Bild-Zeit: Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängenbis zur frühen Neuzeit 9783205122777, 3205984374, 9783205984375

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Bild-Zeit: Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängenbis zur frühen Neuzeit
 9783205122777, 3205984374, 9783205984375

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Götz Pochât • Bild - Zeit

ARS VIVA Herausgegeben von

Götz Pochat Band 3

Götz Pochât

Bild - Zeit Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängen bis zur frühen Neuzeit

B, BÖHLAU VERLAG WIEN • KÖLN WEIMAR

Gedankt seien Sir Ernst Gombrich, London, und Hans Holländer, Aachen, für Hilfe und Anregungen, sowie Eva Reinhold-Weisz, Wien, die das Vorhaben tatkräftig unterstützt hat.

Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium fiir Wissenschaft, Kunst und Verkehr, das Amt der Steiermärkischen Landesregierung, die Wirtschaftskammer Steiermark sowie den O. Maurer-Fonds, Wien.

Umschlagabbildung: Ausschnitt aus Bridget Riley, Katarakt III, 1967 - Sammlung British Council, Rowan Gallery, London

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pochat, Götz: Bild - Zeit: Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängen bis zur frühen Neuzeit / Götz Pochat. - Wien ; Köln ; Weimar : Böhlau, 1996 (Ars viva : Bd. 3) ISBN 3-205-98437-4 NE: GT

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

© 1996 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG., Wien • Köln • Weimar

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefreiem Papier. Satz und Repro: Zehetner Ges. m. b. H., A-2105 Oberrohrbach Druck: Novographic, A-1238 Wien

Inhalt

I

Das Zeitproblem in der Kunstwissenschaft

7

II

Prähistorische Kunst

27

III

Frühe Hochkulturen

39

IV

Ägypten

53

V

Assur

70

VI

Kreta

76

VII

Griechenland

84

VIII

Hellenismus

121

IX

Rom

136

X

Frühchristliche Kunst

144

XI

Die Wiener Genesis

155

XII

Die Josua-Rolle . Inspirationsbilder

170

XIII

Der Bayeux-Teppich und der St.-Albans-Psalter

179

XIV

Der Klosterneuburger Altar

187

XV

Die Kirche als Himmelsstadt - Tympanonplastik und Erlebniszeit

202

XVI

Nicola Pisano - Kanzelreliefs in Pisa und Siena

217

XVII

Giotto-Assisi

223

XVIII

Giotto-Arenakapelle

239

Anmerkungen

261

Literatur

273

Abbildungsverzeichnis

278

Abbildungsnachweis

282

5

I Das Zeitproblem in der Kunstwissenschaft Wer vorliegendes Buch zur Hand nimmt, an der fachspezifischen Übersicht oder den erkenntnistheoretischen Überlegungen zum Zeitproblem aber weniger interessiert ist, möge gleich mit dem zweiten Kapitel beginnen, wo die Erörterung mit der prähistorischen Kunst ansetzt. Im ersten Kapitel soll die bisherige kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Zeit" in der bildenden Kunst und Architektur kurz erörtert und die Positionsbestimmung dieser Arbeit vorangestellt werden. Besonderes Gewicht wird im folgenden auf die „Erlebniszeit" seitens des Betrachters gelegt, die bisher nur vereinzelt Beachtung fand. Zwar gibt es natürlich viele andere Aspekte der Zeit, die ebenfalls zur Sprache kommen, wie die Bewegungsdarstellung, die erzählerische Relation von Figuren im Bild, die ikonographische Behandlung der Zeitlichkeit sowie die ihrer Negation, der Ewigkeit oder „Zeitlosigkeit". Entscheidend ist aber nicht nur die Feststellung dieser Sachverhalte, sondern die Auswertung ihrer Umsetzung im Bild. Diese eigentliche Aufgabe der kunsthistorischen Betrachtung kann letzdich nur im Nachvollzug des Gesehenen in unserem Bewußtsein, im Versuch einer möglichen Sinndeutung in Hinblick auf die Zeit im Bild geleistet werden, denn notwendigerweise sehen wir uns vor jedem Bild stets aufs neue vor die Frage gestellt, wie dessen Zeitlichkeit sich in unserer Erfahrung widerspiegelt und was dadurch zum Ausdruck gebracht wird? Weniger auf Identifikation von Objekten und Interpretation von Inhalten denn auf die Organisation des Objekts bzw. des Bildfeldes kommt es dabei an - die Lage einer Figur im Bilde, das Verhältnis einer Plastik zur eigenen Achse, die Relation einzelner Punkte oder Gestalten zur Bildfläche bzw. der Skulptur zum umgebenden Raum. Solche Gewichtung, die Einschätzung der Korrelation und des Bezuges einzelner Bildelemente oder Körper zu einander und zum Ganzen, sind für die ästhetische Betrachtungsweise charakteristisch; in diesem Wahrnehmungs- und Bewußtseinsprozeß spielt die Erlebniszeit eine vornehmliche, konstitutive Rolle. Nur in der Reflexion über diesen Prozeß selbst und in seiner nachträglichen Ausformulierung erscheint es möglich, etwas über die Zeit im Bilde, die darin niedergelegt aber erst durch die Erfahrung aktualisiert wird, zu sagen. Während man dem Raumbegriff und der tiefenräumlichen Darstellungsform zahllose Untersuchungen in der Kunstgeschichte gewidmet hat, von Panofsky (1924) angefangen über H. Jantzen, K. Badt, Carter, J. White, A. Parronchi und S. Edgerton bis hin zu neueren, streng

empirisch ausgerichteten Untersuchungen (Gioseffi, Kitao, Dittmann) und historischen Darstellungen (Veltman)1, so weisen die Abhandlungen über den Charakter und die Auswirkung der „Zeit" in der bildenden Kunst nicht dieselbe Kontinuität und Durchschlagskraft auf, wiewohl durchaus einschlägige Beiträge hierzu erschienen sind. An den Anfang wären G. Simmel, D. Frey, W. Perpeet, E. Panofsky, G. Paulsson, A. Hauser, H. Groenewegen-Frankfort, E. H. Gombrich und S. Giedion, zu nennen; von den siebziger Jahren an E. Strauß, G. Kubler, L. Dittmann, Th. Zaunschirm und A. Rohsmann. In den folgenden Jahren wird diesem Problembereich verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt.2 Wichtige Beiträge zu einzelnen Zeitaspekten, Künsdern und Kunstrichtungen über die genannten Autoren hinaus haben auch R. Arnheim, G. Bettettini, D. Lamblin, G. Boehm und W. Kemp geliefert. Zu den einschlägigen Sammelwerken gehören Publikationen von M. Baudson, H. Burger, R. Meyer, Chr. Thomsen H. Holländer und H. Paflik sowie „Die Zeit" - Bd. 6 der Carl-Friedrich von Siemens-Stiftung. Eine gute Zusammenfassung der umfangreichen Literatur zum Problem der Zeit sowohl in philosophisch-kulturwissenschaftlicher Hinsicht als auch was die Kunstgeschichte betrifft, bietet Petra Wilhelmy in der Einleitung zu ihren „Studien zur Zeitgestaltung im Werk Albrecht Dürers".3 Was die wissenschaftstheoretische Problematik betrifft, ist besonders auf Kubler und Zaunschirm zu verweisen. Bei Kubler konstituiert sich die historische Zeit aus der Sequenz der Kunstwerke, die sich als formale Lösungen übergreifender Formprobleme auftun. Es geht demnach um einen Zeitaspekt, der sich durch die vergleichende und verknüpfende Tätigkeit des Kunsthistorikers ergibt. Auf die wissenschaftstheoretische Problematik und die Fragen der Stilverwandtschaft und des Neubeginns, die sich bei Kubler auftun, bin ich kritisch 1990 eingegangen. Zaunschirms Analyse stellt eine metakritische Auseinandersetzung mit der vorgegebenen Begrifflichkeit von Raum und Zeit in der Kunstwissenschaft dar. Die Analyse der Zeitproblematik in der bildenden Kunst erfolgte in neuerer Zeit u. a. durch J. Assmann, F. Brommer, R. Brilliant, L. Dittmann, M. Imdahl, A. Rohsmann, H. Theissing, im hermeneutischen Sinn etwa bei G. Boehm und O. Bätschmann. Auf die notwendige Trennung des Zeitbegriffs in einen ontologischen und einen reflexiven Erkenntnisvorgang hat W. Deppert 1989 in einer Abhandlung verwiesen.4 Die in diesem Buch vorgebrachte Position der objektiven Werk-

