationen war es sehr selten gekommen, doch hatte sich der Staat, um Einnahmen zu erzielen, vor allem um die Extraktion von Mitteln bemüht. Nunmehr kam es unter dem Einfluss der merkantilistischen Literatur zu einem völligen Umdenken. Die Regierungen nahmen den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Aktivität und Steuereinnahmen zur Kenntnis. Die politische Konsequenz dieser Einsicht lag darin, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu fördern – es entstand zum ersten Mal eine konsistente Wirtschaftspolitik : der „Universalkommerz“. Zu diesem Zweck errichteten die Staaten Kommerzialbehörden, welche die Wirtschaftspolitik durchzuführen hatten. Das nationale Territorium verschmolz zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum mit Zollschutz nach außen. Die Infrastruktur wurde ausgebaut, Schulen errichtet und die Schulpflicht eingeführt, technische Hochschulen geschaffen, die Bildung von Arbeitsmärkten vorangetrieben und erste Ansätze einer Sozialpolitik realisiert. Der Fernhandel, der sich schon im Mittelalter des fürstlichen Wohlwollens erfreut hatte, wurde nun direkt gefördert, teils durch außenpolitische und militärische Aktionen, teils durch Gründung oder Förderung von Handelskompanien. Diese Epoche brachte die Beherrschung des Welthandels durch Europa sowie den Beginn seiner Kolonialreiche. Als wesentlich erwies sich jedoch der Wandel im Bereich der Produktion : Die Zentralbehörden lockerten das Zunftsystem beträchtlich auf. Erzeugungen etablierten sich außerhalb seines Wirkungsbereichs. Es entstand das Manufakturwesen, also jene noch vorwiegend handwerkliche Erzeugung, welche eine relativ große Zahl von Arbeitskräften unter einem Dach vereinigte und damit die Kontrolle und die zweckmäßige Organisation der Produktion ermöglichte. Noch größere Bedeutung erlangte das Verlagssystem, in dessen Rahmen vorwiegend Handelsunternehmer Rohstoffe an ländliche Verarbeiter lieferten und auch die Vermarktung übernahmen. All diese Unternehmer befriedigten nicht mehr nur die lokale Nachfrage, sondern belieferten externe Märkte. Damit konnten nicht mehr nur im Fernhandel, sondern auch in der Erzeugung unternehmerische Erfahrungen gesammelt werden. Und schließlich beschränkte sich der Staat nicht nur darauf, die Produktion zu fördern, sondern ging dazu über, selbst Betriebe zu errichten, welche zum Teil beträchtliche Erfolge erzielten.
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All diese Veränderungen vollzogen sich vor dem geistigen Hintergrund der Aufklärung. Darin hatten sich Humanismus und Renaissance zu einem konsistenten philosophischen System verdichtet, welches das Individuum in den Mittelpunkt seines Denkens stellte. Sie verstand sich als Ideologie der „Vernunft“, des rationalen Herangehens an die Probleme, frei von überlieferten Vorurteilen. Daraus erflossen Vorstellungen wie die Gleichheit vor dem Gesetz oder das Verständnis des Staates als Sozialkontrakt. Dieses bürgerliche Weltbild beherrschte das Denken des 18. Jahrhunderts in einer Weise, dass sich ihm auch Adelige und Geistliche bis zu Territorialfürsten, wie Friedrich II. und Joseph II., unterwarfen. In dieser Atmosphäre vollzog sich die „wissenschaftliche Revolution“. Eine Veränderung des Denkens hatte sich ja schon um die Wende zum 16. Jahrhundert abgezeichnet. Nicht mehr überlieferte antike Autoritäten wurden abstrakt neu interpretiert, sondern man ging daran, durch Beobachtung der Wirklichkeit zur Erkenntnis vorzustoßen. Und das Ziel der Forschung verlagerte sich immer stärker von den existenziellen Fragen der Philosophie zu den Problemen des täglichen Lebens, wie es Francis Bacon formulierte : „Das wahre und gesetzmäßige Ziel der Wissenschaft ist es, das menschliche Leben durch neue Entdeckungen und Kräfte zu bereichern“ (Mason, 1997, S. 305). Und es war auch dieser Forscher, der den entscheidenden methodologischen Schritt von der Beobachtung zum Experiment setzte. Ihren spektakulären Höhepunkt erreichte die Wissenschaft dieser Periode, als Tycho de Brahe, Johannes Kepler und Galileo Galilei dem heliozentrischen System des Nikolaus Kopernikus endgültig zum Durchbruch verhalfen. Krönung und vorläufigen Abschluss fand die frühneuzeitliche Wissenschaftsentwicklung im System der Mechanik Isaac Newtons. Wissenschaftliche Gesellschaften, in welchen Akademiker und Praktiker zusammenkamen, demonstrierten das Wachstum der Scientific Community. Solche Gemeinschaften gingen daran, die Resultate der Forschung permanent zu diskutieren und weiterzuentwickeln. Die Wissenschaft nahm dynamischen Charakter an.
2.4 Der Durchbruch
Die beschriebenen Veränderungen hatten dazu geführt, dass das westeuropäische Pro-Kopf-Einkommen um 1800 doppelt so hoch lag wie in allen außereuropäischen Kulturen. Die Explosion des Wirtschaftswachstums, der rasante und fundamentale Wandel der gesamten Sozial- und Wirtschaftsstruktur vollzog sich jedoch erst im 19. Jahrhundert durch die Industrielle Revolution. Ihr Merkmal wurde der technische Fortschritt.
Der Durchbruch
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Sein Symbol war die Dampfmaschine, weil sie alle Charakteristika dieses Begriffs in sich vereinigte. Sie repräsentierte zunächst eine bahnbrechende Erfindung. Sie machte die Produktion von menschlicher, tierischer oder anderer natürlicher Kraft, wie Wind oder Wasser, unabhängig und vervielfachte diese. Durch ihren Einsatz konnte jetzt der Produktionsstandort viel freier gewählt werden. Sie war eine technische Erfindung, abgeleitet aus dem gegebenen Stand des allgemeinen technischen Wissens. Zwar gehörte James Watt keinesfalls der akademischen Wissenschaft an, er war Feinmechaniker, aber er konnte seine Forschungen auf einer existierenden Basis aufbauen. Und er repräsentierte das typische Produkt seiner Gesellschaft, ihrer Interessen und Wertvorstellungen. Und das waren diejenigen eines autonomen und initiativen Bürgertums, in dem der technische sowie der ökonomische Diskurs gepflegt wurden. Und damit ist auch der für die Industriegesellschaft zentrale Kernprozess beschrieben : der ökonomisch determinierte Einsatz der Technik, welcher von der Scientific Community permanent weiterentwickelt zur „Routine“ wird. Das Charakteristikum dieses technisch determinierten Produktionsprozesses wurde die Fabrik. Diese kannte bereits als Vorläufer die Manufaktur. Auch dort wurde ja schon eine relativ große Zahl von Arbeitskräften unter einem Dach vereint und arbeitsteilig organisiert. Nunmehr jedoch erhielt ihre Tätigkeit durch den Einsatz von Maschinen, deren Antrieb mit unbelebter Energie erfolgte, einen grundsätzlich neuartigen Charakter. Auch prägten die Fabriken durch ihre Größe sowie auch ihre Zahl in ganz anderer Weise die Produktionslandschaft als die Manufakturen die merkantilistische Wirtschaft. Aus dieser Konstellation erwuchsen drei zentrale Elemente des industriellen Wachstums : Da war zunächst die technische Revolution mit ihren Maschinen und dem dazu erforderlichen Einsatz von Energie. Diese wurde im Zeitablauf aus unterschiedlichen Quellen gewonnen, zunächst durch Kohle, später durch Elektrizität und Erdöl. Man kann daher auch von einer Revolution der Antriebskräfte sprechen. Dieser folgte die Verkehrsrevolution. Zwar gab es schon im Merkantilismus einen umfangreichen Ausbau der Straßen und, vor allem in England, Frankreich und den Niederlanden, der Kanäle. Auch den Laderaum der Schiffe vergrößerte man. Doch der massive Durchbruch gelang erst in dem Augenblick, als Anfang des 19. Jahrhunderts Richard Trevithick und George Stephenson in der Lage waren, die Dampfmaschine Watts umzulegen und Lokomotiven zu bauen, welche Waggons auf Eisenschienen zogen. Damit wurde ein neues Zeitalter des Transports eröffnet. Massenbewegungen von Menschen sowie auch Gütern waren bisher in beschränktem Ausmaß nur auf Schiffen möglich gewesen, nunmehr jedoch auch
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unbegrenzt zu Land. Im Kapitalismus konnten jetzt nicht nur große Mengen erzeugt, sondern auch transportiert werden. Märkte und Arbeitsteilung gewannen eine neue Dimension. Der Einsatz der Dampfmaschine im Seetransport erfolgte relativ spät, da der Kohlevorrat zunächst einen zu großen Teil der Ladekapazität des Schiffes in Anspruch nahm. Dampfschiffe wurden daher vorerst nur für den Personenverkehr sowie auf Routen eingesetzt, welche Schnelligkeit und Pünktlichkeit erforderten. Immerhin bewirkte die Konkurrenz des Dampfschiffs eine wesentliche Verbesserung der Segelschiffe. Die „tea clippers“, welche die Chinaroute bedienten, erbrachten eindrucksvolle Leistungen. Als drittes zentrales Element der industriellen Entwicklung kann man die Informationsrevolution betrachten, welche das Tempo der Nachrichtenübermittlung den Verhältnissen der Produktion und des Transports anpasste. Sie fand ihren notorischen Ausdruck durch die Erfindung des Telegrafen in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts sowie, später, in jener des Telefons. Unter diesen Bedingungen setzte sich in Europa „modern economic growth“ durch. Bewegte sich das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum vor der Industriellen Revolution in Westeuropa um 0,1 %, verzehnfachte es sich zwischen 1820 und 1870 auf rund 1 %, um sich bis 1913 auf 1,3 % zu steigern. Die schweren Rückschläge in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch zwei Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise drückten allerdings die Wachstumsrate auf 0,3 %. Nach 1945 erlebte Westeuropa dann eine Wachstumsexplosion von rund 4 % und im Gefolge der Erdölkrise 1973 immer noch eine Steigerung von fast 2 %. Damit änderte sich auch die Einkommensrelation Westeuropas zu allen anderen Kulturen. Lag das westeuropäische Pro-Kopf-Einkommen bei Anbruch der Industriellen Revolution etwa doppelt so hoch wie dasjenige Chinas, erreichte es 1973, also nach 150 Jahren, das Vierzehnfache. Entsprechend verhielt sich die Relation zu den anderen Regionen. Versucht man, aus der geschilderten historischen Entwicklung Schlussfolgerungen zu ziehen, dann ergeben sich im Wesentlichen folgende Voraussetzungen für das Entstehen einer Industriegesellschaft : Zunächst die gesellschaftliche Hochschätzung der Arbeit und ferner ein individualistischer, verantwortungsbereiter, selbstreflektierter und initiativer Menschentyp, aus welchem Unternehmer, Wissenschaftler sowie objektive Richter und Beamte entstehen können. Die Gesellschaft muss durch eine Scientific Community geprägt sein, welche die Wissenschaft und damit den technischen Fortschritt permanent vorantreibt, und eine Unternehmerschaft, die Ertragsmaximierung durch ebenso stetigen Einsatz des technischen Fortschritts anstrebt. Schließlich haben wohldefinierte Eigentumsrechte und ein
Catching up und Stagnation
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funktionierender Rechtsstaat den Raum für die ökonomischen Dispositionen sicherzustellen und damit die Transaktionskosten zu senken. Und diese Bedingungen gelten nicht nur für die Vergangenheit, sondern ebenso für die Gegenwart, wie auch die internationale Diskussion zeigt. Denn in diesem Rahmen wird von den Entwicklungsländern immer häufiger „good government“ als Voraussetzung für Entwicklungshilfezahlungen verlangt. Und diese Forderung zielt vor allem auf einen funktionierenden Rechtsstaat und damit auf die Abwesenheit von Korruption, den Aufbau einer Zivilgesellschaft sowie verbesserte Ausbildung.
2.5 Catching up und Stagnation
Natürlich stellt sich die Frage, warum die Voraussetzungen für die Industrielle Revolution nur in Europa erfüllt waren und in keiner anderen Hochkultur. Dieser Prozess entwickelte sich gewiss nicht zwangsläufig, wie die rückblickende Betrachtung nahelegen könnte, Zufallselemente sind ihm eigen, doch muss er in der beschriebenen Gesellschaftsstruktur münden. Die Antwort darauf lautet, dass sich in den anderen Hochkulturen jene Voraussetzungen für eine Industrialisierung eben nicht oder nur in Ansätzen entwickelt hatten. Besonders ins Auge springt deren Fehlen in der islamischen Kultur. Dies deshalb, weil diese, ebenso wie Europa, auf der Antike aufbauen konnte und darüber hinaus im frühen Mittelalter einen glanzvollen Höhepunkt in Politik, Kultur und Ökonomie erreichte, danach jedoch vollkommen erstarrte. Zunächst erwies sich das Reich der Kalifen und ihrer Nachfolger bereits früh als hoch organisiert. Diese regierten absolutistisch, finanzierten den Staat durch Steuern, welche – abgesehen von der Kopfsteuer für „Ungläubige“ – auf Grund und Boden, Handel und Handwerk gelegt wurden, bedienten sich einer Beamtenschaft sowie einer besoldeten Armee. Auch der arabische Raum kannte Städte. Im 10. und 11. Jahrhundert zählten die Handelszentren der Region zu den größten der westlichen Hemisphäre. Die Herrscher residierten in der Stadt und regierten sie auch. Die Verwaltungsaufgaben wurden von ihren Beamten wahrgenommen. Politische Vertreter der Bevölkerung gab es praktisch nicht. Wohl existierten Verantwortliche für bestimmte Bevölkerungsgruppen, deren Hauptaufgabe es jedoch blieb, Steuern einzutreiben (Hourani, 2000, S. 176). Die Stadt kannte im Islam keine autonome rechtliche Körperschaft. Unter diesen Bedingungen konnte sich ein autonomes Bürgertum nicht entwickeln. Dazu gesellte sich jedoch noch ein weiteres zentrales Element : Der Islam repräsentierte ein theokratisches System. Er regelte durch seine Schriften, den Koran
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und die Sunna, die Überlieferung sowie, daraus abgeleitet, die Scharia alle Lebensbereiche seiner Gläubigen in umfassender Weise. Die Interpretation der Schriften oblag ursprünglich dem Kalifen. Nach relativ kurzer Zeit jedoch verlagerte sich die Autorität für die Interpretation des göttlichen Rechts immer mehr zu den Theologen (Ulema und Imam). Damit wandelte sich der absolutistische Staat in einen theokratischen. Das hatte tiefgreifende Wirkungen für die Wissenschaft. Ihr früher Aufbruch und Höhepunkt, insbesondere im maurischen Spanien, fand ein relativ rasches Ende. Philosophische Erörterungen wurden vor allem von Al-Ghazali (1058–1112) scharf zurückgewiesen, welcher sie als Spekulationen verwarf. Maßgebend seien einzig und allein die in den Schriften geoffenbarten Heilslehren. Eine Position, die sich in der islamischen theologischen Diskussion voll durchsetzte. Damit erstarrte der wissenschaftliche Diskurs gänzlich. Die Lösung neu auftauchender Probleme wurde stets unter der Devise „zurück zu den alten Quellen“ in Angriff genommen. Der charakteristische Höhepunkt dieser Denkweise manifestierte sich im Verbot des Buchdrucks, das den Informationsfluss und den Gedankenaustausch für lange Zeit unterband. Damit wurde schließlich der wissenschaftlichen Diskussion der Todesstoß versetzt. In dieser Atmosphäre war technisch-wissenschaftlicher Fortschritt undenkbar. Ähnlich entwickelte sich das Recht. Wohl entschieden auch im Islam mehr oder minder unabhängige Richter auf Basis von Gesetzen, aber nicht nur. Der Kalif und seine Statthalter konnten stets Verfahren an sich ziehen und deren Entscheidung dann beliebigen Charakter annehmen. Willkürakte der Zentralgewalt scheinen aber auch außerhalb von Gerichtsverfahren nicht selten vorgekommen zu sein. Noch stärker fällt der Inhalt des islamischen Rechts ins Gewicht. Selbst wenn sich sagen lässt, dass das islamische Recht prinzipiell nicht wirtschaftsfeindlich war, blieb es, ebenso wie die Wissenschaften, starr. Unter diesen Bedingungen konnte sich weder Ähnliches entwickeln wie eine „wissenschaftliche Revolution“ noch eine Philosophie wie die Aufklärung. Das Fehlen autonomer Bürger verhinderte die Entstehung einer Produktion, die unter Einsatz des technischen Fortschritts vorangetrieben wurde. Der gewaltige soziale, politische und geistige Umbruch Europas als Folge der Industriellen Revolution fand im Nahen Osten nicht statt. Diese Erstarrung der islamischen Gesellschaft verändert sich seit dem Mittelalter nur wenig. Versuche, die Institutionenstruktur der westlichen Welt zu übernehmen, sei es in der kolonialen Phase, sei es nach 1945 durch den „arabischen Sozialismus“ und in jüngerer Zeit durch die „muslimische Renaissance“, zeigten trotz der Erdölfunde nur begrenzte Erfolge. Der Abstand im Bruttoinlandsprodukt
Catching up und Stagnation
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je Einwohner gegenüber dem Westen verringerte sich bis zur Gegenwart kaum (Butschek, 2002A, S. 195). Ein ganz anderes Bild bot der Ferne Osten. Wenngleich das Pro-Kopf-Einkommen der meisten dieser Länder in den Fünfzigerjahren noch deutlich unter jenem der arabischen Staaten lag, setzte dort in den folgenden Jahrzehnten ein dramatischer Aufholprozess ein, der die an der Spitze dieser Entwicklung befindlichen Länder bereits an das westliche Einkommensniveau heranführte. Am Anfang dieses Prozesses stand Japan, das sich mit der „Meiji-Restauration“ 1867 die Übernahme des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells bewusst zum Ziel setzte. Angesichts des Umstands, dass in diesem Land bereits manche Elemente der europäischen Institutionenstruktur existierten, gelang es, den erforderlichen Wandlungsprozess, für den Europa ein Jahrtausend benötigt hatte, in einem Jahrhundert abzuschließen und zu einer führenden Industrienation heranzuwachsen. Und in den 1960er-Jahren setzte dieser „Catching-up-Prozess“ auch in anderen ostasiatischen Staaten ein. Diese gestalteten ihre Institutionenstruktur ebenfalls mit vollem Erfolg in Richtung des Westens um. Zuletzt hat dieser Umgestaltungsprozess auch die Großstaaten China und Indien erfasst. Einen solchen Durchbruch vermochten die südamerikanischen Staaten lange Zeit nicht zu erzielen. Obwohl zur gleichen Zeit wie Nordamerika von den Europäern entdeckt und noch um 1800 ein höheres Pro-Kopf-Einkommen erzielend als jenes, fielen sie in der Folge weit zurück. Heute bewegt sich ihr Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bei einem Viertel des nordamerikanischen. Auch diese Gesellschaften vermochten nicht durchgehend jene Institutionenstruktur zu entwickeln, welche eine erfolgreiche Industrialisierung voraussetzt. Besonders krass tritt dieser Mangel in Afrika südlich der Sahara hervor. Diese Region, die vor der europäischen Kolonialisierung keine Hochkultur war und auch über keine Schriftlichkeit verfügte, vermochte bis in die 1960er-Jahre ein Einkommen zu erzielen, welches über jenem von Indien und China lag. Mit dem Ende der Kolonien begannen sich die Voraussetzungen für die Staatlichkeit dieser Region – mit Ausnahme Südafrikas – fortlaufend zu verschlechtern. Es traten eigentlich wieder die präkolonialen Strukturen, wie Stämme oder Klientel, in den Vordergrund. Afrika südlich der Sahara stellt die einzige Region dar, in welcher seit den 1970er-Jahren das Pro-Kopf-Einkommen kaum gewachsen ist (Butschek, 2002A, S. 207). All diese Fakten deuten darauf hin, dass die Entwicklung zu einer funktionierenden Industriegesellschaft unabweislich von der Existenz einer entsprechenden Institutionenstruktur abhängt, wie sie sich ursprünglich in Europa herausgebildet
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hat. Diese Einsicht ist nicht ganz neu, denn : „Das industriell entwickelte Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild seiner eigenen Zukunft“ (Marx, 1962, S. XIX).
3. Von der Völkerwanderung zur karolingischen Stabilisierung
Bereits zu frühgeschichtlicher Zeit wurde das heutige Bundesgebiet ökonomisch durch jene Faktoren charakterisiert, welche es auch in den späteren Epochen in besonderem Maß kennzeichnen sollten : durch Metall- und Salzgewinnung. Schon im 1. Jahrtausend vor Christus wurde in Mitterberg bei Mühlbach am Hochkönig Kupfer nicht nur abgebaut, sondern auch verarbeitet und gehandelt. Um 750 vor Christus gewann man in Hallstatt bereits Salz, welches gleichfalls weit über die Grenzen der Region exportiert wurde. Die erste quasi staatliche Organisation in diesem Raum entstand durch das keltische Königreich Noricum. In dieser Periode wurde bereits Eisen gewonnen und gleichfalls verarbeitet und gehandelt. Dessen hohe Qualität wurde durch die Kennzeichnung als „norisches Eisen“ unterstrichen. Eine der wichtigsten Handelsstraßen dieser Zeit führte von Aquileja über die Alpen und die Donau und setzte sich schließlich als „Bernsteinstraße“ bis an die Ostsee fort. Die Masse der Bevölkerung arbeitete freilich in der Landwirtschaft, vielfach auf Subsistenzniveau. Allerdings entwickelten sich auch erste städtische Höhensiedlungen, wie etwa jene am Magdalensberg. 9 vor Christus okkupierte Rom das norische Königreich, und wiewohl es noch einige Jahrzehnte einen gewissen Autonomiestatus bewahren konnte, entwickelte sich das Bundesgebiet zu einem integrierenden Bestandteil des Römischen Reiches. Westösterreich gehörte zur Provinz Rätien, die zentralen Gebiete zu Noricum und Ostösterreich zur Provinz Pannonien. Die Hauptstadt dieser Region, Carnuntum, entwickelte sich zum bedeutendsten Ort des heutigen Bundesgebiets. Wien (Vindobona) beherbergte zwar auch eine Legion, gewann aber vergleichsweise nur geringe Bedeutung. Im gesamten Bundesgebiet entfaltete sich die römische Stadtkultur mit Ansiedlungen, welchen das Municipium verliehen wurde, also das Recht auf Selbstverwaltung – faktisch durch die gesellschaftlichen Oberschichten. Freilich blieben auch die Städte verhältnismäßig eng mit der Landwirtschaft des Umlands verbunden. Insofern unterschied sich die Wirtschaftsstruktur von der üblichen des Römischen Reiches, als die Agrarproduktion eher auf kleinbäuerlicher Basis erfolgte ; Latifundien fanden sich selten. Auch die Sklaverei schien wenig verbreitet zu sein. Die Wirtschaft der Region profitierte von den Vorzügen des klassischen Zeitalters, wie der allgemeinen und der rechtlichen Si-
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cherheit, einer ausgebauten Infrastruktur, geordneten Währungsverhältnissen und mäßigen Abgaben. Der Abbau von Eisenerz intensivierte sich in der römischen Zeit. Im städtischen Bereich entwickelte sich spezialisiertes Handwerk. Vor allem Schmiede fanden sich häufig. Sie produzierten neben Waffen eine Fülle verschiedenartiger Werkzeuge. Schlosser versorgten den Markt mit Schlössern, Türangeln und Ketten. Einen kräftigen Aufschwung erlebte die Herstellung von Keramik. Textilien wurden zwar allgemein im Haushalt verfertigt, doch traf solches nicht für den Loden zu, welcher anscheinend gewerblich produziert und exportiert wurde. Der Handel erlebte in den ersten beiden Jahrhunderten der römischen Herrschaft gleichfalls einen kräftigen Aufschwung. Die romanische Oberschicht fragte Luxuswaren aus Italien nach. Bernstein lieferte der Norden. Die Exportgüter umfassten Eisen und Eisenwaren, den genannten Loden, weiters Häute, Felle, Honig, Wachs sowie Käse (Tremel, 1969, S. 38). Freilich verharrte auch die wohlgeordnete römische Wirtschaft – wie in Kapitel 2.1 ausgeführt – in einem statischen Zustand. Der Einsatz des technischen Fortschritts hielt sich in engen Grenzen und dynamisches Unternehmertum existierte kaum. Die genannten günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gingen mit der allmählichen Auflösung der römischen Herrschaft verloren. Schon Ende des 2. Jahrhunderts setzte der Druck germanischer Völker auf die Reichsgrenzen ein, wenngleich es Marc Aurel zunächst gelang, die Lage in der Region wieder zu stabilisieren. Doch nahm die Bedrohung in den folgenden Jahrhunderten ständig zu. Die dramatisch steigenden militärischen Aufwendungen erhöhten den Abgabendruck und führten zur Verelendung der bäuerlichen Schichten, wodurch die Sklaverei wieder zunahm. Die permanenten Kämpfe um die Nachfolge auf dem kaiserlichen Thron, in welche auch die pannonischen Legionen eingriffen, führten zum Verlust der inneren und auch der rechtlichen Sicherheit. Eine manipulative Geldpolitik verursachte Inflation und deroutierte damit das Währungssystem. Das römische Städtenetz löste sich allmählich auf. Der äußere Druck erreichte mit dem Einbruch der Hunnen den Höhepunkt. 488 schließlich gab Rom die Donauprovinzen auf, und ein beträchtlicher Teil der romanischen Bevölkerung verließ die Region, um nach Italien zu ziehen. Lediglich in Westösterreich blieben Reste der römischen Zivilisation erhalten. Mit dem Zusammenbruch des weströmischen Reiches vollzog sich auch ein solcher des Wirtschaftssystems. Hatte es schon in den Endphasen des Imperiums aus den dargestellten Gründen gelitten, verfiel es nunmehr endgültig. Das resultierte nicht nur aus den Einfällen verschiedener Völkerschaften, sondern aus dem Ver-
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schwinden der hoch entwickelten Institutionenstruktur des Reiches. Regierung und Verwaltung gingen ebenso verloren wie die innere und äußere Sicherheit, das hoch entwickelte Rechtssystem sowie die Schriftlichkeit. Die Kriege, aber auch Pestwellen dezimierten die Bevölkerung, sodass es schon von da her nicht mehr möglich war, die Städte mit Lebensmitteln zu versorgen – was deren Verfall beschleunigte. Das Verschwinden der intensiven Arbeitsteilung sowie der dramatische Rückgang des Handels lassen sich aus archäologischen Forschungen ablesen, welche beispielsweise die Vielfalt und hohe Perfektion der römischen Keramik dokumentieren, ebenso wie die Tatsache, dass die Waren bestimmter Produktionsstätten sich im gesamten Staatsgebiet und darüber hinaus vorfanden. Im 6. Jahrhundert existierte davon, bis auf wenige Ausnahmen, etwa in der Stadt Rom selbst nichts mehr. Die Herstellung von Keramik erfolgte nur mehr kleinräumig und in vergleichsweise primitiver Qualität (Ward-Perkins, 2007, S. 113). Ähnliches kann man von der Bauwirtschaft sagen. Die römischen Bauwerke erreichten notorischerweise monumentale Ausmaße und wurden aus hochwertigem Material, wie genormten, mit Mörtel verbundenen Ziegeln oder Steinen, ausgeführt. Diese Bauweise galt praktisch für alle Gebäude einschließlich der landwirtschaftlichen. Eine solche Herstellungsweise ging nahezu vollständig verloren. Wohnhäuser wurden nunmehr durchwegs aus Holz errichtet und mit Stroh oder Schindeln gedeckt. Und selbst die wenigen Steinbauten – vorwiegend Kirchen – reichten in ihren Dimensionen nicht im Entferntesten an diejenigen der römischen Zeit heran. Gewiss vollzog sich der ökonomische Verfall nicht überall mit der gleichen Intensität, vor allem die peripheren Gebiete des Reiches waren davon in besonderem Maß betroffen, aber das heutige Bundesgebiet zählte zu diesen. Die Folgezeit sieht den Durchzug oder die Landnahme verschiedener Völkerschaften, seien es Baiern, Alemannen, Slawen oder Awaren, unter gleichfalls unterschiedlichen Oberhoheiten. Erstere siedelten sich zunächst vor allem in Tirol und Salzburg an. Über die politischen Ereignisse dieser Periode existieren begrenzte Informationen, noch weniger natürlich über die ökonomischen Gegebenheiten. Die Turbulenzen dieser Zeit waren jedoch sicherlich nicht dazu angetan, Produktion oder Handel zu begünstigen. Erst im 7. und 8. Jahrhundert gelang es, vor allem unter fränkischer Dominanz, die politische Lage in West- und Zentraleuropa zu stabilisieren. Dieser Prozess erreichte seinen ersten Höhepunkt im Reich Karls des Großen. Diese Periode erlangte für die künftige Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft besondere Bedeutung, weil in ihr bereits all jene Merkmale angelegt waren, welche später das Mittelalter charakterisieren sollten.
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Als wesentlich für die innere Stabilisierung seines Reiches erwies sich die Einbindung der Kirche in das politische System. Dies bewirkte nicht nur eine ideelle Ausrichtung der Bevölkerung auf die Zentralgewalt, sondern auch die Übernahme eines großen Teils der administrativen Aufgaben durch den höheren Klerus. Die schriftlichen Angelegenheiten wurden ausschließlich von Klerikern ausgeführt. Darüber hinaus flossen dem Hof von den kirchlichen Einrichtungen jährliche Abgaben („dona“) zu, auch Mannschaft samt Ausrüstung wurde für den Kriegsfall zur Verfügung gestellt (Hägermann, 2000, S. 662). Umgekehrt schrieb die Zentralgewalt der Bevölkerung den „Zehent“ vor und stattete Kirchen und Klöster reichlich durch Schenkungen von Grund und Boden aus. Durch die Förderung der Letzteren wurde ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der mittelalterlichen Wirtschaft ins Leben gerufen. Allerdings unterschied sich das karolingische politische System grundlegend insofern vom antiken, als die Zentralgewalt verhältnismäßig schwach ausgebildet war. Vor allem die gerichtlichen und militärischen Aufgaben wurden auf regionaler Ebene von Grafen vollzogen, welche der Kontrolle von „Königsboten“ unterworfen waren. Da jedoch das Reich über kein Steuersystem verfügte, das es erlaubt hätte, Verwaltung und Militär zu finanzieren, wurden die Amtsträger zur Erfüllung ihrer Aufgaben mit Grund und Boden ausgestattet – sie wurden belehnt. Auf der anderen Seite ergaben sich auch Änderungen der Heeresorganisation. Grundsätzlich oblag der Heeresdienst allen Freien. Mit der Intensivierung des Getreideanbaus wurde diese Verpflichtung immer stärker als Belastung empfunden. Die Ackerbauern unterstellten sich daher in zunehmendem Maß reichen Grundherren als Hörige, welchen sie Arbeitsleistungen und einen Teil ihrer Erträge erbrachten. Hier finden sich somit die Wurzeln des Feudalsystems mit der Grundherrschaft, welche die Gesellschaft und das agrarische Produktionssystem des Mittelalters kennzeichneten. Auch die Wirtschaft scheint durch die politische Stabilisierung starke Impulse erhalten zu haben. Da war zunächst wieder ein hohes Maß an persönlicher Sicherheit gegeben. Weiters erlangten die Maßnahmen Karls zur Förderung der Schriftlichkeit große Bedeutung. Es wurde Standardlatein eingeführt sowie eine neue Schriftform, in welcher die Wörter getrennt geschrieben, die Sätze mit Großbuchstaben eingeleitet und mit einem Punkt oder Fragezeichen beendet wurden. Über die Klöster verbreitete sich diese Schrift im gesamten Reich. Darüber hinaus vereinheitlichte Karl das Münzwesen durch Prägung des karolingischen Denars und bemühte sich, Maße und Gewichte zu standardisieren. Die grundherrschaftliche Organisation der landwirtschaftlichen Produktion erwies sich als effizient. Die Eigenwirtschaft, das Salland, der königlichen, adeligen
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oder geistlichen Güter wurde vorwiegend durch Sklaven bearbeitet, der restliche, meist viel größere Teil durch Freie und Halbfreie. Diese hatten für die Bereitstellung des Bodens Leistungen in Form von Abgaben in Geld oder Sachgütern, vor allem aber Arbeitsleistungen für das Salland zu erbringen. All diese Verhältnisse sind durch viele Vermögens- und Leistungsverzeichnisse wohldokumentiert. Brachte diese Organisation etwa gegenüber der Sklavenwirtschaft der Antike sowohl eine Kostenreduktion als auch eine Steigerung der Arbeitsmotivation, so wirkte sich in der karolingischen Periode auch der technische Fortschritt aus. Die Dreifelderwirtschaft setzte sich ebenso immer stärker durch wie die Verwendung des eisernen Radpflugs. Die Wassermühle, sowohl horizontaler als auch vertikaler Konstruktion, erlebte bereits weite Verbreitung (Hammer, 2008). Eine Produktionszunahme ergab sich jedoch nicht nur aus der Steigerung von Einsatz-Ertrags-Relationen, sondern ebenso durch Neugewinnung von Ackerland. Auch die Viehhaltung weitete sich in dieser Zeit aus. Die meisten Grundherrschaften produzierten weit über den eigenen Bedarf hinaus und setzten diese Überschüsse auf Märkten ab, auf diese Weise der Geldwirtschaft Impulse verleihend. Offenbar spielten für diese Einheiten die Optimierung der Produktion durch entsprechende Effizienzsteigerung bereits eine große Rolle (Verhulst, 2002, S. 59), was auch dadurch zum Ausdruck kam, dass Grundherrschaften darangingen, eine entsprechende Infrastruktur auszubauen. Vor allem Wassermühlen entwickelten sich allmählich zu einer Massenerscheinung, und auf den Gutshöfen wurden zahlreiche Handwerker konzentriert. Im gewerblichen Bereich hatte die Eisenverarbeitung offensichtlich wieder hohes Niveau erreicht. Solches lässt sich aus Exportverboten schließen, welche verhindern sollten, dass sich feindliche Völker mit hochwertigen Waffen versorgten. Neben der Keramikherstellung spielte nunmehr die Tuchproduktion eine erhebliche Rolle. Offensichtlich erreichten die Stoffe bereits bemerkenswerte Qualität. Einen Hinweis darauf gewinnt man aus dem Umstand, dass Karl der Große es für angezeigt hielt, solche Produkte dem Kalifen von Bagdad, Harun al-Raschid, als Geschenk zu übermitteln (Verhulst, 2002, S. 111). Neben der Textilproduktion erlangte die Ledererzeugung und -verarbeitung einiges Gewicht. Auch Glas wurde in dieser Epoche hergestellt. Weingärten und Brauereien kam eine zentrale Funktion zu. Das Schwergewicht des Handels lag naturgemäß im regionalen Bereich, doch entwickelten sich schon interregionale, ja internationale Handelsbeziehungen. Dem Warenaustausch dienten vor allem Märkte, aber auch schon internationale Messen. Die internationalen Handelsbeziehungen hielten sich vorerst in Grenzen, immerhin bestanden solche mit dem byzantinischen Reich, mit England und Skan-
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dinavien (Verhulst, 2002, S. 97). Auf dem von den Arabern gesperrten Tyrrhenischen Meer blieb der Warenaustausch schwer beeinträchtigt, doch entwickelte er sich nicht nur auf dem Festland, sondern durch Venedig auch auf dem Adriatischen Meer. Die günstige politische und ökonomische Entwicklung dokumentierte sich auch darin, dass die Desintegration der ehemals römischen Städte ein Ende fand. In manchen Fällen wurden die verfallenen Stadtmauern wieder aufgebaut. Darüber hinaus entstanden zahlreiche regionale und überregionale Märkte, und neue städtische Siedlungen begannen sich zu entwickeln (Verhulst, 2002, S. 21). All diese Prozesse mussten ihren Niederschlag auch im heutigen Bundesgebiet finden, weil dessen Regionen entweder dem karolingischen Reich angehörten oder jedenfalls unter dessen Einfluss standen. So profitierten die geistlichen Einrichtungen in hohem Maß durch Schenkungen von Königsgütern. Hier stand das Erzbistum Salzburg an der Spitze (Bruckmüller, 2001, S. 53). Dessen ökonomische Potenz lässt sich unter anderem daraus ableiten, dass für diese Region bereits 13 Wassermühlen nachgewiesen werden (Hammer, 2008, S. 323, Fußnote 18). Im 8. Jahrhundert hatten die Klostergründungen in größerem Umfang eingesetzt, die gleichfalls durch Landschenkungen alimentiert wurden. In manchen früheren römischen Siedlungen, wie Salzburg (Iuvavum) oder Wien (Vindobona), begann sich wieder städtisches Leben zu entfalten. Darüber hinaus kam es in verstärktem Maß zur Gründung von Handelsplätzen an befestigten Orten, welche als „Burgen“ bezeichnet wurden. Daraus resultierten Städtenamen wie Salzburg, Judenburg, Klosterneuburg und Korneuburg, aber auch andere wie Ybbs (ursprünglich Ybbsburg), Steyr (Stiraburg), Enns (Ennsburg) usw. (Bruckmüller, 2001, S. 75).
4. Die Epoche des Protokapitalismus – Mittelalter und frühe Neuzeit
4.1 Die Entstehung des Städtenetzes – das Hochmittelalter
Im Hochmittelalter begannen sich im heutigen Bundesgebiet allmählich jene herrschaftlichen Strukturen abzuzeichnen, welche für die folgende Entwicklung maßgeblich sein sollten. Die relevanten politischen Einheiten bestanden im Erzbistum Salzburg, im Herzogtum Kärnten, das zeitweise auch die Steiermark einschloss, sowie in der Grafschaft Tirol. Eine zentrale Position kam in jener Epoche dem Geschlecht der Babenberger zu, welche ab 976 als Markgrafen über Teile Niederösterreichs herrschten, jene, die von den Zeitgenossen als Österreich (Ostarrichi) bezeichnet wurden. Unter Heinrich Jasomirgott wurde Österreich, welches indessen ausgeweitet worden war, durch das „privilegium minus“ in den Rang eines Herzogtums erhoben. Die starke Stellung der Babenberger im Reich kam Wien als deren Residenzstadt auch ökonomisch zugute. Leopold V. geriet anlässlich eines Kreuzzugs in Konflikt mit Richard Löwenherz von England und nahm ihn auf der Durchreise in Österreich gefangen. Aus dem Lösegeld von 50.000 Silbermark errichtete er nicht nur Wiener Neustadt, sondern investierte namhafte Summen auch in die Wiener Infrastruktur. Letztlich gelang es ihm, sein Herrschaftsgebiet noch um die Steiermark zu erweitern. Die Linie der Babenberger starb mit dem Tod Friedrichs II. des Streitbaren 1246 aus. In den Auseinandersetzungen um dessen Erbe blieb schließlich Přemysl Ottokar von Böhmen erfolgreich und fügte die babenbergischen Besitzungen seinem Königreich hinzu. Während dieser Epoche kamen im heutigen Bundesgebiet all jene Ansätze zur Entfaltung, welche sich in der karolingischen Periode herausgebildet hatten. Natürlich behielt auch in jener Periode die Landwirtschaft das größte Gewicht, doch setzte sich im Hochmittelalter auch in diesem Sektor der technische Fortschritt relativ rasch durch. Zwar beschränkte sich die Produktion zumeist noch auf die aus der Antike übernommenen Getreide- und Obstsorten, also Dinkel, Emmer und Einkorn – Verwandte des Weizens –, Hafer und Roggen jedoch, die lange Zeit als Unkraut auf den Getreidefeldern zu finden gewesen waren, wurden nun systematisch angebaut, ebenso wie Hirse. Dazu kam Gemüse wie Erbsen, Bohnen, Kraut,
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Kohlrüben und Zwiebel sowie Obst, wie Äpfel, Birnen, Kirschen und Zwetschken sowie Weintrauben und Hopfen. Die Nutzpflanzen umfassten Flachs, Hanf und Waid. Zu den Haustieren zählten Schafe, Rinder, Ziegen, Schweine sowie Geflügel – mit Ausnahme der Truthühner (Sandgruber, 1995, S. 16). Schon zu Beginn dieser Periode setzte sich gegenüber der Zweifelderwirtschaft, also dem Wechsel von Getreideanbau und Brache, die Dreifelderwirtschaft durch, welche durch den Anbau von Winter- und Sommergetreide sowie Brache gekennzeichnet war. Natürlich geschah dies nur in Regionen, welche sich für den Getreideanbau eigneten. Die westösterreichischen Täler wurden ihres sumpfigen Charakters wegen gemieden. Die Düngung des Bodens intensivierte sich mit wachsender Viehwirtschaft. Die Tiere wurden im Sommer auf der Weide versorgt, nur im Winter gab es mehr oder minder kontinuierliche Stallfütterung. In höheren Lagen existierten Betriebe, die auf die Viehwirtschaft spezialisiert waren, zunächst vor allem auf Schafe, wodurch Wolle und Käse gewonnen wurden. Erst im Spätmittelalter bewirkte die steigende Nachfrage nach Butter und Butterschmalz eine Verlagerung der Zucht zur Rinderhaltung. Von einer Bewirtschaftung des Waldes kann in dieser Zeit kaum gesprochen werden. Dieser repräsentierte eine natürliche Gegebenheit, welche sich die Bevölkerung zunutze machte : durch Sammeln von Wurzeln, Kräutern, Pilzen, Früchten und Holz, als Viehweide und Quelle von Baumaterial. Zur Jahrtausendwende stand die Jagd noch der gesamten Bevölkerung offen. Nur langsam wurde der Baumbestand durch Rodungen verringert. Große Bedeutung kam in der mittelalterlichen Landwirtschaft dem Anbau des Weines zu. Dieser repräsentierte das Getränk der Oberschichten und wurde daher zunächst von Klöstern und auf Dominikalland betrieben. Der Anbau dehnte sich aber im Lauf der Zeit immer mehr aus, weil damit relativ hohe Erträge zu erzielen waren. Die inländische Produktion wurde schon im Hochmittelalter gegen die ausländische Konkurrenz in der Weise geschützt, dass die Ein- und Durchfuhr ungarischen und mährischen Weines nach und durch Österreich zu Wasser und zu Land verboten war (Sandgruber, 1995, S. 21). Der technische Fortschritt im engeren Sinn manifestierte sich in der Verwendung zunächst eisenbeschlagener, allmählich ganzmetallischer Arbeitsgeräte sowie des Radpflugs und der Egge. Die Sichel wurde für die Heumahd von der Sense abgelöst, blieb aber für die Ernte des wertvollen Getreides – um möglichst wenige Körner zu verlieren – in Gebrauch. Die Zugdienste in der Landwirtschaft versahen vor allem die Rinder. Diese bewegten sich zwar sehr langsam, kamen jedoch erheblich billiger als Pferde, die mit
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Getreide gefüttert werden mussten und damit in Konkurrenz zur menschlichen Ernährung standen. Überdies ließ sich das Fleisch der Rinder verwerten – ebenso die Haut –, was bei Pferden wegen des herrschenden Tabus nicht möglich erschien. Letztere fanden daher zunächst nur in den Oberschichten für die Jagd und den Krieg Verwendung, dann aber auch im Fernhandel. In diesem Zusammenhang wäre aber auf einen entscheidenden technischen Fortschritt gegenüber der Antike hinzuweisen. Schon in der karolingischen Periode ging man vom ineffizienten antiken Pferdegeschirr ab und zum Kummet über, welches die Zugleistungen der Tiere enorm steigerte. Aber auch die Anspannung des Pferdes wurde erheblich verbessert, sein Hufbeschlag und die Eisenbereifung der Wagenräder steigerten gleichfalls die Transportleistung. Insgesamt dürfte sich die Zugleistung um das Vier- bis Fünffache gegenüber der Antike erhöht haben (Sandgruber, 1995, S. 21). Offensichtlich spielten die Klöster für die Entwicklung des technischen Fortschritts in der Landwirtschaft eine wesentliche Rolle. Das gilt insbesondere für den Zisterzienserorden. Dieser spaltete sich von den Benediktinern ab, um deren Grundsatz „Bete und arbeite !“ mit größerer Rigorosität zu verwirklichen. Konsequenterweise lehnten diese Mönche sowohl den Zehent als auch sämtliche grundherrschaftliche Erträge ab ; sie gingen daran, alles Lebensnotwendige mit eigener Hände Arbeit herzustellen. Die asketische Lebensweise dokumentierte sich nicht nur in der eigenen Arbeit, sondern auch im Gebet und in äußerst kärglicher Ernährung, was dazu führte, dass die durchschnittliche Lebenserwartung – der schon Erwachsenen – kaum über 30 Jahre hinausging. Trotz dieser hohen Anforderungen verbreitete sich der um 1100 in Frankreich entstandene Orden in kurzer Zeit über ganz Europa. In Österreich zählten die Klöster Stams, Heiligenkreuz, Lilienfeld, Neuberg an der Mürz, Rein, Schlierbach, Engelszell, Marienkron bei Mönchhof, Viktring, Wilhering und Zwettl sowie Stift Neukloster bei Wiener Neustadt dazu. Die Ordensregeln legten fest, dass die erzielten Überschüsse, um die Askese nicht zu gefährden, nicht auf regionalen Märkten verwertet werden dürften. Die Mönche sollten keine kommerziellen „Vaganten“ werden. Sie waren daher gezwungen, einen anderen Weg zu beschreiten, der dazu führte, in den Städten eigene Verkaufshöfe zu gründen (Heiligenkreuzerhof in Wien). Diese Vorschriften prägten die Verhaltensweisen der Ordensmitglieder. So wurde die Arbeit nicht nur pflichtgemäß verrichtet, sondern rational organisiert. Das galt für die präzise Zeiteinteilung, für eine Kosten- und Ertragsrechnung, aber auch für den Einsatz des technischen Fortschritts. Insbesondere die Nutzung der Wasserkraft lässt sich noch heute in ihren Klöstern erkennen. Die Zisterzienser
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zählten zu den Pionieren des Bergbaus. Sie errichteten Glashütten und waren in der Salzgewinnung führend tätig. Die Saline Hallein geht auf ihre Initiative zurück. Es liegt nahe, dass von diesen sehr effizienten Klöstern ein technischer „overspill“ auf die gesamte Landwirtschaft in Gang kam (Nagel, 2006). Die agrarische Produktion vollzog sich rechtlich auf Basis der Grundherrschaft, welche prinzipiell ein System gegenseitiger Verpflichtung darstellte. Wie schon zur karolingischen Zeit hatte der Grundherr für die Sicherheit seiner Untertanen ebenso zu sorgen wie für die niedere Gerichtsbarkeit und Verwaltung. Jene waren verpflichtet, dafür Leistungen an die Grundherren zu erbringen. Das herrschaftliche Land wurde zum Teil von Letzteren als Fronhof oder Salland selbst bewirtschaftet, das Bauernland auf „Huben“ aufgeteilt und den Hörigen zur Bearbeitung übertragen. Deren eingeschränkte Rechtsfähigkeit wurde noch durch den „Freistift“ verschärft, welcher es dem Grundherrn erlaubte, den Hörigen mit einer Hube zu betrauen, aber auch jederzeit zu entfernen. Diese Rechtsfigur kam im Zeitablauf immer mehr außer Gebrauch, zunächst, weil tüchtige Arbeitskräfte knapp waren, aber auch, weil auf diese Weise die Arbeitsmotivation sowie auch die Investitionsneigung eingeschränkt wurden. Daher entwickelte sich allmählich nicht nur eine Betrauung auf Lebenszeit, sondern auch ein Erbrecht. Wollte der Grundherr neues Ackerland roden lassen, musste er noch günstigere Bedingungen an nunmehr weitgehend freie Bauern anbieten. Eine Hube umfasste etwa 10 bis 15 Hektar. An Abgaben war ein Drittel des Ernteertrags ursprünglich als Naturalleistung an den Grundherrn zu leisten. Ein weiteres Drittel fand als Saatgut Verwendung. Dazu kamen der Zehent an die Kirche sowie Kleinabgaben aus der Viehzucht und dem Gemüsegarten. Auch der Territorialherr begann in steigendem Maß, Abgaben einzuheben. Zu diesen Leistungen gesellte sich die Robot als die Arbeitsverpflichtung der Untertanen. Handelte sie sich um eine „gemessene“, dann hielt sie sich in engen Grenzen, die „ungemessene“ konnte jedoch eine schwere Belastung darstellen. Mit der Ausbildung von Marktbeziehungen wurden die Abgaben nicht mehr als Natural-, sondern als Geldleistungen erbracht (Tremel, 1969, S. 58). Der Umstand, dass insbesondere der Ernteanteil als fixe Größe festgelegt war, bedeutete einen Anreiz für den Bauern, die Produktivität zu steigern. Dieser Prozess wurde sogar teilweise vom Grundherrn dadurch begünstigt, dass er den Bauern das teure eiserne Ackergerät zur Verfügung stellte. Die Quellen scheinen darauf hinzuweisen, dass damals die agrarische Produktion des heutigen Bundesgebiets in ihrem technischen Standard dem westeuropäischen Niveau entsprach. Ein ökonomischer Schwerpunkt der Region lag schon in dieser frühen Phase aber zweifellos im Bergbau, dessen Tradition ja bis in die vorrömische Zeit zu-
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rückreichte. Das gilt vor allem für Eisen, das als „norisches“ bereits zu dieser Zeit Berühmtheit erlangt hatte. Zwar existieren keine präzisen Informationen über eine allfällige Kontinuität der Eisengewinnung gegenüber der Antike, jedenfalls weisen die schriftlichen Quellen auf Förderung ab dem 12. Jahrhundert auf dem steirischen Erzberg hin sowie etwas später in Hüttenberg in Kärnten. Der Abbau am Erzberg erfolgte seit je von zwei Seiten : vom Süden in Vordernberg und vom Norden in Innerberg. Diese geografischen Gegebenheiten bestimmten auch die Absatzgebiete. Innerberg lieferte sein Eisen nach Norden, wo sich allmählich Steyr zum zentralen Verlagsort entwickelte. Im Süden übernahm anfangs Judenburg diese Funktion, verlor jedoch seine Bedeutung im Zeitablauf an Leoben (Pickl, 1992, S. 173). Man muss sich in diesem Zusammenhang stets vor Augen halten, dass die Handelsbeziehungen im Mittelalter durch herrschaftliche Privilegien und Ordnungen weitestgehend reglementiert waren. Gewiss spielte auch die geografische Lage eine Rolle, aber innerhalb dieses Rahmens entschieden behördliche Eingriffe über die Richtung des Warenstroms. So erklärt sich der Aufstieg Steyrs durch die Verleihung des Stapelrechts für Eisen und Holz. Produktion und Handel blieben strikt getrennt. Die Förderung des Erzes und die Herstellung von Roheisen oblagen den Radmeistern. Den Transport zu den Hauptstapelplätzen übernahmen die Verleger, welche auch die Produktion finanzierten. Von den Verlagsorten ergingen die Lieferungen an die Stapelplätze zweiter Ordnung, den Legstätten. Das waren in Niederösterreich etwa Melk, Krems-Stein und Wien, in Oberösterreich Enns, Wels, Linz und Freistadt. Alle anderen Orte blieben vom Eisenhandel ausgeschlossen. Die Verarbeitung des Eisens besorgten an verschiedenen Plätzen die Hammerherren. Der Export erlangte auch im Mittelalter einiges an Gewicht. Das Hüttenberger Eisen aus Kärnten wurde nach Italien verfrachtet, das Vordernberger nach Südtirol und die Innerberger Produktion ging nach Süddeutschland sowie Böhmen, Mähren und Schlesien. Darüber hinaus wurden im heutigen Bundesgebiet Edelmetalle gefördert. Silber baute man in Friesach sowie in der Steiermark, in Oberzeiring und Schladming, ab. Eine zentrale Rolle kam im Mittelalter der Salzgewinnung zu. In der Antike vermochte sich der Abbau von Steinsalz im Bundesgebiet nicht nachhaltig durchzusetzen, weil sich das Meersalz als viel billiger erwies. Es waren weniger die Turbulenzen der Völkerwanderung und der Zusammenbruch des Römischen Reiches, sondern vielmehr der technische Fortschritt des Mittelalters, der hier einen Umschwung herbeiführte. Anstelle des Trockenabbaus trat die Gewinnung der Sole im Berg, welche mittels Rohrleitungen zu Sudhäusern an geeigneten Standorten
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zur Weiterverarbeitung geleitet wurde. In der Folge entwickelte sich der Salzbergbau zu einem der ertragreichsten Wirtschaftszweige, welcher als Regal vor allem den Territorialfürsten außerordentliche Gewinne abwarf. Das führte zu zahlreichen politischen Verwicklungen, da die Ersteren versuchten, durch Monopole den Salzabsatz sicherzustellen. Manche dieser Bergbaue haben bis in die Gegenwart ihre Bedeutung bewahrt. Von fundamentaler Bedeutung für die mittelalterliche Produktion erwies sich auch im heutigen Bundesgebiet die Mühle als Antriebsaggregat. Wohl existierte sie bereits in der Antike, stand jedoch nur sporadisch in Gebrauch. Im Mittelalter erlebte ihre Verwendung und technische Weiterentwicklung eine dramatische Expansion. Ihren frühen Einsatz belegen Salzburger Urkunden aus dem 8. Jahrhundert und solche aus Kärnten des 9. Jahrhunderts. Im Alpenraum fanden häufig horizontale Wassermühlen Verwendung. Sie erwiesen sich insofern als vorteilhaft, als hier die Wasserkraft direkt auf den waagrecht laufenden Mühlstein übertragen wurde. Sie waren daher einfach zu bauen und weniger störungsanfällig (Sandgruber, 1995, S. 23). Allerdings eigneten sie sich nur zum Antrieb von Mühlsteinen, wogegen vertikale Wasserräder, besonders nach Erfindung der Nockenwelle und später der Pleuelstange, sehr vielseitig zu verwenden waren, vor allem für Sägen, zum Lodenwalken, für Gebläse, Hämmer, zum Stampfen und Schleifen. All diese Arbeitsgänge spielten für die Produktion im alpenländischen Bereich eine große Rolle. Natürlich waren sie an entsprechende Wasserläufe und damit eher an ländliche Räume gebunden. Da jedoch die Städte zumeist auch an Flüssen lagen, standen sie auch dort häufig in Gebrauch. Zuweilen wurden, wie etwa sehr früh in Salzburg, künstliche Wasserläufe angelegt – Mühlgänge –, welche den Betrieb dieser Antriebselemente ermöglichten. Lässt sich vom Bergbau sagen, dass dieser im heutigen Bundesgebiet zur Zeit des Mittelalters einen hohen technischen Entwicklungsstand erreicht hatte und damit den Trägern des technischen Fortschritts zugerechnet werden muss, so gilt das weniger für den Handel sowie das Geldwesen. Natürlich existierte Ersterer im regionalen Bereich, blieb aber für die protokapitalistische Entwicklung von geringer Bedeutung. Im internationalen Handel kam Österreich im europäischen Kontext lediglich eine untergeordnete Rolle zu. Das lag zum einen sicherlich am Fehlen von Seehäfen. Die Alpenländer konnten nie die Vorteile der italienischen und niederländischen Häfen lukrieren. Die Donau ließ sich gewiss als Verkehrsweg nutzen, hielt aber keinen Vergleich mit den Möglichkeiten des Seetransports aus. Nicht nur behinderten Engstellen und gefährliche Bodenformationen den Verkehr stromabwärts, in die Gegenrichtung
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mussten die Schiffe anfänglich händisch, später mit Pferden gezogen werden. Damit konnte schon technisch nicht jenes Handelsvolumen bewältigt werden, das durch die „kommerziellen Pforten“ erreichbar war. Doch gingen die Folgen dieser geografischen Gegebenheiten noch viel weiter. Die österreichischen Städte hatten dadurch nicht unmittelbar an jenem technischen Fortschritt teil, der schon sehr früh im Schiffsbau und im Rahmen der Navigation auftrat. Auch setzten sich die rechtlichen und kaufmännischen Entwicklungen, welche vom Überseehandel ausgingen, erst allmählich durch. Der internationale Seehandel ließ sich nicht in dem Maß reglementieren wie die ökonomischen Aktivitäten zu Land. Hier setzte sich die Marktkoordination durch. Somit waren es vor allem die Seehäfen, in welchen ein besonders starkes, autonomes Bürgertum entstand. Dazu kam, dass sich in den österreichischen Städten wenig spezifische Produktionen entwickelten, welche eine internationale Nachfrage befriedigen konnten, wie etwa die Tuchproduktion in Flandern oder die Veredelung in Oberitalien. Eine solche Position erlangte man allerdings in der Eisenverarbeitung. Auch der Wein gewann beträchtliche Bedeutung für den internationalen Handel, der in Österreich in großen Mengen angebaut und auch über größere Distanzen geliefert wurde. Als Standort erwies sich das Bundesgebiet ambivalent. Im europäischen Kontext lag es eher am Rand der west- und zentraleuropäischen Zentren. Osteuropa – mit Ausnahme Böhmens und Mährens – hatte einen vergleichsweise niedrigen ökonomischen Entwicklungsstand erreicht. Andererseits kreuzten sich in Österreich wichtige Verkehrsachsen. Trotz aller Nachteile gegenüber der Seeschifffahrt und der schwächeren Wirtschaftsentwicklung Osteuropas blieb die Donau ein zentraler Handelsweg für den West-Ost-Handel. Dieser erbrachte für das Bundesgebiet einige Erträge aus Transportleistungen, wirkte sich jedoch entscheidend für die Entwicklung Wiens aus. Dessen jeweilige Territorialherren statteten die Stadt mit dem Privileg des Stapelrechts aus. Das bedeutete für die durchreisenden Kaufleute die Verpflichtung, ihre Waren zunächst auf dem Wiener Platz anzubieten. Nicht zuletzt darauf ist das Aufblühen Wiens als Wirtschaftsstandort im 12. Jahrhundert zurückzuführen. Auch mit den verbesserten Transportmöglichkeiten zu Land blieb es wegen der größeren Distanz für die Kaufleute schwierig, Wien großräumig zu umgehen. Ebenso bedeutsam erwies sich der Umstand, dass viele Nord-Süd-Verbindungen nach Italien über das Bundesgebiet verliefen. Da waren die beiden Tiroler Verbindungen : der „obere Weg“ von Augsburg über den Fernpass und den Reschen nach Bozen und der – weitaus bedeutendere – „untere Weg“ von Augsburg über Innsbruck und den Brenner nach Venedig. Einen entscheidenden Impuls erhielt
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diese Verbindung durch den Bau einer Straße durch die Eisackschlucht 1314 (Sandgruber, 1995, S. 36). Daneben existierten noch Übergänge in Salzburg und Kärnten sowie die alte Bernsteinstraße am Rand der Alpen. Anfang des 13. Jahrhunderts gewann die Verbindung über den Semmering zwischen den immer stärker in den Vordergrund tretenden Zentren Venedig und Wien an Bedeutung. Die Einwohner dieser Regionen vermochten aus solchen Gegebenheiten durch die Erbringung von Transportdienstleistungen Nutzen zu ziehen – im frühen Mittelalter mangels Straßen durch Träger oder Tiere auf Saumpfaden, später durch Fuhrwerke. Auch hier ergaben sich Sekundäreffekte, als besonders in Nord- und Südtirol die Städte entlang der Verbindungsstraßen aufblühten, wie etwa Innsbruck, Brixen und Bozen, aber auch Kufstein. Im 10. und 11. Jahrhundert kam es im heutigen Bundesgebiet erstmals zur Prägung von Münzen. Diese wurden zunächst vorwiegend für den Fernhandel genutzt, was sich durch die entsprechenden Fundstellen dokumentieren lässt. Erst im zweiten Drittel des 12. Jahrhunderts verwendete man sie auch für die regionalen Wirtschaftsbeziehungen in immer stärkerem Ausmaß. Besondere Bedeutung erlangte zunächst der Friesacher Pfennig, den die Salzburger Erzbischöfe in dieser Stadt nach Kölner Münzfuß prägen ließen. Diese Münze erreichte weite Verbreitung, welche sich von Ostösterreich bis nach Ungarn und die Walachei erstreckte und auch für die kleineren regionalen Münzprägungen Vorbildcharakter gewann. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erlangte der von den Babenbergern in Krems geprägte Pfennig größere Bedeutung für den Donauraum. Erst um 1200 konzentrierten sich die Herzöge auf Wien als Münzstätte, freilich mit nachhaltigem Erfolg, weil sich der Wiener Pfennig alsbald zur führenden Währung entwickelte. Die steigende Nachfrage nach größeren Münzeinheiten befriedigten vorerst ausländische Währungen. Die Prägung eines österreichischen Guldens wurde erst um 1350 durch Herzog Albrecht II. in Judenburg nach Florentiner Vorbild aufgenommen. Diese ging freilich schon unter seinem Nachfolger infolge der geringen Ausbeute des Tauerngolds zu Ende. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts entwickelten sich schon Elemente des bargeldlosen Zahlungsverkehrs in Form von Schuldbriefen als Instrument der Kreditgewährung. Die Funktion als Kreditgeber übernahmen in dieser Periode sehr häufig jüdische Einwohner, welche Anfang des 14. Jahrhunderts einen Höhepunkt ihrer geschäftlichen Aktivität erreichten. Freilich sollte hier nicht der Eindruck eines problemlosen Ablaufs der wirtschaftlichen Tätigkeit erweckt werden, immer wieder traten Friktionen auf. Das
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begann mit der Sicherheit auf den Straßen, der Willkür mancher Grundherren, Pogromen und schließlich den periodischen „Münzverrufen“. Dennoch scheint die wirtschaftliche Aktivität in Ostösterreich schon beträchtliches Niveau erreicht zu haben. Nach der Colmarer Chronik wurden die Einkünfte des Reichslehens Österreich und der Steiermark Mitte des 13. Jahrhunderts auf 60.000 Mark Silber jährlich geschätzt. Das entsprach dem zweiten Platz nach dem König von Böhmen, vor dem Markgrafen von Brandenburg und dem Erzbischof von Köln (Sandgruber, 1995, S. 46). Rechnete man noch die Produktion Westösterreichs dazu, dann scheint die wirtschaftliche Lage recht eindrucksvoll gewesen zu sein. Städte, die Zentren der protokapitalistischen Entwicklung in Europa, entstanden im frühen Mittelalter grundsätzlich, sofern sie nicht auf Resten der römischen Besiedlung aufbauten, aus Märkten oder Marktbezirken. Das herrschaftliche Marktprivileg sicherte ihnen Immunität gegenüber der ländlichen Umgebung. Wie schon in Kapitel 2.2 dargelegt, begünstigten die Territorial- und Grundherren Stadtgründungen aus ökonomischen Überlegungen, da sie auf diese Weise durch städtische Abgaben, Zölle und Weggebühren beträchtliche Einnahmen erwarten konnten. Wo es die geografischen Verhältnisse erlaubten, entstand ein dichtes, verhältnismäßig regelmäßiges Netz kleiner Städte, welche Versorgungsfunktionen für das agrarische Umland übernahmen und daher in Tagesmarschentfernung erreichbar sein sollten. In solchen Regionen lässt sich das System daher recht gut nach den theoretischen Überlegungen von Christaller (1933) und Lösch (1940) erklären. Die geografischen Gegebenheiten des heutigen Bundesgebiets ließen eine solche Verteilung nur beschränkt zu. Einige Städte entstanden aus den römischen Ansiedlungen, wie etwa Wien, Salzburg oder Bregenz, ansonsten folgten die neuen urbanen Zentren im Wesentlichen den Flüssen und Verkehrsachsen sowie dem Bergbau. Zu den ökonomischen Determinanten der Bedeutung einer Stadt gesellten sich politische. Es entstanden zahlreiche befestigte Grenzposten, und relativ früh gewannen die Residenzstädte an Bedeutung (Tremel, 1969, S. 97). Auch die österreichischen Städte erfreuten sich gegenüber dem, der Grundherrschaft unterworfenen, flachen Land umfangreicher Privilegien. Es wurden ihnen Stadtrechte verliehen, welche Stadtrichter exekutierten. Die Stadtregierung oblag einem Stadtrat. Das Stapelrecht, also die Verpflichtung für durchreisende Kaufleute, an dem betroffenen Ort ihre Waren anzubieten, erlangte zentrale Bedeutung. Darüber hinaus jedoch war es vielfach nur Bürgern erlaubt, Handel zu treiben. Außerhalb der Städte blieb der Handel auf Jahrmärkte und Kirchtage beschränkt. Freilich konnten solche Vorrechte nur mehr oder minder gut durchgesetzt werden. Basis der neuen – bürgerlichen – Institutionenstruktur bildete die ökonomische Aktivität der Einwohner. Die Städte fanden ihre primäre Aufgabe im – zunächst
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Die Epoche des Protokapitalismus – Mittelalter und frühe Neuzeit
noch regionalen – Handel ; sie versorgten also die nähere Umgebung mit Waren. Diese wurden in stets größerem Umfang selbst produziert. Das Handwerk, das in der karolingischen Epoche noch vorwiegend auf grundherrschaftlichen Eigenwirtschaften ausgeübt worden war, verlagerte sich mehr und mehr in die Städte und übernahm auf diese Weise dort allmählich die ökonomische Hauptfunktion. Nicht zu übersehen ist allerdings, dass im Hochmittelalter die Bindung der Bürger an die ländliche Umgebung noch relativ eng blieb. Der landwirtschaftliche Nebenerwerb spielte eine beträchtliche Rolle. Das städtische Handwerk produzierte für einen von der Zunftordnung bestimmten Kreis von – bekannten – Konsumenten. Sein unternehmerisches Ziel an der „ordentlichen Nahrung“ trug also prinzipiell statischen Charakter. Doch entstanden auch Orte mit charakteristischer Exportproduktion, also solcher, welche weit über die Versorgung des Umlands hinausging. Das galt vor allem für Städte, die Eisen handelten und verarbeiteten, wie Steyr oder Leoben. Eingeschränkt, weil ohne Verarbeitung, lässt sich das auch von Orten der Salzgewinnung, wie Hall in Tirol, sagen. Zwar blieb auch der Handel durch Privilegien und sonstige Vorschriften stark reglementiert, viel weniger jedoch der internationale Warenaustausch, welcher in weitaus stärkerem Maß den Marktgesetzen unterworfen war. Damit entstanden auch in Österreich große Handelshäuser, die sich alsbald über den Warenhandel hinaus mit Geldgeschäften befassten – ohne freilich das Niveau der italienischen und oberdeutschen Geschäftsleute zu erreichen. Dennoch setzte sich auch hier ein Unternehmertyp durch, der nicht nur den anonymen Markt belieferte, sondern auch Einkommensmaximierung anstrebte (Pickl, 1967, S. 30). Somit entwickelte sich in den österreichischen Städten gleichfalls während des Hochmittelalters das protokapitalistische System mit rechtsstaatlichen und autonomen Zügen, das wohldefinierte Eigentumsrechte hervorbrachte und die Transaktionskosten senkte, darüber hinaus aber bereits einen neuen dynamischen Unternehmertyp schuf – nicht zuletzt durch den Vorbildcharakter der zugewanderten süddeutschen Kaufleute. Andererseits scheint es, dass in Österreich die Städte nicht jenes Maß an Unabhängigkeit erlangten wie in anderen europäischen Regionen. Der Einfluss von Grund- oder Territorialherren blieb hier relativ stark. Noch Ende des 14. Jahrhunderts beschwerte sich die Bürgerschaft Salzburgs über Heiratsbeschränkungen und limitierte Freizügigkeit (Bruckmüller, 2001, S. 78). Orte, wie die oberdeutschen Reichsstädte oder die oberitalienischen Stadtrepubliken, die Städte der Niederlande, der Schweiz oder der Hanse, entstanden im heutigen Bundesgebiet nicht.
Die Entstehung des Städtenetzes – das Hochmittelalter
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Wien, die bedeutendste Stadt dieser Region, profitierte allerdings schon sehr früh von seiner Residenzfunktion. Im 12. Jahrhundert gewann die ursprüngliche Siedlung an Bedeutung, weil der Babenberger-Herzog Heinrich II. Jasomirgott seinen Herrschaftssitz dorthin verlegt hatte. Und im 13. Jahrhundert war die handelspolitische Position Wiens mithilfe des Landesherrn ausgebaut worden, sowohl im Handel mit Westeuropa als auch mit Venedig. 1221 verlieh Leopold VI. Wien das Stadtrechtsprivileg, welches ein umfangreiches Stapelrecht enthielt und damit seine wirtschaftliche Position, insbesondere gegenüber Regensburg, stärkte. Der Landesfürst blieb zwar Stadtherr, doch weitete sich die städtische Autonomie stetig aus. Sowohl die Verwaltung sowie auch die Rechtsprechung fielen in stets höherem Maß in die Kompetenz der Bürger. Auch in Wien bestimmten die behördlichen Eingriffe in hohem Maß die kommerziellen Möglichkeiten. Diese resultierten nicht nur aus dem Stapelrecht, sondern sogar dadurch, dass bestimmte Straßenverbindungen, wie beispielsweise jene in den Süden, den Wiener Kaufleuten vorbehalten blieben. Die Einhaltung dieser Vorschrift kontrollierte der „Hansgraf “, ein landesfürstlicher Beamter, mit seinen Knechten. Dieser Posten wurde stets mit einem Wiener Bürger besetzt (Perger, 2001, S. 222). Aber trotz dieser Schwierigkeiten scheint das Interesse der oberdeutschen Kaufleute auf dem Wiener Markt außerordentlich groß gewesen zu sein, wie sich an den zahlreichen Niederlassungen ablesen lässt. Noch heute erinnert die Köllnerhofgasse an eine solche. Allgemein ist anzunehmen, dass die handwerkliche Produktion im weitesten Sinn, also einschließlich der Dienstleistungen, der Versorgung von Stadt und Umland gedient habe. Als einziges Exportprodukt wird der Wein betrachtet, dessen Anbau in und um Wien weit über die heutigen Weingärten hinausging. Die Konkurrenz wurde dadurch zurückgedrängt, dass der Import von „Ungarwein“ überhaupt verboten und von „Welschwein“ nur beschränkt zugelassen wurde (Perger, 2001, S. 223). Ausbildung erfolgte im frühen Mittelalter, außer durch Privatlehrer, nahezu ausschließlich in Klosterschulen für angehende Mönche. Erst allmählich wurden auch Laien in solchen Instituten aufgenommen. Mit dem Ausbau des Netzes der Pfarren traten Pfarrschulen an ihre Seite. Erst im 13. Jahrhundert kam es zur Gründung einer städtischen Lateinschule, der „Bürgerschule zu St. Stephan“ (Mühlberger, 2001, S. 296). Aufgabe dieser Lehranstalten war es im Wesentlichen, den Schülern Lesen und Schreiben in der lateinischen Sprache beizubringen. An der später gegründeten Universität wurden Theologie, Jurisprudenz, Medizin sowie Artes gelehrt. Letztere umfassten Grammatik, Rhetorik, Logik, Astronomie, Mathematik, Physik und Musik (Mühlberger, 2001, S. 342).
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Die Epoche des Protokapitalismus – Mittelalter und frühe Neuzeit
4.2 Ein Zentrum des Bergbaus – das späte Mittelalter
Im späten Mittelalter übernahm in Österreich jenes Geschlecht die Herrschaft, welches die Politik dieser Region für die nächsten 700 Jahre bestimmen sollte : die Habsburger. Durch die Wahl des Grafen Rudolf von Habsburg zum deutschen König 1272 wurde das Interregnum im Reich beendet. Die machtpolitische Auseinandersetzung mit Přemysl Ottokar konnte Rudolf 1278 in der Schlacht bei Dürnkrut für sich entscheiden. Vier Jahre später belehnte er unter Zustimmung der Reichsfürsten seine beiden Söhne Albrecht und Rudolf mit den Ländern Österreich, Steiermark und der Windischen Mark, wobei aber Albrecht allein die Herrschaft ausübte. Kärnten fiel an den verbündeten Herzog Meinhard II. von Tirol. Der Beginn dieser Herrschaft stand unter einem Unstern. Sie wurde als landfremd empfunden, und der Adel wehrte sich gegen den drohenden Verlust von Privilegien. Daraus resultierten häufige Aufstände, in deren Verlauf das Land verheert wurde. Die Ambitionen Albrechts auf den deutschen Königsthron verschärften noch die Situation. Die Lage stabilisierte sich eigentlich erst mit der nur siebenjährigen Regierungszeit Rudolfs IV. (1339–1365). Dieser bemerkenswerte Fürst stützte sich in hohem Maß auf die Städte. Er beseitigte die Steuerfreiheit des Klerus und den Zunftzwang – Letzteres überdauerte freilich seine Regierungszeit nicht. Er erwarb Tirol für sein Haus und war bestrebt, seine Position im Reich zu verbessern. Da ihm durch die „Goldene Bulle“ nicht die Position eines Kurfürsten zuerkannt wurde, versuchte er, durch das in seiner Kanzlei verfasste „privilegium maius“ einen ähnlichen Status zu erlangen. Der darin inaugurierte Titel eines „Erzherzogs“ wurde später unter Kaiser Friedrich III. reichsrechtlich anerkannt. Seine Ambitionen fanden ihren Niederschlag auch im Ausbau der Kirche von St. Stephan sowie durch die Gründung der Wiener Universität 1365. Die Stadtverwaltung erhielt neue Kompetenzen, wie ein Grundbuch anzulegen oder das Gewerbe zu regeln (Csendes – Opll, 2001, S. 95). Da sich seine Brüder auf ein gemeinsames Regiment nicht einigen konnten, wurden die Länder geteilt. Dieses erlangte insofern ökonomische Bedeutung, als dadurch auch anderen österreichischen Städten Impulse aus ihrer Funktion als Residenzen zugute kamen. Die folgenden Jahrzehnte blieben durch ständige dynastische Auseinandersetzungen gekennzeichnet, welche teilweise zu Ausweitungen des habsburgischen Besitzstands führten, wie etwa durch Triest oder Vorarlberg, teilweise zu Verlusten, wie in der Schweiz. Festzuhalten ist, dass Herzog Albrecht V. als Albrecht II. zum römischen König gewählt wurde und von da an, mit einer einzigen Ausnahme, diese Funktion immer den Habsburgern zufiel.
Ein Zentrum des Bergbaus – das späte Mittelalter
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Die ansonsten unspektakuläre Regierungszeit Kaiser Friedrichs III. (1440–1493) bescherte Wien und Wiener Neustadt die Erhebung zu Bischofssitzen, leitete aber vor allem eine Entwicklung ein, die Habsburg den Status einer Weltmacht vermittelte. Die Verheiratung seines Sohnes Maximilian mit Maria von Burgund bewirkte, dass die Freigrafschaft Burgund sowie die Niederlande an Habsburg fielen. Maximilian I. (1459–1519) setzte diese Politik durch die Verheiratung seiner Kinder mit jenen der spanischen Könige fort, wodurch schließlich das Haus Habsburg auch über spanische Länder verfügte. 1490 ging auch die Teilung der österreichischen Besitzungen zu Ende. Und letztlich verheiratete Maximilian seine Enkelin an den Kronprinzen von Böhmen und Ungarn, sodass nach dessen Tod auch diese Gebiete endgültig an die Habsburger fielen. Die sogenannte „Krise des Mittelalters“ traf auch das heutige Bundesgebiet. Einfälle der Hussiten und Türken und dynastische Streitigkeiten führten zu permanenten militärischen Auseinandersetzungen mit entsprechenden Plünderungen im Umland Wiens. Wetterkatastrophen und Heuschreckenplagen bildeten das Vorspiel zum Einbruch der Pest 1347 und zum Beginn der „kleinen Eiszeit“. All diese Ereignisse reduzierten die Einwohnerzahl des Landes dramatisch. Dadurch ergaben sich zunächst Konsequenzen für die Siedlungsstruktur. Im Zuge der „Wüstungen“ wurden vor allem die relativ schlechten Böden aufgegeben ; die Siedlungsgrenze im Gebirge sank. Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurden die Folgen des Bevölkerungsrückgangs überwunden. Freilich zeitigte die „Agrarkrise“ recht unterschiedliche Konsequenzen. Zwar sank gewiss das Produktionsvolumen, und die Preise vieler Lebensmittel verfielen. Diese Phasen waren gewiss durch menschliches Leid gekennzeichnet, aber für bestimmte Bevölkerungsgruppen resultierten daraus durchaus positive Folgen. Die Arbeitskräfteknappheit stärkte die Position der Landbevölkerung. Sie erzwang finanzielle und rechtliche Zugeständnisse der Grundherren an die Hörigen, aber auch die Einkommen der Taglöhner zeigten eine Aufwärtstendenz. Diese erwies sich als derartig stark, dass die Oberschichten trachteten, sie zu begrenzen. Solches versuchte Herzog Albrecht II. 1352 für die Weingartenarbeiter der Stadt Wien, aber auch der Rat dieser Stadt fasste Beschlüsse, die eine Abwerbung von Dienstpersonal verhindern sollten (Sandgruber, 1995, S. 51). Die Struktur der landwirtschaftlichen Erzeugung veränderte sich in vorteilhafter Weise. Der Getreideanbau wurde durch Buchweizen erweitert. Spezialkulturen traten immer stärker in den Vordergrund, wie der Anbau von Flachs, Hopfen, Safran, Mohn, Senf, Raps, Waid und Krapp. Der Weinbau erlangte stets größere Bedeutung. Als neuer landwirtschaftlicher Erwerbszweig entstand die Fischzucht. Stark nachgefragt wurde Butterschmalz (Sandgruber, 1995, S. 54). Alles in allem
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Die Epoche des Protokapitalismus – Mittelalter und frühe Neuzeit
lässt sich aus dieser Entwicklung erkennen, dass sich die Nachfrage nach agrarischen Gütern stark differenzierte und damit die Einkommen der in der Landwirtschaft Tätigen gestiegen sein müssen. Als Hinweis darauf kann auch der Umstand gelten, dass die teureren Pferde immer häufiger in der Produktion eingesetzt wurden (Cerman, 2006, S. 25). Die zusätzliche und neu strukturierte Nachfrage nach agrarischen Gütern weist auf gleichfalls gestiegene Produktion und Einkommen im nichtlandwirtschaftlichen Bereich hin. Das gilt zunächst und zuallererst für den Bergbau. Gold wurde bereits im 14. Jahrhundert im Lavanttal gewaschen. Die Förderung dieses Metalls kulminierte im 15. Jahrhundert in den Hohen Tauern. Silber baute man vom 13. bis zum frühen 15. Jahrhundert vor allem in der Steiermark ab, doch verlagerte sich das Zentrum der Silberförderung immer stärker nach Tirol, Salzburg und Kärnten. Schwaz entwickelte sich um diese Zeit zum wichtigsten Silberlieferanten Europas. Auch die mit der Silbergewinnung verbundene Kupferförderung zählte international zur ertragreichsten (Sandgruber, 1995, S. 72). Übersicht 2 : Die Edel- und Buntmetallproduktion in Österreich 1480 bis 1850 Silber
Kupfer
Österreich
Schwaz
Um 1480
–
16,30
Um 1490
–
17,70
Österreich
Blei Schwaz
Österreich
–
1.300
–
–
1.450
–
19,40
1.700
1.500
–
Tonnen
Um 1500
23,000
Um 1510
–
19,60
–
1.550
–
Um 1520
–
20,70
–
1.650
–
Um 1530
25,000
20,75
2.000
1.680
–
Um 1540
–
17,90
–
1.400
–
Um 1550
30,000
13,60
1.600
1.100
–
Um 1600
7,000
5,00
1.000
350
–
Um 1650
4,000
2,80
400
180
–
Um 1800
1,154
1,00
530
554
2.287
1830
0,635
–
261
–
4.028
1850
0,348
–
225
–
3.183
Quelle : Sandgruber, 1995, S. 73.
Allerdings wurden die geförderten Edelmetalle nur zum Teil in Österreich weiterverarbeitet. Das gilt insbesondere für Silber, welches man vorwiegend zur Münzprägung nutzte. Mehrheitlich wurde das Metall nach Süddeutschland transportiert
Ein Zentrum des Bergbaus – das späte Mittelalter
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und zur Gestaltung künstlerischer Objekte verwendet. Dagegen fand Kupfer regionale Verwendung in Geschützgießereien ; die Werkstätten in Innsbruck entwickelten sich zu den bedeutendsten in Mitteleuropa. Eine große Rolle, insbesondere für Waffen sowie für Konsumgüter, spielte die Verarbeitung von Messing. Seit dem 14. Jahrhundert expandierte auch die alpine Eisengewinnung kräftig. Zu Ende des Mittelalters produzierte die Steiermark 4.000 bis 5.000 Tonnen und erreichte damit 10 % bis 15 % der europäischen Erzeugung. Die Produktion wurde durch die Exporte stimuliert, welche im Süden über den Balkan bis zur Levante erfolgten, im Osten bis Ungarn sowie Russland und im Norden über die oberdeutschen Reichsstädte die baltischen Länder erreichten. Eine Vorstellung von der Größenordnung des Exports vermittelt das ungarische Zollregister, wonach 1457/58 über Pressburg 1,6 Millionen Stück „Steyrer Messer“ eingeführt wurden (Pickl, 1992, S. 181). Auch hier erfolgten wieder massive landesfürstliche Eingriffe, welche Produktion und Absatz, Zahl und Größe der Hämmer, Höhe der Löhne und Preise sowie die Zuordnung der Gebiete für die Holz- und Lebensmittelversorgung festlegten (Sandgruber, 1995, S. 79). Steyr entwickelte sich in dieser Periode zum wichtigsten Produktionsstandort des Landes. Hier entstanden neben Messerschmieden Hammerwerke, Mahlmühlen, Sägewerke, Papiermühlen sowie Textil- und Ledererzeugungen. In der Steiermark hatte sich eine Rüstungsproduktion etabliert. In Thörl und Aflenz wurden Geschütze, Kanonenkugeln, Schanzzeug und Handfeuerwaffen hergestellt. Diese Periode charakterisierte ein beträchtlicher technischer Fortschritt im Bergbau. So wurden bereits um die Mitte des 14. Jahrhunderts im Gasteiner und Rauriser Tal Erzmühlen nachgewiesen. Um die gleiche Zeit entwickelte man für die Silberverhüttung in Schwaz ein Verfahren, wodurch Silber mithilfe von Blei von Kupfer getrennt wurde. Um 1500 wurden die Erzmühlen durch Pochwerke ersetzt, welche sich im alpinen Raum rasch verbreiteten. Hölzerne Schienen sind während des 16. Jahrhunderts in den Revieren von Schladming, Schwaz und Rattenberg nachgewiesen. Für den Erztransport wurde der Sackzug entwickelt. Wasserräder und Handpumpen erleichterten die Entwässerung der Stollen. Die Wasserkraft erwies sich für die Mehrheit der Erzeugungen als wesentlich. Neben der Eisenerzeugung und -verarbeitung benötigten sie die Mehlmühlen, Sägewerke, Stampfmühlen für verschiedene Produkte, Schleif-, Pump- und Bohrwerke. Zweifellos boten alpine Regionen dafür vorteilhaftere Bedingungen als Ebenen. Diese Energieart erlaubte durch den technischen Fortschritt dieser Periode eine wesentlich intensivere Nutzung, weil zu den schon bekannten Nocken- und Kurbelwellen sowie Pleuelstangen nunmehr Schwung- und Zahnräder hinzugekommen waren.
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Die Epoche des Protokapitalismus – Mittelalter und frühe Neuzeit
Anzumerken wäre auch, dass sich im Bergbau und in der Eisenverarbeitung allmählich Vorformen der späteren unselbstständig Beschäftigten ausbildeten. Überwog anfangs noch die genossenschaftliche Organisation der Förderung, so bildeten sich im Lauf des Mittelalters kommerzielle, großbetriebliche Strukturen heraus. Unternehmer (Radmeister) disponierten über die Produktionsfaktoren, und die Knappen verrichteten die ihnen zugewiesene Arbeit. Diese waren nicht nur rechtlich frei, sondern erzielten auch respektable Einkommen – wie sich an den Kirchenbauten in diesen Regionen ablesen lässt. Die Knappen gründeten Berufsorganisationen und schufen die ersten Einrichtungen der Sozialen Sicherheit durch sogenannte „Bruderladen“. Auch die Nachfrage nach Salz war während des späten Mittelalters in Österreich stark angestiegen. Und zwar nicht nur für den menschlichen Verbrauch. Es fand bei der Versorgung des Viehs ebenso Verwendung wie zur Konservierung von Lebensmitteln. Hallein entwickelte sich im Lauf des 13. Jahrhunderts zum Zentrum des alpinen Salzbergbaus. Diese Saline versorgte nicht nur die Salzburger Region, sondern erreichte Oberkärnten, Osttirol, Ober- und Niederösterreich sowie Böhmen und Mähren. Dazu kam auf habsburgischem Gebiet das Salzkammergut. Produktion und Verteilung des Salzes richteten sich freilich wieder nur zum Teil nach den Kapazitäten oder Verkehrsverbindungen, sondern nach exogenen politischen Entscheidungen, durch welche die Absatzmärkte, ja sogar die Produktionsstätten, festgelegt wurden. Solche Eingriffe erfolgten auf diesem Gebiet besonders häufig, weil sich das Salz gut zur indirekten Besteuerung eignete. Gegen Ende des Mittelalters gelang es den Habsburgern auf diese Weise, das salzburgische Produkt fast zur Gänze aus ihren Gebieten zu verdrängen. Übersicht 3 : Die alpenländische Salzproduktion 1500 bis 1847 Aussee
Hall/Tirol
Hallstatt/Ebensee/Ischl
Hallein
Summe
Tonnen 1500
8.000
10.000
7.000
24.770
49.770
1550
10.000
15.000
12.000
26.000
63.000
1618
19.791
15.133
16.300
22.046
73.270
1660
12.390
10.055
14.000
–
–
1700
12.371
12.274
22.100
22.240
68.985
1780
8.960
–
32.984
22.288
–
1800
8.624
15.000
36.960
16.800
77.384
1830
11.820
11.143
20.893
8.206
52.062
1847
13.795
13.529
43.310
12.154
82.788
Quelle : Sandgruber, 1995, S. 79.
45
Ein Zentrum des Bergbaus – das späte Mittelalter
Vom technischen Fortschritt profitierte ein neues Produkt : das Papier. 1469 wird eine Papiermühle in der Nähe von St. Pölten genannt (Sandgruber, 1995, S. 89). Eine Ware, die auch nach Ungarn exportiert wurde. Die Glasproduktion bevorzugte zunächst Standorte in den Wäldern ; doch gegen Ende des 16. Jahrhunderts entstanden größere Glashütten in Hall, Innsbruck und Wien. Während im Hochmittelalter die Bierbrauerei eher in den Haushalten erfolgte, entwickelte sich in der Folgezeit ein spezialisiertes Braugewerbe. Auch hier gab es wieder behördliche Eingriffe. So verboten Weinbauorte die Ausschank von Bier überhaupt. Dagegen besaß von 1432 bis 1727 das Bürgerspital in Wien das Monopol für die Erzeugung und die Ausschank von Bier. Die Expansion von Produktion und Einkommen und damit auch der Nachfrage schlug sich zunächst offenbar nur beschränkt in einem intensiveren Transportaufkommen nieder. Nun wurden im späten Mittelalter sowohl Straßen als auch Wasserwege ausgebaut, was freilich nicht allzu viel an den technischen Gegebenheiten änderte. Das hieß, dass die Wege grundlos blieben und daher insbesondere der Alpentransit noch immer vielfach durch Träger ausgeübt wurde. Die Transportwirtschaft war Angelegenheit der nichtstädtischen Einwohner, welche sich häufig gleichfalls zu Zechen zusammenschlossen. In Tirol wurden die Hauptverkehrsrouten in Etappen von 20 bis 30 Kilometer Länge aufgeteilt, wofür im Rahmen des sogenannten Rodfuhrwesens jeweils eine Gruppe von Fuhrleuten oder Bauern zum Warentransport berechtigt, aber auch verpflichtet war. Klarerweise brachte das häufige Umladen der Güter beträchtliche Verluste an Zeit mit sich (Sandgruber, 1995, S. 92). Übersicht 4 : Verkehr über den Brenner 1300 bis 1730 Tonnen Um 1300
4.000
Um 1340
5.000
Um 1400
3.500
Um 1500
5.000
Um 1560
8.000
Um 1600
10.000
1619 Um 1730
Quelle : Sandgruber, 1995, S. 93.
12.000 12.000 bis 14.000
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Die Epoche des Protokapitalismus – Mittelalter und frühe Neuzeit
Auch die Wasserstraßen wurden in dieser Periode mehrfach ausgebaut, also schiffbar gemacht. Der zentrale Verkehrsweg blieb natürlich die Donau – zumindest bis Pressburg. Erwies sich der Transport stromabwärts vergleichsweise problemlos, galt das in keiner Weise für jenen in die Gegenrichtung. Lange Zeit wurden die Schiffe von „Schiffsziehern“ händisch auf den Treppelwegen gezogen. Erst im 15. Jahrhundert setzte sich allmählich der Pferdezug durch. Längere Schiffszüge benötigten dazu 50 und mehr Pferde sowie etwa 60 Menschen. Auf diese Weise konnten bis zu 250 Tonnen flussaufwärts transportiert werden. Freilich entstanden hohe zusätzliche Kosten durch Begleitboote für technische Hilfen, aber auch für die persönliche Habe der Mannschaft, Lebensmittel und Tierfutter. Von Wien nach Passau benötigte man auf diese Weise drei bis fünf Wochen (Sandgruber, 1995, S. 94). Die monetäre Basis des kommerziellen Lebens verschlechterte sich zusehends im späten Mittelalter. Die österreichischen Landesherren trachteten in steigendem Maß, ihre fiskalische Position durch Münzverschlechterungen zu verbessern. Damit verlor der Pfennig gegenüber dem Goldgulden permanent an Wert. Von der nunmehr reinen Kupfermünze entfielen 1460 3.600 auf einen Gulden und wurden damit zu einer Scheidemünze. Dadurch dominierte Tirol gegen Ende des 15. Jahrhunderts das österreichische Geldwesen. Erzherzog Sigismund der „Münzreiche“ konnte aufgrund eines neu erschlossenen Silbervorkommens entsprechend wertvolle Tiroler Kreuzer ausprägen. Darüber hinaus entstand 1486 mit dem Haller Guldiner oder Guldengroschen ein Silberäquivalent zum Rheinischen Goldgulden. Die Staatsfinanzierung begegnete in dieser Periode zunehmenden Schwierigkeiten. Die Erfordernisse von Militär und Verwaltung konnten auch in den habsburgischen Territorien mit den traditionellen Einnahmen aus den Kammergütern und den Regalien sowie wenigen indirekten Steuern schwer gedeckt werden. Darüber hinausgehende Abgaben mussten die Stände jeweils aus gegebenem Anlass bewilligen – was permanenter Gegenstand von Auseinandersetzungen mit diesen bildete. Kredite der großen Handelshäuser brachten naturgemäß nur kurzfristige Erleichterung, sodass es von da an allmählich zur Ausbildung des Steuerstaats kam – zunächst durch Erweiterung der indirekten Steuern. Angesichts der dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung kann es nicht überraschen, dass im späten Mittelalter auch in Österreich die Städte und Märkte eine beträchtliche Expansion erlebten. Zwar hielten sich die Stadtgründungen, verglichen mit dem Hochmittelalter, in Grenzen, aber der Häuserbestand und damit auch die Einwohnerzahl expandierten beträchtlich. Demgegenüber nahm die Zahl der Märkte ungebrochen zu. Die Einwohnerzahl der Städte bewegte sich zwischen
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Ein Zentrum des Bergbaus – das späte Mittelalter
200 und 5.000. Lediglich Wien erreichte 20.000. Eine besondere Position nahm die Stadt Schwaz ein, die auf dem Höhepunkt des Silberabbaus, um 1500, gleichfalls 20.000 erreicht haben könnte. Übersicht 5 : Städte und Märkte sowie Häuser 1200 bis 1600 1200 Zahl der Städte Häuserbestand Zahl der Märkte Häuserbestand
1300
1400
1500
1600
23
71
82
87
86
–
10.000
12.600
14.200
16.600
–
131
237
344
409
–
6.300
13.400
21.800
29.200
Quelle : Sandgruber, 1995, S. 65.
Die Einwohnerschaft der Städte erwies sich als stark geschichtet. Die „Bürger“ im rechtlichen Sinn blieben stets eine Minorität in der Größenordnung von 10 % – einschließlich der Angehörigen etwa 50 %. Sie setzten sich im Wesentlichen aus Rittern und Kaufleuten zusammen, welche auch die maßgeblichen Positionen in der Stadtregierung und im Rat einnahmen. Erst allmählich gewannen die Zünfte, also die Handwerker, Einfluss in diesen Gremien. Die Unterschichten, wie Taglöhner oder Bettler, standen am Rand der Gesellschaft, blieben jedoch gleichfalls rechtlich frei. Immer wieder kam es zwischen diesen Gruppen zu Auseinandersetzungen, oftmals auch in Allianzen mit den jeweiligen Stadtherren (Bruckmüller, 2001, S. 100). Die gewerbliche Produktion in den Städten blieb auch im späten Mittelalter, ebenso wie fast überall in Europa, durch Zünfte – in Österreich Zechen genannt – weitgehend geregelt. Diese Selbstverwaltungskörper legten unverändert die Bedingungen für Produktionsverfahren, Qualität der Produkte, Preise und Käuferkreis fest ; ebenso den Zutritt zum Gewerbe und die Zahl der Gesellen und Lehrlinge, die ein Meister beschäftigen durfte. Das heißt, dass sich die städtische Gewerbeproduktion weit von jeglicher freier Konkurrenz vollzog ; der Markt war massiv reglementiert – auch wenn dieses System von „Störern“ durchbrochen wurde. Diese Organisationsform bremste damit auch den technischen Fortschritt. Eine Möglichkeit für dessen Weiterentwicklung bot sich nur dadurch, dass sich Gewerbe aufspalteten oder überhaupt neu gegründet wurden. Tatsächlich vermehrte sich die Zahl der Zechen im Lauf des Mittelalters beträchtlich (Tremel, 1969, S. 179). Darüber hinaus versuchten diese Organisationen, auf das flache Land auszugreifen, um ihre Produktion zu monopolisieren – was ihnen nur in beschränktem
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Ausmaß gelang. Dennoch vollzog sich ein Strukturwandel des Systems insofern, als es seine Geschlossenheit einbüßte. Der direkte Aufstieg vom Lehrling über den Gesellen zum Meister ging mehr und mehr verloren. Die Gesellen organisierten sich daher oft in eigenen Bruderschaften, welche sich oft auch gewaltsam mit den Meistern auseinandersetzten. Die städtische Produktion konzentrierte sich in Österreich auch im späten Mittelalter auf die Herstellung von Konsumgütern und die Erbringung einschlägiger Dienstleistungen. Das Exportgewerbe spielte weiterhin eine limitierte Rolle. Für Wien blieb diesbezüglich der Weinhandel weitaus der wichtigste Faktor. Dazu gesellten sich in bescheidenem Ausmaß Textilien, Goldschmiede und Messerer (Lichtenberger, 1973, S. 302). Diese Aussage gilt nicht für die Städte, welche auf Eisenverarbeitung oder auf Rüstungsgüter spezialisiert waren. Als neues Gewerbe etablierte sich in den Städten der Buchdruck. Die Bauwirtschaft fand ein breites Betätigungsfeld, das von der Errichtung diverser Befestigungsanlagen über Kirchen und Klöster, adelige Freihäuser bis zu Wohnbauten innerhalb und außerhalb der Mauern reichte. Zwar kam dem Fernhandel in Österreich im späten Mittelalter einige Bedeutung zu, doch führte dieser nur teilweise zur Herausbildung großer Vermögen. Dies lag daran, dass der lokale Beitrag dazu eher im technischen Vollzug lag, wogegen die kommerzielle Organisation von süddeutschen und oberitalienischen Handelshäusern getragen wurde. Die stärker im Kreditgeschäft engagierten Juden wurden zuerst aus den großen Projekten verdrängt und schließlich überhaupt aus Österreich vertrieben oder ermordet, wie in Wien 1420 (Sandgruber, 1995, S. 95). An ihre Stelle traten häufig italienische Kaufleute. Die Finanzierung der politischen und militärischen Ambitionen der Habsburger übernahmen zumeist die süddeutschen Unternehmer, wie vor allem die Fugger. Trotz aller Erschwernisse scheint das heutige Bundesgebiet auch im Spätmittelalter relativ hohes Einkommen erzielt zu haben. Das mag daran gelegen sein, dass die westlichen Landesteile sowie die Bergbauregionen und auch die Städte innerhalb ihrer Mauern von den kriegerischen Wirren weniger betroffen waren. Jedenfalls zählten die Habsburger nach wie vor zu den wohlhabendsten Fürsten des Reiches. In den Städten entstand allmählich eine neue Elite, welche sich aus Hochschulprofessoren, Universitätsabsolventen, insbesondere Juristen und Beamten, zusammensetzte. Für die beiden Letzteren spielte die Wiener Universität keine Rolle, da Römisches Recht hier erst zu Beginn der Neuzeit unterrichtet wurde. Dagegen erreichten die Naturwissenschaften hervorragendes Niveau. Johannes von Gmunden wird als Begründer der „Ersten Wiener Mathematisch-astronomischen
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Schule“ betrachtet. Georg Aunpeck von Peuerbach verfasste ein Standardwerk der Astronomie, und Johannes Müller von Königsberg galt als Begründer der modernen Trigonometrie (Mühlberger, 2001, S. 342). All diese Männer fühlten sich der humanistischen Philosophie verpflichtet, für welche Wien damals ein Zentrum darstellte. Zu deren Anhängern zählten auch viele hohe Kleriker. Berühmtester Repräsentant dieser Philosophie wurde der Sekretär Kaiser Friedrichs III., Enea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II. − sowie sich denn der Humanismus als die ideologische Basis des städtischen Bürgertums im späten Mittelalter beschreiben lässt. Dessen effektiver politischer Einfluss erreichte in dieser Phase seinen Höhepunkt. Einerseits räumte ihm die Mitgliedschaft in der Ständeversammlung Interventionsmöglichkeiten ein, darüber hinaus waren es die schon beschriebenen permanenten Querelen der Landesfürsten und des Kaisers, die seine Bedeutung erhöhten. Seine finanzielle und militärische Potenz machten es zu einem zentralen Faktor in diesen Auseinandersetzungen.
4.3 Krieg, Rekatholisierung und Refeudalisierung – die frühe Neuzeit
Die Periode der frühen Neuzeit wurde im heutigen Bundesgebiet durch eine Vielfalt krisenhafter Entwicklungen gekennzeichnet. Da waren zunächst exogene Faktoren, wie weitere klimatische Verschlechterungen, welche Missernten und damit Hungersnöte nach sich zogen. Gravierend wirkten sich immer wieder auftretende Pestepidemien aus. Dazu kam jedoch eine Fülle sozialer, politischer und militärischer Umbrüche, welche die Wirtschaft in Mitleidenschaft ziehen mussten. Die kriegerischen Ereignisse nahmen Dimensionen an, die über die häufigen dynastischen Auseinandersetzungen hinausgingen. Vor allem wurde die Region direkt von den militärischen Aktionen betroffen. Das galt insbesondere für die Türkenkriege. Seit die Osmanen 1526 Ungarn erobert hatten, kam es zu ständigen Einfällen in Kärnten, der Steiermark, im Burgenland und in Niederösterreich. 1529 stand ein türkisches Heer das erste Mal vor Wien. Zwar gab es während des Dreißigjährigen Krieges keine massiven Vorstöße, weil das Osmanische Reich im Osten engagiert war, doch erfolgten ständig kleinere Einfälle, vor allem durch die siebenbürgischen Vasallen der Hohen Pforte. Es liegt auf der Hand, dass sich diese permanenten kriegerischen Ereignisse sehr direkt auf die Produktion auswirken mussten. Dazu kamen noch Anfang des 17. Jahrhunderts Vorstöße der böhmischen Stände. Im Verlauf dieser Auseinandersetzungen wurden Ober- und Niederösterreich bis vor die Tore Wiens zum Kriegsschauplatz (Broucek, 2001, S. 142).
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Im Landesinneren vollzogen sich tiefgreifende institutionelle Umbrüche. So veränderte sich das Verhältnis zwischen Grundherren und leibeigenen Bauern. Dieses, das im Mittelalter noch durch eine Tendenz zu gegenseitiger Verpflichtung und durch eine gewisse Autonomie der Bauern gekennzeichnet gewesen war, wich einem immer stärker akzentuierten Bestreben des Adels, von seinen Untertanen höhere Abgaben zu fordern und ihre Autonomie einzuschränken (Knittler, 2006, S. 86). Dazu kamen die Ansprüche der Territorialherrschaft. Die militärischen Erfordernisse, die Innovationen dieses Bereichs, welche von Kanonen über Feuerwaffen bis zum neuen, teuren Festungsbau („trace italienne“) reichten, der Übergang vom feudalen Aufgebot zu Söldnerheeren sowie die wachsende „conspicuous consumption“ der Höfe brachten gleichfalls stärkere Belastungen mit sich. Die von den Ständen bewilligten Sondersteuern wurden an die Bauern weitergegeben. All das führte zu zahllosen Bauernaufständen verschiedener Größenordnung. Die Ursachen dafür lagen in erster Linie in der steigenden Belastung durch Abgaben und Robotleistungen, doch gesellten sich im Lauf des 16. Jahrhunderts auch konfessionelle Motive hinzu. Einige dieser Erhebungen aber strebten überdies eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft in Richtung demokratischer und egalitärer Strukturen an. Sie entwickelten dazu umfassende und konsistente Konzepte, wie etwa jenes im Zuge des Tiroler Aufstands Anfang des 16. Jahrhunderts durch den früheren Sekretär des Erzbischofs von Brixen, Michael Gaismayer (Macek, 1988, S. 169). Da diese Rebellionen zumeist, nach anfänglichen Erfolgen der Aufständischen, niedergeschlagen wurden, weil die Bauernheere letztlich doch unzulänglich organisiert blieben, setzten sich die von den Territorialfürsten unterstützten Grundherren mit ihren Ansprüchen durch. Darin wäre ein Aspekt der gesellschaftlichen Refeudalisierung zu sehen, und es liegt nahe, dass die hohe Abgabenbelastung der Untertanen die Motivation zu Investitionen und Innovationen bremste. Aber auch die Position der Stadt und ihrer Bürger im gesellschaftlichen Gefüge des Landes veränderte sich während der frühen Neuzeit grundlegend. Dieser Prozess repräsentiert kein spezifisch österreichisches Problem, sondern ein solches für ganz Europa. In Kapitel 2.2 war auf die Bedeutung der urbanen Zentren in jenem Prozess hingewiesen worden, der schließlich zur Industriellen Revolution führte. Und gerade im Mittelalter hatten die Städte eine ungeheuer starke Stellung erlangt. Stadtherren sowie Territorialherrscher vermochten auf deren Aktivität oft nur sehr beschränkt Einfluss zu nehmen. Unter diesen Umständen entstanden in Italien Stadtstaaten, im Römischen Reich Deutscher Nation nahmen die Reichsstädte die Position von Fürstentümern mit eigener Außenpolitik ein. Städtebünde wie die Hanse dominierten die Ostsee
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und vermochten Territorialherrschern, wie etwa dem Dänenkönig, ihren Willen aufzuzwingen. Allerdings legten diese ökonomisch sowie militärisch so starken Organisationen nur in Ausnahmefällen staatenbildenden Charakter an den Tag. So in Holland und der Schweiz. In allen übrigen Ländern des Kontinents setzten sich in der frühen Neuzeit politisch die fürstliche Zentralgewalt und gesellschaftlich der Adel immer stärker durch. Auch die italienischen Stadtstaaten nahmen immer mehr einen solchen Charakter an und gerieten schließlich unter die Herrschaft fremder Großmächte. Dieser Machtverlust der Städte resultierte aus der Ablösung des Feudalsystems durch den Territorialstaat. Teilweise entstand spontan der Bedarf an überregionalen Regelungen, etwa im wirtschaftlichen Bereich über die Waldnutzung, welche durch fürstliche „Ordnungen“ beschränkt wurde, die faktisch in den Entscheidungsbereich der Grundherren eingriff. Besonders aber durch die Rechtsvereinheitlichung. Diese hatte sich einerseits aus der Rezeption des Römischen Rechtes im 15. Jahrhundert ergeben, andererseits durch die Gründung von Universitäten, wo dieser Prozess vorangetrieben wurde. Weiters aber erwuchs aus den politischen Gegebenheiten das Machtmonopol des Zentralstaats. Weder waren die Grundherren in der Lage, die Sicherheit ihrer Untertanen zu garantieren, noch sich im Zuge der Bauernkriege gegen diese zur Wehr zu setzen. Sie waren oft auf die Hilfe der Territorialherrschaft angewiesen. Ähnliches gilt auch für die Städte. Auch diese erwiesen sich zu schwach für eine massive militärische Bedrohung von außen, wie etwa durch die Türken. Auch waren die Oberschichten in den Auseinandersetzungen mit den anderen Gruppierungen der Stadt oft gezwungen, Hilfe bei der Territorialherrschaft zu suchen. Umgekehrt wären sie auch nicht mehr in der Lage gewesen, sich gegen die modernen Massenheere dieser zu behaupten (Tilly, 1994, S. 24). Letztlich muss aber wiederholt werden, dass auch zur Zeit ihrer noch ungebrochenen Macht die Städte niemals in der Lage waren, überregionale Identitäten zu begründen. Ihre Interessen konzentrierten sich lediglich auf die Angelegenheiten des jeweiligen Ortes. Auch unter Einschluss der von ihnen beherrschten Umgebung entstanden nie Kerne eines eigenen Staatsgebildes, und auch ihre politische Willensbildung wurde nie auf diese Regionen übertragen. Sie regierten dort durchaus feudalistisch (Moraw, 1994, S. 111). Sie gingen zwar zweckgerichtete Bündnisse mit ihresgleichen ein, schlossen sich aber nur unter massivem militärischem Druck von außen zu – stark föderalistisch geprägten – staatlichen Gebilden zusammen, wie eben die Schweiz und Holland. Sie vermochten daher in der noch labilen Übergangsphase vom Feudalismus zum Absolutismus kein autonomes Ordnungselement zu bilden (Moraw, 1994, S. 115), allenfalls agierten sie im Rahmen der
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ständischen Politik. Eher waren es die aufständischen Bauernbewegungen, welche staatenbildende Konzepte entwickelten. Für die Staatswerdung blieb letztlich die von den Territorialherrschern entwickelte, auf ihre Person oder ihr Geschlecht ausgerichtete Ideologie maßgeblich (Blockmans, 1994, S. 242). Freilich erfolgte die Machtübernahme durch den Zentralstaat keineswegs reibungslos. Grundherren, Prälaten und Städte hatten sich in den „Ständen“ Organisationen geschaffen, um ihre Interessen zu vertreten. Diese zur „Beratung“ der Fürsten gedachten Einrichtungen verfügten über ihr Recht, Sondersteuern zu bewilligen – ein starkes politisches Machtmittel. Demgemäß kam es überall in Europa zu mehr oder minder gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen dem werdenden fürstlichen Zentralstaat und den Ständen. Als exemplarisch für das heutige Bundesgebiet erwiesen sich die Ereignisse nach dem Tod Maximilians I. 1519. Dieser hatte testamentarisch bestimmt, dass bis zum Regierungsantritt seiner Nachfolger ein „Regiment“ aus seinen Beamten die Regierungsgewalt ausüben sollte. Das wurde von den Ständen nicht akzeptiert. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen bildete Wien die Spitze des radikalen Flügels der städtischen Bürger. Dieser übernahm nicht nur die Exekutivmacht, sondern forderte auch, dass Landtagsbeschlüsse nicht mehr der landesfürstlichen Zustimmung bedürften, also bereits ein konstitutionelles Modell. Nach längeren Verhandlungen, die zunächst zu Kompromisslösungen führten, kam es nach dem Regierungsantritt Ferdinands I. 1522, welcher nach der Reichsteilung von Karl V. die Herrschaft über die österreichischen Erblande übernommen hatte, zu einem Tribunal in Wiener Neustadt, von dem die Hauptexponenten der ständischen Bewegung, darunter der Wiener Bürgermeister Dr. Siebenbürger, zum Tod verurteilt wurden. Damit war den städtischen konstitutionellen Bestrebungen in Österreich das Rückgrat gebrochen. In der Folge dieser Urteile schränkte Ferdinand I. auch die Autonomie Wiens ein, insbesondere schloss er die Handwerker von der Entscheidungsfindung aus (Csendes – Opll, 2001, S. 183). Die Städte spielten seither im Ringen um die Staatswerdung Österreichs keine wesentliche Rolle mehr. Die Auseinandersetzungen zwischen den Ständen und dem Territorialherrscher wurden durch die konfessionelle Spaltung verschärft. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts war das heutige Bundesgebiet, mit Ausnahme Tirols und Vorarlbergs, praktisch vollständig protestantisch, wogegen die Habsburger zu den entschiedensten Exponenten der Gegenreformation zählten. Zwar konnte sich der Adel das lange Zeit unbestrittene Privileg auf private Ausübung der protestantischen Konfession sichern, das galt jedoch nicht für die Städte. Die Rekatholisierung erwies sich dort als zusätzliches Element zur Einschränkung der Autonomie.
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Allerdings verschärften sich auch die Gegensätze zwischen Adel und Landesfürsten im Lauf des 16. Jahrhunderts und fanden schließlich Anfang des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt im Aufstand der böhmischen und ostösterreichischen Stände. Diese strebten danach, die Habsburger zu vertreiben und eine Art Adelsrepublik zu gründen, die sich an den holländischen Generalstaaten oder der Schweiz orientieren sollte (Bruckmüller, 2001, S. 115). Charakteristischerweise spielte in diesen Kämpfen die Stadt Wien keine Rolle mehr. Die aristokratischen Ambitionen fanden durch die Schlacht am Weißen Berg ein unwiderrufliches Ende. In der Folge bildeten sich jedoch neue politische Koalitionen heraus. Hatten sich die Territorialherrscher im Mittelalter noch zuweilen auf die Städte gestützt, um ihre Interessen durchzusetzen, bildete sich mit der Unterwerfung des Adels eine neue Allianz heraus. Dieser demonstrierte seine Loyalität gegenüber der Krone und erhielt dafür ihre Unterstützung in wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen mit den Städten. So wurden nunmehr deren zahlreiche Privilegien zugunsten der Grundherren abgeschafft. Diese kamen dadurch in die Lage, nichtlandwirtschaftliche Produktionen in beliebigem Ausmaß auf dem flachen Land in Angriff zu nehmen und damit die Monopolposition der Städte, respektive der städtischen Zünfte, zu durchbrechen. Dazu kamen allerdings noch Änderungen der Verhaltensweisen. Während des Mittelalters hatte sich weithin ein bürgerliches Selbstbewusstsein durchgesetzt, das unter anderem seinen Niederschlag in Lehr- und Erbauungsbüchern, wie jenem von Leon Alberti Trattato del governo della Famiglia fand, in welchem sich die arbeitund sparsamen Bürger scharf von den müßigen und verschwenderischen Aristokraten abgrenzten. Dieses bürgerliche Selbstbewusstsein ging im katholischen Südeuropa zu Beginn der frühen Neuzeit verloren. Das Bürgertum übernahm allmählich den aristokratischen Wertekodex, was sich weniger darin ausdrückte, dass die zu Wohlstand gelangten Unternehmer darangingen, große Ländereien zu erwerben – dafür mochten auch rationale ökonomische Gründe maßgebend gewesen sein. Immobilien repräsentierten eine sichere Kapitalanlage, regelmäßiges Einkommen, erleichterten die Kreditfinanzierung und enthielten manchmal auch ein spekulatives Element (Soly, 1975, S. 35). Maßgebend war der Wertewandel in dieser Schicht. Charakteristischen Ausdruck fand dieser in den oberitalienischen Stadtrepubliken. Die venezianischen Patrizier, welche ihren erblichen Rang durch Eintragung im „Goldenen Buch“ demonstrierten, nannten sich „nobili“ und blickten voller Verachtung auf den Handel herab. In Mailand wurde diese Position normativ explizit zum Ausdruck gebracht. 1652 wurde der Rang des „cavaliere patrizio“ geschaffen, eine Art adeliger Patrizier. Und 1716 erging ein Gesetz, wonach nur jene als Pa-
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trizier anerkannt wurden, die nachweisen konnten, dass unter anderem seit drei Generationen kein Mitglied der Familie deren Ansehen durch eine kaufmännische Tätigkeit geschädigt habe. Im 18. Jahrhundert verkehrten die Familien der städtischen Patrizier mit dem Landadel des die Stadt umgebenden Herzogtums als Ebenbürtige miteinander (Palmer, 1970, S. 45). Diese Regelung bezog sich zwar auf das Barockzeitalter, doch weist sie darauf hin, dass dieser Prozess schon sehr viel früher in Gang gekommen sein muss. Nun waren im Bundesgebiet schon im Mittelalter erfolgreiche Kaufleute und Produzenten geadelt worden, doch dürfte damals der aristokratische Wertekodex für ihr Verhalten noch keine zentrale Rolle gespielt haben. Das änderte sich in der frühen Neuzeit, als die wohlhabenden Bürger durchwegs auch hier die Nobilitierung anstrebten und die aristokratischen Normen übernahmen : „Das Bürgertum war satt geworden. Nicht mehr Erwerb um des Erwerbs willen stand im Vordergrund seines Strebens, sondern Herrendienst und Gültenbesitz wurden das begehrteste Lebensziel des Bürgers, der in der jüngeren Generation die angesehene soziale Stellung, die Sicherheit der Existenz und den bequemen Genuss des ererbten Vermögens erstrebte. Vergebens sucht man in der dritten Generation Bürgerstolz und Standesbewußtsein, vergebens auch den Arbeitseifer und den Erwerbstrieb der Vorfahren, sie sah mit einer gewissen Scham auf die Quelle ihres Vermögens herab, in das sie hineingeboren war, und suchte sie durch den Erwerb von Titeln und Gütern zu verdecken. Gerade die besten Köpfe des Bürgertums erstrebten den Übertritt in den Adel und passten sich seiner Lebensweise an. Eine Klasse, die so dachte, war unfähig, eine entscheidende Rolle im wirtschaftlichen und sozialen Leben zu führen“ (Tremel, 1969, S. 227). Damit unterwarfen sich die Träger einer neuen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung der traditionellen Oberschicht : „Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass in den österreichischen Ländern ein reiches und selbstbewusstes Stadtbürgertum nur rudimentär existierte“ (Bruckmüller, 2001, S. 120). Der Umstand, dass sich dieser Prozess vor allem im südeuropäisch-katholischen Raum vollzog, bewog manche Autoren, hier einen Zusammenhang zwischen der Konfession und den sozialen sowie ökonomischen Verhaltensweisen zu sehen (Hersche, 2006, S. 442). Doch scheint dem Katholizismus, genauer gesagt jener der Gegenreformation, hier nur die Funktion des Verstärkers eines endogen in Gang gekommenen Prozesses zugekommen zu sein. In den protestantischen Ländern ging zwar auch die städtische Autonomie gegenüber der Zentralgewalt verloren, doch blieben die bürgerlich-kapitalistischen Verhaltensweisen mit einigen demokratischen Ansätzen teilweise erhalten – nicht zu reden natürlich von Holland und der Schweiz, wo das Bürgertum die Herrschaft
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angetreten hatte. Aber nicht nur das, gerade dort entwickelten sich staatlich organisierte Schulen und Universitäten, intensivierte sich die naturwissenschaftliche Forschung im Rahmen einer Scientific Community. Demgegenüber blieb das südeuropäische Schulwesen mit seiner starken Ausrichtung auf die lateinische Sprache sowie auf Theologie und Philosophie großteils in kirchlicher Hand oder unter kirchlichem Einfluss. Die Konsequenzen dieser Veränderungen bewirkten, dass ehemals berühmte Universitäten, wie jene von Bologna oder Ingolstadt, ihren internationalen Ruf einbüßten und der Anteil der Katholiken an den Naturwissenschaftlern dramatisch abfiel (Mason, 1997, S. 210). Die Wiener Universität hatte unter Maximilian I. noch eine späte humanistische Blüte erlebt, geriet jedoch in der Folgezeit durch die Reformation und die Probleme Wiens in eine Krise. Die überwand Ferdinand I. mit großem Engagement, doch blieb die Hochschule nunmehr strikt katholisch orientiert und stark auf die Erfordernisse des Verwaltungsapparats ausgerichtet (Mühlberger, 2001, S. 395). Dazu kam die Geringschätzung kommerzieller Produktion und Leistung durch die Kirche. Manche Autoren meinen, diese Position hänge auch mit ihrer Präferenz für die Arbeit in der Landwirtschaft zusammen. Dieser Umstand würde sich teilweise aus deren umfangreichem Grundbesitz erklären, teilweise aus ihrer Vorliebe für diese gesunde, ursprüngliche Produktionsweise. Darin könne man auch ein Element der südeuropäischen „Reagrarisierung“ sehen (Hersche, 2006, S. 456). Lässt sich also vermuten, dass die geschilderten Veränderungen der Institutionenstruktur im südeuropäischen Bereich die Bedingungen für das Wirtschaftswachstum verschlechtert hatten, führte die Gegenreformation durch die Auswanderung oder Vertreibung protestantischer Bürger direkt zu massiven Einschränkungen der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Verlust an Arbeitskräften wog umso schwerer, als es sich bei dieser Bevölkerungsgruppe vorwiegend um hoch qualifizierte und initiative Menschen handelte, die manchmal auch über beträchtliche Kapitalien verfügten. Angesichts all dieser Tatsachen kann man annehmen, dass sich während der frühen Neuzeit die wirtschaftliche Entwicklung im heutigen Bundesgebiet in Grenzen hielt. Abgesehen von den institutionellen Veränderungen und kriegerischen Einwirkungen musste die Klimaverschlechterung die Bodenproduktivität verringern, ebenso wie der Bevölkerungsrückgang das Produktionsvolumen reduzierte. Die Abgabenbelastung dämpfte die ökonomische Initiative, vor allem die Investitionsneigung. Wenngleich regional in der Landwirtschaft Produktdifferenzierung vorgenommen wurde, kann man davon ausgehen, dass damals von diesem Sektor keine starken Impulse ausgegangen sind.