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Das Zeitproblem in der Kunstwissenschaft

struktur und der subjektiven Erlebniszeit habe ich bereits 1984 in einem Aufsatz erläutert. Prinzipiell diente jene Studie als Ausgangspunkt des vorliegenden Buches. Unberücksichtigt blieben damals die Studien Dittmanns, mit denen sich meine Auffassung weitgehend deckt. Auf die konstitutive Rolle der Erlebniszeit hat jüngst Gottfried Boehm hingewiesen, der in seinem Aufsatz Bild und Zeit das „Zeitliche" des Bildes aus seiner Struktur und der daraus resultierenden Zeiterfahrung des Betrachters ableitet.5 Zu Recht wird dabei auf das positivistisch gegründete Mißverständnis hingewiesen, daß der Raum als vorgegebene, objektivierbare Größe das neuzeitliche Bild bestimme, aus dem „das Neben- und Hintereinander bildlicher Ordnung", d. h. die Zeitlichkeit, erwachse. Auf Bergson, Husserl und die Existenzphilosophie rekurrierend, darf vielmehr der entgegengesetzte Standpunkt vorgebracht werden, daß „der Raum an sich" kein Gegenstand der darstellenden Kunst sein kann, sondern vielmehr aus der Bewegung der Dinge oder ihrer Lage zueinander entsteht; der vorkonstruierte Kastenraum neuzeitlicher Prägung, wie wir ihn von der Renaissance her kennen, ist in sich nicht als apriorisch, statisch und vorgegeben zu bezeichnen, der, nachträglich mit Dingen gefüllt, zusätzlich eine narrative Bedeutung erhält. Schon Badt hat darauf hingewiesen, daß die Perspektivkonstruktion letztlich ein bis zum Zerreißen gespanntes, dynamisches Gebilde darstellt, das mit der Isomorphie eines vagen RaumbegrifFs wenig zu tun hat und vielmehr darauf ausgerichtet ist, den Betrachter in den dynamischen Prozeß der Sichtbarmachung und des Bewußtwerdens mit einzubeziehen.6 Auch in dieser Studie wird der Versuch unternommen, durch die Analyse der Werke selbst und der in ihnen niedergelegten formalen und narrativen Strukturen bzw. die dadurch in Gang gesetzte zeitliche Erfahrung, die im folgenden als „Erlebniszeit" umschrieben wird, einen konstitutiven Charakter dieses Prozesses selbst herauszustellen und zugleich den qualitativen Charakter bildlicher Gestaltung zu betonen. Denn erst aus ihr erwächst die eigentliche Aussage, die über das beschränkt Formale oder Narrative hinausreicht; erst aus der Interaktion von Bildgefüge und dargestellter istoria kommt es zu einer Realisierung der künstlerischen Intention. Als Fallbeispiel einer solchen Formal- und Zeitanalyse sei auf Imdahls Giotto-Buch verwiesen.7 Aber trotz dieser exzellenten Arbeit scheint es zuweilen möglich, durch Konzentration auf die Erlebniszeit der Analyse noch weitere Aspekte abzugewinnen. Ein neuer Zugang zum Zeitbegriff eröffnete Dittmann in seinem Artikel „Uber das Verhältnis von Zeitstruktur und Formgestaltung in Werken der Malerei".8 Nach einer

8

Einführung, die den hier angestellten Überlegungen vorgreift, geht er dazu über, den Anteil der Farbgestaltung und des Helldunkels an den Zeitstrukturen zu erörtern. Als vornehmliches Gestaltungsmittel eines immanenten Bildrhythmus dienen in der Malerei Farbe und Helldunkel, die den Zeitraum des Gemäldes zu einem autonomen Ganzen schließt. Dem wird die „Dauer" des sowohl Betrachter als auch Gegenstand umfassenden „Zeitgrundes" (nach Bergson und René Huyghe) gegenübergestellt.9 Als Äquivalent dieser inneren Dauer (durée intérieure) setzt Dittmann den farbigen Bildgrund. Inwiefern eine derartige Übertragung der inneren Zeiterfahrung auf den vorgegebenen Bildgrund quasi als apriorische Darstellungsform, dem die Einzelbewegungen einverleibt werden, wirklich zulässig ist, sei dahingestellt. Im Grunde entspricht solch eine Betrachtungsweise des Malerischen dem apriorischen Raumkonstrukt der Perspektive. Dittmanns Aktualisierung des Zeitbegriffs hat uns die Augen für die unleugbare Bedeutung der rhythmischen Farbgebung und des Helldunkels und die damit zusammenhängende Zeiterfahrung geöffnet, auch wenn ich eher geneigt bin, die Erlebniszeit und nicht den Malgrund als solchen als Träger der „inneren Dauer" zu setzen. Im Anschluß an die ausgewogene Beurteilung der zeitlichen Gerichtetheit in Rembrandts Werk sagt übrigens Dittmann selbst, daß die „durée die Dimension der gelebten, der subjektiv erfaßten Zeit" sei und daß „der Weg von Rhythmik zur Dauer . . . der Weg zur Subjektivierung, zur Verinnerlichung der Zeit" führe.10 Ähnliche Überlegungen wurden schon früher von Kandinsky angestellt. Wie mir Günther Brucher mitgeteilt hat, spricht der angehende Künsder angesichts der Werke Rembrandts in der Eremitage von einer Kunst, die „viel Zeit" brauche, d. h. sich durch eine lange, innere Zeit auszeichne. Wesentlich im Kontext der in der frühbarocken Malerei immer stärker ins Spiel gebrachte Augenblick der Peripetie und des Umschlags der dramatischen Handlung sind ferner die Betrachtungen zum Helldunkel bei Caravaggio und die Inszenierung des entscheidenden Moments, der die Brücke von der Vergangenheit zu der bevorstehenden Erfüllung der Berufung und des Martyriums schlägt.11 Die umfangreichste, auf prinzipielle Fragestellungen der „Zeit im Bild" eingehende Untersuchung hat Heinrich Theissing 1987 veröffentlicht.12 Nach der Behandlung der philosophisch-existentiellen Grundfrage, was denn eigentlich „Zeit" sei und wie sie erfahrbar werde, wendet sich Theissing dem Problemkreis „Zeit und Bild" zu und nimmt zunächst eine Systematisierung vor, wie wir ihr schon bei Dittmann begegnen: die historische Zeit, die Betrachtungs-