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Wenige Einschränkungen betrafen den für Österreich so wichtigen Wirtschaftsfaktor des Bergbaus. Die Produktion von Eisen expandierte kräftig, auch die Eisenverarbeitung. Die ständigen kriegerischen Verwicklungen der Habsburger begünstigten sogar die Ausweitung der Rüstungsproduktion. Gerade in dieser Periode entstanden durchaus bemerkenswerte Waffenerzeugungen. Schusswaffen wurden in Steyr, Ferlach und Wiener Neustadt produziert. Die Erzeugung in Steyr beschränkte sich aber nicht nur auf Gewehre, sondern umfasste auch Pistolen, Piken, Degen und Säbel sowie Kürasse und sonstige Ausrüstungsgegenstände. Im 17. Jahrhundert entwickelte sich Wiener Neustadt gleichfalls zu einem bedeutenden Rüstungszentrum (Sandgruber, 1995, S. 116). Eine zentrale Rolle in der Eisenverarbeitung kam in Österreich nach wie vor der Sensenerzeugung zu. Diese weitete sich nach kriegsbedingten Rückschlägen, von Oberösterreich kommend, in die Steiermark aus. Die durchschnittliche jährliche Produktion eines Sensenhammers erreichte 22.000 Stück und wurde nach Ende der Feindseligkeiten in beträchtlichem Ausmaß exportiert. Auch die Salzproduktion entwickelte sich in den habsburgischen Ländern günstig, da auf administrativem Weg die Absatzgebiete sichergestellt wurden. Genau aus demselben Grund schrumpfte die salzburgische Produktion. Hatte schon die Verdrängung des Halleiner Salzes aus den habsburgischen Regionen zu Einbußen geführt, galt das noch mehr nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen Salzburgs mit Bayern. Da die Erträge dorthin abflossen, kam es kaum mehr zu Investitionen in Hallein. Gravierende Veränderungen ergaben sich jedoch in dem lange Zeit so bedeutsamen Abbau von Silber. Vor allem in Schwaz fand die Förderung einfach deshalb ein Ende, weil sich die Lagerstätten erschöpften. Damit erwies sich auch die Förderung von Kupfer und Blei als unrentabel. Das Ende des Bergbaus in dieser Region führte zu einer dramatischen Reduktion der Bevölkerung von Schwaz. Die Zahl der Beschäftigten sank von einem Höchststand von 15.000 auf nur mehr 3.000 im Jahr 1608 (Sandgruber, 1995, S. 74). Es ist schwer abschätzbar, ob die Expansion der Eisenproduktion und -verarbeitung in dieser Periode die Wertschöpfungsverluste des Silberbergbaus kompensieren konnte. Die Stagnation der Transportwirtschaft im 17. Jahrhundert war natürlich auch teilweise auf die kriegerischen Ereignisse dieser Zeit zurückzuführen. Dazu kam jedoch der Umstand, dass sich das Schwergewicht der europäischen Wirtschaftsentwicklung von den oberitalienischen und süddeutschen Städten nach Nordwesteuropa verlagerte. Wiewohl die Straßenverbindungen ausgebaut wurden, erhöhte sich der Verkehr über den Brenner erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts.
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Freilich sollte nicht übersehen werden, dass in dieser krisengeplagten Zeit außerhalb der Städte eine umfangreiche gewerbliche Produktion entstand. Dazu zählten neben dem angeführten Bergbau sowie der Metallverarbeitung und der Salzgewinnung vor allem Getreidemühlen, Brauereien, Papiermühlen, Glashütten, Sägen, Kalkbrennereien, Köhlereien, Hammer- und Hufschmiede sowie Gerbereien. Daneben entwickelte sich auch eine immer intensiver betriebene Forstwirtschaft. Die Initiative zu diesen gewerblichen Aktivitäten ging von der Grundherrschaft aus (Knittler, 2006, S. 100). In Österreich wird die Periode der frühen Neuzeit generell als ökonomische Krise der Städte betrachtet. Die Wirtschaftsleistung dieser Einheiten ging zurück. Das scheint keineswegs nur ein impressionistisches Faktum gewesen zu sein, sondern ein sehr reales, als den Städten sogar beträchtliche Steuererleichterungen gewährt wurden (Bruckmüller, 2001, S. 147). Insbesondere die im internationalen Handel Tätigen bekamen die Auswirkungen der kriegerischen Ereignisse zu spüren ; der türkische Vormarsch beeinträchtigte massiv den Venedig-Handel. Die Grundherren missachteten immer häufiger die städtischen Zunftprivilegien im Umland und errichteten auch in steigendem Maß „Freihäuser“ in den Städten, welche durch ihre Steuerfreiheit deren finanzielle Möglichkeiten beschränkten. Für die Residenzstädte, vor allem Wien, zeichnete sich jedoch eine ambivalente Entwicklung ab. Die größte Stadt Österreichs nahm wirtschaftlich international keine Spitzenposition ein. Hier waren eben keine spezifischen Produktionen entstanden, welche der Stadt internationales Gewicht verliehen hätten : „Ein klassisches Exportgewerbe besaß Wien nicht“ (Weigl, 2001, S. 33), und die städtische Autonomie hatte nach der Niederschlagung der darauf gerichteten Bestrebungen von 1522 durch Ferdinand I. ein Ende gefunden. Umgekehrt reihte sich Wien unter jene Städte ein, welche zunehmende Bedeutung als Metropolen großer Reiche gewannen, wie London, Madrid und Paris. Die Unterwerfung der Aristokratie unter die Zentralgewalt fand ihren Ausdruck in der Bindung an den Hof. Ihre Mitglieder nahmen damit alle führenden Positionen im Staat ein. Das bedingte aber, dass sie sich, einschließlich ihrer Bedienten, in der Residenzstadt niederließen und ihr auf den Gütern erzieltes Einkommen dort ausgaben. Aber auch die Zahl der Angehörigen des Hofes erlebte eine deutliche Zunahme. Das resultierte nicht nur aus der Selbstinszenierung der Herrscher und der Aufstellung eines stehenden Heeres, sondern auch aus der Notwendigkeit, die dringend benötigten Abgaben einzutreiben und zu administrieren. Dazu kam, dass die Rechtsvereinheitlichung auch auf Ebene des Reiches vorgenommen wurde – zuletzt entstand durch Reichstagsbeschluss ein Instanzenzug zum Reichskammer-
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gericht. Das bedeutete aber, dass auch die Zahl der Beamten und Richter expandierte. Auf dieser zweiten sozialen Ebene gewann zwar das Bürgertum aufgrund seiner Fachkenntnis zunehmenden Einfluss, konnte aber nur in Einzelfällen politisch aufsteigen und beschränkt seinen Wertekodex im Staat etablieren. Die Veränderungen der Sozialstruktur Wiens lassen sich an der Verschiebung der Hausbesitzanteile nachvollziehen. Jener der Bürger reduzierte sich zwischen 1615 und 1650 von 72,1 auf 54,2 %, wogegen sich der Anteil Adeliger und des Klerus verdoppelte. Jener der Hofbeamten erhöhte sich immerhin von 17,1 auf 23,3 %. Übersicht 6 : Hausbesitz in Wien 1615 bis 1650
Besitzer Öffentliche Gebäude Kirche Adel Hofbeamte und -personal Städtisches Bürgertum Insgesamt
1615
1630
1650
Anteile in % –
–
0,8
5,8
9,2
10,0
5,0
10,8
11,7
17,1
21,3
23,3
72,1
58,8
54,2
100,0
100,0
100,0
Quelle : Weigl, 2001, S. 44.
Die gesamte Bevölkerung der Metropole stieg schätzungsweise von 20.000 bis 25.000 Mitte des 16. Jahrhunderts auf 50.000 Mitte des 17. Jahrhunderts (Weigl, 2001, S. 53). Sicherlich bewirkte diese Konstellation eine geballte Nachfrage nach Gütern und Leistungen, welche eine nachhaltige wirtschaftliche Belebung dieser Residenzen, so auch Wiens, herbeiführte (Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 24).
5. Aus der Bedrängnis zum Triumphalismus – der österreichische Barock
5.1 Krieg und Merkantilismus
Das Zeitalter des Barocks fand im heutigen Bundesgebiet sehr unterschiedliche Ausprägungen. Da ist einmal der Umstand, dass die Habsburgermonarchie auf dem Weg zum Territorialstaat bereits eine gewisse Strecke zurückgelegt hatte. Wohl spielten die Stände eine wichtige Rolle, insbesondere vermittelte ihnen das Steuerbewilligungsrecht noch einige Bedeutung, aber grundsätzlich setzte sich der Monarch staatspolitisch immer stärker durch. Seit der ständischen Niederlage am Weißen Berg und dem darauf folgenden Strafgericht hatte sich ja die Aristokratie in den Erblanden der Zentralgewalt unterworfen und mit ihr alliiert. Andere politische Faktoren, wie das städtische Bürgertum und schon gar die Bauernschaft, hatten jeglichen politischen Einfluss verloren. Natürlich darf das Gesagte nicht dahin missverstanden werden, dass bereits ein zentralisierter Staat entstanden wäre, davon war die Habsburgermonarchie noch weit entfernt, aber konkurrierende Herrschaftsansprüche existierten in den Erblanden nicht mehr, wohl aber war ein politisches Gebilde mit einer gewissen, sich in der Person des Herrschers manifestierenden Identität entstanden. Diese Entwicklung dokumentierte sich darin, dass das höhere Gerichtswesen zentralisiert wurde und auch die Kodifikation des Rechts in Gang kam. Darüber hinaus oblag dem Herrscher in stets weiteren Bereichen die Gesetzgebung. Dazu kam die Errichtung zentraler Behörden. Eine Hofkanzlei, welche die administrativen Angelegenheiten zu erledigen hatte, die Hofkammer für die fiskalischen sowie der Hofkriegsrat für die militärischen. Die Beamten wurden nicht nur für die Zentralstellen vom Territorialherrscher ernannt, sondern auch solche, die in den Ländern tätig wurden – wenngleich manchmal noch auf Vorschlag der Stände. Mit der Aufstellung stehender Armeen durch die Zentralgewalt näherte man sich bereits dem Gewaltmonopol des Staates. Schließlich spielte auch die energisch durchgeführte Gegenreformation durch Ferdinand II. trotz aller auch fatalen Konsequenzen eine große Rolle in der Herausbildung einer staatlichen Identität, wie denn die religiöse Kontrolle eine Disziplinierung der Bevölkerung ermöglichte.
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Aus der Bedrängnis zum Triumphalismus – der österreichische Barock
Natürlich scheint die Darstellung des institutionellen Hintergrunds für die Entwicklung der barocken Wirtschaft insofern etwas verkürzt, als die Politik der Habsburger nur in Bezug auf das heutige Bundesgebiet, also die damaligen deutschen Erblande, referiert wird. Deren Ambitionen sowie auch die tatsächlichen Resultate ihrer Politik gingen ja weit über die beschriebene Region hinaus und bewegten sich im gesamteuropäischen Rahmen. Das ergab sich nicht nur aus der Funktion als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches – hier wurde ihre Position durch die Niederlage im Dreißigjährigen Krieg erheblich geschwächt –, sondern durch stetige Ausweitung ihrer Hausmacht. Deren staatliche Integration verlief durchaus unterschiedlich. So vermochten sich die Habsburger gegenüber den ungarischen Ständen nicht annähernd so durchzusetzen wie gegenüber dem böhmischen und österreichischen Adel. Da jedoch hier die ökonomische Entwicklung des heutigen Bundesgebiets analysiert wird, konzentriert sich die Darstellung der politischen und sozialen Aktivitäten auf jene, welche diese Region betreffen. Als bremsendes Element für die Staatswerdung jenes Raumes erwies sich die 1564 auf den Tod Ferdinands I. folgende Aufteilung der Herrschaft unter seine Söhne. An Maximilian II. fielen neben der Kaiserwürde Böhmen und Ungarn sowie Österreich ob und unter der Enns. Karl wurde Innerösterreich, also Steiermark, Kärnten und Krain übertragen ; Tirol und die Vorlande gingen an Ferdinand. Diese Aufteilung fand erst 1664 durch das Aussterben der Nebenlinien ihr Ende. Sie hatte das Entstehen eines Länderpatriotismus begünstigt, der sich eigentlich bis in die Gegenwart erhalten hat. Auch nach der Vereinigung behielten die Länder durch den auf ihren Vorschlag ernannten Landeshauptmann oder Landesmarschall eine gewisse Autonomie (Ingrao, 1994, S. 8). Die entstehende Zentralmacht wurde im Barock zunächst durch gewaltige Belastungen herausgefordert. Die militärische Niederwerfung der Stände 1621 hatte den Auftakt für den Dreißigjährigen Krieg bedeutet, welcher die finanziellen Ressourcen des Staates bis zum Äußersten anspannte. Darüber hinaus brachten die endlosen militärischen Auseinandersetzungen schwere Zerstörungen und Plünderungen durch die marodierenden Kriegshaufen. Das heutige Bundesgebiet war zwar erst spät und nur teilweise von den unmittelbaren Kriegsfolgen betroffen, aber in den letzten Phasen der Auseinandersetzungen drangen schwedische sowie transsylvanische Einheiten in Nieder- und Oberösterreich ein. Sie gelangten zwar bis vor Wien, allerdings ohne dass die Stadt ernsthaft bedroht worden wäre. Dazu kamen noch die Effekte unterbrochener Handelsrouten sowie der Umstand, dass Auswirkungen der kriegerischen Ereignisse im Reich zu massiven Nachfrageausfällen führten, wodurch die österreichischen Exporte litten. Jedenfalls
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konnten diese durch die zusätzliche Nachfrage nach Rüstungsgütern für die Armee nicht ausgeglichen werden. Die deplorablen Folgen des Krieges wurden noch durch wiederholte Pestwellen verschärft. In den Dreißigerjahren und auch Mitte des 17. Jahrhunderts verursachte die Seuche Bevölkerungsverluste im Ausmaß von etwa 20 %. Noch in den Achtzigerjahren des 17. Jahrhunderts fordert die Pest etwa ein Fünftel der Grazer Bevölkerung (Sandgruber, 1995, S. 104). Aber selbst der Friedensschluss von Münster und Osnabrück 1648 brachte nur wenige Erleichterungen für Wirtschaft und Gesellschaft des Bundesgebiets. So dauerte der Abzug von Besatzungstruppen aus habsburgischen Gebieten noch einige Jahre. Und schon 1663 erklärte der Sultan Leopold I. den Krieg. Zwar gelang es General Montecuccoli, die Türken bei Mogersdorf zu schlagen, doch brachte dieser Erfolg nur einen brüchigen Frieden. In den Achtzigerjahren verlagerten sich die militärischen Auseinandersetzungen in den Westen. Diese zeitigten zwar keine direkten Konsequenzen für die Region, wohl aber weiterhin hohe Belastungen für Bürger und Bauern. Ende des Jahrzehnts brach der Kuruzzenaufstand aus, der letztlich 1683 in den massiven türkischen Vorstoß nach Wien überging. Dadurch kam es nicht nur zur totalen Verwüstung Niederösterreichs sowie der angrenzenden Regionen, sondern abermals zu einer Unterbrechung des Wirtschaftsverkehrs mit den osteuropäischen Ländern. Erst der grundlegende Wandel im militärischen Kräfteverhältnis zwischen dem Osmanischen Reich und Europa bedeutete für Ostösterreich eine neue Situation. Da es gelang, Ungarn gänzlich zu erobern und die türkischen Streitkräfte endgültig bis in den Raum von Belgrad zurückzudrängen, entstand das erste Mal seit zwei Jahrhunderten in Ostösterreich eine Situation ungebrochener Sicherheit. Zwar blieb die Habsburgermonarchie bis Anfang des 18. Jahrhunderts in den Spanischen Erbfolgekrieg sowie einen weiteren Türkenkrieg verwickelt, welche beide die Ressourcen des Staates weiterhin exzessiv in Anspruch nahmen, doch blieb nunmehr das heutige Bundesgebiet von direkten Zerstörungen verschont, und von 1718 bis 1733 erlebte die gesamte Habsburgermonarchie erstmals seit dem 15. Jahrhundert eine Periode ungestörten Friedens. Für die Wirtschaftsentwicklung des Bundesgebiets im Zeitalter des Barocks waren aber nicht nur politische Einflüsse maßgebend, sondern auch jene der Institutionenstruktur. In der Wirtschaftspolitik vollzog sich ein grundlegender Wandel. Wurde bis dahin die Ökonomie einer Region vom Territorialherrscher nur als Quelle von Einnahmen betrachtet, so verschob sich die Betrachtungsweise dahin, dem Umfang sowie dem Wachstum der Produktion als Basis einer Besteuerung größeres Augenmerk zu widmen. Der Merkantilismus, ausgehend vom Frankreich
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Colberts, wurde von deutschen Immigranten in die Habsburgermonarchie übertragen. Zwar existierten österreichische Vorläufer, wie der Hofkammersekretär Christian Julius Schierl von Schierendorf (1661–1726), größten Einfluss jedoch gewannen Wilhelm von Schröder (1640–1688), Johann Joachim Becher (1635–1682) sowie Phillip Wilhelm von Hörnick (1640–1714), welcher die berühmte Studie Österreich über alles, wann es nur will (1684) verfasste. Das Konzept des Merkantilismus zielte im Wesentlichen auf Schutz und Förderung der heimischen Produktion. Es sollte ein Importüberschuss erreicht werden, um einen „Staatsschatz“ in Edelmetallmünzen anzulegen. Letzterem Ziel versuchte man sich durch Beschränkung der Importe mittels – wirkungsloser – Importverbote, später durch hohe Schutzzölle zu nähern. Ersteres geschah auf vielfältige Weise. Becher veranlasste 1666 die Schaffung des „Kommerzkollegiums“, also praktisch eines Wirtschaftsministeriums. Er gründete ein „Kunst- und Werkhaus“ am Tabor, in welchem ausländische Meister Einheimischen handwerkliche Kenntnisse vermitteln sollten. Ebenso rief man eine orientalische Handelskompanie ins Leben. Wesentliches Element dieser Politik wurden die Anregung und die Begünstigung von Unternehmensgründungen, von Manufakturen. Damit im Zusammenhang sollte die Bevölkerungszahl wachsen und möglichst intensiv in den Arbeitsprozess eingegliedert werden. Diesem Zweck diente eine Politik der „Peuplierung“. Eheschließungen wurden begünstigt und die Einwanderung gefördert. Viele dieser Aktivitäten zeitigten zunächst nur mäßige Erfolge. Das Beispiel für einen durchschlagenden Erfolg bot jedoch die „Linzer Wollzeugfabrik“, welche sich zum größten Unternehmen der Monarchie entwickelte. Der zünftische Widerstand gegen die Schaffung von Manufakturen wurde durch ein Fabriksprivileg überwunden, welches solche Unternehmen außerhalb der Zunftordnung stellte. Freilich hatte Karl VI. schon vorher Maßnahmen zur Auflockerung der Zunftordnung ergriffen. Dafür war zunächst die Nachfrage des Hofes maßgebend. Für diesen interessante Gewerbetreibende konnten „hofbefreit“ werden und waren somit nicht nur von den Zunftvorschriften befreit, sondern erlangten auch Steuerbegünstigungen. Ab 1725 konnten unbefugte Handwerker (Störer) durch Zahlung eines Schutzgelds zur Ausübung ihres Gewerbes berechtigt werden (Dekretisten). 1736 gab es in Wien 11.000 Professionisten, davon 3.345 bürgerliche Handwerker, 3.126 Dekretisten, 2.941 Störer, 301 Hofbefreite und letztlich Militärhandwerker. Damit war offensichtlich das starre Monopol der Zünfte bereits erheblich eingeschränkt. Neue Produktionszweige wurden privilegiert, was bedeutete, dass diese Betriebe vom Zunftzwang befreit waren sowie das ausschließliche Erzeugungs- und Verkaufsrecht für ihre Waren innehatten (Bruckmüller, 2001, S. 166). Schließlich beseitigte Karl VI. die Autonomie dieser Organisationen, indem
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er 1731 durch zwei Handwerkerpatente die Zunftsatzungen genehmigungspflichtig machte. Insbesondere in der späten Regierungsphase Karls VI., während der relativ friedlichen Periode im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, intensivierten sich die wirtschaftspolitischen Aktivitäten. Der Staat engagierte sich in der Förderung von Unternehmensgründungen und auch in der finanziellen Unterstützung laufender Projekte. Die Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen wurde zum expliziten Ziel der Politik. Nachhaltige Wirkung erzielte vor allem die Errichtung von Straßen und Kanälen. Insbesondere die Verbindung über den Semmering eröffnete dem Bundesgebiet zusätzliche Handelsmöglichkeiten im Süden über die sich dynamisch entwickelnde adriatische Balkanküste. Die Verstaatlichung der Post 1722 verbesserte den Informationsfluss erheblich. Diesen wirtschaftspolitischen Bemühungen standen freilich die Effekte der Gegenreformation gegenüber. Die Rekatholisierung des Landes führte zu umfangreicher Emigration, sogar zur Vertreibung von Protestanten, also einem massiven Verlust von Humankapital, weil davon vornehmlich höher qualifizierte Arbeitskräfte betroffen waren. Der spätere Mangel an unternehmerischen Persönlichkeiten in Österreich geht auf diese Zeit zurück. Auch der Umstand, dass 1669 wieder einmal die Juden aus Niederösterreich verjagt wurden, wirkte in die gleiche Richtung. Ein weiteres retardierendes Element der Gegenreformation resultierte daraus, dass praktisch das gesamte Bildungswesen in der Hand der katholischen Kirche lag. Insbesondere die Universitäten und die höheren Schulen wurden von den Jesuiten beherrscht. Das bedeutete nicht nur, dass die Gedanken der Aufklärung von den hohen Schulen vollständig ausgeschlossen blieben, sondern dass die Curricula viele wichtige Bereiche, wie etwa die Naturwissenschaften, vernachlässigten. Eine gleichfalls von den Jesuiten rigoros gehandhabte Zensur führte dazu, dass überwiegend religiöse Literatur publiziert wurde. Als ein weiteres Hemmnis für die Wirtschaftsentwicklung erwies sich der Umstand, dass es Karl VI. nie gelang, die Verwaltung einigermaßen effizient zu gestalten noch auch die Staatsfinanzierung befriedigend zu organisieren. Letzteres resultierte auch daraus, dass der Monarch weiterhin Adel und Kirche steuerlich privilegierte, da er sie als wichtigste Stützen des Regimes betrachtete. Diese Politik zeitigte allerdings ambivalente Wirkungen. Behinderte die Steuerbefreiung eine befriedigende Entwicklung der Staatsfinanzen, vermochte ein dadurch begünstigter sozioökonomischer Wandel der Wirtschaft gewisse Impulse zu verleihen.
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Aus der Bedrängnis zum Triumphalismus – der österreichische Barock
5.2 Gutsherrschaft und Protoindustrialisierung
Vor diesem institutionellen Hintergrund vollzogen sich im Barock wesentliche wirtschaftliche Veränderungen. Da war zunächst die „Ökonomisierung der Hocharistokratie“. Bis in die frühe Neuzeit hinein strebten die Grundherren danach, ihren Grund und Boden bäuerlichen Untertanen zur Bearbeitung zu überlassen und deren Abgaben einzuziehen. Im Lauf des 17. Jahrhunderts kehrte sich dieser Trend in Ostösterreich um. Nun gingen die Grundherren daran, die Pachtgründe aufzulassen und in die Eigenwirtschaft einzugliedern. Diese wurde großteils durch die Robot der verbliebenen Untertanen bewirtschaftet, das heißt, dass jene außerordentlich gesteigert wurde. Wiederholte kaiserliche Edikte zum Schutz der bäuerlichen Bevölkerung erwiesen sich als wenig wirksam. Doch begann damit der Hochadel, in diesem Prozess des Wandels von der Grund- zur Gutsherrschaft stärker unternehmerische Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Offensichtlich ging er davon aus, dass durch die Eigenwirtschaft höhere Erträge zu erzielen seien als durch die Abgaben der Untertanen. Diese Ökonomisierung der Aristokratie zeitigte zunächst Auswirkungen für die Agrarwirtschaft. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begannen die Gutsherren, neue Pflanzen einzuführen, wie etwa Tabak. Der Einfluss Italiens bewirkte den Anbau von Mais ; zuerst in der Steiermark, aber allmählich auch in den anderen Ländern. Die Einführung von Maulbeerbäumen und Seidenraupen führte freilich zu keinen nachhaltigen Erfolgen. Daneben engagierten sich die Aristokraten im Exporthandel jener Produkte, die auf ihren Besitzungen erzeugt wurden, begannen aber auch bereits, eine bäuerliche Textilerzeugung anzuregen, welche man als Vorläuferin des Verlagssystems betrachten kann. Die dadurch erzielten Einkommen erwiesen sich als beträchtlich. Das höchste in der gesamten Monarchie erzielte Anfang des 18. Jahrhunderts Pal Esterházy mit jährlich 700.000 Gulden. Der gleichfalls als reich geltende Hans Adam von Liechtenstein erwirtschaftete nur die Hälfte. Demgegenüber nehmen sich die 100.000 Gulden Erträge des Prinzen Eugen aus seinen Gütern bescheiden aus ; allerdings bezog dieser aus seinen verschiedenen staatlichen Funktionen weitere 300.000 Gulden (Ingrao, 1994, S. 125). Allgemein scheinen sich während des 17. Jahrhunderts in der landwirtschaftlichen Produktion unterschiedliche Tendenzen niedergeschlagen zu haben. Marktkräfte wirkten darauf hin, dass schon Ende des 16. Jahrhunderts in verstärktem Maß Spezialkulturen entstanden. Angebaut wurden nunmehr Flachs, Hopfen, Safran und Mohn, Senf und Raps, Waid und Krapp. Fischteiche wurden weiterhin in großem Stil angelegt. All diese Veränderungen dürften die Hektarerträge gesteigert haben (Tremel, 1969, S. 238).
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Die Viehzucht erlebte in den von den Kriegsereignissen nicht betroffenen Regionen einen kräftigen Aufschwung. Dieser erfasste Rinder, Pferde, Schafe, Geflügel sowie Bienen. Der Bedarf an Gruben- und Köhlerholz sicherte den Absatz für die Waldwirtschaft ebenso wie die Nachfrage nach Heizmaterial. Im Gegenteil, es entstanden Auseinandersetzungen zwischen den Waldbewohnern und den Grundherren auf der einen Seite sowie den fürstlichen Beamten auf der anderen, da Letztere bestrebt waren, den Holzverbrauch zu bremsen. Negative Entwicklungen ergaben sich in der Weinproduktion, welche offenbar mit den kriegerischen Ereignissen in Zusammenhang standen. Die Unterbrechungen der Handelsströme sowie die Ausfälle der Nachfrage bewirkten, dass der Anbau von Qualitätswein im städtischen Umland zugunsten des billigeren Landweins stagnierte. Um die Jahrhundertwende entstand überdies durch den ungarischen Wein eine harte Konkurrenz, die administrativ nicht mehr behindert wurde. Eines der wichtigsten Exportgüter des Mittelalters ging damit verloren. Auch die Struktur der agrarischen Bevölkerung veränderte sich in dieser Periode. Dieser Wandel resultierte aus häufigen Besitzteilungen im Erbgang, welche die Einkommenssituation der Betroffenen deutlich verschlechterten. Noch unterhalb dieser Besitzer stand jedoch eine Schicht, welche überhaupt die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung ausmachte. Sie setzte sich aus „Kleinhäuslern“ und „Inleuten“ zusammen, welche im Haushalt der Bauern lebten und zu diesen zumeist in einem Verwandtschaftsverhältnis standen, manchmal auch einen eigenen Haushalt führten, sowie das eigentliche Gesinde. Diese Strukturwandlungen führten nicht zuletzt dazu, dass der nichtlandwirtschaftliche Nebenerwerb eine immer größere Rolle spielte. Dafür ergaben sich aber auch zunehmend neue Möglichkeiten. Das ökonomische Interesse der Gutsherren beschränkte sich nämlich nicht allein auf die landwirtschaftliche Produktion, sondern griff allmählich über diese hinaus. Davon waren nicht nur bestimmte Dienstleistungen betroffen, für welche den Gutsherren Monopolrechte zustanden, wie die Errichtung von Tavernen oder Mühlen, sondern gewerbliche Produktionen, welche in materieller Beziehung zu Grund und Boden standen. Dazu zählten Sägewerke und Glashütten, Ziegelöfen und Kalkbrennereien. Hammerwerke wurden schon traditionell von Aristokraten betrieben. Der Bergbau, das Rückgrat der nichtlandwirtschaftlichen Produktion im heutigen Bundesgebiet, begegnete im Barock mannigfachen Schwierigkeiten. Die Salzproduktion litt ständig unter Liquiditätsproblemen, welche dadurch entstanden, dass die Hofkammer alle eingehenden Erträge sofort an sich zog. Das ging so weit, dass zeitweilig keine Löhne an die Beschäftigten ausgezahlt werden konnten. An Erhaltungs- oder Rationalisierungsinvestitionen war nicht zu denken. Zeitweilig
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wurden die Salinen an Bayern verpfändet, was die Situation auch nicht spürbar verbesserte, und im österreichischen Erbfolgekrieg besetzten sie für kurze Zeit bayrische Truppen. Da die kriegerischen Ereignisse auch die Absatzmärkte beschränkten, stagnierten Produktion und Erträge. Letztere beeinträchtigten auch den Eisenhandel. Zwar entstand zusätzliche Nachfrage durch die Rüstung, doch litt der Eisenexport infolge Unterbrechung der Handelswege. Darüber hinaus spürten die Produzenten auch den Zusammenbruch der süddeutschen Handelshäuser, welche bis dahin den Export ins westliche Ausland besorgt hatten. Dazu traten zusätzliche Konkurrenten in Deutschland auf, die auch deshalb Marktanteile gewinnen konnten, weil sich das österreichische Management als unzulänglich erwies. Es wurde zu lange versucht, hohe Preise aufrechtzuerhalten, andererseits galt das auch für die Kosten, weil die Unternehmen nur zögernd Rationalisierungsinvestitionen vornahmen. So führte man „Flussöfen“, welche hohe Einsparungen an Brennmaterial erlaubten, erst Mitte des 18. Jahrhunderts ein. Die unbefriedigende Lage vor allem der Innerberger Produzenten führte schließlich dazu, dass sich die Unternehmen dieser Region unter staatlichem Druck 1625 zur „Innerberger Hauptgewerkschaft“ zusammenschlossen, welche unter öffentliche Aufsicht gestellt wurde. Erst mit dem Ende der Türkengefahr entspannte sich die Situation der Eisengewinnung und -verarbeitung allmählich. Um ein Bild von der hochgradigen staatlichen Regulierung der Produktion in diesen Wirtschaftszweigen zu vermitteln, sei auch darauf hingewiesen, dass für die einzelnen Bergbaue bestimmte Waldregionen als Lieferanten von Brenn- und Grubenholz gewidmet wurden, ebenso wie Gebiete für die Versorgung mit Lebensmitteln – da man einen Teil des Lohnes der Bergarbeiter in Naturalien leistete. Nur wenn das Angebot dieser Bereiche nicht mehr auslangte, nahmen die Unternehmen den Markt in Anspruch. Der Abbau von Silber und Kupfer in Tirol war schon im 16. Jahrhundert wegen Erschöpfung der Lager zu Ende gegangen. Ähnliches galt auch für den Edel- und Buntmetallabbau in anderen Regionen des Bundesgebiets. Lediglich in Fragant erlebte die Kupfergewinnung einen kräftigen Aufschwung. Die wachsende Holzknappheit weckte schließlich das Interesse an Kohle. 1718 wurde der erste Braunkohlebergbau in Fohnsdorf (Steiermark) eröffnet, dem alsbald andere folgten. Allerdings stieß der Einsatz von Braunkohle wegen ihres Schwefelgeruchs und des schwierigen Transports zunächst auf Widerstände (Tremel, 1969, S. 259). Natürlich trafen die politischen und kriegerischen Ereignisse auch die traditionelle Eisenverarbeitung. Das galt freilich weniger für die Rüstungsbetriebe. So erlebte die Büchsenerzeugung in Ferlach und in Innsbruck einen gewaltigen Auf-
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schwung. Darüber hinaus ging die Regierung selbst daran, in Wiener Neustadt eine neue Waffenproduktion ins Leben zu rufen. Mithilfe ausländischer Facharbeiter wurde die „Niederländische Armaturenmeisterschaft“ gegründet, die bis Mitte des 18. Jahrhunderts in beträchtlichem Umfang Waffen produzierte. Als neuer Zweig der Metallverarbeitung etablierten sich an mehreren Orten des Bundesgebiets Messinghütten. Gleichfalls zu den innovativen Produktionssparten zählten im Barock die Papiermühlen. Vor allem in Niederösterreich, aber auch in Kärnten und Vorarlberg, führte die wachsende Nachfrage der Verwaltung zur Gründung solcher Unternehmen. Zwar bewegte sich die Glaserzeugung weiterhin im Rahmen von Kleinbetrieben, doch erreichte eine neue Spiegelfabrik in Neuhaus (Niederösterreich) größere Dimensionen.
5.3 Manufaktur und Verlagssystem
Über die geschilderte vielfältige Produktion hinaus vollzog sich auch in Österreich eine Entwicklung, für welche sich der von Mendels geprägte Begriff „Protoindustrialisierung“ eingebürgert hat. Diese fand, wie schon in Kapitel 2.3 ausgeführt, ihren Ausdruck in der Entstehung von Manufakturen und des Verlagssystems. In Ersteren wurde eine relativ große Zahl unselbstständiger, jedoch in der Regel freier, Arbeitskräfte unter einem Dach konzentriert. Ein solches Vorgehen erlaubte bereits eine weitgehende Arbeitsteilung sowie die zentrale Organisation und Kontrolle des Erzeugungsvorgangs. Dieser selbst blieb freilich noch prinzipiell handwerklich. Die Arbeitsteilung ging freilich noch über die Manufaktur hinaus, weil viele Arbeitsvorgänge im sogenannten Verlagssystem an Kleinstproduzenten ausgelagert wurden. Gerade diese Produktionsweise charakterisierte die Linzer Wollzeugfabrik. Diese beschäftigte 1762 50.000 Spinner und Weber im Verlag (Otruba, 1980, S. 125). Freilich blieb das Verlagssystem nicht an eine Manufaktur gebunden ; es konnte auch unabhängig davon betrieben werden. Die Unternehmer stellten dann den Produzenten Rohstoffe zur Verfügung und übernahmen die fertigen Produkte, welche sie dann vermarkteten. Beide Systeme repräsentierten wichtige Elemente der Protoindustrialisierung, weil dadurch arbeitsteilige Produktion in großem Stil organisiert werden musste, also Managementaufgaben zu erfüllen waren. Ein Schwerpunkt der protoindustriellen Erzeugung lag in der Textilerzeugung. Natürlich blickte diese auf eine lange Tradition zurück. Überall dort, wo das Klima den Flachsanbau erlaubt hatte, war Leinen hergestellt worden. Auch der Loden zählte zu den heimischen Produktionen. Doch blieben diese in der Regel auf die
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Deckung des familiären Bedarfs beschränkt und wurden auch nur in diesem Rahmen vollzogen. Das ändert sich nach dem Dreißigjährigen Krieg. So etablierte der Gutsherr Graf Ferdinand Kurz, um dessen Folgen für die Untertanen zu überwinden, eine Tuchmacherei in Horn auf eine solche Weise, dass er Fachleute im Ausland anwarb und für jene eine Siedlung von 30 Einfamilienhäusern mit einer Kirche errichten ließ (Tremel, 1969, S. 262). Bedeutsamer erwies sich die 1672 erfolgte Gründung der – schon genannten – „Linzer Wollzeugfabrik“ durch den Ratsbürger Christian Sind. Dieses Unternehmen wurde durch den Staat mit einer Fülle von Privilegien unterstützt und von allen zünftischen Beschränkungen befreit. Um die Jahrhundertwende kam es zu weiteren Gründungen von Textilmanufakturen, vor allem im Wiener Raum. Hergestellt wurden Seiden- und Baumwollstoffe. Als völlig neue und epochemachende Produktion erwies sich die Herstellung von Porzellan. Der aus Deutschland kommende Claudius Innozenz du Paquier erhielt 1718 das Monopol für die Erzeugung und den Vertrieb von Porzellangeschirr. Nach anfänglichen Schwierigkeiten erzielte diese nach Meißen zweite Erzeugung dieser Art in Europa (Sèvres produzierte nur „Weichporzellan“) beträchtliche Erfolge. Du Paquier verkaufte schließlich das Unternehmen 1744 an den Staat, der es gleichfalls mit Gewinn weiterführte. Auch die ersten Tabakmanufakturen fallen in diese Periode. Einen wesentlichen Schritt dazu setzte 1723 in diesem Produktionsbereich Karl VI. durch die Gründung der „Kaiserlichen Tabakmanufaktur“ in Hainburg. Schließlich vollzog sich im Merkantilismus ein Prozess, welcher für die Industrialisierung zentrale Bedeutung erlangen sollte : das Aufkommen unselbstständiger Arbeitskräfte, also solcher, die persönlich frei waren, doch über keine eigenen Produktionsmittel verfügten. Sie arbeiteten eine bestimmte Zeit an einem bestimmten Arbeitsort und waren an die Weisungen des Unternehmers gebunden. In den antiken Gesellschaften wurde nichtselbstständige Arbeit von Sklaven erbracht. Im mittelalterlichen Handwerk blieben Gesellen und Lehrlinge Teil der „familia“, ausgerichtet auf spätere selbstständige Tätigkeit. Ähnlich wird man den Gesindedienst in der Landwirtschaft einordnen können. Die Arbeit der Taglöhner trug eher den Charakter eines Werkvertrags (Van der Ven, 1971, S. 61). Die ersten Ansätze unselbstständiger Tätigkeit bildeten sich in jenen Wirtschaftszweigen heraus, die sich für familiale Konstruktionen nicht eigneten, nämlich Bergbau, Fernhandel, Bauwesen und Militär. Diesen folgten allmählich die Handwerksgesellen. Im späteren Mittelalter gingen deren Aussichten, Meister zu werden, immer mehr zurück, sodass ihre Arbeit stärker Merkmale dauernder Unselbstständigkeit annahm. Dies dokumentierte sich nicht nur in der Gründung
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eigener Interessenvertretungen, sondern auch im Entstehen besonderer Arbeitsformen, wie jener des „Wandergesellen“. Damit sowie mit der Zunahme des Dienstpersonals entwickelte sich in den Städten allmählich ein Arbeitsmarkt (Butschek, 1992, S. 19). Der Durchbruch erfolgte allerdings mit den Manufakturen, die freilich nur zum Teil auf den städtischen Arbeitsmarkt zurückgriffen, sondern in hohem Maß auf den ländlichen, besonders was das unqualifizierte Personal anbelangte. Diese zumeist der Textilbranche angehörende, Unternehmen benötigten neben „Management“, Buchhaltern und Facharbeitern eine große Zahl von ungelernten, meist weiblichen, Arbeitskräften, die vor allem auf dem Land rekrutiert wurden. Mit der kräftigen Expansion der Manufakturen im 18. Jahrhundert vervielfachte sich die Zahl der unselbstständigen Arbeitskräfte, sodass man mit Ende des Jahrhunderts bereits von einem mehr oder minder funktionierenden Arbeitsmarkt sprechen konnte. Die Entstehung des Arbeitsmarkts wurde sicherlich auch durch die merkantilistische Politik begünstigt, welche der produktiven Arbeit aller hohen Wert beimaß und durch eine Fülle von Maßnahmen bestrebt war, jeglichen „Müßiggang“ der Bevölkerung zu verhindern. Zu einem solchen Zweck wurde auch das Instrumentarium der „Zucht- und Arbeitshäuser“ geschaffen, das Vagabunden, Bettler und Arbeitslose zur Arbeit erziehen sollte. Freilich scheinen diese Einrichtungen kein brauchbares Arbeitsangebot geschaffen zu haben, da sich die Arbeitgeber lieber an die Waisenhäuser hielten, deren Insassen sich offensichtlich für die Arbeit als wesentlich effizienter erwiesen. Da Kinderarbeit in der Landwirtschaft stets eine Selbstverständlichkeit gewesen war, bestanden auch keine Hemmungen, diese in der Manufaktur zu etablieren. Im Gegenteil, die Behörden waren bestrebt, die Kinder möglichst früh zu „vernünftiger Tätigkeit“ anzuhalten (Weidenholzer, 1985, S. 80). Als jener Wirtschaftszweig, der im Barockzeitalter eigentlich die österreichische Wirtschaft charakterisierte, erwies sich jedoch die Bauwirtschaft. Ihre geradezu explosive Entwicklung nach dem Ende der Türkengefahr kennzeichnet noch heute in hohem Maß das architektonische Bild des Landes. Gewiss beschränkte sich die barocke Bauexpansion nicht auf das heutige Bundesgebiet allein. Hersche meint, dass die fulminanten Emanationen der Barockarchitektur für eine Region kennzeichnend seien, welche von der Schweiz über Bayern bis nach Ober- und Niederösterreich reichte. In anderen Gebieten seien die Anlagen viel bescheidener gestaltet worden (Hersche, 2006, S. 366). Wie immer man das beurteilen mag – Böhmen wäre jedenfalls einzuschließen –, sicherlich drücken sich darin der Triumph der Gegenreformation sowie auch das Bewusstsein aus, die Türkengefahr endgültig gebannt zu haben.
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Bemerkenswert jedoch scheint im Bundesgebiet das Bauvolumen, welches man in relativ kurzer Zeit bewältigte. Es wurden praktisch sämtliche Klöster großzügigst erneuert und erweitert, auch der Hochadel errichtete oder renovierte im gleichen Zeitraum seine Schlösser. Nahezu alle österreichischen Kirchen wurden barockisiert sowie in den Städten zahlreiche Adelspaläste gebaut. Und diese gewaltige bauliche Veränderung vollzog sich in einer Periode, die vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Regierungsantritt Maria Theresias reichte, also etwa 40 Jahre umfasste. Nun erklärt sich einiges aus dem Ende der Türkengefahr. Die Landwirtschaft konnte wieder ungestört produzieren, die Gutsherren weiteten ihre ökonomischen Aktivitäten aus und pressten aus den Untertanen höhere Robotleistungen heraus. Dennoch bleibt diese Bauexplosion bemerkenswert, und zwar nicht nur wegen des bewältigten Volumens, sondern auch im Hinblick auf die Finanzierung. Jedenfalls musste durch diese Aktivitäten die Nachfrage nach Baumaterial enorm gestiegen sein, aber auch jene nach Fachkräften verschiedenster Art. Insgesamt sollte die Bauexplosion beträchtliche Multiplikatoreffekte gezeitigt haben, ohne dass ein inflationärer Prozess in Gang gekommen wäre. Wie schon im Vorstehenden mehrfach angedeutet, griff der Staat im Barock intensiv in das wirtschaftliche Geschehen ein. Das geschah zwar schon in der Vergangenheit durch Regulierung der Märkte und der Produktionsbedingungen – Privilegien und Monopole –, unter dem Einfluss des Merkantilismus gingen die Interventionen jedoch weiter. Nunmehr interessierte sich der Staat auch unmittelbar für die Steigerung der Produktion. Daher förderte er nicht nur Unternehmensgründungen, sondern behielt auch den Fortgang der Erzeugung im Auge. Man kann sich nämlich nicht des Eindrucks erwehren, dass sich die betriebswirtschaftlichen Fähigkeiten der damaligen Unternehmer in Grenzen hielten. Oftmals wurde die Marktlage falsch eingeschätzt. Ebenso oft trat auch Kapitalmangel zutage oder es fehlte an Kreditmöglichkeiten. In solchen Fällen sprang der Staat häufig helfend ein. Entstand aber trotzdem die Gefahr einer Insolvenz oder wollten die Eigentümer verkaufen, wurde das betreffende Unternehmen oftmals vom Staat übernommen und weitergeführt, um Verluste von Produktion und Arbeitsplätzen zu vermeiden. Gewiss erfolgten diese Interventionen mit wechselndem Erfolg. Im Fall der Porzellanmanufaktur erwies sich das Staatseigentum als außerordentlich nützlich, in anderen Fällen konnten auch die staatlichen Bemühungen betriebswirtschaftliche Fehlentscheidungen nicht korrigieren. Freilich ist diese Entwicklung auch unter dem Aspekt nur rudimentärer Geldund Kapitalmärkte zu sehen. Wie bereits wiederholt angedeutet, reichten die Ein-
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nahmen der Territorialherrscher bei Weitem nicht aus, um ihre Ansprüche an das Sozialprodukt zu befriedigen. Das galt vor allem für den schlagartig ansteigenden Bedarf im Fall eines Krieges. Die dazu bewilligten Steuern änderten die Situation nur marginal. Daher waren die Fürsten gezwungen, auf große Finanzunternehmer zurückzugreifen, die in der Lage waren, die erforderlichen Summen aufzubringen. Im Fall der Habsburgermonarchie waren dies unter Leopold I. Samuel Oppenheimer und dessen Sohn Emanuel. Sie stellten Kredite mit einem Zinssatz von 7 % bis 8 % zur Verfügung. Dazu kam aber noch, dass praktisch nur solche Unternehmer in der Lage waren, die Versorgung der Truppe mit Waffen, Munition, Uniformen und Lebensmitteln organisatorisch zu bewältigen. Freilich blieb auch für solche „hofbefreiten“ Juden diese Aufgabe mit hohem Risiko behaftet, da sich der Kaiser bei Zahlungsunfähigkeit mit Gewaltmaßnahmen gegen sie zu helfen versuchte. Letztlich brach das Bankhaus Oppenheimer als Folge derartiger Repressionen auch 1721 zusammen. Dessen Nachfolge übernahm die verwandte Familie Wertheimer, welche ihre Aufgabe stets zur Zufriedenheit des Kaisers ausführte, aber ihr Risiko auch besser verteilte, indem sie Kredite auch anderen Fürsten sowie Aristokraten gewährte. Ihre erfolgreiche Gestion fand schließlich ihren Niederschlag darin, dass sie unter Leopold II. geadelt wurde. Wurde also der Kreditbedarf des Staates und der Hocharistokratie durch die großen – meist jüdischen – Bankiers gedeckt, standen zur Versorgung der Bevölkerung praktisch nur private Geldverleiher zur Verfügung, welche Konsumkredite gegen relativ hohe Verzinsung gewährten. Im – insbesondere internationalen – Handelsverkehr existierten viele Formen des bargeldlosen Zahlungsverkehrs sowie Kredite. Eine kommerzielle Finanzierung von produzierenden Unternehmen durch Kredite oder durch Teilhabe in Personalgesellschaften existierte praktisch nicht. Im Gegenteil, in diesem Sektor galt Verschuldung lange Zeit als moralisch verwerflich. Die Geld- und Kapitalmärkte erwiesen sich somit als weitgehend segmentiert, woraus geschlossen werden kann, dass selbst bei schwerster finanzieller Belastung durch Kriege von einem „crowding out“ für private Investoren nicht gesprochen werden kann. Der Handel wurde im Barock gleichfalls durch die politischen und kriegerischen Ereignisse geprägt. Das geschah direkt, als er in den vom Krieg betroffenen Regionen großteils zusammenbrach, aber auch indirekt. So wurden traditionelle Handelsverbindungen abgeschnitten, wodurch Märkte verloren gingen. Erst gegen die Jahrhundertwende stabilisierte sich die Lage allmählich. Andererseits führte das Ende der Türkengefahr zu neuen, recht umfangreichen Handelsbeziehungen mit dem früheren Feind.
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Schon vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges hatte der Export von Eisen und Eisenwaren in den Westen unter den Problemen der oberdeutschen Handelshäuser gelitten, doch entspannte sich die Situation noch während der Kampfhandlungen. Nach Ende der Türkengefahr vollzog sich insofern eine Veränderung der Handelsströme, als nunmehr der Eisenexport in den Osten dominierte. Die merkantilistische Politik erwies sich insofern als erfolgreich, als es ihr gelungen war, das Angebot ausländischer Textilien – zumindest im Bereich der Massenware – durch ein inländisches zu ersetzen. Damit musste diese Ware nicht mehr importiert werden, wohl aber das Rohmaterial. So wurden Baum- und Schafwolle vorwiegend aus der Türkei und Seide aus Südtirol eingeführt. Umgekehrt übernahm Österreich mehr und mehr die Rolle des Textilienexporteurs auf den Märkten im Osten. Diese Region, aber auch Venedig, nahm in größerem Umfang österreichisches Holz auf. Die Wiederbelebung des Handels führte auch zu einer solchen des Transportwesens. Das resultierte aber nicht allein aus der wirtschaftlichen Erholung nach den Türkenkriegen, sondern auch daraus, dass sich – wie bereits dargelegt – im Rahmen der Protoindustrialisierung die Arbeitsteilung immer stärker durchsetzte. Dazu kam, dass sich die merkantilistische Wirtschaftspolitik um den Ausbau der Straßen bemühte und letztlich alles tat, um den Export zu fördern. Nachdem die Silbervorkommen in Tirol erschöpft waren, gewann für dieses Land der Nord-Süd-Transport wieder besondere ökonomische Bedeutung. Zwar hatte auch dieser Anfang des Dreißigjährigen Krieges sehr gelitten, sich aber allmählich wieder erholt. Besondere Erfolge erzielte die Handelspolitik Karls VI. durch die Verleihung des Freihafenstatus für Triest und Fiume. Tatsächlich gelang es, die Handelsströme zu einem beträchtlichen Teil von Venedig auf diese Häfen umzuleiten. Natürlich profitierten sie auch von der nunmehr generell wachsenden Bedeutung des Balkanhandels. Aus demselben Grund erlangte die Donau nunmehr wieder erhebliche Bedeutung als Handelsweg. Eine spezifische Funktion erlangte der Handel im Barock auch im Hinblick auf Unternehmensgründungen. Die österreichischen Handelshäuser hatten ja nie die Bedeutung der oberdeutschen erlangt. Das ergab sich nicht zuletzt daraus, dass die Habsburger ihre finanziellen Bedürfnisse bei diesen decken konnten. Als Gegenleistung räumten sie ihnen nicht nur Pfandrechte an österreichischen Bergwerken ein, sondern gewährten ihnen darüber hinaus auch umfangreiche Privilegien, wie zum Beispiel das Recht der „Niederlage“, also eines Außenhandelsmonopols. Die Politik des Merkantilismus lief diesen Begünstigungen entgegen, da die heimische Produktion geschützt werden und den Import substituieren sollte. Verständlicherweise sperrten sich die Niederleger gegen solche Ambitionen, blieben
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jedoch mit ihren Protesten erfolglos. Ab dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts nahm die Außenhandelspolitik immer schärfer protektionistische Züge an, welche dazu führten, dass viele Niederleger Wien verließen. Wollten nunmehr Handelshäuser der Stadt ähnlicher Privilegien teilhaftig werden, mussten sie sich zu Unternehmensgründungen verpflichten. Diese Politik führte tatsächlich zu bemerkenswerten Erfolgen, da es auf diese Weise zur Schaffung von Textilerzeugungen, aber auch von Metallverarbeitungsbetrieben kam (Chaloupek et al., 2003, S. 110).
6. Die institutionelle Revolution – Maria Theresia und Joseph II.
6.1 Institutionelles Catching up
Der Regierungsantritt Maria Theresias bedeutete einen spektakulären Bruch mit der Politik des Barocks. Obwohl diese Periode eine gewaltige territoriale Ausweitung der Habsburgermonarchie bewirkt hatte, bedeutete die triumphierende Gegenreformation, dass sich die meisten habsburgischen Länder, so auch das Bundesgebiet, von der geistigen und politischen Entwicklung West- und Nordeuropas separiert hatten. Der katholische südeuropäische Bereich blieb durch Beherrschung des intellektuellen Lebens seitens der Kirche sowie durch Refeudalisierung gekennzeichnet. Das Bürgertum hatte an Bedeutung eingebüßt und der Status der Bauernschaft sich durch Entstehung der Gutsherrschaft markant verschlechtert. Zwar verlief dieser Prozess in der Habsburgermonarchie nicht derart ausgeprägt wie in anderen südeuropäischen Ländern, etwa Italien und Spanien, weil Karl VI. unter dem Einfluss der (protestantischen) deutschen Kameralisten eine merkantilistische Politik verfolgte, welche sogar stillschweigend eine kommerziell orientierte konfessionelle Toleranz inkludierte. Doch war die Entwicklung der Schulen sowie von Technik und Naturwissenschaften infolge der Beherrschung des Unterrichtswesens durch die katholische Kirche hinter jener der westeuropäischen Staaten zurückgeblieben. Militärisch und politisch stand die Monarchie nach dem Tod Karls VI. am Rand des Zusammenbruchs. Der in jeder Hinsicht unvorbereiteten Maria Theresia gelang es jedoch, den Länderkomplex, ausgenommen Schlesien, zu bewahren und zu stabilisieren. Dessen inhärente Schwäche erkennend, ergriff sie die Initiative zu Reformen, die auf die Konzepte ihrer jeweils wichtigsten politischen Berater, nämlich Johann Christoph Bartenstein, Friedrich Wilhelm Haugwitz und Wenzel Anton Kaunitz, zurückgingen. Neben der Restrukturierung der Armee war es zunächst eine neuerliche Reorganisation des Steuerwesens und der Verwaltung. Diese erfolgte 1749 durch die mit dem Namen Haugwitz verbundene große Staatsreform. Die Spitze der neuen Behördenorganisation bildete nunmehr die „Böhmisch-Österreichische Hofkanzlei“. In den Ländern wurden Landesstellen der Zentralre-
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gierung geschaffen, welche die älteren Bürokratien für Ländergruppen ersetzten. Auf unterster Ebene installierte man Kreisämter. Das Steuerbewilligungsrecht der Stände wurde dadurch beschränkt, dass die Landtage nur mehr einen „Dezennalrezess“, also eine Steuerbewilligung auf zehn Jahre, beschließen konnten. Weiters wurde die Steuerfreiheit der grundherrschaftlichen Eigenwirtschaft aufgehoben. Durch Anlegung eines Besitzverzeichnisses – der „Fassionen“ –, getrennt nach Herren- und Bauernland, wurde es unmöglich, Bauernland einzuziehen (Bruckmüller, 2001, S. 196). Der beträchtliche Einfluss bürgerlicher Anhänger der Aufklärung im Umkreis Maria Theresias, wie etwa Gerhard van Swietens, bewirkte, dass die kirchliche Dominanz immer stärker zurückgedrängt wurde – nicht zuletzt unter Mitwirkung hoher katholischer Würdenträger, der „Reformkatholiken“. So ersetzte man die Kontrolle der Jesuiten über die Buchproduktion durch eine behördliche Zensurkommission. Die Universitäten wurden grundlegend reformiert und neue Fakultäten geschaffen. Eigene höhere Lehranstalten dienten der Ausbildung von Experten : das Theresianum für Staatsbeamte, die Militärakademie in Wiener Neustadt für Offiziere und die Orientalische Akademie für Diplomaten. Die merkantilistische Wirtschaftspolitik wurde weiter betrieben, sowohl durch Erhöhung des Zollschutzes als auch durch Subventionen und Lockerung der Zunftvorschriften. Somit lässt sich sagen, dass die erste Reformphase Maria Theresias zwischen 1740 und 1765 ökonomisch noch traditionellen Linien folgte, sie verstärkte großteils die Ansätze der Politik ihres Vaters. Auch die institutionellen Veränderungen hielten sich noch in Grenzen, wofür ihre prononcierte persönliche Religiosität, ihr Antisemitismus sowie ihre Hochschätzung der Aristokratie Beweggründe waren (Ingrao, 1994, S. 169). Eine Intensivierung der Reformanstrengungen lässt sich in den folgenden 15 Jahren ihrer Regierung feststellen. Dieser lagen nicht zuletzt auch emotionalpolitische Ursachen zugrunde. Denn es waren nicht nur ökonomische und damit staatsfinanzielle Überlegungen, welche eine stärkere Zuwendung Maria Theresias zu den unteren Schichten der Bevölkerung, insbesondere den Bauern, bewirkten. Unter dem Einfluss von Johann Heinrich Gottlob Justi (1717–1771) – dieser hielt als Erster Vorlesungen in theoretischer Nationalökonomie am Theresianum in Wien (Chaloupek, 2009B, S. 147) – und Joseph von Sonnenfels (1732–1817) legte sie ein erhöhtes Verantwortungsbewusstsein für Wohl und Wehe aller Schichten der Bevölkerung an den Tag. Zudem hatte die Monarchin nach dem Tod ihres Ehegatten die gemeinsame Regentschaft mit ihrem Sohn Joseph deklariert. Dieser, ein enragierter Aufklärer, gewann damit, trotz mancher Differenzen mit seiner Mutter, stärkeren Einfluss auf die Regierungsgeschäfte.
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Die institutionelle Revolution – Maria Theresia und Joseph II.
Zunächst änderte sich der äußere Regierungsstil : An die Stelle des spanischen Hofzeremoniells trat bürgerliche Bescheidenheit, Spiel und Jagd verschwanden ; die für solche Zwecke vorgesehenen Gründe, wie der Augarten und der Prater, wurden für das Volk geöffnet. Unter der Ägide von Kaunitz straffte und zentralisierte man den Staatsapparat neuerlich. Insbesondere für den höheren Dienst wurde eine entsprechende Ausbildung vorausgesetzt, womit Joseph II. bewusst den Staatsdienst von Aristokraten freihalten wollte. Diese Maßnahme und die nunmehr bereits ausgebildeten Beamten verliehen dem Staatswesen einen bürgerlich-aufklärerischen Charakter. Sonnenfels trug ab 1763 an der Wiener Universität als Erster Kameralwissenschaften vor und formte damit den Typus des „Josephinischen Beamten“, welcher den Staatsdienst bis ins späte 19. Jahrhundert prägen sollte. Dessen wirtschaftliche und soziale Position wurde 1781 durch das „Pensionsnormale“ abgesichert, welches diesem im Fall der Dienstunfähigkeit den Bezug einer Pension sicherstellte – eine europäische Novität ! Eine Ausweitung des Arbeitsvolumens strebte Maria Theresia durch eine Reduktion der kirchlichen Feiertage sowie dadurch an, dass sie für den Eintritt in ein Kloster ein Mindestalter von 25 Jahren fixierte. Religiöse Toleranz blieb allerdings auch weiterhin auf für die Wirtschaftsentwicklung wichtige Personen oder Gruppen beschränkt. Zu den herausragendsten Leistungen der Maria-theresianischen Reformen zählt zweifellos die Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Das 1774 in den Erblanden eingeführte Schulsystem sah in jedem Pfarrort eine Grundausbildung, die „Trivialschule“, vor, welcher in den Kreisstädten eine sekundäre „Hauptschule“ folgte. In den größeren Städten sollten „Gymnasien“ die Bürgerkinder auf die Universität vorbereiten. In „Normalschulen“ bildete man die benötigten Lehrer aus. Freilich wurde die Gelegenheit zum Schulbesuch nur teilweise in Anspruch genommen. Joseph II. versuchte, 1781 durch verschärfte Strafbestimmungen und Schulgeldbefreiungen diesem Übelstand abzuhelfen, allerdings mit mäßigem Erfolg. Ein weiterer, gewaltiger Reformschub erfolgte nach Maria Theresias Tod in der zehnjährigen Regierungszeit Josephs II. Nun setzte sich die Aufklärung in Österreich vollständig durch – freilich unter einem absoluten Monarchen. Die drastisch reduzierten Publikationsverbote ließen die Buchproduktion auf ein Vielfaches des bisherigen Umfangs anschwellen. Das Toleranzpatent garantierte Protestanten und Orthodoxen die ungehinderte Ausübung ihrer Religion. Die staatsbürgerlichen Einschränkungen für die Juden wurden weitgehend beseitigt. Auf der anderen Seite hob Joseph II. die beschaulichen Klöster auf – woran auch der Besuch des Papstes nichts zu ändern vermochte, wie er denn die
Institutionelles Catching up
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Kirche weitgehend zu einem Instrument der staatlichen Politik umformte. Die Grenzen der Pfarreien wurden nach räumlicher Zweckmäßigkeit neu gezogen, den Priestern die Standesführung mit jährlicher Berichtspflicht übertragen. Der Staat übernahm im Rahmen des Religionsfonds, welcher sich großteils aus dem Verkauf der aufgelassenen Klöster finanzierte, sowohl ihre Bezahlung als auch ihre Ausbildung. Darüber hinaus unterwarf der Monarch die gesamte Hierarchie der Kontrolle des Staates. Eine zureichende Ausbildung mit entsprechenden Prüfungen wurde auch für Richter und Anwälte eingeführt und die Bezahlung der Ersteren verbessert. Schon unter Maria Theresia begann die Phase der Rechtskodifikation sowohl im Strafals auch im Zivilrecht ; ab 1753 begannen die Arbeiten an der Neukonzeption des Strafrechts, die dann 1787 mit dem Josephinischen Strafgesetzbuch abgeschlossen wurden. Dieses statuierte die Gleichheit vor dem Gesetz und verbot die Folter. Was das Zivilrecht anbelangt, hatte ja die Rezeption des Römischen Rechts in Kontinentaleuropa schon ab dem 16. Jahrhundert eingesetzt. Dieses eignete sich seiner Struktur nach weit mehr zur Regelung kommerzieller Angelegenheiten als die diversen Landrechte. 1751 wurde daher unter der Leitung von Haugwitz eine „Kompilationskommission“ mit der Aufgabe eingesetzt, die verschiedenen Provinzialrechte in den römisch-rechtlichen Bestand einzuarbeiten. 1766 lag bereits eine solche Normensammlung vor. Ein erster Entwurf für ein Zivilgesetzbuch wurde 1786 erstellt, der schließlich 1811 zum Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) führte (Weidenholzer, 1985, S. 56). Das Verfahren erster Instanz verblieb zwar weiterhin beim Grundherrn, da jedoch nur qualifizierte Juristen dieses leiten konnten, war jener persönlich davon praktisch ausgeschlossen. Erfreuten sich die Reformen Josephs II. zunächst der Unterstützung fast aller Bevölkerungsteile, lässt sich das von seinen Bestrebungen, die Monarchie in einen zentralisierten Einheitsstaat zu verwandeln, nicht mehr sagen. Begegnete schon die Einführung des Deutschen als Amts- sowie Unterrichtssprache an höheren Schulen in den Kernländern bisweilen Schwierigkeiten, galt das in besonderem Maß für seinen Versuch, die äußeren Landesteile administrativ neu zu strukturieren, die lokalen Vertretungskörperschaften zu entmachten und durch Beamte zu ersetzen. Damit war vor allem die Aristokratie getroffen, welche zusätzlich dadurch irritiert wurde, dass Joseph II. erwog, die Abgabenbelastung der Bauern mit 30 % des Ertrags zu begrenzen. Die Verärgerungen, welche durch die Zentralisierungsversuche ausgelöst wurden, erreichten ein solches Ausmaß, dass sich die österreichischen Niederlande 1789 unabhängig erklärten. Da sich Joseph II. durch eine ungeschickte Außenpolitik auch in eine militärische Zwangslage versetzt hatte, sah er sich veranlasst, all die beschriebenen Maßnahmen zu widerrufen.
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Die institutionelle Revolution – Maria Theresia und Joseph II.
Seinem Bruder und Nachfolger Leopold II. verblieb die Aufgabe, die Lage wieder zu stabilisieren, was ihm bemerkenswert rasch gelang. Die Konzessionen an den Adel beinhalteten auch den Widerruf der Abgabenbegrenzung, doch darüber hinaus blieben die Reformen Josephs II. im Wesentlichen erhalten. Dass seine Zentralisierungsambitionen gescheitert waren, unterminierte zwar die künftigen Existenzmöglichkeiten dieses Länderkomplexes, blieb aber für die wirtschaftliche Entwicklung des Bundesgebiets ohne Belang. Alles in allem vermittelte die Epoche der Aufklärung jedoch in der Habsburgermonarchie im Allgemeinen und im heutigen Bundesgebiet im Besonderen einen gewaltigen institutionellen Aufholprozess. Hatte sich der habsburgische Länderkomplex mit der Gegenreformation aus dem nord- und westeuropäischen Kontext herausgelöst und durch Rekatholisierung sowie Refeudalisierung der südlichen Hemisphäre zugeordnet, wo dadurch die wirtschaftlichen Anreize gehemmt und das Bürgertum an den Rand gedrängt wurde, so gelang es den Monarchen der Aufklärung, diesen Prozess wieder umzukehren (Ingrao, 1994, S. 212 ; Hersche, 2006). Die politischen und konfessionellen Möglichkeiten der Bürger wurden massiv ausgeweitet. Neben der klassischen Rolle in Produktion und Handel entstanden nunmehr neue Betätigungsfelder in gehobenen Funktionen des Militärs, in der Verwaltung und Rechtsprechung, im Ausbildungs- und Erziehungswesen sowie in der Kunst. Wohl blieben die Spitzenpositionen in Armee und Regierung dem Hochadel vorbehalten, darunter jedoch wurde das Bürgertum zum Träger des modernen Staates. Sicherlich gab es auch in Österreich die weit verbreitete Tendenz, sich den adeligen Lebensformen anzupassen. Seit dem 15. Jahrhundert wurden erfolgreiche Unternehmer geadelt. Hier wären die Namen Eggenberg, Stürgkh oder Attems zu nennen. Unter Maria Theresia und Joseph II. wurde die Nobilitierung von Unternehmern sogar gezielt eingesetzt, um eine selbstbewusste soziale Schicht zu schaffen. Zwischen 1781 und 1790 entfielen 18,2 % aller Nobilitierungen auf Wirtschaftstreibende und 38 % auf Beamte (Bruckmüller, 2001, S. 167). Das angestrebte Ziel wurde freilich nicht immer erreicht, da die so Ausgezeichneten Grundherrschaften erwarben, um in den landständischen Adel aufzusteigen. Aber der Wandel zum bürgerlichen Stil dokumentierte sich auch in geänderten Lebensformen und Wertehierarchien – also neuen informellen Institutionenstrukturen. Es entstand eine literarische Kultur mit einer Flut von Büchern und Zeitschriften, welche in der Öffentlichkeit, sowohl in den Kaffeehäusern als auch in den Salons, lebhaft diskutiert wurde. Auch Vereine, vor allem die Freimaurerlogen, waren Stätten intensiver geistiger Auseinandersetzung. Gewiss brachte die Regierung Franz’ II. einen schweren Rückschlag. Doch vermochte auch sie den
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Institutionelles Catching up
Wertewandel nicht zu bremsen. Am deutlichsten lässt sich das an den Bildern des Monarchen dokumentieren, der nicht mehr nur als Feldherr auftritt, sondern als biederer Bürger im Kreis seiner Familie. Der Adel musste gewisse Beschränkungen seiner grundherrschaftlichen Rechte in Kauf nehmen. Die Erfassung des bäuerlichen sowie des herrschaftlichen Grundbesitzes durch Maria Theresia sollte nicht nur die Abgabenverpflichtung präziser einschätzen, sondern belastete erstmals auch den adeligen Grundbesitz. In die niedere Gerichtsbarkeit griff der Staat immer stärker regelnd ein. Aber auch das Leben des Klerus war – wie bereits mehrfach angedeutet – im Zeitalter der Aufklärung tiefen Eingriffen unterworfen. Das reglementierende Vorgehen des Staates schränkte die pädagogischen und politischen Wirkungsmöglichkeiten der Priesterschaft beträchtlich ein. All diese Maßnahmen zielten weniger darauf ab, die Bedeutung der Kirche zu verringern – die Zahl der Pfarren wurde sogar vergrößert –, sondern die Priester in den Mechanismus des modernen Staates einzubauen. Wiewohl sich gegen manche behördliche Maßnahme, wie etwa die Bestattung der Toten ohne Sarg, beträchtlicher Widerstand erhob, erwiesen sich diese Neuerungen als Erfolg, nicht nur durch die Bewältigung der staatlichen Aufgaben, sondern auch im kirchlichen Sinn, als es dadurch in den Pfarren zu einer engen Bindung zwischen dem niederen Klerus und der Gemeinde kam (Bruckmüller, 2001, S. 245). Freilich muss man sich in der Diskussion um die Machtverschiebungen zwischen Adel, Klerus und Bürgertum stets vor Augen halten, dass davon nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Bevölkerung betroffen war. Die große Masse der Einwohnerschaft entfiel auf Bauern, Arbeiter sowie die ländlichen Unterschichten. Übersicht 7 : Sozialstruktur der männlichen Bevölkerung des Bundesgebietes1 1790 Personen
In % von insgesamt
Kleriker
7.813
1
Aristokraten
4.478
1
Beamte, Akademiker, Honoratioren
7.570
1
Stadtbürger, ländliche Handwerker
62.258
11
Bauern
188.358
34
Kleinhäusler, Arbeiter
278.889
51
Insgesamt
549.366
100
Quelle : Dickson, 1987, Band 1, S. 444, Tabelle 3.2 ; eigene Berechnungen. – damaligen Gebietsumfang ohne Tirol, Salzburg und Burgenland.
1
Deutsche Erblande im
80
Die institutionelle Revolution – Maria Theresia und Joseph II.
Wiewohl Joseph II. in der Außenpolitik keine glückliche Hand bewies und manche europäischen Mächte gegen sich aufbrachte, ging sein Ruf als Reformer weit über die Grenzen seines Reiches hinaus. Wien entwickelte sich immer stärker zu einer internationalen Metropole, welche vor allem im kulturellen Bereich eine spezifische Ausstrahlung entwickelte. Mit der Wiener Klassik wurde ein neuer Höhepunkt des europäischen Musikschaffens erreicht. In den Endphasen der Aufklärung zählte die Habsburgermonarchie in vieler Hinsicht zu den führenden Mächten Europas : „Having weathered the turbulence caused by the opposition to Joseph II, the Habsburg Monarchy had fewer unresolved problems than at any time – either in its past or in its future. As a result it was well prepared to face the formidable military, economic, and cultural challenges of the next generation. Thanks to the industrial infrastructure in the Erblande, Lombardy, and Belgium, it was economically comparable to the continent’s other major states and was poised to enter the industrial revolution. Its intellectual life had rejoined the western-European mainstream for the first time since the advent of the Counter-Reformation. Its systems of education and justice were models for the rest of the continent. Although its political and administrative system still did not approach the ideal envisaged by Joseph II, it was far more efficient, honest, and responsive than most other European governments“ (Ingrao, 1994, S. 219).
6.2 Vom Merkantilismus zur Physiokratie
In der ersten Reformphase intensivierte Maria Theresia die merkantilistischen Ansätze ihres Vaters. Der Ausbau des „Universalkommerzes“, also der Integration des Wirtschaftsraums, sollte auch durch administrative Einrichtungen vorangetrieben werden. So wurde zunächst als beratendes Organ der „Hofkommerzienrat“ gegründet, welcher die entsprechenden Konzepte ausarbeiten sollte. Für deren Realisierung hatte das „Kommerzdirektorium“ zu sorgen, welchem auf Ebene der Erbländer „Deputationen“ unterstellt waren und auf jener der Kreise „Manufakturkollegien“. Freilich stießen die Bemühungen der Zentralstellen oft auf Schwierigkeiten, einerseits deshalb, weil die Knappheit an Mitteln den entsprechenden Ausbau der Einrichtungen behinderte und auch das qualifizierte Personal fehlte, andererseits schienen oft die kleineren regionalen Einheiten nicht gewillt, ihre Interessen zugunsten des „Universalkommerzes“ zurückzustellen (Dirninger, 1997, S. 57). Dennoch wurde die traditionelle Begünstigung der Gründung und Entwicklung von Manufakturen fortgesetzt.
Vom Merkantilismus zur Physiokratie
81
Ebenso drängte die Monarchin den Einfluss der Zünfte weiter zurück. Dieses geschah allerdings durch gänzlich neue Gewerberegelungen. Maria Theresia beschränkte sich nicht auf eine weitere Lockerung der einschlägigen Vorschriften, sondern schuf eine neue Einteilung : Zum „Polizeygewerbe“ zählten jene Unternehmen, welche Güter des täglichen lokalen Bedarfs produzierten, zum „Kommerzialgewerbe“ solche, die den überlokalen Markt versorgten. Auch gingen die Behörden in der Verleihung von Kommerzialbefugnissen möglichst liberal vor, wodurch der sozusagen „kapitalistische“ Sektor der Wirtschaft ausgeweitet wurde. Daneben existierten auch „freie“ Gewerbe, wie etwa Spinnen, Klöppeln und Ähnliches. Auch in der Geldpolitik setzte Maria Theresia neue Akzente. Um die Währung gegen die notorischen Münzverschlechterungen abzusichern, trat sie 1753 der „Bayrischen Münzkonvention“ bei, welche festlegte, dass die Vertragspartner nach dem „20-Gulden-Fuß“ zu prägen hätten, also aus einer kölnischen Mark (233,89 Gramm Feinsilber) 20 Einguldenstücke. Ein solcher Gulden erhielt die Qualifikation „Conventionsmünze“ (CM). Aus dieser Zeit stammt auch die berühmteste österreichische Münze : der Mariatheresientaler ! Das Zweiguldenstück war weit über die Grenzen der Monarchie hinaus äußerst beliebt und blieb in manchen Ländern des Nahen Ostens bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Gebrauch. In diese Phase fällt auch die Einführung des Papiergelds. Den finanziellen Nöten der Habsburger, welche sich vor allem aus den permanenten kriegerischen Verwicklungen ergaben, wurde auf verschiedene Weise begegnet. Zunächst durch von den Ständen bewilligte und eingehobene Kriegssteuern, dann durch Verkauf oder Verpfändung von Liegenschaften oder Landesteilen, ferner durch Zuschüsse oder Kredite der Hocharistokratie sowie internationaler Finanzunternehmer und schließlich durch Subsidien ausländischer Mächte. Die Schwierigkeiten, die sich in der Bedienung der Kredite, insbesondere nach dem Konkurs des Bankhauses Oppenheimer, ergaben, führten 1703 zur Gründung der ersten Bank auf Wiener Boden, der Banco del Giro. Die Aufgabe dieser staatlichen Bank bestand darin, die Staatsschuld zu übernehmen und die Gläubiger Oppenheimers durch Bankobligationen zu befriedigen. Und wiewohl der Staat ihr den Charakter einer Zwangsclearingstelle verlieh, also Anweisungen aller Art, einschließlich der Geschäftswechsel, über sie abgewickelt werden mussten, kam es bereits 1705 zum Ende ihrer Aktivitäten (Eigner, 2003, S. 222). Nach dem Misserfolg dieses ersten Versuchs gründete man den „Wiener-StadtBanco“, welchem das Publikum als Einrichtung der Stadt Wien weit höheres Vertrauen entgegenbrachte als dem Staat. Dessen primäre Aufgabe bestand darin, die Schulden der Hofkammer zu übernehmen und dafür Obligationen mit einer 15-jährigen Laufzeit und einer fünfprozentigen Verzinsung auszugeben. Zur Be-
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Die institutionelle Revolution – Maria Theresia und Joseph II.
dienung und Tilgung der Schulden erhielt das Bankhaus „Anweisungen auf bestimmte Gebühren und Abgaben“. In der Folgezeit entwickelte sich das Institut aber auch erfolgreich zu einer Depositenbank, freilich ohne Wechsel- und Kontokorrentgeschäft. 1731 erreichte der Einlagenstand bereits 51 Millionen Gulden von 90.000 Kunden (Sandgruber, 1995, S. 122). Dieser Erfolg erklärt sich daraus, dass bereits beträchtliche Kapitalien im Mittelstand vorhanden waren, für die bis dahin praktisch keine Anlagemöglichkeiten existierten : „Kapital lag bis zum 18. Jahrhundert und teilweise auch noch länger entweder – für unsere heutigen Begriffe – tot in Sparstrümpfen und Horten als Münzgeld, Edelmetall und Juwelen oder war in großen Lagern gebunden, wie dies in einer Zeit vor der großen Transportrevolution im Handel und in der Produktion üblich war oder wurde in Immobilien (Grundstücke, Häuser) angelegt, …“ (Baltzarek, 2005, S. 16). Nunmehr waren im „Wiener-Stadt-Banco“ eben neue Anlagemöglichkeiten gegeben und wurden auch genutzt. Für den Staat entstand damit eine Ausweitung seiner Kreditmöglichkeiten, überdies zu recht günstigen Bedingungen (Eigner – Wagner – Weigl, 1991, S. 922). 1762 versuchte Hofkammerpräsident Ludwig Sinzendorf, die Liquiditätsprobleme des Staates durch eine Publikumsanleihe, welche einer Geldschöpfung nahekam, zu lösen. Dazu beauftragte er das Geldinstitut, „Banco-Zettel“ im Ausmaß von 12 Millionen Gulden auszugeben. Damit sollte wieder privates Kapital mobilisiert werden. Diese Papiere trugen daher grundsätzlich den Charakter eines Schuldscheins. Sie blieben jedoch unverzinst und konnten als Zahlungsmittel verwendet werden. Die Regierung verpflichtete die Bürger dazu, ein Drittel aller Steuern und Abgaben in solchen Papieren zu leisten. Die ersten Banco-Zettel erzielten einen vollen Erfolg. Sie erfreuten sich solcher Beliebtheit, dass sie gegenüber den Silbermünzen ein Agio von 1 % bis 2 % erreichten. 1771 platzierte man erfolgreich weitere Banco-Zettel im Umfang von 12 Millionen Gulden. Durch die Gründung der Wiener Börse 1771 wurde ein weiterer Schritt zur Erschließung und Pflege des Kapitalmarkts gesetzt. Freilich beschränkte sich deren Aktivität zunächst ausschließlich auf Anleihen des Staates sowie auf den Handel mit Wechseln (Baltzarek, 1973, S. 21). Joseph II. ließ 1783 die Banco-Zettel einziehen und durch neue im Wert von 20 Millionen Gulden ersetzen. Nach Ausbruch des Türkenkriegs 1788 vermehrte die Regierung den Umlauf der Zettel um weitere 11 Millionen Gulden, diesmal ohne die Öffentlichkeit zu informieren. Freilich entstanden dadurch keine inflationären Effekte, weil in diesen Jahren schließlich das Bruttoinlandsprodukt beträchtlich gewachsen sein musste, sodass eine Ausweitung der Geldmenge der Gütervermehrung entsprach. In den späten Sechzigerjahren begannen sich die wirtschaftspolitischen Schwerpunkte zu verschieben. Sie entsprachen dem von Staatskanzler Wenzel Anton Kau-
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Vom Merkantilismus zur Physiokratie
nitz entwickelten Konzept, welches die merkantilistische Politik ablösen sollte. Er setzte drei neue Akzente : Zunächst wandte er seine Aufmerksamkeit der landwirtschaftlichen Produktion zu, die von der bisherigen Politik nicht beachtet worden war. Weiters sollte die Gründung von Handelsgesellschaften gefördert und schließlich das Zollwesen vereinfacht werden (Szabo, 1994, S. 143). Wie schon im vorigen Kapitel dargelegt, führte das Entstehen der Gutsherrschaft zu einer Ökonomisierung der Aristokratie. In ihrem Bestreben, durch Eigenwirtschaften höhere Erträge zu erzielen, kam es zu einer rationelleren Betriebsführung, vielfach zum Übergang von der reinen Dreifelderwirtschaft zum Fruchtwechsel sowie zur Differenzierung im Anbau der Feldfrüchte. Andererseits resultierte aus diesen Bemühungen auch, dass die Grundherren dazu immer höhere Robotleistungen von ihren Untertanen erzwangen, sodass diesen kaum mehr Zeit und Energie zur Bearbeitung ihrer Pachtgründe verblieb. Darüber hinaus war evident, dass die Robot eine sehr niedrige Arbeitsproduktivität bedingte. Solches lässt sich noch aus einem Vergleich geschätzter Ernteerträge um 1800 erkennen. Darin zeigt sich, dass diese in den nordwesteuropäischen Staaten weit über jenen in Mittel- und Südeuropa lagen. Besonders krass scheint der Unterschied in der Arbeitsproduktivität, welche in der Habsburgermonarchie etwa ein Drittel jener in Nordwesteuropa erreichte. Diese Werte dürften im Großen und Ganzen auch für das Bundesgebiet gegolten haben, da der alpenländischen Landwirtschaft gewiss keine Spitzenposition im Staatsverband zugekommen sein dürfte. Übersicht 8 : Geschätzte europäische Getreideerträge um 1800 Weizen
Roggen
Gerste
Hafer
Weizen
Hektoliter je Hektar
Roggen
Gerste
Hafer
Hektoliter je Arbeitskraft
England
20,3
–
29,3
32,5
11,3
–
12,7
Irland
19,9
–
31,2
32,9
–
–
–
9,0 –
Niederlande
18,9
15,4
27,7
28,8
11,2
7,5
14,2
11,1 13,2
Belgien
19,6
20,8
25,3
25,1
11,5
12,2
14,1
Frankreich
12,2
10,8
13,5
15,2
6,4
5,5
6,8
8,2
6,9
7,6
10,1
9,9
4,1
4,4
5,0
5,2
Italien
7,0
4,0
9,0
9,5
4,5
2,5
7,0
–
Deutschland
Spanien
13,7
12,5
13,5
17,0
–
–
–
–
Österreich
12,8
12,9
19,2
19,3
4,0
4,0
4,6
5,2
Schweden
–
–
–
–
6,0
5,9
5,9
5,0
Russland
–
–
–
–
3,0
3,1
3,1
3,6
Quelle : Van Zanden, 1998, S. 26.
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Die institutionelle Revolution – Maria Theresia und Joseph II.
Diese Unterschiede waren der Regierung natürlich bekannt, darüber hinaus wurde sie durch Versorgungsschwierigkeiten im Kriegsfall, aber auch durch stets wiederkehrende Hungersnöte bei Missernten mit den Unzulänglichkeiten der heimischen Produktion konfrontiert. Die von ihr eingeschlagene Politik zur Erhöhung der landwirtschaftlichen Erzeugung folgte im Wesentlichen zwei Linien. Unter dem Einfluss physiokratischer Ideen, welche ja der Landwirtschaft die zentrale Position in der Ökonomie eines Staates zuordneten, waren in Europa Ackerbaugesellschaften entstanden, welche sich die Beratung der Produzenten zur Aufgabe gestellt hatten. 1764 wurde die erste dieser Gesellschaften, die „Agrikultursozietät“ für Kärnten, ins Leben gerufen. Ihr folgten ähnliche in den anderen Kronländern. Als in den späten Achtzigerjahren, unter dem Einfluss liberaler Ideen, diesen Organisationen die staatlichen Subventionen gestrichen wurden, stellten einige davon ihre Tätigkeit ein (Tremel, 1969, S. 282). Den Reformern war allerdings klar, dass eine nachhaltige Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft nur zu erzielen wäre, wenn die rechtliche und wirtschaftliche Position der Bauern grundlegend geändert würde, dass diese aus der Situation der Leibeigenschaft in eine solche eines freien, eigenverantwortlichen und wirtschaftlich interessierten Unternehmers übergeführt werden müsste. Davon konnte unter den gegebenen Umständen überhaupt keine Rede sein, und so blieb die gesamte Regierungszeit Maria Theresias und Josephs II. durch einen permanenten Kampf um die Beschränkung der übermäßigen Robot gekennzeichnet. Mitte der Siebzigerjahre begann die Monarchin, um ein Beispiel zu geben, auf den Krongütern die Robot durch freie Dienstverträge zu ersetzen – was zu einem sprunghaften Anstieg der Arbeitsproduktivität führte. Das Robotpatent begrenzte allgemein die Arbeitsleistung der Untertanen auf drei Tage pro Woche. Das bedeutete in Ober- und Niederösterreich sowie in Tirol kein Problem, nahm jedoch einige Zeit in Anspruch, um in der Steiermark und in Kärnten durchgesetzt zu werden. Darüber hinaus wurde durch Beamte kontrolliert, ob früher bestehende Rechte der Bauern auch eingehalten würden. Auch das Leibeigenschaftsaufhebungspatent 1781 sollte die persönliche Abhängigkeit der Bauern lockern. So wurde die freie Verehelichung gegen vorhergehende Anzeige sowie freie Berufswahl ermöglicht. Andererseits sicherte man den bäuerlichen Besitz, insbesondere durch Ausweitung des Erbrechts. Auch die Obergrenze für die Robot erfuhr nunmehr eine gesetzliche Festlegung : 1772 wurden für Niederösterreich 104 Tage im Jahr fixiert, für die Steiermark jedoch 156 Tage. Darüber hinaus eröffnete man die Möglichkeit, die Robotleistung gegen Geld abzulösen (Bruckmüller, 2001, S. 206). Schließlich bestand für Einzelne, aber auch für Märkte und Dörfer die Möglichkeit, sich von der Untertänigkeit überhaupt freizukaufen.
85
Vom Merkantilismus zur Physiokratie
Davon wurde durchaus Gebrauch gemacht, etwa durch Stockerau, Gars, Aspang usw. Trotz dieser Teilerfolge blieb die gänzliche Aufhebung der Leibeigenschaft noch in weiter Ferne. Ein halbes Jahrhundert später bedurfte es einer Revolution, um diese endgültig zu Fall zu bringen. Dennoch scheinen die geschilderten wirtschaftspolitischen Maßnahmen einigen Erfolg vermittelt zu haben. Natürlich erweist sich die empirische Evidenz als äußerst kärglich und muss – so vorhanden – sehr vorsichtig interpretiert werden, doch einige Hinweise lassen sich aus den Daten doch gewinnen. In der von Sandgruber zusammengestellten österreichischen Agrarstatistik (Sandgruber, 1978) zeigt ein Vergleich der Ernteerträge nach Kronländern zwischen 1770 und 1789 bemerkenswerte Zuwächse, die von 11 % bis 78 % reichen. Lediglich Tirol und Vorarlberg fallen mit einem Rückgang aus dem Rahmen. Freilich waren diese Länder kaum von Leibeigenschaft, und damit aber auch nicht von den Reformen, betroffen. Übersicht 9 : Ernteertrag für Getreide 1770 und 1789 1770
1789 1.000 Tonnen
Veränderung in %
Niederösterreich
246,3
291,7
+ 18,4
Oberösterreich
107,8
191,7
+ 77,8
Steiermark
132,8
166,1
+ 25,1
Kärnten
56,3
62,8
+ 11,5
Tirol, Vorarlberg
71,5
42,5
– 40,6
Quelle : Sandgruber, 1978, S. 162.
Sehr viel mehr Daten liegen für den Zeitraum zwischen 1789 und 1830 vor, die durchwegs beträchtliche Zunahmen der Ernteerträge in der Größenordnung zwischen 30 % und 100 % ausweisen. Nun fällt diese Phase gewiss nicht in die Regierungszeit Maria Theresias und Josephs II. ; wenn aber in einer Periode wiederholter kriegerischer Verwicklungen ein derartig starkes Wachstum erzielt wurde, mussten zuvor die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen worden sein, und angesichts der zitierten Daten scheint es nicht unwahrscheinlich, dass auch in den vorangegangenen Jahrzehnten schon beträchtliche Produktionsfortschritte erzielt worden waren. In Parenthese sei vermerkt, dass es trotz beträchtlicher Anstrengungen der Regierung nicht gelang, in der Landwirtschaft den Anbau von Erdäpfeln zu verbreiten. Erst allmählich, unter dem Eindruck von Hungersnöten, setzte in der bäuerlichen Bevölkerung ein Umdenken ein. Faktisch entwickelte sich die Erdäpfelproduktion in größerem Umfang erst im 19. Jahrhundert (Szabo, 1994, S. 161).
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Die institutionelle Revolution – Maria Theresia und Joseph II.
Auch der Viehbestand scheint sich deutlich erhöht zu haben. Zumindest deutet die Zahl der Ochsen darauf hin. Das gilt nicht in gleichem Maß für Pferde, doch dürfte deren Bestand stärker durch militärische Erfordernisse bestimmt worden sein als durch rein ökonomische. Übersicht 10 : Ochsenbestand 1762 bis 1789 1762
1766/69
1776
1787
1789
1.000 Stück Niederösterreich
49,4
55,0
86,8
88,5
84,7
Oberösterreich
44,0
47,2
54,0
67,9
71,1
Steiermark
53,9
63,5
55,9
100,5
91,1
Kärnten
34,2
31,6
44,1
40,5
41,9
–
–
54,3
29,1
30,2
Tirol, Vorarlberg
Quelle : Sandgruber, 1978, S. 198.
Aber auch im Hinblick auf die nichtlandwirtschaftliche Produktion ging die Wirtschaftspolitik allmählich von der merkantilistischen Position ab. Kaunitz vertrat die Auffassung, dass unternehmerisches Verhalten durch Dynamik gekennzeichnet sein müsse, welches am besten durch Konkurrenz entstehe. Daher seien Subventionen ebenso abzulehnen wie Monopole oder Importverbote – abgesehen davon, dass Letztere zu Handelskriegen führten und damit die österreichischen Exporte schädigten (Szabo, 1994, S. 151). Demgegenüber vertrat Joseph II. noch den Merkantilismus Dennoch entschied sich Maria Theresia für Kaunitz und erließ 1775 eine neue Zollordnung, deren Kern die Aufhebung aller Zwischenzölle innerhalb der Erblande war. Tatsächlich scheint die allgemeine Veränderung der Institutionenstruktur sowie die Wirtschaftspolitik auch zu bemerkenswerten Resultaten im nichtlandwirtschaftlichen Sektor geführt zu haben. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts intensivierte sich die Gründung von Manufakturen, welche Baumwolle und Seide verarbeiteten, ebenso wie die Herstellung von Eisen- und Metallwaren. Der Aufschwung verstärkte sich nach Ende des Siebenjährigen Krieges, als man den Verlust Schlesiens als endgültig betrachten musste. Nunmehr konzentrierte sich die Baumwollverarbeitung auf das Wiener Becken. Diese „Feuchte Ebene“ bot dafür günstige Voraussetzungen. Nicht nur, weil genügend Wasser für die Produktion und den Antrieb vorhanden war, sondern das ausgeglichene Klima dessen Einsatz das gesamte Jahr erlaubte. Die Nähe Wiens sicherte den Absatz, und Rohbaumwolle konnte auf der Donau oder über den
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Vom Merkantilismus zur Physiokratie
Semmering zu günstigen Kosten herangeschafft werden. Das trockene Steinfeld hinwieder begünstigte die Schafwollverarbeitung (Tremel, 1969, S. 263). Aggregierte Produktionsdaten liegen für diese Periode nicht vor. Doch lässt sich aus den Beschäftigtenzahlen – bei aller Vorsicht – doch der Eindruck gewinnen, dass im späten 18. Jahrhundert eine stürmische Entwicklung des Manufakturwesens in Österreich eingesetzt habe. Bereits in den Siebzigerjahren verdoppelte sich die Beschäftigung in den niederösterreichischen Manufakturen. Nach einer Stagnation bis Mitte der Achtzigerjahre setzte sich der Zuwachs bis 1790 ungebrochen fort. Übersicht 11 : Beschäftigung in den Manufakturen Niederösterreichs 1762 bis 1790
Männliche Personen und Witwen
1762
1769
1775
1779
1783
1785
1788
1790
4.349
8.338
14.013
19.235
17.036
25.483
35.531
35.825
Weibliche Personen
15.378
27.986
22.117
41.995
77.058
91.531
125.850
146.648
Insgesamt
19.727
36.324
36.130
61.230
94.094
117.014
161.381
182.473
Quelle : Berkner, 1973, S. 154, zitiert nach Komlosy, 2006, S. 247.
Daraus lässt sich aber nicht nur die starke Produktionszunahme erschließen, sondern auch der Umstand, dass bereits ein funktionierender Arbeitsmarkt existierte, welcher in relativ kurzer Zeit ausreichend Kräfte zur Verfügung stellen konnte. Dabei ist festzuhalten, dass in den Textilmanufakturen bis zu vier Fünftel der Beschäftigten auf Frauen und Mädchen entfielen, freilich im Bereich der Hilfskräfte. Die leitenden Direktoren rekrutierten sich aus den Eigentümern oder Teilhabern, aber auch aus „Managern“. Ihnen folgten die „Werksbeamten“, also Abteilungsleiter, Buchhalter, Kassiere usw., relativ hoch qualifizierte Arbeitskräfte, welche dem städtischen Bürgertum oder Angestellten der adeligen Häuser entstammten. Darunter stand eine gleichfalls qualifizierte Arbeiterschaft, Facharbeiter mit Handwerksniveau, vor allem Gesellen, die keine Chance hatten, Meister zu werden, oder durch die relativ gute Entlohnung angelockt wurden. Die Frauen, aber auch Kinder, stellten die Hilfskräfte. Doch muss festgehalten werden, dass sich für Frauen und Mädchen dadurch umfangreiche neue außerhäusliche Arbeitsmöglichkeiten ergaben. Als Kern der Wiener Wirtschaft im engeren Sinn erwies sich im Zeitalter der Aufklärung die Seidenverarbeitung. Nach zögerlichem Beginn in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschleunigte sich die Entwicklung insbesondere in den Achtzigerjahren. Innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelte sich die Beschäftigung in diesem Manufakturzweig, um bis zur Jahrhundertwende noch einmal um 60 % zu expandieren.
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Die institutionelle Revolution – Maria Theresia und Joseph II.
Übersicht 12 : Erwerbstätige in der Wiener Seidenindustrie 1736 bis 1802 1736
1.200
1772
5.252
1784
10.278
1802
16.000
Quelle : Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 85.
Daneben fiel in Wien auch die Metallverarbeitung ins Gewicht, freilich ohne einen derartigen Aufschwung zu erleben. Im Übrigen spielten noch solche Produktionen und Leistungen eine Rolle, welche die Nachfrage der Residenzstadt, also des Hofes, der Hocharistokratie sowie der Verwaltung, befriedigten, wie etwa Papierverarbeitung, Druckereien, Porzellanmanufakturen und generell Luxusgüter (Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 88). Offensichtlich wurde auch die Eisenproduktion vom allgemeinen Wirtschaftsaufschwung erfasst. Zwischen 1750 und 1780 erhöhte sich der Ausstoß um fast 50 %. Freilich waren dafür auch die Erfordernisse der Waffenproduktion maßgebend, welche nicht von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung abhing. Im Bundesgebiet konzentrierte sich die Rüstung auf Manufakturen in Steyr, Ferlach und Wiener Neustadt. Daneben bestand eine unverändert hohe Nachfrage nach Eisen, insbesondere für die landwirtschaftlichen und häuslichen Arbeitsgeräte. Übersicht 13 : Eisenproduktion in Österreich 1550 bis 1850 Steiermark
Kärnten
Tirol
Niederösterreich
Salzburg
Insgesamt
Tonnen 1550
14.000
4.000
–
–
–
1600
–
–
–
–
–
20.000 20.000
1650
9.000
4.000
1.000
500
500
15.000
1750
14.000
–
–
–
–
20.000
1780
17.920
8.680
–
–
–
28.500
1800
17.640
9.184
–
–
1.200
30.000
1810
22.458
15.000
–
1.848
800
41.000
1830
27.799
14.957
1.511
648
1.393
46.308
1850
52.943
32.958
3.693
2.047
3.179
94.820
Quelle : Sandgruber, 1995, S. 115.
Vom Merkantilismus zur Physiokratie
89
Der dritte Schwerpunkt des Kaunitz’schen Konzepts zeitigte keinen durchschlagenden Erfolg. Die wenigsten Handelskompanien konnten sich durchsetzen. Die „Kaiserlich Privilegierte Orientalische Kompagnie“ wurde schon 1719 gegründet, musste jedoch nach anfänglichen Erfolgen 1734 Konkurs anmelden. Die 1775 vom Holländer Wilhelm Bolts gegründete „Österreichisch-Ostindische Handelskompagnie“ operierte von Triest aus, doch mit derartig geringem Erfolg, dass sie 1785 gleichfalls der Liquidation anheimfiel. Dennoch scheinen die Bemühungen Kaunitz’ nicht gänzlich verfehlt gewesen zu sein. Der Gedanke, den Export durch Handelskompanien zu fördern, wies sicherlich in die korrekte Richtung ; auch dann, wenn sich deren Aktivitäten betriebswirtschaftlich als erfolglos erwiesen. Sie trugen dazu bei, Märkte zu erschließen und organisatorische Erfahrungen zu sammeln. Tatsächlich vollzog sich im österreichischen Außenhandel nach Ende der Türkenkriege eine regionale Umschichtung auf den Balkan und in die Levante. Aber auch die Warenstruktur des Außenhandels veränderte sich. Unter Maria Theresia und Joseph II. blieben zwar Eisen und Eisenwaren sowie Salz die wichtigsten Exportgüter, doch begann sich die expandierende Textilproduktion allmählich auch auf den internationalen Märkten durchzusetzen. Das bewirkte wiederum Umschichtungen der Importe, da für letztere Erzeugnisse die Rohstoffe, also Baum- und Schafwolle, eingeführt werden mussten. Darüber hinaus spielten Luxus- sowie auch Kolonialwaren für den Import nach wie vor eine große Rolle. Insgesamt kann man also davon ausgehen, dass insbesondere im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts das heutige Bundesgebiet durch ein kräftiges Wachstum des Bruttoinlandsprodukts gekennzeichnet gewesen ist. Allerdings kam dieser Zuwachs den verschiedenen Gruppen der Bevölkerung in sehr unterschiedlicher Weise zugute. In der Landwirtschaft hatte – wie bereits ausgeführt – das Entstehen der Gutsherrschaft die Einkommenssituation der bäuerlichen Bevölkerung eher verschlechtert, da ihre Robotverpflichtungen mitunter drastisch erhöht worden waren. Dieser Umstand führte zu einer Flut von Klagen und häufig auch zu gewaltsamen Protesten. Besonders deutlich wurden diese Gegebenheiten der Regierung dadurch vor Augen geführt, dass im Zuge der Konskriptionen der schlechte physische Zustand der jungen Männer konstatiert wurde, der auf die übermäßige Robot zurückgeführt wurde (Szabo, 1994, S. 167). Allerdings kann man annehmen, dass die teilweise sehr energischen Maßnahmen, welche die Regierung ergriff, um diesen Übelstand zu bekämpfen, auch die ökonomische Situation dieser Bevölkerungsgruppe verbessert haben musste. Die Zunahme des Viehbestands könnte als Hinweis darauf gewertet werden.
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Die institutionelle Revolution – Maria Theresia und Joseph II.
Nicht eindeutig lässt sich die Situation der unselbstständigen Arbeitskräfte einschätzen. Aus den fragmentarischen Lohn- und Preisstatistiken kann man kein klares Bild gewinnen. Die explosive Zunahme an Beschäftigten, insbesondere auch der Frauen, deutet jedoch darauf hin, dass sich das Familieneinkommen beachtlich verbessert haben musste (Sandgruber, 1994, S. 183). Auch andere Quellen lassen vermuten, dass sich gegen Ende des Jahrhunderts allgemeiner Wohlstand verbreitete (Bruckmüller, 2001, S. 175). Hierbei drängt sich jedoch der Schluss auf, dass es lange Zeit neben den bürgerlichen Unternehmern vor allem Aristokraten waren, welche von der positiven Wirtschaftsentwicklung profitieren konnten.
6.3 Ein erfolgreicher Aufholprozess ?
Für die zusammenfassende ökonomische Beurteilung der Regierungsperiode Maria Theresias und Josephs II. stellt sich die Frage, ob es den Monarchen und der großen Zahl ihrer aufgeklärten Berater gelungen war, den ökonomischen Rückstand der Habsburgermonarchie gegenüber den westeuropäischen Ländern zu verringern. Die Frage ist schon deshalb schwer zu beantworten, weil empirische Daten dazu weitgehend fehlen. Angesichts ihrer Problematik sind die Angaben Maddisons in diesem Zusammenhang wenig hilfreich. Gewiss lässt sich sagen, dass die von Maria Theresia und Joseph II. vollzogenen Reformen zu einem fundamentalen Wandel der österreichischen Institutionenstruktur geführt hatten. Sie entsprach wieder jener der west- und mitteleuropäischen Staaten, sie hatte sich aus der gegenreformatorischen Stagnation gelöst. Jene Elemente, welche die Industrielle Revolution ermöglichten, waren gestärkt worden. Insbesondere gilt das für den Rechtsstaat und eine korrekte sowie effiziente Verwaltung – der „Josephinische Beamte“ wurde schließlich zu einem Begriff. Der individualistische, verantwortungsbereite, initiative, selbstbewusste und selbstreflektive Bürger hatte wieder eine zentrale Position im gesellschaftlichen Raum erreicht. Immer größere Kreise nahmen am geistigen und politischen Leben des Landes teil. Kommerzielle Gesinnung zählte zu den weitgehend akzeptierten Verhaltensweisen. Diese Entwicklung wurde durch die herausragendste Leistung dieser Epoche begünstigt, nämlich die Einführung eines wohlorganisierten, mehrgliedrigen Schulsystems, ebenso wie durch die Herauslösung der Universitäten aus dem unmittelbaren Einflussbereich der katholischen Kirche sowie deren verstärkt naturwissenschaftliche Ausrichtung. Dennoch blieben verschiedene Probleme bestehen. Nach wie vor nahm der Adel die wichtigste Position in der österreichischen Politik ein. Die Aufhebung der
Ein erfolgreicher Aufholprozess ?
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Leibeigenschaft blieb, trotz mancher Teilerfolge, nach wie vor ein Fernziel. Trotz der zunehmenden Zahl von Unternehmensgründungen und der geänderten Einstellung zu kommerzieller Tätigkeit schienen die unternehmerischen Begabungen in Österreich eher beschränkt gewesen zu sein – die Spätfolge der Vertreibung von Protestanten und Juden. Damit im Zusammenhang könnte wohl auch der Umstand zu sehen sein, dass sich das technische Denken in Österreich noch vergleichsweise wenig entwickelt hatte. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der relativ hohe Stand dieses Wissens im Bergbau kaum in die anderen Sektoren der Wirtschaft diffundiert war. Daran änderte sich auch im Zeitalter der Aufklärung nicht allzu viel. Jedenfalls nicht in dem Sinn, welcher England in dieser Epoche charakterisiert hatte. Weder existierte im heutigen Bundesgebiet eine technische Hochschule, noch gab es naturwissenschaftliche Gesellschaften wie in England. Dort war das „Gresham College“, das sich auf angewandte Wissenschaft spezialisierte, schon Ende des 16. Jahrhunderts gegründet worden, die berühmte „Royal Society for the Promotion of Natural Knowledge“ 1662. Entscheidend erwies sich jedoch die breite technikfreundliche Atmosphäre, die etwa ihren Niederschlag in der Gründung zahlreicher Mechanikerschulen fand, was letztlich dazu führte, dass die maßgeblichen Erfindungen der industriellen Frühphase allesamt von – sozusagen – Facharbeitern stammten. Diesem Mangel begegneten aber nicht nur durchschnittlich entwickelte europäische Volkswirtschaften, sondern auch führende, wie etwa Holland. Denn auch dieses Land gehörte, offenbar aus diesem Grund, keineswegs zu den Pionierstaaten der Industrialisierung. Als weitere Problemzone der österreichischen Wirtschaft im Zeitalter der Aufklärung wird man den Kapitalmarkt bezeichnen müssen. Nun trifft zwar zu, dass der Kapitalbedarf der Unternehmen in der protoindustriellen Ära noch relativ gering war und mehrheitlich aus dem Cash flow bestritten werden konnte. Ja noch mehr, in einer handwerklich strukturierten Wirtschaft galten Schulden als etwas Unehrenhaftes, aber mit der Errichtung größerer Manufakturen entstand doch ein größerer Bedarf an Unternehmenskapital (Chaloupek et al., 2003, S. 115). Das Angebot auf diesem Markt wurde jedoch während dieser Periode fast zur Gänze vom Staat in Anspruch genommen. Die Zahl der Banken hielt sich in sehr engen Grenzen ; diese waren, ebenso wie die Börse, darauf ausgerichtet, dem Staat Mittel für seine militärischen Aktivitäten zur Verfügung zu stellen oder der Hocharistokratie für Konsumzwecke. Auch privates Kapital, das durch Beteiligung die Gründung oder die Expansion von Unternehmen hätte alimentieren können, erwies sich als unzureichend – anders wäre die permanente Klage über Kapitalknappheit nicht zu erklären.
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Die institutionelle Revolution – Maria Theresia und Joseph II.
Über einige Mittel verfügte der Handel, welcher diese auch den Unternehmen zukommen ließ, jedoch vor allem solchen, deren Produkte die Kaufleute vertrieben, also beispielsweise Eisenerzeugung und -verarbeitung. Neue Unternehmen fanden selten ausreichende Unterstützung. Zwar sprang hier immer wieder der Staat ein. So wandte die Regierung für solche Zwecke etwa 1785 679.000 Gulden auf (Freudenberger, 2001, S. 128). Auch die Werbung ausländischer Investoren konnte jedoch die privaten inländischen Geldgeber nicht ersetzen. Es war die 1787, also vergleichsweise spät, gegründete „k. k. oktroyierte Wiener Commerzial-, Leih- und Wechselbank“, welche sich der Unternehmensfinanzierung in größerem Umfang zuwandte. Als bemerkenswert an diesem Institut erwies sich auch das intensive Engagement der Hocharistokratie, wie etwa Josephs II. zu Schwarzenberg oder Franz Gundakar Colloredos, was ihr die Kurzbezeichnung „Schwarzenbergbank“ eintrug. Ihr Tätigkeitsbereich erstreckte sich auf das Handels-, Depositen- und Wechselgeschäft sowie auf die Gewährung von Hypothekarund Lombardkrediten. Zwar lag der Schwerpunkt ihrer Aktivitäten im Wechselgeschäft, für die Unternehmensfinanzierung erwiesen sich jedoch die Lombardkredite am wichtigsten (Matis, 2007, S. 127). Die Bank agierte nicht sehr glücklich, sie musste letztlich 1811 im Zusammenhang mit der internen Abwertung Konkurs anmelden, gewann aber damit historische Bedeutung, dass sie 1801 den ersten österreichischen Fabriksbetrieb, die Pottendorfer Spinnerei, finanzierte. Damit im Zusammenhang steht auch die Problematik der öffentlichen Finanzen. Wie schon im Vorstehenden mehrfach bemerkt, konnten die Mittel für die Kriegführung nur unter größten Schwierigkeiten aufgebracht werden. Diesbezüglich hatte sich auch in der Regierungsperiode Maria Theresias und Josephs II. nichts Grundlegendes geändert, umso weniger, weil diese Monarchen den Umfang des stehenden Heeres beträchtlich ausweiteten. Bei Regierungsantritt der Ersteren standen in der Monarchie 145.000 Mann unter Waffen. In den Neunzigerjahren überstieg ihr Stand bereits 300.000 (Dickson, 1987, Appendix A). Für die Kriegsfinanzierung spielten neben den anderen Quellen die Steuern eine zentrale Rolle : Sie wurden während der Kampfhandlungen signifikant erhöht. Zu diesem Zweck nutzte man alle Möglichkeiten, welche von Konsumsteuern über Einkommensteuern, Grundsteuern, Kopfsteuern, Erbschaftsteuern bis zu spezifischen Kriegssteuern reichten. Aber auch nach Ende des Siebenjährigen Krieges erwies sich die Sanierung des Staatshaushalts als ein Problem. Auch wenn es gelang, das laufende Budget für die Friedensjahre mehr oder minder auszugleichen, blieb der Schuldenstand hoch. Er erreichte für die gesamte Monarchie 1763, am Ende des Siebenjährigen
Ein erfolgreicher Aufholprozess ?
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Krieges, 284,963.000 Gulden. Dem standen im selben Jahr Einkünfte in der Höhe von 35,152.800 Gulden gegenüber. Diese Einnahmen konnten zwar bis 1782 auf 55,177.000 Gulden erhöht werden, ohne dass sich jedoch der Schuldenstand verringerte, da 1778 der Bayrische Erbfolgekrieg neuerliche Zusatzbelastungen erzeugte. 1781 erreichte der Schuldenstand 291,864.900 Gulden (Dickson, 1987, S. 378, Tabelle 2.6 ; S. 379, Tabelle 3.1). Der Beitrag des heutigen Bundesgebiets zum Steueraufkommen der Monarchie dürfte sich in der Größenordnung von 35 % bewegt haben (Dickson, 1987, S. 380, Tabelle 3.7). Daraus folgt aber doch, selbst wenn man die beredten Klagen der Zeitgenossen nicht zum vollen Nennwert nimmt, dass insbesondere während der Kriege die Steuerbelastung der Bevölkerung außerordentlich gewesen sein muss. Das galt natürlich in erster Linie für die bäuerlichen Untertanen, schloss jedoch auch die Bürger und letztlich auch die Aristokratie ein. Wie immer, die gegebene Knappheit der Mittel musste die Infrastrukturausgaben der öffentlichen Hand ebenso beschränken wie ihre wirtschaftsfördernden Ambitionen. Gewiss aber dämpfte die hohe Steuerbelastung auch die ökonomische Aktivität der Wirtschaftssubjekte. Daraus ließe sich aber der Schluss ziehen, dass sich das Wirtschaftswachstum im heutigen Bundesgebiet in den ersten 20 Jahren der Regierungszeit Maria Theresias noch in Grenzen gehalten haben muss. Erst ab Mitte der Siebzigerjahre, als die Reformen ihre volle Wirkung erreicht hatten und der Steuerdruck allmählich nachließ, dürfte die wirtschaftliche Expansion voll in Gang gekommen sein, worauf schließlich auch die – wenigen – Daten hinweisen. Zwar entwickelte sich der internationale Handel im heutigen Bundesgebiet durchaus zufriedenstellend, doch blieb er im Volumen sowie in der Struktur und Organisation weit hinter jenem Englands und Hollands zurück – man denke nur an deren gewaltige ostindische Handelskompanien – und konnte daher auch nicht annähernd im gleichen Ausmaß als Träger der Kapitalakkumulation fungieren. All diese Überlegungen führen dennoch zu dem Resultat, dass die Politik Maria Theresias und Josephs II. außerordentliche Erfolge erzielte. Die Institutionenstruktur, die politische und rechtliche Organisation sowie das Bildungswesen der Erblande wurden fundamental erneuert, auf den westeuropäischen – protestantischen – Standard gehoben, ja in manchem darüber hinaus. Insofern scheint die Aussage Szabos gerechtfertigt : „By the 1780s the Habsburg Monarchy had become the locus of the boldest and most ambitious innovations in Europe“ (Szabo, 1994, S. 5). Auch ökonomisch erzielte das Regime – soweit sich aus den wenigen statistischen Daten ablesen lässt – bemerkenswerte Erfolge. Diese mussten sich jedoch in den gegebenen geografischen und historischen Grenzen halten. Damit ist gesagt, dass das Einkommensniveau im heutigen Bundesgebiet das mitteleuropäi-
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Die institutionelle Revolution – Maria Theresia und Joseph II.
sche, wahrscheinlich zuletzt auch das französische, erreicht, ja auch übertroffen haben dürfte – wobei die Region von der Residenzstadt Wien profitierte. Sicherlich blieb jedoch ein deutlicher Abstand gegenüber den führenden westeuropäischen Staaten Holland und England bestehen. Österreich zählte gewiss nicht zu den Pionieren der Industriellen Revolution, die ja um diese Zeit bereits in letzterem Land eingesetzt hatte.
7. Der Entwicklungsbruch
7.1 Politische Stagnation
Wenn hier der relativ kurzen Zeitspanne zwischen 1792, dem Regierungsantritt Franz’ II., und 1815, dem Wiener Kongress, ein eigenes Kapitel gewidmet wird, dann aus dem Grund, weil sich in dieser Periode in vieler Hinsicht ein Entwicklungsbruch vollzog. Das gilt zunächst für den politisch-institutionellen Bereich. Hatte die Habsburgermonarchie unter Maria Theresia und, noch mehr, unter Joseph II. als eine Speerspitze der Aufklärung gegolten, so fand diese Entwicklung nach dem Tod Leopolds II. ein relativ abruptes Ende und wurde durch eine gegenteilige Position ersetzt ; die Monarchie entwickelte sich zum europäischen Zentrum eines spätfeudalen Absolutismus, der eigentlich die politische Entwicklung des Landes bis an sein Ende bestimmen sollte. Den zweiten Bruch verursachten die Napoleonischen Kriege. Das relativ friedliche letzte Drittel des 18. Jahrhunderts ging zu Ende und wurde durch ein jahrelanges militärisches Engagement des Staates ersetzt. Die Konsequenzen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes scheinen allerdings sehr unterschiedlich gewesen zu sein. Zunächst überwogen offenbar die Effekte der zusätzlichen öffentlichen Nachfrage, im späteren Verlauf des Krieges dürften die aus der Kriegsfinanzierung erwachsenen Probleme letztlich zu einschneidenden wirtschaftlichen Konsequenzen geführt haben. Doch gewann diese Epoche aber auch deshalb große Bedeutung, weil trotz der genannten Schwierigkeiten gerade um diese Zeit im heutigen Bundesgebiet die Industrialisierung begann, also die Ablösung des Verlagswesens und der Manufakturen durch die Fabrik, durch den Einsatz von Maschinen. Selbst unter Joseph II., dem Vorkämpfer der Aufklärung, traten am Ende seiner Herrschaft stärker deren absolutistische Züge hervor, vor allem deshalb, weil der Widerstand gegen seine Reformen immer stärker spürbar wurde. Dieser resultierte oft aus seiner Regelungsmanie und seinem Bestreben, alles ihm irrational Erscheinende zu beseitigen. Solches manifestierte sich beispielsweise in seinem Versuch, die ländliche Sakralarchitektur zu zerstören. Die dadurch entstehende aufrührerische Stimmung versuchte er, durch Aufbau einer Geheimpolizei – unter der Leitung von Johann Anton Pergen – zu kontrollieren, und zwar durch Aktivitäten,
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Der Entwicklungsbruch
welche den Rechtsstaat durchaus infrage stellten. Erstmals wurden auch wieder Zeitungen verboten und die Lehrfreiheit eingeschränkt. Zwar nahm Leopold II. viele dieser Maßnahmen wieder zurück, welche jedoch unter dessen Sohn, Franz II., verstärkt wieder eingesetzt wurden. Dieser trat 24-jährig die Regierung zur Zeit der Französischen Revolution an. Mochte er zunächst auch unter dem Einfluss aufklärerischer Ideen gestanden sein, änderte sich seine Position nach dieser politischen Erschütterung grundlegend. Diese wurde in weiten Kreisen eben auf die Gedanken der Aufklärung zurückgeführt, und obwohl gerade durch das Wirken Maria Theresias und Josephs II. kaum Ansätze revolutionärer Ambitionen in der Habsburgermonarchie existierten, ging Franz II. nunmehr massiv gegen alle liberalen Tendenzen vor. Der „aufgeklärte Absolutismus“ wurde durch einen Polizeistaat ersetzt : „The French Revolution was nothing short of a catastrophe for the Monarchy, not because it was ideologically hostile to the Habsburg State, but because it unleashed hugely powerful aggressive forces that prompted much of the monarchy’s ruling elite to cast off Enlightenment values that now became linked to the French enemy in favor of reassuring safety of an outmoded feudal order“ (Ingrao, 1994, S. 220). Die Aufklärer wurden aus allen entscheidenden Positionen entfernt und die Freimaurerlogen verboten. Die intellektuelle Diskussion erstarb. Die Zensur erlebte nicht nur in vollem Ausmaß ihre Wiederkehr, ihr wurde sogar die Aufgabe übertragen, die Publikationen der vergangenen Jahre zu überprüfen und gegebenenfalls ex post zu verbieten. Die Geheimpolizei unter Pergen wurde wieder installiert. Ihr oblag in stärkerem Maß als je zuvor die Aufgabe, die Gedanken der Bürger zu kontrollieren. Der neue Kaiser stützte sich wieder vorwiegend auf Adel und Kirche. Diese Entwicklung sowie die Vorbereitungen für einen Krieg gegen Frankreich veranlassten den wichtigsten Träger einer Politik der Aufklärung in der Habsburgermonarchie, Kaunitz, zurückzutreten. Eine scheinbare Rechtfertigung erfuhr ein solches Vorgehen durch die „Jakobinerverschwörung“. Nun handelte es sich bei den meisten ihrer Teilnehmer – zumindest im Bereich der deutschen Erblande – um Aufklärer, die wähnten, im Sinn Leopolds II. zu handeln. Sie kamen denn auch mit mäßigen Strafen davon. Nur ein Leutnant Hebenstreit dürfte tatsächlich Gewalt ins Auge gefasst haben, was ein Militärgericht mit der Todesstrafe ahndete. Jedenfalls gab dieser Prozess Anlass zu noch stärkeren Zwangsmaßnahmen. Nun war es gewiss nicht möglich, die Sozialstruktur des Landes grundlegend zu ändern, das Bürgertum hatte in Wirtschaft, Verwaltung, Rechtsprechung sowie im Unterrichtswesen eine nicht zu erschütternde Position eingenommen. Wohl aber entstand die Ambition, eine neue Institutionenstruktur zu schaffen. Deren Träger,
Die Folgen des Krieges
97
Adel und Kirche, unternahmen alles, um das Feudalsystem sowie den uneingeschränkten Absolutismus ideologisch zu untermauern. Auf diese Weise entstanden zwei konkurrierende Institutionenstrukturen : die offizielle, spätfeudalistische sowie die unterdrückte, geheime, aber für die Mehrheit der Bevölkerung relevante, bürgerlich-liberale. Doch scheint es evident, dass unter diesen Umständen die Monarchie nicht mehr ein Zentrum innovativen Denkens in der Politik und den Geisteswissenschaften sein konnte. Freilich, das sei einschränkend hinzugefügt, galt diese Stagnation weder für den wirtschaftlichen noch für den naturwissenschaftlich-technischen Bereich. Nicht nur blieb verständlicherweise das Interesse an einer befriedigenden ökonomischen Entwicklung ungebrochen, die Wirtschaftspolitik verfolgte weiterhin, unter dem Einfluss der Physiokraten, eine liberale Linie. Auch der Versuch von Franz II., Unternehmensgründungen im Wiener Raum zu verhindern, scheiterte letztlich. Charakteristisch für diese Situation erwies sich der Widerstand, welchen die liberale Bürokratie dieser Anordnung des Kaisers entgegensetzte. So wurde das „Allerhöchste Kabinettschreiben“ vom 22. Februar 1802, das die Weisung „… die Errichtung von Fabriken in Wien und in den Vorstädten gänzlich einzustellen …“ enthielt, von der Hofstelle nicht akzeptiert. Der zuständige Referent – und spätere Präsident der Hofkammer, also Finanzminister –, Joseph Franz Stanislaus Herberstein-Moltke, legte in einem ausführlichen Vortrag die Nachteile einer solchen Vorgangsweise dar. Hierbei bediente er sich differenzierter regionalökonomischer Überlegungen. Nach einigem Hin und Her gab Franz II. seine diesbezüglichen Bemühungen auf (Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 180). Desgleichen förderte man nach Möglichkeit die technische Entwicklung. Dies fand seinen Niederschlag auch darin, dass die technisch-naturwissenschaftliche Ausbildung unterstützt wurde, unter anderem 1809 durch Gründung einer Realschule in Wien sowie 1815 durch ein polytechnisches Institut, die spätere Technische Hochschule (Sandgruber, 1995, S. 153).