Das Zeitproblem in der Kunstwissewchafi

zeit und die Bildzeit, die in der Struktur und den einzelnen Komponenten zur Anschauung gelangen. Eine wesentliche Rolle spielt ferner die Darstellung von Bewegungsmotiven, deren Problematik vormals auch von H. GroenewegenFrankfort und E. H. Gombrich erörtert wurden.13 Über die einzelnen Bewegungsmotive und deren Charakter hinaus werden die Flächenform und ihre Füllung sowie die Lage der Figuren im Raum, die von Imdahl im Blickfeld gerückt wurde, auf ihre Zeitlichkeit hin befragt. Abschließend geht es um den Zeitbezug des Bildgrundes, differenziert in Gold-, Färb- und Lichtgrund sowie um das Helldunkel und den Farbraum in Anlehnung an Ernst Strauß' koloritgeschichtliche Untersuchungen.14 InTheissings thematisch gegliedertem Buch werden alle wesentlichen Aspekte bisheriger Zeitanalysen vorgestellt und eine Fülle einschlägiger Zitate und Literaturverweise gebracht. Aus kunsthistorischer Sicht fällt das jüngst erschienene Buch von Martin Burckhardt nur bedingt in Betracht: Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung (Frankfurt, New York 1994). Wiewohl sprachlich brillant und von gelegentlichen Gedankenblitzen erhellt, hält sich die kunsthistorische Ausbeute dieser eher kulturhistorischen Betrachtungen in Grenzen. Wenn auch die Erfindung der Uhr, die „Geburt der Maschine" (womöglich von Gerbert von Aurillac um das Jahr 1000) in einer längeren Perspektive zu einem einschneidenden Wandel vor allem im sozialen Bereich der Arbeitsteilung und der Organisation im öffentlichen Leben geführt hat, so bleibt die Auswirkung dieser sich über Jahrhunderte vollziehenden Umwälzung auf die Genese architektonischer Formen bzw. in narrativen Strukturen der Plastik und Malerei schwer nachweisbar. Für den Zeitabschnitt dieser Untersuchung, die mit der Kunst Giottos in der frühen Neuzeit endet, ist die Wirkung der metrisch-mechanischen Zeitmessung noch ohne Belang, es sei denn, man leitet wie Burckhardt die Arbeitsteilung der gotischen Bauhütte daraus ab. Die entscheidende Frage, wie tief die naturwissenschaftlich-lineare Zeiteinteilung die existentielle Zeiterfahrung des Individuums umgeformt hat, sei noch dahingestellt. Für Bergson, die Phänomenologie und die Existenzphilosophie handelt es sich um zwei grundsätzlich verschiedene Formen menschlicher Daseinserfahrung und Lebensbewältigung. Für die Soziologie mag die Antwort anders ausfallen. Daß ich trotz der Tatsache der sich im Prinzip wohl kaum mehr ändernden Positionsbestimmung des Zeitbegriffs und der Zeiterfahrungim Rahmen der kunsthistorischen Betrachtung im vorliegenden Buch, an Dittmann, Imdahl, Theissing und Boehm anknüpfend, den Zeitaspekt in der

bildenden Kunst erneut zur Sprache bringe, entspringt der Überzeugung, daß wir es hierbei mit einer wesentlichen, wenn nicht sogar ¿¿^wesentlichsten Grundkategorie künstlerischen Schaffens zu tun haben, sowohl im Bereich der Malerei und Plastik als auch in dem der Architektur — die Relevanz der inneren Zeiterfahrung ist von Susanne K. Langer ebenfalls an Hand der modi der Musik und der darstellenden Künste aufgezeigt worden. Gefühl entsteht und artikuliert sich als zeitlicher Prozeß.15 Wiederholungen bereits vorgetragener Begründungen und Positionen sind gelegentlich im Bereich des kritischen Diskurses unvermeidlich. Diese Gefahr trifft weniger die Analysen selbst, da die auf das Zeitproblem gerichtete, reflexive Betrachtungsweise jeweils von dem Einzelwerk und seinem Kontext auszugehen hat und sich hier somit ein schier unerschöpfliches Betätigungsfeld dem Kunsthistoriker öffnet. Allerdings gibt es auch viele vorbildliche Analysen und Erkenntnisse, die erneut einer scientific Community ins Gedächtnis zu rufen sind; manchmal erscheint bei jenen dennoch eine weitere Ausdifferenzierung noch möglich. Die chronologische Vorgangsweise wurde in der Absicht gewählt, um nach Möglichkeit historische Entwicklungslinien zeitlich-formaler Natur aufzuzeigen. Dies gilt sowohl für die Entstehung und Erkundung der illusionistischfunktionalen Figurendarstellung als auch für die Genese immer komplexerer Formen der narrativen Struktur. (In diesem Zusammenhang könnte man auf Elias' Zeitvorstellung verweisen, der in der Entwicklung der Symbole immer komplexere Formen sozial bedingter Verknüpfungsarten sieht - vgl. Anm. 24.) Zugleich konnte in bezug auf bildende Kunst festgestellt werden, daß nicht immer von einer linearen Entwicklung von Gestaltungsprinzipien die Rede sein kann, sondern daß vielmehr unterschiedliche Gewichtungen zeitlicher Strukturen je nach Epochen und Kulturkreisen manchmal auch gleichzeitig zum Tragen kommen. Der vorliegende Band beginnt mit der prähistorischen Kunst und endet mit der formal-narrativ entwickelten „Ikonik" Giottos. In einem zweiten Band sollen insbesondere die zeitlich-narrativen Aspekte der neuzeitlichen Malerei und Plastik zur Sprache kommen, wobei sich eine ungeheuere Vielfalt von Erzähltechniken, zeitlich ausgerichteten Themen und Betrachtungsweisen auftut. Der Komplexität solcher Erzählstrukturen und deren hermeneutische Auswirkung wurden in Einzeluntersuchungen (etwa von Bätschmann) Rechnung getragen.16 Explizit auf das Problem der Zeit in den mittelalterlichen Glasfenstern sowie später in den narrativen Bildern des 18. und 19. Jahrhunderts ist Wolfgang Kemp eingegangen.17 Durch die

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Das Zeitproblem in der Kunstwissenschaft

glückliche Berücksichtigung der in der Literaturwissenschaft schon seit längerer Zeit systematisch entwickelten Analyse der Erzählstruktur, der Narratologie, ist es ihm gelungen, ein für die Kunstgeschichte nur sporadisch bestelltes Feld zu erschließen. Was die Erzähltechnik betrifft, bietet sich fast bei jedem Bild ein neuer Zugang zu einem tieferen Verständnis für die fundamentale Rolle zeitlicher Aspekte bei der künstlerischen Gestaltung und der Interpretation von bildender

Kunst, und dies schon in Epochen, die fälschlich mit dem Erzählerischen meist nicht in Verbindung gebracht wurden, wie etwa die der prähistorischen, sumerischen und ägyptischen Kunst, die der archaischen Zeit in Griechenland oder des abendländischen Mittelalters. Im folgenden will ich den Charakter und die Bedeutung der „Erlebniszeit" für die kunsthistorische Analyse theoretisch begründen und anhand von einigen Beispielen erläutern.

Erlebniszeit und bildende Kunst Der Zeitbegriff hat zu Beginn unseres Jahrhunderts seinen objektiven Charakter eingebüßt.18 Aber schon in der Antike, der die objektive Methode der Zeiteinteilung in der Astronomie geläufig gewesen ist, wußte man um den relativen Charakter der Zeiterfahrung des Menschen.19 Vielleicht am stärksten tritt die Aufhebung des zeitlichen Kontinuums in der vertikalen Erzählstruktur der Bibel zutage.20 Hinzu kommt der figurale Aspekt biblischer Erzähltechnik: Die Prophetie der Vergangenheit findet in der Gegenwart, im Augenblick, ihre Erfüllung - jene wird in ihrer historischen Realität bestätigt und zugleich die verheißene Erlösung im Augenblick der Ekstatik vorweggenommen.21 Gerade das Zeitbewußtsein des Christenmenschen gewinnt eine besondere Tiefendimension, die sich auf die Ikonographie und Struktur der frühchristlichen Kunst ausgewirkt hat: die Verschmelzung herkömmlicher, epischer Erzähltechnik mit symbolischen Formen, Aufhebung der Zeit in Darstellungen des Abendmahls, der Taufe, der Epiphanie, Auferstehung und der Parusie. Es ist kein Zufall, daß Augustinus sich mit dem Schematismus des objektiven Zeitbegriffs auseinandergesetzt und im elften Buch seiner Bekenntnisse den Entwurf einer Phänomenologie der Zeit versucht hat. Die Rätselhaftigkeit des Augenblicks wird befragt und die konstitutive, weltschaffende Kraft des Zeitbewußtseins in aller Schärfe herausgestellt:

Vergangenheit überginge, so wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit."22 Nach einer längeren Erörterung der axialen Zeitteilung und der phänomenologischen Veränderlichkeit von Zeit folgt die Feststellung: „Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit, und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft. In unserem Geiste sind sie wohl in dieser Dreizahl vorhanden, anderswo nehme ich sie nicht wahr."23 Damit ist der Grundcharakter der phänomenologischen Zeitanalyse, das Phänomen der Zeitdehnung, Zeitkürzung und unterschiedlichen Ausrichtung angezeigt (vgl. besonders Kapitel 28). In den sensualistischen Theorien des 18. Jahrhunderts werden die Sinneswahrnehmungen mit dem abstrahierenden Denkvermögen des Menschen in Verbindung gesetzt, der Zeitcharakter physiologischer Vorgänge mit dem Schematismus rationaler Prinzipien in Einklang gebracht, die ,Ästhetik des Augenblicks" mit der Gegebenheit der phänomenalen Welt verbunden. Philosophisch hat Kant das erkenntnistheoretische Dilemma der Verquickung von empirischer Beobachtung und rationalem Denkvermögen durch die Grundlegung der Wissenschaften und seiner Kategorienlehre gelöst. Zeit wird als apriorische Anschauungsform verstanden. Von Elias wird diese rationale Posi„Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, tion prinzipiell zurückgewiesen — allerdings spricht er selbst weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären von einem spezifischen, im Menschen angelegten Potential 24 sollte, weiß ich es nicht . . . Ich weiß, daß wenn nichts zur symbolischen Verknüpfung. verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wenn nichts Kritik an Kant wurde auch schon von Herder erhoben, vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe. Jene beiden der schon früher, von der Phänomenologie der Plastik und Zeiten also, Vergangenheit und Zukunft, wie kann man anderen Kunstgattungen ausgehend, die unterschiedliche sagen, daß sie sind, wenn die Vergangenheit schon nicht räumliche Zuordnung des Schönen erörterte: „Einen Sinn mehr ist und die Zukunft noch nicht ist? Wenn dagegen haben wir, der Theile außer sich neben einander, einen die Gegenwart immer gegenwärtig wäre und nicht in die andern, der sie nach einander, einen dritten, der sie inein-

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Erlebniszeit und bildende Kunst

ander erfaßt."25 Die Zeit wird dabei der Musik zugeordnet. Freilich tritt sie auch bei der endlosen Ertastung der Plastik im Bewußtsein konstituierend hinzu, während die gestaltete Form dem Betrachter als lebendiges Ganzes entgegentritt. Die Skulptur halte die antiken Gestalten „auf einem Punkt persönlichen Daseyns fest". Die Schönheit der Gestalt verhelfe dem Menschen zu der Rückgewinnung einer heilen Welt, den Bruch zwischen Anschauung und Ratio überwinden. Die Wahrnehmung antiker Plastik fördere die Humanität der Gegenwart und trage zum Bewußtsein ihres überzeitlichen Charakters bei.26 Die geschichtsbildende, weltschaffende Kraft der phänomenologischen Anschauung und des damit verknüpften inneren Zeitbewußtseins ist im Zeitalter des deutschen Idealismus hervorgekehrt worden. Hans Barth verweist auf Schellings Fragment über die Zeitalter, 1813, in dem es heißt: „Nur der Mensch, der die Kraft hat, sich über sich selbst zu erheben, ist fähig, eine wahre Gegenwart, wie er allein einer eigentlichen Zukunft entgegensieht."27 Zwei Grundkomponenten der inneren Erlebniszeit werden hier angesprochen: die Ekstatik, nach der „eine Subjektivität die Fülle des An-sich-Seins durchbricht, eine Perspektive

darin aufreißt"28, eine Entfaltung oder Affektion der Zeit selbst durch sich selbst als Ubergang von Gegenwart zu Gegenwart. Es gehört wesentlich zum Subjekt und zur Zeit, „sich einem Anderen zu erschließen und aus sich selbst herauszugehen"29 und zum anderen: In der dreifachen Erlebnisstruktur der Zeit wird das Vergangene der Gegenwart einverleibt und zugleich dem Zukünftigen vorgegriffen. In den Gemälden Caspar David Friedrichs werden diese drei Zeitaspekte inhaltlich und strukturell zum Ausdruck gebracht - dabei ist zu bemerken, daß wir es jeweils nur mit einer Verlagerung des Schwerpunkts, nicht mit einer Ausschaltung der beiden anderen Zeidagen zu tun haben — konstituiert sich die Erlebniszeit doch stets aus dem Augenblick heraus, der Vergangenes und Künftiges überschattet: Die dem Strom der Zeit noch trotzenden kahlen Eichen über dem Hünengrab, heroische Zeugen einer längst verflossenen Zeit (Abb. 1). Tragischer Vollzug des Untergangs des Schiffes im Eis, wo sich in der Präsenz des Augenblicks die Katastrophe noch vollzieht (Abb. 2). Mehr auf Künftiges wird der Betrachter durch Blick und Gesten der Figuren in dem bekannten Gemälde Kreidefelsen auf Rügen gerichtet: Ii

Das Zeitproblem in der Kunstwissenschaft

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Caspar David Friedrich, Das Eismeer, 1823/24, Kunsthalle, H a m b u r g

3

Caspar David Friedrich, Kreidefelsen auf Rügen, u m 1818, W i n t e r t h u r

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Ungewißheit und gar Bedrohlichkeit des Nächstliegenden, weitschweifender, hoffnungsvoller Blick auf das weite Meer, wo die Boote symbolträchtig in jenen Lichtdunst segeln, in dem Himmel und Erde zuletzt verschmelzen (Abb. 3). Zeitliches wird in Friedrichs Gemälden in räumliche Kategorien umgesetzt. So dürfen wir bei diesen Beispielen von einer Verlagerung des Gewichts von der Vergangenheit auf das Gegenwärtige und von der Gegenwart auf das Zukünftige sprechen.30 In der Zeitlichkeit des Daseins konstituiert sich das Verhalten des Menschen zur Welt; unlöslich stellt sich mit der Frage nach der Zeit auch das Problem der Moral und Sittlichkeit.31 In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden das Zeitmoment der ästhetischen Betrachtung selbst und die damit verbundene Reflexion über die eigene Wahrnehmung Gegenstand der künstlerischen Umsetzung und der psychologischen Forschung. Arnold Gehlen verweist auf die „in den Vordergrund tretende Selbstempfindlichkeit der Wahrnehmung" und die damit verbundene „gebrochene, reflektierte Bewußtseinslage", auf den Impressionismus und Pointiiiismus sowie auf Fechners Elemente der Psychophysik\&6Q?2 Der Augenblicks- und Erlebnischarakter der Wahrnehmung, „die Verselbständigung der Sichtbarkeit bis in die Ableitung des Malvorgangs als Aktion selbst", dient Konrad Fiedler als Ausgangspunkt einer neuen Kunsttheorie. Nur in der faktisch ablaufenden ästhetischen Erlebniszeit sei der Ausschluß der „kunstfremden Lebenszwecke" des Denkens, Wollens und des Handelns zu erreichen.33 In ähnlicher Weise erfolgt die Durchdringung von ästhetischem Gefühl und faktischer Erlebniszeit in Bergsons Darstellung des dynamischen Bewußtseins (Sur les données immédiates de la conscience, 1888)34, in der gestaltpsychologische Gedanken vorweggenommen werden. Erfaßt werden zunächst Linien und Formen — im Bewußtsein entsteht eine Symbiose der wahrgenommenen Gestalt mit dem begleitenden Gefühl, die mit dem Begriff der „psychischen Sympathie" umschrieben wird. Die Strukturierung unserer Erlebnisse trägt zu ihrer Asthetisierung im Bewußtsein bei.35 Die Wahrnehmung der Gestalten im Raum, die in den Zuständen unseres Gemüts ihre Entsprechung finden, ist unlöslich mit dem Zeitbewußtsein und der Vorstellung der Dauer verbunden. Jeder gezählte Moment ist als ein Punkt im Raum vorstellbar, jede Zahlenvorstellung mit räumlicher Anschauung verknüpft.36 Einfache Sukzession ist nur in der Zeit denkbar, eine Vielzahl Folgen konstituiert den gedachten Raum (Fig. la). Dies gilt insbesondere für akustische Vorgänge: Die Reihung der Tone erfolgt in einem Idealraum, dem wir eine reine Dauer unterlegen - sei es bei