7.2 Die Folgen des Krieges
Die Habsburgermonarchie engagierte sich am intensivsten in der militärischen Auseinandersetzung mit dem revolutionären und nachrevolutionären Frankreich. In der relativ kurzen Zeitspanne zwischen 1792 und 1815 führte das Land fünf Kriege, welche dazu führten, dass die Monarchie, zumindest zeitweilig, die Hälfte ihres Staatsgebiets einbüßte. Die Auswirkungen der Kriege erwiesen sich jedoch als durchaus ambivalent.
98
Der Entwicklungsbruch
Zunächst hielten sich die unmittelbaren Kriegsschäden in Grenzen, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Armeen dieser Zeit einigermaßen diszipliniert erwiesen. Weiters brachte die Kriegführung eine massive Nachfrageausweitung für den gesamten Armeebedarf, welcher die Wirtschaft des Landes stimulierte. Schließlich bedeutete die französische Kontinentalsperre zwar einerseits die Unmöglichkeit, aus England zu importieren, auf der anderen den Schutz der heimischen Industrie gegen billige Importe und überdies die Möglichkeit, Substitutionsprodukte zu entwickeln, wie die notorische Zuckerrübe : „Negative Kriegsfolgen, wie der Entzug von Arbeitskräften, unproduktive Ressourcenverwendung, Steuererhöhungen und zunehmende Unsicherheit künftiger Ertragsaussichten kamen vorerst weniger stark zum Tragen“ (Chaloupek et al., 2003, S. 161). Der kritische Punkt blieb die Kriegsfinanzierung und deren Folgen. Schon in den vorangegangenen Kapiteln ist darauf hingewiesen worden, dass die Habsburgermonarchie kaum je in der Lage gewesen war, in befriedigendem Maß die Mittel zur Kriegsfinanzierung aufzubringen. So auch dieses Mal, wiewohl wieder ausländische Subsidien zur Verfügung standen. Daher suchte die Regierung, neben der Aufnahme in- und ausländischer Kredite, ihr Heil in der Geldschöpfung. Die Ausgabe der Banco-Zettel durch den Wiener Stadt-Banco hatte sich in den vorangegangenen Jahrzehnten bewährt – auch als Mittel der Kriegsfinanzierung. Da die Wirtschaft der Monarchie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts offensichtlich kräftig gewachsen war, konnte eine Ausweitung der Geldmenge zu keinen inflationären Effekten führen. Solches war offensichtlich bis 1805 auch der Fall. Dies lässt sich am Agio der Conventionsmünze gegenüber den Banco-Zetteln ablesen, das ja als Inflationsindikator gewertet werden kann. 1800 betrug das Agio 15 % ; erst nach dem genannten Zeitpunkt begann es dramatisch zu steigen. Im März 1811 erreichte es 824 %. Diese Entwicklung lässt sich durch das Volumen der Geldmenge erhärten. Betrug der Banco-Zettel-Umlauf 1796 noch 44 Millionen Gulden, lag er 1810 bereits bei 1 Milliarde Gulden. Schon 1797 hatte die Finanzkasse die Einlösung des Papiergelds in Münzen eingestellt, und 1800 wurde der Annahmezwang für Banco-Zettel auch im privaten Geldverkehr dekretiert. Angesichts einer galoppierenden Inflation beugte sich Franz II. den Überlegungen des Hofkammerpräsidenten, Josef Wallis, und unterzeichnete das sogenannte „Devalvationspatent“, wodurch der Banco-Zettel im Verhältnis 5 : 1 abgewertet wurde. Die neuen „Einlösungsscheine“ erhielten den Namen „Wiener Währung“. Als Begleitmaßnahme halbierte man den Zinssatz der Staatsobligationen. Die für diese Maßnahmen eingebürgerte Bezeichnung „Staatsbankrott“ trifft eigentlich nicht zu, denn die Staatsschulden blieben nominell unverändert aufrecht,
99
Die Folgen des Krieges
Abbildung 1 : Agio der Banco-Zettel gegenüber der Conventionsmünze
400 350 300 250 200 150
1810
1809
1808
1807
1806
1805
1804
1803
1802
1801
1800
1799
1798
1797
1796
100
Quelle : Pribram, 1938, S. 54.
lediglich ihre Zinsen wurden halbiert. Die massive interne Abwertung traf die privaten Gläubiger und Einkommensempfänger. Es scheint, als ob die Währung durch diese Reduktion der Geldmenge mehr oder minder stabilisiert werden konnte, wiewohl in der nächsten Kriegsphase neuerdings Papiergeld ausgegeben wurde – die „Antizipationsscheine“. Von der monetären Entwicklung dürften also bis Mitte des ersten Jahrzehnts eher expansive Impulse ausgegangen sein ; sie begünstigten sowohl die Landwirtschaft als auch den produzierenden Sektor, die exportierenden Unternehmen überdies durch den sinkenden Wechselkurs. Die Bevölkerungsteile mit festem Einkommen hatten allerdings schon relativ früh Einschränkungen ihrer Kaufkraft hinzunehmen. Erst die galoppierende Inflation und damit der Zusammenbruch des Geldwesens mussten sich auf die Wirtschaftsentwicklung nachteilig auswirken. Die Regelung der Schuldenzahlung bevorzugte die Gläubiger : „Die meisten Verluste betrafen jene Geschäftsleute, die sich am stärksten an Termin- und Devisenspekulationen beteiligt hatten, also die Wechsler und Bankiers, die Großhändler und die Importund Exporthändler“ (Chaloupek et al., 2003, S. 164). Die Währungssanierung entwickelte sich also zu einer veritablen Stabilisierungskrise.
ABB1
100
Der Entwicklungsbruch
7.3 Die ersten Fabriken
Der ambivalente Einfluss des Krieges auf die Wirtschaft der Monarchie im Allgemeinen und jener des heutigen Bundesgebiets im Besonderen lässt sich auch daran erkennen, dass gerade in dieser Phase die Industrialisierung Österreichs einsetzte. Exemplarischen, geradezu symbolhaften Charakter erlangte hierbei die Gründung der Pottendorfer Baumwollspinnerei, der „k. k. priv. Pottendorfer GarnmanufakturGesellschaft“ 1801. Das trifft nicht nur deshalb zu, weil sie den ersten Fabriksbetrieb im Bundesgebiet darstellte, also Produktion unter Einsatz von Maschinen, sondern weil sich in ihrer Gründung die typische Vorgangsweise der frühen Industrialisierung in Österreich ablesen lässt. Zunächst ist die Bezeichnung „erste Fabrik“ dahin zu qualifizieren, als man vom ersten und erfolgreichen Großbetrieb sprechen muss. Denn einige Versuche waren schon in kleinerem Maßstab und an anderen Orten unternommen worden, die zumeist erfolglos blieben (Matis, 2007, S. 151). Dann jedoch ist zu sagen, dass die Gründung deutlich die Gegebenheiten um die Jahrhundertwende widerspiegelt. Die meisten westeuropäischen Länder hatten die Bedeutung der Industriellen Revolution in England sehr wohl erfasst und die Vorteile gesehen, welche die maschinelle Produktion bot. Deren Übernahme wurde jedoch dadurch behindert, dass dieses Land den Transfer des technischen Wissens sowie auch die Abwanderung von Fachkräften, also von Mechanikern, untersagte und mit drakonischen Strafen bedrohte. Beide Verbote wurden massiv umgangen ; selbst die diplomatischen Vertretungen setzte man zur Industriespionage und Abwerbung von Fachkräften ein. Überdies begaben sich solche auch spontan auf den Kontinent, um ihre Kenntnisse und ihre Arbeitskraft den Interessenten anzubieten. Am Anfang des Pottendorfer Projekts stand die bereits im vorigen Kapitel erwähnte „k. k. oktroyierte Wiener Commerzial-, Leih- und Wechselbank“. Sie beauftragte einen Agenten, im Ausland nicht nur Geschäftskontakte anzubahnen, sondern einen allfälligen Transfer von Know-how aus England zu organisieren. Nach einiger Zeit und über manche Mittelsmänner gelang es schließlich, den Kontakt mit dem englischen Mechaniker John Thornton herzustellen, der schon spontan nach Hamburg gereist war, um auf dem Kontinent sein Glück zu versuchen. Mit diesem kam schließlich ein Vertrag zustande, nach welchem er sich verpflichtete, eine Baumwollspinnerei nach englischem Muster in Pottendorf zu errichten und zu betreiben. Die Wahl der Bank erwies sich als außerordentlich glücklich. Thornton demonstrierte nicht nur bemerkenswerte technische Kompetenz,
Die ersten FolgenFabriken des Krieges
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sondern ebensolche kaufmännische. Der Betrieb wurde durch ihn, zusammen mit weiteren englischen Facharbeitern, sowie selbst konstruierten Maschinen in Gang gesetzt und erwuchs zu einem Unternehmen, das schließlich 1.800 Arbeitskräfte beschäftigte. Die Schwarzenbergbank zog sich nach den ersten Jahren aus dem Projekt zurück und überließ die weitere Finanzierung den Aktionären. Thornton führte den Betrieb mit außerordentlichem Erfolg 40 Jahre hindurch. Bereits nach dem zehnten Jahr wurde er nobilitiert. Mit dem Erfolg der Pottendorfer Spinnerei schien der Damm gebrochen zu sein, denn es folgten in kurzen Abständen weitere Gründungen von Baumwollspinnereien in Niederösterreich. So in Bruck an der Leitha, Klosterneuburg und Schwadorf 1802, Teesdorf 1803, Liesing 1805, Fischamend 1809, Neusteinhof und Schönau 1810, Sollenau 1812, Ebergassing und Neunkirchen 1813 sowie Steinabrückl 1814 (Tremel, 1969, S. 286). Darüber hinaus gab es noch eine Reihe von Unternehmensgründungen in dieser Periode, die zwar auf eine günstige Wirtschaftslage hinweisen, nicht jedoch unbedingt als moderne Fabriken bezeichnet werden können, wie beispielsweise die 1804 aufgenommene Erzeugung von Graphitbleistiften durch den Erfinder Joseph Hardtmuth. Die Textilproduktion entwickelte sich zur führenden Branche des industriellen Wachstums im heutigen Bundesgebiet. Hier gelangten in großem Stil Maschinen zum Einsatz – wenngleich das Wasser weiterhin die Antriebsenergie vermittelte. Die Herstellung von Eisen und Stahl, der zweite Leitsektor in England, spielte eine solche Rolle in Österreich nicht, obwohl diese Erzeugung während der vorindustriellen Zeit zur europäischen Spitze gezählt hatte. Sie verblieb nämlich noch bei den traditionellen Produktionsmethoden. Nur in Kärnten wurden, gleichfalls mit englischer Hilfe, erstmals zwei Blechwalzwerke eingerichtet. Zusammenfassend wird man sagen können, dass diese Periode ein sehr differenziertes Bild darbietet. Trotz der Belastungen durch die permanenten Kriege scheint sich die Wirtschaft im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts günstig entwickelt zu haben, anders ist der Industrialisierungsschub während der Jahre nicht zu verstehen. Offenbar schlug zunächst die zusätzliche militärische Nachfrage durch und die Kriegszerstörungen hielten sich in Grenzen. Die Kontinentalsperre vermittelte einen Schutz vor der englischen Konkurrenz und ließ Substitutionserzeugungen entstehen. Zwar legte sich der Druck des Polizeistaats über das öffentliche – und teilweise auch über das private – Leben des Landes, erfasste aber nicht alle Bereiche. Die Wirtschaftspolitik folgte eher einer liberalen Linie, und das technische Wissen wurde intensiv gefördert. Erst die galoppierende Inflation lähmte offenbar das Wirtschaftsleben in der Monarchie. Jedenfalls kam der lebhafte Gründungs-
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Der Entwicklungsbruch
schub erst in den letzten Jahren vor dem Wiener Kongress 1815 ziemlich abrupt zum Stehen. Damit waren gerade während der Napoleonischen Kriege in Österreich Entscheidungen gefallen oder hatten sich Entwicklungen angebahnt, welche nicht nur mittelfristig, sondern sogar langfristig die politische und damit institutionelle sowie ökonomische Entwicklung der Habsburgermonarchie sowie des heutigen Bundesgebiets bestimmen sollten.
8. Industrialisierung im Biedermeier
8.1 Die Ära der Restauration
Die als „Vormärz“ bezeichnete Periode zwischen dem Wiener Kongress 1815 und der Revolution des Jahres 1848 blieb in der Habsburgermonarchie durch eine Vielzahl von – auch widersprüchlichen – Entwicklungen gekennzeichnet. In einem beträchtlichen Ausmaß waren diese mit dem Namen Clemens Wenzel Lothar Metternich verbunden. Zunächst im diplomatischen Dienst tätig, 1805 als Gesandter in Paris, übernahm er 1809 das Außenministerium und bestimmte ab 1821 als Haus-, Hofund Staatskanzler weitestgehend die gesamte Politik der Habsburgermonarchie. Diese hatte als Folge des letztlich siegreichen Krieges gegen Napoleon ihre Großmachtposition verfestigt, wodurch sie nicht nur die führende Rolle im Deutschen Bund erlangte, sondern in hohem Maß die gesamte europäische Politik bestimmte. Deren Konzeption wurde von Metternich formuliert. Sie beruhte auf dem Prinzip der „Legitimität“, also darauf, dass die Herrschaft in den Staaten absolut sei und nur dem legitimen Monarchen zustünde. Konsequenterweise mussten alle politischen Strömungen, welche dieses Prinzip infrage stellten, sei es Liberalismus oder Nationalismus, mit Gewalt unterdrückt werden. Zur Verwirklichung dieser Konzeption schlossen sich die europäischen Mächte zur „Heiligen Allianz“ zusammen. Tatsächlich versuchten diese Staaten nicht nur, im Inneren jenes Prinzip zu realisieren, sondern es kam auch, wenn dafür Gefahr drohte, zu Interventionen in anderen Ländern, wie etwa in Spanien. Dieses System erwies sich zunächst als erfolgreich, erst in den späten Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts begannen sich insbesondere England und Frankreich davon zu absentieren. Endgültig zog sich Frankreich nach der Revolution von 1830 zurück. Es liegt auf der Hand, dass Metternich als Schöpfer des Legitimismus dafür sorgte, dass dieser im eigenen Land rigoros durchgesetzt wurde. Das begann im Kaiserhaus, als man dessen Mitglieder, welche liberaler Ideen verdächtig waren, wie die Erzherzöge Carl und Johann, politisch kaltstellte. Das Polizei- und Spitzelwesen wurde massiv ausgebaut. Vereine, welche auch nur in entfernten Verdacht gerieten, politische Diskussionen zuzulassen, wurden allesamt verboten – selbstverständlich auch die Freimaurerlogen – und die Universitäten scharf kontrolliert. Wiewohl das Regime grundsätzlich kirchenfreundlich eingestellt war, unterdrückte
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Industrialisierung im Biedermeier
es gleichwohl die katholischen Reformbewegungen. Der Theologe Bernhard Bolzano verlor deshalb seinen Lehrstuhl an der Prager Universität. Freilich blieb das gesamte System in das österreichische Ambiente eingebettet. Dieses beschrieb ein zeitgenössischer Beobachter, der deutsche Schriftsteller Willibald Alexis, am Beispiel der Zensur : „De jure ist Alles verboten und de facto Alles erlaubt. Dieser Defacto-Zustand hat sogar schon einen gewissermaßen gesetzlichen Anstrich. Man rühmt es Dir, daß die allergefährlichsten und verbotensten Schriften in Aller Händen sind, wie denn wirklich, wer in Wien etwas lesen will, es auch lesen kann. Denn weit davon ist das Gubernium entfernt, um eine Erkenntniß zu unterdrücken, ein Ketzergericht anzustellen und Bücher zu verbrennen. Es weiß sehr wohl, daß man im 19. Jahrhundert eine Idee nicht mehr vernichtet und lacht im Stillen über die Länder, die im Glauben, das ginge noch, es ihm im Buchstaben nachthun wollen. Darum läßt es zu, was nicht zu ändern geht, und sorgt nur dafür, daß sie nicht weiter verbreitet wird, als unumgänglich ist“ (Alexis, 1833, S. 377). 1835 starb Franz I. Das Legitimitätsprinzip verlangte es, dass sein ältester Sohn die Nachfolge antrat. Da dieser teilweise behindert und daher zur Ausübung der Herrschaft nicht geeignet schien, wurde eine „Staatskonferenz“ etabliert, welche die Regierungsfunktionen ausüben sollte und in der abermals Metternich eine wichtige Rolle spielte. Abgesehen von der Organisation des Polizeistaats kam es im Vormärz kaum zu sinnvollen Reformen der Staatstätigkeit ; im Gegenteil. Franz I. versuchte, einen möglichst großen Teil der Verwaltungsakte persönlich zu erledigen, was angesichts der stets steigenden Agenden eines entwickelten Staates rein physisch unmöglich war. Dadurch ergaben sich massive Verzögerungen der Verwaltungstätigkeit. Diese Schwierigkeit erledigte sich zwar nach seinem Tod automatisch, doch gingen von der Staatskonferenz gleichfalls keine irgendwie gearteten Impulse aus. Aber auch die Aktivitäten der Wirtschaftspolitik dieser Periode hielten sich in engen Grenzen. Zwei drängende Probleme, wie die Außenhandelspolitik oder die Schaffung einer Gewerbeordnung, wurden zwar endlos diskutiert, doch nie gelöst. Andererseits belasteten die administrativen Maßnahmen, welche die restriktive Importpolitik bedingten, den Wirtschaftsablauf – ohne einen Effekt zu erreichen : Der Schmuggel blühte. Es lag auf der Hand, dass angesichts dieser Einstellung Österreich auch außerhalb des 1833 gegründeten Deutschen Zollvereins blieb. Die industriepolitische Zurückhaltung dieser Periode erklärt sich einerseits aus den eher liberalen Vorstellungen der Verwaltung, andererseits aus der Furcht vor dem wachsenden Proletariat. Einige Bedeutung kommt der Bildungspolitik unter Franz I. zu. Grundsätzlich wurden die Naturwissenschaften und die Technik – auch auf Kosten der Geisteswissenschaften – forciert, nicht nur durch die – schon er-
Die Ära der Restauration
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wähnte – Gründung von Realschulen in Wien und die Errichtung des Wiener polytechnischen Instituts, des Vorläufers der Technischen Hochschule, sondern auch durch Anfänge der montanistischen Hochschulbildung 1840 in Vordernberg. Die Wiener Universität erfuhr außerordentliche Förderung, allerdings auf Kosten jener in den Ländern. Die Universitäten von Graz und Innsbruck wurden in ihrem Aktionsradius beschränkt und jene von Salzburg und Linz überhaupt aufgelassen. An der Universität Wien waren 1851 2.416 Hörer inskribiert, also etwa 0,6 % der Wohnbevölkerung, an der Universität Graz 457 und in Innsbruck 218. Dazu kamen die Akademie der bildenden Künste und das Konservatorium der Musik in Wien (Prasch, 1853, S. 92 und S. 199). 1847 kam es zur Gründung einer Akademie der Wissenschaften in Wien (Sandgruber, 1995, S. 153). Gewisse Impulse für die Wirtschaft gingen von der Gründung der Gewerbevereine in Wien und den Ländern aus, wiewohl gerade Letztere von der Polizei mit großem Misstrauen beobachtet wurden. 1820 wurde ein Patentgesetz erlassen. Allerdings entwickelte sich während der Zeit, da sich das restaurative politische System in der Habsburgermonarchie etabliert hatte, außerhalb dessen die bürgerliche Institutionenstruktur weiter, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass sie – ohne dass dies von jenen wahrgenommen wurde – auch für die Oberschichten maßgebend wurde. Es setzte sich der von der Aufklärung eingeleitete Prozess außerhalb der Politik ungebrochen fort. Zwischen dem Wiener Kongress und der Revolution des Jahres 1848 etabliert sich der bürgerliche Lebensstil endgültig. In dessen Zentrum stand die Familie – die Kinder wurden erstmals als Individuen, nicht als kleine Erwachsene wahrgenommen –, eine gewisse Bescheidenheit in Kleidung, Wohnung und Architektur trat hervor – und zwar bis in die Aristokratie und das Kaiserhaus hinein. Notorisch sind die Bilder des Monarchen als nüchtern gekleideten Beamten an der Arbeit im einfachen Arbeitszimmer. Auch der Adel liebte es, sich im Kreis seiner Familie abbilden zu lassen und ließ häufig seine Kleinkinder porträtieren. Der demonstrative Konsum als Zeichen des hierarchischen Stellenwerts verlor an Bedeutung. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass die Einkommensunterschiede geringer geworden wären, eher das Gegenteil. Gerade durch die wachsende Industriearbeiterschaft könnten sich diese verschärft haben. Aber der barocke Prunk und die martialische Geste fanden sich nicht mehr. Dieser neue Lebensstil wird durch den Begriff Biedermeier erfasst. Er drückte sich nicht nur in Kleidung, Möbeln und Architektur aus, sondern auch im kulturellen Engagement des Bürgertums. Es waren nun nicht mehr die Aristokraten, welche in ihren Häusern Konzerte veranstalteten, sondern die „Hausmusik“ wurde zu einem Charakteristikum der bürgerlichen Gesellschaft. Ähnliches gilt für Konzerte. 1812 wurde in Wien die Gesellschaft der Musikfreunde gegrün-
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Industrialisierung im Biedermeier
det, und ab 1831 erfolgten die Aufführungen in einem Saal auf der Tuchlauben. Geradezu symbolhafte Bedeutung für diesen Lebensstil erlangte die Person und das Werk von Franz Schubert. Auch die Dichterlesungen waren nunmehr in bürgerlichen Häusern zu hören, und die österreichische Literatur erreichte in dieser Periode mit Franz Grillparzer einen ersten Höhepunkt ; Adalbert Stifter prägte die Romantik in Österreich. In diesem Zusammenhang lässt sich ein Beispiel für die Wirkung des bürgerlichen Denkens bis in aristokratische Kreise anführen, als Graf Anton Alexander Auersperg unter dem Namen Anastasius Grün seine – durchaus bürgerlichen – Dichtungen veröffentlichte. In der Malerei verschwanden die Schlachtenbilder, und die realistische Landschaft trat in den Vordergrund. Aber nicht nur das, das einfache Volk mit seinen Sorgen und Problemen wurde zum Gegenstand der künstlerischen Darstellung. Die Kategorie der Genremalerei entstand. Eine Fülle herausragender Maler charakterisiert diese Epoche, von Friedrich Gauermann über Ferdinand Waldmüller, Friedrich Amerling, Jakob und Rudolf Alt bis Josef Danhauser, welcher nicht nur malte, sondern eine große, äußerst erfolgreiche Möbelmanufaktur betrieb. Oper und Theater erlebten schon im Barock und in der Klassik insbesondere in Wien Höhepunkte. Diese Tradition setzte sich im Biedermeier ungebrochen fort, ja erfuhr im Volksstück eine besondere Ausprägung, welche mit dem Namen Ferdinand Raimund verbunden ist. Durchaus politische Akzente setzte der Satiriker Johann Nestroy. Im ständigen Kampf mit der Zensur gelang es ihm immer wieder, zwischen den Zeilen seine Botschaft pointenreich zu vermitteln. Trotz der polizeilichen Kontrolle setzte sich auch die politische Diskussion, zumindest im privaten Kreis, fort. Zum Ort intellektueller Debatten schlechthin entwickelte sich das Wiener Kaffeehaus. Dieses ließ sich auch mit Spitzeln schwer kontrollieren, sodass dort die später zur Tradition gewordene Kaffeehauskultur mit ihren literarischen und politischen Bezügen entstehen konnte. Darüber hinaus bildeten die von den Damen der großbürgerlichen Wiener Gesellschaft etablierten Salons gleichfalls eine Bühne der intellektuellen Auseinandersetzungen. Diese betrafen zwar vorwiegend künstlerische Fragen, schlossen aber natürlich politische ein. Hier sei vor allem der Salon von Fanny Arnstein genannt, aber auch jener von Karoline Pichler, welche selbst mit großem Erfolg literarisch tätig war. Daraus erhellt auch die wichtige Rolle der Frauen im großbürgerlichen Milieu dieser Zeit. Aus der beschriebenen Entwicklung lässt sich also die allgemeine Verfestigung einer kompakten bürgerlichen Institutionenstruktur – der Kultur – ableiten, welche immer stärker für die gesamte Gesellschaft maßgeblich wurde und für die das
Finanzielle Stabilisierung
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Biedermeier eine spezifisch österreichische Ausprägung darstellte (Görlich, 1970, S. 385). Doch resultierten daraus auch direkte Effekte für wirtschaftliche Aktivitäten. Schon in den vorangegangenen Kapiteln wurde auf die Ökonomisierung des österreichischen Adels hingewiesen. Allein dadurch fand kommerzielles Handeln eine gewisse Akzeptanz auch in den Oberschichten. Dieser Trend wurde nun durch die Dominanz der bürgerlichen Institutionenstruktur verstärkt, weil wirtschaftliche Aktivität das Bürgertum in hohem Maß charakterisierte. Somit war trotz aller politischen Repressionen ein grundsätzlich wirtschaftsfreundliches Klima im heutigen Bundesgebiet gegeben.
8.2 Finanzielle Stabilisierung
Die wirtschaftspolitischen Bemühungen der kaiserlichen Regierung konzentrierten sich nunmehr auf die Stabilisierung des Budgets und des Geldwerts. Damit hielt sich auch die Entlastung von kriegsbedingten Abgaben in Grenzen. Ein zentrales Element dieser Politik resultierte aus der Erkenntnis, dass dem Staat die Möglichkeit entzogen werden müsse, Banknoten auszugeben. Zu diesem Zweck wurde 1816 die Oesterreichische Nationalbank gegründet. Diese trug den Charakter einer privaten Aktiengesellschaft, doch wurde ihr das Monopol der Banknotenausgabe übertragen. Allerdings gab es kein Verbot der Kreditgewährung an den Staat. Neben der Ausgabe der Banknoten oblagen der Bank auch der Wechseldiskont und die Gewährung von Hypothekarkrediten. Zunächst ging die Nationalbank daran, das Papiergeld, also Wiener Währung und Antizipationsscheine, abermals in der Weise abzuwerten, dass sie nur teilweise in Münzen umgetauscht werden konnten. Die folgenden Jahre blieb die Bank permanent damit beschäftigt, den Tausch der neu ausgegebenen Banknoten gegen Conventionsmünzen zu ermöglichen. Um das Vertrauen in die Währung auf diese Weise sicherzustellen, wurden kostspielige Aktivitäten gesetzt, wie der Erwerb von Silberbarren im Ausland (Pressburger, 1966, S. 41). Da jedoch der Metallschatz nicht in einem fixierten Verhältnis zum Geldumlauf stand, konnte durch das Eskont- und Kreditgeschäft die Geldmenge beträchtlich ausgeweitet werden. Der Banknotenumlauf stieg von 26 Millionen Conventionsmünze 1818 auf 111 Millionen 1830, vervierfachte sich also. Bis 1848 stabilisierte er sich weitgehend und verdoppelte sich. Obwohl die Kriegskosten nach 1815 weggefallen waren und der Monarchie eine französische Kriegsentschädigung zufloss, gelang es nicht, das Budget zu sanieren. Die Staatsschuld stieg von 10 Millionen Conventionsmünze 1818 auf 108 Millionen 1830.
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Industrialisierung im Biedermeier
Übersicht 14 : Banknotenumlauf und Staatsschuld des Kaisertums Österreich 1818 bis 1848 Banknotenumlauf
Staatsschuld bei der Notenbank
Millionen Gulden Conventionsmünze 1818
26
10
1819
73
24
1820
51
34
1821
34
28
1822
48
40
1823
51
47
1824
68
58
1825
82
72
1826
82
82
1827
87
87
1828
95
98
1829
107
106
1830
111
108
1831
123
112
1832
119
114
1833
125
104
1834
135
114
1835
151
128
1836
153
128 129
1837
146
1838
166
131
1839
166
129
1840
167
126
1841
166
126
1842
173
115
1843
179
111
1844
197
109
1845
214
106
1846
213
105
1847
218
127
1848
222
179
Quelle : Pribram, 1938, S. 58 ; Wirth, 1876.
All diese Daten lassen sich nicht ohne Weiteres mit der Entwicklung des Verbraucherpreisindex in Übereinstimmung bringen. Dieser dokumentiert im Jahrzehnt zwischen 1804 und 1808 eine massive Inflation, die jedoch ab 1809 stabilisiert wer-
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Finanzielle Stabilisierung
den konnte und danach sogar in deflationäre Entwicklung überging. Die Diskrepanz zwischen den Daten über die Geldmenge und der Staatsverschuldung sowie der Entwicklung des Verbraucherpreisindex bis 1848 könnte sich anfangs daraus erklären, dass die Nationalbankstatistik die Geldmenge in Conventionsmünze auswies, wogegen in der Realität anfangs ein Vielfaches dieses Wertes in Antizipationsscheinen im Umlauf war, welche erst allmählich eingewechselt werden konnten. Ab den Zwanzigerjahren müsste das einsetzende Wirtschaftswachstum die Geldnachfrage erhöht haben, sodass die wachsende Geldmenge keine inflationären Effekte auslöste. Freilich muss man sich bei der Diskussion der monetären Daten stets vor Augen halten, dass diese für die gesamte Habsburgermonarchie zusammengestellt wurden, für das heutige Bundesgebiet daher nur Tendenzen wiedergeben können.
Abbildung 2 : Verbraucherpreisindex des heutigen Bundesgebiets und Banknotenumlauf des Kaisertums Österreich 1800 bis 1848 250
Verbraucherpreisindex (1800 = 100) Banknotenumlauf (Millionen Gulden)
200 150 100 50
1845
1840
1835
1830
1825
1820
1815
1810
1805
1800
0
Quelle : Mühlpeck – Sandgruber – Woitek, 1979, S. 649 ; Wirth, 1876.
Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte sich auf dem Wiener Kapitalmarkt eine Reihe von Privatbankiers etabliert. Hier wäre das Bankhaus Fries – ein eingewanderter Schweizer Kaufmann – zu nennen sowie jene der Geymüller, Arnstein und Eskeles. All diese Institute widmeten sich klassischerweise ausschließlich der Staatsfinanzierung, internationalen Geldgeschäften und nahmen keine
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Industrialisierung im Biedermeier
Depositen entgegen. Sie spielten für die Industriefinanzierung zunächst keine Rolle : „While in some instances credit was granted by the large banks to aristocrats involved with mining or manufacture on their own lands, both short and long-term credit remained outside the reach of almost all small manufacturers“ (Rudolph, 1976, S. 91). Andere wirtschaftliche Ziele verfolgte der Wiener Stadt-Banco, indem er Anlagemöglichkeiten für den Mittelstand schuf, aber gleichfalls nur den Staat finanzierte ; lediglich die k. k. oktroyierte Wiener Commerzial-, Leih- und Wechselbank konzentrierte sich auf die Unternehmensfinanzierung. Die Nationalbank sorgte neben Währungsregulierung für die Vergabe von Eskont- und Lombardkrediten. Mit der „Ersten Österreichischen Spar-Casse“ erscheint ein neues Element auf dem österreichischen Kapitalmarkt. Dieses 1819 gegründete Institut zielte auf den kleinen Mittelstand. Das lässt sich daran erkennen, dass zunächst die Höchstgrenze für Einlagen mit 100 Gulden Conventionsmünze festgesetzt wurde. Die Sparkasse erwies sich als außerordentlich erfolgreich : 1819 hielt sie 1.379 Konten, 1835 waren es bereits 65.853. Auf der Aktivseite standen kurzfristige Wechsel, leicht liquidierbare Wertpapiere und Hypothekardarlehen im Vordergrund (Eigner – Wagner – Weigl, 1991, S. 950). Erst in den späten 1830er-Jahren änderte sich mit dem Bau und Betrieb der Eisenbahnen auch das Verhalten der Privatbankiers. So übernahm das Bankhaus Rothschild die Finanzierung der Kaiser-Ferdinand-Nordbahn und das Bankhaus Sina jene der Südbahn.
8.3 Die Basis der österreichischen Industriestruktur
Die Periode des Vormärz begann mit einer hartnäckigen Nachkriegsdepression, in welcher sich die galoppierende Inflation, der Nachfrageausfall durch den Friedensschluss, die hohe Steuerbelastung sowie die Turbulenzen der letzten Kriegsphasen niederschlugen. Diese krisenhafte Situation wurde durch Missernten in den Jahren 1813 und 1816 verschärft, die gleichfalls die Nachfrage reduzierten. In diesem Zusammenhang ist grundsätzlich zu bedenken, dass die Volkswirtschaften dieser Zeit noch immer in hohem Maß durch die Agrarproduktion bestimmt waren und daher deren Rückgang entsprechende Folgen für die Gesamtwirtschaft zeitigte. Daraus erklärt sich auch der oft volatile Charakter der Wirtschaftsentwicklung. Schriftliche Quellen für diese Periode weisen wiederholt auf die mangelhafte Auslastung der Produktionsfaktoren, die daraus resultierende Arbeitslosigkeit und die häufigen Betriebsschließungen hin (Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 185). Auch der kurze Nachfragestoß durch den Wiener Kongress vermochte an
Die Basis der österreichischen Industriestruktur
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der Gesamtlage nichts zu ändern. Im Gegenteil, sein Wegbrechen musste die Rezession noch verschärfen. Der schwere Rückschlag im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts dürfte die positive Entwicklung der vorangegangenen zwei Dezennien zumindest teilweise zunichte gemacht und damit die Entwicklung zum Industriestaat verzögert haben. Darauf weist schließlich auch das Bevölkerungswachstum hin, welches in dieser Periode praktisch zum Stillstand gekommen war. Erst gegen Ende der Zwanzigerjahre verstärkten sich die expansiven Kräfte in der österreichischen Wirtschaft wieder, und es setzte kräftiges Wachstum ein, das, kaum unterbrochen, bis in die späten Vierzigerjahre vorhielt. Darauf weist auch der von Komlos berechnete Index der Industrieproduktion für die österreichische Reichshälfte hin (Komlos, 1986, S. 191). Damit setzte sich auch die Industrialisierung des Bundesgebiets nachhaltig fort. Die Rolle des Leitsektors kam nach wie vor – wie in allen sich industrialisierenden Ländern – auch in Österreich der Textilindustrie zu. Deren regionaler Schwerpunkt lag unverändert in Niederösterreich, doch entstanden Fabriken auch in anderen Regionen des Landes, vor allem in Vorarlberg, sozusagen als Overspill der schweizerischen Textilindustrie. Die Mehrheit der Unternehmen entfiel auf Baumwollspinnereien. In den Dreißigerjahren wurden diese immer stärker durch Baumwollwebereien und schließlich auch durch Baumwolldruckereien ergänzt. Die während des Merkantilismus in Wien dominierende Seidenproduktion vermochte gleichfalls den Übergang zur maschinellen Erzeugung zu vollziehen. Am Anfang standen technische Weiterentwicklungen durch heimische Unternehmer, wie sie etwa Christian Georg Hornbostel vornahm, ab den Zwanzigerjahren wurde der Jacquard-Webstuhl in der Seidenproduktion immer stärker verwendet. Neben der Erzeugung von Seidenstoffen erlangte auch die Herstellung von Seidenbändern einiges Gewicht. Zu den neuen, maschinell betriebenen Produktionen zählte auch die Papierherstellung. 1828 entstand eine Papierfabrik in Gratkorn, und 1835 baute Andreas Leykam bei Graz in seine Papiermühle eine Papiermaschine ein. Das Aufblühen der Papiererzeugung in der Steiermark erklärt sich aus der Nähe zum Hafen Triest, weil die Erzeugnisse erfolgreich in die Levante exportiert werden konnten. Aber auch im Wiener Becken, in Oberösterreich und in Tirol entstanden Papierfabriken (Tremel, 1969, S. 295). Der Buchdruck wurde seit Ende des 18. Jahrhunderts immer stärker durch den technischen Fortschritt geprägt, sodass die Produktion fabrikmäßigen Charakter annahm. Im Wiener Raum kamen andere Druckerzeugnisse hinzu, wie etwa Tapeten oder Spielkarten (Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 209). Auch die chemische Industrie nahm um diese Zeit ihren Anfang. Sie erhielt wichtige Impulse durch die Textilindustrie, welche für ihre Produktion Bleichmit-
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Industrialisierung im Biedermeier
tel und für den Stoffdruck Farben benötigte. Gleichfalls Vormaterialien stellten Schwefelsäure, Soda und Chlor dar. Letztere Erzeugung wurde freilich durch den hohen Monopolpreis des Salzes behindert. Zu den Konsumgütern dieses Wirtschaftszweigs zählten Zündhölzer und Stearin-Kerzen. Der ehemalige Schneidermeister Johann Nepomuk Reithofer gründete 1824 in Wimpassing die erste Gummiwarenfabrik Europas. In Oberösterreich wurde die fabrikmäßige Erzeugung von Lederwaren aufgenommen. Da sich in den Vierzigerjahren die Gasbeleuchtung in den Städten sowie auch in manchen Industriebetrieben etabliert hatte, entstanden mehrere Gaswerke. Eine besondere Leistung erbrachte der Rheinländer Michael Thonet. Nachdem es ihm gelungen war, eine Methode zu finden, um Holz zu biegen, ging er auf Einladung Metternichs 1838 nach Wien, um hier seine später weltberühmten Möbel zu erzeugen. Aber nicht nur die Herstellungstechnik und die Form erwiesen sich als einmalig, sondern auch die Organisation der Produktion. Sein Unternehmen wurde lange Zeit als die effizienteste Möbelfabrik der Welt betrachtet (Kyriazidou – Pesendorfer, 1999, S. 143). In Wien spielten noch spezielle Unternehmen eine bedeutende Rolle, wiewohl bei diesen die Grenze zwischen Handwerk und Fabrik nicht leicht zu ziehen ist. Dazu zählten etwa die Klaviererzeugung, welche später unter dem Namen Ignaz Bösendorfer besondere Berühmtheit erlangte, sowie Bierbrauereien ; vor allem jene Anton Drehers, die auf Großbetriebsbasis umgestellt worden war. Eine disparate Entwicklung durchlief die Zuckerindustrie. Während der Kontinentalsperre stand der Rohstoff für die Raffinade des Zuckers, das Zuckerrohr, nicht zur Verfügung. Die Hersteller suchten daher nach einem Ersatz, der schließlich in der Zuckerrübe gefunden wurde. Die Unternehmen, welche sich auf diese Art der Zuckerproduktion konzentriert hatten, waren jedoch der Konkurrenz des wieder eingeführten Zuckerrohrs nicht gewachsen und mussten ihre Produktion bis 1822 einstellen. Durch die Übernahme von in Deutschland entwickelten Verfahren war es jedoch bereits Mitte der Dreißigerjahre möglich, sich mit Rübenzucker auf dem Markt zu behaupten. Allerdings entfiel nur ein geringer Teil der Zuckerproduktion in der Monarchie auf das heutige Bundesgebiet (Sandgruber, 1995, S. 188). Anzumerken ist, dass die Industrialisierung Österreichs von einer neuen Unternehmergeneration getragen wurde. Lag die Initiative zur Unternehmensgründung im Merkantilismus vornehmlich beim Staat, den Aristokraten sowie den Ausländern, traten nun vor allem Bürgerliche lokaler Herkunft in den Vordergrund. Ins Auge fallen nicht nur die soziale Prägung, sondern auch die fachlichen Qualitäten. Diese drückte sich nicht nur durch betriebswirtschaftliche Fähigkeiten aus, sondern auch durch solche technischer Natur. Insbesondere seit den Zwanzigerjahren
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wird für die Mehrheit dieser Persönlichkeiten berichtet, dass sie ihren Maschinenpark durch eigene Erfindungen ständig verbesserten. Damit ist gesagt, dass nunmehr die österreichischen Unternehmer jenen ähnelten, welche auch die englische Industrialisierung in Gang gesetzt hatten. Der Staat sah nach den liberalen Reformen Josephs II. seine Aufgabe nicht mehr in Unternehmensgründungen, und die Aristokratie zog sich stärker auf deren Finanzierung zurück. Ausländische Unternehmer fanden sich freilich auch in dieser Entwicklungsphase – was dem Assimilationspotenzial Österreichs ein gutes Zeugnis ausstellt (Chaloupek et al., 2003, S. 79). Die in anderen Ländern als zweiter Leitsektor betrachtete Eisenindustrie konnte diese Funktion im heutigen Bundesgebiet auch im Vormärz nur zum Teil übernehmen. Es war gerade das historische Erbe, welches das verhinderte. Unter vorindustriellen Gegebenheiten verfügte das Land über optimale Bedingungen für die Eisenproduktion. Es existierten mehrere Erzlagerstätten, ein mehr oder minder ausreichendes Holzangebot sowie ein Landschaftscharakter, der die Nutzung der Wasserkraft als Energie erlaubte. Damit erwies sich auch die große Zahl kleiner Unternehmen eher als Vorteil. So kann es nicht überraschen, dass das heutige Bundesgebiet bis Ende des 18. Jahrhunderts mehr Roheisen produzierte als England. 1750 erzeugte es 20.000 Tonnen davon, gegenüber 15.000 Tonnen in England. All diese Vorteile gingen mit der Industrialisierung verloren. Die Eisenerzeugung dieser Periode erfolgte in Großbetrieben unter Einsatz von Erz und Kohle sowie neuer Technik. Davon profitierten jene Unternehmen, die sich in der Nähe der Lagerstätten beider ansiedeln und unter Nutzung der Größenvorteile produzieren konnten. Und sie verfügten zumeist auch über günstigere Transportmöglichkeiten. Den Unternehmen des Bundesgebiets standen wohl Erze, aber kaum Kohle zur Verfügung ; die geringen Vorräte umfassten Braunkohle mit niedrigem Heizwert, und die Lage der Unternehmen verteuerte den Transport. Dazu kam, dass ihr einst hoher technischer Standard stagnierte, weil dieser eben aus den neuen Produktionsmöglichkeiten resultierte. So führte man etwa das Puddling-Verfahren erst relativ spät ein. Das heimische Eisen erwies sich somit als teuer und von minderer Qualität. Diese Entwicklung dokumentierte sich in den Produktionsanteilen : Um 1800 entfielen auf Österreich 3,3 % der europäischen Erzeugung, auf England aber bereits 20 % ; 1840 entsprachen die Anteile 2,5 % für Österreich, aber 52,6 % bei 1,42 Millionen Tonnen für England (Chaloupek et al., 2003, S. 149). Zunächst wurde die prekäre Situation am Erzberg durch staatliche bzw. Erzherzog Johanns Intervention stabilisiert. Dieser gründete zur Steigerung der Qualifikation der Mitarbeiter 1840 die „Montanistische Lehranstalt“ in Vordernberg. Ab 1830 wurde zuerst in Kärnten, sodann auch in manchen Betrieben der Steiermark
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Industrialisierung im Biedermeier
das Puddling-Verfahren eingeführt und zur Metallgewinnung Braunkohle verfeuert. Die Einführung solcher zeitgemäßer Methoden führte freilich dazu, dass die klassischen, kleinen und abgelegenen Produktionsstätten schließen mussten. Führte die Eisenerzeugung also eine Art Rückzugsgefecht, so gilt das in keiner Weise für die Eisenverarbeitung. Über die klassische Herstellung von Sensen, Sicheln und Messern hinaus wurden nunmehr auch Investitionsgüter produziert. So schuf Josef Pesendorfer in Rottenmann ein Blechwalzwerk und Josef Körösi in Graz-Andritz erzeugte Draht, Nägel und Ketten. Ferdinand Egger setzte 1840 in Feistritz im Rosental das erste Drahtwalzwerk in Gang. Der aus England stammende August Rosthorn spezialisierte sich ab 1838 in seinem Werk auf die Produktion von Eisenbahnschienen. Karl Wilhelm Brevillier erzeugte in Neunkirchen Schrauben und Metallwaren, und die Deutschen Alexander Schoeller sowie Alfred Krupp errichteten in Berndorf eine Besteckfabrik. Einen etwas anderen Charakter zeigten die metallverarbeitenden Unternehmen in Wien. Deren Erzeugung wurde natürlich in hohem Maß durch die städtische Nachfrage bestimmt, welche man als „entwickelten Luxuskonsum“ (Chaloupek) bezeichnen kann. Hierbei handelt es sich nicht nur um die Luxusnachfrage der Oberschichten, sondern auch um die von der breiten Bevölkerung nachgefragten Imitationen. Gerade Letztere wurden maschinell in den Fabriken hergestellt und umfassten eine breite Palette von Konsumgütern, von Knöpfen bis zu Kastenbeschlägen (Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 201). Vom Verkehrswesen gingen vorerst noch wenige Impulse auf die Industrie aus. Wohl widmete die öffentliche Hand der Straßeninfrastruktur seit dem Merkantilismus große Aufmerksamkeit und sie tat dies auch im Vormärz, sodass sich hierin die Voraussetzungen der wirtschaftlichen Tätigkeit erheblich verbesserten. Das galt nicht unbedingt für den Wassertransport im Bundesgebiet. Wohl wurden große Anstrengungen unternommen, um die Flüsse schiffbar zu machen, doch erwies sich das als kostspielig und wenig effizient. Gewisse Erfolge wurden auf der Donau erzielt, insbesondere durch die Gründung der Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft 1829. Von oft sehr weitgehenden Planungen für den Bau von Kanälen blieb nichts übrig – außer der Wiener Neustädter Kanal. Der Eisenbahn kam im Vormärz noch relativ geringe Bedeutung zu. Wohl begann der Bau dieses Verkehrsmittels früh. 1832 wurde die Pferdeeisenbahn Linz– Budweis eröffnet und 1836 nach Gmunden erweitert, doch war sie aus Ersparnisgründen in einer Weise angelegt worden, dass eine Umstellung auf Dampfbetrieb nicht möglich schien. Immerhin verkehrte sie bis 1872. Erst 1837 nahm man den ersten Abschnitt der Kaiser-Ferdinand-Nordbahn von Floridsdorf nach Wagram in Betrieb und erweiterte diesen 1839 von Wien nach Brünn. Dazu kamen in den
Die Basis der österreichischen Industriestruktur
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Vierzigerjahren die Strecken Wien–Gloggnitz, Mürzzuschlag–Graz sowie Graz– Cilli. Bis 1848 gab es Flügelbahnen nach Bruck an der Leitha, Ödenburg und Pressburg. Allerdings vollzog sich der weitere Ausbau des Schienennetzes im heutigen Bundesgebiet viel langsamer als in den anderen europäischen Industriestaaten. Das hing auch mit der Eigentümerstruktur der Eisenbahngesellschaften zusammen. Die ersten Linien wurden durchwegs von Privaten in Angriff genommen. Erst in den Vierzigerjahren engagierte sich auch der Staat im Eisenbahnbau. Als es 1845 zu einem Kurssturz der Eisenbahnaktien kam, übernahm letztlich der Staat die Unternehmen. Trotz des vergleichsweise langsamen Fortgangs dieses Ausbaus übte er beträchtlichen Einfluss auf die österreichische Wirtschaftsentwicklung aus. Da war zunächst der Beschäftigungseffekt. Auf solchen Baustellen wurden bis zu 10.000 Arbeitskräfte beschäftigt. Dann wurde ein erheblicher Teil des Materials im Land hergestellt, wie etwa die Schienen – 1850 wurde ein Viertel der österreichischen Eisenproduktion von der Bahn verwendet (Chaloupek et al., 2003, S. 96). Dazu kamen Auswirkungen auf die Industriestruktur. Bereits relativ früh gingen vom Bahnbau Impulse auf die Maschinenindustrie aus. Der Maschinenbau vollzog sich im Vormärz zunächst eher auf Basis größerer Gewerbebetriebe. Das ergab sich aus dem Umstand, dass die Textilmaschinen zunächst großteils aus Holz gefertigt wurden. Ihre Herstellung oblag großen „Kommerzialtischlereien“. Die benötigten Metallbestandteile wurden von Maschinenschlossereien produziert. Einen eigenen Bereich in dieser Branche bildete der Instrumentenbau, welcher Präzisionsinstrumente herstellte. Hier trat das schon 1787 gegründete Unternehmen Johann Christoph Voigtländers hervor, welcher seine Erzeugung allmählich auf Werkzeugmaschinen, wie Metalldrehbänke, ausweitete. Der Durchbruch gelang allerdings erst mit dem Bahnbau. Es waren vor allem die Eisenbahngesellschaften, welche Maschinenbaubetriebe errichteten, in welchen auch schon die Produktion von Lokomotiven aufgenommen wurde. In der Folge weitete sich die Erzeugung auf Dampfmaschinen, Dampfkessel und Werkzeugmaschinen aus. Zunächst betreuten hauseigene Fachleute die meist importierten Maschinen in den einzelnen Unternehmen. Allmählich jedoch stellten neue Maschinenbaubetriebe die Anlagen im Inland her und übernahmen auch deren Betreuung, sodass sich im Vormärz damit ein ständig expandierender Industriezweig herausbildete (Chaloupek et al., 2003, S. 243). In diesem Zusammenhang sollte auch darauf hingewiesen werden, dass Österreich für die wissenschaftliche Entwicklung des Maschinenbaus eine Persönlichkeit mit Pioniercharakter hervorbrachte. Der in Steyr 1809 geborene Ferdinand Jakob
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Industrialisierung im Biedermeier
Redtenbacher vermochte seine durch Selbststudium erworbenen Kenntnisse der Mathematik am Polytechnikum sowie an der Universität in Wien zu vervollkommnen, um schließlich als Assistent an Ersterem tätig zu werden. Von der Industrieschule in Zürich übernahm er schließlich eine Professur und später das Direktorat der Polytechnischen Schule in Karlsruhe. Dort entwickelte er die spezifische Maschinenbauwissenschaft, die sich sowohl von der stärker mathematisch orientierten französischen als auch der eher praxisorientierten englischen absetzte. Damit wurde in diesem Fach ein Modell für die Technischen Hochschulen geschaffen, welches sich international durchsetzte und auch für die Wiener Technische Hochschule maßgebend wurde (Mauersberger – Moon – Wauer, 2009). Zwar hatte der explosive Boom der Bauwirtschaft in Österreich zwischen Ende des 17. und Mitte des 18. Jahrhunderts stattgefunden, doch behielt dieser Wirtschaftszweig auch im Vormärz durchaus großes Gewicht. Nur verlagerten sich seine Schwerpunkte. Es standen nicht mehr Schlösser, Klöster und Kirchen sowie die ländliche Sakralarchitektur im Vordergrund, sondern eher die Infrastruktur. So wurde vor allem der Bau von Straßen sowie von öffentlichen Gebäuden forciert. Dazu kam die Errichtung von Industrieanlagen sowie Arbeitersiedlungen, wie denn auch der Wohnbau eine beträchtliche Rolle spielte. Wesentlich erwies sich der technisch-organisatorische Fortschritt in diesem Wirtschaftszweig. Der öffentliche Bau wurde durch die Generalhofbaudirektion für das gesamte Reich zentralisiert, welche das Bauwesen in diesem Bereich und darüber hinaus standardisierte. Damit entwickelte sich der Ärarstil, welcher bis heute die Länder der ehemaligen Habsburgermonarchie charakterisiert. Der Ziegel hatte andere Baumaterialien schon im 18. Jahrhundert verdrängt. Auf dem Wiener- und Laaerberg entstanden Ziegeleien europäischen Zuschnitts. Gusseisen wurde immer häufiger im Bau verwendet, und in den Vierzigerjahren ging man erstmals daran, Glas-Stahl-Konstruktionen zu errichten, wie das Dianabad (1843) – das nach dem Zweiten Weltkrieg abgerissen wurde (Chaloupek et al., 2003, S. 267). Das regionale Muster der Industrialisierung im heutigen Bundesgebiet zeigt in seiner frühen Phase eine massive Konzentration auf Wien und das Wiener Becken. Gerade die „modernen“ Industrien fanden sich in dieser Region. Von der Textilerzeugung entfielen mehr als drei Viertel auf diesen Raum. Lediglich Vorarlberg (das statistisch gemeinsam mit Tirol ausgewiesen wurde) trug einen relevanten Teil bei. Ähnliches gilt für die Maschinenindustrie. Die eher traditionelle Produktion von Lederwaren verteilt sich gleichmäßiger über das Bundesgebiet, findet aber gleichfalls den Schwerpunkt in Wien und Niederösterreich. Lediglich die Eisenerzeugung und -verarbeitung folgt ihren historischen Standorten in der Steiermark und in Kärnten.
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Die Basis der österreichischen Industriestruktur
Übersicht 15 : Regionale Verteilung der Industrieproduktion in den österreichischen Kronländern 1841 Baumwollgarne Zentner
Schafwollwaren Stück
72,3
84,7
34,0
5,7
Oberösterreich
3,6
2,0
13,4
5,4
1,9
Steiermark
1,8
11,3
49,2
5,6
Kärnten und Krain
1,1
Leder
Eisen, Stahl
Maschinen
Zentner
Zentner
Unternehmen
Anteile in % Niederösterreich, Wien
Tirol2 Summe Kronländer
6,71
85,2
16,4
34,3
5,6
21,2
6,7
24,9
5,4
1,9
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Quelle : Slokar, 1914, S. 316 ; S. 357 ; S. 419 ; S. 499 ; S. 621. – 1 Einschließlich Küstenland. – 2 Einschließlich Vorarlberg.
Die Attraktivität dieser Region lässt sich auch am kräftigen Zustrom an Migranten erkennen. Dieser floss zwar schon im 18. Jahrhundert. Die natürliche Bevölkerungsbewegung hätte infolge relativ hoher Sterblichkeit im städtischen Raum einen Zuwachs der Einwohnerschaft nicht zugelassen, dennoch wuchs diese stetig. Im 19. Jahrhundert intensivierte sich die Zuwanderung. 1798 umfasste die Zivilbevölkerung im Stadtgebiet Wiens 224.500 Personen, 1851 erreichte sie 431.100, hatte sich also fast verdoppelt (Eigner, 1991, S. 660). Im gesamten Bundesgebiet war aber die Bevölkerung im gleichen Zeitraum nur um rund 30 % gewachsen. Daneben hatte sich das zweite – kleinere – Zentrum, vor allem der Textilindustrie, in Vorarlberg herausgebildet. In den anderen Bundesländern fanden sich wenige verstreute Anlagen. Von der Industrialisierung wurde Tirol kaum und Salzburg überhaupt nicht berührt. Und dieses regionale Muster verstärkte noch der Eisenbahnbau. Die relativ frühe Errichtung der Nord-Süd-Achse begünstigte nicht nur die ohnehin dynamischen Regionen, sondern vermochte auch dazwischen liegenden Gebieten, wie der Mur-Mürz-Furche, Impulse zu verleihen. Dagegen erschwerte die mangelnde Ost-West-Verbindung die wirtschaftlichen Aktivitäten im Westen des heutigen Bundesgebiets. In der Landwirtschaft lassen sich für diese Periode unterschiedliche Tendenzen in der Bewirtschaftung feststellen. Die Düngung der Felder verbreitete sich erst allmählich, und nur die Gutsbesitzer sowie einige Landwirte gingen von der Dreifelderwirtschaft zur Fruchtwechselwirtschaft über. Am Anfang dieser Entwicklung stand das oberösterreichische Alpenvorland, wogegen in den Alpengebieten die traditionellen Produktionsformen dominierten (Tremel, 1969, S. 284).
118
Industrialisierung im Biedermeier
Allerdings zeigen alle Daten für pflanzliche sowie tierische Produktion im Bundesgebiet ab den Zwanzigerjahren einen kräftigen Anstieg (Sandgruber, 1978). Auf eine Expansion der Agrarproduktion weist schließlich auch der Umstand hin, dass die ab diesem Zeitpunkt stark wachsende Bevölkerungszahl – wenn man von einzelnen Missernten absieht – mit Lebensmitteln versorgt werden konnte. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Wien in steigendem Maß von Ungarn aus beliefert wurde. Abbildung 3 : Bevölkerungsentwicklung von 1527 bis 2008 in 1.000
8.000 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 1780 1800 1819 1830 1850 1870 1890 1910 1930 1950 1970 1990 2010
1754
1700
1600
1527
0
Quelle : Butschek, 1992, S. 437 ; Statistik Austria.
Die Bevölkerungszahl des Bundesgebiets war seit dem späten Mittelalter stetig gewachsen. Ab 1700 scheint sich die Expansion beschleunigt zu haben, fand jedoch durch die Napoleonischen Kriege und deren wirtschaftliche Folgen ein Ende. Erst in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts erfuhr die Bevölkerungsentwicklung einen neuen Schub, welcher die Zunahme in einer Weise beschleunigte, die über jene der Vergangenheit hinausging. Für die Masse der Einwohnerschaft resultierten aus den ökonomischen Prozessen sehr unterschiedliche Wirkungen. Wie im vorigen Kapitel dargelegt, hatte sich ein Arbeitsmarkt bereits in der Periode des Merkantilismus herausgebildet, sodass die neuen Industriebetriebe auf diesen zurückgreifen konnten. Die Mechanisierung erlaubte es weiterhin, auch in hohem Maß Frauen und Kinder in den
Die Basis der österreichischen Industriestruktur
119
Betrieben zu beschäftigen. Allerdings veränderten sich durch die Industrialisierung die regionalen Aspekte der Arbeitskräftenachfrage. Im Merkantilismus hatte das Verlagssystem einer großen Zahl von Angehörigen der ländlichen Unterschichten Heimarbeitsmöglichkeiten geboten. Diese gingen durch die Mechanisierung in der Textilindustrie teilweise verloren. Zwar legten viele Industriebetriebe, vor allem Niederösterreichs, Wert auf eine stabile Arbeiterschaft, was sich dadurch ausdrückte, dass zahlreiche Arbeitersiedlungen errichtet wurden. Dafür mögen auch disziplinäre Gründe maßgebend gewesen sein, allerdings sollte man nicht den ökonomischen und sozialen Charakter dieser Maßnahmen übersehen. Doch reichte offensichtlich die Nachfrage nicht aus, um alle Arbeitskräfte zu beschäftigen. Damit entstand ein starker Druck, Arbeitsmöglichkeiten in der Stadt zu suchen, wodurch eine kräftige Wanderungsbewegung in Gang kam. Auch in der Einkommensstruktur setzten sich die Tendenzen des Merkantilismus fort. Das höhere Management sowie die Facharbeiterschaft erzielten vergleichsweise günstige Löhne, jene der Hilfskräfte lagen am Rand des Existenzminimums. Frauen und vor allem Kinder wurden noch schlechter bezahlt, da man von ihnen nur ein Zusatzeinkommen für die Familien erwartete. Das Hauptproblem der Entlohnung lag aber an den oftmaligen saisonalen und konjunkturellen Arbeitsunterbrechungen. Nichtsdestoweniger weisen die demografischen Daten – relativ hohe Rate der Geburten und niedrige der Gestorbenen – darauf hin, dass sich die allgemeinen Lebensbedingungen zumindest geringfügig verbessert haben müssen. Freilich versuchten die Unternehmer, die Arbeitskraft ihrer Beschäftigten maximal auszuschöpfen. Der 16-Stunden-Tag bildete in dieser Phase keine Ausnahme, und selbst die Zeitbeschränkungen für Kinder wurden nur mehr oder minder eingehalten. Eine allgemeine Sicherung gegen Krankheit und Invalidität existierte nicht, obwohl die Gefahr von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten außerordentlich hoch war. Auch hier blieben es nur einzelne Unternehmen, welche eine Krankenversicherung – oft auf Initiative der Beschäftigten selbst – einführten. Die rechtliche Position der Arbeiterschaft blieb prekär, weil auf sie vielfach die Dienstbotenordnung mit ihren öffentlich-rechtlichen Disziplinarvorschriften angewandt wurde. Die einzige Kontrollinstanz, nämlich die von Maria Theresia eingeführte Fabriksinspektion, wurde 1825 als Effekt der wirtschaftlichen Liberalisierung abgeschafft. Und diese sozialen Gegebenheiten bilden auch eine Brücke zu den Ereignissen des Jahres 1848.
120
Industrialisierung im Biedermeier
8.4 Ein Ende mit Schrecken – die Revolution von 1848
Die beschriebene Entfaltung und Verfestigung der bürgerlichen Institutionenstruktur blieb nicht ohne Folgen für das herrschende politische System. Trotz aller polizeilichen Maßnahmen hatte die Diskussion in der Bevölkerung die Forderung nach staatsbürgerlichen Rechten und politischer Mitbestimmung immer präziser formuliert. Dieses Verlangen wurde von einer großen Mehrheit getragen und mit zunehmendem Selbstbewusstsein vertreten. So verlangten schon im Mai 1847 die Stände von Niederösterreich und Böhmen politische Reformen und eine Verfassung. Dazu kamen die wachsenden Spannungen zwischen der Aristokratie und dem Bürgertum. Nicht nur, dass die Spitzenpositionen in Militär und Verwaltung dem Adel vorbehalten blieben, dieser nutzte seine Privilegien – eigener Gerichtsstand und teilweise nicht belastbarer Fideikommiss –, um seine umfangreichen Schulden nicht, nur teilweise oder spät zu zahlen (Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 280). Voraus gingen den revolutionären Ereignissen in Österreich noch drei Jahre der Missernten, die zu Preissteigerungen bei Lebensmitteln führten, welche gerade die Ärmsten belasteten. Da die Arbeitslosigkeit ohnehin weite Kreise der Wiener Arbeiterschaft erfasst hatte, entstand auf diese Weise ein diffuses Gewaltpotenzial, das nicht politisch organisiert war und sich dadurch auch nicht zu artikulieren vermochte. Die Stimmung in der Bevölkerung hatte damit überall explosiven Charakter angenommen, sodass bei entsprechendem Anlass ein Ausbruch zu erwarten war. Den eigentlichen Auslöser boten 1848 schließlich die Nachricht von der Revolution in Frankreich sowie die Rede Lajos Kossuths vor dem ungarischen Reichstag, in welcher er die Unabhängigkeit seines Landes forderte. In der Habsburgermonarchie verbanden sich nämlich die politischen Forderungen vielfach mit den nationalen. So erfasste die Aufstandsbewegung nicht nur Ungarn, sondern auch Italien und Böhmen. Auch Wien wurde nunmehr von Petitionen für die Gewährung staatsbürgerlicher Rechte geradezu überschwemmt, und selbst Erzherzog Franz Carl sowie seine Gemahlin Sophie schlossen sich den Wünschen nach einer liberalen Verfassung an. Am 13. März 1848 kam es zu umfangreichen Demonstrationen, mit welchen der Rücktritt Metternichs gefordert wurde. Da diesem von keiner Seite mehr Unterstützung zuteil wurde, kam er diesem Verlangen nach und verließ das Land. Nunmehr wurde die Zensur aufgehoben, und Ministerpräsident Franz Pillersdorf kündigte die Erlassung einer Verfassung an. Ein Reichstag wurde gewählt, in welchen sämtliche Länder der Monarchie – mit Ausnahme Ungarns – ihre Vertre-
Österreichs Industrialisierung im europäischen Vergleich
121
ter entsandten. Trotz dieser Fortschritte radikalisierte sich die Situation in Wien in mehreren Schüben immer stärker. Die zuvor beschriebenen sozialen Gegebenheiten führten in den Vorstädten zu Aufruhr, der sich nicht nur in Plünderungen manifestierte, sondern zu einem regelrechten Maschinensturm ausartete. Es liegt auf der Hand, dass dadurch die Produktion praktisch lahmgelegt wurde, sodass sich die schon bestehende Arbeitslosigkeit noch dramatisch erhöhte. Zwar versuchte die neue Gemeindeverwaltung, durch umfangreiche Notstandsarbeiten sie aufzufangen. Doch mussten diese mangels Mitteln schließlich eingestellt werden. Letztlich verschärfte sich die Lage in solcher Weise, dass schließlich nicht nur Kaiser Ferdinand I. Wien verließ, sondern auch der Reichstag, der sich in Kremsier etablierte. Dort beschloss er die Gesetze zur endgültigen Befreiung der Bauern sowie eine Verfassung, welche in ihrem Inhalt weit in die Zukunft wies. Allerdings verflüchtigte sich, angesichts der um sich greifenden Gewalttaten, der Enthusiasmus des Bürgertums für die Revolution immer stärker, ja es kam zu Kämpfen zwischen der Nationalgarde und Arbeitern (Praterschlacht). Eine wesentliche Veränderung nicht nur für das Haus Habsburg, sondern für den gesamten Staat ergab sich dadurch, dass die Reichskonferenz Kaiser Ferdinand I. zum Rücktritt veranlasste. An seine Stelle trat der erst achtzehnjährige Franz Joseph I., der Sohn Erzherzogs Franz Carl. Damit sollte das Zeichen für einen neuen Aufbruch gesetzt werden. Indessen hatte die loyal gebliebene Armee in Böhmen den Aufruhr erstickt und Feldmarschall Josef Wenzel Radetzky den italienischen Aufstand, trotz der Hilfe durch Piemont-Sardinien, niedergeworfen. Die Kämpfe in Ungarn dauerten zwar vorerst noch an, dennoch ging die Armee, mit Unterstützung kroatischer Einheiten, gegen das von der Nationalgarde und der Akademischen Legion verteidigte Wien vor und eroberte es nach einwöchigem Kampf. Damit fand die Revolution von 1848 praktisch ihr Ende, und damit ging auch die Chance verloren, dass sich Österreich politisch nach dem Niveau der westeuropäischen Demokratien ausgerichtet hätte. Denn an dessen Stelle trat politisch wieder die Orientierung an der Vergangenheit.
8.5 Österreichs Industrialisierung im europäischen Vergleich
Die ältere wirtschaftshistorische Literatur fällte oft harte Urteile über die Industrialisierung Österreichs. Die allgemeine Meinung ging dahin, dass diese spät eingesetzt habe und vergleichsweise langsam vorangegangen sei. Diese Auffassung erfloss oft aus Unklarheiten über das Forschungsobjekt, weil nicht expliziert wurde,
122
Industrialisierung im Biedermeier
ob man die gesamte österreichisch-ungarische Monarchie, die „im Reichrathe vertretenen Königreiche und Länder“, also die österreichische Reichshälfte, das sogenannte „Cisleithanien“, oder das heutige Bundesgebiet untersuchte. Eine Klarstellung dieser Problematik war natürlich von höchster Relevanz, weil die Habs burgermonarchie Länder mit vollkommen unterschiedlicher Institutionenstruktur, also auch ökonomischem Entwicklungsniveau, umfasste. Dazu kam, dass für die Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung in der Vergangenheit zwar einige Indikatoren, wie etwa die Verwendung von Dampfmaschinen, herangezogen wurden, aber keine aggregierten Produktionsdaten existierten, weder für die Industrie noch daher für die gesamte Wirtschaftsleistung der Regionen. Die Stagnationsthese wurde zunächst von Wirtschaftshistorikern aus den USA in Zweifel gezogen, die sich bemühten, eine quantitative Basis für ihre Überlegungen zu erarbeiten. So berechnete Gross die Industrieproduktion auf Basis zeitgenössischer Untersuchungen ab 1841 für mehrere Stichjahre (Gross, 1966). Rudolph konstruierte einen Index der Industrieproduktion von 1880 bis 1913 (Rudolph, 1976) und rechnete diesen später bis 1830 in Fünfjahresintervallen zurück. Komlos konstruierte auf breiterer Basis einen solchen ab 1780. Dieser beruhte für die frühen Jahre allerdings im Wesentlichen nur auf der Baumwoll- und Eisenerzeugung (Komlos, 1986, S. 66). All diese Berechnungen betreffen allerdings die gesamte österreichische Reichshälfte (Cisleithanien). Damit bleibt die Verwendung dieser Reihen zur Analyse des heutigen Bundesgebiets problematisch. Sie enthalten einerseits Daten über die Produktion in Böhmen und Mähren, also von hoch entwickelten Regionen, andererseits von solchen, welche spät in den Industrialisierungsprozess eingetreten waren, wie Galizien oder das Küstenland. Gewiss kann man von ähnlichen Entwicklungen für die gesamte Region ausgehen, nur muss man sich der beschränkten Aussagekraft dieser Daten stets bewusst sein. 1979 berechnete Kausel unter Verwendung der wenigen vorhandenen Statistiken – nur für die Landwirtschaft lagen aufgrund der Studie Sandgrubers (1978) umfangreiche vor – sowie von diversen Indikatoren und Annahmen das Volkseinkommen der heutigen Republik Österreich ab 1830 nach den Sektoren der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (Kausel, 1979). Die Wertschöpfung der Industrie gewann er aus einem Durchschnitt der Daten von Gross und dem Index Rudolphs. Für das Jahrzehnt von 1830 bis 1840 beruhte die Industrieentwicklung auf Annahmen. Für den Zeitraum von 1830 bis 1870 wurde das Bruttoinlandsprodukt nur für Dekaden berechnet, von 1870 bis 1913 jährlich. Danach hätte das reale Bruttoinlandsprodukt im heutigen Bundesgebiet 1830 21,1 % des Wertes von 1913 erreicht, 1840 24,0 % und 1850 27,8 %. Die durchschnitt-
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Österreichs Industrialisierung im europäischen Vergleich
liche jährliche Wachstumsrate hätte demnach im ersten Dezennium 1,3 % und im zweiten 1,5 %, je Einwohner 0,82 % sowie 0,86 % betragen (Kausel, 1979, S. 689). Ein präziser internationaler Vergleich scheint hier nicht möglich. Es lassen sich einige Tendenzen anhand der von Maddison (2001, S. 185) errechneten Daten für 1820 und 1870 festhalten. Danach wäre das Pro-Kopf-Einkommen 1820 bei 1.218 internationalen Dollar von 1990 gelegen, das hätte fast 98 % des Durchschnitts der westeuropäischen Länder entsprochen. Diese Position veränderte sich bis 1870 nicht entscheidend, da dieser Wert 1.863 Dollar erreicht hätte, 89 % des Durchschnitts. Die mittlere jährliche Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens (zu konstanten Preisen) nach Maddison lag in diesem Zeitraum mit 0,9 % unter dem Durchschnittswert für Westeuropa von 1,0 %. Wiewohl er sich auch auf die Berechnungen Kausels stützt, kommt er somit auf einen etwas höheren Wert als dieser (+ 0,7 %). Nach den Berechnungen von Maddison hätte sich das Wachstum des Pro-KopfEinkommens im Bundesgebiet also im zentraleuropäischen Rahmen bewegt, dem Frankreichs oder der Niederlande entsprochen und jenes der skandinavischen Staaten oder Italiens übertroffen. Übersicht 16 : Niveau und Veränderung des Pro-Kopf-Einkommens der westeuropäischen Staaten 1820 und 1870 Zu Preisen von 1990, in internationalen Geary-Khamis-Dollar 1820
1870
Durchschnittliche jährliche Veränderung in %
Österreich1
1.356
2.075
+ 0,9
Belgien
1.319
2.692
+ 1,4
Dänemark
1.274
2.003
+ 0,9
Finnland
781
1.140
+ 0,8
1.135
1.876
+ 1,0
Deutschland
1.077
1.839
+ 1,1
Italien
1.117
1.499
+ 0,6 + 0,8
Frankreich
Niederlande
1.838
2.757
Norwegen
1.104
1.432
+ 0,5
Schweden
1.198
1.662
+ 0,7
Schweiz
1.090
2.102
+ 1,3
Großbritannien
1.706
3.190
+ 1,3
Quelle : Maddison, 2003. – 1 Korrigiert nach Good – Ma, 1998.
124
Industrialisierung im Biedermeier
Aber selbst wenn man den niedrigeren Wert Kausels (+ 0,7 %) dem internationalen Vergleich zugrunde legte, wodurch das Bundesgebiet an den unteren Rand der westeuropäischen Staaten geriete, ließen sich daraus keinerlei Schlüsse über eine verzögerte Industrialisierung ableiten, weil sich das geringere Wachstum als Folge tief greifender exogener Schocks ergäbe, welche die anderen europäischen Länder nicht in dem Maß betroffen hatten wie Österreich. Viele Diskussionen der Vergangenheit scheinen im Licht dieser Daten obsolet. So kann es nicht mehr darum gehen, ob es in Österreich einen spektakulären „take off “ im Sinn Rostows gegeben habe, mit welchem die Industrialisierung in Gang gekommen sei, ebenso wenig wie einen „spurt“ im Sinn Gerschenkrons. Dagegen schiene sich die österreichische Entwicklung durchaus in das Schema des „modern economic growth“ (MEG) nach Kuznets einzufügen, wonach man von Industrialisierung dann sprechen kann, wenn ein nachhaltiges kräftiges Wachstum eingesetzt hat, das von kurzfristigen Rückschlägen nicht beeinträchtigt zu werden vermag. Denn die Referenzperiode Kuznets umfasst fast ein halbes Jahrhundert (Kuznets, 1966, S. 26). Diese Überlegungen treffen auf Österreich umso mehr zu, als dieser Autor nicht nur die technischen Aspekte der Industrialisierung betont, sondern auch die strukturellen und institutionellen. Und damit bewegt man sich in Richtung des gegenwärtigen Standes der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung. Danach resultiert die Industrialisierung eines Landes – wie eingangs dargelegt – aus einem langen historischen Prozess, in welchem die institutionellen Voraussetzungen für diese Entwicklung geschaffen werden und aus welchem sich auch die technisch-wissenschaftlichen Bedingungen dafür ergeben. Und Österreich blieb in diesen alle Länder Westeuropas umfassenden, Prozess mit einer gewissen Verspätung gegenüber Nordwesteuropa voll eingebunden. Die institutionellen und organisatorischen Voraussetzungen dafür waren zuletzt in der protoindustriellen Phase des Merkantilismus geschaffen worden : „Thus the eighteenth century was an important period of growth and structural change in the western regions of the Habsburg Empire. Merkantilist economic policy sparked some important institutional changes that laid the foundations for the emergence of capitalist relations“ (Good, 1984, S. 37). Konsequenterweise wird man sagen können, dass die Industrialisierung des heutigen Bundesgebiets zu jener Zeit eingesetzt hat, da Fabriken, welche Maschinen einsetzten, errichtet wurden. Und das war offensichtlich um 1800 der Fall. Dass dieser Prozess zu Ende des ersten Jahrzehnts unterbrochen wurde und erst wieder in den Zwanzigerjahren einsetzte, ist ja nicht auf endogene Schwächen zurückzuführen, sondern eben als Folge eines exogenen Schocks zu sehen. Und dieser Industrialisierungsprozess setzte sich von den Zwanzigerjahren bis Ende des vier-
Österreichs Industrialisierung im europäischen Vergleich
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ten Jahrzehnts kräftig fort. Die Revolution von 1848 bedeutete einen neuerlichen Schock, durch welchen die Produktion, insbesondere im Wiener Raum, kurzfristig beinahe vollkommen lahmgelegt wurde. Gewiss gingen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der zentralen Politik nur mäßige Impulse für die Entwicklung der Wirtschaft aus – was nicht für lokale Ansätze gilt, wie die vielfältigen Bemühungen Erzherzog Johanns bezeugen. Ebenso wenig erwies sich die geistige Atmosphäre eines Polizeistaats als förderlich. Doch gerade die fehlende wirtschaftspolitische Unterstützung demonstriert die Stärke des Industrialisierungsprozesses, der allein durch autonome Kräfte vorangetrieben wurde. Insgesamt gesehen kann also kein Zweifel daran bestehen, dass ab der Jahrhundertwende, insbesondere aber im Vormärz, die Industrialisierung im heutigen Bundesgebiet in Gang gekommen war. Für deren Ausmaß ergibt sich wieder jenes Bild, das bereits für frühere Phasen der ökonomischen Entwicklung charakteristisch scheint : Österreich zählt sicherlich nicht zu den Pioniernationen der ökonomischen Expansion, reüssiert aber einigermaßen im europäischen Mittelfeld.
9. Die Ära des Liberalismus 9.1 Vom Neoabsolutismus zum liberalen Reichstag
Es mag erstaunlich klingen, wenn man den Beginn der liberalen Ära mit jenem der Periode des Neoabsolutismus gleichsetzt. Allerdings kommt darin jene Ambivalenz zum Ausdruck, welche gerade diese Periode charakterisierte. Der Weg zur absolutistischen Restauration wurde in mehreren Schritten gegangen. Am Anfang standen die Auflösung des Reichstags von Kremsier und die Sistierung seiner Verfassung. 1849 übernahm Franz Joseph den Oberbefehl über die Armee, die sich als einzige Klammer der Habsburger-Monarchie erwiesen hatte. 1851 gründete er den Reichsrat, ein von den reaktivierten Landtagen beschicktes Gremium mit lediglich beratendem Charakter. Gesetzgebung und Vollziehung konzentrierten sich wieder auf die Person des Kaisers. Mit dem Silvesterpatent 1851 wurde die alleinige Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Kaiser festgelegt, und schließlich übernahm Franz Joseph nach dem Tod des Ministerpräsidenten Felix Schwarzenberg 1852 persönlich die Regierungsverantwortung. Letztlich wurde auch wieder die Zensur eingeführt (Buchmann, 2006, S. 118). Eine weitere Akzentuierung erfuhr der Neoabsolutismus durch den Abschluss eines Konkordats mit der katholischen Kirche 1855. Dadurch übertrug man der Kirche wieder eine Reihe staatlicher Agenden, ohne sie staatlicher Aufsicht zu unterstellen. So wurde für Katholiken das kanonische Eherecht eingeführt sowie das gesamte untere und mittlere Schulwesen der kirchlichen Kontrolle unterstellt. In den Mittelschulen gab es nur katholische Professoren oder Lehrer. Der Staat verpflichtet sich, die Verbreitung von der Kirche als „verderblich“ bezeichnete Bücher zu unterbinden (Brauneder, 2003, S. 147). Versuchte der Monarch nach der Revolution den Status quo ante wiederherzustellen, galt das nicht unbedingt für die Regierung. Diese realisierte eine große Zahl von Reformen, die eher auf ein konstitutionelles System hinwiesen. Zunächst wurde die Behördenorganisation umgestaltet. Anstelle der überlieferten Gremien mit ihren komplizierten und langwierigen Entscheidungsprozessen traten Ministerien unter einem verantwortlichen Ressortchef. Innenminister Franz Stadion konzipierte ein Gemeindegesetz, welches die Gemeindeverfassung in Österreich bis in die Gegenwart prägt. Alexander Bach etablierte die politischen und Gerichtsbezirke. Johann Kempen-Fichtenstamm organisierte die Gendarmerie, welche die
Vom Neoabsolutismus zum liberalen Reichstag
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Sicherheit außerhalb der Städte herbeiführte und die in Österreich bis zur Zusammenlegung mit der Polizei im Jahr 2005 existierte. Justizminister Anton Schmerling schuf eine Gerichtsverfassung, welche bis 1918 in Kraft blieb, sowie die Strafprozessordnung mit öffentlichen Verfahren und Schwurgerichten. Unterrichtsminister Leo Thun-Hohenstein reorganisierte das Schulwesen. Ab 1849 wurden die Gymnasien achtklassig geführt und mit der Matura abgeschlossen. Dasselbe vollzog sich ab 1851 mit den Realschulen. Die Universitäten wurden autonom und das Berufungsverfahren reformiert. Carl Bruck, Handelsminister von 1848 bis 1851, führte die Briefmarke sowie die Einkommensteuer ein und gründete 1850 Handelskammern, welche befugt waren, „Anträge über die Mittel zur Beförderung und Belebung der Gewerbe und des Handels“ zu stellen. Die von ihm 1859 erlassene Gewerbeordnung statuierte die Gewerbefreiheit in einem Maß, das in Österreich erst in allerjüngster Zeit wieder erreicht wurde. All diese Reformen kamen offensichtlich noch unter dem Eindruck der Revolution zustande und trugen vielfach bürgerlich-liberalen Charakter. Viele von ihnen wurden daher auch durch das Silvesterpatent 1851 auf mehrere Jahre sistiert und traten erst nach einiger Zeit in Kraft (Buchmann, 2006, S. 120). Dennoch vertreten viele Autoren die Auffassung, dass diese Politik intentional gewesen sei und darauf abzielte, durch liberale Reformen und eine entsprechende Wirtschaftspolitik dem Großbürgertum die absolutistische Staatsform akzeptabel zu machen. Diesem Bestreben kam der Umstand entgegen, dass sich das Bürgertum nach den Ausschreitungen in den späten Phasen der Revolution in Wien von dieser zurückgezogen hatte und die nationalen Ambitionen der nichtdeutschen Völkerschaften keineswegs billigte (Bruckmüller, 2001, S. 279). Sie stellte sich nunmehr der neuen Staatsspitze zur Verfügung. Dieser Prozess lässt sich an manchen Biografien der handelnden Personen, wie im Fall Alexander Bach, demonstrieren. Die Intentionalität jener Politik sei auch daran zu erkennen gewesen, dass sie publizistisch betont positiv dargestellt wurde (Sandgruber, 1995, S. 238). In den folgenden Jahren kamen die Nachteile der Machtkonzentration in der Person Franz Josephs zutage. Er trug die Verantwortung für die verfehlte Außenpolitik während des Krimkriegs, die Österreich international isolierte, und ebenso für die Niederlagen bei Magenta und Solferino gegen Sardinien-Piemont und Frankreich, welche zum Verlust der Lombardei führten. Damit ging die Ära des Neoabsolutismus zu Ende. Mit dem Oktoberdiplom 1860 und dem Februarpatent 1861 betrat die Habsburgermonarchie – zögernd – den Weg zum Verfassungsstaat. Das auf die Oberschichten beschränkte – indirekte – Wahlrecht zum Reichsrat sicherte dem deutschsprachigen liberalen Großbürgertum dort die Mehrheit und damit auch verstärkten politischen Einfluss.
128
Die Ära des Liberalismus
Die wesentlichen Schritte zur Ausweitung des konstitutionellen Regimes wurden freilich erst nach der Niederlage gegen Preußen 1866 gesetzt. Zunächst kam es zur staatsrechtlichen Trennung der Monarchie in einen österreichischen und einen ungarischen Reichsteil. Am 27. Februar 1867 trat der österreichisch-ungarische Ausgleich in Kraft. Danach blieben die beiden Staaten nur mehr durch den Monarchen sowie durch die „gemeinsamen Angelegenheiten“ verbunden. Diese wurden durch das Außen- sowie das Kriegsministerium repräsentiert und das Reichsfinanzministerium, welchem die Finanzierung dieser beiden Angelegenheiten oblag. Die Wirtschaftspolitik war grundsätzlich Sache der Reichsteile, doch hatten diese eine Handels- und Zollunion begründet, und auch die Währung blieb für beide Reichsteile erhalten. Verfassungsrechtlich näherte man sich in der österreichischen Reichshälfte weiter dem konstitutionellen Rechtsstaat. Epochale Bedeutung erlangte das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867. Das Konkordat wurde 1870 aufgehoben. Eine direkte Volkswahl existierte erst ab 1873, freilich noch immer limitiert für bestimmte Gesellschaftsschichten sowie Berufsgruppen nach Mindesteinkommen. Nur ein Bruchteil der Bevölkerung konnte das Wahlrecht ausüben. Die Verfassungswirklichkeit entsprach allerdings nicht immer den rechtlichen Möglichkeiten, was oftmals nicht mit der Person des Monarchen zusammenhing. So legte der latente Nationalitätenkonflikt den Reichsrat häufig durch Obstruktion lahm, wodurch die Gesetzgebung erst recht von der Regierung auf Basis des Notverordnungsrechts ausgeübt wurde (Brauneder, 2003, S. 165).
9.2 Liberale Wirtschaftspolitik
Die Wirtschaftspolitik wurde primär durch das staatliche Interesse an einer kräftigen Entwicklung der Ökonomie des Landes determiniert, damit diese Ressourcen für eine Großmachtpolitik zur Verfügung stelle. Ihr liberales Konzept erklärt sich eben daraus, dass sich der Kaiser und seine Regierung von diesem Instrumentarium den größten Effekt erwarteten, aber andererseits damit dem Großbürgertum entgegenkommen wollten : „Die wirtschaftlichen Maßnahmen standen im Zeichen der Notwendigkeit, nach einer Zeit der Restauration und des Beharrens im Vormärz die schon längst fälligen Reformen nachzuvollziehen, die für die ökonomische Basis dieser Machtpolitik notwendig waren und sich in einer Zeit beginnender internationaler wirtschaftlicher Rivalität als erforderlich erwiesen. Der Neoabsolutismus durfte sich auf diese Weise als Vollender der bereits unter Maria
Liberale Wirtschaftspolitik
129
Theresia und Joseph II. eingeleiteten Reformen fühlen, die während des franziszeischen und vormärzlichen Regimes eine Unterbrechung erfahren hatten“ (Matis, 1973, S. 36). Am Anfang stand noch die durch Beschluss des Kremsierer Reichstags vom 7. September 1848 initiierte Grundentlastung, welche vom neoabsolutistischen Regime verwirklicht wurde. Sie gewann symbolhaften Charakter insofern, als damit das Ende des Feudalismus markiert schien. Die bäuerlichen Besitzungen wurden von sämtlichen darauf lastenden Abgaben und Leistungen befreit. Von den dadurch entstandenen Kosten hatten die Grundherren ein Drittel selbst zu tragen, weil ihre Aufwendungen für Sicherheit und Rechtsprechung erster Instanz entfielen. Ein Drittel übernahm das jeweilige Kronland und ein Drittel entfiel auf die Bauern. Die staatliche Entschädigung erfolgte durch handelbare „Grundentlastungsobligationen“ mit vierzigjähriger Laufzeit, ebenso wie der Bauernanteil über denselben Zeitraum als Grundsteuerzuschlag vorgeschrieben wurde. Für die österreichischen Erbländer wurde ein Betrag von 106 Millionen Gulden als Grundentlastungskapital ermittelt. Dazu kamen noch kleinere Summen für den Zehent (2,97 Millionen Gulden) und sonstige Geldleistungen (3,1 Millionen Gulden). Die verpflichteten Bauern hatten 41,5 Millionen Gulden zu zahlen und die Kronländer steuerten 37,2 Millionen Gulden bei. 70 % davon erhielten die weltlichen und geistlichen Grundherrschaften. Um eine Vorstellung über die Größe dieser Summe zu vermitteln, sei darauf hingewiesen, dass diese etwa dem Grundkapital der 1855 gegründeten Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe (60 Millionen Gulden) entsprach. Die günstige Entwicklung der Landwirtschaft zwischen 1850 und 1870 erleichterte den Bauern die Abzahlung. Bereits Ende der Fünfzigerjahre hatten viele ihre Schulden getilgt (Sandgruber, 1995, S. 234). Die direkten ökonomischen Auswirkungen der Grundentlastung werden von den meisten einschlägigen Untersuchungen gering angesetzt. Man weist darauf hin, dass – vor allem im heutigen Bundesgebiet – davon nur mehr ein sehr kleiner Teil des gesamten landwirtschaftlichen Arbeitsvolumens betroffen und dass die Erwartung, die Arbeitsmotivation und -produktivität der Bauern werde merkbar ansteigen, ungerechtfertigt schien (Komlos, 1986, S. 37 ; Sandgruber, 1995, S. 235). Interessant scheinen dagegen die indirekten Konsequenzen für die Entwicklung des Kapitalmarkts. Die größten Entschädigungen kamen nämlich den Großgrundbesitzern zugute. So bezog beispielsweise aus diesem Titel das Haus Schwarzenberg 1,870.000 Gulden und Franz Liechtenstein 1,110.000 Gulden. Aus diesen Beträgen flossen außerhalb des Bundesgebiets beträchtliche Mittel in landwirtschaftliche Investitionen, in Wien jedoch stärkten sie das Angebot auf dem Kapitalmarkt, was seinen Niederschlag im Rahmen der Bankengründungen dieser Periode fand. Aus
130
Die Ära des Liberalismus
dieser resultierte eine Allianz zwischen Großbürgertum und Großadel, welche für diese Periode kennzeichnend werden sollte (Tremel, 1969, S. 322). Gleichsam als Spätwirkung der Niederschlagung des ungarischen Freiheitskampfs kam es zur Aufhebung der Zolllinie zwischen den österreichischen Ländern und Ungarn. Diese war trotz der Bemühungen um ein einheitliches Wirtschaftsgebiet unter Joseph II. aufrechtgeblieben, da sich der ungarische Adel stets der Besteuerung entzogen hatte und die zentrale Regierung durch diesen Importzoll auf ungarische Waren einen Ausgleich schaffen wollte. Nach 1849 fiel dieses Privileg und damit auch die Notwendigkeit des Zwischenzolls, der 1851 aufgehoben wurde – ohne dass, angesichts seiner Geringfügigkeit, spürbare ökonomische Konsequenzen entstanden wären (Komlos, 1986, S. 26). Handelsminister Bruck initiierte eine neue Außenhandelspolitik. Er bemühte sich, vom immer noch protektionistischen Ansatz des Vormärz mit seinen zahlreichen Importverboten zugunsten einer Politik des Freihandels in mehreren Schritten abzugehen. 1852 trat ein neuer Zolltarif in Kraft, und 1853 wurde ein Handelsvertrag mit den Ländern des Deutschen Zollvereins abgeschlossen ; 1854 kam es durch einen neuerlich geänderten Tarif abermals zu einer Zollreduktion, welche freilich teilweise dadurch kompensiert wurde, dass der Zoll nunmehr in Silbergeld zu entrichten war (Good, 1984, S. 91). Stand hinter dieser Politik zunächst die Bemühung um eine Vormachtstellung im Deutschen Bund, war es in den folgenden Jahrzehnten der Versuch, dadurch ein günstiges Klima für Auslandsanleihen zu schaffen sowie einer Isolierung der Monarchie im Westen zu entgehen. So wurden 1865 liberale Handelsverträge mit Frankreich und England abgeschlossen, 1867 mit Belgien und den Niederlanden und in der Folge mit zahlreichen überseeischen Handelspartnern (Matis, 1973, S. 40). Allerdings begegnete diese Politik stets der massiven Ablehnung durch die österreichischen Industriellen, welche nicht bereit waren, sich dem internationalen Wettbewerb auszusetzen. Die traditionellen Schwierigkeiten der Industriefinanzierung versuchten 1853 Privatbankiers durch die Gründung der Niederösterreichischen Eskompte-Gesellschaft zu mildern, welche sich auf den Wechseldiskont spezialisierte. Freilich blieb deren Wirksamkeit angesichts eines relativ niedrigen Grundkapitals im Ausmaß von 6 Millionen Gulden beschränkt. Der Durchbruch erfolgte hier gleichfalls unter der Patronanz des nunmehrigen Finanzministers Bruck. Anlass bot das Aufkommen der Mobilbanken. Diese neuartigen Geldinstitute wurden von den Brüdern Pereire in Frankreich ins Leben gerufen. Es handelte sich um Aktienbanken, die es sich zum Ziel setzten, die Gründung von Industrie- und Verkehrsunternehmen bis zur Börseneinführung zu
Liberale Wirtschaftspolitik
131
unterstützen, aber auch Unternehmenskredite zu gewähren. Da sich diese Institute in Frankreich bewährten, fassten die Brüder Pereire ein Auftreten auf dem österreichischen Kapitalmarkt ins Auge. Das jedoch rief die Wiener Privatbankiers, insbesondere das Haus Rothschild, auf den Plan, welche dieses Projekt verhindern wollten. Aus diesem Anlass realisierte sich die schon zitierte Allianz zwischen dem Wiener Großbürgertum und der Hocharistokratie. Das Proponentenkomitee für eine österreichische Mobilbank umfasste Max Egon Fürstenberg, Johann Adolph Schwarzenberg, Vinzenz Carl Auersperg und Otto Chotek auf der einen Seite sowie Salomon Rothschild, Leopold Lämel und Louis Haber auf der anderen. Mit der Unterstützung Brucks kam es 1855 zur Gründung der „k. k. privilegierten Österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe“, womit die französische Initiative zunächst verhindert worden war. Die Bank, welche mit einem Grundkapital von 60 Millionen Gulden eine beträchtliche Kapazität erreichte, sollte für die Entwicklung von Industrie und Eisenbahn in der damaligen Monarchie ein zentrale Rolle spielen (März, 1968, S. 29). In den Sechzigerjahren folgten mehrere ähnlich konzipierte Banken : 1863 die „k. k. priv. Allgemeine Österreichische Boden-Credit-Anstalt“ unter dem Einfluss französischen Kapitals, ferner die „Anglo-Österreichische Bank“ mit Unterstützung englischer Finanzkreise sowie 1864 die „k. k. priv. Pfandleihgesellschaft“, die spätere Verkehrskreditbank. Damit hatten sich auf dem österreichischen Kapitalmarkt beträchtliche Strukturänderungen vollzogen, welche eine wesentliche Voraussetzung für die weitere Entwicklung einer Industriewirtschaft bildeten. Die österreichische Finanz- und Währungspolitik stand seit Einführung des Papiergelds im Wesentlichen stets vor den gleichen Problemen. Das häufige kriegerische Engagement der Habsburgermonarchie verursachte permanente Finanzierungsschwierigkeiten. Zwar hing der Zentralstaat nicht mehr vom Steuerbewilligungsrecht der Stände ab, im Gegenteil, er erreichte im 19. Jahrhundert die alleinige Steuerhoheit. Erst 1860 erhielten die Länder und Gemeinden die Befugnis, – begrenzte – Zuschläge zu den staatlichen Steuern einzuheben (Wysocki, 1973, S. 73). Trotzdem vermochten die laufenden Einnahmen die Erfordernisse des Staates nie zu befriedigen. Das konnte realistischerweise auch nicht erwartet werden, wenn stoßartig hoher Bedarf infolge kriegerischer Ereignisse entstand. Aber die Monarchie war auch nicht in der Lage, diesen im Kreditweg auf dem heimischen oder ausländischen Kapitalmarkt zur Gänze zu decken. Wenn daher die Kreditmöglichkeiten erschöpft waren, griffen die Regierungen wieder zur Vermehrung der Zahlungsmittel. Nach Ende der Feindseligkeiten stabilisierten die Finanzminister aber die Währung nicht auf dem erreichten Niveau der Inflation, sondern ließen
132
Die Ära des Liberalismus
es sich angelegen sein, „zum Silberstandard zurückzukehren“ – wie England nach dem Ersten Weltkrieg zum „Goldstandard“ –, also den Eintausch von Papiergeld in Metallgeld im Verhältnis 1 : 1 zu ermöglichen. Diese Vorgangsweise ergab sich einerseits aus dem damals vorherrschenden Verständnis einer stabilen Währung, welche nur durch konstante Bindung an Metallgeld gedacht werden konnte, andererseits durch außenpolitische Ziele. Das neoabsolutistische Regime versuchte nämlich – wie schon angedeutet –, eine dominierende Position im Deutschen Bund zu erringen. Eine Vorbedingung dieser Politik bestand darin, möglichst enge wirtschaftliche Bande mit den Staaten dieser Vereinigung herzustellen. Ein Bestreben, das seinen Niederschlag 1853 im Abschluss eines Handelsvertrags mit dem Deutschen Zollverein fand. Das jedoch implizierte eine möglichst stabile Währung, also eine solche, die pari zum Silbergulden stand. Sofern das durch eine Reduktion des Zahlungsmittelumlaufs zustande kam, mussten dadurch deflationäre Effekte entstehen, welche das Wirtschaftswachstum ceteris paribus bremsten. Zwar resultierte eine geringfügige Abwertung 1857 aus dem Abschluss des „Deutsch-Österreichischen Münzvertrages“, durch welchen ein neuer Münzfuß festgelegt wurde. Aus 500 Gramm Silber mussten in Österreich 45 Gulden ausgeprägt werden, womit die neue „österreichische Währung“ die Conventionsmünze ablöste. Ein Gulden Conventionsmünze entsprach sohin 1,05 Gulden österreichischer Währung. Doch änderte diese Korrektur wenig an den grundlegenden Gegebenheiten. Die potenziellen Effekte der Stabilisierungspolitik wurden jedoch durch das permanente militärische Engagement der Monarchie neutralisiert. Dieses belastete zwar den öffentlichen Haushalt, nicht notwendigerweise jedoch die Volkswirtschaft. Wie schon im Zusammenhang mit den Napoleonischen Kriegen ausgeführt, brachten solche Ereignisse zunächst eine massive Nachfragesteigerung der öffentlichen Hand. Dazu kam, dass entweder durch Notenbankkredite oder die Ausgabe von Staatsnoten die Zahlungsmittelknappheit, zumindest mittelfristig, beseitigt wurde. Diese Zusammenhänge lassen sich an der Finanz- und Währungspolitik der liberalen Epoche verfolgen. In der Revolution 1848 fielen als Konsequenz der politischen Ereignisse nicht nur Staatseinnahmen weg, sondern es entstanden durch die militärischen Maßnahmen zusätzliche Kosten. Zwar gewährte die Nationalbank dem Staat Kredite – „unverzinsliche Vorschüsse“ – auf spätere Einnahmen, doch reichten diese bei Weitem nicht aus, um den finanziellen Bedarf zu decken. Die Regierung schritt daher abermals zur Ausgabe von Staatsnoten mit Zwangskurs. Der Austausch auch der Banknoten gegen Silber war selbstverständlich sistiert worden. 1854 wurden die Staatsnoten von der Nationalbank eingezogen und durch
133
Liberale Wirtschaftspolitik
Banknoten ersetzt. Die Rückzahlung durch den Staat sollte in Jahresraten erfolgen. Aus dieser Operation erklärt sich der plötzliche Anstieg des Banknotenumlaufs. Übersicht 17 : Staatsschuld, Notenumlauf und Inflationsrate der Monarchie 1848 bis 1878
Staatsschuld
Bank- und Staatsnotenumlauf Banknotenumlauf Staatsnotenumlauf
Zusammen
Millionen Gulden 1848
179
222
Inflationsrate1 In %
–
222
– 6,7
1849
189
250
62
313
+ 1,9
1850
150
255
134
389
+ 3,3
1851
122
215
180
396
+ 4,1
1852
131
194
145
340
+ 9,8
1853
122
188
140
328
+ 6,1
1854
294
383
–
383
+ 8,3
1855
253
377
–
377
– 3,6
1856
213
380
–
380
– 6,0
1857
204
383
–
383
+ 2,7
1858
146
370
–
370
+ 3,2 + 2,2
1859
300
466
–
466
1860
257
474
–
474
– 4,4
1861
250
468
–
468
+ 10,6 + 6,0
1862
217
426
–
426
1863
186
396
–
396
– 2,6
1864
176
375
–
375
+ 0,2
1865
144
351
–
351
– 8,0
1866
140
283
215
499
– 0,5
1867
80
247
301
548
– 0,5
1868
80
276
298
574
– 2,0
1869
80
283
315
598
+ 1,9
1870
80
296
352
649
+ 3,2
1871
80
317
373
690
+ 3,1
1872
80
318
375
694
+ 7,2 + 2,2
1873
80
358
344
702
1874
80
293
345
639
– 1,2
1875
80
286
346
632
– 3,1
1876
80
295
355
651
– 1,5
1877
80
282
345
628
+ 0,3
1878
80
288
364
652
– 3,9
Quelle : Pribram, 1938, S. 58 ; Wirth, 1876. – 1 Heutiges Bundesgebiet.
134
Die Ära des Liberalismus
Im selben Jahr ergab sich aus der „bewaffneten Neutralität“ der Monarchie im Krimkrieg eine neuerliche Belastung des Budgets, welcher die Regierung durch Anleiheoperationen Herr zu werden versuchte. Im Budget entfielen 51,8 % der Ausgaben auf jene des Militärs (Wysocki, 1973, S. 1). Mit dem Friedensschluss von 1856 verbesserte sich wieder die Situation der öffentlichen Finanzen sowie auch der Währung. Finanzminister Bruck veranlasste die Notenbank, die restlichen Aktien auszugeben und mit den Einnahmen Silber anzukaufen, um den Metallschatz zu stärken. Diese Aktion machte es 1858 möglich, wieder Banknoten einzulösen. Aber auch diese Entspannung hielt nur kurze Zeit an, weil mit dem Krieg gegen Frankreich und Piemont 1859 neuerlich der Geldbedarf des Staates anschwoll, den zu decken abermals eine Anleihe aufgelegt wurde, für welche ebenso ein „Vorschuss“ der Nationalbank zu leisten war. Der Umtausch der Banknoten in Silbermünzen wurde nunmehr endgültig eingestellt. Als Indikator für die Währungsverhältnisse in Österreich in den folgenden Jahrzehnten diente der sich vor allem im internationalen Handels- und Zahlungsverkehr herausbildende Wechselkurs zwischen der Papierwährung und dem Silbergulden – das sogenannte „Silberagio“. Das Bestreben der Währungspolitik blieb stets darauf gerichtet, dieses zum Verschwinden zu bringen, was bis in die späten Siebzigerjahre des Jahrhunderts nicht gelang. Von mancher Seite wurde es als „Ausfuhrprämie“ betrachtet, weil es faktisch eine Währungsabwertung darstellte. Da das Agio jedoch ständig schwankte, verursachte es eher Unsicherheit für die betriebliche Kalkulation (März – Socher, 1973, S. 325). Der Nachfolger Brucks, welcher nach seiner brüsken Entlassung 1860 Selbstmord begangen hatte, Ignaz Plener, verfolgte energisch eine deflationistische Geldpolitik. Auch wenn man daranging, durch die „Bankakte“ 1862 die Unabhängigkeit der Notenbank zu stärken, wurde unverändert auf sie Druck ausgeübt, den Geldumlauf zu reduzieren. Das geschah vor allem durch Effektenverkauf, also eine Art Offenmarktpolitik (Pressburger, 1966, S. 113). Tatsächlich gelang es, während dieser vergleichsweise friedlichen Jahre das ominöse Silberagio zu senken ; 1865 bewegte es sich nur mehr bei 8,5 %. Doch schlug sich darin nicht nur die Geldpolitik nieder, sondern auch die internationale Konjunktur, von der gleichfalls eine restriktive Wirkung ausging, aber auch der Eisenbahnbau, welcher in den Sechzigerjahren faktisch zusammengebrochen war. Der Krieg gegen Preußen 1866 führte wieder dazu, dass 215 Millionen Gulden Staatsnoten ausgegeben wurden und damit auch das Silberagio wieder anstieg. Freilich, ohne dass irgendwelche inflationären Folgen eingetreten wären ; im Gegenteil, der Verbraucherpreisindex ging von 1865 bis 1868 zurück und stieg auch in den Folgejahren nur geringfügig an.
135
Liberale Wirtschaftspolitik
Abbildung 4 : Agio des Silbers in der Monarchie 1848 bis 1878 145 140 135 130 125 120 115 110 105 1878
1876
1874
1872
1870
1868
1866
1864
1862
1860
1858
1856
1854
1852
1850
1848
100
Quelle : Kamitz, 1949, S. 129.
Die nach der Niederlage einsetzende weitere innenpolitische Liberalisierung sowie die außenpolitische Stabilisierung leiteten – verbunden mit der massiven Ausweitung der Geldmenge, massiven Rüstungsaufträgen sowie von „Wunderernten“ 1867 und 1868 – zur dynamischsten Wachstumsphase der gesamten Monarchie über, welche unter der Bezeichnung „Gründerzeit“ notorisch wurde. Nichtsdestoweniger trug das Budget noch lange Zeit die Spuren der vergangenen Politik. 1870 entfielen bei Gesamteinnahmen von 355,6 Millionen Gulden und Ausgaben von 332,3 Millionen Gulden nahezu ein Drittel auf den Schuldendienst und fast ein Viertel auf das Militär. Die Konsequenz dieser Außenpolitik lag darin, dass die Steuerquote der Monarchie deutlich jene der anderen Industriestaaten übertraf (Wysocki, 1973, S. 99). Die wirtschaftliche Expansion ermöglichte allerdings auch eine immer massiver werdende Spekulation. Nicht nur, weil Industriebetriebe entstanden, sondern ebenso zahlreiche Banken, die sich immer stärker dem Gründungsgeschäft widmeten. Diese Aktivitäten mündeten letztlich am „Schwarzen Freitag“ des Jahres 1873 im „Großen Börsenkrach“, der zwar die reale Wirtschaft auch erfasste, wenngleich nicht in dem dramatischen Ausmaß, wie das von den Zeitgenossen empfunden wurde. Die zahlreichen zu Spekulationszwecken gegründeten Banken überlebten den Zusammenbruch nicht, aber auch seriösere Institute gerieten in SchwierigkeiABB4
136
Die Ära des Liberalismus
Übersicht 18 : Ausgabenstruktur des Budgets der österreichischen Reichshälfte 1870 Anteile in % Kaiserlicher Hof
1,1
Verwaltung (ohne Ministerien)
1,2
Öffentliche Sicherheit
1,3
Rechtspflege
3,6
Unterricht und Wissenschaft
1,2
Straßen
1,5
Eisenbahnen
3,6
Post und Telegrafie
3,5
Häfen und Schifffahrt
0,7
Wasserbau und Meliorationen
0,7
Militär
24,1
Staatsschuld
29,6
Sonstiges
27,9
Insgesamt
100,0
Quelle : Zitiert nach Wysocki, 1973, S. 92.
ten, umso mehr, als die Notenbank sich nur in begrenztem Maß zur Hilfe bereit erklärte, weil sie massive Eingriffe in die Marktentwicklung scheute (März – Socher, 1973, S. 342). Von 147 in der österreichischen Reichshälfte tätigen Banken waren 1878 nur mehr 53 übrig geblieben. Die Krise des Jahres 1873 entsprach sohin der finanziellen Instabilitätshypothese von Minsky, welche besagt, dass in lang andauernden Prosperitätsphasen die Banken immer riskantere Finanzierungsmethoden für ihre Geschäfte auswählen, welche letztlich die Gefahr des Zusammenbruchs heraufbeschwören (Minsky, 1977, S. 24). In der folgenden Stagnationsphase reduzierte sich der Notenumlauf konjunkturbedingt, das Silberagio verschwand praktisch Ende der Siebzigerjahre. Nach dem „Ausgleich“ mit Ungarn stand längere Zeit auch die Frage nach der Gründung einer zweiten Notenbank zur Diskussion. Nach längeren Verhandlungen und angesichts der Tatsache, dass Ungarn nicht in der Lage war, das benötigte Kapital aufzubringen, wurde 1877 letztlich die Lösung in der „Österreichisch-Ungarischen Bank“ gefunden, in einem Noteninstitut, das man gemeinsam verwaltete (Pressburger, 1966, S. 163). Mit dem Zusammenbruch der Börsenspekulation und seinen realen Auswirkungen ging die Ära der liberalen Wirtschaftspolitik in der Habsburgermonarchie zu Ende. Der schwere ökonomische Rückschlag hatte sie in der öffentlichen Meinung
Die neuen Leitsektoren der industriellen Entwicklung
137
unrettbar diskreditiert. Schon die liberale Regierung leitete nunmehr einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel ein. Sie brachte nicht nur 1874 ein neues Aktiengesetz und 1875 ein ebensolches Börsengesetz ein – beide verschärften die staatliche Kontrolle und die Besteuerung der Aktien wurde erhöht –, sondern leitete eine Art Arbeitsbeschaffungspolitik durch Steuerbefreiung von Neu- sowie Umbauten ein. Überdies realisierte sie ein neues Eisenbahnbauprogramm, wodurch der Staat in diesem Bereich wieder die private Initiative ersetzte. Auch in der Außenhandels- und Geldpolitik traten interventionistische Maßnahmen in den Vordergrund (Matis, 1973, S. 46).
9.3 Die neuen Leitsektoren der industriellen Entwicklung
Die Periode des Liberalismus wurde durch sehr unterschiedliche Konjunkturphasen gekennzeichnet. Natürlich stellt sich sogleich die Frage, ob man in diesem Fall zu Recht von Konjunktur sprechen kann, weil die Intensität des Wachstums sehr stark von exogenen Faktoren bestimmt wurde und weniger von wirtschaftsendogenen Kräften. Schon im Vormärz hatte der Eisenbahnbau allmählich die Textilindustrie als Leitsektor der industriellen Entwicklung abgelöst. Das geschah nicht nur durch die Errichtung und den Betrieb von Eisenbahnverbindungen, welche der Industrie völlig neue Produktionsmöglichkeiten durch die preiswerte Versorgung mit Rohstoffen und Kohle erschlossen, sondern auch durch die Herstellung von Lokomotiven und Waggons sowie von Infrastruktureinrichtungen, die der Maschinenindustrie entscheidende Impulse vermittelten. Die Wirkung der Forward- und Backwardlinkages des Eisenbahnbaus scheinen so stark gewesen zu sein, dass sie das Wachstum der Wirtschaft in der Habsburgermonarchie, aber auch im heutigen Bundesgebiet, in hohem Maß bestimmten. Einen Hinweis auf die Bedeutung und Expansion der Maschinenindustrie im heutigen Bundesgebiet erhält man durch die Entwicklung der Nachfrage nach Dampfmaschinen und Lokomotiven in dieser Periode, die in steigendem Maß von der Inlandsproduktion gedeckt wurde. 1841 entfiel die Hälfte aller in Österreich eingesetzten Dampfmaschinen auf ausländische Produkte, und nur sieben von 45 Lokomotiven wurden im Inland hergestellt. 1875 importierte man jeweils nur mehr ein Viertel (Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 300).
138
Die Ära des Liberalismus
Übersicht 19 : Dampfmaschinen und Lokomotiven 1830 bis 1875 Zahl der durchschnittlich jährlich in den Kronländern1 neu aufgestellten Dampfmaschinen
neu in Dienst gestellten Lokomotiven
1830/39
15
–
1840/49
40
37
1850/59
159
86
1860/69
312
72
1870/75
568
203
Quelle : Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 300. – 1 Ohne Lombardei und Venetien.
Die ersten kräftigen Impulse des Eisenbahnbaus in den 1840er-Jahren schwächten sich zu Ende des Jahrzehnts ab, da sich die erwarteten Erträge nicht einstellten. Das veranlasste den Staat, sich stärker im Eisenbahnbau zu engagieren. Nicht nur errichtete er neue Linien, er übernahm auch ältere Not leidende. Auf diese Weise verfügte die Monarchie zu dieser Zeit über den höchsten Anteil an Staatsbahnen (Bachinger, 1973, S. 282). Einen symbolhaften Höhepunkt erlebte diese Zeit damit, dass die von Carl Ghega geplante und gebaute Linie über den Semmering vollendet und die Südbahn 1857 bis nach Triest geschlossen wurde. Im selben Jahr versuchte Handelsminister Bruck, dem Bahnbau durch das „Eisenbahnkonzessionsgesetz“ neue Impulse zu verleihen. Er verfolgte damit mehrere Ziele. Zum einen trachtete er, mit dem Verkauf staatlicher Bahnen Mittel für die Budgetsanierung zu gewinnen. Andererseits sollte der Rückzug des Staates im Verkehrssektor durch private Unternehmer substituiert werden. Dieses Ziel versuchte er durch eine Dividendengarantie zu erreichen. Tatsächlich gelang es, die Privatisierung bis 1858 abzuschließen und den Eisenbahnbau voranzutreiben. Für das Bundesgebiet fiel besonders der Ausbau der Ost-West-Verbindung – die „k. k. priv. Kaiserin-Elisabeth-Westbahn“ – ins Gewicht. Da nunmehr auch die Bauwirtschaft und die Baustoffindustrie durch die Gestaltung der Ringstraße kräftig expandierten, erreichte die Konjunktur eine solche Stärke, dass selbst die restriktiven Einflüsse des internationalen Rückschlags von 1857 zumindest gedämpft werden konnten. Vielfach wird in der Literatur auf den massiven Rückstand Österreichs in der Erschließung des Landes durch Eisenbahnen hingewiesen. Hier bedenkt man nicht, dass sich für Länder mit mehr oder minder homogener Wirtschafts- und Regionalstruktur ganz andere Möglichkeiten für den Bahnbau ergaben als in einem Staatsverband mit krass unterschiedlich entwickelten Gebieten (Koren, 1961A, S. 228). Aber selbst wenn man das heutige Bundesgebiet ins Auge fasst, ist zu berücksichtigen, dass sich nahezu die gesamte industrielle Kapazität auf Wien und Niederöster-
Die neuen Leitsektoren der industriellen Entwicklung
139
reich sowie die Steiermark konzentrierte. Und diese Industrieregion war bereits in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre verkehrstechnisch erschlossen und im Norden mit Böhmen sowie den deutschen Staaten und im Süden mit Triest verbunden. Der internationale Konjunktureinbruch 1857 wirkte sich jedoch insofern auch auf die österreichische Wirtschaft aus, als die Eisenbahninvestitionen infolge Rückzugs des ausländischen Kapitals zurückgingen. 1864 erreichte der Bahnbau in der österreichischen Reichshälfte seinen Tiefstand, als nur mehr 38 Kilometer neue Strecken eröffnet wurden (Bachinger, 1973, S. 287). Dieser Rückgang führte zu einer deutlichen Abschwächung der Konjunktur in den Sechzigerjahren. Für den erstaunlich früh und intensiv einsetzenden Aufschwung der Gründerzeit nach der Niederlage von 1866 scheint der Bahnbau nicht konstitutiv gewesen zu sein. Für diesen spielten neben der – bereits genannten – Ausweitung der Geldmenge, der innenpolitischen Liberalisierung sowie der außenpolitischen Stabilisierung auch der Umstand eine Rolle, dass die Regierung daranging, die veraltete Bewaffnung der österreichischen Armee durch massive Rüstungsaufträge zu ersetzen. Dadurch profitierte natürlich in erster Linie die Rüstungsindustrie. Diese lag zwar teilweise mit den Skoda-Werken in Böhmen, aber auch in Österreich gewannen damit Unternehmen, wie Werndl in Steyr, Bedeutung und internationales Renommee. Erst in den folgenden Jahren intensivierte sich der Eisenbahnbau in der österreichischen Reichshälfte wieder und erreichte Anfang der Siebzigerjahre seinen Höhepunkt (Bachinger, 1973, S. 289). Der zweite wesentliche Impuls für die Wirtschaft des Bundesgebiets ging von der Stadterweiterung Wiens und damit von der Bauwirtschaft aus – welche freilich auch vom Eisenbahnbau profitierte. Jene wurde 1857 beschlossen und die Schleifung der Befestigungsanlagen eingeleitet. Zu ihrem ersten Gipfel gelangten die Bauarbeiten 1861, litten in der Folge aber gleichfalls unter dem Konjunktureinbruch der frühen Sechziger. Auch dieser Sektor erlebte nach 1866 einen lebhaften Aufschwung, welcher 1870 seinen zweiten Höhepunkt erreichte. Die Stärke dieser Expansion lässt sich daran ablesen, dass die Zahl der Neubauten und Bauveränderungen in Wien vor 1848 jährlich weniger als 100 erreichte, zwischen 1858 und 1867 jedoch auf 440 anstieg (Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 301). Auch die Bautechnik veränderte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts signifikant. Zunächst zog sie aus den verbesserten Transportmöglichkeiten Nutzen, die es ihr ermöglichten, bessere Baustoffe zu verwenden. Die Mechanisierung der Ziegelherstellung ist mit dem Namen Heinrich Drasche und seiner „Wienerberger Ziegelfabriks- und Baugesellschaft AG“ verbunden. Ferner setzte sich immer stärker der höherwertige Portlandzement gegenüber dem bisher gebrauchten Romanzement durch. Diese Entwicklung wurde in hohem Maß durch die 1854 gegrün-
140
Die Ära des Liberalismus
dete „Hydraulische Kalk- und Portland-Cement Fabrik zu Perlmoos“ ermöglicht, welche durch ein selbst entwickeltes Verfahren diese Sorte herstellte. Wesentlich erscheint auch, dass bereits ab Mitte des Jahrhunderts immer häufiger Eisen verwendet wurde, vor allem im Brückenbau, aber auch als Träger von Dachkonstruktionen (Jetschgo – Lacina – Pammer – Sandgruber, 2004, S. 208). Andere Industriezweige expandierten weniger spektakulär, aber gleichfalls kräftig. Das gilt für die chemische Industrie ebenso wie für die Papier verarbeitende Industrie und die Konsumgüterindustrie. In Letzterer ersetzten „Dampfmühlen“ die durch Wasserkraft angetriebenen. Im Bereich der Bierherstellung wurden die kleinen Brauereien immer häufiger durch große abgelöst. Speziell in Wien profitierte auch die „Geschmacksindustrie“ von den lokalen Gegebenheiten. Eine signifikante Ausnahme bildete die Textilindustrie : Der Seidenproduktion war in den vorangegangenen Jahrzehnten vor allem im Wiener Raum eine führende Rolle zugekommen. Den Höhepunkt hatte sie Mitte der Fünfzigerjahre erreicht. Mit 16.000 Beschäftigten waren zwei Drittel aller Arbeitskräfte der Textilindustrie auf sie entfallen. Nach Ausbruch der Seidenraupenkrankheit verfiel dieser Industriezweig völlig. Ihm verblieben Mitte der Siebzigerjahre nur mehr 2.800 Beschäftigte. Lediglich die Erzeugung von Bändern hielt sich im Wiener Bereich (Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 301). Ein Kennzeichen dieser Epoche lag auch darin, dass die neuen Industrien über das Wiener Becken hinaus stärker in den österreichischen Kronländern Fuß fassten. Neue Impulse wurden zunächst der schon traditionell dezentral angesiedelten Eisenindustrie zuteil. Unter dem Einfluss französischen Kapitals schloss man die zahlreichen lokalen Gewerke in der „k. k. priv. Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft“ zusammen, wodurch sich eine beträchtliche Steigerung von Produktion und Produktivität ergab. Die Waffenfabrik von Werndl in Steyr wurde bereits erwähnt. Die k. k. Staatsbahnen errichteten ihre Hauptwerkstätte in Knittelfeld. Maschinenindustrien, wie jene in Andritz, oder die Papierfabrik in Gratkorn (beide bei Graz) und in Steyrermühl gewannen an Bedeutung. Gleichfalls in Graz entstanden die Großbrauereien Puntigam und Reininghaus. Johann Grillmayer gründete in der Nähe von Linz die „Aktiengesellschaft der Kleinmünchner Baumwollspinnereien und Mechanischen Weberei“. Eine Baumwollspinnerei bei Gmunden vermochte sogar nach England zu exportieren (Tremel, 1969, S. 357). Wiewohl auch in Österreich eine Unternehmergeneration herangewachsen war, welche erfolgreich die industrielle Entwicklung vorantrieb und dem technischen Fortschritt durch Einsatz moderner Maschinen Rechnung trug, scheint sich doch der Transfer von Invention zu Innovation nicht immer reibungslos vollzogen zu haben. Diesen Umstand demonstriert das Schicksal wichtiger Erfindungen, die nie
141
Die neuen Leitsektoren der industriellen Entwicklung
den Weg zur Produktionsreife fanden. Das gilt für die Konstruktion einer Nähmaschine durch Josef Madersperger ebenso wie für jene der Schreibmaschine durch Peter Mitterhofer oder für die Schiffsschraube Joseph Ressels. Diese Inventionen blieben keinesfalls unbekannt, sie wurden entweder patentiert oder vom Wiener Polytechnikum anerkannt, erreichten jedoch keinen Durchbruch zur kommerziellen Verwertung. Die schon während der Fünfzigerjahre immer häufiger verwendeten Nähmaschinen wurden durchwegs vom Ausland bezogen. Nur in Fällen, in denen der Erfinder mit dem Unternehmer identisch war, vermochte sich eine Erfindung auch wirtschaftlich durchzusetzen, wie etwa die Panzerkassen Franz Wertheims. Der Konjunkturverlauf in der Periode des Liberalismus, wie er sich aus den zahlreichen Einzeldaten und schriftlichen Darstellungen ergibt – die dem vorstehenden Text großteils entnommen werden können –, lässt sich recht gut mit dem von Komlos konstruierten Index der Industrieproduktion verifizieren. Zwar wurde dieser für die gesamte österreichische Reichshälfte (Cisleithanien) geschätzt, da diese aber ökonomisch bereits weitgehend integriert war und dem heutigen Bundesgebiet in ihr ein hohes Gewicht zukam, kann man ihn auch als Indikator der Konjunkturentwicklung im Bundesgebiet heranziehen. Abbildung 5 : Index der Industrieproduktion in Cisleithanien 1830 bis 1913
1913=100, logarithmischer Maßstab
100
Quelle : Komlos, 1986, S. 187f.
1910
1900
1890
1880
1870
1860
1850
1840
1830
10
142
Die Ära des Liberalismus
Auf diese Weise lässt sich nach dem Rückschlag der Revolution von 1848 recht gut eine kräftige Wirtschaftsentwicklung in den Fünfzigerjahren ausmachen, die nur von kurzen Einbrüchen beeinträchtigt wird. Deutlich tritt die schwere Rezession in der ersten Hälfte des folgenden Jahrzehnts hervor, welche schließlich in die explosive Entwicklung der Gründerzeit mündet. Der Rückschlag nach dem „großen Krach“ 1873 wird zwar auch in der Industrieproduktion sichtbar, erreicht aber bei Weitem nicht die Intensität der Sechzigerjahre oder das Ausmaß, das die Zeitgenossen empfunden hatten. Das industrielle Wachstum während der Epoche des Liberalismus sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wirtschaftsstruktur des heutigen Bundesgebiets noch in beträchtlichem Maß von der Agrarwirtschaft bestimmt war. Gemäß der ersten Volkszählung 1869 entfielen im heutigen Bundesgebiet von 2,823.500 Erwerbspersonen 1,517.500 oder 53,8 % auf die Land- und Forstwirtschaft. In Bergbau, Industrie und Gewerbe arbeiteten 667.500 Personen oder 23,6 % und in den Dienstleistungen 638.500 oder 22,6 %.
9.4 Die soziale Problematik des Strukturwandels
Die Periode des Liberalismus begegnete einer stetigen Intensivierung der sozialen Problematik. Wie in den vorangegangenen Kapiteln ausgeführt, hatte sich bereits im Merkantilismus ein Arbeitsmarkt entwickelt, welcher insbesondere die Manufakturen mit Erwerbstätigen versorgte. Da jene häufig außerhalb der Städte lebten, konnte die ländliche Bevölkerung oft in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft Arbeit finden, oder die Unternehmer ließen es sich angelegen sein, eigene Arbeitersiedlungen anzulegen. Das gilt zwar auch für die frühen Phasen der Industrialisierung, da der Leitsektor Textilindustrie gleichfalls dezentrale Standorte bevorzugte, dennoch veränderte er die Arbeitsmöglichkeiten der ländlichen Bevölkerung gravierend. Beruhte das Verlagswesen im Merkantilismus auf Verteilung der Arbeit an viele Familienbetriebe, so wurden durch die Fabriken solche Berufschancen infolge des Maschineneinsatzes praktisch vernichtet. Daraus resultierte nunmehr starker Druck auf arbeitslos Gewordene, Beschäftigung in den Städten, insbesondere in Wien, zu suchen.
143
Die soziale Problematik des Strukturwandels
Abbildung 6 : Löhne der Wiener Bauhilfsarbeiter 1830 bis 1914
1914 = 100, logarithmischer Maßstab
10
Nominell Real
0 1830
1840
1850
1860
1870
1880
1890
1900
1910
Quelle : Sandgruber, 1982, S. 121.
Diese Arbeitskräfte siedelten sich in den Vorstädten an und bildeten eine geschlossene, jedoch noch kaum politisch organisierte Schicht. Unter günstigen konjunkturellen Bedingungen fanden sie Arbeit und erzielten ein gewisses Einkommen. Kam es zu wirtschaftlichen Rückschlägen, verloren sie dieses und blieben praktisch unversorgt, da ihnen die in den Landgemeinden existierende Unterstützung fehlte. Besonders kritisch gestaltete sich die Lage, wenn es infolge von Missernten zu starken Preissteigerungen der Lebensmittel kam. Staatliche Unterstützungen existierten in der Stadt praktisch nicht, solche gewährleisteten allenfalls private karitative Vereine oder die Kirche. Diese Einrichtungen, wie etwa der „Allgemeine Wiener Hilfsverein“, bemühten sich um eine, zumindest minimale, Ernährung, welche meist durch „Suppenküchen“ erfolgte, sowie teilweise auch um Bekleidung. Eine solche Notsituation war in den Jahren von 1845 bis 1847 gegeben, wodurch die Lage in den Vorstädten Wiens explosiven Charakter annahm und zu gewalttätigen Ausbrüchen führte, welche die Entwicklung der Ereignisse des Jahres 1848 in erheblichem Maß bestimmten und letztlich dazu führten, dass sich das Bürgertum mit der Staatsmacht arrangierte. Um den grundlegenden Charakter des tiefgreifenden sozialen Wandels zu erfassen, müssen einige zentrale Elemente dieses Prozesses herausgearbeitet werden.
ABB6
144
Die Ära des Liberalismus
Da ist zunächst die Frage nach dem Einkommen der Arbeiterschaft. Diese ist deshalb schwer zu beantworten, weil statistisches Material nur bruchstückhaft vorliegt und nur wenige quantitative historische Studien über die Lohnentwicklung existieren. Lediglich Sandgruber hat die Löhne der Wiener Bauhilfsarbeiter von 1830 bis 1914 sowohl nominell als auch preisbereinigt zusammengestellt. Danach zeigt sich, dass diese zwischen 1830 und dem Ende der Vierzigerjahre nominell im Wesentlichen konstant blieben, real infolge von Veränderungen der Lebensmittelpreise schwankten. In den Fünfzigerjahren zeigt sich ein nomineller Anstieg, der sich allerdings nicht auf die Realeinkommen auswirkte. Erst die Gründerzeit bewirkte auch eine deutliche Erhöhung der Bauarbeitereinkommen, die nach dem „großen Krach“ nicht vollständig verloren ging. Für Wien existieren auch Daten über den Nahrungsmittelverbrauch, die sich jedoch nicht als Indikator für die Einkommenssituation eignen, da sie in hohem Maß durch die Struktur der Wiener Bevölkerung determiniert sind, welche vom Wachstum der unteren Einkommensschichten in dieser Periode gekennzeichnet war (Butschek, 1992, S. 29). Einige Hinweise lassen sich aus Daten über den ProKopf-Verbrauch von Genussmitteln in der österreichischen Reichshälfte zwischen 1780 und 1910 gewinnen. Übersicht 20 : Verbrauch von Genussmitteln in der österreichischen Reichshälfte 1780 bis 1910 Salz
Zucker
Kaffee1
Tabak
Bier
Kilogramm
Branntwein Liter
1780
–
0,15
0,04
0,50
–
–
1800
–
0,40
0,05
0,79
–
–
1830
7,4
1,00
0,12
0,76
20
–
1841
8,0
1,00
0,18
0,88
26
9,5
1850
8,9
2,50
0,36
0,97
32
5,5
1860
9,4
3,00
0,59
1,20
37
7,8
1870
10,1
3,60
0,74
1,31
46
–
1880
9,8
6,10
0,89
1,41
49
3,1
1890
11,0
10,00
0,86
1,29
57
4,4
1900
9,7
14,70
0,98
1,37
78
5,5
1910
7,6
18,00
1,14
1,31
73
5,5
Quelle : Sandgruber, 1982, S. 197. – 1 Gesamte Monarchie.
Auch für solche Daten gilt, dass der wachsende Anteil der Arbeiterschaft an der Bevölkerung den Durchschnitt tendenziell gedrückt haben musste. Diese
Die soziale Problematik des Strukturwandels
145
Angaben gewinnen überdies noch dadurch an Bedeutung, als es sich dabei um den Verbrauch von Genussmitteln handelt, also Güter, nach welchen die Nachfrage sehr einkommenselastisch war. Und diese Werte zeigen – mit Ausnahme von Salz und Branntwein – eine durchgängige, ziemlich stetige, Steigerung vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1910, aber auch für die liberale Periode, also etwa von 1850 bis 1870 bzw. 1880. Über die Einkommensverteilung und deren Veränderungen lässt sich für die Industrialisierungsphase keine Aussage treffen, da eben die Daten dafür fehlen. Wohl aber ist es möglich, aus den Wandlungen der Vermögensverteilung darauf gewisse Rückschlüsse zu ziehen. Pammer hat für die Zeit vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg aus den Unterlagen der Verlassenschaftsabhandlungen im heutigen Bundesgebiet entsprechende Informationen gewonnen. Danach gestaltete sich die Vermögensverteilung nach den Napoleonischen Kriegen infolge deren Nachwirkungen, vor allem durch die Finanzkrisen in dieser Periode, gleichmäßiger. Nach der Jahrhundertmitte jedoch entwickelte sie sich gegenteilig. Das resultierte jedoch zu einem erheblichen Teil aus einem Struktureffekt. Die Bedeutung des Agrarsektors mit seiner eher starren Einkommensverteilung nahm zugunsten des dynamischen gewerblich-industriellen Sektors ab. Und dort zeichnete sich eine, für die Industrialisierungsphase kennzeichnende, Entwicklung ab, dass nämlich die steigenden Einkommen vor allem der Unternehmer zu höheren Ersparnissen, zu höherer Vermögensbildung führten und damit zu einer ungleichmäßigeren Vermögensverteilung. Erst unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg zeichnete sich auch im industriell-gewerblichen Sektor eine gewisse Angleichung ab (Pammer, 2002, S. 210). Man wird nicht fehlgehen, eine ähnliche Entwicklung für die Verteilung der Einkommen zu unterstellen. Wenn also mittelfristig von einer Einkommensverbesserung der Arbeiterschaft ausgegangen werden kann, ist damit nichts über die kurzfristigen, oft gravierenden Ausfälle durch Arbeitslosigkeit gesagt, aber auch nichts über andere Faktoren, welche die Lage der Arbeiterschaft in diesen Jahrzehnten als prekär erscheinen lassen (Butschek, 1992, S. 33). Da war zunächst der Ortswechsel vom Land in die Stadt, welcher eine fundamentale Änderung der Lebensbedingungen mit sich brachte. Zwar bestanden am Land Reste der persönlichen Abhängigkeit gegenüber der Grundherrschaft und auch gegenüber der Familie sowie der Gemeinde, was von vielen wahrscheinlich auch als drückend empfunden wurde. Andererseits bedeutete sie auch eine emotionelle sowie auch soziale Einbettung in eine Gemeinschaft. Der letzteren Tatsache wurde auch durch die staatliche Armengesetzgebung Rechnung getragen, welche die Gemeinde zur Erhaltung ihrer Mitglieder verpflichtete. Dieser Umstand
146
Die Ära des Liberalismus
brachte es auch mit sich, dass Arbeitslose oft von der Behörde aus der Stadt in ihre Heimatgemeinde abgeschoben wurden. Die deplorablen Wohnungsverhältnisse der Arbeiter in der Stadt mochten zwar einen Fortschritt gegenüber den noch schlimmeren auf dem Land bedeuten (Sandgruber, 1982, S. 335 ; Teuteburg – Wischermann, 1985, S. 5), sie wirkten jedoch in der Stadt anders oder wurden anders empfunden. Die Fabriksarbeit repräsentierte einen völlig neuen Arbeitsstil. Die Beschäftigten hatten in ihren früheren Berufen nicht nur die Leistung, sondern auch die Organisation der Arbeit zumindest teilweise selbst bestimmt. Nunmehr waren sie einem strikten Reglement unterworfen. Zuvor war ihre Arbeit noch häufig in die eigene Familie integriert geblieben. Nunmehr waren Berufstätigkeit sowie Haushalt und Familie getrennt. Die Vorteile dieser neuen Gegebenheiten konnten zunächst angesichts einer 12- bis 16-stündigen Arbeitszeit und oft stundenlanger Arbeitswege nicht als solche empfunden werden. All die natürlichen Begrenzungen der Arbeitszeit am Land, durch Licht und Wetter sowie die kirchlichen Feiertage, waren in der Fabrik weggefallen. Ein weiteres gravierendes Problem lag darin, dass weder politische noch juristische Rahmenbedingungen vorhanden waren, welche der Arbeiterexistenz entsprochen hätten. Man ging an die neu entstandenen Probleme mit den Instrumenten und Gewohnheiten der agrarischen Vergangenheit heran – wenn man nicht versuchte, sie durch Einsatz von Militär und Polizei zu lösen. Als Beispiel mag die Existenz der Kinderarbeit dienen. In der Landwirtschaft war Kinderarbeit immer selbstverständlich. Sie blieb den Fähigkeiten des Kindes, auch durch zahlreiche Unterbrechungen der Tätigkeit, angepasst. Die völlig geänderten Bedingungen der Industriearbeit mit ihrer exzessiven Arbeitszeit und geschlossenen Räumen wurde lange Zeit überhaupt nicht wahrgenommen. Aber selbst die neuere Gesetzgebung wurde dem Phänomen der unselbstständigen Arbeit nicht gerecht. Der Dienstvertrag beruhte im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit, welche die völlig unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Positionen der Vertragspartner ignorierte. Das Arbeitsverhältnis der Fabriksarbeiter wurde eher durch die „Dienstbotenordnung“ von 1810 geregelt, welche noch in hohem Maß personenrechtlichen Charakter trug, auch öffentlich-rechtliche Sanktionen für die Verletzung der Vertragspflichten durch den Arbeitnehmer vorsah. Immerhin statuierte sie aber eine Reihe von Rechten für ihn und auch Sanktionen gegenüber dem Arbeitgeber. Erst die Gewerbeordnung von 1859 vermittelte annähernd adäquate Regelungen. Der Arbeitgeber wurde verhalten, eine Arbeitsordnung für den Betrieb zu erlassen und Arbeitsverzeichnisse zu führen. Andererseits wurde eine überbetrieb-
Die soziale Problematik des Strukturwandels
147
liche Kontrolle der Arbeitnehmer durch die Einführung eines „Arbeitsbuches“ ermöglicht. Die Arbeitnehmerschutzbestimmungen brachten das Verbot der Warenentlohnung, Lohnsicherung und Einschränkung der Kinderarbeit. Die Wirksamkeit dieses Gesetzes wurde freilich durch mangelhafte Kontrolle beträchtlich verringert. Einen gewissen Fortschritt darin brachte 1869 die Einführung der paritätisch besetzten Gewerbegerichte (Weidenholzer, 1985, S. 113). All die Elemente dieses tief greifenden Strukturwandels erklären die prekäre Situation der unselbstständigen Arbeitskräfte in der sich entwickelnden Industriegesellschaft und damit die Frustration der Arbeiterschaft, die sich auch in Gewaltbereitschaft manifestierte, zumindest aber im häufigen Einsatz der Streikwaffe. Dazu kam die Einstellung der übrigen Bevölkerungsgruppen, welche gleichfalls diesem neuen Phänomen hilflos gegenüberstanden, was sich ebenso in einer Tendenz zur Gewaltanwendung manifestierte. Jedenfalls jedoch blieb die Arbeiterschaft am Rand der Gesellschaft, von ihr weitgehend separiert. Dies umso mehr, als sie vorerst kaum in der Lage war, sich politisch zu organisieren. Derartige Versuche waren im Vormärz natürlich gnadenlos unterdrückt worden, aber auch die liberale Regierung zeigte sich nicht bereit, Arbeitervereine zu akzeptieren. Erst in der Spätphase dieser Epoche konnte unter dem damaligen Minister für die öffentliche Sicherheit, Eduard Taaffe, 1869 der erste „Arbeiterbildungsverein“ in Wien gegründet werden. Dieser entfaltete sofort eine lebhafte Aktivität, welche freilich von den Behörden nicht nur kontrolliert, sondern nach Möglichkeit auch durch Veranstaltungsverbote behindert wurde (Brügel, 1922, S. 84). Etwas erfolgreicher erwiesen sich die Bemühungen um gewerkschaftliche Aktivität. Das ließ sich dem Umstand zuschreiben, dass Absicherungen gegen die Risken des Arbeitslebens, vor allem in traditionellen Wirtschaftszweigen und höher qualifizierten Berufsgruppen, schon längere Zeit bekannt waren. Neben den Bruderladen der Bergarbeiter existierten Unterstützungsvereine, wie der schon 1683 gegründete „Privatverein der in Wien befindlichen k. k. Rechnungs- und Kontrollbeamten für sich und ihre Familienmitglieder“. Im 18. Jahrhundert erlebten solche Vereine einen Aufschwung, wie etwa die „Witwen- und Waisengesellschaft des Wiener medicinischen Doctorencollegiums“ (1760). Durch die Revolution 1848 erfuhren vor allem die „Fabrikscassen“ eine relativ weite Verbreitung. Diese vor allem auf Unterstützung im Krankheitsfall und Invalidität konzentrierten Einrichtungen wurden durch Beiträge der Arbeiter in der Höhe zwischen 1 % und 5 % des Lohnes sowie Arbeitgeberzuschüsse im Ausmaß von 25 % bis 50 % dieser Summen finanziert (Klenner, 1951, S. 32). Den Aktivitäten quasigewerkschaftlichen Charakters ist wohl auch die Gründung von Konsumgenossenschaften zuzurechnen. So wurden 1865 die Statuten des „Arbeiterkonsumvereines zu Fünfhaus“ von der Statthalterei genehmigt.
148
Die Ära des Liberalismus
Die Gewerbeordnung 1859 verbot Arbeitnehmern, unter sich Vereinbarungen zu treffen, um durch gemeinschaftliche Arbeitsverweigerung oder durch andere Mittel von den Arbeitgebern günstigere Lohn- und Arbeitsbedingungen zu erzwingen ; Zuwiderhandeln wurde strafrechtlich geahndet. Ende der Sechzigerjahre verstärkte sich der Druck auf die Regierung, sei es durch Demonstrationen, sei es durch eine große Zahl von Petitionen auch liberaler Abgeordneter, der Arbeiterschaft das Koalitionsrecht einzuräumen. 1870 trat schließlich das Koalitionsgesetz in Kraft, wodurch den Unselbstständigen die gewerkschaftliche Aktivität erschlossen wurde. Trotz einer weiterhin restriktiven Haltung der Behörden gegenüber der Arbeiterschaft begannen nunmehr Gewerkschaften, stets häufiger in die Öffentlichkeit zu treten. Im heutigen Bundesgebiet gab es 1872 148 Arbeitervereine mit knapp 53.000 Mitgliedern. Damit hatte sich die Arbeiterschaft im Ausklang der liberalen Epoche der österreichischen Wirtschaft und Gesellschaft als ernst zu nehmendes – und ernst genommenes – politisches Element etabliert. Übersicht 21 : Arbeiterorganisationen und deren Mitglieder in Österreich 1873 Arbeitervereine
Mitglieder
Wien
51
35.368
Niederösterreich
28
4.616
Oberösterreich
7
922
Salzburg
6
469
Steiermark
37
9.848
Kärnten
14
1.156
Tirol Kronländer insgesamt
5
356
148
52.735
Quelle : Klenner, 1951, S. 80.
Die liberale Epoche repräsentiert somit eine wichtige Periode des Übergangs zur industriellen Gesellschaft ; politisch, indem sie vom – gescheiterten – Versuch, nach der Explosion des Jahres 1848 noch einmal den Absolutismus zu etablieren, zu Ansätzen einer parlamentarischen Demokratie überleitete, und organisatorisch, indem die rechtliche und administrative Infrastruktur, also der institutionelle Rahmen, eines Industriestaats aufgebaut wurde. Die Förderung des Eisenbahnbaus sowie die Wiener Stadterweiterung vermittelten der Wirtschaft allgemein kräftige Impulse, vermochten aber vor allem die Leitsektoren dieser Periode – wenngleich mit Unterbrechungen – zur Entfaltung zu bringen. Auch konnte die Regierung
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149
durch Förderung der Aktienbanken dem österreichischen Kapitalmarkt jene Struktur vermitteln, die einem werdenden Industriestaat angemessen war. Grundsätzlich durchlief die österreichische Wirtschaft eine Phase, in welcher die Koordinationsfunktion des Marktes und der ungehinderte nationale sowie internationale Wettbewerb im Vordergrund standen. Weniger Erfolge waren der Regierung in ihrer Währungspolitik beschieden. Es war aber auch dieser Zeitabschnitt, in dem die soziale Problematik ihre schärfste Ausprägung erfuhr und die Gesellschaft dieser in steigendem Maß gewahr wurde. Andererseits begann sich die Arbeiterschaft ihrer sozialen Identität bewusst zu werden und erste Schritte zur politischen Organisation zu setzen – wozu das Staatsgrundgesetz 1867 die, wenngleich von der Behörde widerwillig eröffnete, Möglichkeit bot. Alles in allem ein bedeutender Abschnitt auf dem Weg zur Industriegesellschaft, der mit der Gründerzeit den wahrscheinlich stärksten Wachstumsschub dahin vermittelte.
10. Auf dem Weg ins „Silberne Zeitalter“
10.1 Massendemokratie und erste Ansätze des Sozialstaats
Die Ära des Liberalismus ging weder aus ökonomischen noch aus sozialen oder staatspolitischen Gründen zu Ende, sondern wegen außenpolitischen. Franz Joseph hatte nach der Serie militärischer Niederlagen seine Ambitionen, in Mitteleuropa die Rolle einer Großmacht beizubehalten, aufgegeben. Beträchtliche Teile des Staatsgebiets waren im Zuge dieser Ereignisse verloren gegangen. Daher richtete er nunmehr seine Aufmerksamkeit stärker auf den Balkan, wo sich neue Möglichkeiten erschlossen, als „Mehrer des Reiches“ zu reüssieren. Eine solche ergab sich 1878 durch den Berliner Kongress, in dessen Rahmen der Monarchie die Okkupation Bosniens und der Herzegowina bewilligt wurde. Da diese Politik nicht die Unterstützung der liberalen Regierung fand und der Kaiser sich dadurch international bloßgestellt fühlte, entließ er diese und beauftragte seinen Jugendfreund Eduard Taaffe mit der Regierungsbildung. Dem neu ernannten Ministerpräsidenten gelang es, aus deutschen, tschechischen und polnischen Parteien eine relativ stabile Koalition zu bilden, welche unter der Bezeichnung „Eiserner Ring“ agierte. Die Einbeziehung auch nichtdeutscher Völkerschaften erlaubte es ihm, 14 Jahre (1879–1893) mit ausreichender parlamentarischer Unterstützung zu regieren. Natürlich erforderte die Aufrechterhaltung dieser Koalition großes politisches Geschick. Taaffe beschrieb sein Vorgehen in der Weise, dass man die verschiedenen Völker der Monarchie stets in einem Zustand ausgeglichener und wohl abgewogener Unzufriedenheit halten müsse. Eine Politik, die von seinen liberalen Gegnern als eine solche des „Fortwurstelns“ bezeichnet wurde (Brook-Shepherd, 1996, S. 112). Freilich erwies sich die Charakterisierung der Zeitgenossen als vollkommen verfehlt, denn dieser Regierungswechsel brachte nicht nur die Berufung eines dem Kaiser genehmeren Ministerpräsidenten, sondern setzte wesentliche institutionelle Veränderungen in Gang. Er bedeutete zunächst das Ende der politischen Vormacht durch „Advokaten und Unternehmer“. Deren Position erschütterte Taaffe durch eine weitere Verbreiterung des Wahlrechts. Nunmehr wurde dieses allen Personen eingeräumt, welche mindestens 5 Gulden Steuer im Jahr entrichteten – die „Fünfguldenmänner“. Dadurch wurde die parlamentarische Basis Taaffes gestärkt und jene der Liberalen geschwächt.
Massendemokratie und erste Ansätze des Sozialstaats
151
Weiters kam es zu einem folgenreichen Wechsel in der Politik. Die Wirtschaftspolitik der liberalen Regierung hatte ja schon im Gefolge der Krise des Jahres 1873 Einschränkungen hinnehmen müssen. Taaffe folgte einer völlig anders gearteten Konzeption. Anstelle der Dominanz von Markt und Wettbewerb trat die Vorstellung des Schutzes vor deren Einflüssen. Dieser Gedanke manifestierte sich in allen Bereichen. War schon die liberale Regierung vom ursprünglichen Freihandelskonzept abgegangen, so verstärkte die Regierung Taaffe den Zollschutz für die österreichische Industrie. Dieser erreichte insbesondere für Eisen exorbitante Ausmaße, nämlich mehr als 40 %, wodurch sich weite Bereiche der österreichischen Produktion verteuern mussten (Hertz, 1917, S. 148). Darüber hinaus begünstigte diese Politik auch eine Kartellierung der Industrie. Eine ähnliche Politik wurde auch gegenüber der Agrarwirtschaft betrieben, welche in dem Moment zum Problem werden musste, da diese keine Exportüberschüsse mehr erzielte (Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 402). Gravierende Einschnitte gab es auch in der Gewerbeordnung. Die Politik ging vom Prinzip der Gewerbefreiheit ab und weitete massiv die Notwendigkeit eines Befähigungsnachweises für handwerksmäßige Gewerbe aus. Mit solchen Maßnahmen der Wettbewerbsbeschränkung setzte Taaffe eine Entwicklung in Gang, welche für die österreichische Wirtschaft ein Jahrhundert lang charakteristisch werden sollte. Auch in der Sozialpolitik vollzog sich nunmehr ein fundamentaler Wandel. 1883 wurde ein Gewerbeinspektorengesetz beschlossen. Die Aufgabe der Organe dieser Behörde bestand darin, die Arbeitsbedingungen in den Betrieben zu kontrollieren, ebenso wie die Arbeitszeit sowie die Pausen und die Lohnzahlungen. Überdies fungierten sie bei Lohnstreitigkeiten oder Streiks als Vermittler. Durch die Gewerberechtsnovelle 1885 wurde nunmehr die Fabriksarbeit für Jugendliche unter 14 Jahren vollständig verboten, solche bis zu 16 Jahren durften nicht mehr zu schweren Arbeiten herangezogen werden. Für diese sowie für Frauen untersagte man die Nachtarbeit. Der Maximalarbeitstag wurde mit elf Stunden fixiert, ebenso die Sonntagsruhe. Das Trucksystem, also die Entlohnung in Waren, wurde verboten, technisch-sanitäre Anlagen vorgeschrieben, Lohnschutzbestimmungen sowie Fürsorgemaßnahmen für Wöchnerinnen erlassen. Wenngleich all diese Vorschriften in ihrer Wirkung durch behördliche Nachlässigkeit oder auch bösen Willen beeinträchtigt blieben, nahm Österreich durch solche Maßnahmen in der Arbeiterschutzgesetzgebung Europas einen Spitzenplatz ein (Klenner, 1951, S. 120). 1887 wurde ein Unfallversicherungsgesetz beschlossen, das 1889 in Kraft trat. Freilich erfasste dieses im Wesentlichen nur die Fabriksarbeiter. 1888 folgte das Krankenversicherungsgesetz.
152
Auf dem Weg ins „Silberne Zeitalter“
Den weltanschaulichen Hintergrund für Taaffes Politik bildete die katholische Soziallehre, wie sie vor allem von Karl Vogelsang artikuliert worden war. Dieser zum Katholizismus konvertierte deutsche Publizist entwickelte ein antikapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das sich nicht an Einkommensmaximierung, sondern am Begriff der Solidarität und der gesellschaftlichen Verantwortung orientierte sowie die soziale Absicherung der Arbeiterschaft forderte. Vogelsang beeinflusste allerdings nicht nur die Politik der Regierung Taaffe. Das galt noch in gesteigertem Maß für die entstehende Christlichsoziale Partei. Diese Ende der Achtzigerjahre gegründete politische Bewegung erreichte ihren spektakulären Höhepunkt unter Karl Lueger, welcher von 1897 bis 1910 das Amt des Bürgermeisters von Wien ausübte. Der außerordentlich begabte Politiker, welcher freilich Populismus nicht scheute und vor allem den Antisemitismus als propagandistische Waffe einsetzte, kommunalisierte die Gas- und Elektrizitätswerke sowie die Straßenbahn und versah die Stadt mit einer modernen Infrastruktur. Nachdem 1907 mit kaiserlichem Erlass das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht – für Männer – eingeführt worden war, gelang es den Christlichsozialen, bei den Wahlen zur stärksten Fraktion im Reichstag zu werden. Mit der Formierung solcher politischer Gruppierungen vollzog sich jedoch ein grundlegender institutioneller Wandel. Anstelle der traditionellen Honoratiorenparteien traten nunmehr politische Massenbewegungen. Und wiewohl die Christlichsoziale Partei nach dem Tod Luegers insofern ihren Charakter änderte, als sie nicht mehr vor allem die Interessen der „kleinen Leute“, also vor allem des Kleingewerbes, des Kleinhandels und der Bauern, vertrat – mit starken Sympathien für die Arbeiterschaft –, sondern allmählich immer mehr Industrie und Banken unterstützte, entwickelte sie sich zu einem zentralen Element der österreichischen Politik für das nächste Jahrhundert. Die andere große politische Bewegung etablierte sich im Zeichen eines säkularen Sozialismus. Die seit Gründung des ersten Arbeiterbildungsvereins entstandenen unterschiedlichen sozialistischen Vereinigungen konnten von Viktor Adler auf dem Parteitag zu Hainfeld 1889 vereinigt werden, wonach die Sozialdemokratische Partei einen ungeheuren Aufschwung nahm. Sie vermochte bei den Wahlen 1911 mit 1,054.000 Stimmen die Christlichsozialen zu überflügeln und diese als stärkste Fraktion im Reichsrat abzulösen. Sie übernahm – unwillentlich, da sie ja ein alternatives Gesellschaftsmodell anstrebte – die fundamentale Aufgabe, die Arbeiterschaft in die kapitalistische Industriegesellschaft zu integrieren. Sie verlieh jener Identität und damit Selbstbewusstsein. Durch ihre zahlreichen Untergliederungen für fast alle Lebensbereiche vermittelte sie den Arbeitern ein Gefühl der sozialen Geborgenheit, artikulierte
Massendemokratie und erste Ansätze des Sozialstaats
153
aber auch die politischen Forderungen, welche den Integrationsprozess vorantreiben sollten. Auch die Sozialdemokraten entwickelten sich zu einem zentralen Element der politischen Entwicklung Österreichs im folgenden Jahrhundert. Parallel zum Aufstieg der Sozialdemokratischen Partei vollzog sich jener der Gewerkschaften. Zunächst organisierten sich diese dezentral auf fachlicher und regionaler Basis. Damit entstand ein neues Element der Lohnpolitik, weil es nunmehr immer häufiger zu kollektiven Lohnverträgen kam. Zwar hatten die Wiener Buchdruckereiarbeiter schon 1848 einen Tarifvertrag abgeschlossen, doch blieb dieser bis in die Achtzigerjahre eher ein Unikum. Erst nach Überwindung der Rezession 1901 und 1902 begann sich der Kollektivvertrag zu verbreiten (Mesch, 1984, S. 97). Die dadurch gegebene stärkere Marktposition der Arbeitnehmer schlug sich aber auch darin nieder, dass die Zahl der Streiks zurückging, was natürlich auch von den Unternehmern begrüßt wurde. Die Gewerkschaften übernahmen manchmal, ihrem Ursprung entsprechend, auch andere Aufgaben als die Vertretung der Mitgliederinteressen in Lohn- und Arbeitsrechtfragen. So organisierten sie häufig Arbeitslosenunterstützung sowie Rechtschutz, übernahmen aber auch die Arbeitsvermittlung. Ein entscheidendes Datum für ihr kollektives Auftreten bedeutet der 1. Mai 1890, welcher vor allem in Wien von einer großen Mehrheit der Arbeiter gefeiert wurde. 1892 bildete sich schließlich hier eine zentrale Gewerkschaftskommission, und im folgenden Jahr trat der erste Gewerkschaftskongress zusammen (Klenner, 1951, S. 170). Diese Entwicklung wurde dadurch begünstigt, dass sich um die Jahrhundertwende in der öffentlichen Meinung ein grundsätzlicher Wandel vollzog, als die soziale Frage in immer weiteren Kreisen zur Kenntnis genommen wurde und man auch Lösungen in vielen Bereichen suchte. Das galt für jenen der allgemeinen Politik, wo es sogar zur Gründung einer liberalen „Sozialpolitischen Partei“ kam (Holleis, 1978), aber vor allem für den akademischen Raum, wie dies der „Verein für Socialpolitik“ in Deutschland dokumentierte. Auch die katholische Kirche griff nunmehr die soziale Problematik auf, indem Papst Leo XIII. 1891 die Enzyklika Rerum novarum erließ. Die atmosphärischen Veränderungen schlugen sich auch in der effektiven Sozialpolitik Österreichs nieder. 1906 wurde das Pensionsgesetz für Privatbeamte beschlossen, das die Berufsunfähigkeits-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung für Privatangestellte einführte, und 1910 setzte das Handlungsgehilfengesetz neue arbeitsrechtliche Maßstäbe : Es statuierte einen Urlaubsanspruch, eine sechswöchige Gehaltsfortzahlung bei Dienstverhinderung sowie eine Kündigungsfrist. Das dritte politische Lager im heutigen Bundesgebiet, welches gleichfalls in Zukunft eine Rolle spielen sollte, repräsentierten die sogenannten „Deutschnatio-
154
Auf dem Weg ins „Silberne Zeitalter“
nalen“. Sie stellten in ihrer radikalen Ausprägung die Existenzberechtigung der Monarchie infrage und traten für den Anschluss der deutschsprachigen Gebiete an das Deutsche Reich ein. Zumindest aber ging es ihnen um die Dominanz der deutschsprachigen Bevölkerung gegenüber den anderen Nationen der österreichischen Reichshälfte, was zu stets schärferen Auseinandersetzungen mit diesen führte. Darüber hinaus bekämpften sie sowohl ihre jüdischen Mitbürger als auch die katholische Kirche. Zwar verfügten sie nie über einen Massenanhang, blieben aber vor allem im akademischen Milieu sowie in der Lehrerschaft verwurzelt. Die Regierung Taaffe, welche sich stets um die Kooperation der Nationen bemüht hatte, fiel letztlich über eine Wahlreformvorlage. Ebenso scheiterte in der Folge der polnische Ministerpräsident Kasimir Feliks Badeni, als er versuchte, die tschechische Sprache im Amtsverkehr dem Deutschen gleichzustellen, am rabiaten deutschnationalen Widerstand. Daraus lässt sich erkennen, dass sich die Innenpolitik in den letzten Jahrzehnten der Monarchie in nationalen Kämpfen aufrieb, während sich die Außenpolitik immer stärker in die hochexplosiven Vorgänge des Balkans verstrickte. Doch wäre es verfehlt anzunehmen, dass das kulturelle Leben besonders in der Reichshaupt- und Residenzstadt sowie des Bundesgebiets durch die politische Entwicklung allzu viel gelitten hätten. Im Gegenteil : Gerade vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg erlebten Kultur und Wissenschaft eine einmalige Blüte. Nicht zuletzt durch die vollständige Emanzipation der jüdischen Bürger infolge des Staatsgrundgesetzes 1867 erreichten Literatur, Theater, Musik, Malerei, Architektur bis zum Kunsthandwerk Höhepunkte. Ähnliches gilt für den Bereich der Wissenschaft. Die Psychoanalyse oder die Österreichische Schule der Nationalökonomie erlangten ebenso Weltgeltung wie die Reine Rechtslehre, und der Austromarxismus verlieh der innersozialistischen Diskussion wichtige Impulse.
10.2 Stabilisierung von Budget und Währung
Auch die Wirtschaftspolitik vermochte in dieser Periode Erfolge zu erzielen. Das ergab sich in vielen Bereichen schon aus dem Umstand, dass die Monarchie nach der Niederlage von 1866 bis 1914 eine nahezu ungebrochene Phase des Friedens durchlief. Dies musste sich zuallererst auf das Budget auswirken. Nicht nur, dass die explodierenden unmittelbaren Kriegskosten fortfielen, verloren die Militärausgaben grundsätzlich an Bedeutung im Staatshaushalt.
155
Stabilisierung von Budget und Währung
Die gesamten öffentlichen Aufwendungen in der österreichischen Reichshälfte zeigten bis zur Mitte des ersten Jahrzehnts im 20. Jahrhundert eine gleichmäßige nominelle Zunahme. Allerdings vollzog sich innerhalb dieser Periode ein grundlegender Wandel der Ausgabenstruktur. Der Anteil der Militärausgaben, welcher 1854 noch einen Höhepunkt mit 51,8 % erreicht hatte, reduzierte sich bis 1910 auf 15,7 %. Demgegenüber erhöhte sich jener für die Eisenbahnen von praktisch Null Ende der Sechzigerjahre auf 26,8 % 1910, was aus der neuerlichen Verstaatlichung der Eisenbahnen resultierte. Aber auch die Aufwendungen für Post und Telegrafie verdoppelten sich fast in diesem Zeitraum, wenngleich sie mit 3,5 % und 6,1 % einen vergleichsweise geringen Anteil des Budgets in Anspruch nahmen. Alle übrigen Posten veränderten sich nicht wesentlich. Übersicht 22 : Strukturwandel der österreichischen Staatsausgaben 1870
1910
In % der gesamten Staatsausgaben Kaiserlicher Hof
1,1
0,4
Verwaltung (ohne Ministerien)
1,2
0,9
Öffentliche Sicherheit
1,3
1,7
Rechtspflege
3,6
2,9
Unterricht und Wissenschaft
1,2
3,2
Straßen
1,5
1,0 26,8
Eisenbahnen
3,6
Post und Telegrafie
3,5
6,1
Häfen und Schifffahrt
0,7
1,1
Wasserbau und Meliorationen Militär
0,7
1,2
24,1
15,7
Staatsschuld
29,6
18,8
Sonstiges
27,9
20,2
Insgesamt
100,0
100,0
Quelle : Wysocki, 1973, S. 92.
Ähnlich entwickelten sich die Einnahmen, auch hier vollzogen sich beträchtliche Strukturverschiebungen. So reduzierte sich der Anteil der direkten Steuern von 35,1 % 1868 auf 28,2 % 1913, ebenso wie derjenige der indirekten Steuern von 22,1 % auf 16,8 %, wogegen die Einnahmen aus den staatlichen Monopolen tendenziell ähnlich zunahmen wie jene aus Zöllen. Wollte man die Abgabenbelastung der Wirtschaft beurteilen – was in der Vergangenheit häufig geschah –, wäre freilich in Betracht zu ziehen, dass in dieser
156
Auf dem Weg ins „Silberne Zeitalter“
Periode die Einnahmen und Ausgaben der staatlichen Monopolbetriebe, welche praktisch Durchlaufposten repräsentierten, dramatisch zugenommen hatten und zuletzt ein Viertel des Budgetvolumens erreichten. Übersicht 23 : Strukturwandel der österreichischen Staatseinnahmen 1868
1883
1898
1913
In % der gesamten Steuereinnahmen Direkte Steuern
35,1
31,5
27,6
28,2
Indirekte Steuern
22,1
16,1
15,9
16,8
Stempel und Gebühren
14,7
20,4
17,2
16,5
Monopolerträge
20,5
17,0
25,4
26,1
7,6
15,0
13,9
12,4
100,0
100,0
100,0
100,0
Zölle Insgesamt
Quelle : Gratz, 1949, S. 229.
Versucht man, die Belastungsquote für einige Stichjahre dadurch zu schätzen, dass man das Budget der österreichischen Reichshälfte dem geschätzten Bruttoinlandsprodukt für diese Region gegenüberstellt, ergibt sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Belastung (einschließlich Monopolbetriebe, aber ohne Sozialversicherungseinnahmen) von etwa 12 %. Nach 1900 steigt sie auf eine Quote von etwa 17 %. Freilich wäre in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass in der österreichischen Reichshälfte die Industrie gegenüber dem Gewerbe durch eine „besondere Erwerbssteuer“ speziell belastet wurde. Auf diese Weise blieben die Gewinne der österreichischen Industrie etwa doppelt so hoch belastet wie jene der deutschen (Hertz, 1917, S. 137). Die lange Friedensperiode erlaubte es, das Budget allmählich auszugleichen. Zwar brachte die Okkupation von Bosnien und der Herzegowina 1878 abermals ein kräftiges Defizit, das in den Folgejahren in reduzierter Form noch anhielt, doch 1889 gelang es, jenes zu beseitigen. Ab diesem Zeitpunkt war die Monarchie seit Jahrhunderten das erste Mal in der Lage, ihre finanzielle Gebarung über einen längeren Zeitraum ausgeglichen zu gestalten, ja es ließen sich bis zum Ersten Weltkrieg wiederholt Überschüsse erzielen.
157
Stabilisierung von Budget und Währung
Übersicht 24 : Gebarung der österreichischen Reichshälfte 1870 bis 1913 Staatseinnahmen
Staatsausgaben Millionen Gulden
1870
355,6
332,3
1871
356,3
345,6
1872
367,2
353,0
1873
398,9
398,9
1874
400,3
400,2
1875
391,8
391,7
1876
381,4
415,9
1877
388,1
415,5
1878
410,6
503,5
1879
394,8
454,3
1880
422,2
432,1
1881
442,3
479,6
1882
486,1
507,3
1883
489,0
514,9
1884
510,4
543,0
1885
524,6
529,5
1886
524,7
521,9
1887
528,7
566,9
1888
513,7
567,3
1889
562,4
551,3
1890
581,8
559,6
1891
600,7
587,1
1892
617,7
608,4
1893
659,2
629,8
1894
660,3
640,2
1895
698,4
664,8
1896
707,8
689,0
1897
741,1
708,7
1898
763,2
760,2
1899
799,1
769,0
1900
827,1
802,6
1901
843,4
833,4
1902
863,8
857,7
1903
878,9
879,5
1904
898,9
897,4
1905
941,0
915,0
1906
1.004,3
931,2
1907
1.126,5
1.141,9
158
Auf dem Weg ins „Silberne Zeitalter“ Staatseinnahmen
Staatsausgaben Millionen Gulden
1908
1.194,2
1.187,0
1909
1.397,4
1.441,8
1910
1.447,7
1.450,7
1911
1.541,4
1.502,0
1912
1.586,7
1.592,2
1913
1.743,0
1.730,5
Quelle : Wysocki, 1973, S. 93 und S. 100.
Damit waren auch die Voraussetzungen für eine stabile Währung gegeben. Konsequenterweise blieb das Silberagio verhältnismäßig niedrig. Auf der anderen Seite begann der Silberpreis infolge häufigerer Vorkommen zu sinken. 1879 fiel der Wert des Edelmetalls – zum Erstaunen der Zeitgenossen, welche der metallistischen Geldtheorie anhingen – unter jenen der Papierwährung, sodass ein Silberdisagio entstand. Dadurch floss der Notenbank eine große Menge Silber zum Zweck der Prägung zu. Schon aus Kapazitätsgründen sah sie sich gezwungen, diese für private Rechnung einzustellen und schließlich auch keine Silberbarren mehr einzulösen (Pressburger, 1966, S. 175). Damit war die bisherige Metallbindung der österreichischen Währung vorerst beendet. Freilich hatte man bereits früh eine solche an Gold im Rahmen des Ausgleichs ins Auge gefasst. Ein erster Schritt dazu wurde 1870 dadurch gesetzt, dass aufgrund einer Vereinbarung mit der Lateinischen Münzunion Goldmünzen geprägt wurden. Weitere Schritte schienen in der Folge deshalb unvermeidlich, weil immer mehr Staaten die Goldwährung einführten. Ein solcher Übergang fiel umso leichter, als die Notenbank 1870 und 1871 einen Teil ihrer Währungsreserven in Gold angelegt hatte. Die effektive Umstellung auf die Goldwährung erfolgte schließlich 1892 unter Finanzminister Emil Steinbach. Ein Gulden zu 100 Kreuzern der Österreichischen Währung entsprach nunmehr zwei Kronen zu je 100 Hellern. Trotz der nunmehr eingetretenen Stabilität der Währung sah die Regierung davon ab, die Einlösung des Golds ins Auge zu fassen. Bereits 1887 war es zur Erneuerung der Notenbankstatuten – des „Bankprivilegs“ – gekommen. Danach wurde eine metallische Deckung im Ausmaß von zwei Fünfteln des Notenumlaufs vorgeschrieben. Überschritt dieser den gedeckten Betrag um mehr als 200 Millionen Gulden, dann war dafür eine fünfprozentige „Notensteuer“ zu entrichten. Diese Bestimmungen reflektieren den damaligen Stand des Wissens und die existierenden Auffassungsunterschiede. Die Finanzminister blieben bestrebt, die Währungsstabilität durch Begrenzung des Notenumlaufs zu
Elektrizität und Chemie
159
sichern, wogegen die Notenbank in ihrer Tätigkeit den wachsenden Kreditbedarf der Unternehmer registrierte und die fatalen Folgen einer restriktiven Politik erkannte. Daraus resultierte die dargestellte halbschlächtige Lösung. Durch eine zusätzliche Statutenänderung wurde die Notenbank in die Lage versetzt, die Währungsreserven nicht nur in Gold, sondern nunmehr teilweise auch in Devisen zu halten. Hierfür zog sie hauptsächlich Pfund Sterling, später auch die Reichsmark heran. Damit vollzog sich letztlich ein Übergang von der Gold- zur Gold-Devisendeckung (März – Socher, 1973, S. 354).
10.3 Elektrizität und Chemie
Die industrielle Entwicklung vom Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts stand abermals im Zeichen entscheidender technischer Neuerungen. So wurde diese Periode durch Elektrizität und Chemie bestimmt. Damit folgte Österreich den Veränderungen in allen Industriestaaten. Diese Branchen beeinflussten aber nicht nur die Wertschöpfung und die Beschäftigung der Industrie, sie veränderten auch in hohem Maß Lebensstil und Lebensgefühl der Bevölkerung (Sandgruber, 1995, S. 274). Erstmals setzte man Elektrizität Mitte des 19. Jahrhunderts industriell ein, freilich begrenzt auf galvanische Technik, etwa zum Versilbern und Vergolden von Besteck durch das Unternehmen Berndorf. Große Bedeutung erlangte jedoch schon der Aufbau eines Telegrafennetzes. Wegen der anfänglich außerordentlich hohen Preise wurde die Einrichtung zunächst wenig in Anspruch genommen, doch weitete sich mit dem Ausbau des Netzes und sinkendem Preis die Nutzung kräftig aus. In der ersten Hälfte der Achtzigerjahre kam das Telefon hinzu. Wiewohl auch in diesem Fall die anfänglich hohen Kosten den Gebrauch des Geräts auf die höheren Einkommensschichten und die Geschäftswelt beschränkten, gab es vor dem Ersten Weltkrieg im Bundesgebiet etwa 100.000 Anschlüsse (Jetschgo – Lacina – Pammer – Sandgruber, 2004, S. 282). In den Achtzigerjahren trat in der Verwendung von Elektrizität die Beleuchtung hinzu. Diese begegnete zunächst ebenfalls manchen Schwierigkeiten, weil kaum Elektrizitätswerke existierten und auch keine Leitungsnetze. Ihr Einsatz beschränkte sich daher zunächst auf einzelne Betriebe. Dazu kam, dass sie im Wettbewerb mit dem zunächst viel billigeren Gas stand. Auch hier vermochte sich die Elektrizität erst allmählich durchzusetzen, nicht zuletzt durch die Erfindung der Glühfadenlampe durch Auer von Welsbach. Letztlich revolutionierte diese Energieform jedoch den innerstädtischen öffentlichen Verkehr.
160
Auf dem Weg ins „Silberne Zeitalter“
Den Durchbruch in der Produktion bewirkte aber der Elektromotor. Um die Jahrhundertwende wurde dieser immer häufiger in den Betrieben verwendet. Seine Vorteile bestanden nicht nur in der einfachen Handhabung und in seiner Sauberkeit, sondern auch darin, dass er in kleineren Einheiten verwendet werden konnte und damit vor allem Kleinbetrieben neue Möglichkeiten erschloss. Damit aber vermittelte die Elektrotechnik nicht nur der Produktion allgemein wesentliche Impulse, sondern führte zum Aufbau eines eigenen Industriezweigs. Denn es mussten nicht nur die Elektromotoren hergestellt werden, sondern die Elektrizitätswerke und -netze, Schaltanlagen und schließlich die Verkehrsmittel. Übersicht 25 : An Zentralanlagen angeschlossene Elektromotoren in Wien Zahl
Veränderung
1891
79
–
1896
895
+ 816
1901
3.768
+ 2.873
1906
11.772
+ 8.004
1911
24.769
+ 12.997
1913
32.891
+ 8.122
Quelle : Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien.
Die österreichischen Produzenten gingen in diesem Bereich häufig Kooperationen mit ausländischen Unternehmen ein. So waren Brown Boveri, Ericsson, Western Electric und ITT in der Telegrafen- und Telefonherstellung ; Westinghouse, Phillips und Siemens in der Glühlampenerzeugung ; Siemens, AEG sowie Felten und Guilleaume bei Infrastrukturanlagen und im Apparatebau sowie der Kabelfabrikation tätig (Jetschgo – Lacina – Pammer – Sandgruber, 2004, S. 271). Aber nicht nur der öffentliche Verkehr erfuhr in dieser Periode einen neuen Aufschwung, auch der private. Mit dem Fahrrad eröffneten sich gänzlich neue Möglichkeiten der individuellen Fortbewegung. Anfänglich ein Sportgerät der Mittelklasse, entwickelte es sich zum Verkehrsmittel breiter Schichten der Bevölkerung. Gab es 1886 in Wien etwa 250 Radfahrer, zählte man um die Jahrhundertwende 70.000 bis 80.000. Und ein beträchtlicher Teil dieser Geräte wurde in österreichischen Fabriken hergestellt. Zwar fanden sich um die Jahrhundertwende in Österreich auch schon Motorräder und Autos, doch blieb deren Zahl relativ beschränkt. Im Bundesgebiet waren 1911 5.000 Letzterer in Verwendung. Wiewohl die meisten davon importiert wurden, fanden sich durchaus erfolgreiche Automobilfabriken auch in Österreich vor (Sandgruber, 1995, S. 279).
161
Elektrizität und Chemie
Demgegenüber erreichte die chemische Produktion nicht jene Bedeutung, die sie in Deutschland erlangte. Zwar spielte sie – wie in Kapitel 8.2 ausgeführt – schon Mitte des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle, jedoch vor allem durch Herstellung von Vorprodukten, wie Schwefel- und Salpetersäure, Soda, Pottasche und Chlorkalk. Dazu kamen allmählich Konsumgüter, wie Seife, Kerzen, Speisefette und Zündhölzer. Die Produktion blieb aber mehrheitlich kleinbetrieblich organisiert. Eine Ausnahme bildete die Österreichisch-Amerikanische Gummifabrik, die späteren Semperit-Werke. Die Produktion von Farben hielt sich eher in engen Grenzen, und eine pharmazeutische Industrie existierte praktisch nicht. Neben den hier beschriebenen neuen Leitsektoren erlebten aber fast alle übrigen Industriezweige einen kräftigen Aufschwung. Freilich nicht während der gesamten Periode, da nach dem Krach von 1873 eine Stagnationsphase einsetzte, welche erst Anfang der Achtzigerjahre überwunden wurde. Aber in den folgenden beiden Jahrzehnten vollzog sich eine kräftige Expansion. Übersicht 26 : Beschäftigte in der Wiener Industrie 1880, 1885 und 1890 1880
1885
1890
Zahl
Anteile in %
Zahl
Anteile in %
Zahl
Anteile in %
Eisen und Metall
7.402
13,0
9.789
13,6
12.173
13,2
Maschinen
8.764
15,3
11.689
16,3
13.617
14,8
904
1,6
1.157
1,6
2.994
3,3
Holz
2.948
5,2
4.259
5,9
6.548
7,1
Leder
1.674
2,9
1.937
2,7
2.589
2,8
Textil
7.226
12,7
8.292
11,5
8.502
9,2
12.350
21,6
14.629
20,4
21.707
23,6
Steine usw.
Bekleidung Papier
1.678
2,9
2.440
3,4
3.732
4,1
Nahrungs- und Genussmittel
5.853
10,3
7.608
10,6
8.530
9,3
Chemie
2.891
5,1
3.784
5,3
4.188
4,6
Grafisches Gewerbe
5.342
9,4
6.232
8,7
7.337
8,0
57.032
100,0
71.816
100,0
91.917
100,0
Insgesamt
Quelle : Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 411.
Zwar sind die Statistiken nur für Teile des Bundesgebiets vorhanden und im Übrigen nicht exakt vergleichbar, weil die Definition des Industriebetriebs wechselt, doch vermitteln sie zumindest aussagekräftige Größenordnungen. So kann man der Industriestatistik für Wien entnehmen, dass sich die Gesamtbeschäftigung dieses Sektors in den Achtzigerjahren fast verdoppelte, wobei sich die Struktur nicht
162
Auf dem Weg ins „Silberne Zeitalter“
entscheidend veränderte. Großes Gewicht fiel der Eisen- und Metall- sowie der Maschinenindustrie zu. Die städtische Nachfragestruktur bewirkte aber, dass die Bekleidungsindustrie den höchsten Beschäftigtenanteil erreichte. Freilich blieb diese großteils kleinbetrieblich organisiert. Ins Gewicht fielen weiters die Textil-, die Nahrungs- und Genussmittelindustrie sowie das grafische Gewerbe. Die Schrumpfung der Textilindustrie in diesem Jahrzehnt resultierte daraus, dass die Seidenindustrie infolge gestiegener Rohstoffkosten in Wien praktisch verschwunden war. Zwischen 1890 und 1902 erhöhte sich die Industriebeschäftigung in Wien um mehr als 80 %. In einer geänderten Branchengliederung lagen nunmehr abermals Maschinenbau sowie Eisen- und Metallverarbeitung an der Spitze, wogegen Bekleidung – offenbar durch statistische Verschiebung zur Textilindustrie – zurückgefallen war. Bedeutend blieben weiterhin das grafische Gewerbe sowie die Nahrungsund Genussmittelerzeugung. Im Beschäftigtenzuwachs lag die Elektroindustrie an der Spitze gefolgt freilich von der Bekleidungsindustrie. Übersicht 27 : Beschäftigte in der Wiener Industrie 1890 und 1902 (ohne Heimarbeiter) 1890 Zahl Steine und Erden
1902 Anteile in %
Zahl
Anteile in %
3.511
4,8
6.963
5,3
Eisen- und Metallverarbeitung
11.947
16,5
19.935
15,2
Maschinenbau
12.434
17,1
23.687
18,1
Chemische Industrie
2.577
3,6
4.868
3,7
Textilindustrie
6.050
8,3
10.563
8,0
Bekleidung
4.966
6,8
12.614
9,6
Ledererzeugung und -verarbeitung
4.236
5,8
5.491
4,2
Holzverarbeitung
4.998
6,9
8.198
6,2
Papierverarbeitung
3.974
5,5
5.850
4,5
Grafisches Gewerbe
7.334
10,1
10.886
8,3
Nahrungs- und Genussmittel
5.926
8,2
10.209
7,8
Elektroindustrie
2.405
3,3
8.278
6,3
Gas- und Elektrizitätsversorgung
2.157
3,0
3.686
2,8
72.515
100,0
131.228
100,0
Insgesamt
Quelle : Chaloupek – Eigner – Wagner, 1991, S. 413.
Natürlich lässt sich die Entwicklung der Wiener Industrie nicht ohne Weiteres auf jene des gesamten Bundesgebiets übertragen, dennoch kann man daraus die kräftige Expansion des gesamten Sektors erschließen. Das wird auch durch den von
163
Elektrizität und Chemie
Komlos errechneten Index der Industrieproduktion für die österreichische Reichshälfte bestätigt, ebenso wie man eine solche Entwicklung aus den ab 1869 vorliegenden Volkszählungsdaten ablesen kann. Übersicht 28 : Erwerbspersonen nach Wirtschaftssektoren 1869 bis 2001 Land- und Forstwirtschaft
Bergbau, Industrie und Gewerbe
Dienstleistungen
Erwerbspersonen insgesamt
1869
1,517.500
667.500
638.500
2,823.500
1880
1,454.700
696.400
646.600
2,797.700
1890
1,518.800
819.400
700.000
3,038.200
1900
1,393.600
895.400
869.000
3,158.000
1910
1,368.300
1,075.100
1,024.800
3,468.200
1923
1,438.400
1,197.900
966.300
3,602.600
1934
1,258.700
1,086.800
1,044.300
3,389.800
1939
1,357.700
1,128.000
995.700
3,481.400
1951
1,092.600
1,256.900
997.700
3,347.200
1961
776.400
1,394.100
1,199.300
3,369.800
1971
436.500
1,352.200
1,344.400
3,133.100
1981
290.500
1,398.500
1,722.500
3,411.500
1991
214.500
1,312.500
2,157.300
3,684.300
2001
150.600
1,138.800
2,571.300
3,860.700 100,0
Anteile in % 1869
53,8
23,6
22,6
1880
52,0
24,9
23,1
100,0
1890
50,0
27,0
23,0
100,0
1900
44,1
28,4
27,5
100,0
1910
39,5
31,0
29,5
100,0
1923
39,9
33,3
26,8
100,0
1934
37,1
32,1
30,8
100,0
1939
39,0
32,4
28,6
100,0
1951
32,6
37,6
29,8
100,0
1961
23,0
41,4
35,6
100,0
1971
13,9
43,2
42,9
100,0
1981
8,5
41,0
50,5
100,0
1991
5,8
35,6
58,6
100,0
2001
3,9
29,5
66,6
100,0
Quelle : Butschek, 1992, S. 42 ; Statistik Austria.
Diese wurden vom ehemaligen Statistischen Zentralamt auf das heutige Bundesgebiet umgerechnet. Da die Zahl der Erwerbspersonen insgesamt ausgewiesen
164
Auf dem Weg ins „Silberne Zeitalter“
wurde, war es möglich, diese nach Wirtschaftssektoren zu schätzen (Butschek, 1992, Anhang B). Wiewohl sich auch dabei Schwierigkeiten deshalb ergaben, weil die Ehegatten in der Landwirtschaft unterschiedlich erfasst wurden, entsteht doch ein deutliches Bild der Strukturveränderungen auf dem Arbeitsmarkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So entfielen 1869 53,8 % der Erwerbspersonen auf die Land- und Forstwirtschaft, 23,6 % auf Bergbau, Industrie und Gewerbe sowie 22,6 % auf Dienstleistungen. 1910 war der Landwirtschaftsanteil auf 39,5 % gefallen, jener des sekundären Sektors auf 31,0 % gestiegen, fast ebenso hoch lag der Dienstleistungsanteil (29,5 %). Die absolute Zahl der im sekundären Sektor tätigen Arbeitskräfte hatte sich zwischen 1869 und 1910 um mehr als 400.000 erhöht.
10.4 Die Etablierung der Arbeiterschaft
Wenn in Kapitel 10.1 darauf hingewiesen wurde, dass in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie der sozialen Problematik steigendes Augenmerk gewidmet wurde und es der Arbeiterschaft zunehmend gelungen war, sich zu organisieren sowie politisch zu artikulieren, dann stellt sich die Frage, inwieweit sich diese Entwicklung auf die Situation jener Bevölkerungsgruppe auswirkte. Zunächst geht es darum, überhaupt ihren Umfang festzustellen. Das war auch nach Beginn der älteren Volkszählungen nicht ohne weiteres möglich, da zunächst zwischen Dienstpersonal und mithelfenden Ehegatten nicht unterschieden wurde. Eine klare Trennung erfolgte erst durch die Volkszählung 1900. Danach entfielen zu diesem Datum 1,933.200 Personen oder 61,2 % der Berufstätigen auf unselbstständige Arbeitskräfte. Freilich wies diese Gruppe noch recht tief greifende Unterschiede auf, Angestellte spielten 1900 noch eine untergeordnete Rolle (8,9 %). Der größte Anteil entfiel auf Arbeiter in Industrie, Gewerbe und Bauwirtschaft (38,0 %). Dazu kamen neben Arbeitern in der Landwirtschaft (24,5 %) und in den Dienstleistungen (15,4 %) das „Dienstpersonal“ (10,4 %) und schließlich die Taglöhner (11,7 %). Bis 1910 war der Angestelltenanteil auf 10,6 % gestiegen, jener der Arbeiter in Industrie, Gewerbe und Bauwirtschaft auf 41,4 % sowie in den Dienstleistungen auf 18,8 %, wogegen die Quote der Landwirtschaft auf 22,2 %, des Dienstpersonals auf 8,8 % und der Taglöhner auf 8,7 % zurückging. Aus den Daten über die Lohnentwicklung, welche seit Einführung der Unfallversicherung in größerem Ausmaß zur Verfügung stehen, gewinnt man den Eindruck, dass seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Reallöhne langfristig mäßig zunahmen. Steigerungen der Nominallöhne erfolgten meist nur zur Kompensation
165
Die Etablierung der Arbeiterschaft
Übersicht 29 : Erwerbspersonen nach ihrer Stellung im Beruf 1890 bis 2001 Selbstständige 1890
627.000
1900
679.800
Mithelfende Familienangehörige
Unselbstständige
– 545.000
Erwerbspersonen insgesamt
–
3,038.200
1,933.200
3,158.000
1910
778.000
493.800
2,196.400
3,468.200
1923
646.000
658.300
2,298.300
3,602.600
1934
649.700
598.900
2,141.200
3,389.800
1939
587.000
773.900
2,120.500
3,481.400
1951
587.900
593.100
2,166.100
3,347.100
1961
533.300
449.600
2,386.900
3,369.800
1971
427.900
228.100
2,477.100
3,133.100
1981
398.500
67.800
2,945.200
3,411.500
1991
349.500
46.865
3,287.935
3,684.300
2001
365.300
23.000
3,472.400
3,860.700 100,0
Anteile in % 1890
20,6
–
–
1900
21,5
17,3
61,2
100,0
1910
22,4
14,2
63,3
100,0
1923
17,9
18,3
63,8
100,0
1934
19,2
17,7
63,2
100,0 100,0
1939
16,9
22,2
60,9
1951
17,6
17,7
64,7
100,0
1961
15,8
13,3
70,8
100,0
1971
13,7
7,3
79,1
100,0
1981
11,7
2,0
86,3
100,0
1991
9,5
1,3
89,2
100,0
2001
9,5
0,6
89,9
100,0
Quelle : Butschek, 1992, S. 45 ; Statistik Austria.
von Teuerungsschüben – umgekehrt bewirkten sinkende Verbraucherpreise eine Zunahme der Realeinkommen. Daran änderte sich prinzipiell auch nichts durch den steigenden Organisationsgrad der Unselbstständigen. Zwar orientierten sich die gewerkschaftlichen Lohnforderungen sowohl an den Lebenshaltungskosten als auch an den Gewinnquoten (Mesch, 1984, S. 165), doch vermochten die Arbeitnehmer das Produktivitätswachstum nicht auszuschöpfen, sodass die bereinigte Lohnquote zwischen 1890 und 1913 eine fallende Tendenz aufwies (Mesch, 1984, S. 190). Allerdings dürfte sich die Einkommenssituation der Arbeiterschaft dadurch verbessert haben, dass gegen Ende des Untersuchungszeitraums im Bundesgebiet
166
Auf dem Weg ins „Silberne Zeitalter“
Vollbeschäftigung erreicht wurde. In der ersten Hälfte des letzten Jahrzehnts vor dem Ersten Weltkrieg bewegte sich die Arbeitslosenquote (Arbeitslose in % des Angebots an unselbstständigen Arbeitskräften) schätzungsweise um 5 %, nach 1907 um 3 % (Butschek, 1992, S. 439 und S. 472). Damit dürften die Haushaltseinkommen gestiegen sein. Natürlich ergaben sich auch beträchtliche Lohnunterschiede nach Qualifikationen und Regionen, Letztere wurden wieder durch die Branchenstruktur beeinflusst. Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich schon eine Lohnhierarchie nach Industriezweigen herausgebildet, welche sich über die Zeit als recht konstant erwies. An der Spitze standen der Bergbau, das grafische Gewerbe, die Maschinenbau- und Metallindustrie. Zur unteren Hälfte gehörten vor allem die Zweige der traditionellen Konsumgüterindustrien (Textil, Bekleidung, Papier, Leder, Nahrungsmittel). Holzverarbeitung, Chemie sowie Steine und Erden hielten einen mittleren Platz. Besonders deutliche Unterschiede ergaben sich für die Entlohnung der Frauen. Darüber lagen bereits zeitgenössische Quellen vor, nämlich eine 1896 abgehaltene parlamentarische Enquete („Die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Wiener Lohnarbeiterinnen. Ergebnisse der Enquete über Frauenarbeit in Wien 1896/97 sowie der Quinquennialbericht der Handels- und Gewerbekammer für Wien – Statistischer Bericht über die volkswirtschaftlichen Zustände des Erzherzogtums Österreich unter der Enns“, 1890). Daraus ergab sich, dass Frauen etwa die Hälfte der Männerlöhne verdienten. Die Ursachen dafür waren vielfältig. Zum einen blieb die berufliche Qualifikation hinter jener der Männer zurück. Dieser Umstand resultierte einerseits aus der geringen gesellschaftlichen Wertschätzung einer formellen Berufsbildung für Frauen, welche sich implizit auch aus der geringen Rentabilität solcher Bildungsinvestitionen ergab. Frauen übten ihren Beruf vielfach nur bis zu ihrer Eheschließung oder bis zur Geburt des ersten Kindes aus. Arbeiterinnen über 30 Jahre waren relativ selten. Damit wurden auch die beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten behindert. Aus physischen Gründen blieben ihnen die relativ gut bezahlten Arbeitsplätze versperrt, die hohe Anforderungen an das körperliche Leistungsvermögen stellten. Auch die tägliche Arbeitszeit blieb im Allgemeinen hinter jener der Männer zurück, da seltener Überstunden und keine Nachtarbeit geleistet wurden. Die Frauenarbeit wurde auch insofern gesellschaftlich gering bewertet, als man dem Mann die Unterhaltsverpflichtung für die Familie zuordnete, wogegen die Frauenlöhne nur als Zusatz des Familieneinkommens betrachtet wurden (Butschek, 1992, S. 54). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Herausbildung einer Industriearbeiterschaft praktisch vollzogen hatte. Es existierte eine breite Schicht der Bevölkerung, welche ihre Arbeitskraft entgeltlich
Das „Silberne Zeitalter“
167
zur Verfügung stellte, die aber darüber hinaus ausreichend ausgebildet, diszipliniert und mobil war, um im industriellen Erzeugungsprozess eingesetzt zu werden. Auch die politischen Rahmenbedingungen hatten sich in eine Richtung gewandelt, welche der neuen sozialen Schicht gewisse Bewegungsmöglichkeiten boten. Der Staat hatte die Problematik der unselbstständigen Arbeiterschaft nicht nur insoweit zur Kenntnis genommen, als er den Gewerkschaften sowie der politischen Vertretung der Arbeiterschaft legale Betätigungsfelder eröffnete, sondern auch legistische Maßnahmen zu ihrem Schutz ergriff. Nun wäre es sicherlich verfehlt, anzunehmen, die gesellschaftliche Integration der Arbeiterschaft sei bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Wesentlichen abgeschlossen gewesen ; doch kann man die Aussage wagen, dass die auf Privateigentum an Produktionsmitteln basierende Marktwirtschaft mit parlamentarischer Demokratie von den Arbeitnehmern zumindest als Boden der Auseinandersetzung akzeptiert wurde. Solches ließ sich von der ursprünglichen sozialistischen Programmatik nicht sagen : Die sich letztlich durchsetzende Marx’sche Auffassung war dem Ziel einer fundamentalen Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft gefolgt und betrachtete die Sozialpolitik eher als Palliativum, welches die Kampfkraft des Proletariats schwächen könnte. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb diese grundlegende sozioökonomische Umgestaltung formell das Endziel der sozialistischen Programmatik. Allerdings wurden unter dem Einfluss der RevisionismusDebatte partielle gesellschaftliche Veränderungen akzeptiert, da sie ja faktisch eine Fülle von positiven Veränderungen für die Lage der Arbeiterschaft herbeiführten. Für die Gewerkschaften trat die Frage der Systemänderung noch stärker in den Hintergrund, da sie sich in erster Linie auf Verbesserungen des gegebenen Wirtschafts- und Sozialsystems konzentrierten. Dennoch blieben noch manche sozialen Probleme offen. Vor allem die gesellschaftliche Integration war eben noch weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein. Ansätze für soziale Spannungen blieben bestehen, welche sich unter bestimmten Bedingungen verschärfen konnten. Die Labilität der gesellschaftlichen Situation sollte sich schon in wenigen Jahrzehnten erweisen.
10.5 Das „Silberne Zeitalter“
Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts bis hin zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachte für alle Industriestaaten eine Periode ökonomischen und politischen Aufschwungs. Seit 1870/71 kam es in dieser Region zu keinen größeren militärischen Verwicklungen. Ja noch mehr : Das „Konzert der europäischen Mächte“ versuchte,
168
Auf dem Weg ins „Silberne Zeitalter“
außenpolitische Streitpunkte durch kollektive Verhandlungen zu lösen. Als Beispiel sei hier der Berliner Kongress von 1878 genannt, welcher gefährliche Spannungen zwischen den Großmächten infolge von Entwicklungen auf dem Balkan friedlich zu regeln vermochte. Gewisse humanitäre Mindestregeln für kriegerische Auseinandersetzungen wurden durch die 1864 erfolgte Gründung der Gesellschaft vom Roten Kreuz sowie durch die Haager Landkriegsordnung von 1906 etabliert. Darüber hinaus führten der technische Fortschritt sowie die immer enger werdende wirtschaftliche Verflechtung der Industriestaaten zur Notwendigkeit, internationale Körperschaften zu bilden. Das galt für die Eisenbahn, welche koordinierte Fahrpläne auszuarbeiten hatte, ebenso wie für den Weltpostverein von 1865 und die Internationale Post Union von 1874 oder die Internationale Donaukommission. Die internationale Konvention zum Schutz geistigen Eigentums von 1883 und 1900 stipulierte den Schutz der Patentrechte (Foreman-Peck, 1999, S. 102). Waren es schon diese politischen und organisatorischen Gegebenheiten, welche die wirtschaftliche Entwicklung begünstigten, so galt das auch für die Wirtschaftspolitik selbst. Der Übergang der meisten europäischen Währungen zum Goldstandard hätte die Installierung der Goldautomatik erlaubt, also den Abfluss von Gold im Fall eines sinkenden Wechselkurses, wodurch die Geldmenge reduziert und damit die Währung wieder stabilisiert worden wäre – und umgekehrt. Nun kam diese Automatik praktisch kaum zur Wirkung, aber sie wurde Ursache dafür, dass die meisten Staaten ihre Wirtschaftspolitik auf eine stabile Währung ausrichteten (Foreman-Peck, 1999, S. 110). Unter diesen Bedingungen erzielten die zwölf entwickelten westeuropäischen Industriestaaten die höchsten bis dahin erreichten Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner. Zwischen 1870 und 1913 betrugen diese im Durchschnitt real 1,3 % gegenüber 1,0 % zwischen 1820 und 1870. Die überseeischen Industriestaaten erwiesen sich noch effektiver, indem sie während dieses Zeitraums eine Rate von 1,8 % erreichten. Nach den Berechnungen Kausels hätten sich auch die geschilderten günstigen nationalen sowie internationalen Bedingungen in entsprechenden Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner im heutigen Bundesgebiet niedergeschlagen. Mit einer Rate von 1,5 % wäre Österreich deutlich über dem Durchschnitt gelegen. Allerdings liegen für die letztere Untersuchungsperiode zwei alternative Sozialproduktsberechnungen vor. Good – Ma gingen hierbei von sozioökonomischen Indikatoren aus, welche eine enge Beziehung zum Sozialprodukt aufwiesen : die pro Kopf versandten Briefe, die Veränderung der Sterberate sowie der Anteil der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Dafür schätzten sie Korrelationen von zwölf
169
Das „Silberne Zeitalter“
Übersicht 30 : Wachstum des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner in Westeuropa und den überseeischen Industriestaaten 1820 bis 1913 1820/1870
1870/1913
Durchschnittliche Veränderung in % Österreich1
+ 0,9
Belgien
+ 1,4
+ 1,2 + 1,1
Dänemark
+ 0,9
+ 1,6
Finnland
+ 0,8
+ 1,4
Frankreich
+ 1,0
+ 1,5
Deutschland
+ 1,1
+ 1,6
Italien
+ 0,6
+ 1,3
Niederlande
+ 0,8
+ 0,9
Norwegen
+ 0,5
+ 1,3
Schweden
+ 0,7
+ 1,5
Schweiz
+ 1,3
+ 1,7
Großbritannien
+ 1,3
+ 1,0 + 1,3
Westeuropa
+ 1,0
Australien
+ 3,8
+ 1,1
Neuseeland
+ 4,2
+ 1,2
Kanada
+ 1,3
+ 2,3
USA
+ 1,3
+ 1,8
Übersee
+ 1,4
+ 1,8
Quelle : Maddison, 2003. – 1 Korrigiert nach Good – Ma, 1998.
europäischen Ländern. Mit den so errechneten Koeffizienten ließen sich Sozialproduktdaten für die Regionen der österreichisch-ungarischen Monarchie gewinnen. Hierbei gelangen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens im Bundesgebiet zwischen 1870 und 1910 real 1,2 % erreicht habe (Good – Ma, 1998, S. 147). Eine weitere Berechnung für die österreichische Reichshälfte stellte Schulze aufgrund von neu gewonnenen Produktions- und Leistungsdaten an. Er konstruierte dafür einen Index der Industrieproduktion, welcher auf einer breiteren Basis beruht, als sie Komlos benutzte ; für die anderen Wirtschaftszweige griff er eher auf bereits vorliegendes Material zurück. Damit errechnete er für diese Region eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 1,03 %. Unter Verwendung der von Good – Ma geschätzten Relation zwischen der österreichischen Reichshälfte und dem heutigen Bundesgebiet gelangt er zu einer Rate von 1,01 % (Schulze, 2000, S. 324). Dieser extrem niedrige Wert sei durch den Börsenkrach 1873 und die nach-
170
Auf dem Weg ins „Silberne Zeitalter“
folgende Stagnation zustande gekommen, deren Auswirkungen bisher unterschätzt worden wären. Nach 1890 hätte sich zwar das Wachstum beschleunigt, nicht jedoch in einem Maß, das über den europäischen Durchschnitt hinausgegangen wäre ; ein Catching-up-Effekt sei also nicht festzustellen. Versucht man die unterschiedlichen Sozialproduktberechnungen zu beurteilen, dann scheint es tatsächlich so, dass jene Kausels, welche auf älterem Material beruhen, überhöht sind. Demgegenüber repräsentiert die Arbeit von Schulze zweifellos eine rezentere und sicherlich auch umfassendere Berechnung für die österreichische Reichshälfte. Wenn dennoch eine gewisse Reserve gegenüber seinen Ergebnissen angebracht ist, dann deshalb, weil nach diesen die Entwicklung der österreichischen Wirtschaft so stark von jener der anderen westeuropäischen Staaten abweicht – sieht man von den Pionieren der Industrialisierung, nämlich England und Belgien, ab. Die vorangegangenen Kapitel vermittelten jedoch das Bild einer Wirtschaft, die bei allen Sondereffekten im Großen und Ganzen der zentraleuropäischen Situation entsprach. Gewiss brachte der Börsenkrach 1873 einen folgenschweren Einbruch mit sich, der sich auf das langfristige Wachstum auswirken musste, doch erlebten auch die anderen europäischen Staaten damals einen Rückschlag (Kiehling, 2000, S. 70). Auf der anderen Seite ist doch die günstige außenpolitische Lage der Monarchie nicht zu übersehen, welche endlich die Stabilisierung des Budgets erlaubte. Auch deuten die – wenngleich fragmentarischen – Beschäftigungszahlen der Wiener Industrie keineswegs auf eine massive Stagnation in den Achtzigerjahren hin, ebenso wie der Zuwachs an Erwerbspersonen von rund 60 % eine beträchtliche wirtschaftliche Dynamik erkennen lässt. Und letztlich scheint es unplausibel, dass sich die Wirtschaft einer Region, die in das europäische Entwicklungsmuster eingebettet blieb, ohne katastrophale exogene Schocks so extrem anders entwickelt haben sollte als der Durchschnitt. Dies alles umso weniger, als die ziemlich präzise vom WIFO berechneten ProKopf-Werte für 1913 in etwa dem westeuropäischen Niveau entsprechen und sohin die dargelegten Überlegungen stützen (WIFO-Monatsberichte, 14. Sonderheft, 1965). Damit scheinen die Berechnungen von Good – Ma mit einer Wachstumsrate von 1,2 % der Realität am nächsten zu kommen. Unter diesen Umständen verbliebe das Bundesgebiet ebenfalls unter dem Durchschnitt der westeuropäischen Industriestaaten, worin sich eben der Einbruch von 1873 manifestierte, doch wiche der langfristige Entwicklungspfad des Landes nicht allzu weit vom zentraleuropäischen Muster ab. Diese Überlegungen gaben auch Anlass zu einer Neuberechnung der Entwicklung des österreichischen Bruttoinlandsprodukts zwischen 1870 und 1910.
11. Das katastrophale Ende – der Erste Weltkrieg
Das „Silberne Zeitalter“, an dem die Habsburgermonarchie partizipiert hatte, mündete in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Trotz der zunehmenden internationalen ökonomischen Verflechtung – auch durch einschlägige Organisationen – sowie recht erfolgreichen Ansätzen überstaatlicher Streitbeilegung hatten sich die Spannungen zwischen den europäischen Mächten seit Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker aufgebaut und kamen aus einem vergleichsweise geringfügigen Anlass zum Ausbruch. Es war Österreich-Ungarn, das diesen herbeiführte. Nach der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 wurde Serbien ein unerfüllbares Ultimatum gestellt, um diesen permanenten Störenfried auszuschalten. Die österreichisch-ungarische Regierung tat dies in vollem Bewusstsein des Vertragsautomatismus, der letztlich einen Weltkrieg auslösen musste. Diese Politik wurde durch die Überzeugung bestimmt, dass die österreichischen Aktivitäten durch das Deutsche Reich militärisch abgesichert, ja gewünscht, würden. Sie erfolgte aus gegebenem politischem Grund, freilich auch, weil die „Kriegspartei“ in der österreichischen Politik unter dem Einfluss des Generalstabschefs Franz Conrad von Hötzendorf den Krieg gegen Serbien seit Jahren betrieben hatte, sie wurde überdies erleichtert durch eine intellektuelle Attitüde, welche nahezu alle europäischen Staaten erfasst hatte. Diese erwartete sich durch einen Krieg, dem „Stahlbad“, den Aus- und Aufbruch aus dem spießigen Milieu des bürgerlichen Wohlstands. In Österreich erhielt diese Position ihren spezifischen Akzent dadurch, dass man sich von einem siegreichen Krieg eine Konsolidierung des von Nationalitätskämpfen geschüttelten Reiches erhoffte (Rauchensteiner, 1993, S. 33 ; Sandgruber, 1995, S. 315). Allerdings erschien die Monarchie auf einen derartigen Krieg gar nicht vorbereitet. Sie hatte sich am europäischen Rüstungswettlauf nicht beteiligt, wiewohl in den Balkanwirren häufig mit dem Einsatz militärischer Mittel gedroht worden war. Bezogen auf Österreich-Ungarn insgesamt lag das Bruttoinlandsprodukt deutlich unter jenem der Großmächte Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Russland, nur von Italien wurde es unterboten. Pro Kopf lag nur Russland tiefer. Und von diesem Aggregat wandte Österreich seit 1900 nur etwa 2½ % für Rüstung auf, wogegen die anderen Kriegsteilnehmer etwa 4 % bis 5 % dafür in Anspruch nahmen.
172
Das katastrophale Ende – der Erste Weltkrieg
Übersicht 31 : Die Ressourcen der kriegführenden Staaten 1913 Bruttoinlandsprodukt Millionen internationale Dollar Preise von 1990
Internationale Dollar je Einwohner Preise von 1990
Bevölkerung Millionen Personen
Österreich-Ungarn
100.515
1.986
50,6
Frankreich
144.489
3.485
41,5
Deutschland
237.332
3.648
65,0
95.487
2.564
37,2
Russland
254.448
1.488
171,0
Großbritannien
224.618
4.921
45,6
Italien
Quelle : Schulze, 2005, S. 79.
Auch die militärischen Qualitäten rechtfertigten offenbar eine solche Politik nicht. Denn im Krieg wirkten Strategie und Taktik oft konfus. Die hektischen Befehle des Armeeoberkommandos konnten von einem überalterten sowie unfähigen höheren Offizierskorps nicht sinnvoll umgesetzt werden (Rauchensteiner, 1993, S. 290). So war die Armee während dieser gesamten Periode kaum in der Lage, eine Schlacht ohne deutsche Hilfe erfolgreich zu beenden – sieht man von den Abwehrerfolgen am Isonzo ab. Da der Erste Weltkrieg die erste militärische Auseinandersetzung unter vollem Einsatz des ökonomischen Potenzials entwickelter Industriestaaten repräsentierte, stellte er enorme Anforderungen an die Wirtschaft der Kriegsteilnehmer. Zwar liegen mit Ausnahme von demografischen und einigen solchen des Arbeitsmarkts keine aggregierten ökonomischen Daten für das heutige Bundesgebiet während der Zeit des Krieges vor, allerdings wurden solche für die gesamte Monarchie sowie teilweise auch für die österreichische Reichshälfte berechnet (Schulze, 2005), sodass zumindest grobe Anhaltspunkte über die Entwicklung der Wirtschaft dieser Zeit existieren. Danach lässt sich sagen, dass das Bruttoinlandsprodukt im Lauf des Krieges auf 60 % des Wertes von 1913 sank. Das bedeutete jedoch nicht, dass der Bevölkerung ein solches Ausmaß an Versorgung zugekommen wäre, weil ja ein hoher Anteil des Volkseinkommens für militärische Zwecke in Anspruch genommen wurde ; für die gesamte Monarchie waren es 1916 30 %. Im Lauf des Krieges sei nach den Berechnungen Schulzes dieser Anteil auf 17 % gesunken. Eine nicht unbedingt plausible Entwicklung, welche der Autor auch nicht erläutert.
173
Das katastrophale Ende – der Erste Weltkrieg
Übersicht 32 : Bruttoinlandsprodukt in der österreichischen Reichshälfte 1913 bis 1918
1913
Insgesamt
Je Einwohner
Je Beschäftigten
Millionen Kronen
Kronen
Kronen
17.373,9
595,1
1.136,7
1913 = 100 1914
88,5
88,3
89,9
1915
85,0
85,3
88,7
1916
77,7
77,9
81,0
1917
66,9
67,5
69,6
1918
59,4
60,5
62,8
Quelle : Schulze, 2005, S. 83.
Die makroökonomischen Relationen schlagen sich auch in den Produktionsdaten nieder. In der Eisenindustrie, im Maschinenbau sowie in der Elektrotechnik expandierte die Wertschöpfung und erreichte 1916 mit einem Zuwachs gegenüber 1913 von rund 40 % ihren Höhepunkt, aber erzielte auch noch 1917 hohe Werte. Dagegen brachen manche Konsumgütererzeugungen fast gänzlich zusammen, wie etwa Textil und Bekleidung, welche 1917 nur mehr 20 % der Wertschöpfung von 1913 erreichten oder die Lebensmittelindustrie mit kaum einem Drittel (Schulze, 2005, S. 87). Übersicht 33 : Militärausgaben der österreichisch-ungarischen Monarchie Preise von 1913 Militärausgaben in % des Bruttoinlandsprodukts 1913
4,3
1914/15
30,2
1915/16
26,8
1916/17
22,2
1917/18
17,2
Quelle : Schulze, 2005, S. 84.
Die Ursachen für den dramatischen Einbruch des Volkseinkommens während des Krieges waren vielfältig. Da fiel zunächst die Umstellung des Wirtschaftssystems von der kapitalistischen Marktwirtschaft auf kriegsbedingte Planung ins Gewicht. Eine solche war zu Beginn der Feindseligkeiten in keiner Weise antizipiert worden. Im Gegenteil : Alle Staaten rechneten mit einem kurzen Krieg, der schon zu Weihnachten beendet sein würde. Dementsprechend fand ein ausgesprochener Run der Unternehmer auf Rüstungsaufträge statt, um diese Chance nicht zu versäumen.
174
Das katastrophale Ende – der Erste Weltkrieg
Auch hatte die Regierung keine wirtschaftlichen Vorkehrungen getroffen. Weder waren Lager angelegt, noch über allenfalls bestehende disponiert worden. Man ergriff lediglich administrative Maßnahmen, und zwar durch Erlass des Kriegsleistungsgesetzes 1912, welches dem Armeeoberkommando weitestgehende Befugnisse für den Kriegsfall sowohl im wirtschaftlichen Bereich als auch in der Verwaltung einräumte. Davon wurde bereits 1914 Gebrauch gemacht, indem die Rüstungsbetriebe der militärischen Kontrolle unterstellt und deren Versorgung mit Roh- und Brennstoffen sichergestellt wurde. Dementsprechend unterlag auch der Außenhandel nunmehr der staatlichen Kontrolle. Die zahlreichen Vorschriften für den Bereich der Wirtschaft erfolgten aufgrund der Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsverordnung vom Oktober 1914, da bereits im Frühjahr 1914 der Reichsrat aufgelöst worden war. Nach seiner Wiedereinberufung im Mai 1917 wurde diese Vorschrift durch das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz vom Juli 1917 ersetzt. Diese Bestimmung ermächtigte die Regierung, in kriegsbedingten Notsituationen Gesetze zu erlassen, welche freilich zu einem späteren Zeitpunkt vom Parlament zu bestätigen waren. Jenem Gesetz sollte in der Ersten Republik eine spezifische Funktion zukommen. Durch die plötzliche Verschiebung der Produktion zur Rüstung und den wachsenden Mangel an bestimmten Rohstoffen durch Wegfall traditioneller Lieferländer – etwa von Baumwolle – infolge der von den Alliierten über die Mittelmächte verhängten Wirtschaftsblockade kam es zum „Kriegsstoß“, also dem Produktionseinbruch der nicht kriegswichtigen Industrien. Das verursachte aber trotz der umfangreichen Einberufungen von Arbeitskräften zur Armee zunächst ein massives Auftreten von Arbeitslosigkeit. Im Jahresdurchschnitt stieg sie im Bundesgebiet um 11.000 Personen oder 15,7 %. Dieses friktionelle Phänomen konnte allerdings bereits Anfang 1915 überwunden werden. Anstelle der Arbeitslosigkeit trat mit der „Kriegskonjunktur“ Arbeitskräftemangel. In den folgenden zwei Jahren sank die Arbeitslosigkeit um 23.000 Personen oder 28,4 % bzw. 15.000 Personen oder 25,9 %. 1916 gab es im Bundesgebiet nur mehr 43.000 Arbeitslose, was einer Quote von 2,3 % entsprach. Sehr bald versuchte man, die Versorgung mit Rohstoffen in der Weise zu regeln, dass für die meisten Industriezweige „Rohstoffzentralen“ eingerichtet wurden, welche auf privater Basis den Kauf und die Verteilung dieser Güter auf die zugehörigen Betriebe übernahmen (Wegs, 1979, S. 27). Mit der Dauer des Krieges und der zunehmenden Warenverknappung ging die Reglementierung immer weiter. Begnügte sich die Regierung zunächst mit der Festsetzung von Höchstpreisen für Nahrungsmittel, so sah sie sich 1915, unter dem Druck der Gewerkschaften, genötigt, Lebensmittelkarten einzuführen.
Das katastrophale Ende – der Erste Weltkrieg
175
Nun bedeutet eine Verlagerung der Produktion zur Rüstung ceteris paribus nicht notwendigerweise eine Reduktion des Bruttoinlandsprodukts, eher im Gegenteil, weil damit ein Transfer der Ressourcen zu Erzeugungen mit tendenziell höherer Arbeitsproduktivität erfolgt, jedoch ist das Ausmaß der dadurch verursachten Verluste anderer Sektoren nicht ohne Weiteres abzuschätzen. Wesentlich in diesem Zusammenhang scheint jedoch ein anderer Aspekt. Zwar erwies sich die Produktionsverlagerung zur Rüstung als durchaus erfolgreich : Die k. k. Armee wurde im Lauf des Krieges nach anfänglichen Schwierigkeiten ausreichend mit Waffen und Munition versorgt, doch ist nach den Erfahrungen der letzten Dezennien mit diversen Planwirtschaften davon auszugehen, dass diese Methode der wirtschaftlichen Koordination nicht zur gesamtwirtschaftlich optimalen Verteilung der Ressourcen führt und damit ceteris paribus das Bruttoinlandsprodukt reduziert. Dies gilt natürlich in besonderem Maß für den Einsatz des Faktors Arbeit. Durch die Einberufungen wurden dem Arbeitsmarkt die besten Arbeitskräfte entzogen. Das erfolgte anfänglich ohne Rücksicht auf die Bedeutung der Facharbeiter für die Rüstungsproduktion. Wenngleich jenes Problem allmählich wenigstens teilweise überwunden werden konnte, traf der Arbeitskräfteentzug manche Sektoren schwerstens. Das galt insbesondere für die Landwirtschaft, welche von Erwerbstätigen weitgehend entblößt war, aber auch für die Bauwirtschaft. Zwar bemühte sich die Verwaltung, diesen Mangel in der Weise zu mildern, dass Kriegsgefangene zur Verfügung gestellt wurden, vor allem aber dadurch, dass man Frauen in höherem Maß in den Arbeitsprozess eingliederte. Beide Bemühungen zeitigten einige Erfolge. Der Einsatz Ersterer beschränkte sich freilich auf weniger qualifizierte Verrichtungen, spielte aber zuletzt vor allem in der Landwirtschaft eine große Rolle (Winkler, 1930, S. 33). Frauen waren vielseitig einsetzbar. So entfielen in der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für Niederösterreich (einschließlich Wien) Ende 1914 27,6 % aller Versicherten auf diese, Ende 1917 schon 37,0 %. Bei der Wiener Allgemeinen ArbeiterKrankenkasse erhöhte sich ihr Anteil von 32,2 % auf 42,6 %, und in der Wiener Städtischen Straßenbahn war ihre Quote von praktisch Null (1914) auf mehr als die Hälfte 1918 gestiegen (Winkler, 1930, S. 31). Darüber hinaus versuchte man, sowohl Jugendliche als auch ältere Arbeitnehmer in verstärktem Maß heranzuziehen. All diese Anstrengungen konnten nicht verhindern, dass die Zahl der unselbstständig Beschäftigten im heutigen Bundesgebiet – Daten für die Selbstständigen liegen nicht vor – von 2,190.000 1913 auf 1,726.000 bei Kriegsende, also um 464.000 oder 21,2 %, zurückgegangen war.
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Das katastrophale Ende – der Erste Weltkrieg
Übersicht 34 : Die Arbeitsmarktlage im Bundesgebiet 1913 bis 1918 Unselbstständig Beschäftigte
Arbeitslose
In 1.000
In 1.000
In %
In 1.000
In 1.000
In %
Arbeitslosenquote1 in %
1913
2.190,0
– 90,0
– 3,9
70,0
– 2,0
– 2,8
3,1
1914
–
–
–
81,0
+ 11,0
+ 15,7
–
1915
–
–
–
58,0
– 23,0
– 28,4
– 2,3
Stand
Veränderung
Stand
Veränderung
1916
1.865,0
–
–
43,0
– 15,0
– 25,9
1917
1.835,0
– 30,0
– 1,6
–
–
–
–
1918
1.726,0
– 109,0
– 5,9
56,0
+ 13,0
+ 30,2
3,1
Quelle : Butschek, 1992, S. 441. – 1 Arbeitslose in % des Angebots an Unselbstständigen (unselbstständig Beschäftigte und Arbeitslose).
Dazu kam die wachsende Knappheit an Rohstoffen. Zwar verfügte die österreichisch-ungarische Monarchie ausreichend über Eisen und Kohle, doch fehlten wichtige Nichteisenmetalle, wie etwa Kupfer, Zink, Zinn und Blei, die wegen der Handelsblockade immer weniger im nötigen Ausmaß importiert werden konnten. Die Reaktivierung stillgelegter Bergwerke, Altmetallsammlungen und das Einschmelzen von Kirchenglocken bedeuteten à la longue keine Lösung, und Ersatz durch Eisen führte zu suboptimalen Produkten. Der Ausfall an Baumwolle legte, wie schon erwähnt, den Großteil der Textilindustrie lahm. Die Finanzierung der Unternehmen dürfte durch jene der Staatsausgaben im Wesentlichen nicht behindert worden sein. Im Gegenteil : Das Kriegsministerium kaufte die Rüstungsgüter nicht nur zu günstigen Preisen, sondern versorgte die Unternehmen mit billigen Krediten und Subventionen. Probleme könnten sich aus der inflationären Entwicklung für die Rechenhaftigkeit des Wirtschaftslebens ergeben haben. Die Mittel für die massive Erhöhung der Staatsausgaben wurden nur zum geringen Teil durch Steuererhöhungen aufgebracht. Man fürchtete, dass spürbare Eingriffe in diesem Bereich die Bevölkerung verärgern könnten. Der größere Teil der Kriegsfinanzierung erfolgte über „Kriegsanleihen“, welche jährlich aufgelegt und mit einigem moralischem Druck abgegeben wurden. Diese erwiesen sich zu Kriegsbeginn außerordentlich ertragreich, doch ließ die Zeichnungsbereitschaft im Kriegsverlauf beträchtlich nach.
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Das katastrophale Ende – der Erste Weltkrieg
Übersicht 35 : Erträge der Kriegsanleihen in der österreichischen Reichshälfte
Zeichnung
Nominell
Real (zu Preisen von Juli 1914) Millionen Kronen
1. Kriegsanleihe
November 1914
2.221
2. Kriegsanleihe
Mai 1915
2.688
1.805 1.610
3. Kriegsanleihe
Oktober 1915
4.203
1.860
4. Kriegsanleihe
Mai 1916
4.520
1.303
5. Kriegsanleihe
November 1916
4.468
752
6. Kriegsanleihe
Mai 1917
5.189
679
7. Kriegsanleihe
November 1917
6.046
732
8. Kriegsanleihe
Juni 1918
5.814
436
35.149
9.177
Insgesamt
Quelle : Sandgruber, 1995, S. 328.
Etwa ein Drittel der Staatsausgaben wurde durch Direktkredite der ÖsterreichischUngarischen Bank finanziert. Die einschlägigen Vorschriften der Bankakte, also des Notenbankgesetzes, welche ein solches Vorgehen untersagt hätten, waren sofort nach Kriegsbeginn suspendiert worden. Zwar suchten alle Kriegführenden zu diesem Mittel Zuflucht, Österreich jedoch im stärksten Ausmaß. Die Kriegsanleihen erzielten nur einen geringen Abschöpfungseffekt, da sie als lombardfähiges Wertpapier zu 75 % des Nominales der Notenbank zur Belehnung präsentiert werden konnten. Somit musste es zu einer massiven Ausweitung der Geldmenge und damit zu einer ebensolchen der Inflation kommen. Höchstpreisverordnungen bewirkten oftmals nur, dass die davon betroffenen Waren vom Markt verschwanden – sofern sie nicht komplett bewirtschaftet waren. Tatsächlich sank die Kaufkraft der Krone bis Kriegsende auf ein Sechzehntel des Wertes von 1913. Als Achillesferse der österreichischen Wirtschaft erwies sich das Transportsystem. Bei Kriegsausbruch achtete das Armeeoberkommando lediglich auf das Funktionieren der Mobilmachung und beanspruchte das gesamte Eisenbahnsystem für Truppentransporte. Erst der Protest des Handelsministers, welcher die akute Gefährdung der Rüstungsindustrie an die Wand malte, führte zu einer zweckmäßigeren Verteilung der Transportkapazitäten. Dennoch blieb die gesamte Kriegszeit durch unzureichenden Transportraum für die Produktion gekennzeichnet. Oftmals lagen beträchtliche Vorräte etwa an Kohle oder Getreide bereit, konnten jedoch mangels Transportmöglichkeiten nicht oder jedenfalls nicht rechtzeitig an ihren Bestimmungsort gebracht werden.
178
Das katastrophale Ende – der Erste Weltkrieg
Diese Schwierigkeit potenzierte sich mit der Dauer des Krieges : einerseits durch Verluste an rollendem Material, das durch die heimische Produktion nicht in vollem Maß ersetzt werden konnte, andererseits durch Abnutzung infolge intensiven Gebrauchs sowie unzulänglicher Reparaturen – sowie eben immer wieder durch massive Truppentransporte. Ende 1917 konnte die Eisenbahn nur die Hälfte der Transportnachfrage bewältigen (Schulze, 2005, S. 89). Der Faktor, welcher letztlich den Zusammenbruch der österreichischen Wirtschaft herbeiführte, lag in der unzureichenden Ernährung und Versorgung mit Heizmaterial. Hier traten schon sehr früh gravierende Probleme auf. Vorräte waren keine angelegt worden und die Kriegsernten sanken, insbesondere in der österreichischen Reichshälfte, infolge Arbeitskräftemangels, aber auch durch Gebietsverluste im Osten deutlich. Die Möglichkeit für Importe gingen durch den Kriegseintritt Italiens verloren. Überdies weigerte sich Ungarn, welches allerdings weitgehend die Armee versorgte, das eigene Verbrauchsniveau in einem Ausmaß zu senken, welches größere Exporte in die österreichische Reichshälfte erlaubt hätte. Übersicht 36 : Getreideernten in den Reichshälften 1914 bis 1918 Österreichische Reichshälfte
Ungarische Reichshälfte
Millionen Tonnen 1914
4,65
4,35
1915
2,44
5,50
1916
2,03
4,26
1917
1,86
4,36
1918
1,90
3,41
Quelle : März, 1981, S. 172.
Als Folge verschärfte sich die Unterernährung, insbesondere im Wiener Raum. Notmaßnahmen, wie öffentliche Suppenküchen oder Wärmestuben, vermochten an der Gesamtsituation wenig zu ändern. Im Winter 1916 kam es in Wien erstmals zu Hungerkrawallen mit Plünderung von Geschäften. Unzureichende Ernährung barg aber nicht nur sozialen Sprengstoff in sich, sondern wirkte sich auch insofern auf die Produktion aus, als die geschwächten Arbeiter nicht mehr ihre normale Leistung erbringen konnten. Gegen Ende des Krieges trat, trotz aller Bemühungen, Ersatznahrungsmittel verschiedenster Art heranzuziehen, blanker Hunger auf. Streiks und Hungerrevolten häuften sich. Unabhängig von der militärischen Lage resultierte daraus sowie auch aus dem immer
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Das katastrophale Ende – der Erste Weltkrieg
drückenderen Mangel an Rohstoffen und Heizmaterial das, was Gratz – Schüller in ihrer Studie über die österreichische Wirtschaft im Ersten Weltkrieg (1930) als „die Tragödie der Erschöpfung“ bezeichneten. Übersicht 37 : Tägliche Lebensmittelrationen in Wien für Normalverbraucher
Einführung
Zum Zeitpunkt der Einführung Gramm
Kalorien
Zu Kriegsende Gramm
Kalorien
Mehl
April 1915
100
300
36
107
Brot
April 1915
140
350
180
450
Zucker
März 1916
42
166
25
100
Milch
Mai 1916
0,25 Liter
83
0
0
Kaffee
Juni 1916
9
0
9
0
Fett
September 1916
Kartoffel
Oktober 1917
17
154
6
51
214
171
71
Marmelade
57
Herbst 1917
24
48
24
Fleisch
48
September 1918
29
29
18
18
–
831
Insgesamt
–
1.300
Quelle : Sandgruber, 1995, S. 324.
Nun deuteten sich schon während des Krieges all jene großen politischen Veränderungen an, welche an seinem Ende mit einem Schlag Wirklichkeit werden sollten. Das betraf zunächst die Existenz des Vielvölkerstaats. Nach der patriotischen Aufwallung bei Kriegsausbruch erstarkten erneut die nationalen Kräfte, wie die Debatten im 1917 wieder einberufenen Reichsrat demonstrierten. Das „Kaisermanifest“ vom 16. Oktober 1918, mit welchem Karl eine Monarchie auf föderalistischer Basis proklamierte, beschleunigte nur den Auflösungsprozess Österreich-Ungarns, denn die Nationen kamen dem im Manifest geäußerten Wunsch, Nationalräte zu bilden, sofort nach, doch nur um ihre Unabhängigkeit zu erklären. So auch die deutschösterreichischen Abgeordneten am 21. Oktober 1918. Der Verzicht auf „… jeden Anteil an den Staatsgeschäften …“ durch den letzten habsburgischen Kaiser setzte nur mehr den formalen Schlusspunkt hinter eine historische Epoche. Aber auch im sozialen Bereich deuteten sich fundamentale Wandlungen an, vor allem, was die Position der Arbeiter in den Betrieben anlangte. Zu Kriegsbeginn konnte von einer Verbesserung zunächst keine Rede sein, im Gegenteil. Die Rüstungsbetriebe wurden unter militärische Aufsicht gestellt, die Bewegungsmöglichkeiten der Arbeitskräfte eingeschränkt, die Arbeitszeit verlängert, die Männer schließlich vielfach zum Landsturm einberufen und somit direkt der militärischen
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Das katastrophale Ende – der Erste Weltkrieg
Disziplin unterworfen – im späteren Verlauf des Krieges wurden derartige Kontrollen auch auf Frauen ausgedehnt. In zweierlei Hinsicht verbesserte sich jedoch die Stellung der Arbeiterschaft während des Krieges immer mehr. Die prekäre Ernährungssituation führte relativ früh trotz aller kriegsbedingten Repressionsmaßnahmen zu Streiks. Da sie ja auch vom Gesichtspunkt der Behörden her nicht unbegründet waren, begegnete man ihnen weniger mit Gewalt als mit Entgegenkommen. In den letzten Kriegsjahren traten zu diesen materiellen Motiven immer stärker politische hinzu, die einem Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft entsprangen, das nicht zuletzt durch die Oktoberrevolution in Russland genährt wurde. Der zweite Grund für diese Entwicklung lag darin, dass den Behörden bald klar wurde, eine befriedigende Arbeitsleistung sei von den Beschäftigten – insbesondere angesichts der gegebenen Ernährungslage – nicht durch Unterdrückungsmaßnahmen zu erreichen ; sie suchten daher stärker die Kooperation. Diese wurde auch dadurch erleichtert, dass die Gewerkschaften im Krieg grundsätzlich eine Politik des „Burgfriedens“ verfolgten (Grandner, 1992, S. 74). Alles in allem ging die Arbeiterschaft politisch aus dem Ersten Weltkrieg wesentlich stärker hervor, als sie in diesen eingetreten war, und hatte in einer großen Zahl von betrieblichen und wirtschaftspolitischen Körperschaften ihren festen Platz gefunden : „Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang z. B. die Errichtung einer paritätischen Kommission, die als Beratungsorgan der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung fungierte. In ähnlicher Weise wurden die Gewerkschaften in die Lebensmittelbewirtschaftung einbezogen. Für die der militärischen Disziplin nach dem Kriegsleistungsgesetz unterstellten Betriebe gelang es den Gewerkschaften, die Errichtung von Beschwerdekommissionen durchzusetzen. Diesen aus Vertretern der Behörde, Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften gebildeten Gremien wurden als wesentliche Aufgabe die Festsetzung der Entgelte, der Arbeitsbedingungen und die Entscheidung über die Auflösung von Arbeitsverhältnissen übertragen. 1917 wurde als beratender Beirat des Generalkommissariats für Kriegs- und Übergangswirtschaft der Hauptausschuß für Kriegs- und Übergangswirtschaft eingerichtet, für den der Gewerkschaftskommission das Recht der Entsendung von Vertretern eingeräumt wurde. Ein Jahr später wurde ein Ausschuß für die Entscheidung über die Gewährung staatlicher Lohnzuschüsse und eine Lohnkommission für Heimarbeiter errichtet, die sich beide aus Vertretern von Behörde, Arbeitnehmern und Unternehmern zusammensetzten ; knapp vor dem Zusammenbruch der Donaumonarchie erfolgte die Bildung einer paritätischen Industriekommission für industrielle Abrüstung und wirtschaftlichen Wiederaufbau. … Mit dem Niedergang der alten Ordnung nahmen die Entscheidungsbefugnisse der neu errichteten korporativ
Das katastrophale Ende – der Erste Weltkrieg
181
verfaßten Lenkungsinstanzen noch zu. Im Herbst 1918 hatte man die industrielle Zentralkommission und die industriellen Bezirkskommissionen geschaffen, denen die Umstellung auf Friedensproduktion, die Sicherung der Lebensmittelversorgung und die Wiedereingliederung der heimkehrenden Soldaten in den Arbeitsprozeß übertragen wurden. 1919 wurden sie auf Druck der Gewerkschaften mit weitreichenden Eingriffsrechten in arbeitsmarktpolitischen Belangen ausgestattet“ (Traxler, 1982, S. 109). Trotz Unterstellung der Rüstungsbetriebe unter militärisches Kommando und der damit verbundenen Einschränkungen ihrer Bewegungsmöglichkeiten hatten die Gewerkschaften beständig auf Erhaltung des Arbeitsfriedens und der Arbeitsdisziplin hingewirkt. Noch klarer demonstrierten sie diese Position in der Spätphase des Krieges, als die unzureichende Lebensmittelversorgung sowie die Nachrichten von der bolschewistischen Revolution in Russland zu spontanen Arbeitsniederlegungen führten. Auch in dieser explosiven Periode versuchten die Gewerkschaften immer wieder, die aufgebrachten Arbeiter zu beruhigen. Die Positionsverbesserung betraf allerdings nicht nur die Arbeiter und die Gewerkschaften, sondern auch die Sozialdemokratie. Diese hatte sich, ebenso wie in den anderen kriegführenden Staaten, im Zuge der Politik des Burgfriedens auf die Seite des Staates gestellt und bemühte sich gleichfalls, Streikbewegungen aufzufangen. Das galt in besonderem Maß für die „Jännerstreiks“ des Jahres 1918 (Rauchensteiner, 1993, S. 535). Ab 1917 intensivierte sich die Kooperation mit der Regierung, als diese erwartete, über die Sozialdemokraten Kontakte mit der russischen Revolutionsregierung herzustellen, um die Möglichkeiten eines Friedensschlusses zu sondieren (Rauchensteiner, 1993, S. 458). Schließlich ging Ministerpräsident Clam-Martinic so weit, den Sozialdemokraten die Regierungsbeteiligung anzubieten. Diese lehnten Otto Bauer und Karl Renner aus prinzipiellen Überlegungen ab, weil sie es als ausgeschlossen erachteten, sich an der Regierung eines kriegführenden Staates zu beteiligen. So zeichneten sich im Zusammenbruch Ansätze einer künftigen Entwicklung ab.
12. Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
12.1 Politischer und ökonomischer Zusammenbruch
Das Ende des Ersten Weltkriegs verursachte im heutigen Bundesgebiet einen dramatischen institutionellen Bruch, der nahezu alle Lebensbereiche erfasste. Das galt zunächst für den politischen. Mit dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie des Hauses Habsburg – immerhin noch europäische Großmacht mit 52 Millionen Einwohnern, welche trotz der Autonomie beider Teilstaaten als eine wirtschaftlich geschlossene Region bezeichnet werden konnte – entstanden nun mehrere mittelgroße Länder, welche bestrebt waren, sich von der ehemaligen Metropole rasch und entschieden abzulösen. Für die meisten dieser „Nachfolgestaaten“ bedeutete diese Entwicklung einen Erfolg, weil sie ihnen Unabhängigkeit oder Gebietsvermehrung gebracht hatte. Das galt sogar für einen der beiden Kriegsverlierer – Ungarn –, zumindest insofern, als ihm nunmehr die lang angestrebte völlige Souveränität zuteil wurde. Die Republik Österreich und ihre Bürger, also jener Staat, von dem Clemenceau gesagt hatte : „Autriche, c’est ce, qui reste“, mussten somit die gesamte psychische Last der Niederlage tragen – wie das ja schließlich auch in Artikel 177 des Staatsvertrags von St-Germain explizit gemacht wurde. Die Änderung der Staatsform vermittelte der Bevölkerung wohl keine ausreichende Kompensation. Dieser Umstand führte zu politischen Fluchtreaktionen, welche eine neue nationale Identität anstrebten, nämlich die deutsche. In diesem Zusammenhang ist sowohl die Ausrufung der Republik „Deutsch-Österreich“ als Teil des Deutschen Reiches durch die provisorische Nationalversammlung am 12. November 1918 zu sehen, als auch die späteren Versuche der Bundesländer Tirol und Salzburg, mittels einer Volksabstimmung die Voraussetzungen für einen Anschluss an Deutschland zu schaffen. Vorarlberg intendierte Ähnliches mit der Schweiz. All diese Ambitionen schlugen fehl, denn mit dem Staatsvertrag von St-Germain Ende 1919 wurde die Selbstständigkeit des Landes endgültig fixiert. Die Bevölkerung hatte sich mit dem neuen Staatswesen abzufinden – was freilich nichts daran änderte, dass der Anschlussgedanke und ein deutschnationales Bekenntnis
Politischer und ökonomischer Zusammenbruch
183
nicht nur in Kreisen der Akademiker und der Lehrerschaft während der gesamten Zwischenkriegszeit eine politische Konstante blieben. Aber auch innerhalb des Staates vollzogen sich dramatische Veränderungen, vor allem in der Sozialstruktur. Für Österreich, aber in gewissem Maß auch für Deutschland, gilt das Diktum, dass das 19. Jahrhundert erst 1918 zu Ende gegangen war. Obwohl man den effektiven Einfluss des Adels in den letzten Jahrzehnten der Monarchie nicht überschätzen sollte, blieb diese zumindest atmosphärisch ein Feudalstaat. Aristokratie und Großbürgertum prägten das Bild der Öffentlichkeit, umgekehrt traten die Vertreter der Arbeiterschaft, trotz deren ständig zunehmender politischer Stärke, eher am Rand der Geschehnisse auf. Zwar waren die Sozialdemokraten bei den Parlamentswahlen 1910 im Reichsrat die stärkste Partei geworden, doch kam ihnen in diesem Rahmen unter vielen Fraktionen nur die Funktion einer Opposition zu. Regierung und Verwaltung blieben ihnen verschlossen. Daran änderte sich auch im Kriegsverlauf noch nichts Entscheidendes. Diese Gegebenheiten wandelten sich nach dem Ende des Krieges radikal. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) erlangte im Februar 1919 mit 41 % der Stimmen die relative Mehrheit. Sie bildete zusammen mit den Christlichsozialen, welche 36 % erreicht hatten, eine Koalitionsregierung, in welcher sie Schlüsselressorts, wie den Regierungschef, den Staatskanzler (Karl Renner) sowie den Außen(Otto Bauer) und den Heeresminister (Julius Deutsch) stellte und überdies eine Fülle ihrer Projekte verwirklichen konnte. Einer der ersten Beschlüsse des neuen Nationalrats beinhaltete die Abschaffung des Adels. Parallel dazu ging eine massive Verarmung des Bürgertums. Dieser Umstand resultierte nicht nur aus der Lohnentwicklung im öffentlichen Dienst während des Krieges, sondern auch aus dem Rückstrom vieler deutschsprachiger Beamter und Offiziere aus den Nachfolgestaaten. Dazu kam, dass die Geldentwertung die bürgerlichen Vermögen, welche großteils in festverzinslichen Wertpapieren angelegt worden waren, vernichtet hatte. Es liegt auf der Hand, dass aus solchen tiefgreifenden Veränderungen soziale Spannungen entstehen mussten. Wenn diese zunächst noch nicht hervortraten, dann deshalb, weil ganz Ost- und Mitteleuropa nach Kriegsende von einer revolutionären Welle erfasst worden war, welche in Russland ihren Ausgang nahm, sich aber rasch verbreitete und in Bayern sowie in Ungarn sogar zu Räteregierungen führte. Die Furcht vor ähnlichen Entwicklungen in Österreich ließen eine gewisse Nachgiebigkeit gegenüber sozialdemokratischen Vorstellungen entstehen. Dies umso mehr, als gerade diese Partei sowie die Gewerkschaften die Aktivitäten radikaler Gruppen, wie etwa der Kommunisten oder der Rätebewegung, auffingen und kanalisierten. Wiewohl das den Akteuren möglicherweise nur zum Teil bewusst
184
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
war, muss man davon ausgehen, dass diese Organisationen die parlamentarische Demokratie sowie die Marktwirtschaft mit Privateigentum an Produktionsmitteln vor radikalen Angriffen bewahrten. Freilich ging der Umbruch im Lebensgefühl weit über die politische Sphäre hinaus und manifestierte sich in vielen Bereichen des täglichen Lebens. Man vergleiche die Frauenmode von 1913 mit jener des Jahres 1920 oder die Tanzmusik. Besonders dramatische Folgen zeitigte aber das Ende Österreich-Ungarns für die Wirtschaft des neuen Staatsgebiets. Die Habsburgermonarchie war durch den Ersten Weltkrieg wirtschaftlich schwerer getroffen worden als die meisten anderen Kriegsteilnehmer. Das hatte auch für die Nachfolgestaaten, also auch für das heutige Bundesgebiet, Geltung, obwohl dieses von den Kampfhandlungen nicht unmittelbar berührt worden war. Zu den Folgen der Materialverknappung, der Unterernährung und der Produktionskonzentration auf die Rüstung kam der Umstand, dass während des Krieges kaum Erhaltungsinvestitionen vorgenommen worden waren oder nur den Rüstungssektor betroffen hatten. Sicherlich brachte der Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft für die meisten Volkswirtschaften Belastungen, weil es eben darum ging, in relativ kurzer Zeit die Produktionsstruktur wieder umzustellen. Es gab also bis zu einem gewissen Grad eine Entwertung ohne physische Zerstörung (Kamitz, 1949, S. 178). Aber ein ausreichend flexibler Produktionsapparat fand sogar recht gute Chancen dafür vor, den Nachholbedarf des nichtmilitärischen Sektors zu befriedigen. Diese Möglichkeit demonstrierte das relativ rasche Anspringen der Weltkonjunktur 1919 (Lewis, 1949, S. 18). Österreich befand sich aber in einer besonderen Situation : nicht nur wegen des Gewichts der Kriegsfolgen sowie der politischen und sozialen Instabilitäten, sondern auch durch den Zerfall des Staatsgebiets. Die k. u. k. Monarchie hatte ein 52 Millionen Menschen umfassendes Wirtschaftsgebiet dargestellt. Die regionalen ökonomischen Disparitäten, ebenso wie die natürlichen Standortvoraussetzungen, waren die Ursachen dafür gewesen, dass das heutige Bundesgebiet Industriegüter und Dienstleistungen (einschließlich Regierung) in die anderen Länder der Monarchie exportierte, wogegen es Nahrungsmittel und Brennstoffe von dort einführte. Nur ein gewisses Minimum an Außenhandel ermöglichte daher eine ausgeglichene Leistungsbilanz. Wurde dieses nicht erreicht, entstand ein strukturelles Leistungsbilanzdefizit, da die Nahrungsmittel- und auch die Energienachfrage weitgehend unelastisch blieben (Hertz, 1947, S. 57). Die früher innerstaatlichen Waren- und Leistungsströme wurden aber plötzlich zu solchen des Außenhandels, deren spezifische Problematik zunächst darin bestand, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit dieser nur in äußerst beschränktem
Politischer und ökonomischer Zusammenbruch
185
Maß zustande kam. Dafür waren sicherlich in den Teilen der ehemaligen Monarchie auch Überlegungen maßgebend, die nationale Industrie auszubauen und gegen die österreichische Konkurrenz abzuschirmen (Rašin, 1923, S. 139 ; Walré de Bordes, 1924, S. 7). Wesentlich für die Außenwirtschaftspolitik nach dem Krieg blieb aber wohl der Umstand, dass auch wirtschaftlich ausgeglichenere Regionen, wie etwa die Tschechoslowakei, gleichfalls unter kriegsbedingten Mangelerscheinungen zu leiden hatten (Janovsky, 1928, S. 127 ; März, 1981, S. 285). Der Außenhandel vollzog sich daher zunächst fast ausschließlich in staatlich initiierten und realisierten Kompensationsgeschäften, welche bei Weitem nicht ausreichten, um in Österreich den Mindestbedarf an Lebensmitteln und Energie zu decken. Sein Volumen erreichte selbst 1924 vermutlich nur etwa die Hälfte des Wertes von 1913 (Layton – Rist, 1925, S. 27). Die österreichische Landwirtschaft, die vorwiegend für den eigenen Bedarf produziert hatte, befand sich nicht annähernd in der Lage, dies zu tun (Meihsl, 1961, S. 555). 1919 hatte die Produktion überdies den Tiefpunkt mit der Hälfte des Ernteertrags von 1913 erreicht. Aber auch mittelfristig, also nach Abklingen der nachkriegsbedingten Anomalien, stellte sich grundsätzlich die Frage nach dem Leistungsbilanzgleichgewicht des neuen Staatskörpers. Die Errichtung der Zollbarrieren durch die Nachfolgestaaten bedeutete ja die Umkehrung der bisherigen Situation, welche durch einen weitgehend geschützten Markt charakterisiert war. Überdies floss ein erheblicher Teil der bisherigen Leistungsströme, nämlich zentrale politische und militärische sowie finanzielle und industrielle Verwaltung, nicht mehr – oder nur mehr sehr eingeschränkt – aus dem Bundesgebiet in die Nachfolgestaaten, und letztlich war die Orientierung auf neue, westliche, Märkte ein Prozess, der – selbst wenn er gelang – einige Zeit in Anspruch nehmen musste. Jedenfalls vermochten viele österreichische Großbetriebe weder ihren Marktanteil in den Nachfolgestaaten zu halten noch auf neuen – westlichen – Märkten Fuß zu fassen. Als exemplarisches Beispiel mag der Lokomotivbau gelten. Von den fünf Lokomotivfabriken der Monarchie lagen vier in Österreich. In den Dreißigerjahren war davon nur mehr eine übrig geblieben (Weber, 1995, S. 59). Die eigentliche Bedeutung dieses politischen Auseinanderbrechens wurde in ihrem Gewicht erst in jüngerer Zeit erfasst, da man die wirtschaftlichen Folgen registrierte, welche die Auflösung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und der Sowjetunion nach sich zogen (Dornbusch, 1992). Am Rand sei vermerkt, dass sich in dieser Entwicklungsphase moderne Industrien, also Elektrotechnik und Chemie, weitaus besser auf den Exportmärkten behaupten konnten als solche mit einem eher traditionellen Produktionsprogramm, wie Eisenerzeugung oder Textilproduktion (Wessels, 2007, S. 34).