Erlebniszeit und bildende Kunst

I

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einfache Sukzession 1 1 1 1

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1

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Fig. l a

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^

V . simultane • Vorgänge *

Bergson, Der gedachte Raum, Vorstellung der Sukzession

der Wahrnehmung einer Melodie (qualitativer Eindruck), sei es bei der Zählung einzelner Tone. Der „Zahlenaspekt (tritt) nur durch Vermittlung einer symbolischen Vorstellungsweise (auf). . . bei der notwendig der Raum eine Rolle spielt" 37 , „man (entlehnt) notwendig vom Räume all die Bilder. . durch die man das Gefühl beschreibt, das das reflektierte Bewußtsein von der Zeit und sogar von der Sukzession hat: die reine Dauer m u ß also wohl etwas anderes sein". 38

sche Vorstellungen und raum-zeitliche Bilder zum Ausdruck zu bringen - Gebilde, die in einem homogenen Raum apperzipiert werden und sich darin als meßbare Folgen entfalten. Die heterogene Erlebniszeit wird demnach notwendig in die homogene Form symbolischer Gebilde umgesetzt. Zu dem Bewußtsein der reinen Dauer des Moments gesellt sich das Erlebnis der Bewegung- die Erinnerung an frühere Bewußtseinslagen und symbolisch konzipierte Räume. Qualitativ ist die Bewegung als Akt an sich nicht teilbar, sondern schließt in unserem Bewußtsein die Erinnerung an frühere Lagen mit ein. In dem Erlebnis der reinen Dauer wird Vergangenes mit Gegenwärtigem verschmolzen, gleichsam koexistent. In der Dynamik innerer Bewußtseinszustände spiegelt sich das Leben selbst in seinem Werden und Vergehen. Diese Aspekte werden verstärkt von Bergson in seinem Buch l'Evolution créatrice weiterentwickelt. Sie finden daraufhin Eingang in die Lebensphilosophie eines Georg Simmel, der den Durchdringungsprozeß der Zeiten im Denken und Fühlen in die Dynamik der lebendigen Gegenwart erfüllt sieht. Eine vorbildliche Umsetzung findet der élan vital und die Dynamik dieses als Leben und Bewegung zu begreifenden Bewußtseinszustandes im Werk Rembrandts, insbesondere in den Porträts und dem unlöslich damit verbundenen Malakt selbst - der Lebensstrom und der Lebensimpuls verdichten sich in seiner Malerei zu

Gedacht erscheint die Zeit nur als „Phantom des Raumes, das das reflektierte Bewußtsein im Banne hält", wie bei Kant eine apriorische Form der Sinnlichkeit. Gegen diese Leistung der Intelligenz stehen unsere sinnlichen Empfindungen, die dynamisch unser Ich konstituieren und zu seiner raum-zeitlichen Orientierung beitragen. Zwei Auffassungen von Dauer werden nach Bergson im Bewußtsein wirksam: Die analytische Aussonderung von Einzelmomenten, die nachträglich zu der Vorstellung einer dauernden Sukzession führen und als simultan auftretende Vorgänge auf den Raum projiziert werden. Und ein andermal die Durchdringung sukzessiver Bewußtseinsvorgänge zu einer einheitlichen Gestalt und Ganzheit, wie sie z. B. im Erlebnis einer Melodie zum Ausdruck kommt. Die Ausklammerung eines Moments ist nur im Augenblick möglich — aus dem Strom der Zeit gerückt verweilt er in der reinen Dauer. Diese wahre Dauer besitzt nach Bergson keine festgelegte Quantität, sondern m u ß im qualitativen Sinne verstanden werden. Sie wird als intensive Größe perzipiert — erscheint im Durchdringungsprozeß der Bewußtseinsvorgänge (Fig. lc). 3 9 Diesen qualitativen Bewußtseinszustand vermag der Mensch nur durch symboli-

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Das Zeitproblem in der Kunstwissenschaft

einer Ausdrucksbewegung, die „das ganze Nacheinander ihrer Momente in der Einmaligkeit eines einzelnen fühlen" läßt. 40 Deutlicher kann die Anlehnung Simmeis an Bergson nicht formuliert werden, und die Gedanken Simmeis sind, was den Zeitaspekt betrifft, von Max Raphael, Dagobert Frey und Lorenz Dittmann aufgegriffen und für die Kunstwissenschaft fruchtbar gemacht worden. In Bergsons Schrift La Pensée et le Mouvant (1934, dt. 1948) wird die Intuition als Versuch des Menschen definiert, „die wahre Dauer wiederzufinden". Das begriffliche Denken habe sich unfähig erwiesen, in die Tiefe des Geistes einzudringen: „Sie haben nicht gesehen, daß die verstandesmäßig erfaßte Zeit gleich Raum ist, daß die Intelligenz nur einen Schatten der wahren Dauer bearbeitet, aber nicht die Dauer selbst, daß die Eliminierung der Zeit der gewöhnliche und banale Akt unseres Verstandes ist, daß die Relativität unserer Erkenntnis des Geistes gerade daher rührt, und daß man also, um von der Begrifflichkeit zur unmittelbaren Schau, vom Relativen zum Absoluten zu gelangen, sich nicht außerhalb der Zeit begeben muß . . ., sondern daß es im Gegenteil gilt, sich in die wahre Dauer zurückzuversetzen, und die Wirklichkeit in der Bewegung, die ihr Wesen ist, wieder zu ergreifen." 41 In diesem Zusammenhang könnte auf die Affinität dieser abendländischen Lebensphilosophie mit der fernöstlichen Tradition verwiesen werden, nicht zuletzt was den Zeitaspekt und die Verschmelzung des individuellen Zeitbewußtseins mit einem kosmischen, zeitlosen „Jetzt" betrifft. Nicht zufällig kann zu Beginn unseres Jahrhunderts von einer Konvergenz fernöstlicher und abendländischer Lebensphilosophie, Esoterik und Kunstphilosophie gesprochen werden. Dieses Erlebnis des Augenblicks ist sowohl mit dem Gewesenen als auch mit dem Zukünftigen koexistent: „Für die Intuition ist die Veränderung das Wesentliche was das Ding angeht, wie es der Verstand auffaßt, so ist es nur ein Querschnitt im Fluß des Werdens, den unser Geist als Ersatz für das Ganze genommen h a t . . . Intuition, mit einer Dauer verbunden, bedeutet inneres Wachstum, sie gewahrt in ihr eine ununterbrochene Kontinuität von unvorhersehbarer Neuheit." 42 In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts suchte Franz Brentano die erkenntnistheoretischen Konsequenzen aus den experimentellen Untersuchungen der Empfindungen und dem unmittelbaren Zeitbewußtsein zu ziehen. 43 Er unterschied dabei zwischen „unmittelbarer Gedächtnisvorstellung" und nachträglicher Vergegenwärtigung vergangener Bewußtseinsinhalte. Von Brentano ausgehend, gelangte Husserl zu seiner Grundlegung der Phänomenologie. 44