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Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
Natürlich bemühte sich die österreichische Wirtschaftspolitik, dieser Problematik gerecht zu werden. Sie gab das traditionell protektionistische Außenhandelsregime der Monarchie auf und schlug eine freihändlerische Linie ein, freilich mit beschränktem Erfolg, da der vergleichsweise niedrige österreichische Zolltarif von jenem der Nachfolgestaaten, aber auch von Deutschland um das Zwei- bis Dreifache übertroffen wurde (Hertz, 1947, S. 72). Zu diesen Erschwernissen gesellten sich – zumindest mittelfristig wirksame – Repressionsmaßnahmen der Siegermächte : So wurde das österreichische Eigentum in den Siegerstaaten konfisziert und ein Generalpfandrecht zugunsten grundsätzlich auferlegter, wenngleich faktisch als unerfüllbar erkannter, Reparationsverpflichtungen auf das gesamte Staatsvermögen etabliert ; auf die späte Beendigung der Blockade gegen ÖsterreichUngarn im März 1919 folgte ein Verbot des regulären Handels mit Ungarn und den anderen Nachfolgestaaten. Die Friedensverträge von St-Germain (Österreich) und Trianon (Ungarn) untersagten eine gegenseitige Meistbegünstigung, aber verpflichteten zu einer solchen gegenüber den Entente-Staaten. Die österreichische Politik versuchte, diese Schwierigkeiten durch den Abschluss von Kompensationsverträgen und ab 1920 durch Kontingentverträge zu umgehen, wodurch allerdings die Abwicklung des Handels kompliziert wurde und damit die Transaktionskosten stiegen (Nautz, 1994, S. 338). Freilich muss in diesem Zusammenhang stets darauf verwiesen werden, dass trotz aller Handelshemmnisse die wirtschaftliche Verflechtung Österreichs mit den Nachfolgestaaten, also der Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, Jugoslawien und Rumänien, besonders unmittelbar nach Kriegsende außerordentlich stark blieb (Nautz, 1992, S. 122). 1924 gingen noch immer 46,3 % der österreichischen Exporte in diese Ländergruppe und nur 13,1 % nach Deutschland. Gegen Ende der Zwischenkriegszeit hatten sich zwar die Anteile verringert und der Außenhandel stärker ins westliche Ausland verlagert, doch erreichte er auch 1937 noch immer 31,5 % und unterstreicht damit die Bedeutung, welche diese Regionen nach wie vor für die österreichische Wirtschaft besaßen. Wie immer man jedoch die mittel- bis langfristigen Probleme der österreichischen Wirtschaft beurteilen mochte, unmittelbar nach Kriegsende bot sie ein katastrophales Bild. Die Produktion war vermutlich weit unter die Hälfte des Wertes von 1913 gesunken. Die Versorgung mit Energie und Heizmaterial sowie Lebensmitteln blieb aus den dargelegten Gründen vollkommen unzureichend. Die fortgesetzte Kriegsinflation vernichtet nicht nur viele Vermögen, sondern erschwerte auch die finanziellen Dispositionen der Unternehmer. Angesichts dieser Gegebenheiten sowie der Grundeinstellung vieler Österreicher gegenüber Deutschland kann es nicht wundernehmen, dass viele Politiker,
187
Politischer und ökonomischer Zusammenbruch
Übersicht 38 : Regionalstruktur des österreichischen Außenhandels 1920 bis 1937 1920
1924
1929
1932
1937
Anteile in % Export Deutschland
17,0
13,1
15,7
16,5
14,8
Italien
27,8
10,1
9,0
9,9
14,0
Schweiz
7,5
6,6
5,7
8,0
5,1
Frankreich
1,4
2,5
3,4
4,1
4,3
Großbritannien
0,4
4,3
4,5
3,6
5,3
USA
1,5
2,1
3,4
1,9
2,5
Nachfolgestaaten
42,3
46,3
38,6
34,6
31,5
Tschechoslowakei
24,8
11,0
13,5
10,6
7,1
8,1
8,8
7,5
9,3
9,1
Ungarn Polen
3,9
9,7
4,8
3,6
4,3
Rumänien
1,8
6,5
5,1
3,5
5,6
Jugoslawien
3,7
10,3
7,7
7,6
5,4
Übrige Staaten
2,1
15,0
19,7
21,4
22,5
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Insgesamt Import Deutschland
36,6
14,9
21,0
20,0
16,1
Italien
3,6
7,2
3,6
4,9
5,5
Schweiz
1,1
5,6
4,4
3,5
3,2
Frankreich
0,0
2,3
2,7
2,0
2,8
Großbritannien
0,3
2,8
2,8
2,5
4,5
USA
4,8
5,5
6,0
4,0
6,0
Nachfolgestaaten
50,2
48,7
44,6
46,1
38,5
Tschechoslowakei
37,6
22,6
18,1
15,2
11,0
Ungarn
3,2
11,7
9,9
9,8
9,0
Polen
5,7
7,5
8,8
7,6
4,6
Rumänien
0,2
2,5
3,8
5,8
6,0
Jugoslawien
3,5
4,4
4,0
7,7
7,9
Übrige Staaten
3,4
13,0
14,9
17,0
23,4
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Insgesamt
Quelle : Bundesamt für Statistik.
aber auch Nationalökonomen die These von der „wirtschaftlichen Lebensunfähigkeit“ Österreichs vertraten. Diese gingen von der Annahme aus, das Bundesgebiet werde niemals in der Lage sein, die Leistungsbilanz auszugleichen, weil es in der Vergangenheit für die Monarchie lediglich Dienstleistungsfunktionen erfüllt habe,
188
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
welchen nunmehr die Basis fehle (Stolper, 1920, S. 115). Diese Kräfte sahen als einzige Lösung dieses Problems den Anschluss Österreichs an Deutschland, welcher vom damaligen Staatssekretär für Äußeres, Otto Bauer, aber auch deshalb vehement verfolgt wurde, weil jener unter den gegebenen Umständen die Vereinigung mit einem von Sozialdemokraten regierten Staat bedeutet hätte. Zu den wenigen Gegnern dieser Auffassung zählte Friedrich Hertz, welcher darauf hinwies – und diese Aussage quantitativ untermauerte –, dass das Bundesgebiet zu den hoch industrialisierten Teilen der Monarchie gehört habe (Hertz, 1921). Eben die gleiche Meinung vertrat Joseph Schumpeter und erklärte vor der Generalversammlung des Wiener Handels- und Industrievereins : „Man hört so oft, Deutsch-Österreich ist rein geografisch lebensunfähig. Es ist klar, dass es administrativ und auch sonst nicht gerade ein sehr zweckmäßiges Ganzes darstellt, aber verzweifeln darf man deshalb nicht. Wenn uns die Selbstständigkeit mehr oder weniger gegen unseren Willen von außen dekretiert wird und es durchaus nicht möglich ist, unsere eigenen Wege zu gehen, darf man doch nicht glauben, daß das wirtschaftliche Vernichtung bedeutet. Man darf durchaus nicht glauben, daß ein Staat, um wirtschaftlich leben zu können, alle notwendigen Rohstoffe in seinem Gebiet enthalten muß. Wir müssen Kohle haben. Aber auch wenn sie in DeutschÖsterreich läge, müßte unsere Industrie sie kaufen und mehr als kaufen braucht sie sie auch aus Ostrau nicht …“ (Neue Freie Presse vom 31. Mai 1919, zitiert nach März, 1981, S. 335). Damit war zwar nichts zur Frage der Leistungsbilanz gesagt, aber doch eine nüchterne Betrachtung der Dinge angestellt. Wie immer man dieses Problem, auch aus heutiger Sicht, betrachtet, die These der Lebensunfähigkeit fügt sich nahtlos in die generelle Einschätzung der neuen Republik ein. Die Hauptaufgabe der neuen Regierung bestand zunächst in der Sicherstellung eines Existenzminimums für die Bevölkerung, insbesondere von Wien. Deren Lebensmittelversorgung litt nicht nur unter der niedrigen inländischen Ernte, sondern auch daran, dass sich viele Bundesländer weigerten, von ihren Vorräten etwas an Wien abzugeben. Lebensmittelimporte aus den Nachfolgestaaten blieben aus den zuvor dargelegten Gründen schwierig. Kam aber ein Lieferungsabkommen im Tausch gegen österreichische Rohstoffe (Holz, Eisenerz, Magnesit) zustande, ergaben sich oft Transportschwierigkeiten, weil jeder Nachfolgestaat versucht hatte, einen möglichst großen Teil des früher gemeinsamen Fuhrparks zu behalten und daher Züge oft nicht in die Nachbarländer geführt wurden. Kleinere Lieferungen aus Deutschland vermochten die Situation Wiens kaum zu verbessern, sodass sich Staatskanzler Karl Renner mit einem dramatischen Hilferuf an die Alliierten wandte, um Wien vor dem Verhungern zu retten.
Politischer und ökonomischer Zusammenbruch
189
Diese reagierten darauf im April 1920 durch Gründung eines „International Committee for Relief Credits“, welches entsprechende Kredite zur Verfügung stellte und damit Lebensmittelankäufe in Gang setzte (Bachinger, 2001, S. 24). Die Notwendigkeit dazu wurde von immer mehr Siegerstaaten, neutralen Ländern und Hilfsorganisationen erkannt, sodass sich viele davon an dieser Kreditaktion beteiligten. Dafür waren freilich nicht nur humanitäre Überlegungen, sondern auch außenpolitische Gründe maßgebend, denn die Westmächte fürchteten eine Ausbreitung des ungarischen Rätesystems auf Österreich (Garamvölgyi, 1981, S. 31). Insgesamt sollen Österreich 1919 und 1920 Waren im Wert von 26,7 Millionen Pfund zugeflossen sein (Walré de Bordes, 1924, S. 8). Die zweite zentrale wirtschaftspolitische Aufgabe der neuen Bundesregierung hätte darin bestanden, das interne Gleichgewicht der Volkswirtschaft herzustellen. Allerdings hatten sich nach Kriegsende die Bedingungen für entsprechendes wirtschaftspolitisches Handeln in keiner Weise verbessert. Der Haushalt des neuen Staates wurde zwar von den Kriegskosten ent-, jedoch durch andere Aufgaben wieder neu belastet. Zu Letzteren zählten nicht nur die Kosten der Arbeitslosenunterstützung, sondern auch umfangreiche Lebensmittelsubventionen. Die großteils importierten Waren wurden nicht nur rationiert, sondern auch unter den Weltmarktpreisen an die Bevölkerung abgegeben. Da zunächst auch noch beträchtliche Zahlungen für die Tilgung der Kriegsanleihen zu leisten waren, ergab sich für das Budgetjahr 1919/20, dass nach dem Rechnungsabschluss von 17,8 Milliarden Kronen Ausgaben nur 13,6 Milliarden Kronen durch Einnahmen gedeckt waren. Die Fehlbeträge wurden nach wie vor im Prinzip durch Direktkredite der Österreichisch-Ungarischen Bank gesichert. Damit waren die Voraussetzungen für die Fortsetzung, ja Beschleunigung der Inflation gegeben. Diese Entwicklung wurde noch dadurch verschärft, dass nunmehr eine starke Kapitalflucht sowie eine Baisse-Spekulation gegen die Krone einsetzten. Die Regierung führte zwar Devisenbewirtschaftung ein, diese funktionierte aber nur mangelhaft (März, 1981, S. 319). Es scheint, dass die Regierungen jener Staaten, welche infolge des Kriegsendes tiefgreifende politische und soziale Umbrüche erlebten, nicht in der Lage waren, durch energische Maßnahmen umfassender Natur ein Gleichgewicht zwischen Geld- und Gütermenge mit tendenziellem Budgetausgleich herbeizuführen. Galoppierende Inflation erfasste neben Österreich auch Deutschland, Ungarn, Polen und Russland (Lewis, 1949, S. 20). Wohl versuchte die Koalitionsregierung, nach Kriegsende durch zahlreiche Steuererhöhungen und -neueinführungen das Budget von der Einnahmenseite her zu entlasten, wodurch sie wütende Proteste der Geschäftswelt auslöste (März,
190
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
Übersicht 39 : Bundesrechnungsabschlüsse 1918 bis 1937 Ausgaben
Einnahmen
Saldo
Defizit In % der Ausgaben
Millionen Kronen
In % des Bruttoinlandsprodukts
1918/191
3.669
3.068
– 601
16,4
–
1919/202
17.772
13.567
– 4.205
23,7
–
1920/213
133.336
95.411
– 37.925
28,4
–
19214
218.762
78.036
– 140.726
64,3
–
19225
6,770.273
3,455.242
– 3,315.031
49,0
–
Millionen Schilling 1923
1.061,8
903,5
– 158,3
14,9
1924
1.361,3
1.348,3
– 13,0
1,0
–
1925
1.410,6
1.487,1
+ 76,4
–
1926
1.601,5
1.569,1
– 32,4
2,0
0,3
0,1 –
1927
1.835,4
1.750,4
– 85,0
4,6
0,8
1928
1.976,5
1.892,4
– 84,1
4,3
0,7
1929
1.990,3
2.010,0
+ 19,7
–
–
1930
2.288,6
2.027,0
– 261,6
11,4
2,3
1931
2.330,7
2.008,5
– 322,1
13,8
3,1
1932
1.924,0
1.909,0
– 15,0
0,8
0,2
19336
1.493,7
1.252,1
– 241,6
16,2
2,7
1934
1.574,1
1.348,1
– 226,0
14,4
2,5
1935
1.450,3
1.293,5
– 156,8
10,8
1,7
1936
1.413,3
1.379,2
– 34,1
2,4
0,4
1937
1.454,3
1.382,8
– 71,5
4,9
0,7
Quelle : Gratz, 1949 ; Bundesamt für Statistik, Bundesrechnungsabschluss. – 1 1. November 1918 bis 30. Juni 1919. – 2 1. Juli 1919 bis 30. Juni 1920. – 3 1. Juli 1920 bis 30. Juni 1921. – 4 1. Juli bis 31. Dezember 1921. – 5 1. Jänner bis 31. Dezember 1922. – 6 Ab 1933 wurde hinsichtlich Sozialversicherung, Monopolen und Betrieben die Nettobudgetierung eingeführt.
1981, S. 321). Doch zeigte diese isolierte Aktivität nur beschränkte Wirkung, umso weniger, als sich der inländische Finanzmarkt als unergiebig erwies, da die Banken nicht bereit waren, Anleihen des Bundes zu übernehmen (Kernbauer, 1995, S. 554). Man wird allerdings in der nachträglichen Beurteilung dieses Zeitabschnitts den durch die politischen Gegebenheiten existierenden Handlungsspielraum der Regierungen nicht überschätzen dürfen. Gerade in Zeiten politischer Brüche entstehen Zwangssituationen, die es zunächst praktisch unmöglich erscheinen lassen, eine energische Stabilisierungspolitik zu betreiben (Borchardt, 1972). Eine Kürzung
Politischer und ökonomischer Zusammenbruch
191
oder die Streichung der Arbeitslosenunterstützung oder der Lebensmittelsubventionen hätte in der aufgeheizten Nachkriegsatmosphäre explosiven Charakter gehabt. Der im März 1919 in das zweite Kabinett Renner eingetretene Staatssekretär für Finanzen, Schumpeter, hielt es für angezeigt, mit entscheidenden Schritten bis zum Abschluss des Friedensvertrags zuzuwarten. Immerhin gelang es ihm, durch geschickte Interventionen auf den Geldmärkten den Wechselkurs der Krone, trotz der internen Inflation, kurze Zeit stabil zu halten. Weitergehende Maßnahmen vermochte er freilich nicht mehr zu veranlassen, weil er – unter dem Druck der Sozialdemokraten und dem Entzug der christlichsozialen Unterstützung – bereits im Oktober 1919 zurücktrat. Unmittelbar nach seiner Resignation veröffentlichte er jedoch das Programm, welches er der Regierung hatte unterbreiten wollen. Dieses zielte darauf ab, das Budget in drei bis vier Jahren auszugleichen. Die Mittel dazu sollten durch eine Vermögensabgabe einerseits und durch die Einführung einer Umsatzsteuer andererseits aufgebracht werden. Freilich erachtete er für diese Phase die Bereitstellung ausländischer Kredite schon aus psychologischen Gründen für unumgänglich (März, 1981, S. 391). In der Folgezeit wurden nur zaghafte Versuche unternommen, um das monetäre Gleichgewicht herbeizuführen – wie etwa die Beendigung der Lebensmittelsubventionen im Herbst 1921. Zwar hätte die sich allmählich bessernde Wirtschaftslage ein entschiedenes Vorgehen ermöglicht, doch nutzte die Politik diese Möglichkeit nicht aus. Spitzmüller vermittelt ein plastisches Bild jener Vorgehensweise : „Die Politik des Finanzministeriums war überhaupt während der gesamten Zeit auf hemmungsloses Geldausgeben gerichtet, und es wurde auch nicht der leiseste Versuch gemacht, das Defizit in der ordentlichen Gebarung wenn schon nicht zu beseitigen, so doch herabzusetzen. Meine zahllosen, mündlich wie schriftlich gegen diese Politik vorgebrachten Einwände blieben unbeachtet. Im Finanzministerium setzte man alles auf die Karte der ausländischen Finanzhilfe. Bis dahin wurde geradezu mit voller Absicht eine Politik der Devaluierung der Krone betrieben“ (Spitzmüller, 1955, S. 333). In der zweiten Hälfte des Jahres 1921 trat die Inflation in ein neues Stadium. Hatte sie sich bis dahin etwa in dem Ausmaß weiterentwickelt, das schon im Krieg erreicht worden war, geriet sie nunmehr vollkommen außer Kontrolle und erreichte gegen Jahresende monatliche Werte von etwa 60 %. Im August 1922 stiegen die Verbraucherpreise gegenüber dem Vormonat um 124 %.
192
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
Abbildung 7 : Die Inflation 1914 bis 1923
10000
log Dollarnotierung in Wien Notenumlauf Preise
November 1918 = 1
1000 100 10 1 0,1 0,01 1914
1915
1916
1917
1918
1919
1920
1921
1922
1923
Quelle : Walré de Bordes, 1924.
12.2 Sozialpolitische Gründerzeit
Bemerkenswerterweise vollzog sich nach 1918, trotz der fatalen wirtschaftlichen Lage, eine dramatische Ausweitung der Sozialgesetzgebung. Die vor und während des Krieges entstandenen Ansätze erweiterte die Koalitionsregierung nunmehr ganz wesentlich, ja es lässt sich sagen, dass zu dieser Zeit der Kern des österreichischen Arbeitsrechts geschaffen wurde. Die expansive Sozialgesetzgebung entsprach einerseits den Zielvorstellungen der Sozialdemokratischen Partei, welche auch den Staatssekretär im Staatsamt für soziale Fürsorge, Ferdinand Hanusch, stellte, wurde andererseits auch durch die – schon erwähnte – latent revolutionäre internationale politische Lage nahe gelegt (Hautmann, 1995 ; Tálos, 1981, S. 145 ; Tálos, 1995, S. 572). Auch die sozialdemokratischen Schöpfer dieser Gesetze waren sich über die Bedeutung der Sozialgesetzgebung zur Beruhigung der politischen Situation in dieser Zeit im Klaren. So erklärte Hanusch im November 1919 auf einer Industriekonferenz : „Man darf die Zeit nicht vergessen, die wir hinter uns haben. Wenn wir vor dem Äußersten bewahrt bleiben wollten, mussten wir in erster Linie bei der Arbeiterschaft das Vertrauen erwecken, daß dieser Staat ein anderer ist als der alte.
ABB7
Sozialpolitische Gründerzeit
193
… Gerade durch diese soziale Gesetzgebung, durch das Vertrauen, das wir den Arbeitern zum Staat eingeflößt haben, war es möglich, seinerzeit in den Monaten Mai und Juni, als die kommunistischen Wellen über das Land gingen, die Arbeiterschaft von diesen Aktionen fernzuhalten. Die Opfer, welche die Industrie bringen muss, fallen gegenüber den Milliardenschäden, die ein Tag Revolution in einer Großstadt bedeutet, nicht sehr in die Waagschale“ (zitiert nach Tálos, 1981, S. 154). Gerade das erste Sozialgesetz wurde eben durch die wirtschaftliche und politische Situation erzwungen. Diese machte es unmöglich, die vorhandenen Arbeitskräfte zur Gänze zu beschäftigen, noch weniger, die Heimkehrer reibungslos in den Arbeitsprozess einzugliedern. Daher wurde mit Verordnung vom 6. November 1918 die Arbeitslosenunterstützung für alle Industriearbeiter und Angestellten eingeführt. Diese staatliche Leistung wandelte man im März 1920 in eine Arbeitslosenversicherung mit einem etwas eingeschränkteren Versichertenkreis um. Die Finanzierung erfolgte nunmehr durch Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Staat. Darauf folgte eine Reihe weiterer Vorschriften. So konnte das alte sozialdemokratische Ziel des Achtstundentags realisiert werden, eine Neuerung, welche gleichfalls die wirtschaftliche Lage erleichterte, weil die Arbeiter derart geschwächt waren, dass die längere Arbeitszeit kaum zu höherem Ausstoß geführt hätte. Dazu kam das Arbeiterurlaubsgesetz, das für die Arbeiterschaft einen ein- und nach fünf Jahren Betriebszugehörigkeit zweiwöchigen Urlaub brachte. Allgemein wurde die Position der Unselbstständigen in der Wirtschaft durch die Regelung des Kollektivvertragsrechts sowie schließlich durch die Schaffung von Betriebsräten gestärkt. Die Durchführung vieler dieser Maßnahmen beriet man in einer gemischten Kommission – der „Industriekonferenz“ ; diese bestand aus Vertretern der Gewerkschaften und der Industriellenvereinigung und kann als Vorläuferin der späteren „Paritätischen Kommission“ betrachtet werden (März, 1981, S. 305). Auch angesichts dieser nützlichen Institution bleibt die Reaktion der Unternehmerschaft auf diesen sozialpolitischen Schub bemerkenswert. Wiewohl die Fülle der Maßnahmen einen respektablen Kostensprung bedeutete, wurden die sozialen Neuerungen durch sie – zumindest damals – akzeptiert. Teilweise sicherlich eben deshalb, weil diesen tatsächlich in der international verbreiteten sozialrevolutionären Situation eine beruhigende Funktion zukam, aber wohl auch deswegen, weil die Inflation zunächst eine Überwälzung der Kostensteigerung auf die Preise erlaubte. Dagegen erwies sich die Verordnung des Jahres 1919, nach der Unternehmen mit 15 und mehr Arbeitskräften ihren Beschäftigtenstand um 20 % erhöhen sollten, als Schlag ins Wasser, da auch beide Arbeitsmarktparteien an deren Realisierung nicht interessiert waren.
194
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
Der Bereich sozialpolitischer Aktivitäten wäre nicht vollständig beschrieben, wollte man nicht festhalten, dass Ende 1922 auch das Mietengesetz beschlossen wurde. Seit Jänner 1917 war es den Hauseigentümern verwehrt worden, für die Kriegszeit die Höhe der Mietzinse zu verändern und Mieter zu kündigen. Diese Einschränkungen wurden nunmehr gesetzlich perpetuiert und bestimmen den österreichischen Wohnungsmarkt noch bis in die Gegenwart in hohem Maß. Auch die Lohnpolitik konnte sich offenbar die revolutionsträchtige Situation insofern zunutze machen, als es den Gewerkschaften gelang, die Einkommensverteilung zugunsten der Arbeitnehmer zu verändern. Zwar liegen Daten dafür erst ab 1924 vor, doch dürften die Grundlagen für diese Verschiebung gleichfalls in dieser ersten Nachkriegsperiode gelegt worden sein, weil es der Lohnpolitik gelang, die Inflation besser zu kompensieren als etwa dem öffentlichen Dienst oder der Angestelltenschaft. Im Rahmen der Industriekonferenz Ende 1919 wurde die Möglichkeit von Indexlöhnen eröffnet, von welcher immer mehr Gewerkschaften Gebrauch machten (Bachinger, 2001, S. 28). Dagegen blieb den Sozialisierungsambitionen der Erfolg versagt. Der Ablauf der Ereignisse in diesem Zusammenhang verdient deshalb besonderes Interesse, weil sie einerseits durch die Auseinandersetzung zwischen Otto Bauer und Joseph Schumpeter gekennzeichnet waren, andererseits auch die Veränderung der politischen Atmosphäre dieser Zeit dokumentiert. Bauer betrachtete die Sozialisierung – vorerst nur der Schwerindustrie – nicht nur als wesentlichen Schritt auf dem Weg zum Sozialismus, sondern vertrat auch die Auffassung, die neue Eigentumskonstruktion werde die Produktivität steigern. Schumpeter favorisierte gleichfalls die Sozialisierung – er hatte schon in der deutschen Sozialisierungskommission mitgearbeitet –, betrachtete aber die österreichische Wirtschaft als noch nicht reif genug dafür. Er vermutete daher Produktivitätsverluste. Das Parlament hatte im März 1919 einstimmig die Schaffung einer Sozialisierungskommission beschlossen, deren Vorsitzender Otto Bauer wurde. Diese arbeitete mehrere Gesetzesvorschläge aus, welche dem Abgeordneten präsentiert wurden. Allerdings weigerten sich die Christlichsozialen, den Akt der Sozialisierung der Regierung zuzugestehen, sondern verlangten für jeden Betrieb einen Beschluss des Parlaments. Danach beschränkten sich die beschlossenen Gesetze auf reine Verfahrensfragen. Als Wesentliches aus diesem Komplex verblieb das Betriebsrätegesetz. Letztlich erklärte Schumpeter in einer Kabinettssitzung im September 1919, dass angesichts der veränderten politischen Situation die Zeit für eine Sozialisierung abgelaufen sei. Schumpeter wurde auch vorgeworfen, die Sozialisierung praktisch auch dadurch verhindert zu haben, dass er über einen Mittelsmann Aktien der Alpine-Montan
Sozialpolitische Gründerzeit
195
an italienische Käufer habe zukommen lassen. Eine Unterstellung, die in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss als haltlos erkannt wurde (Seidl, 1994, S. 41). Freilich ist zu vermuten, dass die breite öffentliche Diskussion dieser Frage in Unternehmerkreisen Unsicherheit über deren Existenz- und Wirkungsbedingungen im neuen Staat schufen ; Gegebenheiten, die sicherlich nicht dazu angetan waren, wirtschaftliche Initiative zu fördern (Rothschild, 1961, S. 73). Ein wichtiges Element dieser „sozialpolitischen Gründerzeit“ bildete die Schaffung der Arbeiterkammern. Hanusch brachte einen diesbezüglichen Gesetzesentwurf ein und die konstituierende Nationalversammlung beschloss ihn am 26. Februar 1920 einstimmig. Neben den Betriebsräten und den Einigungsämtern sollten die Arbeiterkammern den Arbeitnehmern Einflussmöglichkeiten auf die Volkswirtschaft eröffnen. Den Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie standen damit entsprechende Organisationen auf Arbeitnehmerseite gegenüber (Weidenholzer – Kepplinger, 1995, S. 11). Zwar bestand bei den Gewerkschaften zunächst noch ein gewisses Misstrauen gegenüber der neuen Einrichtung, das sich erst dann legte, als die enge und arbeitsteilige Kooperation mit diesen zustande gekommen war (Gewerkschaftskommission Österreichs, 1926, S. 8). Schon in der Anfangsphase bildete sie sich in einer Weise heraus, die bis zur Gegenwart aktuell geblieben ist, dass nämlich die Arbeiterkammern die wirtschaftliche, rechtliche und statistische Beratung der Gewerkschaften durch qualifizierte Experten sowie als Körperschaften öffentlichen Rechts die Gesetzesbegutachtung und auch -initiative übernahmen. In den beiden Arbeiterkammerwahlen in der Ersten Republik (1921 und 1926) erzielten die Freien Gewerkschaften eine überwältigende Mehrheit, was die Kooperation zwischen den Arbeitervertretungen noch intensivierte (Weidenholzer – Kepplinger, 1995, S. 22). Arbeiterkammern sowie Gewerkschaften fiel eine wichtige Rolle in der Formulierung der sozialistischen Wirtschaftspolitik zu. Und diese blieb wiederum nach dem Ersten Weltkrieg in hohem Maß durch die Entwicklungen vor 1914 geprägt. Die Gewerkschaften verstanden sich seit der sozialdemokratischen Einigung 1888/89 als eine der drei „Säulen“, welche die sozialdemokratische Arbeiterbewegung trugen (Sozialdemokratische Partei, Freie Gewerkschaften sowie Konsumvereine) ; freilich in der Weise, dass der Parteiprimat nie infrage gestellt wurde. Damit ergaben sich bestimmte Konsequenzen für ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Hauptziel blieb die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung. Die Bemühungen der Gewerkschaften mussten jedoch, ihrer Funktion entsprechend, im Rahmen des Systems bleiben und hätten daher prinzipiell nichts an seinem – ihrer Meinung nach – ausbeuterischen Charakter
196
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
ändern können. Ihre Hauptaufgabe bestand somit darin, das Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft zu wecken und dieser ihre Lage durch Schulung bewusst zu machen. Andererseits aber galt es auch, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen hier und heute zu verbessern. Dazu dienten die Lohnpolitik sowie Maßnahmen zum Ausbau von Arbeitsrecht und Sozialer Sicherheit – sei es durch Gesetze, sei es im eigenen gewerkschaftlichen Rahmen (Traxler, 1982, S. 15). Freilich bedeutete die Akzeptanz des sozialistischen Endziels einer gesellschaftlichen Umgestaltung nicht unbedingt die Ablehnung des – bourgeoisen – Staates, da die österreichische Sozialdemokratie etatistisch eingestellt war, also den Staat prinzipiell als neutral betrachtete, als ein Instrument, das in der Hand der Arbeiterschaft zu deren Nutzen eingesetzt werden konnte. Diese von Marx abweichende Position resultierte zum einen aus der merkantilistisch-kameralistischen Tradition, zum anderen aus den praktischen Erfahrungen mit den staatlichen Aktivitäten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (Traxler, 1982, S. 20). Die Motive, welche eine Kooperation mit den Institutionen des „Klassenfeindes“ nahelegten, gingen allerdings noch weiter. Die Vertreter der Arbeiterschaft waren sich schon vor dem Ersten Weltkrieg durchaus über die Bedeutung einer funktionierenden – kapitalistischen – ökonomischen Basis für ihre Aktivitäten bewusst. In einer von Renner am siebenten österreichischen Gewerkschaftskongress vom 6. bis 10. Oktober 1913 vorgeschlagenen Resolution zur Zoll- und Handelspolitik hieß es : „Es scheint schon einmal das Los der österreichischen Arbeiterklasse zu sein, erst alle Voraussetzungen des bürgerlichen Staates erkämpfen zu müssen, die überall sonst die Bourgeoisie vor ihr geschaffen hat ! Englands Industrie ist groß geworden, nachdem seine Bourgeoisie in jahrzehntelangem Feldzug die Korngesetze zu Fall gebracht hat. Österreichs Industrielle aber ziehen es vor, die wirtschaftliche Zukunft des Landes der Habgier der Feudalagrarier zu opfern ! Die österreichische Arbeiterklasse fühlt die volle Verantwortung für die Entwicklung zum Industriestaat, ohne die Land und Volk verarmen und der Staat finanziell und kulturell verelenden muss ; sie erwartet jedoch, daß auch alle anderen industriellen Schichten … ihre Pflicht tun, damit dem Industriestaat zum Siege verholfen werde“ (zitiert nach Klenner, 1951, S. 372). Mit all dem stand die österreichische Arbeiterbewegung vor einem grundlegenden Dilemma, denn „Die Politik der Sozialdemokratie am Beginn und während des Krieges sowie im Verlauf des Zusammenbruchs der alten Ordnung sollte zeigen, daß nicht das Klasseninteresse entsprechend ihrer marxistischen Prätention, sondern vielmehr das gesellschaftliche Allgemeininteresse den eigentlichen Bezugsrahmen ihres Handelns darstellte“ (Traxler, 1982, S. 105).
Galoppierende Inflation und „Genfer Sanierung“
197
12.3 Galoppierende Inflation und „Genfer Sanierung“
Nach Inkrafttreten der neuen, von Hans Kelsen ausgearbeiteten Bundesverfassung im Herbst 1920 wurden wieder Parlamentswahlen abgehalten, in welchen die Sozialdemokraten die Mehrheit verloren. Während die Christlichsozialen 42 % der Stimmen erzielten, musste sich die SDAP mit 36 % zufriedengeben. Der darauf folgende Zerfall der großen Koalition deutete bereits einen Prozess an, welcher für die Entwicklung der Ersten Republik charakteristisch werden sollte, nämlich die Verschärfung der politischen und sozialen Gegensätze. In der SDAP traten die Pragmatiker, wie Karl Renner oder Ferdinand Hanusch, in den Hintergrund, wogegen Otto Bauer, welcher infolge des Fehlschlags seiner Anschlusspolitik als Außenminister zurückgetreten war, in steigendem Maß die Formulierung der sozialdemokratischen Politik beeinflusste. Hierbei bediente er sich einer an Karl Marx orientierten radikalen Sprache, welche ihren verhängnisvollen Höhepunkt in der Diktion des Linzer Parteiprogramms der SDAP fand, als darin die Möglichkeit einer „Diktatur des Proletariats“ angekündigt wurde. Nun war eine solche zwar nur defensiv ins Auge gefasst, aber allein die Existenz dieses Begriffs entfaltete eine verhängnisvolle Eigenwirkung : „Diese Revolutionsrhetorik hat eine fatale Langzeitwirkung. Denn was einem großen Teil der sozialdemokratischen Parteigänger als Hoffnung auf Erlösung von den Übeln der gegenwärtigen Gesellschaft gilt, macht all denen Angst, die entweder diese Gesellschaft nicht für so grundschlecht halten oder jedenfalls Verbesserungen nicht von einer Revolution erwarten, die sich nach allen Erfahrungen mit den Revolutionen der Vergangenheit nur als Zerstörung jeder hergebrachten Ordnung und blutige Aufeinanderfolge von Gewalttätigkeit und Blutvergießen vorstellen können“ (Steinbach, 2006, S. 72). Der Rückzug der Sozialdemokraten aus der Bundesregierung Ende 1920 wird freilich auch der Überlegung zugeschrieben, dass eine längere Zusammenarbeit mit dem „bürgerlichen Klassenfeind“ die Einheit der Partei gefährdet hätte (Hautmann, 1995, S. 247) ; die Entscheidung wurde allerdings gegen den Widerstand der Gewerkschaften gefällt, die sich durch die Regierungsbeteiligung der SDAP viel mehr Möglichkeiten versprachen, auf die Sozial- und Wirtschaftspolitik Einfluss zu nehmen (Weber-Felber, 1990, S. 16). Tatsächlich änderten sich auch die Bedingungen der gewerkschaftlichen Aktivität, denn es trat nun ein, was die Gewerkschaften befürchtet hatten. Umgekehrt versteifte sich auch die Position der konservativen Kräfte. Die revolutionären Emotionen der unmittelbaren Nachkriegszeit waren in ganz Europa abgeklungen, die Rätediktaturen in Bayern und Ungarn beseitigt worden und Russland blieb weitgehend isoliert. Dieser Wandel vollzog sich natürlich auch in
198
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
Österreich. Das Wort Ignaz Seipels vom „Wegräumen des revolutionären Schutts“ symbolisierte diesen allgemeinen Wandel. In dieser Periode begann sich die österreichische Wirtschaft trotz der gravierenden Probleme allmählich zu beleben. In der zweiten Hälfte des Jahres 1919 ermöglichten ausländische Kredite, in stärkerem Maß Lebensmittel, Energie und Rohstoffe zu importieren ; der sich verstärkende Verfall des Wechselkurses erwies sich für Produktionssparten, die in ihrer Erzeugung weniger importabhängig waren, wie die Holzverarbeitung und Papiererzeugung, als „Exportprämie“. Die Lage verbesserte sich noch, als die kurze internationale Lagerkonjunktur bereits 1920 zusammenbrach, weil sich der Verfall der Rohstoffpreise in der spezifischen österreichischen Situation als nützlich erwies. Sicherlich wirkte auch das schwer defizitäre Budget in dieser Phase expansiv. Die Expansion der in- und ausländischen Nachfrage erlaubte auch in den folgenden Jahren ein vergleichsweise kräftiges Wirtschaftswachstum. Zwar ging die Expansion von einem extrem niedrigen Niveau aus – das Bruttoinlandsprodukt von 1920 erreichte nur 66 % des Jahres 1913 und lag damit weit unter den Werten aller vergleichbaren europäischen Staaten –, doch stieg es 1921 real um 10,7 % und 1922 um 9 %. Diese Wachstumsraten lagen unter den explosiven der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg, jedoch weit über jenen, die in der Friedensperiode vor dem Ersten Weltkrieg erreicht worden waren. Problematisch scheint allerdings der Umstand, dass sich das Wachstum dieser Jahre vor allem in den Dienstleistungssektor verlagerte. Während der Anteil des produzierenden Bereichs, also vor allem der Industrie und des Baugewerbes, an der gesamten Wertschöpfung gegenüber der Vorkriegszeit zurückging, weitete sich jener des Verkehrs, der Banken und Versicherungen sowie des öffentlichen Dienstes beträchtlich aus. Dass auch die Landwirtschaft sowie die Energieerzeugung an Gewicht gewannen, entsprach der Notwendigkeit des Leistungsbilanzausgleichs, doch deutete die Expansion der Dienstleistungen in einem Staat, der die früheren zentralen Funktionen eingebüßt hatte, also eine frühe „Entindustrialisierung“, auf eine Strukturschwäche der Wirtschaft hin. Allerdings vermochte die allmähliche wirtschaftliche Erholung noch keine Entlastung der strukturell passiven Leistungsbilanz herbeizuführen – auch, weil angesichts des Mangels an inländischer Energie und Rohstoffen das Anlaufen der Produktion den Import automatisch zunehmen lassen musste. Es kann deshalb nicht verwundern, dass das Handelsbilanzdefizit bis 1921 noch stieg. Aber 1922 ging es bereits nicht unerheblich zurück, sodass eine Stabilisierung zumindest möglich schien. Eine solche zeichnete sich im monetären Bereich zunächst überhaupt nicht ab, im Gegenteil : Die Geldversorgung oblag auch noch nach dem Waffenstill-
1.362
1.334
1.332
1.292
1.164
1.202
1.307
1927
1928
1929
1930
1931
1932
1933
3.576
3.363
3.307
3.196
3.089
3.272
3.733
4.204
4.527
4.456
4.181
4.118
4.039
3.665
3.193
3.207
2.900
2.626
4.662
Insgesamt
2.275
2.066
1.998
1.895
1.800
1.911
2.264
2.635
2.896
2.835
2.598
2.553
2.448
2.063
1.688
1.654
1.465
1.347
2.956
Industrie
1.301
1.297
1.309
1.301
1.289
1.361
1.469
1.569
1.631
1.621
1.583
1.565
1.591
1.602
1.505
1.553
1.435
1.279
1.706
Gewerbe
Gewerbliche Produktion
Quelle : Kausel – Nemeth – Seidel, 1965, S. 38.
1.327
1.184
1926
1.407
1.244
1925
1936
1.163
1924
1937
982
1923
1.277
912
1922
1.194
775
1921
1935
780
1920
1934
1.208
1913
Landund Forstwirtschaft
268
242
236
212
197
257
360
419
416
370
297
300
291
273
207
233
241
217
555
Baugewerbe
134
111
284
257
255
244
246
246
247
240
242
220
207
189
180
171
155
150
140
Verkehr
Handel
759
666
664
631
648
697
794
883
915
909
880
858
840
755
643
747
668
571
638
1.308
1.287
1.243
1.188
1.156
1.193
1.532
1.640
1.568
1.554
1.446
1.477
1.358
1.247
1.133
1.103
1.056
871
1.531
Millionen Schilling
Elektrizität, Gas, Wasser
236
236
236
236
236
244
269
269
277
285
285
285
301
358
399
415
383
342
231
Banken, Versicherungen
Übersicht 40 : Bruttoinlandsprodukt nach Wirtschaftszweigen, zu Preisen von 1937
349
346
342
339
335
332
328
325
321
318
315
311
308
304
301
297
292
288
277
Wohnungswirtschaft
928
896
875
866
888
917
950
959
946
922
885
851
836
806
769
788
743
685
724
Öffentlicher Dienst
707
701
704
686
701
747
777
811
814
826
819
805
814
823
780
805
744
661
865
Sonstige Dienste
9.822
9.321
9.056
8.875
8.803
9.107
10.154
11.042
11.358
11.194
10.697
10.378
10.211
9.565
8.562
8.657
7.942
7.175
10.802
Insgesamt
Galoppierende Inflation und „Genfer Sanierung“
199
200
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
stand und dem Zerfall der Monarchie der Österreichisch-Ungarischen Bank. Ein Umstand, der in Kreisen des Noteninstituts kurze Zeit sogar der Illusion Nahrung gab, es werde in den Nachfolgestaaten eine gemeinsame Währung erhalten bleiben (Pressburger, 1966, S. 351). Derartige Hoffnungen fanden Anfang 1919 ein Ende, als zunächst Jugoslawien die auf seinem Gebiet umlaufenden Kronen abstempelte und kurz darauf die Tschechoslowakei. Diese Vorgangsweise veranlasste schließlich auch die österreichische Bundesregierung, die Krone zwischen 12. und 29. März 1919 abzustempeln. Die Notenbankfunktion übernahm nunmehr eine separierte Abteilung der Österreichisch-Ungarischen Bank – die Österreichische Geschäftsführung. Die formale Trennung von der Vergangenheit bedeutete jedoch keine solche von den traditionellen Finanzierungsmethoden des Staates. Nach wie vor übernahm die Österreichisch-Ungarische Bank die ausgegebenen Schatzwechsel des Bundes. Angesichts der enormen Budgetdefizite setzte sich die Expansion der Geldmenge auch unter den Auspizien der neuen österreichischen Krone – und damit die inflationäre Entwicklung der Kriegsjahre auch im Frieden – fort. In diesem Zeitabschnitt waren die Verbraucherpreise auf rund das Sechzehnfache gestiegen. Unmittelbar nach dem Waffenstillstand beschleunigte sich die Inflation beträchtlich, ging jedoch ab Jänner 1919 in eine gewisse Konsolidierung über, welche bis Juli des Jahres anhielt. Tatsächlich dürfte die Regierung in der ersten Jahreshälfte das Budget einigermaßen unter Kontrolle gebracht haben, worauf nicht nur die kurzzeitige Stabilisierung des Geldwerts hinweist, sondern auch der Umstand, dass der Rechnungsabschluss für 1919 günstiger ausfiel als der Voranschlag ; offenbar, weil sich die Einnahmen besser entwickelt hatten als erwartet (Bauer, 1921, S. 250). Die Schwierigkeit, Kredite für Lebensmittelimporte zu erlangen, scheint die Inflation im Herbst 1919 wieder in Gang gesetzt zu haben. Auch die Festigung des Wechselkurses in der ersten Hälfte des Jahres 1920 als Folge der Einrichtung einer Wiener Sektion der Reparationskommission, welche einen Sanierungsplan ausarbeiten sollte, gewährte der Preisentwicklung nur eine kurze Atempause. Im Jänner 1921 veröffentlichte diese den ersten Plan für die Sanierung der österreichischen Wirtschaft, das sogenannte „Goode-Schema“. Da es jedoch Kredite der Alliierten in der Höhe von 250 Millionen Dollar vorsah, wurde es von diesen nicht akzeptiert und ein neuer Auftrag erteilt. Diesen realisierte man durch das „Loucheur-Schema“, welches private Auslandskredite ins Auge fasste, sich durch die Unmöglichkeit, solche zu erlangen, jedoch sofort diskreditierte. Ende März 1921 übertrugen die Siegermächte schließlich das Problem an das Finanzkomitee des Völkerbunds (Walré de Bordes, 1924, S. 22). Als dessen Sa-
Galoppierende Inflation und „Genfer Sanierung“
201
nierungsplan Mitte 1921 vorerst deshalb nicht realisiert werden konnte, weil den Siegermächten und den Staaten, welche „Reliefkredite“ gewährt hatten, durch den Friedensvertrag ein Generalpfandrecht auf die österreichischen Staatseinnahmen eingeräumt worden war und auf dieses erst verzichtet werden musste, trat die Inflation in ein neues Stadium. Hatte sie sich bis dahin etwa im Ausmaß der Kriegszeit entwickelt, geriet sie in der zweiten Hälfte des Jahres 1921 vollständig außer Kontrolle und erreichte gegen Jahresende monatliche Werte von etwa 60 %. Die Gewährung eines Kredits durch Großbritannien sowie die Zusage solcher durch Frankreich, Italien und die Tschechoslowakei zu Beginn des Jahres 1922 festigte zwar kurzfristig den Wechselkurs, vermochte die Entwicklung aber nach dem raschen Verbrauch des Ersteren und Nichtauszahlung der Letzteren nicht wesentlich zu beeinflussen, nicht zuletzt deshalb, weil energische interne Stabilisierungsmaßnahmen Österreichs unterblieben (Bachinger, 2001, S. 39). Im August 1922 stiegen die Verbraucherpreise gegenüber dem Vormonat um 124 %. Es wäre verfehlt, die Inflation nur als ökonomisches Problem zu sehen. Ihre Begleiterscheinungen trugen auch dazu bei, das soziale Gefüge zu destabilisieren. Während die Mehrheit der Bürger von ihr mehr oder minder negativ betroffen war, entstand eine neue Schicht, welche von ihr durch Devisenspekulation profitierte. Dass sich Gewinne vor allem durch finanzielle Transaktionen erzielen ließen, kann man aus dem rapiden Anstieg der Zahl von Banken ersehen. Im Frühjahr 1924 gab es in Wien 1.500 Geldinstitute gegenüber 500 im Jahr 1914 (Sandgruber, 1995, S. 357). Die Profiteure dieser Entwicklung frönten eines demonstrativ luxuriösen Lebensstils, der angesichts der bedrückten Lebensverhältnisse der Bevölkerungsmehrheit besonders provokativ wirken musste. In Figuren, wie Camillo Castiglioni und Sigmund Bosel fand diese Atmosphäre geradezu symbolhaften Ausdruck. Überflüssig zu sagen, dass solche finanziellen Abenteuer zumeist in wirtschaftlichen Zusammenbrüchen endeten – mit entsprechenden Konsequenzen für Unternehmen und Arbeitsplätze (Ausch, 1968, S. 157 und S. 247). Die Befürchtung, Österreich werde einem wirtschaftlichen Chaos mit unabsehbaren politischen Folgen auch für Mitteleuropa zustreben, bewog schließlich den Völkerbund, den Bemühungen des Bundeskanzlers, Johannes Schober, entgegenzukommen. Dessen Regierung wurde allerdings nach Erhalt der an seine Person gebundenen Zusagen gestürzt. Doch gelang es seinem Nachfolger, Bundeskanzler Ignaz Seipel, durch Besuche in Prag, Berlin und Verona mit den Vertretern des Völkerbunds das Einvernehmen herzustellen, sodass jene Maßnahmen eingeleitet werden konnten, welche unter der Bezeichnung „Genfer Sanierung“ bekannt geworden sind.
202
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
Diese beruhte auf den im Oktober 1922 unterzeichneten drei „Genfer Protokollen“. Das erste wiederholte die Verpflichtung Österreichs, seine Unabhängigkeit nicht aufzugeben. Das zweite beinhaltete die Gewährung jener internationalen Anleihe, die immer wieder gefordert, jedoch bis dahin nicht aufgebracht werden konnte. Man stellte sie im Ausmaß von 650 Millionen „Goldkronen“ zur Verfügung, also in einer Recheneinheit, welche dem Wert der goldenen Kronenmünzen Anfang 1914 entsprach. Tatsächlich wurde sie in zehn verschiedenen Währungen an elf Finanzplätzen begeben und erbrachte einen Nettoerlös von 611 Millionen Goldkronen. Ihre Garantie übernahmen Großbritannien, Frankreich, Italien und die Tschechoslowakei. Die Effektivverzinsung variierte zwischen 8,6 % und 10,2 %. Österreich musste dafür die Erlöse der Zölle und das Tabakmonopol verpfänden. Etwa 50 % des Anleiheerlöses waren bei ausländischen Banken zu 3 % bis 4 % Verzinsung zu hinterlegen. Allein der bevorstehende Abschluss dieses Abkommens brachte den Verfall des Innen- und Außenwerts der österreichischen Währung abrupt zum Stehen. Es wurde damit die Änderung des „Regimes“ absehbar (Sargent, 1982). Das Ungewöhnliche an den „Genfer Protokollen“ lag darin, dass sie zu einer recht weitgehenden Einschränkung der staatlichen Souveränität Österreichs führten. Unter Aufsicht eines Generalkommissars, des früheren Bürgermeisters von Rotterdam, Alfred Zimmermann, mit beträchtlichen finanziellen Befugnissen sowie mit nur limitierten parlamentarischen Interventionsmöglichkeiten hatte die Bundesregierung jene Akte zu setzen, welche sich bis dahin nicht hatten realisieren lassen. Sie sollte das Budget in den folgenden Jahren vor allem durch Einschränkung des aufgeblähten Staatsapparats und der Bundesbahnen sowie durch Einnahmensteigerung über zahlreiche Steuer- und Tariferhöhungen ausgleichen, aber sofort die Defizitfinanzierung über die Notenbank beenden. Das dritte Protokoll bestimmte, dass die Freigabe der Anleihebeträge von der Durchführung des Sanierungsprogramms abhänge. Freilich sollte nicht übersehen werden, dass die österreichische Bundesregierung in dieser Konstellation die Verantwortung für die drastischen Maßnahmen sozusagen auf den Völkerbund bzw. seinen Kommissar implizit abwälzen konnte (Baltzarek, 1981, S. 133). Tatsächlich ließen sich die Ziele dieses wirtschaftspolitischen Maßnahmenpakets verblüffend rasch verwirklichen. Das Haushaltsdefizit wurde im Rechnungsabschluss bereits 1924 auf 1 % der Ausgaben reduziert, und 1925 vermochte man sogar einen Überschuss zu erzielen. Die folgenden drei Jahre kam es wieder zu Fehlbeträgen, die sich jedoch in Grenzen hielten und die Währungsstabilität nicht gefährdeten. Auch der Preisauftrieb konnte beendet werden. Zwar stieg der Index der Lebenshaltungskosten 1924 und 1925 noch um 17 % und 9 %, doch gingen die Inflationsraten in den Folgejahren nicht mehr über 5 % hinaus, sondern blieben
Galoppierende Inflation und „Genfer Sanierung“
203
zumeist weit darunter. Die Geldmenge veränderte sich im Rahmen der realwirtschaftlichen Entwicklung. Im Zuge der Realisierung des Sanierungsprogramms kam es schließlich mit 1. Jänner 1923 zur Gründung der Oesterreichischen Nationalbank, welche nunmehr die österreichische Abteilung der Österreichisch-Ungarischen Bank ablöste. Sie übernahm im Wesentlichen die Aktiva und Passiva der Letzteren. Nach gelungener Währungsstabilisierung ging die österreichische Bundesregierung daran, die entwertete Währung durch eine neue zu ersetzen. Mit Dezember 1924 wurde die Einführung des Schillings im Wert von 1 : 10.000 beschlossen und per 1. März 1925 realisiert. Der Anleiheerlös diente teilweise zur Deckung der Budgetdefizite von 1922 und 1923, und 50 Millionen Schilling flossen 1927 der Oesterreichischen Nationalbank zur Verringerung der Bundesschuld zu. Die restlichen Beträge verwendete der Bund für produktive Investitionen. Die Funktion des Generalkommissars endete mit 30. Juni 1926. Die sozialdemokratische Partei, die Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften hatten Mitte 1921 selbst ein Sanierungsprogramm ausgearbeitet, welches sie der Regierung übergaben. Den Inhalt des „Finanzplans“ bildete zunächst die Steigerung der Staatseinnahmen durch Steuererhöhungen, welche in einer Vermögensabgabe, einer Anhebung der Vermögensteuer, der Grundsteuer und einer stärkeren Besteuerung der Banken bestehen sollten. Die Industrie wäre aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit nur wenig zu belasten gewesen. Weiters war die Zahl der öffentlich Bediensteten zu reduzieren, und schließlich sollte eine nationale Anleihe aufgenommen werden. Diese war angesichts der Kapitalflucht in Form einer Zwangsanleihe in Valuten, Devisen und ausländischen Effekten aufzubringen. Für einen allfälligen Fehlbetrag wäre ein Auslandskredit infrage gekommen. Diesen Maßnahmen sollte sich ein industriepolitisches Strukturprogramm anschließen. So war ein umfassendes Investitionsprogramm für den Ausbau der Infrastruktur vorgesehen, insbesondere des Wohnbaus, welches gleichfalls durch inländische Anleihen zu finanzieren gewesen wäre (Weber-Felber, 1990, S. 34). Es zeigt sich, dass der sozialdemokratische Finanzplan von der schließlich realisierten Sanierung durch die „Genfer Protokolle“ nicht entscheidend abweicht (sieht man von den problematischen Finanzierungsvorstellungen durch inländische Anleihen sowohl für die Währungssanierung als auch für das Investitionsprogramm ab), die Unterschiede sind nur in – natürlich politisch determinierten – Akzenten merkbar. Dennoch lehnte die Sozialdemokratie, und damit auch die Gewerkschaften sowie die Arbeiterkammer, die „Genfer Sanierung“ vehement ab. Insbesondere
204
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
Otto Bauer griff diese schärfstens an. Tatsächlich hätte es die SDAP in der Hand gehabt, das Konzept scheitern zu lassen, weil die sozialdemokratische Zustimmung zur notwendigen Verfassungsänderung unabdingbar blieb. Doch setzte sich auch in diesem Fall die auf Erhaltung des gegebenen Staates gerichtete Position der Arbeitnehmervertreter durch, und Karl Renner vermochte mit der Regierung einen Kompromiss zu schließen. Dieser sah die Einrichtung eines „außerordentlichen Kabinettsrates“ vor (die Minister und 26 Abgeordnete), welcher in die Regierungsaktivitäten eingebunden sein sollte und auch in dieser Form verwirklicht wurde. Allerdings resultierte daraus keine politische Entspannung, wie man einem Vortrag Renners auf dem zweiten deutsch-österreichischen Gewerkschaftskongress entnehmen konnte, in welchem er sich schärfstens gegen die „Genfer Sanierung“ wandte (Klenner, 1951, S. 627) ; freilich ist in seinen Ausführungen wenig vom eigenen „Finanzplan“ zu finden. Charakteristisch für diese Zeit blieb eben eine zunehmende Radikalisierung der Sprache, selbst wenn sich die sachlichen Gegensätze in Grenzen hielten. Mit dem Ausscheiden aus der Bundesregierung und den dadurch eingeschränkten Möglichkeiten, die politischen Vorstellungen auf der Ebene des Bundes zu realisieren, konzentrierten sich die Sozialdemokraten auf die Gemeinde Wien, in deren Vertretungsgremium sie über eine massive Mehrheit verfügten. Die Gemeindeverwaltung nahm ab 1922, da Wien ein eigenes Bundesland geworden war, ein umfangreiches Programm in Angriff, das wirtschafts-, sozial- sowie gesellschaftspolitische Maßnahmen umfasste und schließlich internationales Aufsehen erregte. Unter Bürgermeister Karl Seitz wurde die Armenpflege zu einem modernen Fürsorgesystem mit einem Netz von Fürsorge- und Jugendämtern sowie Mütterberatungsstellen ausgebaut. Bei Geburt erhielten die Frauen Säuglingspakete und Kindergärten wurden eingerichtet. Für die Jugend errichtete man Freibäder sowie Sportanlagen. In der Schulpolitik wurden neue Wege beschritten. Besondere Berühmtheit erlangte das Wohnbauprogramm der Gemeinde. Da der private Wohnbau infolge des Mietengesetzes praktisch vollständig zum Erliegen gekommen war, sprang die Stadtverwaltung hier in großem Stil ein und schuf Wohnanlagen, die modernen Standards entsprachen. Die Mittel für all diese Aktivitäten stellte der Wiener Finanzstadtrat Hugo Breitner, ein Bankier, durch Erhöhung der Zinsertragsteuer sowie Besteuerung des Luxuskonsums zur Verfügung. Abgesehen von den enormen sozialen Effekten dieser Maßnahme liegt auf der Hand, dass davon beträchtliche Impulse auf die Bauwirtschaft ausgingen.
Die Spätphase des Nachkriegsaufschwungs
205
12.4 Die Spätphase des Nachkriegsaufschwungs
Die wirtschaftliche Stabilisierung führte keineswegs zu einer Verringerung der politischen Gegensätze. Im Gegenteil : Der Aufbau bewaffneter Wehrverbände der politischen Parteien – des Heimatschutzes sowie des Republikanischen Schutzbunds – erhöhte die politischen Spannungen. Damit beschränkten sich die Auseinandersetzungen nicht allein mehr auf verbale und schriftliche Attacken, sondern manifestierten sich in Gewaltakten auf der Straße. Einen tragischen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung im Brand des Justizpalastes und dem massiven Eingreifen der Polizei am 12. Juli 1927. Im burgenländischen Schattendorf waren während einer Auseinandersetzung von Parteianhängern auf sozialdemokratischer Seite ein Kind und ein Invalider erschossen worden. Im nachfolgenden Prozess sprach das Geschworenengericht die Täter frei. Die darauf um sich greifende Empörung führte zu spontanen Streiks sowie zu einer Massendemonstration der Arbeiterschaft in Wien, welche zur Erstürmung des Justizpalastes und dessen Brand führte. Diese Aktionen waren der sozialdemokratischen Parteiführung vollkommen entglitten, selbst Bürgermeister Karl Seitz vermochte der Feuerwehr keinen Zugang zum Justizpalast zu verschaffen. Letztlich setzte die Polizei Schusswaffen ein, mit zahlreichen Toten und Verletzten als Folge. Mit diesem Ereignis zeichnete sich schon das Ende der Demokratie in Österreich ab. Dieser fatale Prozess wurde jedoch in keiner Weise durch die Wirtschaftsentwicklung herbeigeführt, denn die zweite Hälfte der Zwanzigerjahre brachte international eine Phase recht günstiger Konjunktur. Die Mehrzahl der Industriestaaten erlebte einen kräftigen Boom mit durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts von real rund 3 %. Österreich fügte sich durchaus in das europäische Bild ein. In der Periode zwischen 1921 und 1929 wuchs das Bruttoinlandsprodukt real um 43 %, stärker als etwa jenes in Belgien, Deutschland, Italien oder Großbritannien, ebenso rasch wie das von Dänemark, der Niederlande oder Norwegen. Selbst wenn man gewisse Ungenauigkeiten der historischen Sozialproduktsberechnungen berücksichtigt, zeigt sich, dass Österreich durch den Krieg – und den Zerfall der Monarchie – in seinem Produktionsniveau weiter zurückgeworfen worden war als die meisten anderen europäischen Staaten, aber im Wirtschaftswachstum mit ihnen Schritt hielt. Eine Stabilisierungskrise ergab sich lediglich für ein Jahr – 1923. Danach setzte sich die Expansion der österreichischen Wirtschaft mit durchschnittlich real 4,8 % pro Jahr bis 1929 fort. Festzuhalten ist allerdings, dass es Österreich nicht gelang, den kriegs- und nachkriegsbedingten Rückschlag wieder aufzuholen.
206
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
Nun ist von einer kleinen offenen Volkswirtschaft nicht ohne Weiteres zu erwarten, dass sie wesentlich rascher expandiert als ihr internationales Umfeld. Man wird aber in der Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung – und der Entwicklungsmöglichkeiten – dieser Periode doch nicht an einer Reihe von Umständen vorübergehen können, von welchen wahrscheinlich retardierende Einflüsse auf das Wachstum ausgingen. Da waren neben der beschriebenen politischen und sozialen Instabilität zunächst jene – gleichfalls dargelegten – Schwierigkeiten, die sich nach dem Zerfall der Monarchie für den Export durch die Handelspolitik der Nachfolgestaaten ergeben hatten und welche erhebliche Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit der österreichischen Industrie stellten. Ersatz für die – zumindest teilweise – verlorenen osteuropäischen Märkte auf jenen des Westens zu finden, musste für Unternehmer, die ein Jahrhundert lang gewohnt waren, in einem großen geschützten Binnenmarkt zu operieren, einige Zeit in Anspruch nehmen. Probleme resultierten auch aus der Gestion des österreichischen Bankensystems. Die Republik hatte eine Bankenstruktur geerbt, welche durch die politische und ökonomische Funktion insbesondere der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien bestimmt war. Hier konzentrierten sich nicht nur die Zentralen der Großunternehmen des gesamten Reiches, sondern auch die meisten Finanzinstitute. Der politische Zerfall der Monarchie und die Segregation der Nachfolgestaaten betrafen den monetären Bereich zumindest ebenso stark wie jenen der Produktion, weil all diese Länder danach trachteten, entweder den eigenen Banken eine zentrale Funktion einzuräumen oder solche neu aufzubauen. Daher erfolgte auch in dieser Hinsicht eine „Nostrifizierung“. Das bedeutete zwar keine Enteignung, aber doch den Druck, Filialen zu schließen, Beteiligungen zu verkaufen oder sich zumindest mit untergeordneten Positionen im Bankenbereich zufriedenzugeben. Es lag auch auf der Hand, dass damit die lukrativsten Geschäfte den einheimischen Banken zufielen, wogegen sich die österreichischen Institute eher mit nachrangigen Transaktionen zufriedengeben mussten, nicht zuletzt deshalb, weil sie vergleichsweise teure Kredite anboten (Schubert, 1991, S. 37). Damit ist aber schon die Reaktion des österreichischen Bankenapparats auf die neuen Gegebenheiten angedeutet. Diese bestand eben nicht darin, sich auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten des neuen Staates einzustellen, sondern der traditionellen Geschäftspolitik zu folgen. Die Bankdirektoren betrachteten die Nachkriegssituation eher als eine vorübergehende Unterbrechung, auf welche schließlich eine „Normalisierung“ folgen werde. Eine Auffassung, worin sie von vielen Ökonomen, unter anderen auch von Schumpeter, bestärkt wurden (März, 1981, S. 333).
103,6
105,1
102,2
94,0
84,3
81,5
82,2
83,8
86,3
90,9
1928
1929
1930
1931
1932
1933
1934
1935
1936
1937
128,0
126,3
125,4
118,1
119,1
116,6
122,1
124,3
125,5
126,6
120,3
116,0
112,2
110,5
107,0
103,3
94,1
92,5
79,9
67,8
84,1
97,9
92,5
93,7
Belgien
Quelle : Maddison, 2003.
99,0
1927
79,3
1923
96,1
80,1
1926
73,5
1921
1922
88,5
66,4
94,5
61,8
1919
1920
1924
73,3
1918
1925
76,5
74,8
1917
77,4
1915
1916
83,5
Österreich
1914
Dänemark
182,1
177,8
173,5
169,7
164,7
159,6
163,9
162,1
153,0
143,4
138,7
136,0
128,5
131,5
131,1
118,6
107,7
110,9
105,9
93,8
97,0
103,1
98,9
106,3
Finnland 195,3
184,8
173,1
166,0
149,1
139,8
140,4
143,9
145,6
143,9
134,8
125,0
120,4
113,9
111,0
103,4
93,5
90,5
80,9
67,0
77,3
92,0
90,8
95,6
Frankreich 130,2
123,1
118,6
121,7
122,9
114,7
122,7
130,5
134,4
125,9
117,7
120,2
117,1
116,6
103,6
98,5
83,5
87,1
75,3
63,9
81,0
95,6
91,0
92,9
Deutschland 133,9
126,3
116,1
108,0
98,9
93,1
100,7
109,0
110,5
111,0
106,3
96,6
94,0
84,5
72,2
86,9
79,9
71,7
66,0
82,0
81,8
81,7
80,9
85,2
Schweiz
Norwegen
Niederlande
Italien 149,7
140,1
139,9
127,6
127,1
127,9
123,9
124,6
131,1
126,9
118,4
121,1
119,8
112,4
111,3
104,9
99,8
101,3
111,0
133,3
131,3
125,4
111,8
99,9
187,2
177,1
166,6
160,6
163,6
163,9
166,2
177,0
177,4
176,0
167,1
160,4
148,5
142,5
132,8
129,6
122,9
115,8
112,4
90,7
96,7
103,3
100,6
97,3
203,0
196,0
184,7
177,1
171,6
167,6
157,1
170,3
158,6
145,1
140,5
135,3
132,4
124,7
125,3
122,6
109,8
119,7
112,6
96,3
100,0
110,0
106,6
102,2
168,2
160,6
151,8
142,7
132,6
130,1
133,7
138,7
135,9
128,1
122,3
118,6
112,3
108,3
105,0
99,7
91,1
94,6
89,4
84,5
85,8
97,8
99,1
99,1
156,5
149,4
148,9
149,5
149,2
142,1
147,1
153,5
154,5
149,3
141,4
134,2
127,8
119,1
114,8
108,5
99,0
101,5
95,3
89,4
89,7
100,7
101,1
100,1
Zu konstanten Preisen, 1913 = 100
Schweden
Übersicht 41 : Die Wirtschaftsentwicklung der Industriestaaten 1914 bis 1937
Großbritannien 130,9
126,5
121,0
116,5
109,3
106,2
105,4
111,1
111,9
108,7
107,4
99,4
103,2
98,4
94,5
91,6
87,1
94,8
100,9
113,2
112,5
111,5
109,1
101,0
USA 160,9
154,3
135,1
125,5
116,5
119,0
137,1
148,5
163,0
153,6
151,9
150,4
141,2
138,0
133,9
118,3
112,1
114,7
115,8
114,8
105,3
108,0
94,9
92,3
.
Tschechoslowakei 149,8
134,7
124,5
125,7
130,7
136,5
142,2
147,2
152,2
148,1
136,1
126,6
127,1
113,7
103,0
95,1
97,7
90,4
.
.
.
.
.
.
Ungarn 140,8
144,0
135,0
128,5
127,7
117,1
120,3
126,4
129,2
125,1
115,0
110,2
115,0
95,7
.
.
.
82,6
.
.
.
.
.
.
Polen 127,0
106,6
103,6
102,1
100,7
103,6
112,3
121,1
127,0
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Jugoslawien 140,6
138,4
122,5
124,4
119,9
116,3
128,3
132,2
134,8
128,0
117,5
119,4
111,6
106,3
99,1
94,1
91,4
89,2
.
.
.
.
.
Die Spätphase des Nachkriegsaufschwungs
207
208
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
Der frühere Präsident der Österreichisch-Ungarischen Bank und spätere Präsident der Credit-Anstalt, Alexander Spitzmüller, meinte in seinen nach dem Zweiten Weltkrieg verfassten Memoiren, es wäre notwendig gewesen, „… daß die Wiener Großbanken dem Wahne entsagten, sie könnten noch weiterhin ihre mitteleuropäische Position aufrechterhalten. Nach meiner Ansicht waren diese Positionen in der Tschechoslowakei, in Polen, in Jugoslawien und auch in Ungarn abzustoßen, wodurch vor allem ein reichlicher Devisenbestand ins Land gekommen wäre und die Herstellung einer bescheidenen, aber doch soliden Grundlage für die österreichische Wirtschaft hätte erzielt werden können. Allerdings hätte zu diesem Behufe der übergroße Bankenapparat wesentlich reduziert werden müssen, wodurch aber eben die späteren schweren Bankenzusammenbrüche vermieden worden wären. Statt diese Methode einzuschlagen, strebten manche Bankinstitute danach, ihren Wirkungskreis noch auszudehnen. … Meine Vorstellungen im Finanzministerium stießen in dieser Beziehung auf taube Ohren. Man erklärte es für unbegreiflich, daß ich für die Mission der altangesehenen Wiener Bankinstitute in Mitteleuropa kein Verständnis hätte“ (Spitzmüller, 1955, S. 332). Tatsächlich war das kleine und verarmte Land niemals mehr in der Lage, Kapital in einem Ausmaß zu bilden, welches den Möglichkeiten der alten Metropole des Reiches entsprochen hätte. Dieses Faktum konnte natürlich auch den Bankdirektoren nicht verborgen bleiben. Um aber die traditionelle Politik fortsetzen zu können, nahmen sie in großem Umfang ausländische – kurzfristige – Kredite auf und trachteten ebensolche Teilhaber zu gewinnen. Letzteres erwies sich deshalb als besonders wichtig, weil sich die Relation von Eigenkapital zu Bilanzsumme gegenüber 1913 dramatisch verschlechtert hatte (Weber, 2005, S. 182). 1928/29 dürften die transnationalen Kredite der österreichischen Banken etwa zwei Fünftel des Vorkriegsniveaus erreicht haben. Ein Drittel dieser Gelder floss nicht direkt in die Industrie, sondern an Banken in den Nachfolgestaaten. Die Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern zwang überdies die Institute zu „window dressing“, indem sie Gewinne auswiesen, die sie gar nicht erwirtschaftet hatten, sondern die nur durch Auflösung stiller Reserven zustande gekommen waren. Über mehrere Jahre akkumulierten sich diese schließlich zu „stillen Verlusten“ und bildeten damit den eigentlichen Anlass für die Zusammenbrüche (Weber, 2005, S. 187). Freilich blieben die beschriebenen Ambitionen keineswegs auf die österreichischen Banken beschränkt. Die westlichen Siegerstaaten versuchten, nicht nur direkt auf dem Kapitalmarkt der Nachfolgestaaten Fuß zu fassen – nicht zuletzt, um den deutschen Einfluss zurückzudrängen –, sondern benutzten auch das österreichische Bankensystem, um indirekt vorzugehen und dessen Erfahrungen in diesen
209
Die Spätphase des Nachkriegsaufschwungs
Übersicht 42 : Interne Aufwertung von Effektenbeständen (= Auflösung stiller Reserven) der Credit-Anstalt 1926 bis 1929 Aufwertungsbetrag
1926
1927
1928
1929
Millionen Schilling
4,2
12,5
10,1
16,5
In % des ausgewiesenen Gewinnes
53,3
120
96
180
Quelle : Weber, 2005, S. 191.
Ländern auszuschöpfen. So übernahmen englische Kapitalgeber die Anglo-Österreichische Bank und französische die Länderbank (März, 1981, S. 459). Auch dieses Projekt schlug zumindest teilweise fehl. Konsequenterweise wurde die AngloÖsterreichische Bank schon 1925 an die Credit-Anstalt verkauft ; der Länderbank jedoch gelang es in den Folgejahren, durch eine äußerst vorsichtige Politik über alle Schwierigkeiten dieses Sektors hinwegzukommen. Neben diesen Strukturproblemen war es freilich auch das Tagesgeschäft der Banken, welches den Kapitalmarkt destabilisierte. So verblüfft es, dass angesichts des politischen und ökonomischen Umbruchs nach dem Krieg die Zahl der Bankangestellten keineswegs reduziert wurde, sondern wesentlich expandierte. So verfügte etwa die Credit-Anstalt vor dem Krieg über 1.600 Beschäftigte, 1923 waren es jedoch 2.300 (März, 1981, S. 447). Dieser Zuwachs erklärt sich aus einer Änderung des Bankgeschäfts gegenüber der Vorkriegszeit. Da die Regierung nach 1918 nicht in der Lage – oder nicht willens – war, den Devisenhandel unter Kontrolle zu halten, entwickelte sich dieser in der Inflationsperiode zu einer wichtigen Bankaktivität. Entfielen 1913 2,2 % des Umsatzes der Credit-Anstalt darauf, so waren es 1920 21,4 %. In ähnlicher Weise expandierte das Anlagen- und Börsengeschäft, wogegen das traditionelle Einlagengeschäft stark an Bedeutung verlor. Und diese Entwicklung vollzog sich nicht nur innerhalb der bestehenden Banken, sondern führte auch zu umfangreichen Neugründungen – nicht zu reden von Geldgeschäften, die sozusagen „schwarz“ außerhalb der Geldinstitute abgewickelt wurden (März, 1981, S. 448). Die Währungsstabilisierung beendete zwar diese Art von Transaktionen, doch entfaltete sich eine neue Art von Spekulation. Da die Aktien während der Inflation im Wert zurückgeblieben waren, setzte nach der Stabilisierung ein Anpassungsprozess ein, der sofort eine neue Spekulationswelle in Gang setzte. Weil die Hausse wieder einmal sichere Gewinne versprach, kam es abermals zu einer Expansion der Banken, die von den zuständigen Behörden weder behindert noch reguliert oder kontrolliert wurde. Diese Nonchalance bezog sich nicht nur auf Bankengründun-
210
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
gen, sondern auch auf die Aufsichtspflicht, sodass Effektenspekulation auf reiner Kreditbasis oder gar auf betrügerischer Grundlage betrieben wurde. Das zeitigte nun schon, bevor es zur dramatischen Zuspitzung der Ereignisse kam, einen exorbitanten Anstieg der Zinssätze. Die Effektenhausse versorgte zwar manche Aktiengesellschaften mit Kapital, zog jedoch eine schwere Beeinträchtigung der Unternehmenskredite nach sich. Diese Hausse fand mit dem Zusammenbruch der Spekulationswelle gegen den französischen Franc ihr Ende. Es liegt auf der Hand, dass die nach der Spekulationsphase auftretenden Bankenzusammenbrüche viele Unternehmen direkt oder indirekt betrafen. Eine weitere Ursache für die Instabilität vieler Geldinstitute lag darin, dass sich seit dem Ende der Monarchie auch die finanzielle Lage vieler Unternehmen verschlechtert hatte. Ihnen war während und nach dem Krieg ein Großteil ihres Eigenkapitals verloren gegangen, und sie hatten keine Möglichkeit gefunden, dieses wieder aufzubauen. Sie waren daher in erhöhtem Maß gezwungen, ihre Geschäftstätigkeit auf Kreditbasis zu vollziehen. Diese Situation wurde vielfach dadurch verschärft, dass sie nicht mehr in der Lage waren, die Kreditzinsen zu verdienen, sondern sich auch dafür verschulden mussten und damit in eine immer schwierigere Situation gerieten (Federn, 1927/28A, S. 122 ; 1927/28B, S. 623). Die Geldinstitute hatten versucht, sich während der Inflation durch Aktienerwerb gegen den Geldwertverlust abzusichern. Die Absicht war, die Wertpapiere nach der Stabilisierung zu veräußern. Das gelang zwar in der Börsenhausse 1923, nach deren Zusammenbruch sahen sich jedoch die Banken aus Gründen der Kurspflege für die Konzernbetriebe gezwungen, diese wieder zurückzukaufen. Da Letztere aus den zuvor genannten Gründen die aufgenommenen Kredite oft nicht bedienen konnten, gingen weitere Aktienpakete an die Banken über, wodurch sie weiter immobilisiert wurden. Schließlich wurde das österreichische Bankensystem während der Zwanzigerjahre nicht nur durch häufige Korruptionsskandale erschüttert, wie etwa im Fall der Centralbank oder der Postsparkasse (Ausch, 1968, S. 205 und S. 247), sondern auch dadurch, dass die Regierung Druck ausübte, damit gefährdete Banken von gesund scheinenden Instituten übernommen würden. Dies betraf vor allem die BodenCredit-Anstalt, welche im Oktober 1929 unter massivem Druck der Regierung von der Credit-Anstalt übernommen werden musste und sich für diese als schwere Belastung erwies. Damit lässt sich aber sagen, dass die österreichische Wirtschaft durch hohe Kreditkosten belastet wurde. Waren diese zunächst Folgen der Inflation sowie der prekären Zahlungsbilanz, so kamen dazu die Konsequenzen der beschriebenen Bankenpolitik, welche dazu führte, dass das hohe Zinsniveau der Stabilisierungspe-
Die Spätphase des Nachkriegsaufschwungs
211
riode – im Gegensatz zu Deutschland – nur sehr langsam zurückging (Sandgruber, 1995, S. 365). Die Exportentwicklung dürfte auch durch den Wechselkurs beeinträchtigt worden sein. 1924 und 1925 gab es immerhin noch Inflationsraten (gemessen am Lebenshaltungskostenindex) von 17 % und 9 % ; erst 1926 gelang die interne Stabilisierung vollständig. Doch veränderte sich der Wechselkurs der Krone – oder des Schillings – während dieser Zeit nicht mehr. Durch diese Entwicklung musste sich ceteris paribus die Konkurrenzfähigkeit vieler Industrien verschlechtern (Butschek, 1985, S. 47). Freilich dürften nicht nur diese Umstände die unternehmerischen Erwartungen gedämpft haben. Borchardt wies darauf hin, dass sich in Deutschland – wo sich die Entwicklung durchaus ähnlich vollzog wie in Österreich – eine erhebliche Verschiebung in der Verteilung des Volkseinkommens gegenüber der Vorkriegszeit ergeben hatte. Diese sei zugunsten der Löhne bzw. des Staates und zulasten der Unternehmereinkommen erfolgt. Daraus erkläre sich eine pessimistische Erwartungshaltung der Unternehmer, welche sich letztlich in der niedrigsten Investitionsquote dieser Entwicklungsphase niedergeschlagen und zur ökonomischen Labilität dieser Epoche geführt habe (Borchardt, 1989). In Österreich hatte sich – wie schon erwähnt – die Verteilungsstruktur durch das Erstarken der Gewerkschaften in ähnlicher Weise verändert. 1924 lag die Lohnquote mit 57 % um 6 Prozentpunkte höher als 1913. Die Vergrößerung des Anteils der Arbeitnehmer am Volkseinkommen ging hauptsächlich zu Lasten der 1913 noch bedeutenden Einkünfte aus Vermögen. Miethäuser wurden infolge der Mietengesetzgebung ertraglos, die Inflation entwertete festverzinsliche Wertpapiere sowie Bankguthaben, und die Erträge aus Anteilsrechten schrumpften teils infolge von Substanzverlusten der Unternehmen, teils infolge von Verkäufen an das Ausland. Die Löhne dürften jedoch auch auf Kosten der Unternehmergewinne an Boden gewonnen haben. Die gesamte volkswirtschaftliche Konstellation (Strukturwandel, hohe Kreditzinssätze, harte – am Wechselkurs orientierte – Währungspolitik, expansive Lohnpolitik) ließ nur limitierte Erträge der Unternehmen zu. Die Einkommensverteilung, welche sich nach dem Ersten Weltkrieg herausgebildet hatte, änderte sich in den Jahren der Ersten Republik nicht grundlegend. Kurzfristige Schwankungen erfolgten hauptsächlich konjunkturbedingt. Von 1924 bis 1929 blieb die Lohnquote mit 57 % fast unverändert. In der großen Depression stieg sie, wie fast immer in Zeiten rückläufiger wirtschaftlicher Aktivität, auf 59 %, sank aber im Zuge der leichten wirtschaftlichen Erholung bis 1937, von der hauptsächlich die kapitalintensive Schwerindustrie profitierte, wieder auf 55 % (Kausel – Nemeth – Seidel, 1965, S. 14).
212
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
Übersicht 43 : Anteil der Einkommensarten am Volkseinkommen (zu laufenden Preisen) 1913
1924
1929
1933
1937
Anteile in % Löhne und Gehälter
51,0
57,2
57,5
58,8
54,6
Einkommen aus Besitz und Unternehmen1
47,7
39,8
39,0
39,7
42,2
Unverteilte Gewinne der Kapitalgesellschaften
2,9
2,7
2,8
1,9
3,8
Öffentliches Einkommen aus Besitz und Unternehmen
0,8
1,8
2,1
2,1
1,7
Zinsen für die Staatsschuld
– 2,4
– 1,5
– 1,4
– 2,5
– 2,3
Volkseinkommen
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Quelle : Kausel – Nemeth – Seidel, 1965, S. 16. – scher Korrektur.
1
Ohne Kapitalgesellschaften, einschließlich statisti-
In diesem Zusammenhang kommt es gar nicht darauf an, ob die Löhne dieser Zeit „zu hoch“ waren – wie das in Deutschland heftig diskutiert wurde (siehe etwa Holtfrerich, 1996, S. 119) – oder ob die Unternehmer durch höhere Investitionen ihr Einkommen hätten steigern können, sondern auf die subjektive Beurteilung der gesamten wirtschaftlichen Konstellation durch die Arbeitgeber. Dementsprechend entwickelte sich die Investitionsquote. Sie betrug für die Gesamtwirtschaft 1924 lediglich 6 % und erhöhte sich in den folgenden Jahren nur langsam ; auf dem Höhepunkt der Nachkriegsentwicklung, 1929, erreichte sie schließlich mit 10 % ihr Maximum, welches dem Niveau der Vorkriegszeit entsprach. Lässt sich also eine Reihe von Fakten anführen, welche die unternehmerischen Tätigkeiten beeinträchtigen mussten, scheint die gleichfalls negative Einschätzung der wirtschaftlichen Lage durch die Arbeitnehmer nicht ohne Weiteres verständlich. Obwohl der sozialpolitische Aufbruch nach Kriegsende und der wirtschaftliche Aufholprozess in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre mit respektablen Lohnsteigerungen die Einkommenssituation der Unselbstständigen gegenüber der Vorkriegszeit verbessert hatten, wurde das Bewusstsein dieser Epoche offenbar stärker durch die relativ hohe Arbeitslosigkeit geprägt (siehe etwa Gewerkschaftskommission Österreichs, 1926, S. 70). Erwies sich die Situation nach Kriegsende in dieser Beziehung noch relativ günstig, so stieg die Arbeitslosenquote während der Stabilisierungskrise 1923 – auch infolge der Abbaumaßnahmen im öffentlichen Dienst – auf fast 10 % und sank auch in den folgenden Jahren nicht mehr. 1928, im letzten Jahr mit kräftigem Wirtschaftswachstum, lag sie bei 11,7 %. Zwar begann die Bevölkerung infolge sinkender Geburtenraten allmählich zu stagnieren, doch wurden davon die Jahrgänge im Alter der Erwerbsfähigkeit nicht betroffen. Die starken Geburtsjahrgänge aus der Zeit zwischen 1900 und 1914 tra-
213
Die Spätphase des Nachkriegsaufschwungs
Übersicht 44 : Die Arbeitsmarktlage in der Zwischenkriegszeit Unselbstständig Beschäftigte Stand
Veränderung
Arbeitslose Stand
Veränderung In 1.000
In %
Arbeitslosenquote1 in %
In 1.000
In 1.000
In %
In 1.000
1919
1.632
– 94
– 5,4
147
–
–
8,3
1920
1.989
+ 357
+ 21,9
65
– 82
– 55,8
3,2
1921
2.161
+ 172
+ 8,6
23
– 42
– 64,6
1,1
1922
2.218
+ 57
+ 2,6
99
+ 76
+ 330,4
4,3
1923
2.100
– 118
– 5,3
217
+ 118
+ 119,2
9,4
1924
2.130
+ 30
+ 1,4
187
– 30
– 13,8
8,1
1925
2.047
– 83
– 3,9
270
+ 83
+ 44,4
11,7
1926
2.019
– 28
– 1,4
298
+ 28
+ 10,4
12,9
1927
2.022
+3
+ 0,1
295
–3
– 1,0
12,7
1928
2.047
+ 25
+ 1,2
270
– 25
– 8,5
11,7
1929
2.032
– 15
– 0,7
283
+ 13
+ 4,8
12,2
1930
1.960
– 72
– 3,5
358
+ 75
+ 26,5
15,4 19,4
1931
1.850
– 110
– 5,6
444
+ 86
+ 24,0
1932
1.695
– 155
– 8,4
557
+ 113
+ 25,5
24,7
1933
1.599
– 96
– 5,7
598
+ 41
+ 7,4
27,2 25,5
1934
1.596
–3
– 0,2
545
– 53
– 8,9
1935
1.626
+ 30
+ 1,9
515
– 30
– 5,5
24,1
1936
1.626
±0
± 0,0
515
±0
± 0,0
24,1
1937
1.677
+ 51
+ 3,1
464
– 51
– 9,9
21,7
Quelle : Butschek, 1992, S. 441, S. 472. – 1 Arbeitslose in % des Angebots an Unselbstständigen (Beschäftigte und Arbeitslose).
ten nunmehr in das Arbeitskräftepotenzial ein, sodass dieses stetig zunahm. 1923 hatte die Zahl der Personen zwischen 15 und 65 Jahren 4,484.700 erreicht, um 221.300 mehr als 1910. Offensichtlich reichte das erzielte Wachstum nicht aus, um das expandierende Arbeitskräftepotenzial zu beschäftigen (Butschek, 1992, S. 77). Gewiss waren die Arbeitslosen einigermaßen versorgt. Die im November 1918 eingeführte Arbeitslosenunterstützung stellte eine Versorgungsleistung dar, die ausschließlich vom Bund finanziert wurde. Vor dem Krieg waren die Arbeitslosen im Rahmen der Armenfürsorge in ihren Heimatgemeinden unterstützt worden, soweit sie nicht die Gewerkschaften versorgten. Im März 1920 wurde die staatliche Arbeitslosenunterstützung in eine Arbeitslosenversicherung umgewandelt, welche in ihren Grundzügen bis heute existiert. Ihre Finanzierung erfolgte im Umlageverfahren durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie den Bund. Der Arbeitgeberbeitrag wurde später durch einen Zuschlag zur Umsatzsteuer ersetzt.
214
Der Zerfall und seine Folgen – die Zwanzigerjahre der Ersten Republik
Die Unterstützungsdauer war zunächst auf zwölf Wochen festgelegt, wurde aber schon 1920 auf 30 Wochen verlängert. Im Dezember 1922 führte man eine außerordentliche „Notstandsaushilfe“ ein, welche praktisch zeitlich unbegrenzt gewährt wurde. Organisatorisch oblag die Vollziehung des Gesetzes paritätisch besetzten „Industriellen Bezirkskommissionen“, wurde aber zunächst von den kommunalen, vor allem aber den gewerkschaftlichen Arbeitsvermittlungsstellen getragen. All diese entschieden über den Leistungsanspruch ; die Auszahlung der Unterstützung erfolgte über die Finanzämter oder die Gemeinden. Die Arbeitslosenbeiträge hoben von Beginn an die Krankenversicherungsträger ein (Stiefel, 1979, S. 55). Die österreichische Arbeitslosenversicherung zählte im Hinblick auf den Versichertenkreis und auf ihre rechtliche und organisatorische Struktur zu den international vorbildlichen Einrichtungen. Viele Industriestaaten verfügten nur über Systeme staatlich subventionierter freiwilliger Versicherung, die häufig auf Gewerkschaftsmitgliedschaft beruhten (Butschek, 1937, S. 55). Die österreichische Versicherung ging auch schon früh über die reine Existenzsicherung hinaus. Bereits damals fasste man Um- und Nachschulungen ins Auge, und auch Zuschüsse zu Umzügen und Fahrtkosten bei Antritt der Arbeit an einem anderen Ort konnten geleistet werden. 1922 wurde die „produktive Erwerbslosenfürsorge“ eingeführt. Diese sah vor, dass Länder, Bezirke und Gemeinden für volkswirtschaftlich nützliche Arbeiten, die sonst unterblieben wären und durch welche unterstützte Arbeitslose beschäftigt wurden, subventioniert werden sollten. Die Höhe der Zuschüsse sollte sich nach dem Ausmaß der ersparten Arbeitslosenunterstützung bemessen, aber auch Darlehen waren möglich. Der Effekt dieser Maßnahme blieb jedoch weit unter den hoch gespannten Erwartungen ; er vermochte daher den Arbeitnehmern kein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.
12.5 Gewerkschaftliche Produktionsorientierung und sozialpolitische Stabilisierung
Blieb also die Einstellung der Arbeitnehmer zur Entwicklung der Wirtschaft eher negativ, fällt auf, dass auch in dieser Phase eines unausgelasteten Arbeitskräftepotenzials die „Produktionsorientierung“ der österreichischen Arbeitnehmerorganisationen wieder deutlich hervortrat. Besonderes Augenmerk widmeten ihre Vertreter der Exportindustrie. So verlangten sie eine differenzierte Besteuerung, welche die Arbeitnehmer ent-, aber Banken und Versicherungen stärker belasten sollte. Daher wurde auch die Einführung der Umsatzsteuer abgelehnt, aber die steuerliche Schonung der Landwirtschaft kritisiert. Diese Diskussion führte immer-
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hin dazu, dass den Exportbetrieben zumindest 40 % der Umsatzsteuer rückvergütet wurden. Ebenso kritisierten sie die nunmehr aus dem Bundesbudget ausgegliederten Eisenbahnen in ihrer Tarifpolitik, weil sie diese für die Industrie als „ruinös“ betrachteten. In dieselbe Richtung zielten ihre kreditpolitischen Vorschläge : Sie forderten vehement eine Senkung der Kreditzinssätze, ein Wunsch, dem die Banken nach einiger Zeit zumindest teilweise nachkamen. An die Nationalbank gerichtete Forderungen nach einer weniger restriktiven Geldpolitik wurden zwar von der österreichischen Leitung nicht zurückgewiesen, scheiterten aber an der strikt ablehnenden Haltung des dort eingesetzten Völkerbundexperten. Interessant scheint auch die Forderung nach Kreditrationierung ; das knappe Geld sollte vor allem der Industrie zufließen. Wiewohl auch stets eine Steigerung der öffentlichen Investitionen gefordert wurde, stellte sich Otto Bauer auf den Standpunkt, dass dieses Ziel nicht durch eine „inflationistische Geldpolitik“ anzustreben wäre, denn : „Die Vermehrung des Umlaufs der Geldmittel führt immer zu einer Belebung der Industrie, aber zum teuersten Preis, zum Preis aller der Wirkungen, welche die Inflation zur Folge hat“ (zitiert nach Weber-Felber, 1990, S. 98). Die Bemühungen insbesondere der Arbeiterkammer, die wirtschaftspolitische Diskussion zu intensivieren, zeitigten insoweit nur beschränkte Erfolge, als sich die Industrievertreter stets distanziert verhielten. Eine engere Zusammenarbeit kam nicht zustande (Chaloupek – Rosner – Stiefel, 2006, S. 44). Nur in einem Bereich konnte man davon sprechen : Am Anfang stand die Initiative der Arbeiterkammer, die analytische und statistische Basis für die ökonomischen Debatten zu schaffen. Der erste Schritt wurde dadurch gesetzt, dass die Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien ab 1925 begann, das „Wirtschaftsstatistische Jahrbuch“ herauszugeben. Dieses enthielt nicht nur alle greifbaren offiziellen Statistiken, sondern auch solche, welche von der Arbeiterkammer oder den Gewerkschaften selbst erhoben oder zusammengestellt wurden. Einen weiteren wichtigen Schritt setzte die Arbeiterkammer gemeinsam mit der Handelskammer Ende 1926 durch die Gründung des „Österreichischen Instituts für Konjunkturforschung“, dessen erster Leiter der spätere Nobelpreisträger Friedrich Hayek wurde. Gemäß den Satzungen des Instituts sollte sein Präsident stets jener der Handelskammer sein ; als Stellvertreter fungierten der Arbeiterkammerpräsident sowie ein Ordinarius der Universität Wien. Damit war eine Einrichtung geschaffen worden, welche der Wirtschaftspolitik objektive Konjunkturanalysen vermittelte – womit sich Österreich in die Reihe der fortgeschrittensten Industriestaaten stellte.
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Es zeigt sich auf diese Weise, dass für die österreichischen Arbeitnehmervertreter schon relativ früh die gesamtwirtschaftliche Entwicklung eine große Rolle spielte – im Gegensatz zu manchen Organisationen in anderen Ländern, welche sich nur auf Lohnerhöhungen oder arbeitsrechtliche Verbesserungen konzentrierten. Und dies, obwohl die Versuche zu wirtschaftlicher Kooperation von den Repräsentanten der Unternehmer meist rüde zurückgewiesen wurden. Somit scheinen die Wurzeln der späteren Sozialpartnerschaft relativ weit zurückzureichen. Eine interessante Auseinandersetzung entwickelte sich Ende der Zwanzigerjahre im Zusammenhang mit der sogenannten „Rationalisierungsdiskussion“ zwischen dem Metallarbeiterfunktionär und ersten Sekretär der Gewerkschaftskommission, Johann Schorsch, und dem Vorstand des Metallarbeiterverbands, Franz Domes. Ersterer bezeichnete angesichts der persistenten Arbeitslosigkeit die Politik der Exportförderung auch durch zurückhaltende Lohnpolitik als verfehlt. Wesentlich sei vielmehr der Konsum im Inland. Dieser sei durch eine expansive Lohnpolitik anzukurbeln, da die höheren Unternehmergewinne den Konsum drückten. Demgegenüber verwies Domes immer wieder darauf, dass übermäßige Lohnforderungen die Konkurrenzfähigkeit der österreichischen Wirtschaft und damit auch die Arbeitsplätze gefährden würden. Schorsch blieb mit seinen Auffassungen in den Führungsgremien in der Minderheit (Weber-Felber, 1990, S. 112). Und sicherlich hätte eine aggressive Lohnpolitik zu den Folgen geführt, welche Domes prophezeite. Interessant bleibt allerdings der makroökonomische, nachfrageseitige Denkansatz Schorsch’, der in den folgenden Jahren eine Ausweitung erfahren sollte. Im Bereich der Sozialpolitik wurde die Situation der späteren Zwanzigerjahre dadurch gekennzeichnet, dass die konservativen politischen Gruppierungen sowie die Unternehmervertretungen nach der „Genfer Sanierung“ den Druck auf die Arbeitnehmervertretungen verstärkten. Es ging Ersteren vor allem darum, die nach 1918 zustande gekommenen sozialpolitischen Errungenschaften sowie die Bewegungsmöglichkeiten der Gewerkschaften zu beschränken. Ihre Argumentation lief im Wesentlichen dahin, dass die sozialpolitische Explosion nach 1918 unter dem Druck der revolutionären Situation zustande gekommen sei und nunmehr unter stabilen Verhältnissen überprüft werden müsse, weil diese Gesetze die Produktion behinderten (Tálos, 1981, S. 166). Manche Unternehmer versuchten, ihre Ziele auf eigene Faust zu erreichen. An der Spitze solcher Aktivitäten stand die Alpine-Montangesellschaft, welche ab Juli 1927 keine freigewerkschaftlich organisierten Arbeiter mehr aufnahm, überdies aber durch Kündigungsdrohung sowie den Verlust der Werkswohnung Arbeiter veranlasste, die Freien Gewerkschaften zu verlassen. Terrorüberfälle auf gewerkschaftliche Lokale durch die „Heimwehr“ schufen eine Atmosphäre der Angst.
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Im Mai 1928 ging die Betriebsleitung sogar daran, eine eigene Gewerkschaft, die „Unabhängige Gewerkschaft“, zu gründen, um die Freien Gewerkschaften weiter zurückzudrängen. Als Meilenstein in dieser Entwicklung im legistischen Bereich gilt das im April 1930 beschlossene „Antiterrorgesetz“. Der Ausgangspunkt dafür bestand im legitimen Wunsch der Christlichen Gewerkschaften, „geschlossene Betriebe“ zu verhindern. Im Zuge der Gesetzwerdung wurden jedoch viel weitergehende Ziele angestrebt und letztlich verwirklicht, wie Einschränkungen des Kollektivvertrags- und Streikrechts sowie das Verbot, Gewerkschaftsbeiträge im Lohnabzug einzuheben (Weber-Felber, 1990, S. 127). Die Bemühungen der Bundesregierung, das Budget zu entlasten, führten unter anderem dazu, dass sie die Kosten der Arbeitslosenversicherung zur Gänze auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer überwälzte. So wurde im Zuge dieser Politik der Bundesbeitrag zur Arbeitslosenversicherung, der ursprünglich ein Drittel des Aufwands ausgemacht hatte, bis 1926 fast zur Gänze gestrichen bzw. im Bedarfsfall nur vorschussweise geleistet. Lediglich für die Finanzierung der Notstandsaushilfe leisteten die Gebietskörperschaften weiterhin die Hälfte des Aufwands (Tálos, 1981, S. 213). Trotz der dargelegten Bestrebungen wird man aber für die späteren Zwanzigerjahre nicht von einer ausgeprägt restriktiven Sozialpolitik sprechen können. In der Krankenversicherung kam es 1921 noch zu einer Ausweitung des Versichertenkreises, auch für die öffentlich Bediensteten wurde eine solche eingeführt. Die Einbeziehung der Unselbstständigen aus der Land- und Forstwirtschaft war zunächst an der Tatsache gescheitert, dass für diese Materie die Bundesländer als zuständig betrachtet wurden und der Verfassungsgerichtshof einer Beschwerde gegen dieses Gesetz stattgegeben hatte. Dieses Problem konnte 1928 saniert werden. Erhebliche Leistungsverbesserungen brachte auch die Verabschiedung des Angestelltenversicherungsgesetzes 1926, mit welchem das Pensionsversicherungsgesetz für Privatangestellte aus dem Jahr 1906 abgelöst wurde (Tálos, 1981, S. 195). Keinen Erfolg erzielten die Arbeitnehmervertretungen in dieser Phase mit ihrem Anliegen, eine umfassende Arbeitersozialversicherung einschließlich Invaliditäts-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung einzuführen. Zwar wurde ein Arbeiterversicherungsgesetz per 1. April 1927 angenommen, der pensionsrechtliche Teil jedoch ausgesetzt, bis eine Besserung der wirtschaftlichen Umstände dessen Verwirklichung erlauben würde. Anstelle der Pensionsregelung wurde per 1. Oktober 1927 die provisorische Altersfürsorge geschaffen. Anspruch auf diese geringe monatliche Leistung (das Zwanzigfache der täglichen Arbeitslosenunterstützung) hatten österreichische Staatsbürger mit dem 60. Lebensjahr, wenn sie arbeitsun-
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fähig waren oder Anspruch auf die Notstandsaushilfe gehabt hätten (Tálos, 1981, S. 202). Dass die konservative Regierung die sozialpolitische Offensive der Nachkriegszeit nicht in gleichem Maß fortsetzte, kann schließlich nicht überraschen. Nicht nur musste sie bemüht sein, das Budget auszugleichen, man kann auch nicht übersehen, dass der sozialpolitische Sprung von 1918/19 tatsächlich einen Kostenschub für die Produktion bedeutet hatte. Wie immer diese Kostenbelastung im internationalen Vergleich gesehen werden mag – die Zeitgenossen stellten sehr unterschiedliche Berechnungen an –, war es angesichts der mäßigen Wirtschaftsentwicklung nicht ganz abwegig, eine sozialpolitische Pause einzulegen, umso mehr, als sich rückblickend auch sagen lässt, dass die Gesetzgebungsinitiative 1918 und 1919 die Grundstruktur des österreichischen Sozialrechts bereits gelegt hatte. Die beträchtliche Erweiterung des Arbeits- und Sozialrechts nach dem Zweiten Weltkrieg soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um Verbesserungen eines bereits existierenden Systems handelte. Zusammenfassend wird man sagen müssen, dass die Volkswirtschaft der neu entstandenen Republik Österreich in dieser Periode exzessiven Belastungen ausgesetzt war. Zunächst durch den Ersten Weltkrieg und seine unmittelbaren Folgen, dann aber zusätzlich durch den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie und dem Bestreben der Nachfolgestaaten, sich von der ehemaligen Metropole scharf abzugrenzen. Dazu kamen tiefgreifende institutionelle Brüche im Inneren, welche die Gesellschaft erschütterten und sich in permanenten politischen Spannungen niederschlugen. Letztlich wurden die Unternehmen durch zusätzliche Kosten, sei es durch vergleichsweise hohe Kapitalkosten, aber auch durch eine Verschiebung in der Einkommensverteilung sowie -umverteilung belastet. Es kann daher nicht erstaunen, dass man nicht nur im Land selbst an dessen Lebensfähigkeit zweifelte. In Anbetracht all dieser Probleme scheint es bemerkenswert, dass sich die wirtschaftliche Lage doch allmählich stabilisierte und Österreich an der gesamteuropäischen Konjunkturentwicklung in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre partizipierte. Freilich war die wirtschaftliche Gesundung nicht so weit fortgeschritten, dass man ein Niveau erreicht hätte, das im internationalen Vergleich jenem der Vorkriegszeit entsprochen hätte. Gleichermaßen war es auch nicht möglich, in die Nähe der Vollbeschäftigung zu gelangen. Man konnte daher annehmen, dass die Ökonomie des Landes krisenanfällig bleiben werde.
13. Weltwirtschaftskrise und Stagnation 13.1 Der internationale Einbruch und seine Folgen für Österreich
Der Wirtschaftsaufschwung der späteren Zwanzigerjahre fand sein Ende in der Weltwirtschaftskrise, einem Ereignis, das die ökonomische Entwicklung der Industriestaaten in einmaliger Weise prägte. Zwar hatten auch die früheren Jahrzehnte stets ein zyklisches Schwanken der wirtschaftlichen Aktivität gekannt, aber niemals war es zu einem Rückschlag dieses Ausmaßes und dieser Intensität gekommen. Es kann daher nicht wundernehmen, dass die Krise das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems schwer erschütterte, der Diskussion alternativer Wirtschaftsordnungen Auftrieb gab und die sozialen Folgen der Krise politische Umbrüche zumindest begünstigten (Fischer, 1968, S. 40). Ihr Beginn wird üblicherweise mit dem berühmten „Schwarzen Freitag“ des Oktober 1929 – der ein Donnerstag war – an der New Yorker Börse datiert. Diesem Ereignis waren jedoch bereits Entwicklungen vorangegangen, welche die konjunkturelle Aufwärtsentwicklung bedrohten. So war seit 1925 die Nahrungsmittelknappheit der Nachkriegszeit durch eine weltweite Überproduktion abgelöst worden. Die „Agrarkrise“ brachte nicht nur die Agrarstaaten in Zahlungsbilanzschwierigkeiten, sondern schuf durch den Preisverfall der landwirtschaftlichen Produkte ein latent deflationäres Klima (Kindleberger, 1973, S. 137). Aber auch dem Zusammenbruch der New Yorker Börse gingen Ereignisse rezessiven Charakters voraus. Hatten die amerikanischen Banken schon zuvor die europäischen Geldmärkte durch Abzug kurzfristiger Kredite belastet (Lewis, 1949, S. 57), worauf die Notenbanken die Diskontsätze erhöhten, so veranlassten sie auch die Federal Reserve, derartig vorzugehen, um die Spekulation unter Druck zu setzen. Als der – auf Kredit aufgebaute – Boom Ende Oktober 1929 in den USA zusammenbrach, kam es zwar zu einer internationalen Entspannung der Finanzmärkte mit Senkung des Diskontsatzes, doch folgten Bankenzusammenbrüche und Liquiditätsschwierigkeiten für die amerikanischen Unternehmer, welche den Lagerzyklus in Gang setzten, der rasch auf die Produktion durchschlug und die US-Importe in kurzer Zeit namhaft reduzierte (Kindleberger, 1973, S. 125). Als Reaktion auf das Smoot-Hawley-Gesetz, mit welchem die amerikanischen Zölle massiv angehoben worden waren, ging 1930 eine Welle von Zollerhöhungen durch die gesamte Welt – mit entsprechenden Effekten für den Außenhandel.
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Man erhält allerdings den Eindruck, dass sich 1929 und 1930 noch in keiner Weise jene Krise abzeichnete, welche später dieser Periode ihren Namen gab. Es schien sich vorerst um einen der üblichen zyklischen Rückschläge zu handeln. Erst durch die Kumulation vor allem exogener Einflüsse wurde er zum schweren Einbruch. Die auch durch stetigen Preisverfall weiter getriebene Abwärtsentwicklung erfuhr immer wieder neue äußere Anstöße, wie etwa auch durch die konsequent restriktive Wirtschaftspolitik wichtiger europäischer Staaten (Temin, 1989). Natürlich schlug die Weltwirtschaftskrise auf die österreichische Wirtschaft durch, doch hielten sich deren Auswirkungen vorerst in Grenzen. 1929 gab es noch ein schwaches Wirtschaftswachstum von 1,4 %, und 1930 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um real 2,8 %. Die Arbeitslosigkeit hatte schon 1929 geringfügig zu steigen begonnen (+ 4,8 %), 1930 allerdings schon massiv (+ 26,5 %) ; die Arbeitslosenquote erreichte in diesem Jahr bereits 15,4 %. Die Katastrophe trat eigentlich 1931 mit dem Zusammenbruch der CreditAnstalt im Mai des Jahres ein. Die im vorigen Kapitel beschriebene fragwürdige Gestion der Credit-Anstalt – positive Bilanzierung durch Auflösung stiller Reserven, Auszahlung nicht verdienter Dividenden – hatte schon im Aufschwung die Stabilität des Instituts gefährdet, sie wurde in der Krise schlagend. Vor allem die europäischen Universalbanken waren von dieser doppelt betroffen : einerseits durch ausfallende Kredite, andererseits durch den Wertverlust ihres Aktienportefeuilles (Schubert, 1991, S. 38). Das galt auch für die Credit-Anstalt. Faule Kredite entstanden vor allem in Textilunternehmen der Nachfolgestaaten, den Wertverlust verursachte der hohe Bestand an Industrieaktien. Und letztlich schlug hier auch die 1929 veranlasste Übernahme der Boden-Credit-Anstalt zu Buche. Völlig überraschend eröffnete im Mai 1931 der Vorstand der Credit-Anstalt der Bundesregierung, dass 1930 ein Verlust von 130 Millionen Schilling entstanden und dass die Bank praktisch insolvent sei. Da die Regierung die Auffassung vertrat, dass ein Zusammenbruch des Instituts die heimische Wirtschaft ebenso wie die internationale Position Österreichs allgemein massiv gefährden würde, erstellte sie innerhalb weniger Tage einen Rekonstruktionsplan. Danach übertrug die Bundesregierung dieser Bank 100 Millionen Schilling als Eigenkapital, die Notenbank sowie das Haus Rothschild je 40 Millionen Schilling. Um die Liquidität des Instituts sicherzustellen, erklärte sich die Notenbank zur praktisch unbeschränkten Kreditgewährung bereit, und zwar auch durch Übernahme von Finanzwechseln – was dem Notenbankstatut widersprach. Die Nachricht vom imminenten Zusammenbruch der Credit-Anstalt schlug in der Öffentlichkeit wie eine Bombe ein. Sie führte zu einem Run nicht nur auf die Credit-Anstalt, sondern – in abgeschwächtem Ausmaß – auch auf andere Geld-
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institute Österreichs. Darüber hinaus entstand durch dieses Ereignis eine internationale Vertrauenskrise, weil sich das Institut bis dahin als „Rothschildbank“ eines ausgezeichneten Rufs erfreut hatte. Brach die Credit-Anstalt zusammen, dann konnte man keiner Bank mehr vertrauen. Daher gab es auch massive Abhebungen in deutschen Geldinstituten, welche schließlich den Zusammenbruch der Dresdner Bank sowie der Darmstädter- und Nationalbank bewirkten, was die deutsche Regierung veranlasste, kurzfristig die Banken zu schließen. Da sich die Situation auf dem österreichischen Geldmarkt durch die Maßnahmen der Bundesregierung nicht beruhigte und man insbesondere die internationalen Gläubiger dazu bringen wollte, stillzuhalten, wurde – nach einigem Hin und Her – eine Staatsgarantie für sämtliche Einlagen der Credit-Anstalt ausgesprochen. Die massive Notenbankhilfe weckte allerdings auch inflationäre Ängste und führte dazu, dass das Publikum nicht nur der Solvenz der Bank misstraute, sondern ebenso der Stabilität des Schillings. Konsequenterweise wurden die abgezogenen Schillingbeträge in ausländische Währungen umgetauscht. Der Devisenbestand der Notenbank sank von 715 Millionen Schilling 1929 auf 13 Millionen Schilling 1933. Die Kapitalflucht verursachte einen Verfall des Schillingkurses, welcher 1933 knapp 79 % des Standes von 1929 erreichte. Die Krise der Bank hatte sich somit zu einer der Währung ausgeweitet (Schubert, 1991, S. 52). Zwar gewährte die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich der Notenbank einen Kredit von 100 Millionen Schilling und die Bank von England einen solchen von 150 Millionen Schilling, da jedoch der Devisenabfluss anhielt, sah sich die Regierung letztlich gezwungen, im Oktober 1931 eine – mehr oder minder strikte – Devisenbewirtschaftung einzuführen. Dagegen versuchte der nunmehrige Notenbankpräsident Viktor Kienböck mit allen Mitteln, die Goldparität, also den Wechselkurs des Schillings, zu halten. Trotz restriktiver Währungspolitik – im Juli 1931 erreichte der Diskontsatz 10 % – schlug dieses Bemühen fehl ; umso mehr, als die Bank von England im September 1931 vom Goldstandard abgegangen war und das Pfund Sterling um 30 % abgewertet hatte. Diesem Schritt folgten auch die skandinavischen Staaten sowie Spanien und Portugal. Letztlich musste 1933 auch der Wechselkurs des Schillings um 28 % reduziert werden. Die Situation der Credit-Anstalt ließ auch nach den Sanierungsbemühungen der öffentlichen Hand keine grundlegende Verbesserung erkennen. Dieser Umstand resultierte großteils aus den völlig unzulänglichen Restrukturierungsmaßnahmen seitens der Geschäftsführung, welche sich durch die Finanzierungszusage der Notenbank immun fühlte. Dies hatte die Bundesregierung allerdings insofern mitzuverantworten, als sie jenes Direktorium, welches die Katastrophe der Bank durch seine verfehlte und vielfach fahrlässige Geschäftspolitik herbeigeführt hatte,
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in seiner Funktion beließ. Erst im Juli 1931 wurden der damals 70-jährige Alexander Spitzmüller zum Generaldirektor sowie drei neue Vorstandsmitglieder bestellt. Da sich auch diese Lösung als unbefriedigend erwies, weil drei Mitglieder des alten Direktoriums ihre Funktion beibehalten hatten, erzwangen die ausländischen Gläubiger Anfang 1932 die Einsetzung eines ebensolchen Generaldirektors : des Holländers Adrian van Hengel (Ausch, 1968, S. 378). Da die Bundesregierung nicht in der Lage war, die der Credit-Anstalt zugesagten 100 Millionen Schilling zur Stärkung des Eigenkapitals aufzubringen, bemühte sie sich um eine internationale Anleihe. Dieses Bestreben begegnete deshalb besonderen Schwierigkeiten, weil Österreich am 19. März 1931 einen Zollunionsvertrag mit Deutschland unterzeichnet hatte. Das rief mehrere europäische Staaten, vor allem Frankreich, auf den Plan, weil man dieses Abkommen als ersten Schritt für den Anschluss Österreichs ansah. Frankreich erklärte sich zur Gewährung einer solchen Anleihe nur unter der Bedingung bereit, dass die beiden Staaten von ihrem Vertrag zurückträten, was auch im Herbst des Jahres vor der Völkerbundversammlung geschah. Zwei Tage später lag auch das Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vor, welches die Unvereinbarkeit des Genfer Sanierungsabkommens von 1922 mit dem Zollunionsprojekt feststellte (Bachinger, 2001, S. 103). Angesichts all dieser Probleme und der politischen Ratlosigkeit entschloss sich die Bundesregierung abermals, die Finanzlage des Bundes durch das Finanzkomitee des Völkerbunds prüfen zu lassen. Mitte 1932 unterzeichnete Bundeskanzler Engelbert Dollfuß das „Lausanner Protokoll“, wodurch Österreich wieder eine internationale Anleihe gewährt wurde, deren Erlös in der Höhe von 306 Millionen Schilling Mitte 1933 dem Land zufloss. Sie war dadurch charakterisiert, dass sie abermals die österreichische Finanzpolitik der Völkerbundkontrolle durch einen Kommissar (Rost van Tonningen) unterwarf, dessen Aufgabe darin bestand, auf den Ausgleich des Bundeshaushalts und der Zahlungsbilanz hinzuarbeiten, allerdings ohne die weitreichenden Befugnisse seines Vorgängers. Der Anleiheertrag wurde für die Rückzahlung schwebender Auslandsschulden sowie zur Tilgung der Verpflichtungen des Bundes und der Bundesbahn an die Nationalbank verwendet. Natürlich drängt sich ein Vergleich des Zusammenbruchs der Credit-Anstalt und seiner Folgen mit der 2007 einsetzenden internationalen Finanzmarktkrise auf. Tatsächlich ergeben sich hierbei manche interessante Parallelen. So scheint der Zusammenbruch eines zentralen Finanzinstituts in einer labilen ökonomischen und finanziellen Situation vorhandene negative Trends zu verstärken. Dies galt ganz deutlich für die Credit-Anstalt, ebenso aber für die Insolvenz von Lehman
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Brothers in den USA 2008. Dadurch wurden, zumindest kurzfristig, die Stabilisierungsanstrengungen der US-Regierung unterlaufen, sodass viele Kommentatoren einen gravierenden Fehler der amerikanischen Wirtschaftspolitik darin sahen, das Institut nicht aufgefangen zu haben. Der imminente Bankrott der Credit-Anstalt verursachte freilich einen stärkeren Schock, weil der Bank in Ostmitteleuropa noch immer die führende Position zukam. Nicht nur Österreich wurde betroffen, sondern auch der gesamte europäische und vor allem der deutsche Kapitalmarkt, was – wie schon dargelegt – nicht nur zu „Bankfeiertagen“ führte, sondern auch zum veritablen Zusammenbruch der Dresdner sowie der Danat-Bank. Übereinstimmungen zeigen sich auch in den Sanierungsbemühungen der Regierungen. Die damalige österreichische sowie die spätere amerikanische, aber auch jene Europas, gingen daran, das Eigenkapital der Geldinstitute zu stärken. Die Notenbanken übernahmen es, deren Liquidität sicherzustellen. Darüber hinaus befreite die US-Regierung teilweise die Banken von wertlos gewordenen Effekten durch Ankauf derselben. Sowohl die österreichische als auch die amerikanische sowie die europäischen Regierungen sprachen umfassende Einlagengarantien aus. Die von der österreichischen Bundesregierung veranlasste Übernahme der Boden-Credit-Anstalt durch die Credit-Anstalt fand gleichfalls Parallelen in der amerikanischen Finanzmarktkrise. Zwar akzeptierte die US-Regierung die Insolvenz von Lehman Brothers, doch wurde auch hier eine Reihe von anderen Instituten von Banken übernommen, wie etwa die Investmentbank Bear Stearns durch J. P. Morgan Chase & Co. Allerdings scheinen keine negativen Effekte dieser Übernahme aufgetreten zu sein. Die Unterschiede springen allerdings noch deutlicher ins Auge. Im Fall der Credit-Anstalt weitete sich die Krise eines Kreditinstituts in eine solche der Währung aus und erzwang, trotz massiver Erhöhung des Diskontsatzes, eine Abwertung des Schillings. Die gegenwärtige internationale Krise berührt die Währungen nicht, weil die Mitgliedstaaten der Wirtschafts- und Währungsunion über eine gemeinsame verfügen. Ebenso resultierte das Stillhalteabkommen mit den Auslandsgläubigern aus der spezifischen Situation der Credit-Anstalt. Die Liquidität scheint im Fall der Credit-Anstalt kein Problem gewesen zu sein, weil die Nationalbank bereit war, unbeschränkt Finanzwechsel zu eskontieren. Überdies bewirkte die schon zwei Jahre wirksame Stagnation, dass sich die Kreditnachfrage in engen Grenzen hielt. Vielleicht war es auch diesem Umstand zuzuschreiben sowie der relativen Größe der Credit-Anstalt, dass der Zwischenbankverkehr in Österreich keine dramatischen Einschränkungen erlitt. Ganz im Gegenteil zur gegenwärtigen internationalen Finanzmarktkrise.
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Gravierende Unterschiede ergeben sich auch aus den Ursachen der Krise. Während jene des Jahres 2007 typischerweise aus der langen Dauer eines Aufschwungs mit entsprechenden Auswirkungen auf die Verhaltensweisen auf dem Kapitalmarkt resultierte – einschließlich einer Immobilienblase –, ergab sich die Krise der CreditAnstalt aus den Folgen des Zusammenbruchs der Monarchie und einer verfehlten Geschäftspolitik der Banken – freilich verschärft durch die ersten beiden Jahre der Weltwirtschaftskrise. Ebenso gab es Unterschiede in den wirtschaftspolitischen Reaktionen. Der diesbezüglichen Abstinenz der Dreißigerjahre stand die Entschlossenheit der Regierungen am Ende des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert gegenüber, die Gesamtnachfrage durch keynesianische Maßnahmen zu stützen. Ein Vorhaben, welches durch ein hoch entwickeltes Sozialsystem und einen großen Dienstleistungssektor erleichtert wurde, die als Konjunkturstabilisatoren wirkten. Auch fasste kaum jemand, sieht man von der Stützung zentraler Industriebetriebe ab, protektionistische Maßnahmen ins Auge. Letztlich scheinen sich Differenzen auch in den realwirtschaftlichen Konsequenzen der Finanzmarktkrisen zu ergeben. Während die Weltwirtschaftskrise zu lang andauernden, schwersten Einbrüchen von Produktion und Leistung führte, hielt sich der gegenwärtige Einbruch in Grenzen. Bis zur Mitte der Dreißigerjahre gelang es nicht nur, die Credit-Anstalt endgültig zu sanieren, sondern den gesamten österreichischen Kreditapparat – und zwar dadurch, dass er weiter konzentriert wurde. Der Bankverein und die Niederösterreichische Escomptegesellschaft wurden mit der Credit-Anstalt fusioniert. Mit diesen organisatorischen Maßnahmen war auch eine Änderung der Bankenpolitik verbunden, indem sich die Institute weitgehend aus dem Auslandsgeschäft zurückzogen und auf den inländischen Markt konzentrierten. Insgesamt waren dem Bund durch die Sanierung der Credit-Anstalt Kosten in der Höhe von rund 1 Milliarde Schilling entstanden, bei einem Budgetvolumen zwischen 1,5 und 2 Milliarden Schilling in diesen Jahren (Stiefel, 2005, S. 206). Das waren Aufwendungen, welche die Bewegungsmöglichkeiten der Regierung beschränkten. Hatte es im Frühjahr 1931 international geschienen, als ob sich die Konjunkturwende abzeichne, so zerstörte der neuerliche Kollaps diese Ansätze und bewirkte die Fortdauer, ja Vertiefung der Krise. Österreich zählte neben den USA und Deutschland zu jenen Staaten, welche durch die Weltwirtschaftskrise besonders stark getroffen wurden. Hier sank das Bruttoinlandsprodukt vom letzten Hochkonjunkturjahr 1929 bis zu seinem Tiefpunkt im Jahr 1933 real um mehr als 22 %, die Industrieproduktion um 38 % ; Bauwirtschaft und Verkehr erlitten Einbußen
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von 53 % und 29 %. Nur die Land- und Forstwirtschaft sowie die Energieerzeugung vermochten ihr Niveau im Wesentlichen zu halten. Es liegt auf der Hand, dass eine kleine offene Volkswirtschaft durch einen weltweiten Konjunktureinbruch wie jenem, der im Herbst 1929 begann, gefährdet werden musste. Das hätten allein die Außenhandelsströme bewirkt, da nicht nur die Auslandsnachfrage nachließ, sondern die Weltwirtschaftskrise eben dadurch charakterisiert war, dass die meisten Staaten sich gegen deren Auswirkungen wieder durch Errichtung massiver Handelshemmnisse abzusichern versuchten. Auch Österreich vermochte dadurch die Importe zu reduzieren und damit seine Leistungsbilanz günstiger zu gestalten. Nur änderte das wenig an der fallenden Tendenz der Gesamtnachfrage. Es stellt sich jedoch die Frage, wieso der Rückschlag Österreich – zusammen mit den USA und Deutschland – stärker erfasste als alle anderen Industriestaaten. Sieht man im Fall Österreichs von den im Vorstehenden dargelegten, spezifischen Problemen ab, fällt doch auf, dass jeder der drei am meisten betroffenen Staaten Zusammenbrüche des Bankensystems erlebt hatte. In Deutschland hatte sich über den Abzug der kurzfristigen Gelder ein ähnlicher Prozess wie in Österreich vollzogen, und in den USA war durch den Zusammenbruch der Börsenspekulation das gesamte Finanzsystem in Mitleidenschaft gezogen worden. In Österreich scheint der Kollaps des Bankensystems insofern besonders gravierend gewesen zu sein, weil – wie in Abschnitt 12 dargelegt – die Bankenproblematik die Wirtschaft der Ersten Republik seit ihrer Entstehung belastete. Das Bankensterben hatte bereits seit Ende der Spekulationsära Mitte der Zwanzigerjahre begonnen, und der Zusammenbruch der Credit-Anstalt stellte nur den dramatischen Abschluss dieses Prozesses dar. Dazu kam, dass über die beschriebenen Effekte der Bankenpolitik hinaus die Belastung des Staatshaushalts durch die Erfordernisse der Bankensanierung einen dramatischen Rückgang der öffentlichen Investitionen herbeiführte (Kernbauer, 1995, S. 561 ; Weber, 1995, S. 545). Die schweren Produktionseinbrüche fanden in einer katastrophalen Arbeitsmarktentwicklung ihren Niederschlag. Zwar begann die Beschäftigung bereits 1929 zu sinken, doch von 1930 bis 1933 kam es zu massiven Rückgängen. Die Arbeitslosenquote (Arbeitslose in % des Angebots an Unselbstständigen) hatte ja selbst im günstigsten Jahr seit der Stabilisierung, nämlich 1928, 11,7 % nicht unterschritten ; sie begann nunmehr rasch zuzunehmen. 1930 noch bei 15,4 % verharrend, stieg sie 1931 auf 19,4 %, 1932 auf 24,7 % und erreichte ihren Höhepunkt 1933 mit 27,2 %. Ins Auge springt, dass die Zahl der Erwerbspersonen (Berufstätigen) zwischen 1923 und 1934 dramatisch, von 3,602.600 auf 3,389.900, zurückgegangen war, ob-
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wohl jene der Bevölkerung im Erwerbsalter kräftig zugenommen hatte. Dementsprechend deutlich fiel auch die Erwerbsquote – und zwar sowohl die der Männer als auch jene der Frauen. Auch darin spiegelt sich die katastrophale Arbeitsmarktlage, da nicht nur die Zahl der Arbeitslosen exorbitant hoch war, sondern es offensichtlich überdies eine zumindest halb so große Zahl „entmutigter Arbeitskräfte“ gab, also solcher, die angesichts der Arbeitsmarktlage keinen Versuch mehr unternahmen, einen Arbeitsplatz zu finden. Demgemäß verringerte sich auch der Anteil der Frauen an den Berufstätigen von 39 % im Jahr 1923 auf 38 % 1934. Weiters fällt auf, dass zwar die Zahl und auch der Anteil der mithelfenden Familienangehörigen von 18,3 % aller Berufstätigen auf 17,7 % gefallen war, jener der Selbstständigen aber von 17,9 % auf 19,2 % zugenommen hatte. Diese Entwicklung resultierte wohl gleichfalls aus dem Umstand, dass die geringen Chancen, eine unselbstständige Arbeit zu finden, den Abgang der Selbstständigen fast zum Stillstand gebracht hatte – umso mehr, als die Agrarpolitik ein wesentlich besseres Abschneiden der Landwirtschaft in der Weltwirtschaftskrise erreicht hatte als das der anderen Wirtschaftssektoren. Aggregierte Informationen über die Lohnentwicklung lassen sich aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gewinnen. Danach begann die Lohnsumme von ihrem 1929 erreichten Höhepunkt von 5,7 Milliarden Schilling zu sinken und fiel bis 1933 auf 4,2 Milliarden Schilling. Im Gegensatz zu den absoluten Zahlen stieg die Lohnquote – wie bereits erwähnt – von 57,5 % 1929 vorerst bis 1931 auf 61,6 %, um danach bis 1933 wieder auf 58,8 % zu sinken. Die Löhne waren somit von der Krise etwas weniger stark getroffen als andere Einkommensarten. Deren Anpassung erfolgte verzögert. Ein ähnliches Bild vermitteln die wenigen vorhandenen Lohndaten aus dieser Zeit. Das Statistische Handbuch für die Republik Österreich veröffentlichte Zahlen über „Mindestwochenlöhne“ für verschiedene Berufe. Darin lässt sich die Entwicklung einiger Kollektivvertragslöhne von 1927 bis 1935 verfolgen. Bis 1929, in einigen Fällen auch noch bis 1930 (Bauarbeiter, Damenschneiderinnen), zeigt sich ein Anstieg der Nominallöhne. In den folgenden Jahren entwickeln sich diese unterschiedlich. (Die Vergleichbarkeit der Daten könnte von 1932 auf 1933 in manchen Berufen eingeschränkt sein.) Die Metallarbeiter vermochten ihre Mindestlöhne seit 1928 gleich zu halten, ebenso scheint das den Buchbindern und Buchdruckern seit 1929 gelungen zu sein. Andere Gruppen mussten Reduktionen ihrer Kollektivvertragslöhne in unterschiedlichem Ausmaß hinnehmen. Am stärksten scheinen die Bauarbeiter von diesem Einkommensrückgang betroffen gewesen zu sein, ihre Löhne sanken bis 1933 um rund 11 %. Natürlich gibt die Veränderung der Kollektivvertragslöhne nur beschränkt Aufschluss über jene der Effektivverdienste, sodass
227
Der internationale Einbruch und seine Folgen für Österreich
aus dieser Statistik nur ein grobes Bild der Unselbstständigeneinkommensentwicklung gewonnen werden kann. Übersicht 45 : Mindestwochenlöhne einiger Berufe 1914 bis 1935 1914
1927
1928
1929
Kronen
1930
1931
1932 1933
1934
1935
Schilling
Metallarbeiter (Facharbeiter)
28
40,80
57,60
57,60
57,60
57,60
Bauarbeiter (Maurer)
34
71,04
71,04
78,72
80,64
80,64
57,60 57,60 57,60 57,60 76,801 71,52 65,76 65,76
Herrenschneider
40
64,24
68,09
68,09
68,09
68,09
68,16 68,16 68,16 65,76
Damenschneiderinnen
26
51,84
54,72
56,16
57,12
57,12
54,721 52,80 52,80 52,80
Buchbinder (Facharbeiter)
29
54,23
57,00
61,75
61,75
61,75
62,00 62,00 62,00 62,00
Buchdrucker (Gehilfe)
38
62,50
65,50
70,50
70,50
70,50
70,50 70,50 70,50 70,50
Speditionsarbeiter
22
63,50
66,00
69,00
69,00
69,00
66,001 65,20 65,20 65,20
Bäcker (Gehilfe)
38
70,00
73,50
77,20
77,20
77,20
77,20 74,10 74,10 74,10
Metallarbeiter (Facharbeiter)
100,0
141,2
141,2
141,2
141,2
Bauarbeiter (Maurer)
100,0
100,0
110,8
113,5
113,5
108,11 100,7
Herrenschneider
100,0
106,0
106,0
106,0
106,0
106,1 106,1 106,1 102,4
Damenschneiderinnen
100,0
105,6
108,3
110,2
110,2
105,61 101,9 101,9 101,9
Buchbinder (Facharbeiter)
100,0
105,1
113,9
113,9
113,9
114,3 114,3 114,3 114,3
Buchdrucker (Gehilfe)
100,0
104,8
112,8
112,8
112,8
112,8 112,8 112,8 112,8
Speditionsarbeiter
100,0
103,9
108,7
108,7
108,7
103,91 102,7 102,7 102,7
Bäcker (Gehilfe)
100,0
105,0
110,3
110,3
110,3
110,3 105,9 105,9 105,9
1927 = 100 141,2 141,2 141,2 141,2 92,6
92,6
Quelle : Statistisches Handbuch für die Republik Österreich. – 1 Gehilfen.
Allerdings zeigten auch die Veränderungen der Effektivverdienste in der Industrie eine ähnliche Tendenz. Nur die Akkordentlohnung verzeichnete in den Dreißigerjahren einen ausgeprägten Rückgang. Freilich ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass zwischen 1929 und 1933 auch der Verbraucherpreisindex um 4,7 % zurückgegangen war, somit der Realeinkommensrückgang hinter dem nominellen zurückblieb. Die Soziale Sicherheit erfuhr während der Weltwirtschaftskrise keine wesentlichen Einschränkungen. Im Gegenteil, die „vorschussweise“ Leistung des Bundes zur Arbeitslosenversicherung wurde in einen regulären Bundesbeitrag umgewandelt, und um diesen finanzieren zu können, führte man den „Krisenzuschlag“ zur Umsatzsteuer ein (Tálos, 1981, S. 215). Die Belastung des Staatshaushalts durch die hohe Arbeitslosigkeit lässt sich daraus ablesen, dass 1928 7,2 % des Budgets auf Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung und Notstandshilfe entfielen, 1929 schon 8,2 %, 1932 aber 14,9 %.
228
Der Zerfall und seine Folgen – dieWeltwirtschaftskrise Zwanzigerjahre der Ersten und Stagnation Republik
Übersicht 46 : Industrielöhne in der Krise 1930
1931
1932
1933
1929 = 100 Zeitlohn Arbeiter
104,1
99,5
101,1
99,5
Arbeiterinnen
103,3
103,3
103,3
100,4
Akkordlohn Arbeiter Arbeiterinnen
98,8
95,3
91,2
89,4
104,8
102,5
99,2
96,9
Gehalt Männer
104,4
103,4
102,2
100,8
Frauen
105,3
105,1
104,2
103,1
Quelle : Zitiert nach Klenner, 1953, S. 975.
Da die Schwere des Rückschlags an dessen Beginn weder im In- noch im Ausland abgeschätzt werden konnte, erfasste die Wirtschaftspolitik erst allmählich seine Tragweite. Mit dem Andauern der Krise erhöhte sich die Zahl der zu ihrer Heilung entwickelten Konzepte. Die meisten Überlegungen waren neoklassisch geprägt. Sie gingen davon aus, die Erholung werde durch die Selbstregulierungskraft der Wirtschaft wieder einsetzen. Es gelte nur, optimale Voraussetzungen dafür zu schaffen. Insofern wurden vor allem strukturpolitische Aktivitäten ins Auge gefasst. Das galt auch in erster Linie für die Konzepte der Bundesregierung. So ging die Wirtschaftskommission, welche durch Ludwig Mises dominiert wurde, in ihrem Bericht über die Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Österreichs (Redaktionskomitee der Wirtschaftskommission, 1931) davon aus, dass die Hauptursachen des Rückschlags die hohen Produktionskosten, ein monopolistisch überhöhtes Preisniveau, starre Produktionsstrukturen sowie Handelshemmnisse seien. Diese Schwierigkeiten sollten durch Senkung der öffentlichen Abgaben – bei ausgeglichenem Budget – und der Lohn(neben)kosten, durch enge Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zwecks Effizienzsteigerung sowie durch handelspolitische Bemühungen, insbesondere gegenüber den Nachfolgestaaten, überwunden werden. Staatliche Aktivitäten im Bereich der Geld- und Fiskalpolitik wurden strikt abgelehnt. Die – vorwiegend akademischen – Autoren sahen darin nur vorübergehend wirksame Palliativa, welche nach dem Verfliegen ihrer Effekte desto verhängnisvollere Auswirkungen zeitigen müssten. Diese Position wurde von Fritz Machlup in seiner exemplarischen Studie Führer durch die Krisenpolitik (1934) erläutert, aber auch von den meisten anderen Ökono-
Der internationale Einbruch und seine Folgen für Österreich
229
men geteilt, die der dritten Generation der Österreichischen Schule der Nationalökonomie angehörten, wie etwa Gottfried Haberler, Friedrich August Hayek sowie Oskar Morgenstern. Die Vorstellungen der Arbeitnehmervertretungen gingen im Prinzip nicht wesentlich über jene der Regierung hinaus. Bauer, welcher in hohem Maß auch die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der sozialdemokratischen Partei bestimmte, lehnte zwar Vorschläge zur Lohnkürzung ab, weil er den Nachfrageausfall sah, ebenso allerdings Vorstellungen über eine Nachfrageausweitung durch Lohnsteigerungen. Als Maßnahme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit propagierte er Bauinvestitionen. Da er jedoch ein ausgeglichenes Budget als notwendig erachtete, sollten diese durch Ausgabenumschichtung oder sogar durch Steuererhöhung zustande kommen. Wie in den Jahren zuvor erhoffte sich Bauer auch einen Beitrag zur Überwindung der Krise durch den Export. Eine davon abweichende Position vertrat abermals der Metallarbeiterfunktionär Johann Schorsch. Dieser forderte eine Steigerung der Massenkaufkraft im Inneren durch Lohnerhöhung, welche auch deshalb vertretbar wäre, weil die Produktivität stärker gestiegen sei als die Löhne – was nicht zutraf. Diese Überlegungen gingen auf den Vorsitzenden der deutschen Holzarbeitergewerkschaft, Fritz Tarnow, zurück (Weber-Felber, 1990, S. 152). Im internationalen Bereich, insbesondere im Internationalen Gewerkschaftsbund, hatte man schon in den ersten Krisenjahren auch eine Arbeitszeitverkürzung als Instrument der Beschäftigungspolitik ins Auge gefasst. Die österreichischen Freien Gewerkschaften schlossen sich diesen Forderungen nach anfänglicher Zurückhaltung am Gewerkschaftskongress im September 1931 an, indem sie in einer Resolution die Einführung der 40-Stunden-Woche verlangten. Allerdings stieß diese Forderung auch gewerkschaftsintern angesichts einer Kurzarbeiterquote von 21,3 % im Jahr 1931 auf keinen besonderen Widerhall ; schon gar nicht bei relativ gut bezahlten Beschäftigten (Weber-Felber, 1990, S. 162). Wie schon gesagt, schränkten die Beiträge aus dem Budget zur Sanierung der Credit-Anstalt die Möglichkeiten zur Krisenbekämpfung mittels Investitionen noch weiter ein, ja es wurden Bezugskürzungen im öffentlichen Dienst und Steuererhöhungen durchgeführt (Krisenzuschlag und Besoldungssteuer). Die Auseinandersetzungen darüber betrafen freilich nur die Frage, welche Budgetansätze gekürzt werden sollten, da alle Gruppen darin übereinstimmten, das Budget auszugleichen. Alles in allem lässt sich aus heutiger Sicht sagen, dass sich die wirtschaftspolitischen Alternativen, welche von den Arbeitnehmervertretungen präsentiert wurden, nicht wesentlich von jenen Konzepten unterschieden, welche die Handlung der Regierung leiteten. Beide gingen prinzipiell von der Voraussetzung eines aus-
230
Der Zerfall und seine Folgen – dieWeltwirtschaftskrise Zwanzigerjahre der Ersten und Stagnation Republik
geglichenen Budgets aus. Davon war zwar in der Realität keine Rede – die Rechnungsabschlüsse wiesen bis Mitte der Dreißigerjahre, mit Ausnahme des Jahres 1932, Defizite zwischen 2 % und 3 % des Bruttoinlandsprodukts aus –, doch blieb dieses Ziel für die Wahl der Wirtschaftspolitik maßgebend. Gewisse expansive Effekte hätten sich nach diesen Konzepten dadurch ergeben, dass die Staatsausgaben ausgeweitet und stärker in Richtung der Investitionen verschoben worden wären, also ein Haavelmo-Effekt hätte eintreten können. Jenseits dieser sozusagen offiziellen Kanäle setzte Anfang der Dreißigerjahre eine präkeynesianische Diskussion ein. Das erste wirtschaftspolitische Konzept dieser Art wurde in Deutschland 1932 mit dem WTB-Plan (Woytinsky, Tarnow, Baade) präsentiert. Dessen Kern bestand darin, die Konjunktur mittels Nachfrageausweitung zu beleben, welche durch Budgetdefizite im Weg der Notenbankfinanzierung und der damit verbundenen Vermehrung der Geldmenge zustande kommen sollte. Dies würde wohl einen gewissen Preisanstieg bewirken – „Redeflation“ –, welcher freilich gleichfalls anregend auf die Wirtschaftsentwicklung wirken könnte. Er sei jedoch unbedenklich, da die Aktion begrenzt sei und der Geldvermehrung eine solche an Gütern gegenüberstünde. Der mögliche Preisanstieg sollte teilweise durch Preisbindung begrenzt und Währungsspekulationen durch strikte Devisenbewirtschaftung verhindert werden (Bombach et al., 1976, S. 172). Dieser Plan stieß allerdings auf heftige Kritik in der deutschen sozialdemokratischen Partei, welche vor allem das Fehlen einer systemkritischen Komponente monierte. Er entspreche nur den „verkürzten produktionistischen“ Interessen der Gewerkschaften, eine längerfristige sozialistische Perspektive fehle. Daneben jedoch hielten die Parteitheoretiker, vor allem Rudolf Hilferding, weiter am Gebot des Budgetausgleichs fest. Damit kam es auch zu keinem gemeinsamen Beschluss über ein Arbeitsbeschaffungsprogramm der Sozialdemokratischen Partei (SDP) und des Allgemeinem Deutschen Gewerkschaftsbunds. Da jedoch die Vorstellungen einer Arbeitsbeschaffungspolitik in Deutschland immer stärker Fuß fassten und die Regierung Papen schließlich erste Maßnahmen in diese Richtung ergriff, sah sich die SDP nach langwierigen Verhandlungen mit den Gewerkschaften letztlich gezwungen, auch entsprechende Anträge im Reichstag einzubringen (Weber-Felber, 1990, S. 192). In Österreich blieben die Arbeitnehmervertretungen gegenüber der deutschen Diskussion äußerst zurückhaltend ; nicht zuletzt deshalb, weil sich Schorsch, der sich nunmehr mit dem WTB-Plan identifizierte, auch innerhalb der Freien Gewerkschaften nicht durchsetzen konnte. In der Arbeiterkammer brachte man den deutschen Überlegungen größeres Interesse entgegen. So konnte Wladimir Woytinsky in Heft 5/1932 von Arbeit und Wirtschaft einen Artikel über den WTB-Plan
Der internationale Einbruch und seine Folgen für Österreich
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veröffentlichen (Das Gebot der Stunde : Arbeitsbeschaffung), der allerdings auch keine merkbaren Konsequenzen zeitigte. Wieder war es nur Schorsch, der sich mit diesen Überlegungen intensiv, gleichfalls in Arbeit und Wirtschaft (Heft 6/1932), auseinandersetzte (Die Notwendigkeit der Arbeitsbeschaffung). Indessen war jedoch auch in Österreich außerhalb der politischen Gruppierungen die präkeynesianische Diskussion auf bemerkenswert hohem Niveau in Gang gekommen. Otto Deutsch und Alexander Vertes präsentierten in ihrer Studie Aufbau, nicht Abbau (1932) einen Plan zur vollständigen Beseitigung der Arbeitslosigkeit in Österreich. Kernpunkt des Konzepts bestand in der Aufnahme einer inländischen Anleihe von 400 bis 500 Millionen Schilling, womit eine Fülle von Infrastrukturprojekten realisiert werden sollten (nebenbei gesagt überwogen solche, die während und nach dem Krieg tatsächlich verwirklicht wurden). Das Interessanteste an dieser Studie bestand jedoch darin, dass die Autoren einen veritablen Multiplikator entwickelten ! Der Plan rief bei einer Reihe von Ökonomen, auch bei Vertretern der Industrie und bei Woytinsky, grundsätzlich positive Reaktionen hervor, allerdings auch wütende Ablehnung. Letztere erfolgte vor allem im Österreichischen Volkswirt und wurde von großen Namen, wie Gottfried Haberler und Karl Polanyi getragen. Neben einigen relevanten Einwänden blieben auch die Vertreter der akademischen Nationalökonomie dem Grundprinzip des Budgetausgleichs verhaftet und sahen in jeder Defizitfinanzierung und Geldvermehrung „inflationistische Experimente“ (Butschek, 1993). Dieser interessante Ansatz, der offensichtlich vor allem in Kreisen der Wirtschaft reges Interesse erweckte (siehe die Stellungnahmen in Deutsch – Vertes, 1932, S. 104 ff.), rief bei den Arbeitnehmervertretungen – sieht man vom Artikel Schorschs ab – nur geringes Interesse hervor. Stephan Wirlandner, der später zum Kreis der enragierten Keynesianer zählte, setzte sich in Arbeit und Wirtschaft damit auseinander und bemängelte manche Annahmen der Autoren, welche das Gesamtprojekt – vollständige Beseitigung der Arbeitslosigkeit – scheitern lassen müssten. Diese wissenschaftliche Diskussion änderte daher auch nicht die Position der sozialdemokratischen Opposition. Die früheren Forderungen wurden wiederholt, öffentliche Arbeiten urgiert, aber alternative Finanzierungsmethoden, wie Notenbankkredite oder allgemein Budgetdefizite, grundsätzlich abgelehnt. Daran bewirkte auch eine leichte Positionsänderung Otto Bauers auf der außerordentlichen Reichskonferenz der Freien Gewerkschaften im Juli 1933 nichts, auf welcher er abermals vor „inflationistischen Experimenten“ warnte, aber immerhin verlangte, „alle Möglichkeiten der Kreditausweitung und der Kreditschöpfung im Interesse der Arbeitsbeschaffung“ zu nutzen (Bauer, 1976, S. 941).
232
Der Zerfall und seine Folgen – dieWeltwirtschaftskrise Zwanzigerjahre der Ersten und Stagnation Republik
13.2 Das Ende der Demokratie und eine schwache Erholung
Mit dem Ende der Weltwirtschaftskrise wurde in Österreich die Demokratie zerschlagen. Zwischen beiden Ereignissen existierte kein direkter Zusammenhang, aber sicherlich trug die verzweifelte wirtschaftliche Lage dazu bei, die politischen und sozialen Spannungen noch zu verschärfen. Zwar entwickelten sich während der Regierung von Karl Buresch etwas vertrauensvollere Beziehungen zur Opposition, weil dieser als niederösterreichischer Landeshauptmann mit den Sozialdemokraten kooperiert hatte. Buresch bot 1931 sogar der SDAP eine Koalition an, welche von Otto Bauer mit dem klassischen Ausspruch abgelehnt wurde, er wolle nicht als Arzt am Krankenbett des Kapitalismus fungieren. Aber immerhin stimmten die Sozialdemokraten einem Budgetsanierungsgesetz zu – womit sich die Parteiführung freilich dem Vorwurf der „Packelei“ aussetzte (Steinbach, 2006, S. 165). Die kurze Phase der Entspannung ging mit der Regierungsübernahme durch Engelbert Dollfuß zu Ende. Dieser, einem zentral- und osteuropäischen Trend folgend, arbeitete tendenziell auf das Ziel hin, die Sozialdemokraten aus dem politischen Leben auszuschalten. Da die neue Regierung im Parlament nur über eine Mehrheit von einer Stimme verfügte, versuchte Dollfuß, an diesem vorbei zu regieren. Solches gelang ihm durch die Anwendung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes aus dem Jahr 1917. Als schließlich auch ein Eisenbahnerstreik vermittels einer Verordnung aus dem Jahr 1914 verboten wurde, verlangte die Opposition eine Sondersitzung des Nationalrats, in welcher beschlossen werden sollte, keine Sanktionen gegen die Streikenden zu ergreifen. Angesichts des knappen Mehrheitsverhältnisses riet Otto Bauer Karl Renner, als Nationalratspräsident zurückzutreten, um damit eine zusätzliche Stimme zu gewinnen. Da jedoch die beiden Stellvertreter dasselbe taten, kam es am 15. März 1933 zur „Selbstausschaltung“ des Nationalrats. Dollfuß ergriff die Gelegenheit, ließ einen Wiederzusammentritt des Nationalrats behördlich verbieten und regierte in der Folge ausschließlich durch das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz. Damit führte er den Staat schrittweise in ein diktatorisches System : durch das Verbot von Wahlen, die Umwandlung der konservativen politischen Gruppierungen in eine „Staatspartei“ – die „Vaterländische Front“ –, die Lahmlegung des Verfassungsgerichtshofs, die Einrichtung eines „Anhaltelagers“ in Wöllersdorf und schließlich durch Verbot sowohl der kommunistischen als auch der nationalsozialistischen Partei. Die sozialdemokratische Partei verhielt sich zu all diesen Maßnahmen passiv, stets von der Hoffnung getragen, mit den demokratisch orientierten Gruppen der Christlichsozialen zu einer Übereinkunft zu gelangen. Anfang Februar 1934 er-
Das Ende der Demokratie und eine schwache Erholung
233
reichte jedoch Otto Bauer ein Ultimatum des oberösterreichischen Schutzbundkommandanten Richard Bernaschek, womit dieser ankündigte, er würde im Fall einer Waffensuche der Polizei mit Gewalt reagieren. Verzweifelte Versuche Bauers, das Losschlagen zu verhindern, fruchteten nicht, sodass am 12. Februar 1934 der Bürgerkrieg in Linz ausbrach und sich rasch über das gesamte Land verbreitete. Der – mangelhaft organisierte – sozialdemokratische Widerstand wurde von der Regierung unter Einsatz von Polizei, Heimwehr und Bundesheer niedergeworfen und führte zum Verbot der SDAP sowie aller ihrer Organisationen. Nach Ausschaltung der sozialdemokratischen Opposition errichtete Dollfuß den Ständestaat. Ein Konstrukt, dessen Wurzeln von der christlichen Sozialreform Karl Vogelsangs über die Lehren Othmar Spanns und die Enzyklika Quadragesimo anno bis zum italienischen Faschismus reichten (Senft, 2002, S. 47). Politische Parteien und Gewerkschaften wurden verboten und eine neue Verfassung, die Maiverfassung 1934, eingeführt. Es handelte sich um einen „autoritären“ Staat, keinen „totalitären“. Das lag daran, dass das Dollfuß-Regime trotz „Vaterländischer Front“ über keine straffe und terroristische Organisation verfügte, welche willkürliche Entscheidungen der Staatsspitze für alle Lebensbereiche ermöglicht hätte (Holtmann, 1978, S. 11). Österreich blieb überdies prinzipiell ein Rechtsstaat. Die Gesetzgebungsinitiative lag ausschließlich bei der Regierung, doch sah die ständestaatliche Verfassung eine Reihe von Räten vor (Staatsrat, Bundeskulturrat, Bundeswirtschaftsrat, Länderrat), welche die Gesetzesvorlagen begutachten konnten. Danach wurden die Entwürfe im Bundestag eingebracht, der sie nur annehmen oder ablehnen konnte. Dollfuß hatte zwar die Sozialdemokratie ausgeschaltet, doch erwuchs ihm in der Folgezeit ein weitaus gefährlicherer Feind : die Nationalsozialisten. Diese bekämpften die Regierung unter Einsatz terroristischer Mittel. Im Juli 1934 unternahmen sie einen Putsch, der zwar rasch niedergeworfen wurde, dem jedoch der Bundeskanzler zum Opfer fiel. Sein Nachfolger, Kurt Schuschnigg, hatte sich nicht nur mit den Aktivitäten der österreichischen Nationalsozialisten auseinanderzusetzen, sondern sich auch gegen die wirtschaftlichen Sanktionen, wie etwa die „Tausend-MarkSperre“, des nationalsozialistischen Deutschlands zur Wehr zu setzen. Die Situation wurde dadurch prekär, dass die außenpolitische Unterstützung Österreichs durch die „Front von Stresa“, also Italien, Frankreich und England, verloren ging. Als Folge des Abessinienkriegs war es zum Bruch unter diesen Mächten gekommen ; Benito Mussolini lehnte sich nunmehr an Deutschland an. In der Folge drängte der italienische Diktator Schuschnigg, zu einem Agreement mit Deutschland zu kommen. Tatsächlich kam es 1936 zu einer Verständigung mit
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Adolf Hitler, wodurch die Wirtschaftssanktionen beendet wurden. Dafür verlangte die deutsche Regierung die Rehabilitation der Nationalsozialisten, einen gewissen politischen Einfluss für diese sowie die außenpolitische Anlehnung an Deutschland. Damit freilich erreichte die österreichische Bundesregierung nur eine kurzfristige Entlastung, da der nationalsozialistische Druck kaum nachließ, umso weniger, als sie nach Möglichkeit versuchte, Konzessionen an die Nationalsozialisten zu vermeiden. Die neuerlich wachsenden Spannungen gipfelten schließlich Anfang 1938 im Treffen Schuschniggs mit Hitler in Berchtesgaden, in dessen Folge die weitgehende Unterwerfung Österreichs unter die deutsche Politik vollzogen wurde. Damit war jedoch das Ende des österreichischen Staates eingeleitet. In einem letzten verzweifelten Befreiungsschlag setzte Schuschnigg für den 13. März 1938 ein Referendum über die Unabhängigkeit Österreichs an. Angesichts der Gefahr, dass dieses ein positives Resultat für Österreich zeitigen hätte können, verschärfte Hitler den Druck auf das Land in einem solchen Maß, dass Kurt Schuschnigg am 11. März zurücktrat. Nach turbulenten Vorgängen wurde schließlich der Deutschnationale Arthur Seyß-Inquart zum Nachfolger ernannt und übermittelt das in Berlin bereits vorbereitete Ersuchen um den Einmarsch deutscher Truppen. Der wirtschaftliche Rückschlag erreichte in Österreich seinen unteren Wendepunkt Anfang 1933. Die in der Folge einsetzende Erholung erwies sich als sehr schwach. Zwischen 1933 und 1937 stieg das Bruttoinlandsprodukt im Durchschnitt real um 2,8 % und lag somit am Ende dieser Periode noch immer beträchtlich unter dem Niveau von 1929 (– 14 %). Die mäßige Erholung ging vom Export, den Investitionen und dem öffentlichen Konsum aus und kam in erster Linie der Grundstoffsowie der Investitionsgüterindustrie zugute, die 1937 fast wieder das Produktionsvolumen des Jahres 1929 erreicht hatten. Die gesamte Industrie expandierte in diesem Zeitraum zwar immerhin um 26 %, blieb aber in ihrer Produktion um etwa ein Fünftel unter dem Ausstoß von 1913 und 1929. Relativ günstig entwickelte sich in dieser Phase die Bauwirtschaft (+ 36 %), die allerdings von einem gegenüber 1913 und 1929 äußerst niedrigen Niveau ausgegangen war. Die österreichische Entwicklung unterschied sich in jener Periode abermals nicht wesentlich von jener der anderen Industriestaaten. Für viele Volkswirtschaften dieser Zeit galt, dass der schwere Rückschlag der Weltwirtschaftskrise bis zum Ende des Jahrzehnts eigentlich durch keine besonders kräftige Wachstumsphase abgelöst wurde. Davon gab es nur zwei wesentliche Ausnahmen : Auf der einen Seite versuchten die skandinavischen Staaten, eine expansivere Wirtschaftspolitik zu betreiben, welche offensichtlich von einigem Erfolg gekrönt war ; andererseits hatte sich Deutschland von der allgemeinen Wirtschaftspolitik „abgekoppelt“. Bei
235
Das Ende der Demokratie und eine schwache Erholung
strikter Außenhandelsreglementierung und Devisenbewirtschaftung verwirklichte der Reichsbankpräsident und spätere Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht eine akzentuierte Expansionspolitik über – indirekte – Geldschöpfung der Notenbank, die nahtlos in die Rüstungskonjunktur der späteren Dreißigerjahre überging.
Norwegen
Schweden
Schweiz
Großbritannien
164,7
149,1
122,9
98,9
127,1
163,6
171,6
132,6
149,2
109,3
1934
82,2
118,1
169,7
166,0
121,7
108,0
127,6
160,6
177,1
142,7
149,5
116,5
1935
83,8
125,4
173,5
173,1
118,6
116,1
139,9
166,6
184,7
151,8
148,9
121,0
1936
86,3
126,3
177,8
184,8
123,1
126,3
140,1
177,1
196,0
160,6
149,4
126,5
1937
90,9
128,0
182,1
195,3
130,2
133,9
149,7
187,2
203,0
168,2
156,5
130,9
1938
102,6
125,1
186,5
205,4
129,7
144,2
150,8
182,7
208,1
171,0
162,5
132,5
Niederlande
Finnland
119,1
Italien
Dänemark
81,5
Deutschland
Belgien
1933
Frankreich
Österreich
Übersicht 47 : Die Wirtschaftsentwicklung von 1933 bis 1938 in den westeuropäischen Industriestaaten
zu konstanten Preisen, 1913 = 100
Quelle : Maddison, 2003.
Zwar blieb die Epoche für Österreich nicht gänzlich ohne positive Aspekte. So gelang es der Wirtschaftspolitik, die Ernährungslücke der Nachkriegszeit im Wesentlichen zu schließen. Die Landwirtschaft konnte ihre Wertschöpfung bis 1929 gegenüber 1913 um 10 % steigern. Die Schwerpunkte dieser Expansion fanden sich in der Milch- und Zuckererzeugung. Freilich resultierte daraus allmählich ein neues Problem. Das Wachstum vollzog sich zunächst auf einem kaum beschränkten Markt. Aber bereits gegen Ende des Nachkriegsaufschwungs traten in vielen Ländern Überschussprobleme auf. Die „Agrarkrise“ zu Beginn der Weltwirtschaftskrise brachte schließlich eine totale Umkehrung der Marktlage, welche dazu führte, dass 1929 auf den Weltmärkten ein Preisverfall eintrat, der auch auf den österreichischen durchschlug (WIFOMonatsberichte, 1938, 12 [4/5], S. 112). Und schließlich bekam auch die Landwirtschaft die Auswirkungen des allgemeinen Konjunktureinbruchs zu spüren. Allerdings reagierte darauf die Agrarpolitik äußerst energisch. Sie zielte auf eine fast vollständige Absicherung der inländischen Produktion sowie auf die weitgehende Ausschaltung der Marktkräfte in der Landwirtschaft. 1931 wurden die Zoll-
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Der Zerfall und seine Folgen – dieWeltwirtschaftskrise Zwanzigerjahre der Ersten und Stagnation Republik
barrieren für Getreide erhöht, in der Folge jedoch eine preis- und mengenmäßige Außenhandelsregulierung eingeführt und dem Verband der landwirtschaftlichen Genossenschaften übertragen. Dazu kamen entsprechende Maßnahmen im Bereich der Milchwirtschaft durch Gründung des Milchwirtschaftsfonds und in jenem der Viehwirtschaft durch gesetzliche Regelung des Viehverkehrs. Diese Regulierungen wurden durch eine Reihe direkter Subventionen, wie Anbauprämien, Verbilligung von Saatgut und der Bergbauernhilfe sowie durch Exportförderung ergänzt. Tatsächlich gelang es der neu konzipierten Agrarpolitik, die Landwirtschaft gegen die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise weitaus besser abzuschirmen, als das in den anderen Sektoren der Wirtschaft möglich war. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass in diesen Jahren das Fundament für die konservierende Agrarpolitik gelegt wurde, wie sie noch bis in die Gegenwart wirksam ist. Wenn sich also die Lösung der Ernährungsfrage zwiespältig darbietet, gelang durch den Ausbau der Wasserkraft ein beachtlicher Erfolg ohne Einschränkungen. Bis 1929 hatte sich die Wertschöpfung des Energiesektors gegenüber 1913 mehr als verdoppelt, und bis 1937 expandierte sie real um weitere 17,4 %. In diesem Jahr waren 16,7 % des Eisenbahnnetzes elektrifiziert (März, 1981, S. 519). Diese Entwicklungen trugen mit dazu bei, langfristig das Passivum der österreichischen Handelsbilanz zu verringern. Zwar erwies sich dafür die Weltwirtschaftskrise als bestimmend, weil sie das Volumen des gesamten Außenhandels reduziert hatte ; da es aber weiterhin gelang, die Exporte auf neue – westliche – Märkte zu verlagern, kam es zu einer spürbaren Reduktion des Außenhandelspassivums. 1937 war die Leistungsbilanz schließlich ausgeglichen. Für diese günstige Entwicklung war das Entstehen eines neuen Wirtschaftszweigs, des Fremdenverkehrs, wesentlich. Sicherlich auch schon vor dem Ersten Weltkrieg existent, erlebte er doch Ende der Zwanzigerjahre einen beträchtlichen Aufschwung. Zwar schlug sich die Weltwirtschaftskrise auch auf den Zustrom der ausländischen Gäste nieder, ebenso wie die von Deutschland 1934 bis 1936 verhängte TausendMark-Sperre, insgesamt war hier aber ein neuer Faktor entstanden, der in Richtung des externen Gleichgewichts der österreichischen Wirtschaft wirksam wurde. Die „Normalisierung“ des österreichischen Bankenapparats wurde bereits geschildert. Auch ergaben sich keinerlei Probleme mehr für das interne monetäre Gleichgewicht der österreichischen Wirtschaft. Seit Mitte der Zwanzigerjahre war die Gefahr einer inflationären Entwicklung gebannt, freilich nicht nur durch eine entsprechende Politik der Notenbank und der Bundesregierung, sondern auch als Folge der Tatsache, dass die Wirtschaftstätigkeit nach 1929 eine dramatische Reduktion erfahren hatte und sich auch nach 1933 aus der Stagnation kaum zu lösen vermochte. Darin lag die Hauptproblematik der „Stagnationsperiode“. All
237
Das Ende der Demokratie und eine schwache Erholung
Übersicht 48 : Leistungsbilanz Österreichs 1913 bis 1937 Exporte im weiteren Sinn Insgesamt
Waren
Importe im weiteren Sinn
Dienstleistungen
Insgesamt
Waren
Dienstleistungen
Leistungsbilanz In % des BIP
Millionen Schilling 1913
2.304
1.904
400
2.304
2.054
250
–
–
1924
2.437
1.970
467
3.686
3.447
239
– 1.249
– 13,5
1925
2.411
1.923
488
3.135
2.892
243
– 724
– 7,0
1926
2.253
1.703
550
3.008
2.766
242
– 755
– 7,3
1927
2.632
2.037
595
3.355
3.089
266
– 723
– 6,5
1928
2.862
2.208
654
3.551
3.239
312
– 689
– 5,9
1929
2.789
2.189
600
3.585
3.263
322
– 796
– 6,6
1930
2.419
1.851
568
3.017
2.699
318
– 598
– 5,2
1931
1.846
1.291
555
2.438
2.161
277
– 592
– 5,7
1932
1.259
764
495
1.628
1.383
245
– 369
– 3,9
1933
1.185
772
413
1.385
1.149
236
– 200
– 2,2
1934
1.215
857
358
1.394
1.153
241
– 179
– 2,0
1935
1.291
895
396
1.449
1.206
243
– 158
– 1,7
1936
1.379
951
428
1.489
1.249
240
– 110
– 1,2
1937
1.729
1.217
512
1.694
1.454
240
+ 35
+ 0,4
Quelle : Kausel – Nemeth – Seidel, 1965.
die geschilderten Erfolge mussten gegenüber der Tatsache zurücktreten, dass die österreichische Wirtschaft in all diesen Jahren fast einem Viertel des Potenzials an Unselbstständigen keine Arbeit vermitteln konnte. Der 1934 einsetzende – mäßige – Aufschwung steigerte wohl auch die Beschäftigung : Bis 1937 gab es einen Zuwachs von 81.000 Personen oder 5,1 %. Doch änderte diese Entwicklung wenig an der Situation, die in der Weltwirtschaftskrise entstanden war ; die Arbeitslosenquote lag 1937 noch immer bei 21,7 %. Damit zählte Österreich zu jenen Ländern, welche die höchste Arbeitslosigkeit auswiesen, wenngleich es sich keineswegs an der Spitze befand. Es wurde 1937 von den Niederlanden (26,9 %) und von Dänemark (21,9 %) übertroffen, und auch in Norwegen erreichte die Quote 20,0 % ! Eine signifikante Reduktion war vor allem in Deutschland gelungen (4,6 %), aber auch Schweden (10,8 %) und Großbritannien (11,3 %) vermochten ihre Arbeitslosenquoten beträchtlich zu senken. Die Stagnation der österreichischen Wirtschaft erhellt jedoch nicht nur aus den Produktionsdaten, sondern auch jenen der Struktur. So betrug der Anteil der Land-
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Der Zerfall und seine Folgen – dieWeltwirtschaftskrise Zwanzigerjahre der Ersten und Stagnation Republik
wirtschaft an den Berufstätigen 1910 39,5 % und lag nach der Volkszählung 1939 unverändert bei 39,0 %. Jener von Industrie und Gewerbe war im gleichen Zeitraum von 31,0 % nur minimal auf 32,4 % gestiegen, wiewohl sich darin schon der Aufschwung von 1938 niedergeschlagen haben musste. Der Anteil der Unselbstständigen ging von 63,3 % 1910 sogar auf 60,9 % 1939 zurück. Die wirtschaftliche Stagnation und die exorbitante Arbeitslosigkeit auf der einen Seite, vor allem aber auch die politische Sprengkraft der gegebenen Situation auf der anderen, bewirkten, dass sich ab 1932 in Regierung sowie Opposition andere Auffassungen über die Wirtschaftspolitik zu bilden begannen. Das Ziel des ausgeglichenen Budgets und der Währungsstabilität trat gegenüber jenem der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit etwas zurück. Demgemäß initiierte die Bundesregierung „Arbeitsbeschaffungsprogramme“, welche teilweise auch außerbudgetär finanziert wurden (man gründete eine Bundesanstalt für gemeinnützige Arbeiten, welche Kredite aufnehmen konnte), und 1935 verkündete Bundeskanzler Schuschnigg den Beginn der „Arbeitsschlacht“ (Stiefel, 1979, S. 98). Mit diesen Programmen entstanden wieder respektable Budgetdefizite in der Größenordnung von 1,7 % bis 2,7 % des Bruttoinlandsprodukts. Durch direkte Aktivitäten des Bundes wurden sozusagen im Erstrundeneffekt 42.000 (1934) und 52.100 (1935) Arbeitskräfte beschäftigt, das entsprach gut 2 % der Unselbstständigen oder bis zu 10 % der Arbeitslosen (Stiefel, 1979, S. 100). 1936 allerdings verließ die Regierung diese expansive Linie unter dem Druck des Völkerbundkommissars Rost van Tonningen in der Befürchtung, die Schuldenlast würde zu hoch steigen, und reduzierte das Defizit wieder auf 0,4 % des Bruttoinlandsprodukts (Stiefel, 1988, S. 194). Auch setzte sie jenseits der traditionellen Maßnahmen, wie Arbeitsvermittlung sowie produktive Arbeitslosenfürsorge, einen Versuch, mit neuen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten die Situation zu entspannen. Ende 1932 wurde in Österreich der „Freiwillige Arbeitsdienst“ eingeführt, dessen Hauptziel es war, zu verhindern, dass die Jugend dem Arbeitsleben vollkommen entfremdet werde. Freilich verband sich die arbeitsmarktpolitische Zielsetzung mit manchen der zeitgenössischen Ideologien, sodass diese Institution auch deshalb von den Sozialdemokraten abgelehnt wurde – vor allem aber wegen der möglichen Folgen für das Lohnniveau. Allerdings erwies sich diese Befürchtung als nicht gerechtfertigt, da die gesamten Kosten des freiwilligen Arbeitsdiensts (Errichtung von Unterkünften, Lager, Infrastruktur, sechsstündiger Arbeitstag) bald jene normaler Lohnarbeit überstiegen. Immerhin gelang es, bis zu einem Viertel der jugendlichen Arbeitslosen auf diese Weise Beschäftigung zu geben (Stiefel, 1979, S. 86). Neben diesen zentralen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen existierten noch einige von geringerer Bedeutung oder solche, die überhaupt nicht realisiert, aber
Das Ende der Demokratie und eine schwache Erholung
239
in der Öffentlichkeit lebhaft diskutiert wurden. Da gab es zunächst die Frage der Arbeitszeitverkürzung. Wiewohl die Gewerkschaften durchblicken ließen, damit auch Einkommensverluste in Kauf nehmen zu wollen – ein „Solidaritätsopfer“ zu bringen –, stießen solche Ambitionen auf den vehementen Widerstand der Unternehmer, weil diese Letzteres nicht erwarteten und daher entsprechende Kostensteigerungen fürchteten. Auch eine Konferenz des Internationalen Arbeitsamts bot 1933 das gleiche Bild : Arbeitgeber und Arbeitnehmer standen sich in dieser Frage unversöhnlich gegenüber. Zeigte sich die österreichische Bundesregierung zunächst zurückhaltend, so legte sie sich nach 1933 endgültig auf die Ablehnung der 40-Stunden-Woche fest (Stiefel, 1979, S. 107). Faktisch jedoch wurde die Arbeitszeit in erheblichem Maß reduziert, allerdings über die Institution der Kurzarbeit. Zwar scheinen die verschiedenen Branchen in sehr unterschiedlichem Maß davon betroffen gewesen zu sein, doch fiel die Kurzarbeit in der österreichischen Industrie (für andere Wirtschaftszweige liegen keine Daten vor) offensichtlich erheblich ins Gewicht. In der Leder- und Schuhindustrie sowie in der Eisen- und Metallindustrie betraf sie 1934 fast ein Drittel der Belegschaften. In keiner Branche unterschritt sie jedoch 10 %. Ab 1935 ging sie zwar allgemein zurück, jedoch mit großen Unterschieden nach Industriezweigen. Auch die Auswanderung wurde zwischen den Kriegen als Mittel zur Entlastung des Arbeitsmarkts betrachtet. Diese erreichte ihren Höhepunkt aber keineswegs während der Weltwirtschaftskrise, sondern zu Beginn der Zwanzigerjahre, als offenbar Personen, welche sich durch den Zusammenbruch der Monarchie entwurzelt fühlten, diesen Ausweg suchten. Einer solchen Bewegung Rechnung tragend hatte die Regierung bereits 1919 ein Wanderungsamt eingerichtet, das die potenziellen Emigranten kostenlos mit Informationsmaterial versorgte. Die Nachkriegswanderungswelle nach Übersee erreichte – nach der Statistik des Wanderungsamts – 1923 mit 15.500 Personen, davon 11.500 Erwerbspersonen, den Höhepunkt. Danach fiel die Auswanderung steil ab und gelangte 1933 zu einem ersten Tiefpunkt mit 1.400 Personen. Diese antizyklische Entwicklung scheint deshalb nicht ganz überraschend, weil Wanderungen in der Regel mit der Konjunkturentwicklung im Zielland korreliert sind (Butschek, 1967). Neben der Abwanderung ins Ausland wurde auch eine solche in das Inland oder, wenn man will, aus der Industriegesellschaft in der öffentlichen Diskussion populär. Manche Autoren betrachteten die Arbeitslosigkeit als der industriellen Gesellschaft inhärent, als Folge verschiedener „ungesunder“ Entwicklungen, weg vom Kleinbetrieb, vom Land, durch Überkonzentration der Bevölkerung in der Großstadt usw. Mit der Bekämpfung dieser Übel, durch Schaffung landwirtschaft-
240
Der Zerfall und seine Folgen – dieWeltwirtschaftskrise Zwanzigerjahre der Ersten und Stagnation Republik
Übersicht 49 : Arbeitszeit in größeren Industriebetrieben 1934
1935
1936
1937
Anteile in % Bergbau und Hüttenwerke Unter 48 Stunden
11,44
11,52
16,17
4,61
48 Stunden
86,71
84,53
78,37
87,41
1,85
3,95
6,56
7,98
Unter 48 Stunden
28,86
14,90
10,72
7,90
48 Stunden
66,37
79,13
83,61
86,64
4,77
5,97
5,67
5,46
Über 48 Stunden Eisen- und Metallindustrie
Über 48 Stunden Bau- und Baumaterialindustrie Unter 48 Stunden
18,06
8,64
8,54
6,48
48 Stunden
76,20
84,58
85,43
87,74
5,74
6,78
6,03
5,78
Über 48 Stunden Holz- und holzverarbeitende Industrie Unter 48 Stunden
17,18
5,63
8,42
13,60
48 Stunden
76,32
83,36
85,86
80,89
6,50
11,01
5,72
5,51
Unter 48 Stunden
12,12
10,40
11,01
12,42
48 Stunden
80,92
81,56
80,40
79,67
6,96
8,04
8,59
7,91
Über 48 Stunden Chemische und Gummiindustrie
Über 48 Stunden Papier- und Papierverarbeitende Industrie Unter 48 Stunden
12,88
8,67
13,08
6,87
48 Stunden
78,40
82,08
78,60
80,57
8,72
9,25
8,32
12,56
Unter 48 Stunden
17,96
14,30
20,50
19,51
48 Stunden
73,27
77,74
70,87
72,72
8,77
7,96
8,63
7,77
Über 48 Stunden Nahrungs- und Genussmittelindustrie
Über 48 Stunden Textil- und Bekleidungsindustrie Unter 48 Stunden
22,33
11,52
10,05
12,39
48 Stunden
71,47
82,13
83,99
82,51
6,20
6,35
5,96
5,10
Über 48 Stunden Leder- und Schuhindustrie Unter 48 Stunden
29,39
31,85
42,88
34,12
48 Stunden
68,34
66,28
55,50
64,42
2,37
1,87
1,62
1,46
Über 48 Stunden
Quelle : WIFO-Monatsberichte, 1938, 12 (2), S. 43.
Das Ende der Demokratie und eine schwache Erholung
241
licher Kleinstbetriebe, sollte gleichzeitig die Arbeitslosigkeit verringert werden. Diese Maßnahme wurde sowohl vom Bund im Rahmen der Siedlungsförderung als auch von der Stadt Wien, indem diese Gründe zur Verfügung stellte, unterstützt. Der Erfolg solcher Aktionen erwies sich als minimal, 2.500 Siedlerstellen wurden geschaffen, jedoch nur zum Teil mit Arbeitslosen besetzt. Was blieb, war sehr einfacher Sozialwohnbau (Stiefel, 1979, S. 117). Die Abschließung der Industriestaaten gegen ausländische Konkurrenz während der Weltwirtschaftskrise betraf nicht nur den Güter-, sondern auch den Arbeitsmarkt. Bereits 1925 beschloss auch der österreichische Nationalrat, damals gegen den Widerstand der Unternehmer, das Inlandsarbeiterschutzgesetz. 1926 wurden insgesamt 3.870 Arbeitsbewilligungen erteilt (Stiefel, 1979, S. 126), woraus geschlossen werden kann, dass während und nach der Weltwirtschaftskrise der österreichische Arbeitsmarkt praktisch abgeriegelt war. Alles in allem hielt sich der Erfolg dieser Maßnahmen in relativ engen Grenzen. Auch die leichte Konjunkturerholung nach 1933 vermochte nichts daran zu ändern, dass die Arbeitslosenquote 1937 noch immer 21,7 % erreichte. Ambivalent blieb die Position der Bundesregierung gegenüber den Arbeitnehmern und der Sozialpolitik. Die Ausschaltung der Demokratie bedeutete nicht grundsätzlich die Beseitigung der sozialen Errungenschaften, der Sozialpolitik oder der Möglichkeit, überhaupt Arbeitnehmerinteressen zu vertreten. Denn der Ständestaat verstand sich auch als Sozialstaat. Hierfür mag die Feststellung des späteren Sozialministers, Josef Dobretsberger, charakteristisch sein, der sich freilich als Exponent dieser sozialen Orientierung verstand : „Es ist im neuen Staate immer wieder die Frage aufgetaucht, was das Schicksal der Sozialpolitik, das Schicksal der Sozialversicherung, das Schicksal des Arbeitsrechts sein soll. Es bestanden Tendenzen, diese Errungenschaften der Arbeiter als eine Einrichtung der Sozialdemokratischen Partei hinzustellen, und es bestanden Bestrebungen, diese Einrichtungen mit dem Untergang dieser Partei, mit dem berechtigten Untergang dieser Partei, ebenfalls verschwinden zu lassen. Ich glaube, daß es für jeden denkenden Menschen von außerordentlicher Wichtigkeit ist, zu unterscheiden zwischen dem, was für die Arbeiterschaft geschaffen und errungen worden ist in vergangenen Jahrzehnten, ohne Rücksicht darauf, welche Richtung, welche Strömung es gebracht hat, und zu unterscheiden zwischen den rein parteimäßigen Prestigefragen, in denen man weit über das Ziel hinausgeschossen hat und weit hinausgegangen ist über das wirtschaftlich mögliche Maß, und die deshalb auch mit der Zeit zum Untergang verurteilt sein werden“ (zitiert nach Tálos, 1981, S. 258). Letztere Einstellung manifestierte sich in einer „Politik der Sachlichkeit“, welche bestrebt war, die Kosten der Sozialpolitik zu senken und damit natürlich den Inte-
242
Der Zerfall und seine Folgen – dieWeltwirtschaftskrise Zwanzigerjahre der Ersten und Stagnation Republik
ressen der Unternehmer entgegenkam. Dennoch blieb es ein wichtiges Anliegen des ständischen Regimes, auch vermittels Erhaltung des sozialen Netzes, von der Arbeiterschaft akzeptiert zu werden. Anstelle der früheren Richtungsgewerkschaften trat nunmehr eine Einheitsgewerkschaft, welche der Kontrolle des Bundesministers für soziale Verwaltung unterstand und von den ehemals christlichen Gewerkschaftern dominiert wurde. Auch ihr Vorsitzender, der christliche Gewerkschafter Johann Staud, wurde vom Sozialminister ernannt. Anstelle der Betriebsräte traten „Werksgemeinschaften“. Im Vordergrund ihrer Tätigkeit sollte, der ständestaatlichen Ideologie entsprechend, die Zusammenarbeit, also die „Überwindung des Klassenkampfes“, stehen. Tatsächlich war es so, dass die Einheitsgewerkschaft doch die Interessen der Arbeitnehmer wahrnahm, insbesondere deshalb, weil manche Unternehmer nach der Errichtung des Ständestaats vermeinten, sich nicht mehr an die Sozialgesetze halten zu müssen. Die Verhinderung solcher Übergriffe wurde sogar ein Schwerpunkt der Tätigkeit des Gewerkschaftsbunds. So äußerte sich der neue Arbeiterkammergeneralsekretär, Hans Schmitz, auf einer berufsständischen Kundgebung folgendermaßen : „Während die industrielle Führung viel Verständnis gegenüber dem berufsständischen Gedanken bekundet, gibt es bei ihrer Mitgliedschaft und noch mehr bei den industriellen Außenseitern einzelne, die glauben, die Zeit des großen Fischzuges sei gekommen. Die Zeit des gewerkschaftlichen Interregnums sei günstig, um, ohne Rücksicht auf Friedenspflicht und Vertragstreue, alte Verträge zu brechen, unerhörte Abbaumaßnahmen durchzuführen und im Betrieb diktatorisch zu regieren. Vor diesem Unterfangen kann nicht genug gewarnt werden. Die Meinung ist überhaupt zu revidieren, als ob der Übergang zur berufsständischen Ordnung immer und unter allen Umständen mit einem Lohnabbau eingeleitet werden müsse“ (zitiert nach Klenner, 1953, S. 1134). Der ambivalente Charakter des ständestaatlichen Regimes dokumentiert sich auch im Verhalten gegenüber den „Werksgemeinschaften“. Diesen gehörten vonseiten der Arbeitnehmer nunmehr „Vertrauensleute“ an, welche zunächst ernannt wurden. Als aber die Phase der „Unterdrückung“ 1936 durch eine Politik der „Befriedung“ abgelöst wurde, konnte man diese relativ frei wählen. Sie hatten prinzipiell dieselben Aufgaben wahrzunehmen wie die Betriebsräte. Darüber hinaus sollten sie in der Werksgemeinschaft zusammen mit den Unternehmern Löhne, Arbeitsordnungen sowie Fragen der Betriebsführung regeln. Kam eine Übereinstimmung nicht zustande, entschied das Einigungsamt. Kollektivverträge wurden mit der neuen Einheitsgewerkschaft geschlossen und bezogen sich auf sämtliche Arbeitnehmer. Dass Gewerkschaft sowie Vertrauensleute tatsächlich vielfach Arbeitnehmerinteressen vertraten, lässt sich daraus erschließen, dass die ehemaligen Freien
Das Ende der Demokratie und eine schwache Erholung
243
Gewerkschafter nach anfänglicher Abstinenz dazu übergegangen waren, die Einheitsgewerkschaft zu unterwandern und darin Funktionen zu übernehmen (Benya, 1992, S. 35). Auch kam es in dieser Periode zu – zwar seltenen und kurzen – Streiks, welche durchwegs von der Einheitsgewerkschaft unterstützt wurden (Koller, 2009, S. 320). Einen weiteren Schritt zu einer wenigstens ansatzweisen Einbindung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft in das Regime erfolgte durch die Gründung der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft“ innerhalb der „Vaterländischen Front“. Die Vertrauensleute der SAG entstammten bald zum erheblichen Teil den ehemaligen sozialdemokratischen Organisationen. Erster Leiter dieser Vereinigung wurde Ernst Karl Winter (Holtmann, 1978, S. 222). Diese Entwicklung erweckte auf Unternehmerseite freilich keine Freude. So erklärte Julius Raab, der spätere Bundeskanzler, in einer Versammlung des Österreichischen Gewerbebunds im Jänner 1936 : „Der Abwehrkampf gegen alle wirtschafts- und vaterlandsfeindlichen Bestrebungen wurde vom Gewerbestand mit Begeisterung geführt, dies geschah aber sicherlich nicht in der Absicht, nunmehr Theoretikern von der anderen Seite, die im Grunde genommen die gleichen sozialen – oder soll ich sagen sozialistischen ? – Ideen vertreten wie die Gegner von ehedem, Raum zu geben“ (zitiert nach Klenner, 1953, S. 1169). Somit bietet diese Periode sozialpolitisch ein zwiespältiges Bild : Einerseits blieb das System der sozialen Sicherheit prinzipiell erhalten ; andererseits kam es doch zu Leistungseinschränkungen, die sich wohl zum Teil aus den Einsparungsbemühungen der Regierung erklären lassen : So wurden beispielsweise die Anspruchsvoraussetzungen in der Arbeitslosenversicherung in Richtung einer Fürsorgeleistung verschärft, die Leistungen aus der Unfallversicherung gekürzt und die Renten aus der Angestelltenversicherung um 10 % bzw. 20 % gesenkt. Der Budgetausgleich im Sozialversicherungsbereich durch Leistungsverringerung lag auch dem ambitionierten Projekt des Gewerblichen Sozialversicherungsgesetzes 1935 zugrunde. Dieses umfasste die Kranken-, Unfall-, Alters- und Invaliditäts- sowie die Arbeitslosenversicherung für alle Arbeitnehmer und freien Berufe. Ausgenommen blieben nur die Bundesbediensteten, die Eisenbahner sowie die Notare. Prinzipiell enthielt das Gesetz eine Alters- und Invaliditätsversicherung für sämtliche Arbeitnehmer, doch fand diese weiterhin keine Anwendung auf die Arbeiter. Die Leistungen wurden in der Krankenversicherung durch die Einführung einer dreitägigen Karenz und Reduktion des Krankengelds eingeschränkt, in der Unfallversicherung durch Verringerung der Verletztenrente – bei weniger als 50 % Erwerbsminderung – um 10 %, in der Angestelltenversicherung durch Rentenkür-
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Der Zerfall und seine Folgen – dieWeltwirtschaftskrise Zwanzigerjahre der Ersten und Stagnation Republik
zung insbesondere bei wenigen Versicherungsjahren sowie durch einen Rentnerkrankenversicherungsbeitrag (Tálos, 1981, S. 268). Versuche, mittels eines „Bundeskommissars zur Überwachung der Preisentwicklung“ die Preise zu senken, erwiesen sich natürlich als Schlag ins Wasser. Einige Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes wurden ergriffen, vor allem wurden öffentliche Aufträge von der strikten Einhaltung der Kollektivverträge abhängig gemacht. Übersicht 50 : Die Sozialausgaben in der Ersten Republik 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 Millionen Schilling Pensionen des Bundes
166
187
202
214
216
225
223
210
212
215
218
218
220
219
Arbeitslosenunterstützung
113
164
94
95
119
154
163
170
126
90
90
83
75
63 73
Notstandshilfen
-
-
62
48
44
58
80
116
147
139
124
115
104
Arbeitsdienst
-
-
-
-
-
-
-
0
5
11
10
4
2
2
Altersfürsorge
-
-
3
17
28
39
47
54
61
66
68
69
70
51
58
62
67
68
67
67
61
58
55
53
53
52
51
62
Sonstige soziale Maßnahmen
6
6
9
10
11
18
26
25
32
35
35
30
28
29
Volksgesundheit
24
18
27
31
36
39
33
26
22
13
17
16
16
15
1
1
2
2
2
2
2
2
2
2
2
12
12
34
203
250
264
272
307
376
412
452
450
410
400
382
357
328
Kriegsbeschädigtenfürsorge
Sonstiges Ausgaben soziale Verwaltung Krankenversicherung
.
.
.
.
197
190
180
162
144
138
132
.
.
.
Unfall-, Invaliditäts-, Altersversicherung
.
.
.
.
.
84
91
99
107
108
99
.
.
.
Summe
.
.
.
.
.
875
906
922
914
871
848
.
.
.
In % des Bruttoinlandsprodukts
.
.
.
.
.
7,6
8,7
9,7
10,1
9,7
9,3
.
.
.
Quelle : Bundesrechnungsabschlüsse ; Statistik Austria.
Will man die Sozialpolitik dieser Phase zusammenfassend beurteilen, dann bietet sich eben ein ambivalentes Bild : Sicherlich wurde die Widerstandskraft der Arbeitervertretungen durch die Ausschaltung der SDAP und der Freien Gewerkschaften geschwächt. Und ebenso versuchten die Unternehmer, im Ständestaat die sozialrechtlichen Bestimmungen in höherem Maß zu überschreiten als zuvor (Tálos, 1981, S. 277), doch lässt sich vonseiten der Regierung zumindest keine Absicht zur massiven Einschränkung sozialer Rechte feststellen. Der unternehmerischen Ten-
Die Grenzen der Wirtschaftspolitik
245
denz, Sozialvorschriften zu missachten, traten hohe politische Funktionäre scharf entgegen, wie etwa der Tiroler Landeshauptmann Franz Stumpf durch einen entsprechenden Erlass an die Behörden (Klenner, 1953, S. 1137). Zahlreiche Leistungskürzungen sind evident. Wenn diese von der Geschichtsschreibung vielfach als Beweis für eine Politik des Sozialabbaus betrachtet wurden, dann geschah das unter der Erfahrung des „Goldenen Zeitalters“ mit seiner schier unbegrenzten Ausweitung sozialer Ansprüche. Seit den 1990er-Jahren wird klar, dass Leistungskürzungen oft aus einer Politik der Budgetstabilisierung resultieren. Wie immer dem war, aus den aggregierten Daten lässt sich eine Tendenz zur Minderung der Sozialausgaben ab 1933 und 1934 feststellen. Das galt nicht für die Pensionen des Bundes, wohl aber für die Gesamtausgaben der sozialen Verwaltung, dramatisch für die Arbeitslosenunterstützung und die Krankenversicherung. Die Sozialquote lässt sich mangels vollständiger Daten nur bis 1935 berechnen. Danach erreichte diese (ohne Pensionen der Länder und Gemeinden) 1933 mit 10,1 % des Bruttoinlandsprodukts einen Höhepunkt, ging aber in den beiden folgenden gleichfalls zurück. 1935 lag sie bei 9,3 %.
13.3 Die Grenzen der Wirtschaftspolitik
In der ökonomischen Diskussion nach 1945 wurde häufig die Frage nach der Qualität der ständestaatlichen Wirtschaftspolitik oder nach den Alternativen, welche dieser offen standen, gestellt. Offensichtlich bestimmte dieses Urteil in hohem Maß die Erfahrung der Analytiker. Im „Goldenen Zeitalter“ fiel es dementsprechend hart aus. Seit dem Wachstumseinbruch zur Mitte der Siebzigerjahre, dem europaweiten Anschwellen der Arbeitslosigkeit, die sich in manchen Ländern den Werten der Weltwirtschaftskrise näherte, und im Lichte der Schwierigkeit, diese Probleme in den westlichen Industriestaaten zu lösen, scheint eine etwas vorsichtigere Einschätzung angebracht. Welche Möglichkeiten standen einer einzelnen Volkswirtschaft bei gegebener internationaler Wirtschaftslage damals überhaupt offen, Beschäftigungspolitik zu betreiben bzw. welche Wirtschaftspolitik wurde zwischen 1934 und 1937 tatsächlich betrieben ? Die Rechnungsabschlüsse des Bundes erreichten 1930 und 1931 Defizite von 2,3 % bzw. 3,1 % des Bruttoinlandsprodukts – wurden freilich „erlitten“. 1932 war das Budget ausgeglichen. 1933 und 1934 gab es wieder Defizite von 2,7 % und 2,5 % sowie 1935 noch von 1,7 % des Bruttoinlandsprodukts. Die beiden letzteren Jahre waren durch die „Arbeitsbeschaffungsprogramme“ gekennzeichnet, 1936 und – mit Einschränkungen – 1937 blieb das Budget wieder ausgeglichen.
246
Der Zerfall und seine Folgen – dieWeltwirtschaftskrise Zwanzigerjahre der Ersten und Stagnation Republik
Auch die Geldpolitik scheint eher adaptiv gewesen zu sein. In den Zwanzigerjahren war trotz der kurz zuvor überwundenen Inflation die Geldmenge bis zur Weltwirtschaftskrise stark vergrößert worden, 1931 und 1932 gab es einen dramatischen Einbruch, welcher sich in den Folgejahren sehr abgeschwächt fortsetzte. Wesentlich dafür blieb ab 1933 in erster Linie ein Rückgang der Giroverbindlichkeiten (Schubert, 1991, S. 105). Dennoch kam es in diesem Zeitraum zu einem sehr deutlichen Zinsrückgang. So sank der Lombardsatz an der Wiener Börse von 7,1 % 1933 auf 5,0 % 1936 und der Diskontsatz von 5,2 % 1933 auf 3,5 % 1936, wo er bis 1938 verharrte. Mit dem Hinweis auf diese Fakten setzte sich der damalige Nationalbankpräsident, Viktor Kienböck, gegen den Vorwurf zur Wehr, er hätte eine Deflationspolitik betrieben (Kienböck, 1947, S. 6). Tatsächlich blieben die Bewegungsmöglichkeiten der Notenbank deshalb beschränkt, weil Handelswechsel praktisch nicht mehr zur Refinanzierung präsentiert wurden und Mindestreservenveränderung sowie Offenmarktpolitik gar nicht zu den geldpolitischen Instrumenten der Nationalbank zählten. Der Diskontsatz war ohnehin reduziert worden. Wenn von der Geldseite restriktive Effekte ausgingen, dann eher durch die Politik der Geschäftsbanken, welche nach den Erfahrungen der vorangegangenen Jahre in der Kreditgewährung äußerst zurückhaltend geworden waren. Übersicht 51 : Entwicklung der Geldmenge 1923 bis 1936 Geldmenge M1 Millionen Schilling
Veränderung in %
1923
2.079,1
1924
2.603,4
1925
2.801,2
+ 7,6
1926
3.454,7
+ 23,3
1927
3.621,0
+ 4,8
1928
3.942,1
+ 8,9
1929
3.981,7
+ 1,0
1930
3.886,4
– 2,4
1931
2.994,6
– 22,9
1932
2.463,7
– 17,7
1933
2.371,1
– 3,8
1934
2.187,6
– 7,7
1935
2.222,9
+ 1,6
1936
2.137,6
– 3,8
Quelle : Schubert, 1991, S. 104.
– + 25,2
Die Grenzen der Wirtschaftspolitik
247
Sicherlich hielten sich die Budgetdefizite – gemessen an jenen, die seit Mitte der 1970er-Jahre in Österreich auftraten und zwischen 4 % und 5 % des Bruttoinlandsprodukts ausmachten – in relativ engen Grenzen, und ebenso wenig lässt sich sagen, es habe ein „Regimewechsel“ (Temin, 1989) stattgefunden, doch stellt sich in diesem Zusammenhang doch die Frage, welches der Spielraum für eine expansive Wirtschaftspolitik im Allgemeinen und für die einer kleinen offenen Volkswirtschaft im Besonderen war. Die Erfahrungen der Wirtschaftsepoche seit 1975, insbesondere seit 1993, weisen generell darauf hin, dass eine expansive Fiskalpolitik möglicherweise in der Lage ist, kurz- bis mittelfristig einen Anstieg der Arbeitslosigkeit aufzufangen, aber keineswegs eine grundlegende Änderung des Wachstumspfads herbeizuführen. In einem solchen Fall müssten die Budgetdefizite Größenordnungen erreichen, die geeignet wären, die Staatshaushalte über das Verschuldungswachstum und den daraus resultierenden Schuldendienst zu immobilisieren, aber auch Konsequenzen für den Kapitalmarkt, das Preisniveau und vor allem für die Zahlungsbilanz herbeizuführen. Derartige Überlegungen gelten grundsätzlich für eine expansive Fiskalpolitik, sie fallen noch stärker ins Gewicht, wenn die Regierung einer kleinen offenen Volkswirtschaft eine solche betreiben wollte und ganz besonders in einer Situation, wie sie jener Österreichs zwischen 1934 und 1937 entsprach ! Man wird daher nicht übersehen können, dass die Bundesregierung angesichts der internationalen Position des Landes – es hatte immerhin zwei Völkerbundsanierungen hinter sich – in der Budgeterstellung zumindest bis 1935 wahrscheinlich nicht entscheidend weiter hätte gehen können. Sicherlich unterscheiden sich die wirtschaftspolitischen Gegebenheiten Mitte der Dreißigerjahre von jenen Mitte der Neunzigerjahre. Damals herrschte Massenarbeitslosigkeit, die Arbeitslosenquote erreichte 25 %. Zu Beginn des dritten Jahrtausends lag die vergleichbare bei 10 %. Doch betrieben die europäischen Regierungen ebenfalls keine expansive, sondern eher eine restriktive Fiskalpolitik. Sie taten das einerseits, um den Konvergenzkriterien des Abkommens von Maastricht für die Wirtschafts- und Währungsunion zu genügen, andererseits aber auch, um die übermäßige Belastung des Staatshaushalts durch den Schuldendienst zu verringern. Überdies muss bedacht werden, dass die österreichische Bundesregierung bis 1936 unter der direkten Kontrolle des Völkerbundkommissars stand, aber auch unter Beobachtung der internationalen Finanzmärkte. Es soll gar nicht geleugnet werden, dass die Bankiers und Nationalbankpräsident Kienböck dazu neigten, der stabilen Währung und damit einem ausgeglichenen Budget hohe Priorität zuzubil-
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Der Zerfall und seine Folgen – dieWeltwirtschaftskrise Zwanzigerjahre der Ersten und Stagnation Republik
ligen (Weber, 1995, S. 549 ; Kernbauer, 1995, S. 552), doch müsste man die objektiven Begrenzungen einer expansiven Fiskalpolitik im Auge behalten. Die gesamte Summe der Verpflichtungen des Bundes erreichte 1932, also vor der Notenbankschuld im Gefolge der Sanierung der Credit-Anstalt, 2,47 Milliarden Schilling, das waren 25,9 % des Bruttoinlandsprodukts. Das erscheint nach heutigen Maßstäben wenig, nach damaligen wahrscheinlich nicht. Umso mehr, als sich die Verpflichtungen bis Anfang 1936 (einschließlich Notenbankverschuldung), also binnen vier Jahren, schon auf 42,6 % erhöht hatten. Auch muss man deshalb das sowohl von den Zeitgenossen als auch den Historikern immer wieder vorgebrachte Argument relativieren, es seien die Anleiheerlöse nur zum Teil für Investitionen, sondern auch zur „Schuldenrückzahlung“ verwendet worden. Mag sein, dass Überlegungen des „debt management“ hierbei eine Rolle gespielt haben ; die Gesamtverschuldung des Bundes stieg jedenfalls bis 1936 stetig an. Die Niveauverschiebung 1937 resultierte lediglich aus der Abwertungsrunde in den Gläubigerstaaten. Übersicht 52 : Finanzschuld des Bundes 1925 bis 1937 Millionen Schilling
In % des Brutto-inlandsprodukts
1925
2.368
23,0
1926
2.319
22,6
1927
2.410
21,7
1928
2.641
22,6
1929
2.096
17,3
1930
2.207
19,1
1931
2.423
23,4
1932
2.473
25,9
1933
3.078
34,1
1934
3.582
39,9
1935
3.806
41,6
1936
3.972
42,6
1937
3.690
37,6
Quelle : Bundesrechnungsabschlüsse.
Für einen großen wirtschaftspolitischen Spielraum spricht auch nicht die rasante Reduktion der Arbeitslosigkeit ab 1938, als die österreichische Wirtschaft in die deutsche integriert wurde, weil ihr in diesem Jahr öffentliche Aufträge im Wert
Die Grenzen der Wirtschaftspolitik
249
von 750 Millionen Schilling zuflossen (nicht zu reden von den Erleichterungen für den privaten Konsum), das waren 8 % des Bruttoinlandsprodukts oder 52 % ( !) der Budgetausgaben von 1937, und Deutschland überdies das Leistungsbilanzdefizit in der Größenordnung von 500 Millionen Schilling übernahm (Butschek, 1985, S. 60). Restriktiver Charakter wird dem Beschluss der zuständigen Institutionen zugeschrieben, die internationale Abwertungsrunde 1936 nicht mitzumachen (Kernbauer – März – Weber, 1983, S. 372). Das Argument, welches für die „Hartwährungspolitik“ der Siebzigerjahre gilt, nämlich Import von Stabilität, wird man rückblickend angesichts einer permanent deflationären Situation als verfehlt betrachten. Die damalige Regierung fürchtete aber, dass ein möglicher Teuerungsschub zu Lohnforderungen und damit zu einem inflationären Auftrieb, aber auch zu einer Stärkung der illegalen Sozialdemokraten führen würde, andererseits verringerte die harte Währung die Belastung des Budgets durch den Schuldendienst beträchtlich (Kernbauer, 1995, S. 568). Letztlich ist auch nicht zu übersehen, dass der Schilling bereits 1933 massiv abgewertet worden war. Die nähere Betrachtung der wirtschaftlichen Lage und des wirtschaftlichen Umfelds ergibt somit, dass der österreichischen Regierung zumindest keine grundlegenden Alternativen offen standen. Gewiss war die innenpolitische Situation einer kräftigen Wirtschaftsentwicklung nicht günstig und auch die internationale Umgebung nicht sonderlich dazu angetan, die österreichische Wirtschaft zu stimulieren. Die meisten Nachbarn stagnierten selbst, die dramatisch expandierende deutsche Wirtschaft war aus dem internationalen Wirtschaftsverbund weitgehend ausgeschieden und konnte aus Devisenmangel auf dem österreichischen Markt nur in sehr beschränktem Umfang auftreten. Nun soll mit all dem nicht bestritten werden, dass eine Regierung und eine Notenbank mit starken Präferenzen für eine expansive Politik anders vorgegangen wäre und damit möglicherweise einen gewissen Effekt erzielt hätte. Doch ist angesichts der dargelegten Fakten schwer vorstellbar, dass sich daraus eine grundlegend gewandelte ökonomische Situation hätte ergeben können ; umso weniger, als sich eben die österreichische Wirtschaft nicht sehr viel anders entwickelte als jene der meisten Industriestaaten, welchen es gleichfalls nicht gelang, zwischen 1933 und 1937 Vollbeschäftigung zu erreichen. Keynesianische Politik wurde sowohl in Schweden als auch in den USA betrieben – und im Hinblick auf die Produktionsentwicklung auch mit einigem Erfolg. Aber von der Vollbeschäftigung blieben beide Staaten vor dem Zweiten Weltkrieg nichtsdestoweniger weit entfernt. Massive Effekte erzielte lediglich das Deutsche Reich, aber eben unter Bedingungen, die nicht nur durch die massive Aufrüstung gekennzeichnet waren, sondern auch dadurch, dass alle kritischen Bereiche (Preise,
250
Der Zerfall und seine Folgen – dieWeltwirtschaftskrise Zwanzigerjahre der Ersten und Stagnation Republik
Löhne, Zahlungsbilanz) abgesichert wurden, indem man den Marktmechanismus weitgehend ausschaltete (Butschek, 1992, S. 104). Letztlich stellt sich aber grundsätzlich die Frage, ob die rein quantitative Betrachtungsweise dem Problem gerecht wird. Christina Romer weist darauf hin, dass die Budgetdefizite Roosevelts nach seinem Amtsantritt in den Dreißigerjahren sich in engen Grenzen hielten. 1934 bewegte es sich in der Größenordnung von 1,5 % des Bruttoinlandsprodukts und wurde 1935 schon wieder reduziert. Seine Effekte wurden notabene durch die Bemühungen der Staaten, ihre Budgets auszugleichen, konterkariert. Sie schreibt den Erfolg dieser Politik eher institutionellen Faktoren zu. Die Bevölkerung empfand das Vorgehen Roosevelts als einen Bruch mit der bisherigen Politik, welche dem Budgetausgleich verpflichtet gewesen war, als ein entschlossenes Handeln, um die Depression zu bekämpfen : „To have a President step up to the challenge and say the country would attack the Depression with the same fervor and strength it would an invading army surely lessened uncertainty and calmed fears“ (Romer, 2009, S. 5). Und von einer derartigen Stimmung des Vertrauens in die politische Führung sowie der Zuversicht konnte im österreichischen Ständestaat überhaupt keine Rede sein, im Gegenteil. Damit ist aber gesagt, dass selbst höhere Defizite – die tatsächlichen bewegten sich durchaus in der Größenordnung jener der Roosevelt-Administration – kaum zu entscheidend anderen Wachstumseffekten geführt hätten.
14. Deutsche Okkupation und die österreichische Wirtschaft
14.1 Die Frage der Kriegsschäden
Über die Auswirkungen der deutschen Okkupation Österreichs zwischen 1938 und 1945 auf die Wirtschaft des Landes wurden recht unterschiedliche Auffassungen vertreten. Am Anfang standen die Bekundungen der österreichischen Bundesregierung, welche die Basis für allfällige Entschädigungsforderungen gegenüber Deutschland bilden sollten. Sie setzten sich aus verschiedenen Elementen zusammen : Wiewohl die Alliierten schon 1946 zu erkennen gegeben hatten, dass sie nicht bereit waren, substanzielle finanzielle Forderungen Österreichs gegenüber Deutschland zu unterstützen, versuchte die Bundesregierung, sämtliche Schäden, die dem Land durch die Okkupation entstanden waren, zusammenzufassen. Natürlich blieben diese Schätzungen äußerst vage, da nur beschränkt Daten existierten, die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung erst im Entstehen und der österreichischen Bürokratie unbekannt war. Nach dem ersten Memorandum, das die Bundesregierung 1947 den Alliierten präsentierte, wurden die Gesamtschäden Österreichs durch Okkupation, Krieg und dessen Folgen auf 64 bis 67 Milliarden Schilling geschätzt. Sie gliederten sich in aufrechte Forderungen, Ersatzforderungen und sonstige, das Vermögen oder das Einkommen schmälernde Folgen der Okkupation. Die Ansprüche aus der ersten und dritten Gruppe resultierten aus der Kriegsfinanzierung durch Kredite und Steuern. Die zweite Gruppe umfasste die durch den Krieg und dessen Folgen entstandenen Schäden am Realvermögen (Seidel, 2005, S. 379). Vieles an diesen Forderungen blieb unrealistisch, so etwa wurde in keinem kriegführenden Staat der erzwungene Konsumverzicht abgegolten. Ebenso wenig wurde eine Bilanz des Realvermögens erstellt. Die im Zuge der Staatsvertragsverhandlungen präsentierte neue Rechnung bezifferte die reduzierten aufrechten Forderungen und Vermögensschäden – der Ersatz für Kriegssteuern wurde fallen gelassen – auf nur mehr 34 Milliarden Schilling (Seidel, 2005, S. 383). Die finanziellen Ansprüche an das ehemalige Deutsche Reich waren indessen schon deshalb uneinbringlich geworden, weil dafür kein Rechtsnachfolger existierte. Sie blieben lediglich deshalb aufrecht, um die im Staatsvertrag vorgesehene Regelung des deutschen Eigentums rechtfertigen zu können.
252
Deutsche Okkupation und die österreichische Wirtschaft
Diese Dokumente enthielten auch Angaben über das Ausmaß der Kriegsschäden sowie der Requisitionen durch die Besatzungsmächte. Das Anlagevermögen der österreichischen Wirtschaft betrug 1937 brutto etwa 60 Milliarden Schilling. Diesem standen Kriegsschäden von 10,6 Milliarden Schilling und 1,2 Milliarden Schilling Requisitionen gegenüber. Bewertet zu Preisen des Jahres 1937 reduzieren sich diese Beträge jedoch auf 4,5 Milliarden Schilling Bauschäden und 2,5 Milliarden Schilling Demontagen (Seidel, 2005, S. 387). Dazu kamen Schäden in der Landwirtschaft, wie die Reduktion des Tierbestands. Übersicht 53 : Anlagevermögen (brutto) 1937 bis 1946, Schätzung Bauten
Ausrüstungen
Anlagegüter
Milliarden Schilling, zu Preisen von 1937 Bestand 1937 brutto
45,0
15,0
60,0
Natürlicher Abgang
5,7
4,5
10,2
Bauschäden
4,5 2,5
2,5
Demontagen
4,5
Abgang insgesamt
10,2
7,0
17,2
Bruttoinvestitionen
?
?
15 bis 17?
Quelle : Seidel, 2005, S. 387.
Die einschlägige Literatur rückte auch andere Aspekte in den Vordergrund. Manche Autoren sahen generell in der Inanspruchnahme der österreichischen Ressourcen schon vor Kriegsausbruch eine „Ausplünderung“ des Landes (März, 1978, S. 202). Sie legten unter diesem Aspekt das Schwergewicht der Argumentation auf den Übergang des öffentlichen und privaten Eigentums an das Deutsche Reich und deutsche Eigentümer (Wittek-Saltzberg, 1970). Die dramatische Produktionssteigerung 1938 und 1939 wurde als „Überbeanspruchung“ der österreichischen Wirtschaft, die Exporte nach Deutschland als „Entfremdung“ von Gütern betrachtet. Die beträchtlichen Produktionssteigerungen seien auf Kosten der traditionellen Konsumgüterindustrien zustande gekommen. Allerdings vermerkt die genannte Autorin in ihrer Zusammenfassung unter Bezugnahme auf Untersuchungen von Koren und Rothschild doch positive Effekte der deutschen wirtschaftlichen Aktivitäten als Folge der industriellen Strukturänderungen (Wittek-Saltzberg, 1970, S. 244). Ersterer hatte darauf hingewiesen, dass nicht in allen Bereichen der Kapitalbestand von Kriegszerstörungen betroffen war, vor allem in der Energiewirtschaft. Insbesondere die neu errichteten Wasserkraftanlagen seien kaum beschädigt ge-
Vom Boom zur Katastrophe
253
wesen, sodass sich die Stromproduktion 1944 gegenüber 1937 fast verdoppelt hatte (Koren, 1961B). Auch für die seit 1937 dramatisch gesteigerte Erdölförderung wurde nach Sanierung der Anlagen für 1946 eine entsprechend gesteigerte Produktion erwartet (WIFO, 1946). Der Autor dieser Zeilen schätzte, dass die Produktionskapazitäten der Industrie trotz der Zerstörungen und Demontagen 1946 etwa jenen des Jahres 1937 entsprochen haben dürften (Butschek, 1978, S. 106). Eine Schätzung, die durch die Rückrechnung des Kapitalstocks durch Seidel bestätigt wird (Seidel, 2005, S. 387). Als wesentlich wurde gerade die Strukturumschichtung in Richtung Grundstoff- und Halbfertigwarenindustrien gesehen, mit Kapazitäten, die weit über die regionale Nachfrage hinausgingen. Weiters verlagerte sich die Industrieproduktion zu effizienten Großbetrieben, die auch die Arbeitskräftereserven Westösterreichs ausschöpfen konnten (Rothschild, 1961, S. 105). Auch dürfte die Einbindung in eine auf Hochtouren laufende Wirtschaft eines großen Staates den Erwerb technischorganisatorischer Erfahrungen, also eine Steigerung des Humankapitals bedeutet haben, sowie auch die Umleitung der Handelsströme die Integration der österreichischen Wirtschaft in den westeuropäischen Raum nach Kriegsende erleichterte (Butschek, 1978, S. 113). In jüngerer Zeit hat sich die Diskussion über die wirtschaftlichen Folgen der deutschen Okkupation in eine Richtung bewegt, die das Gegenteil der früher vertretenen darstellt. Darin wurde eher die Meinung vertreten, Österreich sei als Profiteur der deutschen Besetzung zu betrachten, da diese der österreichischen Wirtschaft einen Wachstumsschub vermittelt habe. Durch den Anschluss sei gleichermaßen ein solcher „[…] an die technologische und industrielle Moderne […]“ erzwungen sowie der „Grundstock für Österreichs Wirtschaftswunder“ geschaffen worden (Maimann, 2005). Das Land verdanke seinen Nachkriegsaufschwung der deutschen Okkupation. Wenn man versucht, ein umfassendes Bild über diese Frage zu gewinnen, scheint es unverzichtbar, den Ablauf der Geschehnisse zwischen 1938 und 1945 zu rekonstruieren.
14.2 Vom Boom zur Katastrophe
Die deutsche Okkupation führte zu einem abrupten Bruch in der Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt, der sich einerseits aus dem deutschen Interesse an der österreichischen Wirtschaft, andererseits auch aus der von den Deutschen in Österreich betriebenen Wirtschaftspolitik ergab.
254
Deutsche Okkupation und die österreichische Wirtschaft
In Deutschland hatte sich die Wirtschaftslage seit 1933 grundlegend gewandelt. Schon unter den Regierungen Papen und Schleicher traten Tendenzen zu expansiver Wirtschaftspolitik in den politischen Parteien und den Interessenvertretungen immer stärker hervor. Sie fanden auch bereits ihren Niederschlag in politischen Maßnahmen, wie etwa in Steuernachlässen (Steuergutscheine) und öffentlichen Investitionen, die zunehmend durch Geldschöpfung (Arbeitsbeschaffungswechsel) finanziert wurden. Zwar hatten die zur Macht gekommenen Nationalsozialisten das Ziel der Aufrüstung stets vor Augen, doch trat dieses zumindest in der Frühphase des neuen Regimes gegenüber der „Arbeitsbeschaffung“ in den Hintergrund (Fischer, 1968, S. 51). Die Wirtschaftspolitik der Ära Schacht baute die von den vorangegangenen Regierungen eingesetzten Instrumente (Mefo-Wechsel) aus und fügte diesen noch eine Reihe nachfragestärkender Maßnahmen im Konsum- und Investitionsbereich hinzu, wie Zuschüsse für Wohnbauten, begünstigte Abschreibungen, Steuerfreiheit für neue Autos, Ehestandsdarlehen, Senkung der Umsatzsteuer sowie des Arbeitslosenversicherungsbeitrags. Die deutsche Wirtschaft löste sich auch sehr rasch aus der Stagnation : Ab 1933 wuchs das Bruttoinlandsprodukt jährlich in der Größenordnung von real 8 %. 1934 trat das Ziel der Aufrüstung allerdings schon in den Vordergrund, da sich die Rüstungsausgaben fast verfünffachten. Die auf – teilweise verschleierter – Defizitgebarung der öffentlichen Hand beruhende Expansionspolitik wurde durch direkte Eingriffe in den Marktprozess abgesichert : Eine inflationäre Entwicklung blockierte man durch Lohn- und Preiskontrollen, die Außenwirtschaft wurde durch Devisenbewirtschaftung, Bilateralisierung des Außenhandels, quantitative Einfuhrbeschränkungen und differenzierte Wechselkurse reglementiert. Damit konnte die Leistungsbilanz mehr oder minder im Gleichgewicht gehalten, nicht aber die stets steigende Nachfrage nach Rohstoffen befriedigt werden. Daher ging die Regierung dazu über, im Rahmen des „Vierjahresplans“ von 1936 in großem Stil Ersatzstoffe zu produzieren. Ende 1937 bot die deutsche Wirtschaft das Bild der Vollbeschäftigung aller Produktionsfaktoren. Angesichts des Zieles der Aufrüstung und des Strebens nach weitestgehender Autarkie gewannen in den politischen Überlegungen zu Österreich die wirtschaftlichen Aspekte immer stärker an Gewicht. Vor allem die Rohstoffe, die unausgelasteten sachlichen und personellen Kapazitäten sowie die Energiereserven erweckten das Interesse der Kreise um den Beauftragten für den Vierjahresplan, Hermann Göring (Schausberger, 1978, S. 11). Bereits nach Abschluss des Berchtesgadener Abkommens ließ der Österreich-Beauftragte Hitlers, Staatssekretär Wilhelm Keppler, den Entwurf für eine deutsch-österreichische Währungsunion ausarbeiten, der schon eine weitgehende Integration der beiden Volkswirtschaften
Vom Boom zur Katastrophe
255
ins Auge fasste (Botz, 1976, S. 30). Diese Lösung wurde für den Fall angestrebt, dass Deutschland den Weiterbestand des Staates Österreich akzeptieren müsse. Die Währungsunion, also eine Integration in das deutsche Wirtschaftssystem, hätte die volle Nutzung der österreichischen Ressourcen gestattet, weil Österreich damit zum deutschen Währungsgebiet gehört und der zwischenstaatliche Handel nicht in knappen Devisen, sondern in Reichsmark hätte abgewickelt werden können. Nach dem „Anschluss“ fanden die Deutschen in Österreich eine Situation vor, die jener ähnelte, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im eigenen Land existiert hatte : eine Wirtschaft im Stand totaler Unterauslastung der materiellen und personellen Kapazitäten mit tendenziell sinkenden Preisen, aber mit ausgeglichener Leistungsbilanz und einer gewissen Währungsreserve. Es lag daher nahe, wirtschaftspolitisch ähnlich zu reagieren wie in Deutschland 1933, was überdies dadurch erleichtert wurde, dass die weitaus größere Volkswirtschaft allfällige Ungleichgewichte der kleineren auf sich nehmen konnte. Das konkrete wirtschaftspolitische Instrumentarium für die Okkupation war offensichtlich bereits im Rahmen der Pläne für eine deutsch-österreichische Währungsunion vorbereitet worden (Stiefel – Weber, 2001, S. 472). Es wäre verfehlt, das nunmehr einsetzende Wachstum der deutschen Nachfrage nach Rohstoffen und Halbfertigwaren zuzuschreiben. Wohl schnellten die – geschätzten – Exporte nach Deutschland auf das Dreifache empor, da jedoch die Ausfuhr in Drittstaaten im gleichen Ausmaß schrumpfte, gingen per Saldo von der Auslandsnachfrage keine expansiven Impulse aus. Wesentlich für die österreichische Wirtschaftsentwicklung der Jahre 1938 und 1939 wurde die Binnennachfrage. Zunächst wurde die österreichische Marktwirtschaft mit grundsätzlich freiem Waren- und Zahlungsverkehr in das deutsche System reglementierten Außenhandels mit totaler Devisenbewirtschaftung übergeführt. Die Angleichung der Währung erfolgte über eine – nicht zuletzt politisch bedingte (Kernbauer – Weber, 1988, S. 52) – Aufwertung des Schillings von einem Börsenkurs von 2,17 Schilling je Reichsmark auf 1,50 Schilling je Reichsmark. Damit wurde das österreichische Lohnniveau ungefähr auf das deutsche, die Preise von Verbrauchsgütern und Produktionsmitteln überwiegend darüber angehoben. Letzteres Problem versuchte man nicht nur administrativ durch Preisregelung zu lösen, sondern auch durch steuerliche Kostensenkungen. Dieses Bemühen wurde überdies durch den Aufwertungseffekt des Schillings und durch das Sinken der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt sowie letztlich durch die sprunghaft ansteigende Kapazitätsauslastung begünstigt. Tatsächlich sank von März bis Dezember 1938 der Verbraucherpreisindex um 1,3 %. Für die österreichischen Unternehmen wurden darüber hinaus spezielle Schutzmaßnahmen ins Auge gefasst, da man sie als veraltet und kaum konkurrenzfähig
256
Deutsche Okkupation und die österreichische Wirtschaft
betrachtete. So wurden die deutschen Zölle gegenüber Österreich sofort abgeschafft, wogegen die österreichischen noch bis Juli bzw. Oktober 1939 aufrechtblieben. Darüber hinaus erließ man für einige Branchen einen „Gebietsschutz“, welcher auch mengenmäßige Exportbeschränkungen vorsah und erst Mitte 1939 auslaufen sollte. In allen Nachfragebereichen, wie Investitionen, öffentlichem und privatem Konsum, setzte der Staat expansive Maßnahmen. Insgesamt flossen der gewerblichen Wirtschaft 1938 öffentliche Aufträge in der Höhe von 750 Millionen Schilling (WIFO-Monatsberichte, 1939, 13 [2/3] und 13 [4]) zu ; diese entsprachen fast 8 % des Bruttoinlandsprodukts von 1937. Auch die private Konsumnachfrage stimulierte man dadurch, dass rund 130.000 ausgesteuerten Arbeitslosen wieder Unterstützung gewährt sowie Familienbeihilfen und Ehestandsdarlehen eingeführt wurden. Dazu kamen die Beseitigung des sogenannten „Krisenzuschlags“ zur Umsatzsteuer und eine Umsatzsteuerermäßigung für die Landwirtschaft. Sicherlich hatte sich auch die Investitionsneigung erhöht, umso mehr, als nach der Okkupation kräftige Kapitalzuflüsse aus Deutschland einsetzten. Die derart induzierte Nachfrage führte in den ersten beiden Jahren der Okkupation zu dramatischen Produktions- und Leistungssteigerungen in allen Wirtschaftszweigen mit Ausnahme der Landwirtschaft. 1938 erreichte die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (ohne Landwirtschaft) real 15,0 %, 1939 sogar noch 16,3 %. Im Gegensatz zur Zeit zwischen 1918 und 1937 lag diesmal der Schwerpunkt der Expansion auf Industrie (+ 18 % und + 30 %) und Bauwirtschaft (+ 23 % und + 25 %) (Butschek, 1978, S. 65). Auch die Arbeitsmarktlage verbesserte sich grundlegend. Bereits im April begann die Beschäftigung saisonbereinigt zu expandieren und die Arbeitslosigkeit zu sinken (ein Aufwärtsknick in der unbereinigten Statistik geht lediglich auf die Einbeziehung der Ausgesteuerten zurück). In den folgenden Monaten beschleunigte sich die Entwicklung. Die Beschäftigung erreichte den Saisonhöhepunkt völlig atypisch erst im November und lag zu diesem Zeitpunkt um 396.000 oder 23,3 % über dem Stand zur gleichen Zeit des Jahres 1937. Im Jahresdurchschnitt nahm sie um 180.000 Unselbstständige oder 10,7 % zu, wogegen die Arbeitslosigkeit um 188.000 zurückging und damit die Quote auf 12,9 % sank. 1939 wuchs die Beschäftigung um weitere 147.000 oder 7,9 % und die Vollbeschäftigung wurde mit einer Arbeitslosenquote von 3,2 % erreicht (Butschek, 1978, S. 45). Dementsprechend verbesserte sich auch die Einkommenssituation der Unselbstständigen. Zunächst durch den raschen Rückgang der Arbeitslosigkeit, dann aber auch durch Steigerung der Pro-Kopf-Einkommen (Butschek, 1978, S. 60). Auch die Übernahme der deutschen Gehaltsschemata des öffentlichen Dienstes brachte
257
Vom Boom zur Katastrophe
Abbildung 8 : Die monatliche Arbeitsmarktlage 1937 und 1938 2.100 2.000
Beschäftigte
1.900 1.800 1.700
In
1.000
1.600 1.500
1937 1938
1.400 600 500 400 300 200 100
Arbeitslose
Dezember
November
Oktober
September
August
Juli
Juni
Mai
April
März
Februar
Jänner
0
Quelle : Butschek, 1978, S. 59.
zumeist Einkommenssteigerungen. In Fällen, wo die Einkommen gesunken wären, erfolgten Kompensationen durch Sonderzahlungen (Stiefel, 2001, S. 143). Die dramatische Nachfrageausweitung kam allerdings nicht nur der heimischen Produktion, sondern auch dem Ausland zugute. Obwohl die österreichischen Zölle gegenüber Deutschland zum Schutz der heimischen Industrie zunächst aufrechtblieben, verdreifachte sich auch der Import aus Deutschland. Dazu kam noch eine Einfuhrsteigerung aus Drittstaaten um 7,1 %. Daraus resultierte ein – fiktives – Handelsbilanzpassivum von etwa 900 Millionen Schilling, allerdings zur Hälfte gegenüber Deutschland ; dieses wurde durch die expansive Entwicklung des Fremdenverkehrs vermindert. Dem Passivum standen der Zufluss von 515 Millionen Schilling an Gold und Devisen der Oesterreichischen Nationalbank sowie die zwangsweise eingetauschten Valuten und ausländische Wertpapiere aus dem Publikum in der Höhe von 685 Millionen Schilling und Clearingspitzen gegenüber dem Ausland in der Höhe von 150 Millionen Schilling (60 Millionen Schilling davon
ABB8
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Deutsche Okkupation und die österreichische Wirtschaft
gegenüber Deutschland ; Seidel, 2005, S. 352)1 gegenüber, also knapp 1.400 Millionen Schilling. Angesichts des Handelsbilanzdefizits der „Ostmark“ gegenüber Drittstaaten von etwa 400 Millionen Schilling, das von der Reichsbank 1937 ziemlich korrekt prognostiziert worden war (Stiefel, 2001, S. 149), verblieben Deutschland netto etwa 1 Milliarde Schilling oder – umgerechnet zum Kurs von 2,17 Schilling je Reichsmark – rund 460 Millionen Reichsmark. Das entsprach weniger als einem deutschen Monatsimport des Jahres 1938 (ohne Österreich). Von der viel zitierten „Morgengabe“ blieb daher nicht viel übrig. Der Sozialpolitik dieser Periode bot sich ein ambivalentes Bild. Insbesondere in den beiden Friedensjahren zeigte sich das System in diesem Bereich eher von der positiven Seite : Zur rasch erreichten Vollbeschäftigung und Zunahme des Familieneinkommens traten die schon erwähnte Gewährung von Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfen, öffentlicher und betrieblicher Wohnbau sowie „Kraft-durch-Freude“-Fahrten. Die mit 1. Jänner 1939 vollzogene Einführung der deutschen Sozialversicherungsbestimmungen (Reichsversicherungsordnung, Angestelltenversicherungsgesetz, Reichsknappschaftsgesetz, Gesetz über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung) brachte unter anderem Altersrenten für Arbeiter. Diesen freundlichen Aspekten stand freilich von allem Anfang an die totale Zerschlagung aller Arbeitnehmerorganisationen gegenüber. Dieses Schicksal erlitt auch die im Ständestaat geschaffene Einheitsgewerkschaft. Aber auch die Position der Arbeitnehmer im Unternehmen wurde verschlechtert. An die Stelle der gewählten Betriebsvertrauensleute mit doch einiger Bewegungsfreiheit trat nunmehr der – ernannte – Betriebsobmann der Deutschen Arbeitsfront (DAF). Seine Position wurde erschöpfend auf folgende Weise umschrieben : „Das Verhältnis des Betriebsobmannes als des Vertreters der DAF und damit der NSDAP zum Betriebsführer ist das des Oberfeldwebels zum Kompaniechef “ (Starcke, 1940, S. 64, zitiert nach Klenner, 1953, S. 1347). Löhne und Arbeitsbedingungen wurden vom „Reichstreuhänder der Arbeit“, einem Reichsbeamten, festgesetzt (Klenner, 1953, S. 1348). Offenbar konnte in diesem das einzige Korrektiv gegenüber der starken Position des „Betriebsführers“ gesehen werden. Die Einführung eines Arbeitsbuchs und der Dienstverpflichtung sowie staatliche Sanktionen gegen „Arbeitsuntreue“, Arbeitsvertragsbrüche, Bummeln und Arbeits1 Der Autor dieser Zeilen kam in seiner Studie (Butschek, 1978, S. 54) zu etwas anderen Werten, da er vom letzten Wochenausweis der Oesterreichischen Nationalbank ausging und die Schätzung von Gabriel übernahm, während Seidel die Liquidationsbilanz heranzog und die Schätzung des Vermögens in Valuten und ausländischen Wertpapieren von Abs. An der Größenordnung ändert sich dadurch nichts Wesentliches.
Vom Boom zur Katastrophe
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verweigerung schränkten den Bewegungsspielraum des einzelnen Arbeitnehmers weiter ein (Tálos, 1993, S. 7). Diese Vorschriften wurden im Lauf des Krieges verschärft. Aber auch die Einführung der Reichsversicherungsordnung erwies sich als ambivalent. Einerseits brachte sie auch Leistungsverschlechterungen, wie eine Krankenscheingebühr sowie Beschränkungen der Krankenpflege für Angehörige (Tálos, 1988, S. 125). Andererseits verhinderten Übergangsbestimmungen offenbar, dass in der Leistungshöhe die neu eingeführten Altersrenten zu Buche schlugen. Allerdings kam es Anfang der Vierzigerjahre auch zu einigen weiteren Leistungsverbesserungen, wie der Einführung der Rentnerkrankenversicherung und der Erhöhung von Kinderzuschüssen (Tálos, 1993, S. 12). Der explosive Boom der Jahre 1938 und 1939 fand im Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sein Ende. In der ersten Phase der Kriegswirtschaft, der „Quasifriedenswirtschaft“, ohne tiefgreifende Änderungen des Wirtschaftssystems, nahm Österreich bereits eine Sonderstellung ein, weil kriegswichtige Großprojekte in Angriff genommen worden waren, die schon von ihrer Zielsetzung her vom Kriegsausbruch nicht beschränkt werden konnten. Daher wuchs beispielsweise die Bauindustrie im Gegensatz zum „Altreich“ kräftig (Butschek, 1978, S. 79). Die besondere Position der österreichischen Wirtschaft innerhalb Deutschlands wurde in der Phase des „totalen Krieges“ noch deutlicher sichtbar. Zunächst waren von der zweiten Hälfte des Jahres 1941 an mehrere der genannten Projekte fertiggestellt worden : So wurde der Hochofen der Hütte Linz angeblasen, in den Flugzeugwerken Wiener Neustadt begann die Produktion von Jagdflugzeugen, ebenso begann das Kugellagerwerk Steyr zu arbeiten und die Raffinerie Lobau nahm ihre Tätigkeit auf. Weiters wurden mit der Intensivierung des Luftkriegs über Deutschland immer mehr Betriebe nach Österreich verlegt, da sich dieses – der „Reichsluftschutzkeller“ – zunächst außerhalb der Reichweite alliierter Bomber befand. Damit expandierte die Industrie hier weitaus stärker als in Deutschland. Erst mit der Eroberung des italienischen Luftstützpunkts Foggia intensivierten sich die Angriffe auch auf Österreich, um ab Februar 1945 ihren Höhepunkt zu erreichen und schwerste Schäden insbesondere in der Industrieagglomeration um Wiener Neustadt zu verursachen. Gegen Kriegsende erfassten die Kampfhandlungen auch den Osten Österreichs, wogegen der Westen von Bodenkämpfen fast unberührt blieb.
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Deutsche Okkupation und die österreichische Wirtschaft
14.3 Okkupation und die Folgen
Die Analyse der ökonomischen und sozialen Entwicklung seit 1938 wird natürlich in keiner Weise der politischen Problematik gerecht. Österreich verlor durch die deutsche Okkupation seine Selbstständigkeit. Anstelle des autoritären Regimes trat ein totalitäres System, das auf brutalste Weise gegen alle Andersdenkenden vorging. Viele Anhänger des Ständestaates verschwanden ebenso in den Konzentrationslagern wie Sozialdemokraten und Kommunisten. Hauptleidtragende des Nationalsozialismus blieben die jüdischen Staatsbürger. Sie verloren ihre ökonomische Existenz, wurden unter entwürdigenden Bedingungen und praktisch völlig mittellos aus dem Land getrieben. Gelang ihnen die Flucht nicht, dann endeten sie in Konzentrationslagern. Österreich hat den damit verbundenen ungeheuren kulturellen Verlust nie gänzlich verwunden. Nicht so eindeutige Resultate zeitigt die Beurteilung der ökonomischen Folgen der Okkupation. Hier empfiehlt es sich, mittel- und langfristige Effekte zu unterscheiden. In ersterem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass die Produktions- und Einkommenssteigerungen der Jahre 1938 und 1939 durch den Krieg verloren gingen, ja noch mehr, dieser warf das österreichische Bruttoinlandsprodukt zunächst auf die Hälfte des Wertes von 1937 zurück. Österreich befand sich in einer noch schlechteren Position als die meisten direkt in den Krieg involvierten westeuropäischen Industriestaaten. Übersicht 54 : Die Rückschläge durch den Krieg, Bruttoinlandsprodukt je Einwohner zu konstanten Preisen 1945
1946 1937 = 100
Österreich1
55,2
Belgien
87,3
64,0 92,2
Dänemark
89,4
101,9
Frankreich
57,4
85,9
Italien
57,9
75,4
Niederlande
49,4
82,0
Norwegen
94,7
103,6
Quelle : Maddison, 2003. – 1 Berechnet nach Barro – Ursúa, 2007.
Dazu kamen die geschilderten politischen Folgen des Krieges. Die sehr extensive Interpretation des deutschen Eigentums durch die sowjetische Besatzungsmacht
Okkupation und die Folgen
261
führte dazu, dass die Mehrheit der Industriebetriebe in ihrer Zone der österreichischen Verfügungsmacht entzogen blieb. Im Gegensatz zu den westlichen Besatzungszonen war es im Osten nicht möglich, die deutschen Kriegsinvestitionen wiederaufzubauen und auf zivile Produktion umzustellen. Berücksichtigt man, dass Österreich durch den Staatsvertrag diesen Industriekomplex noch ablösen musste, dann gelangt man zu dem Ergebnis, dass die Republik durch die Kriegsfolgen weit stärker belastet worden war als Staaten, die Reparationen zu entrichten hatten, wie etwa Finnland (Seidel, 2005, S. 390). Der „Germanisierung“ der österreichischen Wirtschaft, welche die ältere Literatur in den Vordergrund gerückt hatte, kommt nur im Zusammenhang mit dem deutschen Eigentum negative Bedeutung zu. Denn es lag zunächst auf der Hand, dass die Verfügung über das öffentliche Eigentum mit entsprechenden Konsequenzen auf das Deutsche Reich überging. So vollzog dieses auch die Liquidation der Oesterreichischen Nationalbank. Dass deutsche Unternehmen österreichische erwarben, brachte mittelfristig eher eine wirtschaftliche Stärkung dieser mit sich, die sich häufig in einer expansiven Politik unter den gegebenen Umständen niederschlug. So versuchte die Creditanstalt-Bankverein, unter den neuen Eigentümern ihre ehemals dominierende Rolle im ostmitteleuropäischen Raum wiederzugewinnen (Feldman, 2005). Freilich existierten im Bereich der Banken und Versicherungen diese gewonnenen Vorteile zu Kriegsende nicht mehr, da die Unternehmen 1945 praktisch das gesamte Eigenkapital, das in Reichsmark-Papieren angelegt war, sowie auch die Beteiligungen in dieser Region verloren hatten. Dort war auch kein neues Humankapital entstanden. Schwierig zu beantworten ist die Frage nach den langfristigen Effekten. Vor allem jene, wie sich die österreichische – und auch die europäische – Wirtschaft unter Friedensbedingungen entwickelt hätte. Nach der Weltwirtschaftskrise erzielte der Westen im Allgemeinen ein äußerst mäßiges Wachstum. Nach heutigen Erfahrungen lässt sich kaum sagen, wann und warum eine Beschleunigung zustande gekommen wäre. Selbst der Einsatz des keynesianischen Instrumentariums vermochte die Situation oft nicht grundlegend zu ändern. Möglicherweise wäre die Wirtschaft längerfristig einem zweiprozentigen Expansionspfad gefolgt, einem solchen, der von vielen Autoren als das „natürliche“ Wachstum betrachtet wird. Klammert man die menschlichen und materiellen Verwüstungen des Krieges aus, dann ließe sich sagen, dass in Österreich der Rückschlag durch den Krieg 1950 ausgeglichen worden wäre. Unterstellt man unter ziemlich optimistischen Annahmen eine dreiprozentige Wachstumsrate, wäre der Einbruch erst 1956 kompensiert worden. Die nach diesem Zeitpunkt fortgesetzte extrem dynamische Wirtschaftsent-
262
Deutsche Okkupation und die österreichische Wirtschaft
wicklung – das „Goldene Zeitalter“ – lässt sich nicht mehr mit den kriegerischen Ereignissen in Zusammenhang bringen. Abbildung 9 : Hypothetische1 und tatsächliche Wirtschaftsentwicklung 1934 bis 1960 Tatsächlich
200
1934 = 100
3%
2%
150
100
1960
1958
1956
1954
1952
1950
1948
1946
1944
1942
1940
1938
1936
1934
50
Quelle : Eigene Berechnungen. – 1 Hypothetisches jährliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von real 2 % bzw. 3 %.
Anders ist die Situation in der Industrie zu beurteilen. Hier wird man sich den zuvor erwähnten Argumenten anschließen können, die auf langfristige strukturelle Effekte der Kriegsinvestitionen hingewiesen hatten. Dadurch verlagerte sich das Schwergewicht der österreichischen Industrie von der traditionellen Konsumgütererzeugung zu den Grundstoffen, Vormaterialien, dauerhaften Konsumgütern und zur Bauwirtschaft. Dabei gingen vor allem in den erstgenannten Bereichen die Kapazitäten weit über die Inlandsnachfrage hinaus. Gerade diese Unternehmen wurden die Träger des österreichischen Nachkriegsexports. Eine weitere Strukturverschiebung vollzog sich in Richtung des effizienten Großunternehmens. Die Besatzungszeit führte vermutlich auch zu erheblichen Investitionen in Humankapital ; die Erfahrung eines kurzen, aber explosiven Booms sowie das Kennenlernen der technisch-organisatorischen Basis der seit mehreren Jahren auf Hochtouren laufenden Wirtschaft einer industriellen Großmacht vermittelten Kenntnisse und Verhaltensweisen, die in der Nachkriegszeit wirksam wurden. Ähnliche Effekte
ABB9
Okkupation und die Folgen
263
scheinen auch als Folge der Okkupation anderer Länder, wie etwa Hollands, aufgetreten zu sein (Kleman, 2006, S. 13). Auch vollzog sich eine grundlegende regionale Umschichtung von Produktion und Einkommen im Land. Zwar existieren keine durchgehenden Datenreihen, die darüber präzise Auskunft geben könnten, doch existieren immerhin solche Schätzungen bis zum Ersten Weltkrieg (Good – Ma, 1998, S. 153). Diese Daten spiegeln die Regionalentwicklung der fortschreitenden Industrialisierung in diesem Raum mit der Konzentration auf Wien und sein Umland. Zwischen 1870 und 1910 übertraf das Pro-Kopf-Einkommen dieser Region jenes der Bundesländer ziemlich konstant um ein Drittel. Bedenkt man überdies, dass die Daten für Niederösterreich den Durchschnitt der gesamten Ostregion drücken mussten, dann lässt sich sagen, dass das Einkommen Wiens allein etwa doppelt so hoch gelegen sein muss wie im übrigen Bundesgebiet. Diese Situation dürfte sich zwar tendenziell auch schon zwischen den Kriegen gewandelt haben. Da die wirtschaftlichen Probleme der Ersten Republik jedoch auch die westlichen Landesteile betrafen, mussten sich die Veränderungen vorerst in engen Grenzen gehalten haben. Eine massive Verschiebung der regionalen Produktionsstruktur vollzog sich erst während sowie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Die umfangreichen Investitionen der Deutschen begünstigten diesen Prozess. Ähnliche Effekte entstanden durch den Ausbau der Wasserkraft. Auch floss bei Weitem der größte Anteil von ERP-Investitionen in diese Region. Umgekehrt litten die östlichen Bundesländer unter dem sowjetischen Besatzungsregime. Und sicherlich spielte für die Wirtschaftsentwicklung auch der Umstand eine Rolle, dass bereits in den Fünfzigerjahren in Westeuropa eine stärkere Wirtschaftsbelebung eingesetzt hatte, von der die westlichen Bundesländer infolge der schon bald relativ offenen Grenzen Nutzen zogen, vor allem deshalb, weil sie zwischen den expansiven süddeutschen und oberitalienischen Wirtschaftsräumen lagen, mit denen sie auch verkehrsmäßig eng verflochten waren. Dennoch wird man sagen können, dass die deutsche Investitionspolitik für die Verschiebung von Real- und Humankapital in den Westen eine wichtige Rolle gespielt hat (siehe Kapitel 16.4). Letztlich begünstigte die Okkupation auch eine regionale Umstellung des österreichischen Außenhandels, eine prinzipielle Gewichtsverlagerung vom Osten in den Westen : Dieser Prozess war in der Ersten Republik allmählich in Gang gekommen. Der „Anschluss“ erzwang eine totale Umorientierung, der dominierende Außenhandelspartner wurde Deutschland – auch wenn der Handel mit den Nachfolgestaaten großteils intakt blieb. Diese Umstellung musste in dem Augenblick eine solche zu den westlichen Industriestaaten bedeuten, in dem Deutschland deren integrierender Bestandteil geworden war (Butschek, 1978, S. 112).
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Deutsche Okkupation und die österreichische Wirtschaft
Doch wäre es verfehlt, diese wachstumsfördernden Strukturänderungen als „Anschluss an die technologische und industrielle Moderne“ zu sehen (Maimann, 2005). Trotz aller Probleme zählte die österreichische Wirtschaft auch vor 1938 zu den entwickelten westlichen Industriestaaten. Die beschriebenen Veränderungen eröffneten ihr nur zusätzliche Möglichkeiten. Es war ungewiss, ob und wie angesichts der massiven Belastungen durch Krieg und Kriegsfolgen diese ausgeschöpft werden würden. Da die in der Zeit zwischen 1938 und 1945 geschaffenen Produktionskapazitäten zu Kriegsende schwer beschädigt waren und erst mit beträchtlichem Aufwand wieder in Gang gesetzt werden konnten (insbesondere in der Grundstoffindustrie), müssen die Kapazitätserweiterung und die Umstellung auf Friedensproduktion der Aufbauleistung nach dem Krieg gutgeschrieben werden (Kernbauer – Weber, 1988, S. 62).