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Als entscheidende Neuerung seines Ansatzes sieht Husserl die Scheidung von Zeitwahrnehmung und Zeitphantasie, die Trennung zwischen Akt, Wahrnehmungsinhalt und aufgefaßtem Gegenstand. 45 Die Zeitanalyse hat allen drei Komponenten Rechnung zu tragen. Unlöslich ist die Zeitlichkeit mit der Wahrnehmung verwoben. Die Objekte stellen nicht nur Einzelheiten in der Zeit dar, sondern enthalten auch eine gewisse zeitliche Ausdehnung. Das Zeitobjekt ist im Augenblick gegeben, wird im Jetzt wahrgenommen. Kaum ist es im dauernden Fluß unseres Zeitbewußtseins herabgesunken, wird es von neuen Erscheinungen im Jetztpunkt unseres Bewußtseins überlagert. Zugleich trägt es rückwirkend zur Konstituierung dieses neuen „Jetzt" bei, beschattet die Retention den Augenblick (Fig. 2). In diesem Sinne wird der Erlebnisinhalt unseres Bewußtseins als ein Kontinuum von Wahrnehmungen, das von der Retention fortwährend modifiziert wird, beschrieben. Die aktuelle Wahrnehmung wird als Präsentation, die von der primären Erinnerung mitgeprägt ist, verstanden. Darüber hinaus ist von einer sekundären Erinnerung die Rede, wobei ein vergangener Bewußtseinsinhalt erneut vergegenwärtigt wird, re-präsentiert als ein Jetzt, den Augenblick mitgestaltend. Ob als Sukzession oder als Einzelteil, in der Präsenz des Bewußtseins erhalten die Inhalte ihre gegebene Dauer und Gestalt. A

P

E

E

AE AA EÄ E Fig. 2

*

Reihe der Jetztpunkte Herabsinken Phasenkontinuum (Jetztpunkt mit Vergangenheitshorizont)

—> Reihe der evtl. mit anderen Objekten erfüllten Jetzt Husserl, Konstituierung des Zeitbewußtseins (nach Ausgabe 1966)

Erlebniszeit und bildende Kunst

Gegenstand Wahrnehmung

zeitliche Extension

Verknüpfung Zeitlichkeit A k t der Z e i t w a h r n e h m u n g originäres Bewußtsein

Retention a.) p r i m ä r e E r i n n e r u n g

b.) sekundäre Erinnerung

ehemalige Subjekt-ObjektRelation

Heidegger: Merleau-Ponty:

I n d i v i d u u m j n d Welt Präsentation Q u a l i t a t i v e s Erleben Wahrnehmui ig

Protention V o r g r i f f auf Z u k ü n f t i g e s

setzende Reproduktion: Vergegenwärtigung eines "gegenwärtig Gewesenen" = Fiktion Phantasiebewußtsein

Aneignung von Zeit Selbstaffektion f u n g i e r e n d e Intentionalität " s i c h selbst e r k e n n e n "

Fig. 3

Eine weitere Modifikation erfährt das innere Zeitbewußtsein in der Unterscheidung zwischen dem originären Bewußtsein der Wahrnehmung und der mit ihr zusammenhängenden Empfindung und dem Phantasiebewußtsein, das neben dem Erlebnis der Vergegenwärtigung früherer Erinnerung auch das Bewußtsein der Selbstgegebenheit mit einschließt. 46 Hier verweist das Wiedererinnerte projektiv in die Zukunft, bezieht die Erwartung des Menschen, daß die Zukunft die Wiedererfiillung des Vergangenen und Vergegenwärtigten gewähren möge, mit ein. Diese Erweiterung des Zukunftshorizonts wird in der Phänomenologie durch den Begriff der Protention umschrieben (Fig. 3). So wird der Augenblick des inneren Zeitbewußtseins sowohl von der aktuellen Wahrnehmung (Präsentation) und der konstitutiv daran beteiligten primären Erinnerung als auch von der sekundären Erinnerung und der Protention modifiziert. Vergegenwärtigung und Vorwegnahme durchdringen sich im Jetzt der Erlebniszeit, konstituieren die erfüllte Dauer der Gegenwart. Erlebniszeit, ob rein gegeben

B e w u ß t s e i n der S e l b s t g e g e b e n h e i t

Zeit als Dimension des S e i n s

Husserl, Struktur des Zeitbewußtseins - Präsentation, Retention und Protention

oder zusätzlich reproduziert und auf eine mögliche Erfüllung hin wirkend, konstituiert Sein und Welt des Individuums. Wechselnd und dennoch gleich bleibt es in der immanenten Zeit des Bewußtseinsflusses. Seine Erlebnisse konstituieren die reine Dauer der Augenblicke, in denen das Ich qualitativ beschlossen liegt. An seiner eigenen Existenz erfährt der Mensch das Prinzip des Lebens, das sowohl Werden als Vergehen, Veränderung als Kontinuität in der Einheit des Augenblicks in sich begreift. Was Erinnerung und Bildbewußtsein betrifft, scheidet Husserl zwischen der Repräsentation bildlicher Objekte (z. B. Kunstwerke) und der Erinnerung als setzende Reproduktion - Vergegenwärtigung eines Gegenstandes, dessen Erscheinung im Bewußtsein zugleich als „gegenwärtig gewesen" modifiziert wird. Nicht die frühere Wahrnehmung, sondern der ganze Komplex des früheren Bewußtseinsganzen werde reproduziert, eine frühere Gegenwart in Bezug zum Jetzt gesetzt.47 So wird im Augenblick der Vergegenwärtigung nochmals eine frühere Subjekt-Objekt-Relation

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Das Zeitproblem in der Kunstwissenschaft

heraufbeschworen, deren fiktiver Charakter eben in dem Abstand zur Gegenwart und dem nicht Vorhandensein modifizierend auf das Bewußtseinserlebnis und dessen Einschätzung einwirkt. Merleau-Ponty hält an Husserls Modell des inneren Zeitbewußtseins fest. Die Modifikationen werden ebenfalls als eine fortwährende Überschattung oder ein Einsinken von Momenten in den Bewußtseinsstrom verstanden.48 Retention wird unmittelbare Vergangenheit im Sinne von Husserls primärer Erinnerung, während Erinnerung als Vergangenheitsbewußtsein in den Bewußtseinsprozeß eingreift. Die Zeit ist hier nicht Gegenstand des Wissens, sondern „eine Dimension unseres Seins".49 Die Vergegenwärtigung des Vergangenen wird nur durch eine „fungierende Intentionalität" ermöglicht: „Meine Gegenwart übersteigt sich selbst auf eine nächste Vergangenheit und Zukunft hin"; diese beiden gehen in dem ursprünglichen Akt des augenblicklichen Seins und Bewußtseins auf: „Die Subjektivität ist nicht in der Zeit, da sie vielmehr die Zeit sich zueignet und sie erlebt, mit dem Zusammenhang eines Lebens in eins fällt."50 Zeit erfahren heißt für das Individuum aus sich selbst herausgehen, im Fluß der Dinge und des Bewußtseins sich selbst zu erkennen und zu zeigen. Heidegger spricht von „Selbstaffektion" und einem Wesen, welches „darin aufgeht, sehen zu lassen", und Merleau-Ponty verweist darauf, daß auch das Bewußtsein „sich selbst affiziert und sich selbst schon gegeben findet und das Wort Bewußtsein selber keinen Sinn hätte ohne diese Dualität".51 Wilhelm Perpeet stellt in einem längeren philosophisch ausgerichteten Aufsatz fest, daß „Zeit" nur transzendental zu verstehen ist, der als Begriff die Selbsterfahrung und die Bewegung des Lebens, das „Zeitliche" transzendiere. 52 Für die Existenzphilosophie ist menschliche Existenz gleichbedeutend mit Zeit, oder wie Staiger, an Heidegger anschließend, bemerkt, jene Form der Anschauung, aus der menschliche Existenz und das, was wir Wirklichkeit und Gegenwart nennen, entspringen: „Die Zeit, so wie wir sie hier verstehen, als Existenz des Menschen, ist durchaus ein ,Außer-sich-Geraten', ist ihre Natur und Bestimmung. Sie tritt aus sich heraus, indem sie sich inkarniert und symbolisiert." Um den dynamischen Charakter der Zeiterfahrung und den gesellschaftsbildenden Prozeß des Symbolisierens stärker herauszustellen, verweist Elias auf die englische Wortbildung des „timing"- einer vorgegebenen Begrifflichkeit wird somit entgegengewirkt.53 Auf den Zusammenhang räumlich-zeitlicher Vorstellungen, die der Einbildungskraft zugrunde liegen und in Sprache, Kunst, Mythos und Religion zutage treten, hat schon