15. Erfolgreicher Wiederaufbau
15.1 Ambivalente Bedingungen
Der österreichische Wiederaufbau nach 1945 vollzog sich außerordentlich erfolgreich. Das erstaunt im Vergleich zu jenem nach 1918 deshalb, weil die Bedingungen dafür nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich schlechter zu sein schienen als nach dem Ersten. Das galt zunächst auch für die politischen : Wiewohl 1938 vom nationalsozialistischen Deutschen Reich okkupiert, daher als Staat nicht am Zweiten Weltkrieg beteiligt und in der Moskauer Deklaration auch von den Alliierten grundsätzlich als befreites Land betrachtet, blieb es von diesen militärisch besetzt und in seiner Souveränität eingeschränkt. Beschlüsse von Regierung und Parlament waren der Kontrolle des Alliierten Rates unterworfen (erstes Kontrollabkommen vom 24. Juli 1945, zweites Kontrollabkommen vom 28. Juni 1946). Diese ursprünglich wohl nur für eine begrenzte Zeit nach Kriegsende vorgesehene Konstruktion hatte durch den Ost-West-Konflikt Dauercharakter angenommen, wenngleich sie im Lauf der Jahre immer weniger spürbar wurde. Die Auflockerung des politischen Systems in der Sowjetunion nach Stalins Tod ermöglichte schließlich 1955 den Abschluss des Staatsvertrags. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der zeitlichen Abgrenzung dieser Wiederaufbauperiode. Im politischen Bereich kann man hier von einer deutlichen Zäsur sprechen, weil die volle Souveränität des Landes eben erst 1955 erreicht wurde. Für die wirtschaftliche Entwicklung lässt sich das nicht sagen. Hier sind andere Kriterien relevant. So wurde das Niveau des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner für 1937 bereits 1949 erreicht. Zieht man jenes unter der deutschen Besetzung, also 1939, heran, 1951. Als entscheidenden Bestimmungsgrund wird man wohl auch das Wirtschaftssystem betrachten können, welches erst nach der Stabilisierung 1952 als überwiegend marktwirtschaftlich eingeschätzt werden kann. Abgesehen von den in den vier Besatzungszonen eingerichteten Militärverwaltungen ergriffen auch die österreichischen Politiker 1945 sehr rasch die Initiative zur Schaffung provisorischer Regierungen sowohl auf Bundes- als auch Landesebene. Bereits am 27. April 1945 wurde die Bildung der provisorischen Staatsregierung unter dem Vorsitz des Staatskanzlers, Karl Renner, eingeleitet. Eine Konzentrationsregierung von Sozialistischer Partei Österreichs (SPÖ), Österreichischer
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Erfolgreicher Wiederaufbau
Volkspartei (ÖVP) und Kommunistischer Partei Österreichs (KPÖ) konnte zwar zunächst nur in der sowjetischen Besatzungszone ihre Tätigkeit ausüben, nach der Länderkonferenz in Wien im September 1945 und nach Zustimmung der westlichen Alliierten aber im gesamten Bundesgebiet. Als Konsequenz der Nationalratswahl im November 1945, welche der ÖVP die absolute Mehrheit brachte, etablierte sich eine Koalition aus dieser unter Bundeskanzler Leopold Figl und der SPÖ unter Vizekanzler Adolf Schärf. Zwei Jahre gehörte ihr auch noch der kommunistische Energieminister Karl Altmann an, der jedoch 1947 ausschied, weil er das Währungsschutzgesetz dieses Jahres nicht akzeptieren wollte. Die materiellen Bedingungen des Wiederaufbaus schienen noch schlechter zu sein. Der Krieg hatte in der österreichischen Wirtschaft schwerste Zerstörungen hinterlassen. Die meisten industriellen Produktionsanlagen waren durch Luftangriffe oder Bodenkämpfe vernichtet oder beschädigt worden, ebenso wie Brücken und große Teile des Schienen- und Straßennetzes. Kraftfahrzeuge und das rollende Material waren zum erheblichen Teil verloren gegangen, Wohnungen waren ganz oder teilweise zerstört, viele Menschen umgekommen oder noch in Gefangenschaft. Die Bevölkerung, insbesondere in Ostösterreich, hungerte. 1 Million alliierter Soldaten stand im Bundesgebiet und nahm Wohnraum sowie Infrastruktur in Anspruch, was umso schmerzlicher empfunden wurde, da von insgesamt 1,9 Millionen Wohnungen 76.000 total und 101.000 teilweise zerstört waren (Rothschild, 1961, S. 104). Dem vollkommen devastierten Land wurden überdies zunächst enorme Besatzungskosten auferlegt. Schätzungsweise beliefen sich diese 1946 auf ein Sechstel und 1947 auf 6 % des Bruttoinlandsprodukts (Seidel, 2005, S. 130). Die Einwände der Staatsregierung, dass man einem befreiten Staat nicht die Kosten einer extrem starken Besatzung auferlegen könne, wurden ignoriert. Die einzelnen Besatzungszonen blieben zunächst hermetisch voneinander abgeschlossen. Ein personeller oder wirtschaftlicher Verkehr kam zwischen ihnen kaum zustande und wenn, dann im Wege von Austauschgeschäften wie mit dem Ausland. Der Arbeitsmarkt hatte schon durch den Verlust der jüdischen Bevölkerung massiv hoch qualifizierte Arbeitskräfte eingebüßt, dazu kamen Abwanderungen nach Deutschland, sodass Österreich 1939 einen Wanderungsverlust von 129.000 Personen zu verzeichnen hatte. Dazu kamen rund 1 Million Kriegsteilnehmer, welche sich noch zum erheblichen Teil in Kriegsgefangenschaft befanden. Die aus ihren Heimatländern ausgewiesenen „Volksdeutschen“ konnten die fehlenden Arbeitskräfte nicht ersetzen. Das Angebot an unselbstständigen Arbeitskräften wurde für 1945 auf 1,5 Millionen geschätzt, gegenüber einem solchen von 2 Millionen 1937 (Butschek, 1978, S. 122). Diese Situation muss allerdings dahin differenziert werden, als besonders manuelle Arbeitskräfte nachgefragt wurden, wogegen Angestellten-
Ambivalente Bedingungen
267
qualifikationen ausreichend vorhanden waren. Auf diese Weise konnte gleichzeitig Arbeitskräfteknappheit und Arbeitslosigkeit entstehen (WIFO-Monatsberichte, 1947, 20 [1/3]). Erschwerend wirkte die spezifische Politik der sowjetischen Besatzungsmacht. Grundsätzlich war nicht vorgesehen, dass Österreich als befreites Land Reparationen zu zahlen hätte. Die Sowjetunion betrachtete es jedoch in diesem Zusammenhang nicht als solches, sondern als „erobertes“ Gebiet, in welchem Beute gemacht werden konnte. Sie ging daher in ihrer Besatzungszone – auch im provisorischen Teil derselben, der Steiermark – daran, Vorräte sowie Anlagegüter in großen Stil zu requirieren und zu demontieren. Der Wert dieser verlorenen Güter wird (zu Preisen von 1945) auf 1,5 Milliarden Reichsmark geschätzt (Seidel, 2005, S. 395). Dazu kam die Problematik des sogenannten „deutschen Eigentums“. Auf der Potsdamer Konferenz war 1945 den Siegermächten die Nutzung des „deutschen Eigentums“ im Ausland zugesprochen worden. Davon war in Österreich eine Vielzahl von Unternehmen betroffen. Unmittelbar nach der Konferenz trat die Sowjetunion an die provisorische Bundesregierung mit dem Vorschlag heran, eine sowjetisch-österreichische Gesellschaft zur Ausbeutung sämtlicher Erdölquellen auf dem Gebiet der Republik zu gründen. Diese Gesellschaft, welche unter der Leitung eines russischen Generaldirektors zu stehen gehabt hätte, sollte über ein Aktienkapital von 27 Millionen Dollar verfügen. Die Sowjetunion wollte von ihrer Hälfte 12 Millionen in Form des beschlagnahmten deutschen Eigentums einbringen, Österreichs Bohrkonzessionen wurden mit 500.000 Dollar bewertet, der Rest war bar in Dollar zu bezahlen. Gleichzeitig sollte ein Handelsvertrag mit der Sowjetunion abgeschlossen werden. Die gemeinsame Gesellschaft wurde aus rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Gründen vor allem über Initiative des damaligen Vizekanzlers Schärf abgelehnt, worauf die Sowjetunion auch am Abschluss des Handelsvertrags kein Interesse mehr zeigte (Schärf, 1955, S. 64). Sie schlug nun einen anderen politischen Weg gegenüber der österreichischen Wirtschaft ein. So unterstellte sie mit Befehl Nummer 17 vom 27. Juni 1946 in ihrer Besatzungszone sämtliche Unternehmen deutschen Eigentums in Industrie, Verkehr und Landwirtschaft ihrer Verwaltung. Dazu gehörten so wichtige Betriebe, wie die Mineralölförderung und -verteilung sowie die Donau-Dampfschifffahrtsgesellschaft, aber beispielsweise auch die Esterházyschen Güter. Die österreichische Bundesregierung versuchte, diese Bestimmung der Potsdamer Konferenz zu unterlaufen, indem sie mit dem ersten Verstaatlichungsgesetz vom 26. Juli 1946 einen Großteil der betroffenen Unternehmen nationalisierte. Die Verstaatlichung wurde jedoch von der Sowjetunion nicht anerkannt.
268
Erfolgreicher Wiederaufbau
Sie fasste die Industriebetriebe in einem eigenen Konzern, der USIA, zusammen, welchem sie gleichsam exterritorialen Charakter verlieh, das heißt, dass dieser in vielen Bereichen nicht den österreichischen Gesetzen unterworfen war. Daher entrichteten sie keine Steuern und anfänglich auch keine Sozialversicherungsbeiträge. Die von diesen Betrieben erwirtschafteten Erträge wurden nur in geringem Ausmaß zu Investitionen verwendet ; die sowjetische Geschäftspolitik war auf kurzfristige Profitmaximierung gerichtet. Gewinne und Deviseneinnahmen dürften häufig außerhalb Österreichs verwendet worden sein, das heißt, dass ein erheblicher Teil der durch diese Betriebe erzielten Wertschöpfung Österreich nicht zugute kam. In den Fünfzigerjahren ging die USIA dazu über, ihren Produktions- und Dienstleistungsbetrieben eine Handelskette anzuschließen, die relativ billige Waren anbot, weil sie eben keine Steuer entrichtete. Allerdings wurden diese Läden von einem Teil der österreichischen Bevölkerung boykottiert. Angebote der sowjetischen Besatzung zur Kooperation mit den Behörden und den Unternehmen des Landes, falls das sowjetische Eigentum an diesen von der österreichischen Regierung anerkannt würde, wies die Bundesregierung eben aus den genannten rechtlichen Gründen zurück. Auf unterer, quasi offiziöser, Ebene kam jedoch eine Zusammenarbeit durch Abkommen zwischen den Fachverbänden der Industrie und einzelnen USIA-Betrieben zustande (Seidel, 2005, S. 409). Freilich erwiesen sich manche der geschilderten Nachteile weniger gravierend als zunächst angenommen oder sie verloren im Lauf der Wiederaufbauperiode an Bedeutung. Zunächst zeigte sich, dass die Produktionskapazitäten des Bundesgebiets – wie bereits erwähnt – trotz aller Zerstörungen und Demontagen in der sowjetischen Besatzungszone infolge der umfangreichen Investitionen während des Krieges im Großen und Ganzen jenen des Jahres 1937 entsprachen. Diese konnten ausgeschöpft werden, sobald ausreichend Energie und Rohstoffe zur Verfügung standen. Deren Mangel war die Ursache dafür, dass im August 1946 in der Industrie nur halb so viel produziert wurde, wie es die Produktionskapazitäten erlaubt hätten (Butschek, 1985, S. 69). Weiters erwies sich, dass die materiellen Schäden an den Produktionsanlagen relativ rasch beseitigt werden konnten, weil dem Humankapital hierbei die zentrale Rolle zukam und die entsprechend qualifizierten – und motivierten – Arbeitskräfte vorhanden waren. Auch wäre es verfehlt, anzunehmen, die Besatzung hätte ausschließlich negative Konsequenzen für die österreichische Wirtschaft gezeitigt. Gerade unmittelbar nach dem Krieg sorgten die ausländischen Mächte oftmals dafür, dass ein Mindestmaß an Verwaltungstätigkeit zustande kam und sicherten auch in vielen Regionen eine Grundversorgung mit Lebensmitteln. Darüber hinaus ergriffen sie oftmals die Initiative, um die Wiedererrichtung insbesondere der Verkehrsinfrastruktur einzu-
Ambivalente Bedingungen
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leiten – wofür freilich auch militärische Überlegungen maßgebend waren. Überdies sorgten sie auch für die äußere Sicherheit. Auch verringerte sich die Belastung durch die ausländische Besatzung im Zeitablauf beträchtlich. So wurde die Zahl der Besatzungstruppen – vor allem in den westlichen Zonen – drastisch reduziert. Dasselbe galt für die Besatzungskosten, welche zunächst die USA, später auch die übrigen Mächte Österreich überhaupt erließen. Der innerstaatliche Verkehr erfolgte in den westlichen Besatzungszonen in Kürze frei, nur die Sowjetunion behielt sich eine gewisse Kontrolle vor. Schließlich bedeutet die Übernahme der Besatzungskosten durch die Alliierten eine Art Fremdenverkehrseinnahmen. Dazu kamen aber auch ausgesprochene Begünstigungen. An erster Stelle wäre hier die Auslandshilfe zu nennen. Im Gegensatz zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Sieger seine ökonomischen Folgen nicht abzuschätzen vermochten (Keynes, 1920), hatten die angelsächsischen Mächte diesmal ein sehr klares Nachkriegskonzept ausgearbeitet. Waren die USA nach dem Ende des Ersten Weltkriegs noch aus den europäischen Angelegenheiten ausgeschieden, übernahmen sie nunmehr die Verantwortung für die Entwicklung der gesamten Weltwirtschaft. Noch während der Kampfhandlungen führten die Verhandlungen vor allem der angloamerikanischen Mächte nicht nur zur Gründung der Vereinten Nationen, sondern auch zur Schaffung eines Systems internationaler Wirtschaftsbeziehungen, welches unter dem Namen von „Bretton Woods“ bekannt geworden ist. Dieses umfassende, über das zitierte eigentliche Abkommen weit hinausgehende, System umfasste große Bereiche, wie Geld- und Währungspolitik, Außenhandels- sowie Konjunktur- und Beschäftigungspolitik. Es beruhte auf dem Grundsatz des freien Flusses von Waren, Dienstleistungen und Zahlungen, ging aber in seinen Zielsetzungen noch insoweit darüber hinaus, als es auch für die binnenwirtschaftlichen Aktivitäten der Staaten bestimmte Prioritäten vorgab. Es waren fixe Wechselkurse vorgesehen, die sich jedoch nicht, wie im Goldstandard erwartet, quasi automatisch ergaben, sondern durch die staatliche Geldpolitik anzustreben waren. Dieses Ziel sollte aber bei voller Konvertibilität der Währungen erreicht werden. Der Außenhandel hatte sich auf Basis der Nichtdiskriminierung unter Beachtung der Meistbegünstigung zu vollziehen. Der weitgehende Abbau der Handelshemmnisse tariflicher und nichttarifarischer Art wurde angestrebt ; der Einsatz solcher Mittel im Fall von Leistungsbilanzschwierigkeiten blieb untersagt. Dennoch wurde von jeder Regierung erwartet, dass sie eine Politik der Vollbeschäftigung, jedoch unter Bedingungen der Preisstabilität und einer ausgeglichenen Leistungsbilanz, betreibe ; Letzteres jedoch allein durch wirtschaftspolitische Maßnahmen im Inland. Dieser Verhaltenskodex erhielt seine Basis dadurch, dass alle teilnehmenden
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Erfolgreicher Wiederaufbau
Länder die gesetzten Ziele nicht nur gemeinsam anstreben sollten, sondern einander im Verfolgen dieser Bemühungen beistehen würden (Möller, 1981, S. 147). Durch das Abkommen von Bretton Woods vom Juli 1944 über die Gründung des Internationalen Währungsfonds (IMF) und der Weltbank wurden die Instrumente dieses Systems etabliert. Ersterem, der durch Einzahlungen der Mitgliedstaaten in nationaler Währung sowie in Gold oder Dollar gespeist wurde, oblag die Unterstützung der Mitgliedstaaten im Fall kurzfristiger Zahlungsbilanzungleichgewichte, wogegen die Weltbank, die sich auf dem internationalen Kapitalmarkt zu refinanzieren hatte, längerfristige Projekte ermöglichen sollte. Beide Institutionen konnten schon 1946 ihre Tätigkeit aufnehmen. Bereits zu Anfang desselben Jahres berief der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen eine Konferenz ein, deren Zweck die Schaffung einer internationalen Handelsorganisation war. Dieses Ziel wurde durch die Formulierung und Verabschiedung der „Havanna-Charta“ erreicht. Das Abkommen gelangte zwar – mit Ausnahme von zwei Staaten – nie zur Ratifizierung, doch einigte man sich auf die Hauptpunkte : Nichtdiskriminierung und Beseitigung der Handelshemmnisse in der Form des „General Agreement on Tariffs and Trade“ (GATT). Dieses Provisorium hielt bis zur Schaffung der World Trade Organization (WTO) mit 1. Jänner 1995. Natürlich bedeuteten all diese Institutionen und Organisationen bestenfalls ein Versprechen für die Zukunft. Sie unterstellten eine „normale“ internationale Wirtschaft ; also eine solche, welche die Kriegsschäden beseitigt hatte, durch den Markt koordiniert wurde und sich tendenziell im binnen- sowie außenwirtschaftlichen Gleichgewicht befand. Davon konnte im Zeitpunkt, da IMF und Weltbank ihre Tätigkeit aufnahmen, keine wie immer geartete Rede sein. Die Reglementierung der einzelnen Volkswirtschaften unterschied sich nur graduell und zeitlich. Selbst die amerikanische, welche die Anforderungen des Krieges ohne besondere Anspannungen und Probleme bewältigt hatte, kannte bis 1946 verschiedene regulative Eingriffe, wie etwa den Preisstopp. In den europäischen Volkswirtschaften, welche durch die Kämpfe in ganz anderer Weise in Anspruch genommen worden waren, gingen diese Eingriffe viel weiter, manche Länder ließen sich durchaus als Zentralverwaltungswirtschaften bezeichnen. Damit fehlten zunächst fast alle Voraussetzungen zur Realisierung der angestrebten internationalen Wirtschaftsverfassung, umso mehr, als manche Regierung zunächst gar nicht daran dachte, von gewissen Eingriffen in den Marktprozess prinzipiell abzugehen, weil sie einen staatlich geplanten Wiederaufbau anstrebte, wie sich das etwa im französischen „Monnet-Plan“ ausdrückte. Nun hatten die USA damals durchaus eine derartige Entwicklung vorausgesehen. Es war ihnen klar, dass vor allem die vom Krieg verheerte europäische
Ambivalente Bedingungen
271
Wirtschaft zunächst wieder aufgebaut werden musste, bevor die neue internationale Wirtschaftsverfassung Wirklichkeit werden konnte. Dieses Ziel versuchten sie auf zweierlei Weise zu erreichen. Zunächst wurde eine Organisation der Vereinten Nationen geschaffen, die UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), deren Aufgabe es war, durch unentgeltliche Lieferungen von Lebensmitteln und Saatgut die unmittelbare Not der Nachkriegszeit zu mildern und auf diese Weise den Staaten von der Leistungsbilanz her Bewegungsspielraum zum Wiederaufbau zu schaffen. Der zweite – traditionelle – Weg bestand im Einräumen recht umfangreicher Kredite. Bis Mitte 1947 gewährten die USA den europäischen Ländern solche in der Höhe von insgesamt 10 Milliarden Dollar (Tumlir – La Haye, 1981, S. 369), was nicht weit unter den späteren MarshallplanGeldern von 13 Milliarden Dollar lag. Diese Methode schien sich auch zu bewähren. Das Jahr 1946 erbrachte beträchtliche Erfolge für die europäischen Wirtschaften. Der Wiederaufbau schien zügig vonstatten zu gehen. Doch erfolgte 1947 ein gewisser Rückschlag, der damit erklärt wurde, dass der Winter 1946/47 außergewöhnlich streng war und ihm überdies eine schlechte Ernte folgte. Dieser Einbruch führte zu Leistungsbilanzverschlechterungen, vor allem aber zu direkten Versorgungsschwierigkeiten. Diese Reaktion charakterisierte die Organisation der meisten damaligen Volkswirtschaften, welche eben noch durch ein hohes Maß an Regulierung gekennzeichnet waren. Sinnfälliger Ausdruck der Gegebenheiten wurde ein Phänomen, das im Lauf dieser Jahre unter dem Namen „Dollarknappheit“ bekannt wurde. Mit diesem Begriff sollte eine Situation beschrieben werden, in welcher fast alle Staaten eine ungeheure Nachfrage nach amerikanischen Waren entwickelten, der eine völlig unzureichende Dollarmenge aus laufenden Einnahmen gegenüberstand. Daran änderten auch die bis dahin realisierten Hilfsmaßnahmen der USA nichts, die Goldund Dollarbestände nahmen trotz Devisenbewirtschaftung und Importkontrollen Ende der Vierzigerjahre laufend ab (Seidel, 1951, S. 20 ; über die internationale Diskussion dieses Begriffs siehe auch Butschek, 1985, S. 86). Die Krise des Jahres 1947 wurde politisch noch dadurch verschärft, dass sich die neu geschaffenen Einrichtungen der internationalen Währungsordnung von Bretton Woods außerstande sahen, den europäischen Staaten in dieser Situation Hilfe zu leisten. Der Währungsfonds begründete seine Ablehnung damit, dass er erklärte, nur für kurzfristige Zahlungsbilanzschwierigkeiten einzelner Länder zuständig zu sein, nicht aber für Struktur- und Anpassungskrisen einer gesamten Region. Das wäre zwar sicherlich Angelegenheit der Weltbank gewesen, welcher es allerdings in dieser Situation nicht gelang, sich ausreichend auf den internationalen Kapitalmärkten zu refinanzieren. Es liegt auf der Hand, dass diese Weigerung, Hilfe zu
272
Erfolgreicher Wiederaufbau
leisten, die europäischen Länder außerordentlich verstimmte und die Zweckmäßigkeit sowie auch das mögliche Funktionieren des neuen Weltwirtschaftssystems infrage stellte. Dazu gesellte sich noch ein weiterer – sehr gewichtiger – politischer Aspekt. Die USA waren bei ihren Initiativen zur Schaffung einer Friedens- und Wirtschaftsordnung für die Zeit nach dem Krieg von der Vorstellung einer einheitlichen Welt ausgegangen, in welcher es möglich sein werde, diese Ziele auf der Basis von Nationalstaaten mit funktionierender parlamentarischer Demokratie oder zumindest von vertrauensvoller Zusammenarbeit unterschiedlicher politischer Systeme zu realisieren. Diese Vorstellung erwies sich jedoch als vollkommen verfehlt. Die USA sahen sich seit Kriegsende in der Sowjetunion nicht nur einem System gegenüber, das den eigenen Vorstellungen krass widersprach, sondern – entgegen manchen Erwartungen – nicht die geringste Neigung zeigte, sich der Demokratie anzunähern. Dieses System interpretierte die Vereinbarungen von Jalta über die wechselseitigen Einflusssphären in der Weise, dass die betreffenden Staaten der kommunistischen Ordnung eingegliedert und darüber hinaus Initiativen entwickelt wurden, auch in Ländern der westlichen Ingerenz, wie in Italien und Frankreich, Fuß zu fassen (Mason, 1948, S. 292). All diese Tatsachen veranlassten die USA, zu handeln. Zwar hielten sie an ihrem ursprünglichen Anliegen insoweit fest, als das neue liberale Wirtschaftssystem politisches Ziel blieb, freilich mit der wesentlichen Modifikation, dass es nicht mehr eine Weltwirtschaftsordnung sein konnte, da die Sowjetunion und die ihr alliierten Staaten daran nicht teilnehmen würden. Darüber hinaus ließen die USA den Weltordnungsaspekt dadurch weiter in den Hintergrund treten, als sie ihre außenwirtschaftspolitischen Maßnahmen auf Europa konzentrierten. In seiner Rede vom 5. Juni 1947 an der Harvard-Universität skizzierte der amerikanische Außenminister George Marshall die neue Form der amerikanischen Wirtschaftshilfe für Europa, das European Recovery Program (ERP). Angesichts ihrer politischen Dimension wurde die Frage danach, ob die Anpassung der europäischen Volkswirtschaften an die ökonomischen Gegebenheiten über den Marktmechanismus allein mit notwendigerweise restriktiven Maßnahmen erfolgen sollte, gar nicht gestellt, sondern darauf hingearbeitet, jene mittels der Marshall-Hilfe in den Markt sozusagen hineinwachsen zu lassen, also den allgemeinen Lebensstandard nicht zu reduzieren, sondern, im Gegenteil, möglichst laufend zu steigern. Die Realisierung des neuen Wirtschaftssystems wurde durch die Bedingungen sichergestellt, an welche die Hilfe gebunden war. Damit entstand ein neues wirtschaftspolitisches Instrument, welches dazu diente, mehrere Ziele zu verwirklichen :
Ambivalente Bedingungen
273
– der Wiederaufbau der westeuropäischen Wirtschaften sollte letztlich doch zu der ursprünglich angestrebten internationalen Wirtschaftsordnung, zumindest auf regionaler Basis, führen, – durch wirtschaftspolitische Kooperation sollten die Möglichkeiten zur Selbsthilfe der an dem Programm teilnehmenden Staaten mobilisiert und – damit auch die politische Einbindung der Teilnehmerstaaten in den Bereich der westlichen parlamentarischen Demokratien intensiviert werden. Schließlich konnten auf diese Weise die westlichen Besatzungszonen Deutschlands relativ rasch in die demokratische Staatengemeinschaft aufgenommen, aber doch kontrolliert werden. Diesem Vorhaben kam nicht nur vom Gesichtspunkt der europäischen Integration große Bedeutung zu, sondern auch deshalb, weil die in erheblichem Ausmaß brachliegenden deutschen Industriekapazitäten wieder die Aufgabe übernehmen konnten, Europa mit Investitionsgütern zu versorgen, gleichzeitig aber einen Absatzmarkt mit hoher Aufnahmekapazität zu bieten – mit anderen Worten, zur Schließung der Dollarlücke beizutragen und damit von der US-Hilfe unabhängig zu werden (Berger – Ritschl, 1995). Im Juli 1947 traten in Paris Experten der westlichen Industriestaaten zusammen, um den voraussichtlichen Bedarf an amerikanischer Hilfe bis 1952 zu errechnen und die Grundlinien der Zusammenarbeit im Rahmen einer internationalen Wirtschaftsorganisation festzulegen. In der Folge dieser ersten Konferenz kam es zur Gründung der OEEC (Organization for European Economic Cooperation), eben jenem Instrument, welches die beschriebenen Ziele verwirklichen und die europäischen Vorstellungen der zuständigen amerikanischen Behörde, der Economic Cooperation Agency (ECA), präsentieren sollte. Daneben jedoch schlossen die USA mit jedem einzelnen Teilnehmerstaat des Marshall-Plans einen individuellen Vertrag, in welchem die Zusammenarbeit mit der OEEC und den USA, eine Wirtschaftspolitik in Richtung der angestrebten internationalen Wirtschaftsordnung sowie Verwaltung und Verwendung der Marshallplan-Hilfe geregelt wurden. Vor diesem Hintergrund verdienen noch zwei Aspekte hervorgehoben zu werden, welche den Marshall-Plan charakterisieren : Zunächst wurde der weitaus überwiegende Teil der Hilfe den betroffenen Staaten als Geschenk zur Verfügung gestellt, allerdings auf eine solche Weise, dass die Käufer von Gütern aus dem Dollar-Raum deren Preis in der Landeswährung in einen „Counterpart-Fonds“ an der jeweiligen Notenbank einzahlten und jener die ihm auf diese Weise zugeflossenen Mittel als niedrig verzinste langfristige Kredite, im Zusammenwirken mit der amerikanischen ERP-Verwaltung, Investoren zur Verfügung stellte.
274
Erfolgreicher Wiederaufbau
Letztlich wäre in diesem Zusammenhang noch einmal zu unterstreichen, dass damals die USA weitaus realistischer an die Probleme heranging als anlässlich der „Wende“ im Osten. Es war den Politikern und ihren Wirtschaftsberatern klar, dass die Überleitung der Planwirtschaften des Krieges zu einer liberalen Marktwirtschaft nicht mit einem Schlag möglich sei, obwohl in all diesen Ländern die Institutionenstruktur einer Marktwirtschaft vom Rechtssystem bis zu den Verhaltensweisen der Wirtschaftssubjekte gegeben war. Es wurde nicht nur ein sehr vorsichtiger, schrittweiser Umstellungsprozess für die europäischen Volkswirtschaften ins Auge gefasst ; im Gegenteil, die ERP-Hilfe war sogar auf Planung aufgebaut. Diese Zusammenhänge und Erfahrungen wurden von den Politikern und Ökonomen der Gegenwart in den USA und den internationalen Körperschaften vollkommen ignoriert, mit entsprechenden Folgen : Während die europäischen Nachkriegswirtschaften stürmisch wuchsen, erlitten die ehemals sozialistischen Staaten in den ersten Jahren nach der Wende schwere Rückschläge (Butschek, 1999B). Die ERP-Hilfe erwies sich als von entscheidender Bedeutung für den Wiederaufbau der österreichischen Wirtschaft. Sie erreichte hier nach Norwegen den zweithöchsten Pro-Kopf-Wert von allen in das Programm eingeschlossenen europäischen Staaten und überstieg einige Jahre 10 % des Bruttoinlandsprodukts (Seidel, 2005, S. 286). Durch diese Hilfsprogramme konnten zwei der schwierigsten Wirtschaftsprobleme Österreichs gelöst werden : Einerseits kam es zu keiner Passivierung der Leistungsbilanz, weil in diesen Jahren mehr als die Hälfte der österreichischen Importe aus ERP-Mitteln bezahlt wurden, andererseits war es in einem verarmten Land mit niedriger Sparquote möglich, reichlich Investitionsmittel zur Verfügung zu stellen. Ein entscheidendes positives Element der österreichischen Nachkriegsentwicklung lag jedoch in der veränderten Institutionenstruktur des Landes. Dominierte nach 1918 in weiten Kreisen der Eindruck, Verlierer des Krieges zu sein, sowie die Überzeugung von der fehlenden Lebensfähigkeit des jungen Staates, fühlte man sich 1945 befreit, und niemand stellte das Land mehr infrage. Jedermann war bemüht, einen Beitrag zu seinem Fortkommen zu leisten. Am Anfang der Ersten Republik stand ein elementarer Bruch. Zwar existierten auch hier gemeinsame formale Institutionen, also die gesetzliche Basis, doch entwickelten sich daraus ganz unterschiedliche informelle, kontradiktorische Weltbilder, welche die wirtschaftliche Entwicklung störten und schließlich in den Bürgerkrieg führten. In der Zweiten Republik entstand auf fast genau der gleichen formalen Basis ein informelles Institutionensystem, welches sich zum Leitbild der gesamten Gesellschaft entwickelte. Es erwuchs aus den Erfahrungen der nationalsozialistischen
275
Ambivalente Bedingungen
1954
1955 Jänner bis April
Summe
127,6
91,4
38,5
19,8
1,5
686,8
–
–
3,3
95,6
83,1
76,0
11,6
–
–
.
269,6
1952
119,5
1951
194,2
1950
94,3
1949
–
1948
–
ERP – indirekte Hilfe
1947
ERP – direkte Hilfe
1945/46
1953
Übersicht 55 : Auslandshilfe an Österreich
Millionen US-Dollar
UNRRA
44,0
–
–
–
–
–
–
–
.
135,6
.
38,0
–
–
–
–
–
–
–
.
38,0
Kongressund Interimshilfe
.
54,6
101,5
–
–
–
–
–
–
.
156,1
3,4
–
–
–
–
–
–
.
3,4
USA, WarDepartment
91,6
Kanada-Hilfe
–
Beute- und Überschussgüter
–
.
30,7
56,2
–
–
–
–
–
–
.
86,9
Liebesgaben
.
29,9
19,6
9,3
4,1
2,4
2,4
1,8
–
.
69,5
–
–
–
–
.
55,6
Sonstige Hilfslieferungen
24,81
28,2
1,5
1,0
0,1
Insgesamt
200,02
225,4
279,8
300,1
206,8
206,0
105,4
40,3
19,8
1,5
1.585,1
88
68
57
50
43
31
16
7
3
–
–
In % der Gesamteinfuhr
Quelle : Nemschak, 1955. – 1 Alliiertenhilfe. – 2 Schätzung.
Unterdrückung und des Krieges. Das gemeinsame Erlebnis der „Lagerstraße“ prägte die Geistigkeit dieser Generation und mündete in dem Entschluss des „Nie mehr wieder !“. Und diese Einstellung bestimmte insbesondere die Verhaltensweisen der Arbeitsmarktparteien, also der Unternehmer sowie der Arbeiter und Angestellten. Beiden stand die Notwendigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung vor Augen, ebenso wie die Erkenntnis, dass dem Marktpartner darin eine wichtige Entwicklung zukam. Und damit trat anstelle einer feindseligen Auseinandersetzung die Bereitschaft zur Kooperation, zur Berücksichtigung des anderen. Ausgedrückt in Begriffen der Institutionenökonomie kam es zur Übereinstimmung von formellen und informellen Institutionen, zu einer Situation, die man als gesellschaftliches Gleichgewicht beschreiben könnte (Butschek, 2002B).
276
Erfolgreicher Wiederaufbau
15.2 Ökonomische und soziale Stabilisierung
Unter den beschriebenen positiven sowie negativen Einflüssen auf die ökonomische Entwicklung hatte sich die österreichische Wirtschaftspolitik konkret mit den durch das Kriegsende gegebenen Aufgaben auseinanderzusetzen. Die neuen Behörden übernahmen 1945 die zentralverwaltungswirtschaftliche Organisation des zusammengebrochenen deutschen Regimes. Dieses hatte ja bereits relativ früh begonnen, den marktwirtschaftlichen Rahmen zu verlassen : einmal durch die Regulierung des Außenhandels, sodann durch Einführung eines allgemeinen Preis- und Lohnstopps Ende 1936 sowie auch schon durch einzelne Rationierungen. Mit Kriegsbeginn wurde dann die direkte mengenmäßige Zuteilung im Bereich des privaten Verbrauchs viel weitergehend, bis sie im weiteren Kriegsverlauf nahezu alle Waren umfasste. Der Übergang von der Marktwirtschaft zu einer umfassenden Zentralverwaltungswirtschaft erfolgte prinzipiell im weiteren Sinn kriegsbedingt (im weiteren Sinn deshalb, weil ja die Wirtschaft des nationalsozialistischen Deutschlands schon sehr früh auf die Erfordernisse eines Krieges ausgerichtet worden war), da einerseits die als notwendig erachtete Umstellung in der Verwendung des Sozialprodukts durch die Mengenregulierung am raschesten und effizientesten erreicht werden kann, andererseits aus sozialen und politischen Gründen. Die zunehmende Verknappung der Konsumgüter hätte sich mit funktionierendem Markt in permanenten Preissteigerungen niedergeschlagen, welche ceteris paribus immer breitere Bevölkerungskreise vom Erwerb der lebensnotwendigen Güter ausgeschlossen und damit zu ähnlich dramatischen Folgen hätte führen können wie im letzten Kriegsjahr der österreichisch-ungarischen Monarchie. Dieser soziale Aspekt schloss auch nach dem Krieg praktisch alle Überlegungen über eine Änderung des „geerbten“ Wirtschaftssystems aus, insbesondere deshalb, weil auf absehbare Zeit keine wesentliche Verbesserung der Produktion zu erwarten war, aber auch, weil selbst die Besatzungsmächte und die Organisatoren der Auslandshilfe darauf drängten (Seidel, 2005, S. 169). Daher beließ das Rechtsüberleitungsgesetz vom Mai 1945 die deutschen Bewirtschaftungsbestimmungen in Geltung. Dazu kam dann eine Reihe neuer Gesetze, welche die Erfassung, Aufbringung und Ablieferung von Produkten regelten. Die Verteilung an die Konsumenten erfolgte durch Lebensmittelmarken sowie Bezugscheine. Wie fast alle europäischen Staaten, die vom Krieg unmittelbar betroffen worden waren, sah sich auch Österreich mit dem Problem konfrontiert, dass einer enormen Geldmenge ein reduziertes Güterangebot gegenüberstand, sich die Volkswirtschaften im Zustand einer rückgestauten Inflation befanden. Wenn es bis dahin noch zu
Ökonomische und soziale Stabilisierung
277
keiner offenen gekommen war, dann lag das an der strikten Preisregelung für die überdies mengenmäßig zugeteilten Güter. Österreich gehörte auch nach Kriegsende noch zum deutschen Währungsgebiet, da die Reichsmark weiterhin Zahlungsmittel blieb. Dazu kamen die „Besatzungsschillinge“. Die Geldmenge erreichte um diese Zeit im Bundesgebiet (einschließlich Besatzungsschilling) etwa 9 Milliarden Reichsmark, gegenüber einer solchen von 2.361 Millionen Schilling oder 1.574 Millionen Reichsmark 1937 (nach dem offiziellen Umrechnungskurs 1938 von 1 Reichsmark = 1,50 Schilling). Einer erheblich geringeren Gütermenge stand somit eine rund sechsfache Geldmenge gegenüber : ein gewaltiges Missverhältnis, auch wenn man in Rechnung stellt, dass sich infolge der allgemeinen Zerrüttung die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes verringert haben dürfte. Zunächst ging die provisorische österreichische Staatsregierung daran, die Instrumente des Geld- und Kapitalmarkts überhaupt wieder funktionsfähig zu machen. Mit dem Notenbank-Überleitungsgesetz vom 3. Juli 1945 wurde die Nationalbank wieder in ihre Funktionen für das neu entstandene Staatsgebiet eingesetzt. Ebenso wurde durch das Schaltergesetz gleichen Datums die Schließung der Bankschalter, die nach der Besetzung Österreichs verfügt worden war, wieder aufgehoben. Doch bereits durch dieses Gesetz sperrte man 60 % der vorhandenen Guthaben, und auch über die restlichen 40 % konnte nur für lebens- und wirtschaftswichtige Zwecke verfügt werden. Den dritten währungspolitischen Schritt setzte die provisorische Staatsregierung durch Erlass des Schillinggesetzes vom 30. November 1945. Damit sollte einerseits die Währungssouveränität hergestellt, also Österreich von der Reichsmark gelöst werden, andererseits zielte man wieder auf eine Reduktion der Geldmenge. Dazu verfügte die Regierung den Umtausch der in Österreich umlaufenden Reichsmark und Militärschilling in neue, von der Oesterreichischen Nationalbank ausgegebene, Schillingnoten in der Zeit vom 13. bis 20. Dezember 1945. Es wurden pro Person 150 Schilling im Verhältnis 1 :1 getauscht, der Rest auf ein Konto gutgeschrieben. Hier sollte auf eine Farce hingewiesen werden, welche sich im Zusammenhang mit der österreichischen Währungspolitik ereignete. Die provisorische Staatsregierung hatte aus Liquiditätsgründen die sowjetische Besatzungsmacht gebeten, ihr aus beschlagnahmten Reichsmark-Beständen einen Kredit zu gewähren, welchem Wunsch diese im Ausmaß von 600 Millionen Reichsmark nachkam. Finanzministerium und Notenbank verabsäumten jedoch, diesen Reichsmark-Betrag vor Erlass des Schillinggesetzes zurückzuzahlen – was leicht möglich gewesen wäre. Als man dies in der Folgezeit versuchte, verlangte die Sowjetunion nunmehr eine Zahlung in Schilling. Erst nach mehrjährigen Verhandlungen einigte man sich auf einen Betrag von 390 Millionen Schilling (Seidel, 2005, S. 149).
278
Erfolgreicher Wiederaufbau
Das erste währungspolitische Ziel, die Herstellung der Währungssouveränität, konnte ohne Weiteres realisiert werden, am zweiten jedoch, dem binnenwirtschaftlichen Gleichgewicht, scheiterte die Wirtschaftspolitik aus mehreren Gründen. Zunächst sah sich die Regierung aus sozialen und betriebswirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage, rigoros vorzugehen. Gewisse Verfügungsmöglichkeiten über die Sperrkonten blieben bestehen. Ein wesentlicher Grund für das Scheitern der Stabilisierungsbemühungen lag aber in der Konstruktion, nach der die – anfänglich exorbitanten – Besatzungskosten bezahlt wurden, nämlich durch Geldschöpfung. An entsprechende Steuererhöhungen war aus politischen sowie ökonomischen Gründen nicht zu denken. Die Bundesregierung gab zu diesem Zweck Bundesschatzscheine aus, welche die Notenbank eskontierte und als Forderung gegen den Bund auswies. Diese Vorgangsweise legalisierte man durch eine Novelle zum Notenbank-Überleitungsgesetz (Pressburger, 1966, S. 491). Bereits im Herbst 1946 wurde im – ersten – Nationalbankausweis wieder eine Geldbasis von 8,4 Milliarden Schilling angegeben. Damit war der Versuch zur Stabilisierung der Währung gescheitert. Im Lauf des Jahres 1946 setzte demnach allmählich ein Preis-Lohn-Auftrieb ein, weil ein Preisstopp in einer Demokratie meist nicht mit der gleichen Konsequenz durchgesetzt werden kann wie in einem totalitären Staat. In Anbetracht der Entwicklung schien es unumgänglich, auch die besonders niedrig gehaltenen Agrarpreise zu erhöhen. Da infolge der vorhersehbaren Preissteigerungen im Bereich der Grundnahrungsmittel mit Reaktionen auf der Lohnseite zu rechnen und damit eine weitere Beschleunigung des Preis-Lohn-Auftriebs zu erwarten war, ergriffen die Interessen-Vertretungen (Arbeiterkammer, Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, Landwirtschaftskammern und Österreichischer Gewerkschaftsbund) über Anregung des damaligen Präsidenten der Bundeskammer, Julius Raab, die Initiative, um die bedrohliche Entwicklung einzudämmen (Kienböck, 1947, S. 17, Kamitz, 1949, S. 199, Klenner, 1953, S. 1430). Möller hat darauf hingewiesen, dass es grundsätzlich drei Möglichkeiten gab, das Ungleichgewicht zwischen Geld- und Gütermenge in den Volkswirtschaften nach dem Krieg wiederherzustellen : die Preise zu erhöhen, also die „Schocktherapie“, den Nennbetrag der umlaufenden Geldmenge zu reduzieren oder eine allmähliche Anpassung, also die Produktion in die Preisrelationen hineinwachsen zu lassen (Möller, 1976, S. 436). Österreich entschied sich prinzipiell für den dritten Weg, dessen Realisierung freilich in mehrfacher Hinsicht eine wirtschaftspolitische Novität repräsentierte ! Erstens war es in diesem Fall nicht die Bundesregierung, welche die Initiative zu wirtschaftspolitischem Handeln ergriff, sondern die Interessenvertretungen. Aber es blieb nicht bei der Anre-
Ökonomische und soziale Stabilisierung
279
gung dazu, sondern die Sozialpartner versuchten, die Lösung des Inflationsproblems im eigenen Wirkungsbereich zu realisieren – freilich unter Einbindung des Staates. Der eigene Wirkungsbereich bedeutete im konkreten Fall ein Abkommen der Tarifpartner auf gesamtstaatlicher Ebene. Voraussetzung für diese wirtschaftspolitische Maßnahme war auf sozialem Gebiet eine Struktur der Interessenvertretungen, die es erlaubte, Beschlüsse zu fassen, welche für die gesamte Organisation verbindlich waren, und auf ökonomischem Gebiet ein noch immer mehr oder minder gut funktionierendes System der Wirtschaftslenkung, zumindest einer Preiskontrolle oder eben die Bereitschaft der Einzelunternehmer, sich an Abkommen der Interessenvertretung zu halten. Der Grundgedanke des Preis-Lohn-Abkommens bestand darin, die Produktion in das gegebene Preisniveau hineinwachsen zu lassen, aber doch den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, eine realistischere, der im Vergleich zur Vorkriegszeit gesunkenen Arbeitsproduktivität angemessene, Preisstruktur anzustreben, ohne dass dieses Vorhaben von der Lohnseite her erschwert würde. Man könnte das System als eine „kontrollierte Anpassungsinflation“ bezeichnen. In Anerkennung der Disparitäten von Preisen, Löhnen und Produktion strebten die Gewerkschaften grundsätzlich nur ein konstantes Realeinkommen ihrer Mitglieder an, ließen also die Produktivitätssteigerungen vorerst außer Betracht : „Dabei verwies (ÖGB)-Präsident Böhm immer wieder auf die Notwendigkeit, zuerst zu produzieren, bevor man konsumieren könne, und unterstützte die Regierung bei ihrem Bestreben, die Marshallplan-Hilfe in erster Linie zum Aufbau des Produktionsapparats und dann erst zur Verbesserung des Lebensstandards einzusetzen“ (Kienzl, 1991, S. 10). Dieses Ziel sollte erreicht werden, indem man die wichtigsten Kosten der Lebenshaltung fixierte (70 % der Ausgaben eines Arbeiterhaushalts) und den Rest – mehr oder minder – unter Preiskontrolle hielt. Daraus ergab sich allerdings, dass Preiserhöhungen in jenem Bereich voll abzugelten waren. Das betraf im Rahmen des ersten Preis-Lohn-Abkommens vor allem die erhöhten Agrarpreise, aber auch eine Reihe von Tarifen und Gebühren. Die Lohnerhöhung wurde mit dem Zusatz beschlossen, dass es drei Monate lang keine Lohnbewegung geben sollte (WIFO-Monatsberichte, 1947, 20 [8], S. 172). Als bemerkenswert muss in diesem Zusammenhang noch einmal hervorgehoben werden, dass die Beschlüsse der Leitungsgremien in den beteiligten Interessenvertretungen von der Mitgliedschaft in der Regel anstandslos durchgeführt wurden. Nur auf der Basis der unbestrittenen Autorität dieser Führungsorgane vermochte dieses System überhaupt zu funktionieren.
280
Erfolgreicher Wiederaufbau
Die ersten drei Abkommen erwiesen sich als erfolgreich, weil die Inflation unter Kontrolle gehalten werden konnte und die Wirtschaft Zeit gewann, um den Wiederaufbau reibungslos zu vollziehen. Im November 1947 hatte man mit dem Währungsschutzgesetz überdies einen neuerlichen Versuch unternommen, die Geldmenge zu reduzieren. Es wurden Beträge bis 150 Schilling im Verhältnis 1 : 1, darüber hinausgehende 3 :1 umgetauscht und die Sperrkonten gestrichen. 1949 hatte das österreichische Bruttoinlandsprodukt schon das Niveau von 1937 erreicht, und die Produktivität war entsprechend gestiegen. Sowohl die Bewirtschaftung als auch die Preisregulierung wurden beträchtlich eingeschränkt. Der Zeitpunkt zum Abgehen von den Preis-Lohn-Abkommen zugunsten der marktwirtschaftlichen Koordination wäre gegeben gewesen. Der nunmehr als Berater der Notenbank tätige Viktor Kienböck sah das monetäre Gleichgewicht schon anlässlich des Währungsschutzgesetzes Ende 1947 gegeben (Seidel, 2005, S. 157). Dennoch hielt man an dem System fest, weil es die Möglichkeit zu bieten schien, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme relativ einfach und auf einvernehmliche Weise zu lösen. Das vierte Abkommen wurde diesen Erwartungen schon deshalb nicht mehr gerecht, weil über die „Korea-Hausse“ die Inflation von außen angeheizt wurde. Dieses Abkommen führte sogar zu Arbeiterunruhen, welche die Kommunistische Partei zu putschartigen Aktivitäten veranlasste. Ein fünftes Abkommen vermochte seine Ziele überhaupt nicht mehr zu erreichen, es beschleunigte im Gegenteil durch entsprechende Unternehmererwartungen die inflationären Tendenzen. Damit wurde in stets weiteren Kreisen einsichtig, dass das System der PreisLohn-Abkommen nicht länger funktionierte und ein Übergang zur Marktwirtschaft angezeigt erschien. Der unmittelbare Anstoß dazu kam allerdings von den USA sowie der Europäischen Zahlungsunion (EZU). Diese hatten gleichfalls die mangelnde Funktionsfähigkeit des Systems erkannt, waren überdies um diese Zeit bereits grundsätzlich entschlossen, die westeuropäischen Volkswirtschaften stärker in Richtung des marktwirtschaftlichen Koordinationssystems zu drängen und vor allem auch die österreichische von der Auslandshilfe unabhängig zu machen. Ihren Niederschlag fand diese Position darin, dass die USA sowie die EZU ultimativ eine solche Umstellung in Österreich verlangten, unter der Androhung, andernfalls die Auszahlung der ERP-Counterpartmittel zu sperren (Seidel, 2005, S. 488). All diese Einflüsse und Einsichten bewirkten die Aufgabe des Systems der PreisLohn-Abkommen und den Übergang zur marktwirtschaftlichen Koordination. Freilich muss betont werden, dass es sich immer noch um eine Marktwirtschaft österreichischer Prägung handelte, also einer mit hohem Regulierungsgrad : „Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem behutsamen Abbau der Planungsinst-
281
Ökonomische und soziale Stabilisierung
Abbildung 10 : Löhne, Verdienste und Lebenshaltungskosten 1946 bis 1952
1000
log
April 1946 = 100
Lebenshaltungskostenindex Arbeiter-Netto-Verdienstindex Arbeiter-Netto-Tariflohnindex
100 1946
1947
1948
1949
1950
1951
1952
Quelle : Butschek, 1985, S. 102.
rumentarien der Mangelwirtschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit die neuen ordnungspolitischen Ankerpunkte herauskristallisierten, wurde deutlich, dass keine tonangebende soziale Gruppierung in Österreich den Weg einer liberalen Marktwirtschaft gehen wollte“ (Theurl – Theurl, 2007, S. 51). Es waren noch eher die Arbeitnehmervertretungen, die im Interesse der Konsumenten eine Verschärfung des Wettbewerbs und den Abbau des Außenhandelsprotektionismus verlangten. Eine Position, die in den Folgejahren auch ihren Niederschlag in der sozialistischen Programmatik fand (Nautz, 2007, S. 72). Der Mangel an Wettbewerb wurde 1952 auch im sogenannten „Johnstone-Report“ des damaligen amerikanischen Handelsattachés, Harry W. Johnstone, der dem Vernehmen nach vom linksorientierten österreichischen Nationalökonomen Adolf Kozlik verfasst worden war, schärfstens kritisiert. Die monetäre Stabilisierung wurde zunächst durch klassische Instrumente, wie die Erhöhung der Bankrate 1951 um 1,5 Prozentpunkte auf 5 % und 1952 auf 6 % sowie den Budgetausgleich und eine administrative Beschränkung des Kreditvolumens bewirkt. Preise und Löhne wurden schließlich weitgehend freigegeben. Allerdings trugen auch die Sozialpartner zur Stabilisierung bei. Die Unternehmervertreter initiierten eine „Preissenkungsaktion“, und die Gewerkschaften sicherten
ABB10
282
Erfolgreicher Wiederaufbau
einen Lohnstopp von 1½ Jahren zu. Tatsächlich sank 1953 der Verbraucherpreisindex um 5,4 %. Zum Exekutor der neuen Wirtschaftspolitik wurde Reinhard Kamitz, ehemals Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung in der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, welcher Anfang 1952 das Finanzministerium übernommen hatte. Kamitz hatte bereits 1951 ein Konzept für die marktwirtschaftliche Fundierung der österreichischen Wirtschaft erarbeitet, welches er nunmehr zu realisieren trachtete. Zwar verfügte er über keine politische Hausmacht, gewann jedoch die Unterstützung des Obmannes der ÖVP und Präsidenten der Wirtschaftskammer, Julius Raab. Auf diese Weise entwickelte sich dieses Konzept sogar zu dem politischen Leitbild der ÖVP unter dem Namen des „Raab-Kamitz-Kurses“ (Seidel, 2005, S. 496). Trotz der erfolgreichen Stabilisierung der Wirtschaft zerbrach im Herbst 1952 die Regierung Figl. Stein des Anstoßes bildete das Budget, insbesondere das Ausmaß der öffentlichen Investitionen. Da sich eine Anpassungsrezession im Jahresverlauf bereits abzeichnete, beharrte die SPÖ auf höheren öffentlichen Investitionen und verweigerte dem Budgetentwurf des Finanzministers ihre Zustimmung. Da die folgende Regierung Raab erst im April 1953 ihre Geschäfte aufnahm, musste bis dahin auf Basis des – restriktiven – Voranschlags für 1952 agiert werden. Tatsächlich stagnierte 1952 das Bruttoinlandsprodukt. Zwar setzte im folgenden Jahr wieder ein respektables Wachstum von 4,4 % ein, doch erreichte die Arbeitslosenquote 1953 mit 8,8 % den Höhepunkt der gesamten Nachkriegszeit. Rückblickend muss gesagt werden, dass das System der Preis-Lohn-Abkommen trotz seiner Schwächen letztlich einen reibungslosen Übergang zur Marktwirtschaft ermöglichte. Auch andere europäische Länder, wie etwa Frankreich und Italien, fanden nur über mehrere Jahre und mit einigen inflationären Phasen den Weg zum internen monetären Gleichgewicht (Fohlen, 1980, S. 122 ; Ricossa, 1980, S. 192). In jüngerer Zeit hat die damalige Wirtschaftspolitik wieder einiges Interesse erweckt, weil in der Diskussion darüber, ob „Schocktherapie“ oder „Gradualismus“ der richtige Weg sei, um die Transformation der osteuropäischen Wirtschaften zu bewirken, die Politik der „Preis-Lohn-Abkommen“ ein plastisches Beispiel für Letzteren bildet. Denn um eine „Transformation“ des Wirtschaftssystems ging es auch damals, als es galt, aus der zentral geplanten Kriegswirtschaft wieder in eine Marktwirtschaft zurückzukehren – wobei sich allerdings das Niveau des Bruttoinlandsprodukts beträchtlich unterschied. Doch muss man auch den institutionellen Aspekt im Auge behalten. Die Abkommen bedeuteten einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Integration der österreichischen Gesellschaft. Mochten sich schon die politischen Gewichte durch
Ökonomische und soziale Stabilisierung
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die – hauptsächlich aus anderen Gründen als der sozialen Auseinandersetzung vollzogene – Verstaatlichung zugunsten der Arbeitnehmer verschoben haben, so bedeuteten die Preis-Lohn-Abkommen eine weitere Positionsveränderung. Die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer wurden – teilweise sogar auch auf Veranlassung jener der Arbeitgeber – in den Prozess der wirtschaftspolitischen Willensbildung eingeschlossen. Ein Element dieser Entwicklung lag sicherlich in der politischen Konstellation, welche durch die Regierungskoalition jener Parteien gekennzeichnet war, welche damals im Wesentlichen die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer repräsentierten, doch gingen die Preis-Lohn-Abkommen darüber hinaus. Hier wurde die atmosphärische Basis für die bald darauf folgende Entwicklung in Richtung einer Institutionalisierung der Sozialpartnerschaft geschaffen. Wenn zuvor darauf hingewiesen wurde, dass sich die Gewerkschaften nach 1945 grundsätzlich positiv zum neuen Staat positionierten und auch die Unternehmer als Verhandlungspartner uneingeschränkt akzeptierten, muss gesagt werden, dass das nicht sofort für die Marktwirtschaft galt. Die Arbeitnehmervertreter zeigten nicht nur eine starke Präferenz für das existierende planwirtschaftliche System, manche Funktionäre, wie etwa der damalige Präsident der Wiener Arbeiterkammer, Karl Mantler, forderten den Übergang zu einem sozialistischen Wirtschaftssystem (Butschek, 1996, S. 102). Die entscheidende programmatische Festlegung zugunsten der Marktwirtschaft erfolgte erst im Oktober 1951 am zweiten Bundeskongress des ÖGB durch den Sekretär der Wiener Arbeiterkammer, Stefan Wirlandner, mit den Worten : „Es spricht wenig dafür, daß sich in nächster Zukunft so große Verschiebungen ergeben werden, daß ein grundsätzlicher Umbau unserer wirtschaftlichen Organisation möglich wird. Bei der Ausarbeitung eines Programms des Österreichischen Gewerkschaftsbunds ist diese Sachlage im Auge zu behalten. Wird dieser Umstand nicht berücksichtigt, so droht das Wirtschaftsprogramm zu einer Sammlung von Gemeinplätzen oder illusionistischen Schlagworten zu werden. […] Wenn wir uns wirtschaftspolitische Ziele setzen, die in nächster Zeit verwirklicht werden sollen, so muß der marktwirtschaftliche Charakter unserer Wirtschaft berücksichtigt werden. Wir werden größere Erfolge erzielen, wenn wir schädlichen Auswirkungen der Marktwirtschaft mit geeigneten marktwirtschaftlichen Maßnahmen entgegentreten. In den ersten Jahren der Nachkriegszeit haben wir diesen Punkt vielleicht zu stark vernachlässigt. Bei Krisenzeichen wurde nach neuen Gesetzen und nach der Polizei gerufen. Eine solche Reaktion ist begreiflich. Aber wir müssen uns darüber klar sein, daß damit unter den gegebenen Verhältnissen nur eine sehr beschränkte Wirkung erreicht werden kann“ (zitiert nach Klenner, 1953, S. 1654).
284
Erfolgreicher Wiederaufbau
Freilich wurde diese Entwicklung durch die Tatsache begünstigt, dass Österreich lange Zeit als das Land mit der höchsten Quote an Verstaatlichter Industrie unter den westlichen Industriestaaten galt. Und diese Unternehmen verstanden sich nicht nur als Vorbilder für die Lohnpolitik und die betrieblichen Sozialleistungen, sondern erlaubten auch den Arbeitnehmervertretern eine Identifikation mit ihren betriebswirtschaftlichen Interessen. Es wurde bereits dargelegt, dass die Bundesregierung durch die Verstaatlichung die Ansprüche der Sowjetunion auf das „deutsche Eigentum“ unterlaufen wollte. Das war allerdings nicht der alleinige Grund für diesen Akt, weil die Nationalisierung der sogenannten „Schlüsselindustrien“ durchaus den programmatischen Vorstellungen der SPÖ entsprochen hatte. Doch wäre eine Verstaatlichung dieses Ausmaßes wahrscheinlich nicht ohne weiteres auf die Zustimmung des Koalitionspartners ÖVP gestoßen, wenn das nicht die spezielle politische Konstellation nahe gelegt hätte. Als die SPÖ versuchte, die Verstaatlichung auf die Lebensmittelindustrie auszudehnen, lehnte dies die ÖVP bereits strikte ab (Schärf, 1955, S. 117), auch versuchte diese, durch das gleichzeitig beschlossene Gesetz über die „Werksgenossenschaften“ ein Instrument zur Umwandlung des Staatseigentums in Miteigentum der Belegschaft zu schaffen – ein Ansatz, der mit einer einzigen Ausnahme nie realisiert werden konnte. Allerdings existierten, abgesehen von programmatischen Vorstellungen, auch ökonomische Gründe, welche die Verstaatlichung der Schwerindustrie nahe legten. Da waren zunächst die ungeklärten Eigentumsverhältnisse. Diese ehemals deutschen Betriebe waren auch in den westlichen Besatzungszonen den österreichischen Behörden nur zur treuhändischen Verwaltung übergeben worden – wiewohl man sie praktisch als Eigentum behandelte. Auch existierte zu dieser Zeit kaum inländisches Kapital, um diese Betriebe zu übernehmen, und es schien zweifelhaft, ob ausländisches, angesichts der politischen Instabilität in Österreich, dazu bereit gewesen wäre – nicht zu reden davon, dass in Österreich eine starke Aversion gegen den „Ausverkauf “ der Großunternehmen an das Ausland existierte (Seidel, 2005, S. 103). Die Verstaatlichung betraf 70 Unternehmen, vor allem des Bergbaus, der grundstoff- und metallverarbeitenden Industrie, etwa ein Fünftel der industriellen Kapazität des Landes sowie drei Großbanken. Die Verwaltung der Verstaatlichten Industrie oblag zunächst dem Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung unter dem der ÖVP zugehörigen Bundesminister Peter Krauland. Nach der für die SPÖ erfolgreich verlaufenen Wahl des Jahres 1949 wurde das Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung aufgelöst und
Ökonomische und soziale Stabilisierung
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seine Planungsaufgaben sistiert. Nunmehr übernahm das Bundesministerium für Verkehr und Verstaatlichte Betriebe unter Bundesminister Karl Waldbrunner die Verwaltung Letzterer sowie der Energiewirtschaft. Dieser Exponent der SPÖ übte seine Funktion von 1949 bis 1956 aus. Die Banken ressortierten zum Bundesministerium für Finanzen. Eine Vereinbarung der beiden Koalitionsparteien installierte eine paritätisch besetzte Kommission im Ministerium, welche sich mit dem „organisatorischen Aufbau und der personalen Besetzung der leitenden Organe der verstaatlichten Unternehmungen zu beschäftigen“ hatte (Stöger, 2006, S. 239). Für die verstaatlichten Unternehmen wurde bewusst die alte Rechtsform beibehalten. Der spätere Generaldirektor der ÖIAG, Oskar Grünwald, sah darin eine „glückliche Lösung“, denn erstens vereinfachte sie die Überleitung in den neuen Eigentumsstatus, ebenso aber auch die laufenden Aktivitäten, weil sich diese im üblichen rechtlichen Rahmen bewegen konnten und man sich nicht auf ein neues, ungewohntes Terrain begeben musste (Grünwald, 2006, S. 262). Demgemäß beschränkten sich die Eingriffsmöglichkeiten der politisch Zuständigen auf jene des Eigentümers. Daraus ergab sich, dass die Unternehmen weitgehend unabhängig und quasi privatwirtschaftlich agierten. Versuche, eine konsistente Konzernpolitik voranzutreiben, gab es immer wieder, ohne dass damit durchschlagende Erfolge erzielt worden wären (Grünwald, 2006, S. 261). Eine gewisse Belastung der Verstaatlichten Industrie resultierte aus der Aversion, welche die ÖVP gegen sie an den Tag legte, wiewohl sie ja in allen Gremien und Leitungsfunktionen der Unternehmen paritätisch vertreten war. Das äußerte sich neben zahlreichen kritischen publizistischen Aktivitäten unter anderem darin, dass diesen Unternehmen untersagt wurde, sich in den finalen Bereich auszuweiten ; ein Verbot, welches zumindest von den der Volkspartei nahestehenden Direktoren beachtet wurde. Ein solches Verhalten gegenüber verstaatlichten Unternehmen konnte in anderen westeuropäischen Ländern, wie etwa in Frankreich oder Italien, nicht beobachtet werden. Die zumeist während des Zweiten Weltkriegs errichteten, relativ neuen Betriebe wurden in den westlichen Besatzungszonen zu Trägern des österreichischen Nachkriegswachstums. Aus ERP-Mitteln bevorzugt mit Investitionskrediten versorgt, vermochten sie nicht nur ihre Produktion sprunghaft zu steigern, sondern erzielten auch hohe Exportquoten und subventionierten schließlich die verarbeitende Industrie in Österreich dadurch, dass sie im Inland niedrigere Preise als auf dem Weltmarkt verrechneten. Von geringerer Bedeutung erwies sich die Verstaatlichung der österreichischen Großbanken. Diese gerieten zwar auch unter starken Einfluss der politischen Parteien, was ihre Geschäftspolitik allerdings wenig berührte. Das zweite Verstaatli-
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Erfolgreicher Wiederaufbau
chungsgesetz 1947 erregte weder besonderes Aufsehen noch prägte es nachhaltig die österreichische Wirtschaft, da es die Energiewirtschaft betraf und damit Unternehmen, die als öffentliche Versorgungsbetriebe ohnehin häufig im Eigentum der Gebietskörperschaften gestanden waren.
15.3 Der Weg zum „Friedensniveau“
Zwar standen die neuen Behörden im gegebenen politischen, institutionellen und organisatorischen Rahmen in erster Linie vor dem Problem, sozusagen den gegebenen Mangel zu verteilen, mussten jedoch auch sofort darangehen, die Produktion in Bewegung zu setzen. Eines der ersten in diesem Zusammenhang erlassenen Gesetze war jenes, mit dem die Einsetzung öffentlicher Verwalter geregelt wurde. Zahlreichen Betrieben fehlten nach Kriegsende die Eigentümer oder Direktoren. Das betraf vor allem jene des späteren „deutschen Eigentums“ sowie solche, deren Eigentümer geflohen oder politisch untragbar waren, sowie letztlich auch die arisierten Unternehmen. In all diesen Fällen ernannte die Bundesregierung öffentliche Verwalter, welche die Betriebsführung übernahmen (Felber, 2006, S. 214). An der Spitze des Wiederaufbaus standen damals die öffentlichen Unternehmen ; in kurzer Zeit gelang es, sowohl die Strom- als auch die Wasserversorgung wieder in Gang zu setzen. Relativ rasch konnte man in den Städten auch den Straßenbahnverkehr, zumindest auf einigen Linien, wieder aufnehmen. Nicht überraschend erscheint die prompte Arbeitsaufnahme des Kleingewerbes, da hier a priori weniger Anlagen vorhanden und auch demgemäß weniger Zerstörungen aufgetreten waren und sich dieser Wirtschaftssektor vor allem auf die sehr aktuellen Reparaturleistungen konzentrieren konnte. Stellenweise gab es sogar insofern autonome Hilfsaktionen, als die Innungen nicht ausgelastete Maschinen an Gewerbetreibende, die über solche nicht verfügten, vermittelten. Auch in der Industrie gelang es relativ rasch, die Anlagen zumindest teilweise wieder instand zu setzen und die Produktion in bescheidenem Umfang aufzunehmen. Die eigentlichen Schwierigkeiten begannen sozusagen in der „zweiten Runde“ durch den Ressourcenmangel sowie dadurch, dass in der sowjetischen Besatzungszone stets die Gefahr neuerlicher Beschlagnahmungen und Demontagen bestand – immerhin lagen damals noch 60 % der industriellen Kapazitäten in Ostösterreich. Allerdings kam es auch in diesem Sektor zu Hilfsaktionen. Die Länderkonferenz hatte die Einrichtung von „Produktionsausschüssen“ beschlossen – offenbar in Anlehnung an die „Produktionsringe“ während des Krieges –, um einen Über-
Der Weg zum „Friedensniveau“
287
blick über die vorhandenen Produktionsfaktoren zu gewinnen, sie zweckmäßig zu verteilen, die Produktionsprogramme aufeinander abzustimmen sowie die Exportmöglichkeiten zu prüfen. Darüber hinaus hatte die dritte Länderkonferenz vom 25. Oktober 1945 einen „Industrieplan“ genehmigt, der eine Prioritätenskala in dem Sinn vorsah, als die Industriezweige nach der Reihenfolge ihrer Produktionsverflechtung von den Rohstoffen zu den Fertigwaren und Investitionsgütern in Gang gesetzt werden sollten. Dem gleichen Zweck diente die „Kreditlenkungskommission“. Diese rudimentäre Planung wurde nach Errichtung des Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung weiter ausgebaut. Durch die Bedingungen der ERP-Hilfe erhielten diese Planungsaktivitäten noch zusätzliche Impulse, weil von den Mitgliedstaaten der OEEC verlangt wurde, einen kurz- und einen langfristigen Investitionsplan auszuarbeiten, der Aufschluss über das Ausmaß der notwendigen Auslandshilfe geben sollte. Der Höhepunkt dieser Planung wurde schließlich im Investitionsprogramm 1950/1952 erreicht, welches auf Drängen der ERP-Verwaltung zustande gekommen und dessen Ziel es war, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht für die österreichische Wirtschaft bis 1952, dem Jahr des voraussichtlichen Auslaufens der Marshallplan-Hilfe, herzustellen. Dieses Investitionsprogramm betraf keineswegs nur die ERP-Counterpartmittel, sondern auch die Investitionen der öffentlichen Hand sowie der Verstaatlichten Industrie. Um die Investitionen möglichst effektiv werden zu lassen, wurde als flankierende Maßnahme ein „Produktivitätszentrum“ gegründet, welches den Unternehmen entsprechende Beratung angedeihen lassen sollte. Das Programm zielte auch auf eine Steigerung der Investitionsquote durch Steuerbegünstigungen auf der einen und Abbau der Importsubventionen auf der anderen Seite. Freilich sollte mit diesen Hinweisen nicht der Eindruck erweckt werden, es habe sich in der Nachkriegszeit ein ausgefeiltes, präzise arbeitendes Planungssystem für die österreichische Wirtschaft entwickelt. Alles das blieb oft bruchstückhaft oder in den Ansätzen stecken. Immerhin konnten damit doch einige Prioritäten realisiert und der Wirtschaftspolitik Ziele vorgegeben sowie einige Schritte in dieser Richtung gesetzt werden. Zu den größten Schwierigkeiten dieser frühen Phase gehörten jene des Transports. Die Instandsetzung der Verkehrswege wurde nicht nur durch heimische Arbeitskräfte frühzeitig in Angriff genommen, sondern die sowjetische Besatzungsmacht übernahm dabei eine entscheidende Rolle. Zunächst stellte sie für die lebenswichtigen Nahrungsmittel Transportmittel zur Verfügung. Dann wurden von den sowjetischen Truppen 1.600 km Gleise sowie 96 Eisenbahnbrücken und Tun-
288
Erfolgreicher Wiederaufbau
nels wiederhergestellt und zusammen mit dem österreichischen Eisenbahnpersonal zahlreiches rollendes Material ausgebessert (WIFO-Monatsberichte, 1945, 18 [1/2], S. 26). Damit konnte der Eisenbahnverkehr bald aufgenommen werden : In östlicher Richtung gelang das praktisch mit dem sowjetischen Einmarsch, bald darauf auf einzelnen Strecken der Franz-Josefs-Bahn sowie der Westbahn und kurz darauf auf der Südbahn. Dennoch blieb die Verkehrsdichte in Ostösterreich völlig unzulänglich, teilweise aus Mangel an rollendem Material, das nicht über das gesamte Bundesgebiet ausgeglichen werden konnte, teilweise, weil die notwendige Kohle fehlte. Die Ergänzung – oder besser Ermöglichung – der inländischen Produktion durch Importe stieß in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf die gleichen Schwierigkeiten wie nach dem Ersten Weltkrieg. Die vor allem benötigten Nahrungsmittel, Rohund Brennstoffe waren nach Kriegsende auch in Ländern knapp, die üblicherweise zu den Exporteuren solcher Güter zählten. Sie hätten nur gegen ähnlich wichtige österreichische Exportgüter getauscht werden können. Diese jedoch, wie etwa Stahl, hatten Brennstoffimporte zur Voraussetzung. Angesichts völlig unübersichtlicher Währungsverhältnisse wurde der Außenhandel vorerst auf reiner Tauschbasis abgewickelt ; wobei man sich an den Preisrelationen von 1937 orientierte. So kam es zu Handelsabkommen der einzelnen Besatzungszonen mit den Nachbarstaaten, die in Ostösterreich allerdings häufig durch das Fehlen von Transportmitteln nicht realisiert werden konnten. Bald jedoch wurde auch auf zentralstaatlicher Basis eine Reihe von Handels- und Zahlungsverträgen abgeschlossen, deren Charakter von Kompensations- bis zu Clearingabkommen reichte. Der Import wurde zunächst von den – kostenlosen – Hilfslieferungen des Auslands dominiert. Aber selbst als es wieder zu kommerziellem Außenhandel kam, war er nach strikten Regeln abzuwickeln. Auch der Export bedurfte behördlicher Genehmigung ; die Devisenerlöse mussten zu einem Zwangskurs der Notenbank abgeliefert werden. Dieser war ursprünglich von den alliierten Behörden mit 10 Reichsmark bzw. Schilling für 1 Dollar festgelegt worden – wonach sich auch die Kurse zu den anderen Währungen bestimmten. Die Hilfslieferungen an Nahrungsmitteln wurden allerdings im Inland nicht zum Weltmarktpreis abgegeben, sondern zum niedrigeren Inlandspreis – also subventioniert. Doch ließ die heimische Inflation den bisherigen Wechselkurs allmählich obsolet erscheinen. Die Notenbank gestattete daher den Exporteuren, einen Teil der Devisenerträge für Vorleistungsimporte zu behalten. Diese „Belassungsquoten“ variierten zwischen 50 % und 90 % in der Eisen- und Stahlindustrie. Abgesehen von den problematischen Allokationseffekten dieses Systems erwies es sich auch als schwer administrierbar.
Der Weg zum „Friedensniveau“
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Unter dem Druck des IMF, einen realistischen Wechselkurs festzulegen, entschloss sich die Bundesregierung, Ende 1949 einen multiplen einzuführen : einen Grundkurs von 14 Schilling je Dollar für lebenswichtige Importe, einen Prämienkurs von 26 Schilling für den Fremdenverkehr sowie einen Effektivkurs von 21,36 Schilling für den Großteil des Warenhandels. Nach permanenten Diskussionen mit den USA und dem IMF sowie mehreren Zwischenschritten wurde letztlich Mitte 1953, also während der Stabilisierungskrise, der Wechselkurs endgültig mit 26 Schilling je Dollar vereinheitlicht (Seidel, 2005, S. 215). Schon früh bemühte sich die österreichische Wirtschaftspolitik um die Förderung des Exports. Erster Träger dieser Bemühungen wurde die schon 1946 von den größten zwölf österreichischen Kreditunternehmen gegründete Oesterreichische Kontrollbank. Ab 1950 beauftragte die Republik dieses Institut mit der Vergabe von Krediten nach dem neuen Ausfuhrförderungsgesetz. Gleichfalls 1950 installierte die Bundesregierung einen Exportfonds, welcher die Exporteure, insbesondere solche, die sich im Dollar-Raum engagierten, unterstützte. Darüber hinaus wurden gemäß dem Ausfuhrförderungsgesetz durch die Nationalbank Wechselkredite mit Haftung der Republik Österreich gewährt. Hauptzweck dieser Kredite lag darin, den Zeitraum zwischen Leistungserstellung und Zahlung zu überbrücken (Meyer, 1991, S. 156). Hohe Bedeutung kam in diesem Zusammenhang einer in dieser Form neuen Einrichtung zu, nämlich den Handelsdelegierten. Diese traten an die Stelle der Handelsattachés in den diplomatischen Missionen. Die Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft gründete ein Netz von Außenhandelsstellen mit der Aufgabe, den österreichischen Exporteuren an die Hand zu gehen. Eine Einrichtung, die sich in einem Land besonders nützlich erweisen musste, dem die Tradition des Exportkaufmannes nahezu völlig fehlte. Das zentrale Problem auch dieser Nachkriegsepoche lag freilich darin, einfach die physische Existenz der Menschen durch ausreichende Ernährung sicherzustellen. Vor dem Krieg hatte in Österreich der durchschnittliche Nahrungsmittelverbrauch täglich 3.200 Kalorien erreicht. Die Kriegsrationen wurden demgegenüber erheblich reduziert. Dem „Normalverbraucher“ standen 1944 etwa 2.000 Kalorien zur Verfügung, Schwer- und Schwerstarbeitern 2.700 bzw. 3.400. Diese Menge schien bereits unter den notwendigen Mindestsätzen zu liegen, hatte aber offensichtlich durch Ausnutzen verschiedener Ergänzungsmöglichkeiten einschließlich des „Schwarzen Marktes“ zumindest zu keinen Hungersnöten geführt. Unmittelbar nach Kriegsende fielen die Rationen allerdings noch drastisch unter diese Werte. Natürlich ergaben sich beträchtliche regionale Unterschiede. In dem von jeglicher Zufuhr – infolge Mangels an Transportmitteln auch aus der näheren
290
Erfolgreicher Wiederaufbau
Umgebung – abgeschnittenen Wien konnte die Bevölkerung in den ersten Wochen nur durch minimale Vorräte und Selbsthilfe existieren. Im Mai griff die sowjetische Besatzungsmacht ein („Maispende der Roten Armee“), wodurch in diesem Monat ein Durchschnittsverbrauch von täglich 350 Kalorien sichergestellt wurde. Von Juni bis August erreichte er – mit den üblichen berufsbedingten Variationen – etwa 1.000 Kalorien. Ab dem 23. September 1945 übernahmen sämtliche Besatzungsmächte die Versorgung Wiens, in deren Rahmen in allen Zonen gleiche Rationen zugeteilt werden sollten, sich faktisch jedoch stets Unterschiede ergaben (WIFOMonatsberichte, 1945, 18 [1/2], S. 19). Während über diese Rationen hinaus kleine Mengen von Erdäpfeln angeliefert werden konnten, stand Milch praktisch nur für Kinder und stillende Mütter zur Verfügung, Obst gab es überhaupt nicht. Allerdings stellten die Besatzungsmächte noch eine zusätzliche Schulmahlzeit zur Verfügung. Die Situation Niederösterreichs blieb noch schlechter, da die Ernte des Jahres 1945 infolge der Kriegszerstörungen nur einen Bruchteil jener des vorangegangenen Jahres erreicht hatte und die Besatzungsmacht für dieses Bundesland keine Hilfe leistete. Die westlichen Bundesländer riefen mitunter sogar weniger Lebensmittel auf als die östlichen, doch täuschte das insofern, als die aufgerufenen Lebensmittel im Osten nicht immer tatsächlich zugeteilt wurden. Überdies existierten im Westen manche zusätzliche Ernährungsmöglichkeiten, wie etwa durch Obst und Gemüse. Auch 1946 verbesserte sich die Ernährung nur geringfügig, da die Ernte kaum die Hälfte des Ertrags von 1937 erreichte. Ein entsprechender Lebensmittelimport auf kommerzieller Basis erwies sich infolge Devisenmangels als nicht möglich. Österreich war daher zur Ernährung seiner Bevölkerung auf Lieferungen der Besatzungsmächte und ab April 1946 auf jene der UNRRA angewiesen. Aus dieser Konstellation ergab sich ein entscheidender Unterschied gegenüber der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Wohl war es auch damals zu internationalen Hilfsaktionen gekommen, doch, abgesehen von ihrem beschränkten Ausmaß, bedurften sie oftmals einer Initiative der Regierung und wurden, zumindest teilweise, auf Kreditbasis gewährt. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch übernahmen zunächst die Besatzungsmächte – weitgehend – die Verantwortung für die Ernährung der Bevölkerung in ihrer Zone, und ab Mitte 1946 stand, ohne jede Bedingung, jene Organisation zur Verfügung, welche speziell zu dem Zweck geschaffen worden war, den Nachkriegsnotstand auf dem Gebiet der Ernährung zu überwinden. Obwohl die von der UNRRA und den Besatzungsmächten Österreich zur Verfügung gestellten Lebensmittel über 90 % der Lebensmittelimporte im Jahr 1937 erreichten, deckten die offiziell zugeteilten Rationen kaum das physiologische Existenzminimum ; deren Kalorienwert erreichte in der ersten Jahreshälfte für
291
Der Weg zum „Friedensniveau“
„Normalverbraucher“ 1.220 Kalorien täglich, einschließlich leistungs- und bedarfsgebundener Zusatzrationen (Schwerarbeiter, stillende Mütter, Kinder) erreichte er im Jahresdurchschnitt 1.770 (WIFO-Monatsberichte, 1947, 20 [1/3], S. 14). Eine gewisse Ergänzungsmöglichkeit für die kargen Rationen bot der „Schwarze Markt“, auf welchem Nahrungsmittel und andere Gebrauchsgüter zu Marktpreisen angeboten wurden. Dessen Inanspruchnahme war natürlich in hohem Maß einkommensgebunden, doch scheint er mit zunehmendem Abstand zum Kriegsende eine immer größere Rolle gespielt zu haben. Einerseits war ein demokratischer Staat, wie schon gesagt, weder willens noch in der Lage, gegen solche Praktiken ebenso vorzugehen wie eine Diktatur, andererseits scheint sich die Lebensmittelversorgung 1946 insgesamt doch soweit gebessert zu haben, dass die exorbitanten Preisunterschiede zum regulären „Markt“ kleiner wurden und damit breiteren Bevölkerungsschichten der Zutritt zum „Schwarzen Markt“ eröffnet wurde. Die Notwendigkeit einer solchen Lebensmittelbeschaffung spielte auch in Lohnverhandlungen eine gewisse Rolle. Die Lebensmittelbewirtschaftung ging praktisch mit 1. September 1950 zu Ende (WIFO-Monatsberichte, 1951, 24 [2], S. 61, Fn. 2). Abbildung 11 : Offizielle und Schwarzmarktpreise in Österreich Schwarzmarktpreise für Nahrungsmittel Lebenshaltungskostenindex für Nahrungs– und Genussmittel
April 1938 = 100
100.000
log
10.000
1.000
100 1946 Quelle : WIFO-Monatsberichte.
1947
1948
1949
1950
292
Erfolgreicher Wiederaufbau
Das österreichische Bruttoinlandsprodukt ging 1945 real wenig über die Hälfte jenes von 1937 hinaus. 1946 erreichte es immerhin knapp zwei Drittel davon. Allerdings blieb eine Reihe wesentlicher Wirtschaftszweige, wie Industrie, Gewerbe, Landwirtschaft, Handel und sonstige Dienstleistungen, stärker zurück, nämlich 40 % bis 60 % hinter der Wertschöpfung von 1937. Das relativ gute Abschneiden des öffentlichen Dienstes resultiert aus der Eigenart dieses Wirtschaftszweigs, der eben mit beträchtlichem Verwaltungsaufwand bemüht war, den gegebenen Mangel zu organisieren. Recht gut schnitt die Bauwirtschaft ab, die schon fast die Leistung des Jahres 1937 erreicht hatte, sowie der Verkehr, der mit beträchtlich weniger Verkehrsmitteln diese sogar schon übertraf. Die Energiewirtschaft konnte ihre Leistung sogar schon auf das Eineinhalbfache steigern (Kausel – Nemeth – Seidel, 1965, S. 6). Da die ERP-Hilfe im gesamten OEEC-Bereich ihre Wirkungen zeigte, hatte in dieser Region ein stürmischer Boom eingesetzt. Vor diesem außenwirtschaftlichen Hintergrund führte das Zusammenwirken von ausländischer Wirtschaftshilfe mit den wirtschaftspolitischen Aktivitäten der Regierung ab 1948 zu einem geradezu explosiven Wirtschaftswachstum. Hatte es schon 1947 einen beträchtlichen Zuwachs gegeben (real + 10,3 %), wurde 1948 ein solcher von 26,9 % erzielt, und auch in den folgenden zwei Jahren gab es noch Raten von 18,9 % und 12,4 % – in diesen drei Jahren vergrößerte sich das Bruttoinlandsprodukt Österreichs um gut zwei Drittel. 1949 konnte insgesamt bereits das Niveau von 1937 überschritten werden. Übersicht 56 : Bruttoinlandsprodukt nach Wirtschaftszweigen, 1937 bis 1952, zu Preisen von 1954 1937
1946
1947
1948
1949
1950
1951
1952
Anteile in % Land- und Forstwirtschaft
21,8
20,7
19,0
16,7
16,7
17,2
15,2
16,2
Industrie
21,5
17,3
18,7
22,4
25,0
26,3
28,2
27,7
Gewerbe
11,6
11,6
12,2
11,0
10,4
10,3
10,1
10,0
Baugewerbe
3,3
4,7
3,3
6,0
6,8
6,9
7,3
7,0
Elektrizität, Gas, Wasser
1,0
2,4
2,3
2,3
2,0
2,0
2,2
2,4
Verkehr
4,6
7,6
8,6
8,2
7,1
6,5
6,7
6,4
Handel
14,5
9,9
9,7
10,6
11,4
11,3
11,2
10,9
Banken, Versicherungen
2,5
2,2
2,3
2,1
2,0
2,0
2,3
2,4
Wohnungswirtschaft
1,3
2,2
2,0
1,7
1,5
1,3
1,3
1,3
Öffentlicher Dienst
9,1
13,2
13,1
11,1
9,8
8,9
8,6
8,7
Sonstige Dienste
8,7
8,2
8,7
7,8
7,4
7,3
6,9
6,9
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Insgesamt
Quelle : Statistik Austria, Statistisches Handbuch 1975.
Der Weg zum „Friedensniveau“
293
Die sprunghafte Produktionssteigerung des Jahres 1948 geht freilich noch weniger auf eine Ausweitung der Anlagen zurück – diese waren bis dahin noch bei Weitem nicht ausgelastet gewesen –, sondern auf die Normalisierung der Energie- und Rohstoffversorgung (Nemschak, 1955, S. 26). Aber schon in den folgenden Jahren war das weiterhin außergewöhnlich starke Wachstum in steigendem Maß auf die wachsenden Investitionen zurückzuführen, da die Investitionsquote, welche 1948 mit 13,0 % zwar schon erheblich über dem Niveau der Vorkriegszeit (1937 : 7,7 %) gelegen war, bis 1952 stetig auf 19,6 % anstieg. Aber nicht nur die Verwendung des Sozialprodukts veränderte sich gegenüber der Zwischenkriegszeit erheblich, auch vollzog sich das allgemeine Wachstum mit ganz anderen Schwergewichten als damals. Hatte es nach dem Ersten Weltkrieg eine Stagnation von Industrie und Bauwirtschaft gegeben, realisierte sich die Expansion nunmehr gerade in diesen Bereichen. 1946 erreichte die Wertschöpfung der Industrie gerade die Hälfte jener des Jahres 1937, 1948 lag sie bereits bei 93,3 %, und 1952 übertraf sie diese Marke um 65,3 %. Noch weit stärker entwickelte sich die Bauwirtschaft, welche 1946 89,8 % des Niveaus von 1937 erbrachte. 1948 aber schon um 61,8 % und 1952 bereits um 167,8 % mehr. Die Energieproduktion hatte schon 1946 den respektablen Wert von 152,4 verglichen mit 1937 (= 100) erreicht, vermochte sich bis 1952 aber noch auf 302,8 Punkte zu steigern. Dagegen fielen im produzierenden Sektor das Gewerbe, vor allem aber die Landwirtschaft, ab, welche trotz hohen Bedarfs an ihren Produkten 1952 erst knapp die im Jahr 1937 erzielte Wertschöpfung erreichten. Im Dienstleistungsbereich zeigte lediglich jener Zweig expansive Tendenzen, der mit der Produktion direkt verbunden war, nämlich der Verkehr. Dieser vermochte seine Leistung bis 1952 auf 177,0 zu steigern. Demgegenüber fielen fast alle übrigen Dienstleistungszweige mehr oder minder stark ab. In Österreich vollzog sich in dieser Phase eine dramatische Wende zur Industrie. Zwar hatte insbesondere Wien zu den Industrieregionen der Monarchie gezählt, doch nach 1918 verschob sich die Struktur der österreichischen Wirtschaft, teils infolge der industriellen Stagnation, teils infolge der Spekulationswellen, stärker zum Dienstleistungssektor ; eine Tendenz, die bis zum Ende der Ersten Republik nur zum Teil korrigiert wurde. 1937 entfielen lediglich 36,4 % der Wertschöpfung auf den industriell-gewerblichen Sektor und 39,8 % auf die Dienstleistungen, 1952 erbrachte Ersterer 41,7 % des Bruttoinlandsprodukts, wogegen der tertiäre Sektor nur 35,6 % dazu beitrug. Aber auch innerhalb der Wirtschaftszweige vollzogen sich in diesen Jahren beträchtliche Umschichtungen. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die österreichische Industrie in hohem Maß durch Erzeugung von Konsumgütern geprägt, auf diese entfielen fast 60 % der Gesamtproduktion. In den Jahren bis 1952 verschob sich
294
Erfolgreicher Wiederaufbau
dieses Verhältnis, weil nunmehr der gleiche Anteil an Grundstoffen, Halbfertigwaren und Investitionsgütern hergestellt wurde. Diese Gewichtsverlagerung ergab sich wohl auch aus der wirtschaftlichen Situation nach 1945, in welcher Energie, Rohstoffe und Investitionsgüter außerordentlich stark nachgefragt wurden. Dass sich aber die Produktion an diese in- und ausländische Marktsituation so rasch und wirksam anpasste, ging auf eine Reihe von Faktoren zurück. Zunächst darauf, dass während der deutschen Okkupation in diesem Bereich viel investiert worden war ; weiters aber, dass die Bundesregierung nicht den nach Kriegsende geäußerten Auffassungen beitrat, die österreichische Industrie auf ihre Vorkriegsstruktur zu redimensionieren, sondern beschloss, diese – verstaatlichten – Anlagen auszubauen ; teilweise, um die Zahlungsbilanz zu entlasten, teilweise, um der verarbeitenden Industrie billige Vormaterialien zur Verfügung zu stellen, damit sie sich im internationalen Konkurrenzkampf durchsetzen könne (Heissenberger, 1953, S. 66). Und letztlich verfügte die Regierung auch durch die ERP-Counterpartmittel über hohe Beträge, um massiv in diesen Bereichen zu investieren. Die weitaus meisten dieser Mittel flossen daher in die verstaatlichten Elektrizitätswerke sowie in die Eisen- und Stahlerzeugung. Auch die noch stärkere Expansion der Bauwirtschaft geht zunächst auf die kriegsbedingte Nachfrage zurück. Es galt, die zerstörten Wohnungen wieder aufzubauen, nicht zu reden von den beschädigten Industrieanlagen sowie der Infrastruktur. Die potenzielle Nachfrage nach Bauleistungen wurde überdies dadurch gestärkt, dass nicht nur manche Gebietskörperschaften selbst auf dem Markt auftraten, wie etwa die Gemeinde Wien als Bauherr von Gemeindewohnungen, sondern indem auch finanzielle Nachfragestützungen geleistet wurden. Sowohl der Wohnhaus-Wiederaufbaufonds als auch der Bundes-Wohn- und Siedlungsfonds gewährten begünstigte Kredite. Ähnliche Wirkungen kamen dem Bausparen zu. Zu diesen Sondereinflüssen gesellte sich noch ein sozusagen „normaler“ insofern, als eine rasch wachsende Wirtschaft mit hoher Investitionsquote grundsätzlich eine relativ starke Baunachfrage hervorruft. All diese Faktoren führten zu einer einmaligen Expansion der Bauwirtschaft. Schwer erklärlich ist dagegen die Stagnation der landwirtschaftlichen Produktion. Wohl hatte sie in Ostösterreich Kriegsschäden erlitten, und sicherlich war den Böden in den letzten Kriegsjahren nicht ausreichend Dünger zugeführt worden. Auch hatte sich die landwirtschaftlich genutzte Fläche geringfügig (– 3 %) verkleinert, und in den späteren Vierzigerjahren wurde bereits die Abwanderung aus der Landwirtschaft fühlbar (Nemschak, 1955, S. 47). All diese Überlegungen machen das langsame Produktionswachstum nicht ohne Weiteres verständlich, umso weniger, als diesem Wirtschaftszweig begreiflicherweise beträchtliche Fördermittel
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295
schon sehr früh zuflossen. So entfiel schon ein Teil der UNRRA-Hilfe auf Saatgut und landwirtschaftliche Produktionsmittel zu einer Zeit, als den anderen Wirtschaftszweigen noch kaum ausländische Investitionshilfen zur Verfügung standen. Aber auch von den Counterpartmitteln kamen in den ersten Jahren erhebliche Beträge diesem Sektor zugute. Bereits 1946 übertraf der Bestand an landwirtschaftlichen Maschinen jenen von 1937 bei Weitem. Dennoch blieb die Produktionssteigerung beträchtlich unter jener der anderen Wirtschaftszweige, insbesondere unter der von Industrie und Bauwirtschaft. Vielfach wurde vermutet, dass die Produktion deshalb unterschätzt worden sei, weil die Landwirte, um der Ablieferungspflicht zu entgehen, möglichst niedrige Angaben über die Ernteerträge machten. Dagegen lässt sich einwenden, dass die Erfassung von dritter Seite autonom erfolgte (Schätzung des Ernteertrags durch die Landwirtschaftskammern) ; vor allem aber, dass die so unterschätzte Produktion auf dem Markt, wenngleich auf dem „schwarzen“, hätte auftauchen müssen. Die Folge davon wäre gewesen, dass sich die Bevölkerung zu geringfügig höheren Preisen (Weltmarktpreisen) mit allem Notwendigen hätte eindecken können. Davon war aber keine Rede, weil sich bis Anfang der Fünfzigerjahre sehr hohe Nahrungsmitteleinfuhren als notwendig erwiesen, welche beträchtliche Teile der Auslandshilfe in Anspruch nahmen, die ansonsten anderen Zwecken hätten dienen können. Eine Erklärung für die schwache Entwicklung der landwirtschaftlichen Wertschöpfung könnte in der Preisentwicklung der landwirtschaftlichen Produkte liegen, welche als lebensnotwendige Güter einer strengen Preisregulierung unterworfen waren und einer Politik, welche die Preise nur sehr allmählich ansteigen ließ. Dies ergäbe zwar keine vollständige Antwort, weil eben der schwarze Markt eine Ausweichmöglichkeit geboten hatte und sich damit auch nicht der geringe Anstieg der Arbeitsproduktivität erklären lässt. Die Bedeutung des Preiselements lässt sich jedenfalls daraus ersehen, dass während des Krieges in den meisten Staaten die Agrarproduktion durch Erhöhung der Stopppreise erfolgreich stimuliert wurde. Das außerordentlich kräftige Wirtschaftswachstum der Marshallplan-Ära in allen OEEC-Staaten führte zu einer ebensolchen Expansion des österreichischen Außenhandels. 1947 wurden erst 29 % des Exportvolumens des Jahres 1937 erreicht, 1952 immerhin schon um 9 % mehr als vor dem Krieg. Die Gesamteinfuhr (einschließlich Auslandshilfe) übertraf den Export zunächst bei Weitem. Sie erreichte 1947 real bereits 55 % jener von 1937, doch verlangsamte sich ihr Zuwachs in den folgenden Jahren, sodass sie 1952 nur dem Stand von 1937 entsprach. Für diese Entwicklung ist eine Reihe von Umständen maßgebend : Zunächst repräsentierte der Importbedarf einen existenziellen, vor allem Nahrungsmittel und Energie. Zum Unterschied zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde Österreich
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Erfolgreicher Wiederaufbau
jedoch nunmehr die Möglichkeit geboten, diesen zu befriedigen. Andererseits musste der Bedarf mittelfristig eher zurückgehen, weil die Nahrungsmittelnachfrage ziemlich einkommensunelastisch ist und in steigendem Maß durch Inlandsproduktion gedeckt wurde. Weiters aber drückte sich in dieser Entwicklung auch der Strukturwandel aus, welcher sich in der österreichischen Wirtschaft vollzog. Es stieg nicht nur der Selbstversorgungsgrad in der Landwirtschaft, es gelang auch in weit höherem Maß als nach dem Ersten Weltkrieg, sich in der Versorgung mit Energie sowie Halbfertigwaren durch die ausgebauten Grundindustrien vom Ausland unabhängig zu machen. 1937 entfielen 27,8 % der Importe auf Nahrungs- und Genussmittel, 1949 noch 34,7 %, aber 1952 nur mehr 27,0 %. 1945 und 1946 repräsentierten fast 90 % der Gesamtimporte ausländische Hilfslieferungen, 1949 war es noch die Hälfte und 1952 nur mehr ein Sechstel. Österreich vermochte sich nunmehr auch – im Gegensatz zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – sehr rasch auf neue Märkte umzustellen. Die kräftige Exportsteigerung war möglich, wiewohl die traditionellen im Osten verloren gingen. 1937 entfielen noch 31,5 % der Ausfuhr auf die Nachfolgestaaten, 1946 25,3 % und 1952 nur mehr 15,7 %. Dementsprechend erhöhte sich der Exportanteil Westeuropas. Freilich verdeckt die günstige reale Entwicklung etwas die Schwierigkeiten des Ausgleichs der Leistungsbilanz, da sich die Austauschrelationen im Vergleich zur Vorkriegszeit erheblich zuungunsten Österreichs verschoben hatten (Nemschak, 1955, S. 58). Ein weiteres Problem ergab sich daraus, dass der Fremdenverkehr, welcher gegen Ende der Ersten Republik dazu schon einen wichtigen Beitrag geleistet hatte, nach Kriegsende praktisch nicht existierte. Naheliegenderweise fehlten vor allem für den Ausländertourismus fast alle Voraussetzungen. 1948/49 verzeichnete man 2,6 Millionen Übernachtungen von Ausländern gegenüber 10,9 Millionen solchen von Inländern ; 1952/53 allerdings waren schon 9,0 Millionen Übernachtungen von Ausländern erreicht, wogegen jene der Inländer mit 12,8 Millionen nur mäßig zugenommen hatten, freilich vor allem deshalb, weil sich die Expansion der Inländernächtigungen ins Ausland verlagert hatte. Die ungünstige Entwicklung der Austauschrelationen brachte es mit sich, dass es trotz der realen Exporterfolge in der Wiederaufbauphase vorerst nicht gelang, das Leistungsbilanzdefizit auszugleichen. Der Passivsaldo bewegte sich zu Ende der Marshallplan-Ära bei mehr als 3 % des Bruttoinlandsprodukts. Das war zwar bei Weitem weniger als in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als 1924 über 12 % und auch 1929 noch über 6 % dieser Größe erreicht worden waren, deutete aber darauf hin, dass die österreichische Wirtschaft vorerst noch nicht jener Struktur nahe gekommen war, welche es ihr erlaubt hätte, sich ohne Weiteres in den freien internationalen Wirtschaftsverkehr einzugliedern.
297
Der Weg zum „Friedensniveau“
Auch der Arbeitsmarkt wurde in Österreich zunächst, wie bereits dargelegt, in hohem Maß durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse bestimmt, welche dazu führten, dass er durch – asymmetrische – Knappheit charakterisiert wurde : Manuelle Arbeiter blieben rar, Angestelltenqualifikation hingegen war im Überfluss vorhanden. Überdies dürfte das Arbeitskräfteangebot zu dieser Zeit atypisch niedrig gewesen sein, weil sich ein Teil davon sozusagen „freien Berufen“ zugewandt hatte. Die Verdienstmöglichkeiten auf dem schwarzen Markt lagen beträchtlich über jenen normaler Erwerbstätigkeit, und auch Pfuscharbeit, das heißt selbstständige Tätigkeit gegen Naturalentlohnung, scheint recht verbreitet gewesen zu sein. Die Behörden versuchten, diese Arbeitskräfte dadurch zu unselbstständiger Tätigkeit zu verhalten, dass sie die Ausgabe der Lebensmittelkarten an einen Arbeitsnachweis knüpften. Eine Maßnahme, welche für die Pfuscharbeit nur geringe Bedeutung erlangte. Per Saldo hielt sich die Arbeitslosigkeit in der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre in Grenzen. Die Quote bewegte sich nach damaliger Berechnung (Arbeitslose in % des Angebots an Unselbstständigen) eher unter 4 %, um ab 1949 stetig anzusteigen. Während der Stabilisierungskrise 1953 erreichte sie den erwähnten Höhepunkt mit 8,8 %. Von da an begann sie allerdings stetig zu sinken. Übersicht 57 : Die Arbeitsmarktlage 1945 bis 1955 Unselbstständig Beschäftigte Stand
Veränderung
Arbeitslose Stand
Veränderung In 1.000
In %
Arbeitslosenquote1 in %
In 1.000
In 1.000
In %
In 1.000
1945
1.455,0
– 479,0
– 24,8
–
–
–
–
1946
1.742,2
+ 287,2
+ 19,7
74,0
–
–
4,1
1947
1.880,8
+ 38,6
+ 8,0
52,7
– 21,3
– 28,8
2,7
1948
1.907,2
+ 6,4
+ 1,4
54,5
+ 1,8
+ 3,4
2,8
1949
1.925,1
+ 17,9
+ 0,9
99,9
+ 45,4
+ 83,3
4,9
1950
1.927,2
+ 2,2
+ 0,1
128,7
+ 28,8
+ 28,9
6,3
1951
1.964,3
+ 37,0
+ 1,9
117,5
– 11,2
– 8,7
5,6
1952
1.919,5
– 44,8
– 2,3
156,8
+ 39,3
+ 33,4
7,6
1953
1.899,5
– 20,0
– 1,0
183,5
+ 26,7
+ 17,0
8,8
1954
1.955,3
+ 55,8
+ 2,9
163,1
– 20,4
– 11,1
7,7
1955
2.053,3
+ 98,0
+ 5,0
117,9
– 45,2
– 27,7
5,4
Quelle : Butschek, 1992. – 1 Arbeitslose in % des Angebots an Unselbstständigen.
Die Asymmetrie des Arbeitsmarkts bestimmte bis zu einem gewissen Grad auch die Lohnentwicklung. Insgesamt scheint das Realeinkommen in den Vierzigerjah-
298
Erfolgreicher Wiederaufbau
ren eher stagniert zu haben, nahm aber seit 1950 deutlich zu (Butschek, 1985, S. 116). Die erste dieser Perioden war überdies durch eine starke Tendenz zur Einkommensnivellierung gekennzeichnet, die sich erst im Lauf der Fünfzigerjahre änderte. Abschließend kann man sagen, dass sich die positiven sowie negativen Einflüsse dieser Periode dahin kompensierten, dass sich der Wiederaufbau wesentlich schneller und nachhaltiger vollzog als nach dem Ersten Weltkrieg. Darüber hinaus wurde aber in diesem Zeitraum eine Fülle von neuen Strukturen entwickelt, welche das künftige Wachstum fördern sollten. Abbildung 12 : Wachstum des Bruttoinlandsprodukts nach den Kriegen zu konstanten Preisen
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Kumulierte Veränderung in %
160
Nach dem Ersten Weltkrieg
140 120 100 80 60 40 20 0 -20 1920 1947
1921 1948
1922 1949
1923 1950
Quelle : Kausel – Nemeth – Seidel, 1965.
1924 1951
1925 1952
1926 1953
1927 1954
1928 1955
1929 1956
16. Das „Goldene Zeitalter“ in Österreich
16.1 Wirtschaftswunder und Staatsvertrag
Die Phase des Wiederaufbaus und der Transformation ging im gesamten OECDRaum nahtlos in jene des „Wirtschaftswunders“ über. Österreich zählte zu jenen Ländern, die am intensivsten an dieser Expansion teilhatten. Hier überdeckte die erste Phase der gesamten Wachstumsperiode zwei Konjunkturzyklen : jenen von 1953 bis 1958 sowie den von 1958 bis 1962. In dieser Zeit wuchs das Bruttoinlandsprodukt real um 73 %, was einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 6,3 % entspricht. Darin wurde Österreich im Rahmen der europäischen OECD nur von Deutschland übertroffen. Und das galt nur für das gesamte Bruttoinlandsprodukt, im Wachstum je Einwohner lag Österreich an der Spitze. Nun lassen sich einige Gründe für dieses außergewöhnliche Wachstum in Westeuropa anführen. Da ist einmal die Hypothese, dass der technische Fortschritt ein jährliches Kapazitätswachstum von etwa 2 % des Bruttoinlandsprodukts erlaube. Die reale Entwicklung habe dieses Volumen seit 1913 nicht annähernd ausgeschöpft, unter den günstigen Bedingungen nach 1945 sei das sozusagen aufgeholt worden. Weiters wird häufig auf die US-Wirtschaftshilfe hingewiesen, welche vielen europäischen Staaten einen raschen Wiederaufbau ohne Beschränkungen durch Zahlungsbilanz und Kapitalknappheit erlaubt habe. Schließlich nennt man auch das äußerst vorteilhafte soziale Klima. Die Gewerkschaften hätten mäßige Lohnsteigerungen akzeptiert, weil ihnen bewusst gewesen sei, dass die Unternehmergewinne überwiegend investiert würden (Eichengreen, 1996). Überdies sei die lohnpolitische Zurückhaltung durch den Ausbau der sozialen Sicherheit kompensiert worden (Pizzorno, 1978). Ganz generell lässt sich sagen, dass in dieser Periode das hohe gegenseitige Vertrauen der Sozialpartner, also Sozialkapital, entstanden ist, welches die Lösung vieler wirtschaftspolitischer Probleme vereinfacht habe (Butschek, 2002B). In der jüngeren wachstumspolitischen Debatte gewinnen immer stärker solche institutionentheoretische Überlegungen an Gewicht, also jene, die mit den Veränderungen der Institutionenstruktur („governance structure“) zusammenhängen. Wesentlich erscheint daher in diesem Kontext, dass auch der politische Schwerpunkt des Westens in dieser Periode im wirtschaftlichen Wachstum lag.
300
Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
Übersicht 58 : Veränderung des Bruttoinlandsprodukts europäischer OECD-Staaten zwischen 1953 und 1962 zu konstanten Preisen Durchschnittliche jährliche Veränderung in % Belgien
+ 3,6
Dänemark
+ 4,1
Deutschland
+ 6,6
Finnland
+ 5,3
Frankreich
+ 5,1
Griechenland
+ 5,7
Großbritannien
+ 2,6
Irland
+ 2,0
Island
+ 4,5
Italien
+ 5,8
Luxemburg
+ 3,1
Niederlande
+ 4,5
Norwegen
+ 3,5
Österreich
+ 6,1
Portugal
+ 4,7
Schweden
+ 4,0
Schweiz
+ 5,2
Spanien1
+ 5,3
Türkei
+ 4,0
Quelle : WIFO-Datenbank. – 1 1954 bis 1962.
Das drückte sich nicht nur im Konzept von Bretton Woods aus, sondern ebenso in der seit 1945 betriebenen Wirtschaftspolitik. Das war ja deshalb nicht weiter verwunderlich, weil es nicht nur galt, die Schäden des Krieges zu beseitigen, sondern auch jene Folgen zu vermeiden, welche die Weltwirtschaftskrise nach sich gezogen hatte. Der Siegeszug des Keynesianismus schien der Politik auch das Instrumentarium in die Hand gegeben zu haben, das Wachstum zu regulieren. Es war jene Zeit, da manche Ökonomen das Ende des Konjunkturzyklus konstatierten oder die „Feinsteuerung der Konjunktur“ ins Auge fassten. Jedenfalls kam es in dieser Atmosphäre zu einer Stabilisierung der Erwartungen aller Wirtschaftssubjekte, insbesondere der Unternehmer, was wieder deren Investitionsverhalten sowie auch ihre Personalpolitik beeinflusste. Ersteres wurde auch dadurch begünstigt, dass die Geldpolitik darauf achtete, den Zinssatz unter der Wachstumsrate des nominellen Bruttoinlandsprodukts zu halten.
Wirtschaftswunder und Staatsvertrag
301
Ebenso dürfte die Arbeitsmotivation der Beschäftigten nicht nur durch die hohen Einkommenszuwächse positiv beeinflusst worden sein, sondern auch dadurch, dass mit dem hohen Wachstum eine beträchtliche Einkommensumverteilung einherging, welche dafür sorgte, dass bei wachsender Abgabenquote – in dieser Phase der Wohlfahrtsstaatsideologie oder jener der „Sozialen Marktwirtschaft“ entsprechend – das System der sozialen Sicherheit erweitert und später auch eines der Erziehung und Ausbildung aufgebaut wurde. Aber nicht nur die staatliche Wirtschaftspolitik zielte auf Wachstum, solches galt auch für die Interessenverbände. Die Gewerkschaften beschäftigten sich nicht allein mit Löhnen sowie mit Arbeitsrecht und Sozialversicherung, sondern auch mit ökonomischen Fragen, um das Wachstum zu fördern. Eine Position, welche sich in der von Eichengreen beschriebenen Konstellation niederschlug. Praktisch war für die gesamte Bevölkerung die ökonomische Expansion, welche ja die Basis für die Steigerung der Einkommen bildete, zum zentralen Wert geworden. Nahezu alle Bürger versuchten, dazu ihren Beitrag zu leisten. Alles konzentrierte sich auf die Ausweitung von Produktion, Leistung und Einkommen. Die „governance structure“ dieser Epoche war fast ausschließlich auf Wirtschaftswachstum ausgerichtet. Und es bestand im Westen auch Übereinstimmung darüber, dass das beste Vehikel für die ökonomische Expansion die Marktwirtschaft sei. Alternative Konzepte, wie der real existierende Sozialismus, spielten insbesondere im deutschsprachigen Raum überhaupt keine Rolle. Auch die Sozialdemokratie, welche in der praktischen Politik nie Versuche in Richtung solcher Alternativen unternommen hatte – sie hielt nur in manchen Ländern länger an der Kriegsreglementierung fest –, bekannte sich im Lauf der Fünfzigerjahre zu diesem Weg. Symbol dafür wurde in Deutschland das „Godesberger Programm“. Freilich handelte es sich um eine von der – keynesianisch inspirierten – Wirtschaftspolitik geformte Marktwirtschaft. Eine der Voraussetzungen dafür, dass Österreich an dieser neuen Periode der wirtschaftlichen Entwicklung derart intensiv partizipierte, lag zunächst in jener des europäischen Umfelds. Hatten die USA zuvor durch die Auslandshilfe Österreich die Möglichkeit eingeräumt, seinen Produktionsapparat ohne Zahlungsbilanzsorgen wieder aufzubauen – es war eine sozusagen angebotsseitige Sanierung ermöglicht worden –, sicherte auch in der folgenden Phase die ausländische Wirtschaftsentwicklung eine befriedigende Nachfrage. Gerade die Erfahrungen früherer sowie späterer Perioden zeigen für ein kleines Land, dass die entsprechende Auslandsnachfrage sicherlich keine ausreichende, aber eine notwendige Bedingung für kräftiges Wachstum darstellt.
302
Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
Für alle europäischen Staaten galt, in besonderem Maß aber für Österreich, das Problem der technischen Rückständigkeit gegenüber den USA. Die Stagnation der Zwischenkriegszeit hatte zu einer ebensolchen der Investitionen geführt. Der kurze Aufschwung Ende der Dreißigerjahre vermochte diese Phase nicht zu kompensieren, und die Rüstungsinvestitionen der Kriegszeit waren entweder zerstört oder unter Friedensbedingungen nicht ohne Weiteres einsetzbar. Nunmehr standen jedoch Österreich die technischen Möglichkeiten der höchstentwickelten Industriestaaten, vor allem der USA, zur Verfügung. Im Aufholen dieses Rückstands sieht Abramovitz den Hauptgrund überdurchschnittlichen Wachstums, vor allem dann, wenn die institutionellen und sozialen Voraussetzungen dazu – die „social capability“ – gegeben sind (Abramovitz, 1986, S. 385), was in Österreich in hohem Maß der Fall war. Die stimulierende Wirkung des Auslandswachstums für die heimische Exportwirtschaft wurde überdies noch dadurch verstärkt, dass die Realisierung des Systems von Bretton Woods eine immer stärkere internationale Arbeitsteilung ermöglichte. Diese Tendenz wurde durch die europäische Integration verstärkt. Die Zusammenhänge der österreichischen Wirtschaftsentwicklung mit jener des Auslands dokumentierten sich auch dadurch, dass in den folgenden zwei Jahrzehnten fast jeder Konjunkturaufschwung in Österreich über den Export in Gang kam. Weiters könnte Österreich von seiner relativen Rückständigkeit insofern profitiert haben, als es noch einen umfangreichen Agrarsektor besaß. 1951 waren noch 32,6 % aller Erwerbspersonen in der Landwirtschaft tätig, 1971 gab es nur mehr 13,9 % in diesem Sektor. Ihre massive Abwanderung während dieser Periode raschen Wachstums in Bau, Verkehr und Industrie, also der Wechsel von einem Sektor niedriger Produktivität in solche höherer, verursachte einen außerordentlichen Produktivitätszuwachs – einen Struktureffekt. Manche Autoren sahen im elastischen Arbeitskräfteangebot eine wesentliche Ursache für exzeptionelles Wachstum in dieser Periode (Kindleberger, 1967). Letztlich wird die außerordentliche Performance der österreichischen Wirtschaft auch darauf zurückgeführt, dass hier die Kooperation der Marktparteien, die „Sozialpartnerschaft“, die größte Intensität aller westeuropäischen Staaten erreicht habe (Henley – Tsakalotos, 1993, S. 118). Abgesehen von den Effekten der Lohnzurückhaltung, welche die Investitionen angeregt habe, ließ das korporatistische System eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens entstehen, welches die Unsicherheit der Wirtschaftssubjekte reduzierte und damit die Transaktionskosten im Hinblick auf Lohnentwicklung, Arbeitsbeziehungen und Streiks senkte. Österreich zählt mit der Schweiz zu den westeuropäischen Staaten mit der geringsten Streikhäufigkeit.
209,3
40,3
52,4
117,0
11,0
145,3
24,4
11,7
38,0
10,9
14,8
–
15,0
Ø1970 bis 1974
Ø1975 bis 1979
Ø1980 bis 1984
Ø1985 bis 1989
Ø1990 bis 1994
Ø1995 bis 1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
5,6
0,3
0,8
2,5
4,7
0,4
0,2
1,5
8,8
0,9
26,0
24,6
27,5
3,3
16,9
154,6
9,8
20,2
17,5
14,2
60,7
61,7
99,5
161,8
233,1
225,8
361,7
56,0
DeutschFinnland land
–
–
4,2
4,9
–
15,1
17,8
14,2 2
11,9 1
20,1
44,6
102,8
100,1
63,4
Frankreich Italien
Kanada
Niederlande
37,0
10,4
13,1
3,1
17,9
9,6
25,5
10,3
9,6
26,7
20,1
59,5
149,3
32,2
28,4
109,9
17,5
9,9
136,8
450,0
730,0
725,3
599,3
86,2
232,7
246,2
301,2
81,1
24,1
144,2
108,4
110,1
104,5
77,7
59,9
106,9
93,6
164,6
316,1
451,2
411,0
366,7
1,0
2,8
–
–
–
3,1
0,7
12,8
8,1
4,6
10,0
13,6
27,2
3,0
Minuten je unselbstständig Beschäftigten
Großbritannien
Quelle : Arbeiterkammer. – 1 Ø 1990 bis 1993. – 2 Ø 1997 bis 1999.
20,1
Ø1965 bis 1969
Dänemark
Übersicht 59 : Streikhäufigkeit im internationalen Vergleich
0,0
0,0
0,0
0,0
1,4
0,0
0,4
0,6
3,3
1,7
0,7
0,6
8,7
10,9
Österreich
0,2
0,1
1,9
78,7
0,1
1,4
0,0
21,4
26,2
57,8
118,1
13,8
29,6
13,6
Schweden
22,7
29,5
143,9
28,1
181,9
72,7
142,3
74,5
234,8
310,4
315,0
690,8
62,2
17,8
Spanien
9,4
150,0
3,8
15,4
2,5
4,4
77,3
17,7
20,7
41,2
98,0
204,7
284,3
264,2
USA
Wirtschaftswunder und Staatsvertrag
303
304
Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
Die Stabilisierung der österreichischen Wirtschaft nach der Phase der PreisLohn-Abkommen zog einen doch recht tief greifenden Wandel der wirtschaftspolitischen Konzeption nach sich. Diese Veränderung wurde durch verschiedene Komponenten bewirkt. Da war sicherlich einmal die schon erwähnte allgemeine Einsicht, dass das Erbe der kriegswirtschaftlichen Planung, welches zuletzt seinen Ausdruck in den Preis-Lohn-Abkommen gefunden hatte, den Bedürfnissen einer Industriegesellschaft nicht mehr gerecht wurde und dass der marktwirtschaftliche Koordinationsmechanismus vorzuziehen sei. Es sollte allerdings in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die Sozialdemokratie – im Gegensatz zum Sowjetsystem – nie ein alternatives Wirtschaftsmodell entwickelt hatte. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg orientierte sie sich teilweise am sogenannten „Linkskeynesianismus“ mit gewissen Planungselementen und einer Tendenz, die kriegswirtschaftliche Reglementierung aufrechtzuerhalten. Am stärksten engagierte sich in Österreich Karl Waldbrunner in Richtung Planung und Verstaatlichung. Schon von Renner im Frühjahr 1945 mit der Wiederingangsetzung der Industrie in Niederösterreich beauftragt (Zollinger, 2006, S. 45), engagierte er sich besonders in der Einsetzung öffentlicher Verwalter, indem er durch entsprechende Personalauswahl nicht nur Einfluss auf das Industriemanagement gewinnen wollte, sondern – unter den Bedingungen der Nachkriegsbewirtschaftung – auch auf die Betriebsführung, um letztlich Schritte für eine Verstaatlichung zu setzen (Felber, 2006, S. 232). Da diese aus anderen Gründen und der Wiederaufbau erstaunlich rasch sowie auch erfolgreich abgeschlossen werden konnten, verloren sich die sozialistischen Ambitionen, eine Wirtschaftsplanung zu etablieren : „Insgesamt entsteht bei Betrachtung der in der SPÖ nicht mit großer Intensität geführten Diskussion über Wirtschaftsplanung der Eindruck, dass parallel zum schrittweisen Abbau der Bewirtschaftungsmaßnahmen der unmittelbaren Nachkriegsjahre die Bereitschaft, sich eines solchen Projekts anzunehmen, das eine gewaltige technokratische Apparatur sowie die Schaffung weiterer Steuerungsinstrumente und die Koordinierung von wirtschaftlichen und sozialen Interessenverbänden zur Erreichung der Ziele erforderte, in der SPÖ in dem Maß abnahm, als sich zeigte, dass die großen Ziele Einkommenserhöhung und Wachstum, Vollbeschäftigung und Ausbau der Sozialen Sicherheit auch ohne kompliziertes System der gesamtwirtschaftlichen Planung erreichbar sein könnten“ (Chaloupek, 2006, S. 203). Im vorigen Kapitel wurde die Entwicklung der gewerkschaftlichen wirtschaftspolitischen Konzepte in Richtung einer marktwirtschaftlichen Koordination bereits nachgezeichnet. Ein ähnlicher Prozess vollzog sich innerhalb der SPÖ.
Wirtschaftswunder und Staatsvertrag
305
Andererseits hatte sich in Europa, insbesondere in Deutschland, eine neue theoretische Konzeption entwickelt, welche die Superiorität der marktwirtschaftlichen Koordination besonders betonte. Die Diskussion über die Funktionsfähigkeit von Wirtschaftssystemen hatten eigentlich schon zwischen den Kriegen die beiden Österreicher Ludwig Mises und Friedrich A. Hayek initiiert, sie wurde nun von einer großen Zahl deutscher Ökonomen (Böhm, Eucken, Jöhr, Müller-Armack, Röpke, Rüstow) in ähnlichem Sinn, wenngleich mit unterschiedlichen Akzenten, fortgesetzt. Das aus diesen Überlegungen entstandene Wirtschaftsmodell wurde auch unter dem Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ populär. Manche Vertreter dieser Lehre akzentuierten die soziale Sicherung marktwirtschaftlicher Abläufe. Doch gab es eine solche in Deutschland faktisch seit Bismarck, und eine theoretische Fundierung des Ausmaßes wurde nicht geliefert. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf dem staatlichen Schutz des Wettbewerbs. Allerdings wurde angesichts antimonopolistischer Gesetze auch in anderen Staaten nie recht klar, wodurch sich das Wirtschaftssystem Deutschlands, wo sich die „Soziale Marktwirtschaft“ realisiert haben sollte und als konstitutiv für die wirtschaftlichen Erfolge des Landes angesehen wurde, grundsätzlich von jenem unterschied, das in allen übrigen OECD-Staaten existierte (Dornbusch, 1993, S. 883), wenngleich nicht bestritten werden soll, dass Deutschland andere wirtschaftspolitische Akzente setzte als seine Nachbarn. Unter distanzierter Betrachtung scheint es, dass die drei westlichen Besatzungszonen mit der unter alliierter Patronanz vollzogenen Währungsreform 1948 und den folgenden Schritten zur binnenwirtschaftlichen Liberalisierung eigentlich, wenngleich mit spezifischen Akzenten, gleichfalls jenes Wirtschaftssystem verwirklichten, das den Vorstellungen von Bretton Woods entsprach. Heute würde man eher dazu neigen, auch die Wirtschaft Deutschlands dieser Zeit, wie das der anderen europäischen Staaten, als „Rheinischen Kapitalismus“ zu bezeichnen. Wenn trotzdem die „Soziale Marktwirtschaft“ ein derartiges Echo in der öffentlichen Diskussionen hervorrief, liegt die Vermutung nahe, dass diese Gedanken in hohem Maß politisch-ideologischen Charakter trugen (Rothschild, 1964, S. 16). Dieser ihr Aspekt wurde auch in Österreich sichtbar, weil die ÖVP in der politischen Tagesdiskussion die marktwirtschaftliche Rekonstruktion unter die Devise des „Raab-Kamitz-Kurses“ stellte, welcher als Garant einer marktkonformen Politik betrachtet wurde – wenngleich die tagespolitischen Maßnahmen oft durch jene Wettbewerbsbeschränkungen bestimmt blieben, welche aus der agrarisch-gewerblichen Tradition der Volkspartei resultierten. Und damit ist schon die dritte Determinante des konzeptionellen Wandels angesprochen, nämlich die Person Reinhard Kamitz’, welcher die Stabilisierung der
306
Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
österreichischen Wirtschaft 1952 vollzogen sowie deren Umstellung auf die marktwirtschaftliche Koordination eingeleitet hatte und auch die Wirtschaftspolitik der Fünfzigerjahre in hohem Maß prägte. Zwar wäre es verfehlt, in ihm einen stets konsequenten Protagonisten der Marktwirtschaft zu sehen, auch er änderte seine Auffassungen. Als Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung in der Bundeswirtschaftskammer war er Initiator und Mitvollzieher der Preis-Lohn-Abkommen gewesen. Als der spätere Generalsekretär der Vereinigung Österreichischer Industrieller, Franz C. Fetzer, in dieser Phase betonte, dass es notwendig sei, die Preisbildung freizugeben, meinte Kamitz zu ihm : „Sie haben recht, aber im Augenblick ist es unmöglich, Ihren Wunsch zu verwirklichen, denn wenn wir unvermittelt die Preise freigeben, müssen wir auch die Löhne freigeben, und, was meinen Sie, werden dann, auf längere Frist gesehen, die Folgen sein ? Wir können die Bewirtschaftung nur langsam abbauen, und auch gegenüber berechtigten Wünschen der Wirtschaft muss Zurückhaltung geübt werden !“ (Diwok – Koller, 1977, S. 40). Wenn er nunmehr eine neue Wirtschaftspolitik empfahl und auch realisierte, so handelte er aufgrund seiner ökonomischen Einsicht, welche sich ja schon 1951 zu einem Konzept verdichtet hatte, und wurde auch zum Träger der neuen Geisteshaltung. Zwar behielt auch er expansive Effekte der Fiskalpolitik durchaus im Auge. Vor 1952 war diese ständig unter diesem Aspekt betrieben worden und trug damit zu jener inflationären Entwicklung bei, welche letztlich mit in die Stabilisierungskrise 1952/53 führte. Die Fortsetzung einer solchen Politik war für ihn daher indiskutabel. Aber die Maßnahmen dieser Epoche blieben nicht neoklassisch, als eine kompensatorische Fiskalpolitik keynesianischer Prägung durchaus vorstellbar blieb und auch praktiziert wurde (Diwok – Koller, 1977, S. 140) – nicht zuletzt auch infolge früher persönlicher Prägungen : „Bei Kamitz ist auch der Einfluss von Ideen der reichsdeutschen Investitionsförderungspolitik des seinerzeitigen Finanzministers Hjalmar Schacht nicht auszuschließen“ (Matis, 2001, S. 213). Reinhard Kamitz versuchte, nach der Stabilisierung die wirtschaftliche Expansion wieder mit einem sehr breiten Fächer von Maßnahmen voranzutreiben. Das geschah nicht nur durch dreimaliges Senken der Bankrate im Lauf des Jahres 1953, sondern auch durch Festsetzung eines neuen Wechselkurses. Die gespaltenen Kurse (Grundkurs : 14,40 Schilling je Dollar, Prämienkurs : 26 Schilling je Dollar, Mischkurs : 21,36 Schilling je Dollar) wurden abgeschafft und der bisherige „Prämienkurs“ nunmehr als einziger Wechselkurs fixiert. Diese Abwertung des Schillings begünstige naturgemäß die Exporte. Die Maßnahme erwies sich als umso wirkungsvoller, als sich von der Importseite her keinerlei Preisauftriebstendenzen bemerkbar machten. Hier war offenbar der Zeitpunkt im Hinblick auf die internationale Konjunkturlage besonders günstig gewählt worden. Doch wurde darüber
307
Wirtschaftswunder und Staatsvertrag
Übersicht 60 : Bundesvoranschlag und Bundesrechnungsabschluss 1946 bis 1953 Bundesvoranschlag GesamtGesamteinnahmen ausgaben1
Bundesrechnungsabschluss
Bruttosaldo In % des BIP
Millionen Schilling
GesamtGesamteinnahmen ausgaben1
Bruttosaldo In % des BIP
Millionen Schilling
1946
2.530
3.110
– 580
– 2,5
2.679
3.726
– 1.047
– 4,6
1947
2.989
3.476
– 487
– 1,8
5.411
5.483
– 72
– 0,3
1948
5.092
6.290
– 1.198
– 3,7
6.363
7.451
– 1.088
– 3,3
1949
6.091
7.531
– 1.440
– 3,5
9.166
9.525
– 359
– 0,8
1950
9.617
10.695
– 1.078
– 2,1
12.151
12.282
– 131
– 0,2
1951
14.564
15.265
– 701
– 1,0
17.270
17.367
– 97
– 0,1
1952
18.978
19.512
– 534
– 0,7
21.090
21.450
– 360
– 0,4
1953
18.978
19.512
– 534
– 0,6
22.731
22.624
+ 107
+ 0,1
Quelle : Bundesministerium für Finanzen. – 1 Einschließlich Finanzschuldtilgungen.
hinaus noch eine Reihe von spezifischen Maßnahmen gesetzt, welche unter den gegebenen Umständen offenbar gleichfalls expansiv wirkten. So verringerte sich durch drei Senkungen der Lohn- und Einkommensteuer die Steuerbelastung. Blieb die erste (1. Jänner 1954) leicht degressiv, so zielte die zweite (1. Jänner 1955) durch eine lineare Senkung von 10 % auf eine Entlastung der höheren Einkommen. Die dritte (1. Jänner 1958) begünstigte wieder die niedrigeren Einkommen, da mit ihr konjunkturpolitische Intentionen verbunden waren. Sie sollten angesichts der drohenden Rezession dem privaten Konsum Impulse geben (Diwok – Koller, 1977, S. 116). Zu diesen Reduktionen des Steuertarifs kam eine Reihe kleinerer Steuererleichterungen allgemeiner Art, wie etwa die Einführung des Kraftfahrzeugpauschales 1957, oder besonderer zur Förderung der Kapitalbildung, wie die steuerliche Begünstigung von 10 % des Gewinnes, wenn er in speziellen Wertpapieren angelegt wurde, sowie der Freibeträge für Zinsen und Dividenden. Schließlich führte man die Steuerpauschalierung nichtbuchführender Unternehmen ein. Einen wesentlichen Wachstumsimpuls setzte sicherlich auch die Schaffung von direkten Investitionsbegünstigungen. Die „vorzeitige Abschreibung von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens“ wurde erstmals im Ausfuhrförderungsgesetz 1953 verankert, jedoch bald auf die gesamte Produktion ausgedehnt. Diese Regelung ermöglichte es den Unternehmen, im ersten Jahr der Anschaffung ein Wirtschaftsgut mit einem erhöhten Satz (50 % für bewegliche, 20 % für unbewegliche Wirtschaftsgüter) abzuschreiben. Damit wurde ihnen ein zinsenfreier Steuerkredit gewährt und
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Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
der Anreiz geschaffen, durch immer wieder neue Investitionen die Steuerzahlung zu vermeiden. Tatsächlich kam es in dieser Entwicklungsphase der österreichischen Wirtschaft zu einem weiteren Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Investitionsquote. Zwar erlebte diese Maßnahme noch manche Änderung – 1954 und 1955 wurde sie infolge eines Investitionsbooms ausgesetzt – und war auch stets von der Kritik begleitet, sie verleite zu Fehlinvestitionen, doch blieb sie lange Zeit ein Charakteristikum der österreichischen Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Als besonderes Anliegen Kamitz’ erwies sich die Rekonstruktion des Kapitalmarkts. Langfristiges Kapital stand bis zur Währungsstabilisierung aus heimischen Quellen praktisch nicht zur Verfügung. Investitionen wurden durch ERP-Hilfe, öffentliche Gelder, Eigenmittel und nur in sehr eingeschränktem Maß durch Kredite von Geldinstituten finanziert. Kamitz versuchte, diese Situation durch generelle Sparbegünstigung (Sparförderungsgesetz 1953) sowie durch eine Reihe spezieller Gesetze zu ändern. Das 1954 beschlossene Schillingeröffnungsbilanzgesetz ermöglichte es den Unternehmen, ihre Anlagegüter noch einmal zum Zeitwert zu bilanzieren. Dadurch ergaben sich hohe Abschreibungsmöglichkeiten mit entsprechender Steuerersparnis, ebenso wurden dadurch inflationsbedingte Scheingewinne reduziert. Nach einigen kleineren, gleichfalls den Kapitalmarkt betreffenden Gesetzen wurde der nächste wesentliche Schritt 1955 mit den sogenannten „Kapitalmarktgesetzen“ getan. Das erste davon war das Bankenrekonstruktionsgesetz, mit welchem die Geldinstitute, vor allem die Sparkassen und Hypothekenanstalten, durch Bundesunterstützung das erste Mal seit Ende des Krieges in die Lage versetzt wurden, zu bilanzieren. Da die Versicherungen darin 60 % ihres Vermögensbestands verloren hatten, sah sich der Staat veranlasst, ihnen gleichfalls Hilfe zu gewähren, was im Wege des Versicherungswiederaufbaugesetzes geschah (Diwok – Koller, 1977, S 130). Letztlich wurde das mit dem Notenbank-Überleitungsgesetz geschaffene Provisorium durch das Nationalbankgesetz 1955 beendet. Der bedeutendste geldpolitische Aspekt des neuen Gesetzes lag darin, dass die Geschäftsbanken zur Haltung von Mindestreserven verpflichtet waren und der Nationalbank die Möglichkeit der Offenmarktpolitik erschlossen wurde. Wie in Abschnitt 15 ausgeführt, vollzog sich der Außenhandel nach 1945 in äußerst bescheidenem Rahmen und wurde strikt reguliert. Anfang der Fünfzigerjahre jedoch schloss sich Österreich allmählich den Liberalisierungsinitiativen von GATT und OECD an. Mitte 1953 ging Österreich zum System des freien Außenhandels über, innerhalb dessen Rahmen – nämlich der Importstruktur des Jahres 1949 – liberalisierte Waren grundsätzlich eingeführt werden konnten. Der Liberalisierung des Warenverkehrs folgte in kurzem Abstand jene der Zahlungen. Mit
Wirtschaftswunder und Staatsvertrag
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1. Jänner 1959 erklärte Österreich seine Währung für Ausländer konvertibel, und Mitte 1962 wurde Inländern der Ankauf ausländischer Effekten gestattet (Breuss, 1983, S. 24). Die Exportförderung wurde intensiviert. Mit dem Ausfuhrförderungsgesetz 1953 führte man die Rückvergütung der Umsatzsteuer für Exporte ein. 1954 wurde die „Exportrisikohaftung“ ausgebaut und 1960 ein mittelfristiges Exportfinanzierungssystem geschaffen, das die Basis für die gesamte folgende Entwicklung abgab. Es war durch die Kombination von Bundeshaftungen für Exportgeschäfte und erleichterte Finanzierung gekennzeichnet (Breuss, 1983, S. 48). Natürlich darf nicht übersehen werden, dass im Rahmen der großen Koalition auch manche Vorstellungen der Sozialistischen Partei realisiert wurden ; teilweise durch Änderung der relevanten Gesetzesentwürfe, vor allem aber durch Ausbau der sozialen Sicherheit. Grundsätzlich forderten die Arbeiterkammer sowie der ÖGB eine aktive Konjunkturpolitik mit dem Hauptziel, die Vollbeschäftigung zu erreichen, in erster Linie durch – kreditfinanzierte – öffentliche Investitionen. Mögliche Effekte auf der Preisseite sollten wieder durch Maßnahmen nach dem Preisregelungsgesetz, durch Einfuhrliberalisierung und Zollsenkungen, aber auch durch Exportrestriktionen aufgefangen werden. Für preisgeregelte Waren wollte die Arbeiterkammer durch Reduktion der Handelsspannen die Verteuerungen auffangen oder verringern, ebenso wie sie durch ihre Aktivitäten im Rahmen der Verwaltungskommissionen der Agrargesetze sowie der Kartellkommission nach dem österreichischen Kartellgesetz einen gewissen Druck auf die Preise auszuüben trachtete. Eine restriktive Geldpolitik lehnte die Arbeiterkammer in diesem Zusammenhang jedoch stets ab ! Diese Position wurde anlässlich einer am 15. Jänner 1953 vom Arbeiterkammertag und dem ÖGB einberufenen Vorständekonferenz in einer Entschließung folgendermaßen formuliert : „Der Vorstand des Österreichischen Gewerkschaftsbunds brachte in seiner Entschließung vom 3. April 1952 zum Ausdruck, daß er die Stabilisierung der österreichischen Währung unterstütze, jedoch eine deflationistische Wirtschaftspolitik ablehne“ (Arbeiterkammer Wien, Jahrbuch 1953, S. 231). In der Öffentlichkeit fand die Position der SPÖ und der Arbeitnehmervertretungen offenbar Zustimmung, denn in den Nationalratswahlen 1953 erlangte die SPÖ das erste Mal in der Zweiten Republik die Mehrheit der Stimmen, wenn auch nicht der Mandate. In der Regierung, die abermals von ÖVP und SPÖ gebildet wurde, übernahm nunmehr Julius Raab die Position des Bundeskanzlers, Finanzminister blieb Reinhard Kamitz. Der „Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich“ vom 15. Mai 1955 wurde zu einer Zeit abgeschlossen, da die österreichische Wirtschaft die Stabilisierungskrise
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überwunden und wieder ein kräftiges Wirtschaftswachstum erzielt hatte. Der Abzug der Besatzungsmächte brachte nicht nur Erleichterungen. Probleme, die im Jahrzehnt zuvor oft Streitpunkte gewesen waren, wurden noch einmal schlagend. Die unmittelbaren Belastungen durch die Besatzung waren – wie schon erwähnt – zuletzt recht gering gewesen : Die USA hatten bereits im Juli 1947 auf die Besatzungskosten verzichtet. Engländer und Franzosen begnügten sich wenig später mit der Hälfte. Ab August 1953 verlangte auch die Sowjetunion keine mehr und ab 1954 verzichteten England und Frankreich ebenfalls vollständig darauf. Somit führte die Anwesenheit der Besatzungsmächte sogar zu indirektem Export – mit Ausnahme der Sowjetunion, welche durch die Erträge des USIA-Konzerns über ausreichend Schilling verfügte, um für den Unterhalt ihrer Truppen aufzukommen. Dagegen musste sich Österreich im Staatsvertrag verpflichten, das „deutsche Eigentum“, worunter die USIA-Betriebe zu verstehen waren, abzulösen. Dafür waren sechs Jahre Waren im Wert von 150 Millionen Dollar zu liefern. Die Art der Warenlieferungen wurde von der Sowjetunion festgelegt, bezog sich aber großteils auf Produkte des ehemaligen USIA-Konzerns. Für die Übertragung der Erdölförderung hatte Österreich sechs Jahre lang 1 Million Tonnen Rohöl zu liefern (ursprünglich zehn Jahre, doch verzichtete später die Sowjetunion auf einen Teil ihres Anspruchs), deren Gesamtkosten mit 2,7 Milliarden Schilling beziffert wurden. Schließlich musste Österreich die Schulden der USIA-Betriebe an die sowjetische Militärbank übernehmen. Dazu kam noch die im Rahmen des „Wiener Memorandums“ festgelegte Entschädigungssumme von 400 Millionen Schilling für die angloamerikanischen Erdölgesellschaften, welche vor 1938 Schürfrechte in Österreich besessen hatten. Insgesamt beliefen sich die Kosten des Staatsvertrags auf 7,8 Milliarden Schilling. Der Großteil dieser Summe wurde 1955 und 1956 gezahlt ; in den folgenden vier Jahren der Rest. Daraus ergab sich für die österreichische Wirtschaft – sehr grob geschätzt – eine jährliche Belastung von 1 Milliarde Schilling. Das entsprach knapp 1 % des österreichischen Bruttoinlandsprodukts oder weniger als 5 % der Budgetausgaben des Bundes. Somit bewegte sich die Belastung Österreichs angesichts jährlicher Wachstumsraten von real etwa 5 % in Größenordnungen, welche keine allzu starken Bremseffekte auf die Wirtschaftsentwicklung ausüben konnten. Freilich ergaben sich im Nachhang des Staatsvertrags noch Probleme mit Deutschland. Gemäß dessen Artikel 22 wurde das „deutsche Eigentum“, sofern es den Wert von 260.000 Schilling überstieg, der Republik Österreich übertragen. Im Gegenzug hatte Österreich gemäß Artikel 23 auf alle zwischen dem 13. März 1938 und dem 8. Mai 1945 entstandenen Ansprüche gegenüber deutschen Staatsangehörigen zu verzichten.
Sozialpartnerschaft und Sozialpolitik
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Bundeskanzler Konrad Adenauer zeigt sich über die vermögensrechtlichen Bestimmungen des Vertrags betreffend das Eigentum deutscher Staatsangehöriger äußerst ungehalten, wiewohl sich Deutschland im Pariser Vertrag vom 23. Oktober 1954 dazu verpflichtet hatte, die Bestimmungen des künftigen österreichischen Staatsvertrags anzuerkennen. Seine Interventionen bei den westlichen alliierten Mächten stießen auf einhellige und entschiedene Ablehnung ; er erwog daher sogar Sanktionen gegen Österreich. Solche Intentionen wurden jedoch von diplomatischer Seite abgelehnt, weil feindselige Akte gegen das Nachbarland die Position Deutschlands im Westen beeinträchtigen hätte können (Röder, 2006, S. 59). Erst nachdem Außenminister Heinrich von Brentano sein Amt angetreten hatte, entspannte sich die Atmosphäre. Österreich erklärte sich bereit, Deutschland entgegenzukommen (Stourzh, 1998, S. 526). Im November 1955 kamen die Regierungen überein, eine gemischte Kommission zu bilden, welche Lösungen für die Vermögensfrage zu finden hätte. Die Verhandler standen vor heiklen Problemen, weil sie nicht nur den beiderseitigen Interessen gerecht werden sollten, sondern auch darauf achten mussten, nicht gegen den Staatsvertrag und damit gegen die Position der Alliierten zu verstoßen. Dennoch gelangte man, freilich nach zähen Verhandlungen, zu einem allseits befriedigenden Ergebnis und konnte 1957 den „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Regelung vermögensrechtlicher Beziehungen“ paraphieren. Kern des Vertrags lag in der Wahl des Stichtags für die Vermögensfeststellung, welcher mit 1. Jänner 1948 fixiert wurde. Damit ließ sich der Wert von 1955 fast verdoppeln. Aber auch in anderen Bereichen, vor allem kulturellen, erzieherischen, religiösen oder karitativen, kam es zu großzügigen Lösungen. Jedenfalls konnte das „kleine deutsche Eigentum“ fast zur Gänze restituiert werden. Umgekehrt wurde der Inhalt des Artikels 23 des Staatsvertrags, also der österreichische Forderungsverzicht, obsolet. Zur Schlichtung von Streitfällen schuf das Abkommen mehrere Gremien, nämlich eine ständige Kommission, einen Schlichtungsausschuss sowie ein Schiedsgericht. Die deutschen industriellen Neugründungen während des Zweiten Weltkriegs, also ein Großteil der nunmehr Verstaatlichten Industrie, waren nicht mehr Gegenstand der Verhandlungen gewesen.
16.2 Sozialpartnerschaft und Sozialpolitik
In der Phase des „Wirtschaftswunders“ wurde die wirtschaftspolitische Position der Arbeitnehmervertretungen durch mehrere Veränderungen beeinflusst. Da vollzog
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Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
sich zunächst der endgültige Übergang von der Nachkriegsplanwirtschaft zur Marktwirtschaft. Dieser Wechsel des Koordinationsmechanismus musste eine Verringerung des Einflusses der Arbeitnehmervertretungen mit sich bringen, da die Gremien eben nicht mehr existierten, welche erlaubt hätten, direkt in die Wirtschaftspolitik einzugreifen. Zwar hatte man noch in der Phase der Preis-Lohn-Abkommen 1951 das „Wirtschaftsdirektorium“ geschaffen, eine Institution, in welcher die mit wirtschaftlichen Belangen befassten Minister sowie die Repräsentanten der Interessenvertretungen zusammentrafen. Dadurch wäre es auch zu einer formellen Integration der Sozialpartner in die staatliche Wirtschaftspolitik gekommen. Doch musste diese Organisation schon 1954 aufgelöst werden, nachdem der Verfassungsgerichtshof auf eine Beschwerde der Vorarlberger Landesregierung hin ihre Verfassungswidrigkeit festgestellt hatte. Aber abgesehen von ihren preispolitischen Aktivitäten und Vorschlägen suchten die Arbeitnehmer nach einer Einrichtung, welche ihnen den seit den PreisLohn-Abkommen verlorenen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik wiedereröffnen würde. Die noch immer existierende Wirtschaftskommission, welche jetzt nur mehr die drei Kammern und den ÖGB umfasste, wurde von den Arbeitnehmervertretern wegen ihrer Unverbindlichkeit als unzureichend betrachtet, umso mehr, als die Handels- sowie die Landwirtschaftskammern deren Einberufung vermieden. Daher forderte schon das auf dem dritten Bundeskongress des ÖGB am 21. Oktober 1955 beschlossene Aktionsprogramm die Schaffung einer gemeinsamen Organisation von Kammern und Gewerkschaftsbund. Im März 1956 richtete der Präsident des ÖGB, Anton Böhm, Briefe dieses Inhalts an den Präsidenten der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft sowie an jenen der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern. Die Initiative des Gewerkschaftsbunds fand aber vorerst geteiltes Echo. Vor allem der damalige Bundeskanzler, Julius Raab, begrüßte in einer Radiorede den Vorschlag Böhms ; der Präsident der Bundeswirtschaftskammer, Franz G. Dworak, lehnte ihn jedoch ab. Nach einer Vorsprache des Präsidenten des ÖGB und der Arbeiterkammer bei Bundeskanzler Raab, in welcher die Besorgnis über laufende Preiserhöhungen ausgedrückt wurde, kam es wieder zur mehrmaligen Einberufung der Wirtschaftskommission, in deren Rahmen eine Reihe von inflationsdämpfenden Maßnahmen – auch wieder vorwiegend administrativer Natur – beschlossen wurde. Der Präsident der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Karl Maisel, regte im Frühjahr 1957 an, die Regierung möge eine besondere Organisation zur
Sozialpartnerschaft und Sozialpolitik
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Untersuchung der Preissteigerungen schaffen. Kurz darauf unterbreitete der ÖGB in der Wirtschaftskommission Vorschläge zur Bekämpfung der Kosteninflation. Die Wirtschaftskommission setzte zur Behandlung der Vorschläge einen Unterausschuss ein, welcher diese im Wesentlichen akzeptierte. Das Resultat der Ausschussberatungen wurde durch Bundeskanzler Raab dem Ministerrat Anfang März 1957 mitgeteilt, der beschloss, ein Ersuchen dieses Inhalts an die drei Kammern und den Österreichischen Gewerkschaftsbund zu richten. In Entsprechung dieses Ersuchens kam es zur Gründung des Kernstücks der sozialpartnerschaftlichen Organisationen in Österreich, der „Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen“ Ende März 1957 (Wenger, 1966, S. 152). Im Rahmen dieser Einrichtung verpflichteten sich die Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft und die Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern gegenüber der Arbeiterkammer und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund, auf ihre Mitglieder dahin einzuwirken, alle beabsichtigten Preiserhöhungen vor ihrer Realisierung im Wege der zuständigen Fachverbände der Paritätischen Kommission zur Prüfung vorzulegen. Die Arbeiterkammer und der ÖGB hinwieder versprachen, die Fachgewerkschaften zu veranlassen, die beabsichtigten Lohnforderungen, bevor sie gestellt würden, gleichfalls an die Paritätische Kommission heranzutragen. Damit war der erste und entscheidende Schritt getan. Denn wiewohl die Tätigkeit der Paritätischen Kommission zunächst nur als kurzfristige Aktion der Inflationsbekämpfung gedacht war, beschloss diese nach einem Jahr, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Es gibt eine Reihe – wahrscheinlich sehr österreichischer – Charakteristika der Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen. Gewitzigt durch die Erfahrungen, welche die Sozialpartner mit dem Wirtschaftsdirektorium gemacht hatten, wurde der Paritätischen Kommission keinerlei gesetzliche Basis zugrunde gelegt und sie auch nicht mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet. Sie beruhte auf rein informeller Grundlage, und wenn man bedenkt, dass sie zunächst nur für die Dauer eines Jahres, also als Provisorium, geschaffen wurde, wird man an das Schicksal ähnlicher Einrichtungen in Österreich gemahnt. Teilnehmer der Paritätischen Kommission waren auch der Bundeskanzler als Vorsitzender sowie die für Wirtschaftsfragen zuständigen Minister. Aber nur den Repräsentanten der vier großen Interessenvertretungen kam ab 1966 das Stimmrecht zu. Freilich entstanden Beschlüsse nur einstimmig. Ein wesentliches Element der Paritätischen Kommission lag in ihrem regelmäßigen – monatlichen – Zusammentreten. Vor jeder offiziellen Sitzung trafen einander die Präsidenten der Interessenvertretungen zu einer vertraulichen Vorbesprechung. Dieses Zusammentreten gab nicht nur die Gelegenheit zur Entschärfung sozialer Konflikte, sondern des-
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sen Permanenz verhinderte ein gefährliches Aufstauen derselben (Nowotny, 1978, S. 275). In Konsequenz der losen Organisation von Paritätischer Kommission und ihrer Untergliederungen gab es praktisch kaum Sanktionen für deren Beschlüsse. Um ihr Funktionieren sicherzustellen, war die Lösung zweier Probleme zu gewährleisten. Die Marktparteien mussten sich bereit finden, die Beschlüsse anzuerkennen sowie zu vollziehen, und zweitens sollten die Interessenvertretungen in der Lage sein, auch die Anerkennung der Beschlüsse durch ihre Mitglieder sicherzustellen. Letzteres schien durch die Organisation der Marktparteien in Österreich gewährleistet. Die Spitzen der jeweiligen Kammern hatten, angesichts von Pflichtmitgliedschaft und Dominanz jeweils einer politischen Partei, eine recht starke Position. Ähnliches galt für den Österreichischen Gewerkschaftsbund, dessen Finanzen zentralisiert waren und der sich faktisch in hohem Maß auf die Betriebsräte stützte, wiewohl diese in keinem rechtlich direkten Zusammenhang mit ihm standen. Diese Gegebenheiten brachten es mit sich, dass in den österreichischen Gewerkschaften die Kohärenz zwischen Spitzenfunktionären und Basis eher stärker war als in anderen Ländern. Darauf weist die Tatsache hin, dass in der gesamten Zeit seit 1945 – sieht man von den kommunistisch inspirierten Aktivitäten 1950 ab – es praktisch niemals zu irgendwelchen Aktionen der Mitglieder gegen die Gewerkschaftsführung gekommen ist. Das Interesse an der Paritätischen Kommission durch die Arbeitnehmer ergab sich aus ihrem Ziel, die gesamte Wirtschaftspolitik des Staates zu beeinflussen. Über diesen grundsätzlichen Aspekt hinaus spielte noch die Absicht eine Rolle, über die Preisseite die Reallohnentwicklung zu beeinflussen (Nowotny, 1978, S. 278). Die Entstehungsgeschichte der Paritätischen Kommission weist darauf hin. Aufseiten der Unternehmer lag das Interesse an einer Beeinflussung der Lohnpolitik auf der Hand, umso mehr, als sie von der Paritätischen Kommission umfassend – mit Ausnahme des öffentlichen Sektors – kontrolliert wurde, wogegen auf der Preisseite Importwaren und Dienstleistungen (sowie die öffentliche Hand) der Kontrolle nicht oder nur zum Teil unterlagen. Darüber hinaus setzte sich, wie das Verhalten gegenüber den Arbeitnehmervorschlägen beweist, auch in Kreisen der Unternehmer immer stärker die Überzeugung durch, es sei zweckmäßig, die Gewerkschaften abermals, wie schon zu Zeiten der Preis-Lohn-Abkommen, in die Formulierung der gesamten Wirtschaftspolitik einzubinden. Letztlich entsprach es der Größe und den historischen Gegebenheiten der österreichischen Wirtschaft, dass mit Genehmigung der Paritätischen Kommission die Preiserhöhung einen „offiziellen“ Charakter erhielt und damit als gerechtfertigt galt (Nowotny, 1978, S. 278).
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Die einzige Sanktionsmöglichkeit gegenüber Unternehmern, die das vorgesehene Verfahren durchbrachen, bestand in der Anwendung des Preisregelungsgesetzes. Dieses sah zunächst vor, dass der Bundesminister für Handel und Wiederaufbau für die Dauer eines halben Jahres „volkswirtschaftlich gerechtfertigte“ amtliche Höchstpreise festlegen konnte, wenn ihm – nicht genehmigte – Preiserhöhungen von sämtlichen Interessenvertretungen mitgeteilt worden waren. Erst unter der sozialistischen Bundesregierung wurde durch eine Novellierung des Preisregelungsgesetzes 1974 für den Handelsminister die Möglichkeit geschaffen, ohne Antrag entsprechend vorzugehen. Davor kam es in nur zwei Fällen zu einer entsprechenden Anzeige, weil die Handelskammer nach Möglichkeit ein solches Vorgehen vermied. In manchen Fällen gelang es ihr selbst, derartige Preiserhöhungen wieder rückgängig zu machen, zuweilen stellte sie sich vor die betreffenden Unternehmen. Allerdings änderte sich auch nach Erweiterung der Möglichkeiten des Handelsministers an der äußerst raren Verwendung dieses Instruments nichts. Es scheint, als ob angesichts der zuvor beschriebenen Überlegungen diese Sanktionsdrohung genügte, um zu erreichen, dass der vorgeschriebene Weg zur Preiserhöhung fast immer eingehalten wurde (Marin, 1982, S. 95). Natürlich stellt sich die Frage, wieweit die Sozialpartnerschaft letztlich die Preisund Lohnentwicklung zu beeinflussen vermochte. Die meisten Autoren neigten dazu, ihre diesbezüglichen Effekte gering zu veranschlagen. Es herrscht eher die Meinung vor, dass sie weniger das Ausmaß der Inflation verringert als eine gewisse Stetigkeit der Entwicklung gesichert habe. Größere Wirkungen werden der sozialpartnerschaftlichen Lohnpolitik zugeschrieben. Seit Ende der Fünfzigerjahre hatte sich eine dynamische lohnpolitische Zielsetzung herausgebildet. Angestrebt wurde eine Reallohnentwicklung im Ausmaß der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszunahme. Damit ist gesagt, dass die Arbeitnehmer des sekundären Sektors die Steigerung in ihrem Sektor nicht voll ausschöpften, wogegen jenen der Dienstleistungen eine höhere Einkommenssteigerung zukam. Diese Lohnpolitik firmierte unter der Bezeichnung „solidarische Lohnpolitik“. Damit trachteten die Gewerkschaften, nicht nur inflatorische Auftriebskräfte zu vermeiden, sondern ebenso über die Lohnpolitik eine Änderung der Einkommensverteilung anzustreben (Katzenstein, 1984, S. 39). Allerdings inkludierte die Lohnpolitik des ÖGB auch ein „antizyklisches“ Element. Sie sollte während der Rezession durch überproportionale Einkommensentwicklung dazu beitragen, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stabilisieren und, umgekehrt, in Zeiten der Anspannung die Nachfrage und den Kostenauftrieb zu dämpfen. Eine Politik, welche, auch infolge der Arbeitsmarktanspannung, nicht konsequent durchgehalten werden konnte.
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Über die unmittelbaren Effekte der Sozialpartnerschaft auf Preise und Löhne hinaus jedoch prägte sie die gesellschaftliche Institutionenstruktur. In der Wirtschaftspolitik entstand eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens, welches die Unsicherheit der Wirtschaftssubjekte und die Transaktionskosten in Bezug auf Lohnpolitik, Arbeitsbeziehungen und Streiks reduzierte (Butschek, 2002B, S. 202). Die Existenz einer großen Koalition und die beschriebene starke Stellung der Arbeitnehmervertretungen in Politik und Wirtschaft sowie nicht zuletzt die von Letzteren betriebene kooperative Lohn- und Wirtschaftspolitik bewirkten, dass in Österreich die in ganz Westeuropa auftretende Tendenz zum Ausbau der sozialen Sicherheit besonders hervortrat. Freilich darf nicht angenommen werden, dass deren Ausbau friktionsfrei verlief. Im Gegensatz zur Wirtschaftspolitik lag hier die Initiative vollständig bei den Vertretungen der Arbeitnehmer, wogegen jene der Unternehmer reagierten ; in der Regel in der Form, dass sie sich gegen zusätzliche Belastungen durch Sozialversicherungsbeiträge zur Wehr setzten. Aber auch andere Interessenvertretungen, wie jene der Ärzte, sahen sich durch manche Gesetzesentwürfe bedroht, was mitunter zu heftigen Auseinandersetzungen führte. Freilich konnte letztlich auch in diesen Fragen ein für alle Teile tragbarer Kompromiss gefunden werden, wenn auch letztlich durch ein Junktim mit anderen Gesetzen (Tálos, 1981, S. 346). Nach der Wiedererrichtung Österreichs ergab sich auch auf dem Gebiet der Sozialen Sicherheit eine komplizierte Rechtslage. Zwar hob das Rechtsüberleitungsgesetz 1945 alle nach dem 13. März 1938 erlassenen Gesetze und Verordnungen, die nationalsozialistisches Gedankengut enthielten, auf, doch bedeutete das keineswegs, dass alle deutschen Bestimmungen davon betroffen waren. Dort, wo das nationalsozialistische Regime die Organisationen der Arbeitnehmer unmittelbar beseitigt oder deren Rechte eingeschränkt hatte, ergab sich die zwingende Notwendigkeit, die früheren österreichischen Vorschriften wieder in Kraft zu setzen oder neue zu erlassen, das galt jedoch nicht unbedingt für den Bereich der Sozialen Sicherheit. Während das Arbeitslosenfürsorgegesetz der Ersten Republik mit der Novellierung 1945 wieder in Kraft gesetzt und bereits 1949 durch ein neues Arbeitslosenversicherungsgesetz abgelöst wurde, blieben in der Sozialversicherung die deutschen Bestimmungen aufrecht. Maßgebend für diese Entscheidung war vor allem der Umstand, dass durch diese die Altersrenten für Arbeiter eingeführt worden waren, an welchen die Arbeitnehmervertretung selbstverständlich festzuhalten gedachte, und eine grundlegende Neuregelung der Sozialversicherung längere Zeit in Anspruch nehmen musste : „Der geplante Ausbau der Sozialversicherung in der Richtung einer weiteste Bevölkerungskreise umfassenden Volksversicherung bei
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gleichzeitiger gründlicher Reform des Leistungs- und Beitragswesens und entsprechend moderner Gestaltung in organisatorischer Hinsicht wird in naher Zukunft dazu führen, dass das gesamte Sozialversicherungsrecht in Österreich von Grund auf erneuert werden muss. Eine solche Entwicklung lässt es aber nicht angezeigt erscheinen, auf das frühere österreichische Sozialversicherungsrecht zurückzugreifen und dieses – wenn auch nur für eine kurze Übergangszeit – wieder in Kraft zu setzen. Die Vorbereitung und Ausarbeitung des neuen Sozialversicherungsrechts erfordert aber geraume Zeit, insbesondere bedarf der finanzielle Plan, der dem neuen Gesetz zu Grunde gelegt werden soll, gründlichster Vorbereitung ; er muss auf ausreichenden statistischen Unterlagen beruhen und kann erst erstellt werden, sobald eine gewisse Stabilisierung der Wirtschafts- und Währungsverhältnisse eingetreten ist. Inzwischen muss ein Übergangsrecht geschaffen werden, das die künftige Sozialversicherungsreform in organisatorischer Hinsicht bereits vorbereitet, den Erfordernissen einer modernen Verwaltung und Schiedsgerichtsbarkeit Rechnung trägt, sich aber im Übrigen, was den finanziellen Teil anlangt, darauf beschränkt, die unaufschiebbaren Überleitungsbestimmungen im Leistungs- und Beitragswesen zu treffen“ (Erläuternde Bemerkungen zum SozialversicherungsÜberleitungsgesetz 1947, S. 28, zitiert nach Tálos, 1981, S. 343). Geändert werden musste die Organisation der Sozialversicherungsträger, insbesondere war deren Selbstverwaltung wieder einzuführen. Das geschah durch das Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz 1947. Neben der Neuorganisation der österreichischen Sozialversicherung und Neugestaltung des verwaltungs- bzw. schiedsgerichtlichen Verfahrens wurde die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger in der Weise geregelt, dass die Versichertenvertreter nicht in der bis 1933 praktizierten Form durch Direktwahlen der Versicherten, sondern von der gesetzlichen Interessenvertretung bestimmt wurden. Die Krankenversicherung wurde von nach Bundesländern organisierten Gebietskrankenkassen sowie durch die Krankenversicherungsanstalt der öffentlichen Bediensteten getragen, die Rentenversicherung der Arbeiter durch die Invalidenversicherungsanstalt und jene der Angestellten durch die Angestelltenversicherungsanstalt. Die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt besorgte die Unfallversicherung und die Versicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahner fungierte als Träger der Renten- und Unfallversicherung der Eisenbahner sowie die Landund Forstwirtschaftliche Sozialversicherungsanstalt als solche für Beschäftigte in der Land- und Forstwirtschaft. Diese Organisationsstruktur stellte einen Kompromiss zwischen den Vorstellungen der politischen Fraktionen der Arbeiterkammer dar. Die sozialistische hatte eine stärkere Zentralisierung der Institute ins Auge gefasst, sie strebte eine all-
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gemeine Sozialversicherungsanstalt an, welche als Träger für die Unfall-, Invaliden-, Angestellten- und knappschaftliche Rentenversicherung zu fungieren gehabt hatte. Demgegenüber verlangte die ÖVP getrennte Versicherungsträger auch für die Krankenversicherung und sah auch keinen Hauptverband der Sozialversicherungsträger vor (Arbeiterkammer Wien, Jahrbuch 1946, S. 237). Neben mehreren gesetzlichen Anpassungen der Sozialversicherungsleistungen an die Geldentwertung wurden Schritte zur inhaltlichen Erneuerung der Sozialversicherung durch Einzelgesetze unternommen : so beispielsweise auf Initiative der Arbeiterkammer die Herabsetzung des Anfallsalters für Frauen in der Rentenversicherung für die eigene sowie auch für die Witwenrente auf 60 Jahre. Diese Maßnahme begründete man mit der Doppelbelastung der Frau (Arbeiterkammer Wien, Jahrbuch 1948, S. 139). Das erste Sozialversicherungs-Neuregelungsgesetz betraf die Wartezeiten, den Erwerb sowie die Anrechenbarkeit von Versicherungszeiten und die Versicherung der Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft. Es bleibt zu bemerken, dass diese Beschäftigtengruppe erst 1953 durch eine Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung teilweise in die Arbeitslosenversicherung einbezogen wurde. Den Höhepunkt der sozialpolitischen Aktivität bildete der Beschluss des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes 1955 (ASVG). Dieses darf keinesfalls als fundamentales soziales Reformwerk betrachtet werden, sein Zweck lag darin, die bisherige Sozialversicherungsentwicklung, wie sie sich seit der Ersten Republik, später durch die Einführung die deutschen Bestimmungen sowie mit den nach 1945 eingeführten Veränderungen, vollzogen hatte, in einem umfassenden, konsistenten Gesetzeswerk zu kodifizieren. Noch 1954 war eine Reihe von Gesetzen bzw. deren Novellierung beschlossen worden, welche Veränderungen der Materie bewirkten. Neben kleineren Novellen zum Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz und zum Sozialversicherungs-Neuregelungsgesetz gestaltete das Rentenbemessungsgesetz die Leistungsberechnung neu. Sie führte zu einer „Entnivellierung“ der Renten, weil die bisherigen „festen“ Rentenbestandteile wegfielen und nur die Versicherungszeit für die Rentenhöhe maßgeblich wurde. Überdies wurde eine 13. Monatsrente ausbezahlt. Das ASVG umfasste die Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung der Unselbstständigen mit Ausnahme der öffentlich Bediensteten. Das Gesetz regelte auch die Organisation sowie die Finanzierung der Sozialversicherungsträger. Natürlich enthielt es auch einige sozialrechtliche Verbesserungen. So konnte nach 40 Versicherungsjahren eine Rente von 72 % des durchschnittlichen Aktivbezugs der letzten 60 Monate erreicht werden. Beschäftigungszeiten von Arbeitern vor dem 1. Jänner 1939, also aus einer Zeit, da für diese noch keine Pensionsversicherung existiert hatte, wurden zu zwei Dritteln berücksichtigt. Den Invaliditätsbegriff
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für Arbeiter gestaltete man günstiger. In der Krankenversicherung wurde ab dem 43. Tag der Erkrankung ein erhöhtes (60 %) Krankengeld gewährt und in der Unfallversicherung der Begriff des „Wegunfalles“ erweitert. Schon 1957 beschloss der Nationalrat das Gewerbliche-Selbstständigen Pensionsversicherungsgesetz (GSPVG) sowie das Landwirtschaftliche Zuschussrentenversicherungsgesetz (LZVG). Diese Gesetze kamen ohne besondere Schwierigkeiten zustande, weil sie zwar von Interessenvertretungen der Selbstständigen gewünscht, aber sowohl von der Arbeiterkammer als auch vom ÖGB mit einer gewissen Sympathie gesehen wurden, da sie einen Ausbau der Sozialen Sicherheit für alle Volksschichten bedeuteten. Das Ausmaß der sozialen Sicherung lässt sich am Anteil der durch die öffentliche Krankenversicherung geschützten Personen (Versicherte und ihre Angehörigen) an der Bevölkerung ablesen. 1948 machte diese Quote erst 43,5 % aus, erreichte aber 1955 bereits 70,2 % und 1961 schon 78,0 % (Tálos, 1981, S. 352). Einer Erwähnung bedarf die Finanzierung der neuen Gesetze. Obwohl grundsätzlich an der Beitragszahlung der Versicherten bzw. der Arbeitgeber festgehalten wurde, trat auch der Bund durch Gewährung laufender Zuschüsse hinzu. Das war in der Unselbstständigenversicherung zwar auch vor 1956 der Fall gewesen, im ASVG wurde jedoch die „Drittelfinanzierung“ festgeschrieben. Im Fall der Selbstständigenversicherung wurde eine Regelung vorgenommen, in welcher der Bund quasi den Dienstgeberbeitrag übernahm. Den gewerblichen Selbstständigen flossen dazu Mittel aus der Gewerbesteuer zu. Die gesamten Sozialausgaben machten 1955 15,1 % des Bruttoinlandsprodukts aus, bis 1961 waren sie auf 16,8 % gestiegen.
16.3 Strukturkrise und außenwirtschaftliche Integration
Das „Wirtschaftswunder“ ging mit der Rezession des Jahres 1962 zu Ende. Die folgende Periode wurde von den Zeitgenossen „Strukturkrise“ genannt. Dieser Begriff schien ihnen deshalb gerechtfertigt, weil die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts gegenüber der Vorperiode zurückging. Hatte sie zwischen 1953 und 1962 im Durchschnitt real 6,3 % betragen, so reduzierte sich die Expansion von 1962 bis 1967 auf 4,2 %. Zwar schien es, dass die Auftriebskräfte in ganz Westeuropa schwächer geworden seien, denn auch das Wachstum von OECD-Europa ließ von 4,8 % auf 4,4 % nach, als alarmierend wurde jedoch in Österreich die Tatsache empfunden, dass die eigene Wachstumsrate knapp unter den europäischen Durchschnitt sank, wogegen sie in der Phase des „Wirtschaftswunders“ weit darüber gelegen war.
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Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
Übersicht 61 : Veränderung des Bruttoinlandsprodukts europäischer OECD-Staaten zwischen 1962 und 1967 zu konstanten Preisen Durchschnittliche jährliche Veränderung in % Belgien
+ 4,4
Dänemark
+ 4,5
Deutschland
+ 3,4
Finnland
+ 3,7
Frankreich
+ 5,6
Griechenland
+ 8,8
Großbritannien
+ 3,3
Irland
+ 3,5
Island
+ 7,3
Italien
+ 5,0
Luxemburg
+ 3,0
Niederlande
+ 5,0
Norwegen
+ 4,8
Österreich
+ 4,2
Portugal
+ 6,5
Schweden
+ 4,3
Schweiz
+ 3,7
Spanien
+ 6,5
Türkei
+ 6,4
Quelle : WIFO-Datenbank.
Noch bedrohlicher erschienen die strukturellen Komponenten der Abschwächung. Das Wachstum hatte bis dahin seine stärksten Impulse von Industrie und Bauwirtschaft empfangen. War das Bruttoinlandsprodukt insgesamt zuvor durchschnittlich jährlich um 6,3 % gewachsen, so hatte jenes der Industrie (immer nach der Definition der österreichischen Statistik : Güterproduktion ohne handwerkliche Erzeugung) 7,3 % erreicht. In den Sechzigerjahren übertraf jedoch der Industrieproduktionszuwachs jenen des Bruttoinlandsprodukts kaum mehr. Der Anteil der Industrie an der Beschäftigtenzahl stagnierte. Mit der Abschwächung des Industriewachstums ging eine beängstigende Entwicklung der Industrieinvestitionen einher. Zwar zeigte die gesamtwirtschaftliche Investitionsquote auch in den Sechzigerjahren noch eine steigende Tendenz. 1966 erreichte der Anteil der Bruttoanlageinvestitionen am verfügbaren Güter- und Leistungsvolumen mit 27 % einen neuen Höhepunkt, doch stagnierten die Indust-
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rieinvestitionen. Während sie 1960 real noch 21 % des gesamten Investitionsvolumens in Anspruch nahmen, erreichten sie 1967 nur mehr 14 %. Besondere Aufmerksamkeit der Wirtschaftspolitik zog die sich beschleunigende Geldentwertung auf sich. War der Verbraucherpreisindex nach der Stabilisierungsphase, also von 1953 bis 1962, durchschnittlich jährlich um 2,7 % gestiegen, so erreichte er zwischen 1962 und 1967 durchschnittlich jährlich 3,6 %, obwohl sich die wirtschaftliche Aktivität gegenüber der Vorperiode erheblich verlangsamt hatte. Die verstärkte inflationäre Tendenz wurde mit einer beschleunigten Lohnentwicklung in Zusammenhang gebracht. Dieser raschere Einkommenszuwachs der Unselbstständigen wurde weniger einer intensiveren gewerkschaftlichen Aktivität zugeschrieben als einer stärkeren Lohndrift im Gefolge der Arbeitskräfteknappheit. Wie immer dem sei, es ergaben sich daraus zwei wesentliche Konsequenzen : Die Einkommensverteilung verlagerte sich zu den Arbeitnehmern, die Unternehmererträge gingen in den Sechzigerjahren relativ zurück (Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, 1968, S. 75), und die Arbeitskosten nahmen im internationalen Vergleich zu (Suppanz, 1968, S. 41). Unter dem Gesichtswinkel früherer und späterer Epochen wäre an dieser Phase der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes nur wenig Problematisches gesehen worden. Teilweise übersah die Kritik den exzeptionellen Charakter der industriellen Entwicklung in den Fünfzigerjahren. Auch sank das Pro-Kopf-Wachstum nur unwesentlich, und die Zunahme der Reallöhne beschleunigte sich eher. Immerhin verblieben aber auch unter distanzierterer Betrachtung die etwas abrupte Änderung der Wachstumsstruktur, ebenso wie die Beschleunigung des Preisauftriebs und die Verschlechterung der Leistungsbilanz. Eine Erklärung für das letztere Problem ging von der Tatsache aus, dass sich der Zuwachs des österreichischen Außenhandels verringert hatte. Zwischen 1953 und 1962 waren die Exporte nominell im Durchschnitt um 10,7 % gewachsen – und die Importe um 13,2 % – von 1962 bis 1967 nur mehr um 7,4 %. Der Importzuwachs verlangsamte sich zwar auch (+ 8,3 %), blieb jedoch über jenem der Exporte, wodurch sich die Handelsbilanz weiter passivierte. Sie zeigte schon seit 1957 einen stetigen Trend zur Verschlechterung. 1956 betrug ihr Defizit 2,6 % des Bruttoinlandsprodukts, 1966 aber erreichte es 5,9 %. Diese Entwicklung fiel bis Anfang der Sechzigerjahre deshalb nicht ins Gewicht, weil parallel zum Defizit der Handelsbilanz der Überschuss in der Dienstleistungsbilanz durch den expandierenden Fremdenverkehr wuchs. Sohin blieb die Leistungsbilanz bis 1964 im Wesentlichen ausgeglichen. Von 1965 bis 1968 ergaben sich aber fortlaufend Defizite, obwohl sich die Konjunktur zumindest bis 1967 abgeschwächt hatte.
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Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
Nun erklärte sich der Exportrückgang teilweise sicherlich durch das verlangsamte Wachstum der OECD-Länder. Jedoch gelang es Österreich in dieser Periode nicht, seinen Marktanteil zu halten, geschweige denn, ihn auszudehnen wie in der Phase zuvor. Innerhalb der OECD sank er von 1961, als er mit 1,36 % seinen letzten Höhepunkt erreicht hatte, auf 1,24 % 1967. Diese Entwicklung wurde einer Änderung der Außenhandelsbedingungen zugeschrieben, welche die europäische Wirtschaft dieser Zeit prägte. Seit der Periode des Marshallplans hatte sich die Struktur der europäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Richtung einer stärkeren Integration geändert. Die entscheidenden Schritte dazu wurden aus verschiedenen Motiven gesetzt. Eines davon war in erster Linie ökonomisch. Noch während der Zeit, da das ERPHilfsprogramm lief, ergriffen die USA Maßnahmen zur Liberalisierung des europäischen Außenhandels. 1950 hatte der OEEC-Rat einen Liberalisierungskodex beschlossen, wonach bis 1955 90 % des innereuropäischen Handels liberalisiert, also keinen nichttarifarischen Beschränkungen unterworfen sein sollten. Dieser Ansatz war durch Gründung der Europäischen Zahlungsunion (EZU) als Unterorganisation der OEEC im gleichen Jahr unterstützt worden. Die Handelsverträge der unmittelbaren Nachkriegszeit benötigten keine speziellen Zahlungsvereinbarungen, da die Länder sie zunächst auf Tauschbasis abwickelten. Später traten Clearing-Abkommen auf Dollarbasis an ihre Stelle. Sollte jedoch der Außenhandel liberalisiert werden, ergab sich die Notwendigkeit, Möglichkeiten auch für multilaterale Zahlungen zu schaffen, also einen Schritt in Richtung der Währungskonvertibilität zu gehen. Diese Aufgabe übernahm eben die EZU. In dieser Organisation wurden die Handelsüberschüsse und -defizite der einzelnen Länder multilateral ausgeglichen. Nur allfällige Restbeträge mussten in Gold oder Dollar abgedeckt werden. Darüber hinaus jedoch gewährte die EZU auch Kredite (Breuss, 1983, S. 21). Dennoch schien es, dass die Liberalisierungsbestrebungen der USA, sowohl im europäischen Bereich durch die OEEC als auch im Weltmaßstab durch das GATT, insofern an Grenzen stieße, als einige Länder eine Vollendung der Liberalisierung wegen des unterschiedlichen Zollniveaus verweigerten. Weiterführende Aktivitäten konnten daher nur erwartet werden, wenn es auch in diesem Bereich zu Angleichungen kam (Walsh – Paxton, 1968, S. 7). Die zweite Wurzel des europäischen Integrationsprozesses war politischer Natur. Hatten zunächst die USA im Rahmen des Marshallplans die Einbindung des ehemaligen Feindstaats in die ökonomische und politische Landschaft Westeuropas betrieben, ergriff nunmehr Frankreich die Initiative. Durch den „SchumanPlan“, welcher auf eine Initiative von Monnet zurückging, wurde die Europäische
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Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) konzipiert, welche 1951 Deutschland, Frankreich, Italien sowie die Beneluxstaaten beschlossen. Der Vertrag trat 1952 in Kraft. Darin wurde die länderübergreifende, zollfreie Zusammenarbeit der Kohleund Stahlindustrie fixiert. Für die Verwaltung und Weiterentwicklung des Systems waren jene internationalen Behörden und Körperschaften etabliert worden, welche als Modell für die zukünftige Integrationsentwicklung dienten. Der Schuman-Plan zielte nicht nur auf eine engere Zusammenarbeit der westeuropäischen Schwerindustrie ab, sondern ging auch von der Überlegung aus, dass kriegerische Auseinandersetzungen, wie sie in der Vergangenheit stattgefunden hatten, nicht ohne Weiteres möglich seien, wenn eine enge wirtschaftliche Verflechtung existiere, vor allem in der für die Rüstung wichtigen Schwerindustrie. Weiters brachte die EGKS eine intensivere Einbindung Deutschlands in den westeuropäischen Raum, freilich auch eine gewisse Kontrolle – und verlieh auf diese Weise auch Frankreich eine führende Rolle in der Politik dieser Region. Daneben aber wurde auf breiterer westeuropäischer Basis das Projekt eines „gemeinsamen Europas“ verfolgt. Eine Bestrebung, die ihren ersten Niederschlag 1949 in der Gründung des Europarats fand. Aber schon im Herbst 1955 wurde unter dem Vorsitz des belgischen Außenministers, Paul Henri Spaak, ein Komitee einberufen, das Überlegungen zur Gründung eines gemeinsamen Markts anstellte. Im Zuge der Verhandlungen darüber entwickelte sich das Projekt einer allgemeinen Zollunion, welche von den EGKS-Staaten getragen werden sollte, die aber mit den Ländern, welche eine losere wirtschaftliche Verbindung anstrebten, eine große Freihandelszone bilden würde. Dieses Projekt scheiterte zuletzt am englischfranzösischen Gegensatz, sodass schließlich zwei europäische Wirtschaftsblöcke entstanden (Walsh – Paxton, 1968, S. 8). Den umfassenden bildete die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG). Die Verträge wurden im März 1957 in Rom abgeschlossen und traten mit 1. Jänner 1958 in Kraft. Die EWG bildete eine Zollunion, das heißt, es wurden die Binnenzölle abgebaut und ein gemeinsamer Außenzoll fixiert. Darüber hinaus aber setzte sie sich eine Reihe anderer Ziele. So wurde der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Zahlungen, Unternehmern und Arbeitskräften festgelegt sowie eine gemeinsame Agrar-, Regional- und Verkehrspolitik etabliert. Schließlich wurden auch Maßnahmen gegen Behinderung des Wettbewerbs ins Auge gefasst, die Sozialpolitik jedoch eher als Angelegenheit der einzelnen Mitgliedstaaten betrachtet. Die Wirtschaftsgemeinschaft errichtete eine Reihe übernationaler Organe. Höchstes Gremium bildete der Ministerrat, das Exekutivorgan die Kommission, dem EWG-Parlament kam zunächst eher beratende Funktion zu, wogegen der Gerichtshof die Einhaltung der Verträge im Streitfall zu sichern hatte.
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Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
Die restlichen OEEC-Staaten, also Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Portugal, Österreich, Schweden, die Schweiz und später Finnland, schlossen sich 1959 in Stockholm zu einer losen „Europäischen Freihandelszone“ (European Free Trade Association, EFTA) zusammen, welche 1960 in Kraft trat. Diese strebte lediglich den Abbau der Binnenzölle an und verfügte nur über ein kleines Sekretariat in Genf. Seit den frühen Sechzigerjahren bemühten sich verschiedene EFTA-Staaten um Assoziierungsgespräche mit der EWG, und Großbritannien stellte 1963 sogar einen Aufnahmeantrag, welcher jedoch am Widerstand de Gaulles scheiterte. Trotz aller dieser Komplikationen kann es keinem Zweifel unterliegen, dass durch die Gründung der beiden Handelsblöcke ein gewaltiger Schritt in Richtung der wirtschaftlichen, aber ansatzweise auch der politischen, Integration gesetzt wurde. Wiewohl Österreich den weitaus größeren Teil seines Außenhandels mit den Ländern der EWG abwickelte, hatte sich die Regierung aus neutralitätspolitischen Gründen entschlossen, dem lockeren Integrationsgebilde der EFTA beizutreten. Angesichts des Gewichts, das dem EWG-Markt für die österreichische Exportwirtschaft zukam, bemühte sich Österreich auch nach dem EFTA-Beitritt um eine Assoziierung mit der EWG. Anfang 1963 unternahm es einen „Alleingang nach Brüssel“, der nach fünfjähriger Verhandlungsführung schließlich scheiterte. Weder wollte die sich noch im Entwicklungsstadium befindliche EWG auf die recht weitgehenden Ausnahmewünsche Österreichs eingehen, welche sich aus dem Neutralitätsstatus ergaben, noch schien mehreren EWG-Staaten das außenpolitische Umfeld – die Position der Sowjetunion – einem solchen Vertrag günstig (Maschke, 2004, S. 97). Damit traten die handelspolitischen Konsequenzen des Entstehens zweier Integrationsblöcke ein. Zwar agierten diese wirtschaftspolitisch recht unterschiedlich ; in beiden Fällen wurden jedoch die Binnenzölle etappenweise abgebaut. Da die EWG-Staaten auch ihre Außenzölle harmonisierten, kam es gegenüber manchen EFTA-Staaten zu einem Zollaufbau. Beide Faktoren mussten den Handel zwischen den Wirtschaftsblöcken in erheblichem Maß beeinflussen, da sich die Kostenverhältnisse für die Unternehmen auf den Märkten veränderten. Tatsächlich kam es in der „ersten Integrationsperiode“ (Breuss, 1983, S. 92) zu einer tief greifenden Veränderung in der Regionalstruktur der österreichischen Ausfuhr. Floss vor Beginn des Integrationsprozesses noch fast die Hälfte der österreichischen Exporte in EWG-Länder, so reduzierte sich dieser Güterstrom bis 1968 – mit diesem Jahr war die Zollumstellung abgeschlossen – auf nur mehr 40 %. Umgekehrt stieg der Anteil der EFTA-Staaten von 10,9 % auf 23,6 %. In diesem Prozess blieb allerdings der Anteil Deutschlands im Wesentlichen unverändert (25,1 % und 23,4 %), aber andere EWG-Staaten verringerten ihren Anteil am ös-
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terreichischen Export. Der österreichische Marktanteil an den Importen der EWG sank von 1,98 % 1958 auf 1,25 % 1968, jener an den Importen der EFTA dagegen stieg von 0,53 % auf 1,28 %. Übersicht 62 : Regionale Verteilung des österreichischen Außenhandels 1958 und 1968 Export 1958
Import 1968
Anteil am Gesamtexport in % EWG (1972)
1958
1968
Anteil am Gesamtimport in %
49,6
40,3
54,3
57,4
Deutschland
25,1
23,4
38,9
41,4
Italien
17,0
10,3
7,5
7,2 18,4
EFTA (1972)
10,9
23,6
11,4
Großbritannien
2,4
6,3
4,4
6,2
Schweiz
4,2
9,2
4,3
7,5
4,9
4,6
10,1
3,3
12,4
14,8
10,8
9,8
USA Oststaaten Entwicklungsländer Insgesamt
11,4
7,2
7,4
6,1
100,0
100,0
100,0
100,0
Quelle : Statistik Austria, WIFO-Datenbank.
Im Bereich des Imports findet sich keine parallele Entwicklung : Der Anteil der Importe aus der EWG, der 1958 54,3 % betragen hatte, stieg bis 1968 sogar auf 57,4 %, hauptsächlich, weil der Importanteil Deutschlands weiter zunahm (38,9 % und 41,4 %). Allerdings weitete sich auch der Anteil der EFTA-Staaten beträchtlich aus, indem er von 11,4 % auf 18,4 % stieg. Die Anteilszunahme beider Integrationsblöcke ging im Wesentlichen auf Kosten der USA, deren Anteil von 10,1 % auf 3,3 % schrumpfte. Der Marktanteilsverlust Österreichs am Export der europäischen OECD-Länder weist darauf hin, dass diese tief greifende Umleitung der Handelsströme zu einem Nettoverlust für den österreichischen Außenhandel geführt, Österreich also in der ersten Integrationsphase Diskriminierungsverluste erlitten hatte. Relevanten Einfluss auf Struktur und Entwicklung des österreichischen Exports scheinen jedoch auch Nachfrageänderungen auf dem Weltmarkt ausgeübt zu haben. Anfang der Sechzigerjahre verwandelte sich der mit Kohle verbundene Energiemangel in eine durch Erdöl bedingte Energieschwemme. Kurz danach ließ auch das die Nachkriegszeit charakterisierende rasche Nachfragewachstum für
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Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
Rohstoffe und Halbfertigwaren, wie Eisen, Stahl, Aluminium oder Rotationspapier, nach (Seidel, 1980, S. 264). Diese Strukturproblematik traf vor allem die Verstaatlichte Industrie, welche ja mit ihrer Produktion von Grundstoffen und Halbfertigwaren zum Träger des Nachkriegsbooms geworden war. Ihre Erzeugung hatte insbesondere zwischen 1950 und 1954 rascher zugenommen als jene der privaten Industrie (Koren, 1964, S. 115). Resultierte diese Entwicklung aus der grundlegenden Entscheidung, die Industrietorsi des Dritten Reiches nach dem Krieg wieder zu beleben, wodurch man vom weltweiten Grundstoffboom profitieren konnte, so fehlte gegenüber den Nachfrageänderungen der Sechzigerjahre ein ähnlich entschlossenes Vorgehen. Offenbar wurde von der Leitung der Verstaatlichten Industrie und den verantwortlichen Ministern die Problematik nicht gleich gesehen, und als man sie erkannt hatte, kam es zu keinen angemessenen Reaktionen. Dazu gesellten sich die erwähnten Hindernisse, welche die ÖVP in diesen Jahren aus ideologischen Gründen einer Expansion des Konzerns in den Bereich der verarbeitenden Industrie in den Weg legte. In einer solchen Atmosphäre beschränkte sich die Industriepolitik im Bereich der Verstaatlichten auf konservierende Maßnahmen. Die Investitionsmittel wurden vorwiegend dazu verwendet, Not leidende Betriebe weiterzuführen (Grünwald – März, 1969, S. 30). Die Produktion dieses Sektors blieb daher in dieser Phase hinter jener der gesamten Industrie zurück. Einen gewissen Ausgleich für den Mangel an industrieller Dynamik schuf der Boom im Ausländerfremdenverkehr. Dieser hatte sich nach Kriegsende recht zögernd entwickelt, da die Nächtigungszahl erst 1954 annähernd den Stand von 1937 erreichte. Nach Abschluss des Staatsvertrags begann jedoch ein stürmischer Aufschwung, der vor allem auf die Expansion des Ausländertourismus zurückzuführen war. Für die Zahl der Ausländernächtigungen wurden – vor allem dank der Urlauber aus Deutschland – über mehrere Jahre zweistellige Wachstumsraten erzielt. Der Fremdenverkehr wurde damit in dieser Periode zur „Wachstumsindustrie“ (Seidel, 1985, S. 117). Dass sich der Inländerfremdenverkehr demgegenüber weit schwächer entwickelte – die Wachstumsraten der Inländernächtigungen sanken von mehr als 6 % in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre auf 2 % in den Sechzigerjahren –, geht darauf zurück, dass nunmehr auch die Österreicher in steigendem Maß ihren Urlaub im Ausland verbrachten. Doch änderte diese Entwicklung nichts an der Ausgleichsfunktion des Fremdenverkehrs für die Leistungsbilanz. Der Devisenüberschuss aus dem Reiseverkehr stieg von 1,5 % des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 1955 auf 4,3 % im Jahr 1965. Von der Wirtschaftspolitik dürften eher restriktive Effekte ausgegangen sein. Mitte Juni 1959 war Reinhard Kamitz aus der Bundesregierung ausgeschieden und
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hatte das Präsidium der Nationalbank übernommen ; Raab folgte ihm 1961. An der politischen Konstellation in Österreich änderte sich durch diesen personellen Wechsel nichts : Auch in den folgenden Jahren regierte eine Koalition aus der Österreichischen Volkspartei und der Sozialistischen Partei Österreichs unter Alfons Gorbach als Bundeskanzler und weiterhin Bruno Pittermann als Vizekanzler. Es ist schwer abzuschätzen, ob die Änderungen im politischen Stil jener Zeit daraus resultierten, dass eine einmal erfolgreiche Methode der Kooperation – ähnlich wie die Preis-Lohn-Abkommen – auch unter veränderten Bedingungen unverändert fortgesetzt wurde oder ob das Auftreten neuer Personen in der politischen Szenerie dafür verantwortlich war ; die Wirtschaftspolitik begann mehr und mehr zu stagnieren oder wirtschaftspolitische Entscheidungen wurden unter den Gesichtspunkten des politischen Effekts und oft ohne entsprechende sachliche Fundierung getroffen (Feldl, 1966). Im Kreis der Nationalökonomen entstand dafür der Ausdruck der „Wirtschaftspolitik beim Weinglas“. Auf die Stagnation in der Wirtschaftspolitik reagierten abermals die Sozialpartner. Infolge der sich beschleunigenden Inflation hatte die Paritätische Kommission schon Mitte 1960 auf Vorschlag von Bundeskanzler Raab ein „Kaufkraftstabilisierungsabkommen“ beschlossen. Das Abkommen enthielt neben organisatorischen Vorschlägen, die nicht realisiert wurden, als Kern die Drohung für Betriebe, welche die beabsichtigten Preiserhöhungen nicht der Paritätischen Kommission vorlegten, auf diese das Preistreibereigesetz anzuwenden. Da sich der Preisauftrieb auch 1961 nicht besserte, beschloss die Kommission, ein Expertenkomitee zu schaffen, das sich speziell mit Maßnahmen zur Sicherung der Stabilität beschäftigen sollte. Schließlich einigten sich die Sozialpartner auf ein Abkommen, welches im Februar 1962 von der Paritätischen Kommission abgeschlossen und unter der Bezeichnung „Raab-Olah-Abkommen“ bekannt wurde. Im Rahmen dieses Abkommens, welches im Wesentlichen die preispolitischen Vorstellungen der früheren Dokumente wiederholte, wurde neben dem bestehenden Unterausschuss für Preisfragen auch ein solcher für Lohnfragen geschaffen. Als wesentliches Element dieses Abkommens für die künftige Wirtschaftspolitik muss jener Teil gewertet werden, durch welchen die umfassendere Zulassung ausländischer Arbeitskräfte ermöglicht wurde, die bis dahin vom ÖGB abgelehnt worden war. Trotz dieser Erfolge blieben die Ziele von ÖGB und AK jedoch nach wie vor auf eine Ausweitung des Tätigkeitsbereiches der Paritätischen Kommission in Richtung umfassender wirtschaftspolitischer Kompetenzen gerichtet : eine Ambition, der in wiederholten Memoranden Ausdruck gegeben wurde. Allmählich stießen diese Bemühungen auf Akzeptanz in der Bundeskammer der gewerblichen Wirt-
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schaft, welcher sich Julius Raab nach seinem Ausscheiden aus der Bundesregierung wieder in vollem Ausmaß zuwenden konnte. Zwar erachteten die Unternehmervertreter Vorstellungen der Gewerkschaften, die ein der französischen „Planification“ ähnliches System einführen wollten, als inakzeptabel, aber eine planvolle Wirtschaftspolitik schien ihnen begrüßenswert (Seidel, 1985, S. 89). Ende 1963 einigte man sich dahin, als dritten Unterausschuss der Paritätischen Kommission einen „Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen“ zu gründen. Diese Einigung kam zwischen den Präsidenten Raab für die Bundeswirtschaftskammer, Karl Maisel für den Arbeiterkammertag, Anton Benya für den ÖGB sowie der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern zustande. Sachbezogene Unterausschüsse des Beirats wurden durch das sogenannte „Raab-Benya-Abkommen“ kurz darauf eingerichtet. Das rasche und relativ klaglose Funktionieren der Beiratsarbeit ging in beträchtlichem Maß auf die Bemühungen der Arbeiterkammervertreter zurück. So war es vor allem einer der beiden ersten Geschäftsführer des Beirats, Phillip Rieger (die Arbeitgeber wurden durch Norbert Bischof repräsentiert), der sich um eine Atmosphäre bemühte, in der eine sachliche und ruhige Diskussion entstehen konnte. Demgegenüber verhielt sich die Arbeitgeberseite zurückhaltender. Vor allem kristallisierte sich ein gewisser Gegensatz zwischen Handelskammerfunktionären und deren Experten heraus. Während Letztere in diesem Kreis von Fachleuten – an der Beiratsarbeit nahmen auch Vertreter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, der Universitäten und der Ministerien teil – oft zu einer Übereinstimmung gelangten, wurden diese manchmal von den Funktionären konterkariert. Natürlich bekundete die Arbeitnehmerseite ihr Interesse an bestimmten Themen, welche der Beirat studieren sollte. In einem Fall gingen AK und ÖGB sogar über den Rahmen der üblichen Beiratstätigkeit hinaus, indem sie, wie das in der Resolution der 57. Tagung der Vollversammlung der Kammer für Angestellte für Wien zum Ausdruck kam, forderten, „… daß eine Stelle für mittel- und langfristige Prognosen, welche heute allgemein als ein für die moderne Wirtschaftspolitik unerlässlich notwendiges Instrument anerkannt wird, endlich auch in Österreich geschaffen werde“ (Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Jahrbuch 1967, S. 18). Tatsächlich wurde diese Arbeitsgruppe des Beirats (sieben Ökonomen und zwei Verwaltungskräfte) ab 1. Juli 1968 in eigenen Räumlichkeiten untergebracht, damit sie sich ständig dieser Arbeit widmen könnten. Allerdings verzeichnete diese Einrichtung keine Erfolge, sodass sie 1970 aufgelöst wurde (Seidel, 1993, S. 43). Die Gründung des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen und deren Folgen müssen noch in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Wiewohl sich
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dieser Akt aus den spezifischen österreichischen Verhältnissen ergab, wäre er insbesondere mit diesem Inhalt nicht ohne Weiteres möglich gewesen, hätte ihn nicht eine internationale geistige Entwicklung begünstigt. Ab dem Ende der Fünfzigerjahre hatte sich in der westlichen Welt die Ära der „Technokratie“ durchgesetzt. In ihr spiegelte sich die Erfahrung der Jahre nach dem Wiederaufbau der Volkswirtschaften jener Länder, der zu permanentem Wachstum geführt hatte. Und das allgemeine Interesse war darauf gerichtet, diesen Prozess zu beschleunigen, ja es entstand eine Art internationaler Wachstumswettbewerb ; der Begriff „growth race“ war geboren. Parallel zu dieser Einstellung vollzog sich die wesentliche Ausweitung der Rechenmöglichkeiten durch Computer, welche zu einer ungeahnten Entwicklung der Ökonometrie, von mathematischen Modellen, letztlich zu einem neuen Zweig der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung, der Wachstumsanalyse, führte. Es bleibt für die zu behandelnde Frage ohne Belang, dass dieser Forschungszweig steril blieb. Solches konnte von den Zeitgenossen noch nicht in vollem Umfang gesehen werden, und so führte diese Entwicklung nach manchen Erfolgen letztlich zu einer Hybris der Wirtschaftspolitik, welche ihren Wahlspruch in den Worten des späteren deutschen Wirtschaftsministers, Karl Schiller, von der „Feinsteuerung der Konjunktur“ fand. In dieser Phase entstand insbesondere in Mitteleuropa ein neuer Typ des Wirtschaftsexperten, der sich durch fundierte wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung auszeichnete, welche zuvor in dieser Region ja weit hinter dem angelsächsischen Standard zurückgeblieben war. Das traf in besonderem Maß für Österreich zu, wo sich andererseits das politische System der großen Koalition total überlebt hatte und auch die wirtschaftspolitischen Ansätze der Vergangenheit auf die Fragen der Zeit keine Antworten wussten. Das galt sowohl für die regulierend-merkantilistischen Maßnahmen der Nachkriegsepoche als auch für die soziale Marktwirtschaft der späten Fünfzigerjahre (Butschek, 1985, S. 141). Diese neue Expertengeneration hatte sich im Umkreis von Arbeiterkammer, Handelskammer, Österreichischem Gewerkschaftsbund, Nationalbank sowie dem Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung gesammelt, in den Finanznachrichten des Wirtschaftspublizisten Horst Knapp ihr Sprachrohr gefunden und bildete nun praktisch sämtliche Unterausschüsse des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen. Von da ging nun doppelter Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der Regierung aus : zunächst dadurch, dass sich in den einzelnen Studien die übereinstimmende Meinung der Sozialpartner niederschlug, weiters aber, weil sich hier ein ökonomischer Sachverstand jenseits der traditionellen politischen Gruppierungen manifestierte, welchem die bisherige Politik nichts entgegenzusetzen hatte.
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So blieb es nicht nur bei den Anregungen und Vorstellungen der Sozialpartner, sondern es kam zu einem Stilwandel der Wirtschaftspolitik (Marin, 1982, S. 266). An dieser Stelle sei eine weitere österreichische Eigenheit vermerkt. Ende 1926 wurde das Österreichische Institut für Konjunkturforschung gegründet. Diese auf Initiative von Ludwig Mises und Friedrich A. Hayek zurückgehende Einrichtung wurde schon damals, in Zeiten vergleichsweise großer sozialer Spannungen, paritätisch von Handelskammern und Arbeiterkammern getragen und hatte die Aufgabe, den Marktparteien objektive Daten und Forschungsergebnisse zur Verfügung zu stellen. Nach dem Intermezzo des Zweiten Weltkriegs erlebte diese Einrichtung als Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung ihre Auferstehung. Die Ansätze der Ersten Republik erfuhren in der Zweiten eine außerordentliche Intensivierung. Nicht allein ging die Forschungsarbeit des Instituts weit über die Untersuchung der Konjunktur hinaus, auch wurden seine Dienste nicht nur von den Sozialpartnern, sondern in zunehmendem Maß auch von der Regierung in Anspruch genommen. Dem energischen Wiederbegründer und Institutsleiter, Franz Nemschak, war es in all den Jahren gelungen, das Haus von einseitiger politischer Einflussnahme freizuhalten, gerade deshalb wuchs seine Bedeutung als Informationsquelle für Regierung und Interessenvertretungen in einem solchen Maß, dass in Österreich die Beraterstäbe in diesen Institutionen relativ sehr klein gehalten wurden (Streissler, 1973). Ähnlich wie im Fall der Sozialpartner war die wirtschaftspolitische Bedeutung des Instituts nach dem Ende der Preis-Lohn-Abkommen etwas zurückgegangen, und ebenso wie jene trat es in der Ära der neuen Wirtschaftsexperten wieder in den Vordergrund. Es entwickelte sich zu einem integrierenden Bestandteil des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen und stellte diesem eine Fülle von Material für seine Arbeiten zur Verfügung. Diese neuerlich sehr enge Verzahnung mit den neuen Trägern der Wirtschaftspolitik ging in hohem Maß auf den langjährigen wissenschaftlichen Leiter des Hauses, Nachfolger Nemschaks und späteren Staatssekretär im Bundesministerium für Finanzen, Hans Seidel, zurück, der selbst als typischer Repräsentant der neuen Ära betrachtet werden konnte und später auch eine Studie über den Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen verfasste (Seidel, 1993). Der wirtschaftspolitische Stilwandel zeigte sich zunächst nach dem Auseinanderbrechen der großen Koalition und dem Wahlsieg der Österreichischen Volkspartei 1966 darin, dass einer der ersten Beiratsvorsitzenden, Wolfgang Schmitz, neuer Finanzminister und ein weiterer typischer Vertreter dieser Generation, Josef Taus, Staatssekretär für die verstaatlichten Betriebe im Kabinett Josef Klaus wurden. Nachdem Taus die Präsidentschaft der neu gegründeten Österreichischen Industrieverwaltungs-Gesellschaft übernommen hatte, folgte ihm der aus dem Ös-
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terreichischen Institut für Wirtschaftsforschung kommende Universitätsprofessor Stephan Koren mit dem Auftrag, sich insbesondere mit Fragen der Wirtschaftsstruktur zu beschäftigen. Im Rahmen dieses Auftrags entwickelte Koren ein wirtschaftliches Reformprogramm, den „Koren-Plan“, mit welchem sich die ÖVP identifizierte. Aufseiten der sozialistischen Opposition hatte der auf Bruno Pittermann folgende neue Parteivorsitzende, Bruno Kreisky, schon zuvor eine Kommission ins Leben gerufen, welche die Aufgabe hatte, ein „Programm zur Reform der österreichischen Wirtschaft“ auszuarbeiten. Dessen einzelne Kapitel wurden zwar in größerem Rahmen („1.400 Experten“) diskutiert, aber die wesentliche Arbeit oblag Wirtschaftsfachleuten aus dem beschriebenen Personenkreis, von welchen viele Ressorts im späteren Kabinett Kreisky übernahmen – Hannes Androsch, Hertha Firnberg, Josef Staribacher, Ernst Eugen Veselsky und Oskar Weiss. Außer Androsch kamen alle aus den Arbeiterkammern. Im März 1964 beschloss der Beirat, der Regierung ein Stabilisierungsprogramm zu empfehlen, welches Liberalisierungsmaßnahmen für den Außenhandel und den Arbeitsmarkt, die Beseitigung der Rabattkonkurrenz, Konsumenteninformation sowie einen Abbau der permanenten Zahlungsbilanzüberschüsse und eine vorsichtige Geldpolitik anregte und gleichzeitig die Sozialpartner sowie die öffentliche Hand zu einer zurückhaltenden Preis- und Lohnpolitik aufforderte (Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, 1964). Diese Empfehlungen, die noch im Herbst 1964 ergänzt worden waren, realisierte man zum großen Teil, wie die Ausweitung der – bisher nicht zur Gänze ausgeschöpften – Ausländerkontingente. Unter Finanzminister Koren, der auf Schmitz folgte, als dieser Präsident der Notenbank geworden war, wurden weitere energische Schritte zur Bekämpfung des Rabattunwesens, der sogenannten „grauen Märkte“, unternommen. Auch versuchte die Regierung Klaus, durch Verabschiedung der – auf dem „Koren-Plan“ basierenden – „Wachstumsgesetze“, welche ein Paket von Maßnahmen zur Senkung der Produktionskosten sowie der Erleichterung von Strukturanpassungen enthielten, die allgemein das Wirtschaftsklima verbessern sollten, ein rascheres Wirtschaftswachstum anzuregen. Allerdings blieb diese Intervention des Beirats in die aktuelle Konjunkturpolitik ein Unikat. In deren Folge entstanden Widerstände auf der Regierungsseite gegen konjunkturpolitische Beratung solcher Art. In den folgenden Jahren konzentrierte sich die Beiratsarbeit daher eher auf Themen mittelfristiger Bedeutung : „Was zunächst als eine politisch motivierte Notlösung erschien, erwies sich letztlich als ein praktikabler Weg. Die Entscheidung für mittelfristige Themen, wobei wirtschaftspolitisch heikle Fragen nur dann behandelt werden und starke Empfehlungen nur dann ausgesprochen werden, wenn eine gemeinsame Auffassung der Sozialpartner
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möglich erscheint, stellte sich als substanziell und zugleich flexibel genug heraus, um dem Beirat ein ‚existenzsicherndes Arbeitsfeld‘ zu sichern. Die Tätigkeitsabgrenzung, die sich im Lauf der Zeit herauskristallisierte, vermag auch wechselnden Paradigmen der ökonomischen Theorie und der praktizierten Wirtschaftspolitik standzuhalten“ (Seidel, 1993, S. 56). Wenn hier die Schwerpunkte von Entwicklung und Aktivität der österreichischen Sozialpartnerschaft im „Goldenen Zeitalter“ dargelegt wurden, so ist damit noch keineswegs ihr volles politisches Gewicht erfasst. Es existierte darüber hinaus noch eine Fülle von Möglichkeiten, sich in die politische Willensbildung des Landes einzuschalten. Da war zunächst das gesetzlich fixierte Recht der öffentlich-rechtlichen Interessenvertretungen (Kammern), Gesetzesentwürfe zu begutachten. Darüber hinaus existierten zahlreiche Kommissionen und Beiräte, welchen die Arbeitsmarktparteien, gleichfalls auf gesetzlicher Basis, angehörten. Solche reichten vom Arbeitsmarktservice über Beisitzer in Kartellgerichten bis zum Beirat für die Renten- und Pensionsanpassung. Fast noch bedeutsamer erwiesen sich informelle Gremien. Die erste Alleinregierung der ÖVP nach 1945 unter Bundeskanzler Josef Klaus versuchte, 1968 den Kontakt zu den Sozialpartnern durch Gründung der „Wirtschaftspolitischen Aussprache“ zu intensivieren. An dieser vierteljährlichen Sitzung nahmen der Bundeskanzler, die zuständigen Minister, Präsident und Vizepräsident der Nationalbank, der Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung sowie die Sozialpartner teil. Ähnlichen Charakter trug das „Verbändekomitee“, welches 1969 von Finanzminister Stephan Koren ins Leben gerufen wurde. Freilich wäre über all diese Aktivitäten zu sagen, dass sie nicht notwendigerweise auf Basis eines sozialpartnerschaftlichen Konsenses zustande kamen, sondern oft die Meinung einer Interessenvertretung zum Ausdruck brachten. Alles in allem erweist sich, dass ein äußerst eng geknüpftes Netz sozialpartnerschaftlicher Organisationen über Wirtschaft und Gesellschaft Österreichs lagen. Allerdings konzentrierte sich ihr Einfluss nur auf bestimmte Bereiche, nämlich die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zusammenfassend wird man sagen können, dass die Entstehung der österreichischen Sozialpartnerschaft sicherlich kein unikales Phänomen darstellt, eine Kooperation zwischen den Arbeitsmarktparteien unter dem Einschluss des Staates gab es nach 1945 in unterschiedlicher Form und Intensität in allen westeuropäischen Ländern. Darauf hat bereits Eichengreen hingewiesen. Andere Autoren sahen in dieser Zusammenarbeit geradezu das Charakteristikum des europäischen „Wohlfahrtskapitalismus“ (Hemerijck, 2007, S. 29). In Österreich fand sie offenbar ihren
Hartwährungspolitik und „längster Aufschwung der Nachkriegszeit“ – die Öffnung des Arbeitsmarkts
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intensivsten Ausdruck. Das dürfte auf eine Reihe politischer Ursachen zurückzuführen sein. Da war zunächst die Erfahrung des Bürgerkriegs und der darauf folgenden nationalsozialistischen Herrschaft, welche die Entschlossenheit zur Zusammenarbeit entstehen ließ. In die gleiche Richtung wirkte die immerhin noch zehn Jahre nach Kriegsende andauernde alliierte Besatzung. Aus ähnlichen Gründen kam in dieser Zeit eine Regierung der großen Koalition aus ÖVP und SPÖ zustande. Die enge – personelle – Verflechtung der beiden Interessenvertretungen mit den politischen Parteien sicherte jenen hohen Einfluss auf das politische Geschehen. Eine Rolle dürfte auch der hohe Anteil der Verstaatlichten Industrie gespielt haben, welcher die Interessenvertretung einer Unterstützung durch industrielle Großbetriebe beraubte, also die Unternehmervertretung schwächte. Dazu kam schließlich, dass sich im Untersuchungszeitraum das ökonomische Fachwissen nicht in der Verwaltung, sondern – sieht man vom Wirtschaftsforschungsinstitut ab – bei den Sozialpartnern konzentrierte. Letztlich sollte aber auch der persönliche Faktor für die Entwicklung der Sozialpartnerschaft nicht unterschätzt werden. Die Gewerkschaftspräsidenten dieser Periode hatten ihre jungen Jahre in Betrieben gearbeitet und waren während des Krieges teilweise in Konzentrationslagern gewesen. Sie besaßen ungeheures Prestige in der Arbeiterschaft, was sie befähigte, dieser auch unangenehme Maßnahmen im gesamtwirtschaftlichen Interesse verständlich zu machen. Dazu kamen in der angelsächsischen Nationalökonomie geschulte Experten in der Arbeiterkammer, wie Stefan Wirlandner oder Phillip Rieger, welche eine sozial abgestützte Marktwirtschaft favorisierten. Vor allem ist hier jedoch der langjährige wirtschaftspolitische Referent des ÖGB, Heinz Kienzl, zu nennen, welcher die Wirtschaftspolitik des ÖGB und damit auch in beträchtlichem Ausmaß die des Landes konzipierte.
16.4 Hartwährungspolitik und „längster Aufschwung der Nachkriegszeit“ – die Öffnung des Arbeitsmarkts
Die institutionellen und politischen Veränderungen der Sechzigerjahre scheinen sich auf Stil und Inhalt der Wirtschaftspolitik in der nun folgenden Entwicklungsphase ausgewirkt zu haben. Mit dem 1968 in Gang kommenden internationalen Konjunkturaufschwung begann sich die ökonomische Situation Österreichs auch relativ wieder zu bessern. Betrachtet man die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts in der Periode 1968 bis 1974, dann zeigt sich, dass Österreich den Vorsprung der Fünfzigerjahre gegenüber den meisten anderen OECD-Staaten wieder-
334
Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
erlangt hatte. Es vermochte sogar die internationale Rezession der Jahre 1971/72 zu überspringen, wodurch sich diese Entwicklungsphase zum längsten Aufschwung der Nachkriegszeit gestaltete. Das durchschnittliche jährliche Wachstum erreichte in diesem Zeitabschnitt real 5,2 % gegenüber 4,6 % von OECD-Europa und 4,5 % der Gesamt-OECD (in der Abgrenzung des Jahres 1993). Übersicht 63 : Veränderung des Bruttoinlandsprodukts europäischer OECD-Staaten zwischen 1967 und 1974 zu konstanten Preisen Durchschnittliche jährliche Veränderung in % Belgien
+ 5,2
Dänemark
+ 3,4
Deutschland
+ 4,3
Finnland
+ 5,6
Frankreich
+ 5,5
Griechenland
+ 6,6
Großbritannien
+ 2,9
Irland
+ 5,1
Island
+ 5,0
Italien
+ 5,1
Luxemburg
+ 5,3
Niederlande
+ 5,1
Norwegen
+ 4,0
Österreich
+ 5,2
Portugal
+ 6,7
Schweden
+ 3,6
Schweiz
+ 3,9
Spanien
+ 6,6
Türkei
+ 5,5
Quelle : WIFO-Datenbank.
Auch wenn die Ursachen für diese Expansionsbeschleunigung wiederum keineswegs eindeutig und ausreichend geklärt sind, so lässt sich doch eine Reihe von konkreten Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie von wirtschaftspolitischen Aktivitäten anführen, welche expansive Effekte bewirkt haben dürften. Die neue Schicht wirtschaftspolitisch kompetenter Experten war in verantwortliche Positionen gerückt und das Bestreben nach fachgerechten Lösungen gegen-
Hartwährungspolitik und „längster Aufschwung der Nachkriegszeit“ – die Öffnung des Arbeitsmarkts
335
über anderen politischen Zielen in den Vordergrund getreten. Das galt natürlich auch, ja in erster Linie, für die nunmehr regierende Sozialistische Partei, in deren Aktivität die Sozialpolitik gegenüber wirtschafts- und bildungspolitischen Zielsetzungen in den Hintergrund trat. Sicherlich wirkte sich auch günstig aus, dass die Dominanz der sozialpartnerschaftlichen Wirtschaftsexperten in den großen politischen Gruppierungen des Landes keinen wesentlichen Dissens über die zu ergreifenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen entstehen ließ und sich darin sogar eine gewisse Kontinuität von der Regierung Klaus zur Regierung Kreisky feststellen lässt – auch faktisch, da ja manche von Ersterer ergriffenen Maßnahmen sich erst mittelfristig auswirken konnten und auch auswirkten. Die Wirtschaftsentwicklung dieser Periode wurde wieder in erheblichem Maß von der Industrie getragen. War deren Wertschöpfung während der „Strukturkrise“ hinter dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts zurückgeblieben, übertraf sie im folgenden Zeitabschnitt dieses wieder deutlich. Während das Bruttoinlandsprodukt im Durchschnitt real um 5,2 % (1963/1967 : + 4,2 %) zunahm, wuchs die Wertschöpfung der Industrie (einschließlich Bergbau) um 7,4 %. Die wesentlich verbesserte Situation der Industrie dokumentierte sich auch darin, dass nicht nur die Gesamtinvestitionsquote wieder zu steigen begann – sie erreichte 1972 mit 28,6 % des verfügbaren Güter- und Leistungsvolumens ihren Höhepunkt –, sondern auch der Industrieanteil daran wieder zunahm. Er betrug 1971 bis 1973 rund 15,5 % der Gesamtinvestitionen. Es scheint somit, dass das vergleichsweise langsame Wachstum der österreichischen Industrieproduktion um die Mitte der Sechzigerjahre teilweise Ausdruck für die Anpassung der Angebotsstruktur an die neuen Nachfragebedingungen war. Es darf nämlich nicht übersehen werden, dass alle derartigen Prozesse Zeit benötigen, besonders dann, wenn sie sich unter gleichzeitiger Änderung vieler anderer Rahmenbedingungen vollziehen. Bereits während der „Strukturkrise“ expandierte eine Reihe von Leichtindustrien weit überdurchschnittlich und erzielte Erfolge auf den internationalen Märkten – wie etwa die Skiindustrie (Seidel, 1974, S. 65). Aber auch in anderen Industriebereichen traten im Lauf der Sechzigerjahre dynamische Unternehmer in Mittelbetrieben hervor, die außergewöhnlichen innovatorischen Impetus an den Tag legten. Schließlich erweckte Österreich in stets steigendem Maß das Interesse ausländischer Investoren. Einerseits bemühten sich Unternehmen aus der EWG, durch Zweigniederlassungen in Österreich die Zollschranken zu überspringen, andererseits suchten ausländische Unternehmen das mit einem hohen Grad an sozialer Stabilität und Ausbildung einhergehende, noch immer relativ niedrige, Lohnniveau auszunutzen. Der Anteil von Beschäftigten in ausländischen Industriebetrieben erreichte 1969 fast ein Fünftel. Der 1968 einsetzende
336
Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
Wachstumsschub vollzog sich bereits auf breiter Basis und vermittelte somit den Eindruck, dass eine recht weitgehende Strukturanpassung der österreichischen Industrie stattgefunden hatte (Seidel, 1974, S. 67). Zwar erwiesen die Ereignisse der Achtzigerjahre, dass zumindest im Bereich der Verstaatlichten Industrie diese Anpassung unter längerfristigen Aspekten nicht weit genug gegangen waren, unter den Bedingungen der Siebzigerjahre schienen sie vorerst ausreichend. Hohes Gewicht für die Wachstumsbeschleunigung muss man sicherlich dem Umstand zurechnen, dass die integrationsbedingte Diskriminierung Österreichs zu Ende ging, weil die internen Zollsenkungen der EWG 1968 abgeschlossen wurden – sich also die Außenhandelsposition dadurch nicht weiter verschlechterte ; im Gegenteil, die Politik der EWG war seit Ende der Sechzigerjahre in steigendem Maß darauf gerichtet, die Zolldiskriminierung gegenüber der EFTA abzubauen. Einige EFTA-Mitglieder (Dänemark, Großbritannien, Irland) traten mit 1. Jänner 1973 der EWG als Vollmitglieder bei – welche sich bereits 1967 mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) sowie mit EURATOM zu den Europäischen Gemeinschaften (EG) zusammengeschlossen hatten –, mit dem Rest schlossen die EG Freihandelsverträge. Mit Österreich kam bereits ab 1. Oktober 1972 ein Interimsabkommen zustande, welches bewirkte, dass Österreich vorzeitig in den Genuss der ersten – dreißigprozentigen – Zollsenkungsetappe kam (Breuss, 1983, S. 86). Übersicht 64 : Regionale Verteilung des österreichischen Außenhandels 1968 und 1975 Export 1968
Import 1975
Anteil am Gesamtexport in % EWG (1972)
1968
1975
Anteil am Gesamtimport in %
40,3
36,4
57,4
57,3
Deutschland
23,4
21,9
41,4
40,0
Italien
10,3
8,0
7,2
7,1
23,6
22,9
18,4
15,5
6,3
5,6
6,2
4,0
EFTA (1972) Großbritannien Schweiz USA Oststaaten Entwicklungsländer Insgesamt
9,2
7,8
7,5
6,7
4,6
2,5
3,3
2,9
14,8
17,1
9,8
10,2
7,2
11,4
6,1
9,2
100,0
100,0
100,0
100,0
Quelle : Statistik Austria, WIFO-Datenbank.
Hartwährungspolitik und „längster Aufschwung der Nachkriegszeit“ – die Öffnung des Arbeitsmarkts
337
Eine Rückverlagerung der Handelsströme fand zunächst jedoch nicht in gleichem Maß statt ; vor allem deshalb, weil sich Mitte der Siebzigerjahre die österreichischen Exporte kurzfristig stärker in die OPEC (Organization of the Petroleum Exporting Countries) sowie die Oststaaten verlagerten. Allerdings muss dieser Prozess vor einer insgesamt sehr dynamischen Außenhandelsentwicklung gesehen werden : Der österreichische Außenhandel wuchs seit 1968 viel rascher als in der Periode zuvor. Bis 1974 kam es zu einer kräftigen Ausweitung des österreichischen Exportanteils am gesamten OECD-Handel (1,34 %). Weiters gestaltete sich in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre die Kostenentwicklung für die österreichischen Betriebe im internationalen Vergleich zunehmend günstiger. Die Deutsche Mark war 1969 um 9,3 % aufgewertet worden, und es stellte sich die Frage, ob der Schilling mitziehen solle. In der darüber entstandenen Diskussion wurden im Fall des Nichtmitgehens zwei Konsequenzen befürchtet : zunächst ein inflationärer Stoß über die Importe, weiters aber eine Verlangsamung des Strukturwandels der österreichischen Industrie infolge des nachlassenden internationalen Konkurrenzdrucks. Die Regierung Klaus und die Notenbank unter dem Präsidenten Schmitz entschieden sich jedoch letztlich für die Beibehaltung des bisherigen Kurses aus den – traditionellen – Überlegungen, dass damit die österreichische Außenhandelsposition gestärkt werde. Die inflationäre Bedrohung sollte durch Zoll- und Ausgleichsteuersenkungen oder -befreiungen abgewendet werden. Es wurde angenommen, dass diese De-facto-Abwertung den erwünschten Effekt erreichte, indem sie die internationale Kostenposition der österreichischen Unternehmer verbesserte und damit einen Beitrag zum kräftigen Exportwachstum leistete (Seidel, 1980, S. 265). Die befürchteten Konsequenzen traten nicht auf. Zwar beschleunigte sich die Inflation in den folgenden Jahren, doch wurde diese Beschleunigung erst 1971 spürbar und hing offensichtlich kaum mit der De-facto-Schilling-Abwertung von 1969 zusammen (WIFO-Monatsberichte, 1972, 45 [3], S. 84). In gleicher Weise gab es auch keine stärkere Tendenz zur Strukturkonservierung, im Gegenteil, gerade in dieser Entwicklungsphase lässt sich – sicherlich als Folge des kräftigen und lang andauernden Gesamtwachstums – ein besonders rascher Strukturwandel der österreichischen Industrie feststellen (Bayer, 1978, S. 400). Nach dem Amtsantritt der Regierung Bruno Kreisky 1970, in welcher Androsch das Bundesministerium für Finanzen übernommen hatte, wurde, nachdem das System von Bretton Woods zusammengebrochen war, jedoch ein grundsätzlich neuer Weg in der Währungspolitik beschritten, jener der „Hartwährungspolitik“ (dieser Begriff wurde offenbar erstmals durch den Vorstandsdirektor der Creditanstalt, Julian Uher, geprägt). Diese ging nicht mehr von der stillschweigenden Annahme
338
Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
aus, die österreichische Produktionsstruktur sei im Grund nicht zureichend und im internationalen Wettbewerb gefährdet ; sohin sei stets eine Politik latenter Unterbewertung des Schillings zu betreiben. Zwar unterstellte auch die neue Währungspolitik keineswegs eine optimale Produktionsstruktur, im Gegenteil, eines ihrer Ziele lag ja darin, durch einen gewissen Druck auf die Gewinnmargen die Umstrukturierung zu beschleunigen, doch ging sie davon aus, dass die österreichische Volkswirtschaft jener aller europäischen OECD-Staaten ebenbürtig sei. Ihr Hauptziel bestand darin, das Preisniveau zu stabilisieren. Das wurde auf direktem Weg – durch Vermeidung von Inflationsimport –, aber auch auf indirektem erwartet. Die Dämpfung der Preissteigerungsrate sollte ihrerseits eine zurückhaltende Lohnpolitik ermöglichen – zum Teil auch eine zurückhaltende Einstellung der Unternehmer dazu herbeiführen, deren Gewinnmargen auf diese Weise unter Druck kämen (Handler, 1982, S. 414). Dieser grundsätzlich neue währungspolitische Schritt wurde mit den Sozialpartnern, insbesondere auch mit der in erster Linie betroffenen Vereinigung Österreichischer Industrieller, akkordiert. Die krisenhafte internationale Währungssituation 1971 veranlasste diese, dem grundlegenden währungspolitischen Wechsel zuzustimmen, der im Mai des Jahres zu einer Aufwertung des Schillings im Ausmaß von 5 % führte. Den Beschluss, der Aufwertung der Deutschen Mark vom Juli 1973 um 5,5 % im Ausmaß einer solchen von 4,8 % des Schillings zu folgen, fassten Regierung und Notenbank allerdings gegen den Widerstand insbesondere der Vereinigung. Die erfreuliche Wirtschaftsentwicklung veranlasste die Bundesregierung 1971 und 1975 zu Steuerreformen. Angesichts der Entwicklung im Ausland fand es auch Finanzminister Androsch angezeigt, die Umsatz- durch eine Mehrwertsteuer zu ersetzen, welche die Budgeteinnahmen neutral halten sollte. Es wurde ein Normalsteuersatz von 16 % sowie ein ermäßigter, beispielsweise für Wohnungsmieten oder Bücher, von 8 % festgelegt. Dass die österreichische Industrie die günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zwischen 1968 und 1975 in hohem Maß auszunutzen vermochte, geht nicht zuletzt darauf zurück, dass die Unternehmen die Möglichkeit erhielten, ausländische Arbeitskräfte einzustellen. Dazu bot sich ja überhaupt erst seit den Sechzigerjahren Gelegenheit. Nachdem die Arbeitslosigkeit in der Stabilisierungskrise 1953 mit einer Quote von 8,8 % den Nachkriegshöhepunkt erreicht hatte, ging sie in der Folgezeit stetig zurück. Zum Ende der Periode des „Wirtschaftswunders“, also 1962, war sie bereits auf 2,6 % gefallen ; in dieser Größenordnung verharrte sie während der „Strukturkrise“. Mit Beginn des „längsten Aufschwungs der Nachkriegszeit“ setzte sich der Rückgang fort und erreichte 1973 mit 1,2 % seinen Tiefpunkt. Zieht man in Be-
339
Hartwährungspolitik und „längster Aufschwung der Nachkriegszeit“ – die Öffnung des Arbeitsmarkts
tracht, dass in Österreich der Bau, aber vor allem der Fremdenverkehr eine starke saisonale Komponente in das Arbeitsmarktgeschehen einbringen, lässt sich sagen, dass das Phänomen der Arbeitslosigkeit um diese Zeit praktisch verschwunden war. Übersicht 65 : Entwicklungsphasen des österreichischen Arbeitsmarkts 1946 bis 1975 1946/1952
1952/1962
1962/1967
1967/1975
Durchschnittliche jährliche Veränderung in % Unselbstständig Beschäftigte
+ 1,6
+ 1,9
4,8
5,0
2,5
Bruttoinlandsprodukt, real
+ 12,2
+ 6,1
+ 4,2
+ 4,8
Bruttoinlandsprodukt, real je Beschäftigten
+ 10,6
+ 4,2
+ 4,0
+ 3,4
–
+ 4,4
+ 4,5
+ 4,5
Arbeitslosenquote (Durchschnitt der Periode)
Bruttoinlandsprodukt, real je Beschäftigtenstunde
+ 0,2 1
2
+ 1,3 1,83
Quelle : Butschek, 1992. – 1 1953 bis 1962. – 2 1963 bis 1967. – 3 1968 bis 1975.
Diese aus heutiger Sicht bemerkenswerte Entwicklung, welche nicht nur Vollbeschäftigung, sondern allmählich würgende Arbeitskräfteknappheit herbeigeführt hatte, wurde vom Angebot her nicht gemildert. So stagnierte bis Ende der Sechzigerjahre die Bevölkerung im Alter der Erwerbsfähigkeit. Deren Rückgang wurde mehr oder minder durch die massive Abwanderung der Selbstständigen, vor allem aus der Landwirtschaft, aber auch aus dem Gewerbe kompensiert. Dazu kamen noch beträchtliche Reduktionen der Normalarbeitszeit. 1959 wurde diese durch einen Generalkollektivvertrag von 48 auf 45 Wochenstunden gesenkt und 1965 die dritte Urlaubswoche eingeführt. Der nächste Verkürzungsschub begann 1970 mit einer Reduktion auf 43 Wochenstunden, 1972 auf 42 und 1975 auf 40 Stunden. Da die Reduktion der Normalarbeitszeit zumindest mittelfristig auf die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden durchschlägt und daher die Beschäftigtenproduktivität langsamer zunahm als die Stundenproduktivität, entstand auch von daher ceteris paribus eine zusätzliche Nachfrage nach Arbeitskräften (Butschek, 1992, S. 185). Wenn es angesichts dieser Gegebenheiten doch zu keinen dramatischen Knappheiten auf dem Arbeitsmarkt kam, dann dank des Einsatzes ausländischer Arbeitskräfte. In der Vergangenheit war es sehr schwierig gewesen, solche Arbeitskräfte aufzunehmen, da die Arbeitnehmervertretungen eine Konkurrenzierung der einheimischen befürchteten. Die Beschäftigung von Ausländern bedurfte daher eines
340
Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
Übersicht 66 : Determinanten der Angebotsentwicklung auf dem Arbeitsmarkt 1946/1952
1952/1962
1962/1967
1967/1975
Durchschnittliche jährliche Veränderung Bevölkerung Personen
– 8.600 1
+ 20.200
+ 38.700
+ 24.600
– 0,1 1
+ 0,3
+ 0,5
+ 0,3
– 34.300 1
– 500
– 10.000
+ 9.600
– 0,8 1
– 0,0
– 0,2
+ 0,2
Personen
–
+ 9.800
– 26.200
+ 11.800
In %
–
+ 0,3
– 0,8
+ 0,4
In % Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter2 Personen In % Erwerbspersonen
Selbstständige (einschließlich mithelfende Angehörige) Personen
–
– 20.800
– 29.300
– 21.200
In %
–
– 2,1
– 3,5
– 3,2
+ 13.600
+ 30.600
+ 3.100
+ 33.000
+ 2,2
+ 1,4
+ 0,1
+ 1,3
Angebot an Unselbstständigen Personen In %
Quelle : Butschek, 1992. – 1 1947/1952. – 2 Männer von 15 bis unter 65 Jahren und Frauen von 15 bis unter 60 Jahren.
komplizierten Bewilligungsverfahrens durch die Arbeitsämter, das nur in seltenen Fällen die Einstellung ermöglichte. Gesetzliche Grundlage für die Zulassung ausländischer Arbeitskräfte war die „Verordnung über ausländische Arbeitnehmer“ vom 23. Jänner 1933 ([deutsches] Reichsgesetzblatt I, S. 26). Danach durften Ausländer im Inland nur dann arbeiten, wenn eine Beschäftigungsgenehmigung und eine Arbeitserlaubnis erteilt wurden. Über die Beschäftigungsgenehmigung für den Arbeitgeber wurde nach arbeitsmarktpolitischen, über die Arbeitserlaubnis für den Arbeitnehmer nach fremdenpolizeilichen Erwägungen entschieden. Die Beschäftigungsgenehmigung galt für einen Arbeitsplatz und für höchstens ein Jahr (danach musste der Arbeitgeber neuerlich ansuchen). Sie war beim Landesarbeitsamt zu beantragen und wurde an das Bundesministerium für soziale Verwaltung weitergeleitet. Das Ministerium holte die Stellungnahmen der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft und des Österreichischen Gewerkschaftsbunds darüber ein, ob die wirtschaftlichen Erfordernisse und die Arbeitsmarktlage die Zulassung des ausländischen Arbeitnehmers empfahlen. Erst das „Raab-Olah-Abkommen“ vom Frühjahr 1962 erschloss dadurch eine liberalere Zulassung, dass die Sozialpartner gemeinsam ein jährliches Fremd-
Hartwährungspolitik und „längster Aufschwung der Nachkriegszeit“ – die Öffnung des Arbeitsmarkts
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arbeiterkontingent festlegten. Dieses bestand aus einer Vereinbarung zwischen der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund, welche gleichsam die Prüfung der wirtschaftlichen Erfordernisse und der Arbeitsmarktlage vorwegnahm. Die Landesarbeitsämter konnten in den Grenzen des Kontingents – es wurde ihnen als Erlass des Bundesministeriums für soziale Verwaltung mitgeteilt – selbst die Beschäftigungsgenehmigung erteilen. Anträge, die binnen zehn Tagen nicht abgewiesen wurden, galten automatisch als genehmigt. Das Fremdarbeiterkontingent kam wie folgt zustande : Zunächst handelten Fachorganisationen der gewerblichen Wirtschaft (Fachverbände, Gremien, Innungen) und Fachgewerkschaften Einzelkontingente für Berufsgruppen aus (die Unternehmervertreter ermittelten den Bedarf und die Arbeitnehmervertreter überprüften ihn aufgrund der Arbeitsmarktstatistiken und verschiedener anderer Informationen). Die auf fachlicher Ebene erzielten Teilvereinbarungen wurden sodann zu einem Gesamtkontingent zusammengefasst und von den Spitzen beider Interessenvertretungen sanktioniert. Jeder Arbeitgeber, der das Kontingent beanspruchen wollte, musste überdies gewisse Voraussetzungen für die Einstellung dieser Arbeitskräfte erfüllen (Butschek, 1992, S. 194). Die Änderung der gewerkschaftlichen Position, die letztlich die Kontingentvereinbarung ermöglichte, ging natürlich auf die gewandelte Arbeitsmarktlage in den Sechzigerjahren zurück, die eben seit Beginn dieses Jahrzehnts durch Vollbeschäftigung gekennzeichnet war. Diese wurde in Österreich später erreicht als in vielen OECD-Ländern, wodurch man eben auch ausländische Arbeitskräfte später heranzog als in diesen. Das erste 1962 gemeinsam fixierte Kontingent von 36.000 Personen wurde nur zu 38 % ausgenutzt. In der Folge erhöhte man es ständig, gleichzeitig verlor es jedoch an Bedeutung, weil allmählich praktisch für jeden Ausländer, auch außerhalb des Kontingents, eine Beschäftigungsgenehmigung erteilt wurde. Die Gewerkschaften hatten in dem Maß das Interesse an diesem Problem verloren, als sich ihre ursprünglichen Befürchtungen als gegenstandslos erwiesen. Die Ausländerbeschäftigung wurde damit im Wesentlichen durch ökonomische und nicht durch administrative Faktoren bestimmt. 1961 (für die Zeit davor liegen keine Daten vor) wurden in Österreich lediglich 16.200 Gastarbeiter beschäftigt, das entsprach 0,7 % aller Unselbstständigen. In den Folgejahren nahm ihre Zahl stetig zu, doch geschah dies in prozyklischen Schüben. Der erste erfolgte 1965 bis 1967 und verdreifachte praktisch die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte, der zweite setzte 1969 ein, dauerte bis 1973 und verdreifachte abermals den Stand an Ausländern. In diesem Jahr erreichte auch deren Zahl mit
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Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
226.800 oder 8,6 % der Beschäftigten den ersten Höhepunkt. Die sich bereits 1974 abzeichnende Krise der Industrie führte trotz unverändert geringer Arbeitslosigkeit (1,5 %) und stürmischem Beschäftigungswachstum (+ 1,8 %) zu einem leichten Abfall der Ausländerbeschäftigung (– 2,0 %). 1975 setzte dann deren dramatischer Rückgang ein. Übersicht 67 : Ausländische Arbeitskräfte in Österreich 1961 bis 1975 Beschäftigte
Arbeitslose
Insgesamt
1961
16.200
–
–
1962
17.700
–
–
1963
21.500
–
–
1964
26.100
–
–
1965
37.300
–
–
1966
51.500
–
–
1967
66.200
–
–
1968
67.500
–
–
1969
87.700
–
–
1970
111.715
–
–
1971
150.216
–
–
1972
187.065
–
–
1973
226.801
–
–
1974
222.327
1.291
223.618
1975
191.011
4.792
195.803
Quelle : Butschek, 1992.
Mit dieser Ausländerquote hatte Österreich (wenn man von der Schweiz absieht, wo der Anteil ein Viertel ausmachte) das Niveau anderer europäischer Industriestaaten erreicht. Deutschland beschäftigte 1973 10,8 % Ausländer, Frankreich und Belgien rund 7 % sowie Schweden 6,3 %. All diese Länder steigerten ihren Ausländeranteil allmählich in einem Zeitraum von 15 bis 20 Jahren oder hatten eine lange Tradition in der Fremdarbeiterbeschäftigung, wie etwa Belgien. Dagegen erreichte Österreich die angegebene Quote in einem Jahrzehnt, was sicherlich an die soziale Anpassungsfähigkeit des Gastlands besondere Anforderungen stellte. Die rasche Zunahme der Fremdarbeiterbeschäftigung wurde durch ein elastisches und regional günstig situiertes Angebot erleichtert. 1973 stammten 78,5 % der österreichischen Gastarbeiter aus dem damaligen Jugoslawien. Daneben fielen nur Türken (11,8 %) einigermaßen ins Gewicht. Italiener, Griechen und Spanier, auf die ein nennenswerter Teil der Wanderarbeiter in der EWG entfiel, spielten
Hartwährungspolitik und „längster Aufschwung der Nachkriegszeit“ – die Öffnung des Arbeitsmarkts
343
in Österreich praktisch keine Rolle. Dagegen dokumentierte sich die relativ enge wirtschaftliche Verflechtung mit Deutschland darin, dass trotz des dort höheren Lohnniveaus 5.800 Deutsche in Österreich arbeiteten, was immerhin 2,5 % der ausländischen Arbeitskräfte entsprach. Diese wurden nicht im gesamten Bundesgebiet in gleicher Intensität nachgefragt. Man benötigte sie vor allem dort, wo der Arbeitsmarkt besonders stark ausgeschöpft war. Das waren im Allgemeinen die Agglomerationszentren und unter ihnen besonders jene, deren Einzugsgebiet kaum noch über inländische Arbeitskraftreserven verfügte. Daher ergaben sich beträchtliche Unterschiede im Ausländeranteil nach Bundesländern. An der Spitze stand (1973) Vorarlberg, erst mit großem Abstand folgten Salzburg und Wien. Auch Tirol beschäftigte noch überdurchschnittlich viele Ausländer. Dagegen vermochten die übrigen Bundesländer noch in höherem Maß die Nachfrage nach Arbeitskräften aus heimischen Quellen zu decken. Die ausländischen Arbeitskräfte wurden von bestimmten Branchen bevorzugt herangezogen. Die Schwerpunkte (gemessen an der Ausländerquote) lagen 1973 in der Lederproduktion und -verarbeitung, wo fast ein Drittel der Beschäftigten auf Ausländer entfiel, in der Textilproduktion, hier galt das für mehr als ein Viertel, im Bauwesen (welches mit 64.000 Gastarbeitern absolut an der Spitze stand) mit 22,5 % sowie im Fremdenverkehrsgewerbe (17,4 %). Aber auch die meisten anderen Branchen beschäftigten eine beträchtliche Zahl von Ausländern. Ausnahmen bildeten das Geld- und Kreditwesen sowie die sonstigen Dienste, darunter vor allem der öffentliche Dienst. Die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte dürfte überwiegend positive wirtschaftliche Auswirkungen für Österreich gehabt haben. Sie verlängerte den Konjunkturaufschwung, indem sie die damals relevante „Arbeitskräftebarriere“ hinausschob, die Nachfrageausweitung der privaten und öffentlichen Haushalte dämpfte (hohe Sparneigung der Gastarbeiter, relativ geringe zusätzliche öffentliche Ausgaben) und ein günstiges Investitionsklima schuf. Gleichzeitig wurden Anpassungsschwierigkeiten und damit die Reibungsverluste im Wachstumsprozess gemildert. Gastarbeiter konnten eben in Gebieten eingesetzt werden, in denen Arbeitskräfte besonders knapp waren. Überdies wurden sie häufig für Tätigkeiten herangezogen, welche die heimischen Arbeitskräfte wegen ungünstiger Arbeitsbedingungen mieden. Zusätzlich beeinflusste die Ausländerbeschäftigung das Klima des österreichischen Arbeitsmarkts auch dadurch, dass sie zu einer Reduktion der Arbeitslosigkeit in Österreich beitrug. Zwar hatte die Arbeitslosenquote schon Anfang der Sechzigerjahre die Schwelle von 3 % unterschritten, doch kam es in den Siebzigerjahren
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Das „Goldene Erfolgreicher Zeitalter“Wiederaufbau in Österreich
zu einer weiteren Verringerung, wodurch sie unter 2 % fiel. Da das Ausmaß der Jahresarbeitslosigkeit in Österreich in hohem Maß durch Saisonausschläge bestimmt wird, bedeutete ein wachsender Anteil von Ausländern in Saisonberufen sozusagen den Export der Arbeitslosigkeit. Ein erheblicher Teil der Ausländer verließ nämlich zu Saisonende das Land und kehrte erst zu deren Beginn wieder oder wurde durch Neuzugänge substituiert. Freilich wäre es nicht ohne Weiteres zulässig, die im Winter heimgekehrten Ausländer zu den inländischen Arbeitslosen hinzuzuzählen, um eine potenzielle Gesamtarbeitslosigkeit zu errechnen. Märkte reagieren auf Knappheiten, und bei Nichtexistenz von Saisonarbeitskräften sinkt erfahrungsgemäß auch die Saisonarbeitslosigkeit durch Änderung der Verhaltensweisen sowie des Einsatzverhältnisses der Produktionsfaktoren. Nicht sehr deutlich wurde der Einfluss der Ausländer auf die Lohnstruktur. Allgemein erwartete man eine negative Entwicklung der Löhne für minderqualifizierte Arbeitskräfte. Einige Analysen brachten auch Hinweise dieser Art, doch scheint sich der dämpfende Einfluss auf diese Lohnkategorie in engen Grenzen gehalten zu haben (Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, 1976, S. 36). Auch die ausländischen Arbeitskräfte profitierten von ihrer Beschäftigung, da ihr Einkommen beträchtlich über jedem potenziellen im Heimatstaat lag. Diesem kam wieder zugute, dass sein Arbeitsmarkt entlastet wurde und die Ersparnisse der Gastarbeiter nicht nur zu einer höheren Investitionsquote führten, sondern durch die Überweisungen in die Heimat die Zahlungsbilanz verbesserten. Allerdings war man sich darüber klar, dass die hier aufgezählten Vorteile für die österreichische Wirtschaft vorwiegend kurzfristiger Natur waren und auf längere Sicht verloren gehen mussten, sobald sich die Verhaltensweisen der Ausländer jenen der österreichischen Arbeitskräfte angepasst hatten, sie also in der Gesellschaft, in welcher sie arbeiteten, integriert sein würden (Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, 1976, S. 20). Überdies entstanden im Lauf des Aufschwungs Befürchtungen dahin, dass die ausreichende Versorgung mit billigen, ungeschulten Arbeitskräften die Entwicklung der österreichischen Industriestruktur in eine unerwünschte Richtung lenken könnte. Da andererseits das Schweizer Beispiel demonstrierte, dass ab einem gewissen Anteil von Ausländern an der Bevölkerung soziale Spannungen zu erwarten wären, beabsichtigten die Sozialpartner, den Ausländerzustrom ab 1974 langsam zu bremsen. Im Lauf des Jahres stellte sich allerdings heraus, dass es weniger die Bremsen waren, welche die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte erstmals verringerte, sondern die sinkende Nachfrage. Abschließend wäre noch festzuhalten, dass die dramatischen Einkommenssteigerungen dieser Periode für die große Mehrheit der Bevölkerung neue Konsummuster, einen neuen Lebensstil, entstehen ließen. Da waren einmal die Reduktion
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Hartwährungspolitik und „längster Aufschwung der Nachkriegszeit“ – die Öffnung des Arbeitsmarkts
der täglichen Arbeitszeit sowie die Verlängerung des Urlaubs, welche die Arbeitsbelastung der Beschäftigten verringerten. Darüber hinaus erlaubten die gestiegenen Realeinkommen breiten Kreisen der Bevölkerung einen Lebensstandard, wie ihn bis dahin nur die Oberschichten gekannt hatten. So wurde es möglich, nicht nur inländische Urlaubsreisen zu unternehmen, sondern auch solche allmählich sogar ins Ausland. Aber auch die Zusammensetzung der Konsumgüter ändert sich fundamental. Kam bisher im Wesentlichen nur Nahrungsmitteln, Bekleidung und Wohnungen eine zentrale Rolle zu, so änderte sich nunmehr die Konsumstruktur ; freilich im Zeitablauf, in Kaufwellen. Nach Überwindung der Nachkriegsnot legte die Bevölkerung zunächst Wert auf qualitativ höherwertige Nahrungsmittel, sodann auf – modische – Bekleidung. In der Folge wandte man sich intensiver Rundfunkgeräten, Fahr- und Motorrädern zu. Im letzten Drittel dieser Periode trat das Fernsehen seinen Siegeszug an. Die Haushalte wurden mit elektrischen Geräten ausgestattet, und schließlich ging die Bevölkerung dazu über, Personenkraftwagen zu erwerben. Eine Entwicklung, welche nicht nur das Mobilitätsverhalten der Besitzer veränderte, sondern tief greifende Veränderungen der gesamten Straßeninfrastruktur nach sich zog. Übersicht 68 : Ausstattung österreichischer Haushalte mit dauerhaften Konsumgütern Radiobewilligungen
Fernsehbewilligungen
PkwZulassungen
1951
65,3
0,0
2,3
0,1
1,0
1955
78,1
0,1
6,4
1,7
3,4
Waschmaschinen
Kühlschränke
Je 100 Haushalte
1961
88,2
12,6
20,6
12,3
16,9
1965
94,9
29,6
33,0
20,6
40,5
1971
83,9
61,6
52,3
36,9
66,8
1974
80,7
69,0
49,0
64,0
87,0
1981
87,8
81,2
84,2
72,0
98,0
1992
93,0
87,2
107,1
83,0
97,0
Quelle : Sandgruber, 1995, S. 476.
17. Das Ende des Nachkriegswachstums
17.1 Erdölkrise, Austro-Keynesianismus und ein Wandel der Institutionenstruktur
Das „Goldene Zeitalter“ repräsentiert zweifellos eine der bemerkenswertesten Perioden der Wirtschaftsgeschichte Europas. Dessen Volkswirtschaften erreichten zwei Jahrzehnte lang ein Wirtschaftswachstum, wie man es vorher und auch nachher niemals erlebt hatte. Diese massive Wohlstandssteigerung war verbunden mit außerordentlich hoher innenpolitischer Stabilität. Zwar hatte der Zweite Weltkrieg vor allem in Mitteleuropa einen äußerst schmerzlichen Lernprozess auf dem Weg zu einer reifen demokratischen Gesellschaft bedeutet, aber deren Festigung und Weiterentwicklung wurde durch das hohe Einkommenswachstum begünstigt – ebenso wie umgekehrt der Totalitarismus durch die Weltwirtschaftskrise mit ihren Folgen. Ähnliches gilt für die sozialen Beziehungen. Auch hier hatte der Zweite Weltkrieg Verhaltensänderungen bewirkt, welche jedoch die wirtschaftliche Expansion noch vorantrieben. Die Integration der Arbeiterschaft in die Gesellschaft fand spätestens in dieser Zeit ihren Abschluss. Konsequenterweise lag, wie im Vorstehenden ausgeführt, das institutionelle und organisatorische Charakteristikum der westeuropäischen Volkswirtschaften nach 1945 in der Kooperation von Gewerkschafte