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Gefühl - Forili »significant F o r m » Subjekt

SYMBOI Ausdruck

Betrachter Schein

Vision imaginäres Objekt

- Milli i\ Gefühl

ästhetische Empfindung

Zweckfreiheit

Fig. 4

Langer, Gefühl, Wachstumsprozeß, Form (nach Pochat, Symbolbegriff 1989)

Ernst Cassirer in seinem klassischen Werk der zwanziger Jahre, Philosophie der symbolischen Formen, hingewiesen. Die konstitutive Rolle der raum-zeitlichen Vorstellung, die sich in den symbolischen Formen in verschiedener Weise ausprägen, wird dort erörtert. Zugleich gilt, daß die Wahrnehmung simultan ausgerichtet ist, die gestaltete Form im Augenblick als Einheit erfaßt wird. Strukturzusammenhänge und Modalitäten werden erst durch die nachträgliche, diskursive Analyse erschlossen. Die Nähe zu den gleichzeitigen Versuchen, gestaltpsychologische Vorstellungen auf die Kunstbetrachtung zu übertragen, liegt auf der Hand. In Cassirers Nachfolge hat Susanne K. Langer später versucht, die zeitlich-räumlichen Bezüge in den verschiedenen Kunstgattungen herauszustellen.54 Zeit und Raum sind demnach Vorstellungen und Verknüpfungsarten, die entweder im Augenblick der Erlebniszeit qualitativ und konstitutiv in das Bewußtsein des Menschen eingehen, wie wir es an Hand der Phänomenologie oder Existenzphilosophie gesehen haben, oder es sind Leerformeln der analytischen Begriffsbildung, die erst der Bindung an Gegenstände und Geschehnisse bedürfen, um für uns zur Anschauung, zu einem Sinn zu gelangen. Mit Notwendigkeit läßt sich die Erlebniszeit nur durch symbolische Bilder ausdrücken, die mit räumlichen Vorstellungen verbunden sind (vgl. S. 13). Aus dieser Umsetzung gelebten Lebens in sichtbare Form entspringt Kunst. Staiger hat die Zeit als ihre eigentliche Substanz überhaupt bezeichnet: „Echte Kunst ist reine Inkarnation der ursprünglichen Zeit. Die eine Zeitstruktur, der Rhythmus symbolisiert sich in dem Mannigfaltigen eines Kunstwerks."55 Die Einheit wird

Erlebniszeit und bildende Kunst

durch die Struktur des Ganzen gewährleistet, die uns als Gestalt entgegentritt, Evidenz gewinnt. Wenn wir Zeit und Werden, Dauer und Augenblick als Selbstvollzug des Menschen verstehen, die seiner Existenz und seinem Erlebnis zugrunde liegen, deckt sich der Ausspruch Staigers, der es auf die Kunst schlechthin absieht, mit den früheren phänomenologischen Analysen des inneren Zeitbewußtseins. In der Tat eröffnen sie ein Feld der Kunstinterpretation, dem bisher nicht genügend Beachtung geschenkt wurde. Die Betonung des Rhythmus, wie sie aus Staigers sprachlichen Interpretationen erwächst56, läßt sich mit dem Ansatz Langers vergleichen: Aus der „Matrix des Lebens" entsteht der Rhythmus der künstlerischen Gebilde, deren Seinsvollzug darin besteht, scheinbares Leben und Wachstum durch raum-zeitliche Gebilde zu evozieren {virtual Space, Virtual time, virtual growth - Fig. 4). 57 Die dabei erzeugte Fiktion des Lebens und Werdens, der ästhetische „Schein" des Kunstwerks, entspricht der Ekstatik der unmittelbaren Seinserfahrung des Menschen mit seinem innerzeitlichen Charakter. In dem Erlebnis des Kunstwerks vollzieht sich dieses existentielle Erlebnis stets aufs neue. Der Frage nach der Einheit im Mannigfaltigen, die für die Zeiterfahrung Bergsons eine so entscheidende Rolle spielte, ist in bezug auf die Künste (sei es Sprachkunst, Musik, Architektur, Malerei und Plastik, oder die übergreifenden des Theaters oder des Tanzes) mit dem Hinweis auf den Rhythmus Genüge geleistet worden, der gleichsam als Lebensnerv die strukturierten Gebilde durchzieht. Dem Zusammenschluß von Einheit und Mannigfaltigkeit in der Kunst entspricht die Verschränkung von Raum und Zeit, Dauer und Augenblick, im Leben und Bewußtsein des Menschen. Aus der Erlebniszeit erwachsen Sinn und Gestalt.58 Da die Zeiterfahrung konstitutiv an dem schöpferischen Prozeß künstlerischer Gebilde beteiligt ist und ästhetisch umgesetzt wird, dürfte es lohnenswert sein, die Werke je nach Struktur und Modus daraufhin zu untersuchen. Es geht hierbei nicht um Zeit als Gegenstand der inhaltlichen Aussage, sondern um den Ausdruck derselben durch die Struktur des formalen Gebildes. In phänomenologischem Sinn wirkt die dabei vergegenwärtigte Zeiterfahrung des Künstlers modifizierend auf das Leben und das Bewußtsein des Betrachters ein. Reproduktion heißt in diesem Fall, vergleichende Schau eigener Erfahrungen mit dem phänomenal Gegebenen, das zugleich den Charakter des einmal Erlebten, Vergangenen enthält. So ist es m. E. schwer, Husserl zu folgen, der die Repräsentation von Bildern, z. B. Kunstwerken, von der „setzenden Reproduktion" früherer Bewußtseinsinhalte scheidet (vgl. o. S. 15). Freilich stellt

das Objekt eine Vergegenwärtigung fremder vergangener Bewußtseinsinhalte dar. Erfahren wird es aber nur durch die retentionale und protentive Fähigkeit des Intellekts, der im Augenblick der Wahrnehmung seine eigene Vergangenheit und Zukunft als Erfahrungsdimension, Lebens- und Bewußtseinsinhalt mit einbezieht. Zu der Reflexion, die in der ästhetischen Betrachtung im Sinne der Selbstaffektion enthalten ist (vgl. S. 15 f.), treten das Bewußtsein um die Fremdheit der sich im Kunstwerk erschließenden Bewußtseinssphäre und der Drang des Betrachters, sich damit zu identifizieren oder davon abzuschirmen, modifizierend hinzu. Lukäcs und Becker haben darüber hinaus auch auf eine andere Form der Fremdheit verwiesen, die im Akt der ästhetischen Subjektivität selbst beschlossen liegt: „Die heraklitische Struktur der ästhetischen Sphäre zeigt sich doch erst am Erlebnis, das durch seinen Zeitpunkt als mit sich identisches definiert ist."59 In diesem Augenblick der „reinen ästhetischen Subjektivität" wird die Paradoxie des Künstlerischen, der Zusammenschluß der Idee im besonderen, die Entstofflichung des Realen und die flüchtige Erscheinung des Ideals in der künstlerischen Fiktion, offenbar. Die Aufhebung der Polarität von Norm und Erlebnis im Augenblick der ästhetischen Wahrnehmung klingt in seiner Gegensätzlichkeit zur normalen Lebenserfahrung modifizierend und entfremdend im Bewußtsein des Rezipienten nach.60 Der biologische Charakter und die Funktion der Selbstbehauptung, die sich im Prozeß der Rezeption als Einverleibung oder Abwehr spiegelt, weisen auf den Brückenschlag zwischen Biologie und Psychologie hin. Die biologische Zeit und die dynamische Seins- und Zeiterfahrung des Menschen entsprechen sich in ihren Grundzügen. Dies wird aus der Betrachtung Viktor von Weizsäckers, Gestalt und Zeit, 1942, ersichtlich: Der biologische Zeitpunkt wird nicht auf der objektiven Zeitachse lokalisiert, sondern setzt sich selbst als Ausgangspunkt, konstituiert aus sich heraus die eigene Zeit. Wie im Bereich des Organischen, so verhält sich auch das Leben des Menschen zu seiner Geschichte. Besonders wichtig scheinen die Verweise auf den Rhythmus als biologisches Zeitmaß (vgl. S. 19) und die Beschreibung der organischen Bewegung durch den Begriff der Prolepsis. Die Form einer Bewegung sowie ihr Ablauf enthalten in sich das geltende Zeitmaß. Schon in der Anfangsphase ist die Gesamtleistung (die Endfigur) vorweggenommen.61 Die Bedeutung der Prolepsis fiir unsere Betrachtung ist offensichtlich: Einmal wird der Akt der projektiven Umsetzung des Bewußtseinsinhalts in die künstlerische Form gekennzeichnet, einmal die nachschaffende Wahrnehmung

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Das Zeitproblem in der Kunstwissenschaft

der Gestalt in ihrem zeitlichen Charakter begriffen (Fig. 6 und Abb. 4). 62 Der qualitative Charakter der dreiteilig strukturierten Erlebniszeit ist von Wilhelm Keller erörtert worden, wobei über die Differenzierung Husserls jedoch nicht hinausgegangen wird.63 In klarer Weise wird die Relativität des subjektiven Zeitgefühls, ihre Länge bzw. Kürze, herausgestellt. Die unabänderlichen Fakten der Vergangenheit werden im Gedächtnis aufbewahrt, um mitgestaltend die Gegenwart zu durchdringen. Der „Jetzt-Charakter" des Augenblicks erscheint in der symbolischen Form der Anschauung als längere bzw. kürzere Strecke. Der Wandel derselben muß auf Gefühl, Wertung, Stimmung und Gerichtetheit des Denkens zurückgeführt werden, wobei die Gegenwart als Vollzug des eigenen Seins Vergangenheit und Zukunft als Bewußtseinsinhalte mit einbezieht. Die retentionale Funktion des Gedächtnisses ebenso wie der protentive Vorgriff in die Zukunft ist aus biologischer Sicht in gleicher Weise beurteilt worden: So wird die zeitüberbrükkende Gegenwart von Weizsäcker als der Übergang von den bekannten notwendigen Momenten und Fakten der Vergangenheit zum unbestimmten, freien Moment des Zukünftigen beschrieben - eine Freiheit und Unbestimmtheit, die von Oskar Becker als der Inbegriff des Künstlerischen phänomenal ausgewertet wurde.64 Lebenswirklichkeit ist als momentane Erfüllung physischer und psychischer Gesetzlichkeit zu verstehen, wobei erst die Verwirklichung des Geschehens die Kennbarkeit des Ganzen ermöglicht, Wesenseinheit geschaffen wird. In der gleichen Weise erwächst die Wesenseinheit künstlerischer Ausdrucksformen aus dem biologischen und dem phänomenologisch gesehenen Zeitbegriff. Das Unbestimmte erweist sich als unentbehrlicher Bestandteil des Lebens und der Entfaltung - so auch in bezug auf die schaffende Tätigkeit des „abenteuerlichen Künstlers". Durch das Wagnis des künstlerischen Entwurfs wird der dunklen Zukunft das Werk abgerungen.65 Der Augenblick ist zeitüberbrückende Gegenwart, in dem das Notwendige und Determinierte der Vergangenheit (Natur und Geschichte) in das Unbestimmte zukünftiger Erfüllung umschlägt. Im Lichte des inneren Zeitbewußtseins erscheint der Augenblick der Erlebniszeit in der ihm eigenen Prägnanz und Bedeutung als die Präsenz des retentiv-protentiv strukturierten Ganzen.66 Schon 1913 hat Moritz Geiger einen wichtigen Beitrag zur Klärung des ästhetischen Genusses und seiner spezifischen Eigenschaften geleistet. In erster Linie gehe es um die Einstellung des Betrachters zum Gegenstand, dem „im uninteressierten Betrachten der Fülle" seiner Erscheinung Wert und Bedeutung zugeschrieben werden.67

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Pablo Picasso, Frau auf Pferd, 1959

Auf das Phänomen der Zeitdehnung bzw. der Zeitverkürzung im Bewußtsein hat Keller hingewiesen: Zeitdehnung entsteht durch verstärkte Retention bei großer Fülle des Erlebten (d. h. intensiviertes Behalten) oder durch stärkere Protention bei geringer Inhaltsfülle (d. h. bei einem Überschuß an Erwartung). Zeitverkürzung tritt bei schwacher Retention und großer Inhaltsfülle (Kurzweil) sowie bei herabgesetzter Protention und geringer Fülle (Ereignislosigkeit und geringe Erwartung) auf.68 Die Modifikation dieser Aufbaufaktoren im Zeiterlebnis im Sinne des je-schon, je-gerade und des erst-noch sind in erläuterter Weise existentiell zu verstehen: die „innere Zeitlichkeit des Daseins" als „letzter Grund der Funktionstruktur des Erlebens". Als existentielle Gewesenheit ist die Vergangenheit einmal im Menschen gegeben (z. B. durch seine Anlagen), einmal durch die äußere Situation (Anlaß, Reiz, Problemlage). Dominant in diesem Zusammenhang erscheint die Retention, insbesondere in der Form des Erkennens, wonach die im Gedächtnis aufbewahrten Tatsachen und Erinnerungen erfaßt, gedeutet und vergegenwärtigt werden. Protentiv kann dieser Bestimmungsvorgang in bezug auf mögliche Bedeutung und zukünftige Verwendung beeinflußt werden. Existentielle Künftigkeit wird nach Keller durch das Hinstreben auf einen neuen Zustand gewährleistet, wodurch auch dem Gegenwärtigen eine neue Bestimmtheit zuteil wird. Das Wollen und das Handeln spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Die Verschränkung mit der Retention liegt auf der Hand: Erst die Vergegenwärtigung von Geschehenem läßt das Planen und Handeln für die Zukunft sinnvoll erscheinen. Dominant bleibt der

Erlebniszeit

und bildende

Kunst

Zeitüberbrückung

V Inneres Zeitbewußtsein: Retention Behalten a.) unmittelbar b.) aufgespeichert

Präsentation Augenblick Vollzug Präsenz des Gewesenen und Zukünftigen

TT

Protention Vorgreifen a.) unmittelbar b.) planend

Prägnanz

Fig. 5

protentive Entwurf, der geistige Vorgriff analog zur biologischen „Prolepsis". So stellt sich Keller in der Nachfolge Husserls, Heideggers und Merleau-Pontys die existentielle Gegenwärtigkeit als den Ubergang von der Gewesenheit in die Künftigkeit vor, wobei die „faktische Zeitigung" des Selbst sowie die damit verbundene „Stiftung von Welt" eintritt. Sowohl im

Struktur der Erlebniszeit

Bereich der Psychologie als in dem der Biologie kann man vom Prinzip der „Erhaltung der Identität durch Veränderungen hindurch" sprechen, wobei das Ich im Fluß der Dinge und des Bewußtseins sein Selbst und seine Welt zu wahren weiß. Bei dieser Hingabe zum aktuellen Zeiterlebnis, zum Augenblick, bleibt das Gefühl dominanter Faktor im Bewußtsein: „Die Retention vermittelt in der fühlenden

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Das Zeitproblem in der Kunstwissenschaft

Präsentation die Anmehrung durch die gegebene Situation; die Protention dagegen bildet das darin ebenso relevante Ansprechen des Daseins aufdie Bedeutsamkeit des Erlebten für seinen (des Daseins) eigenen Fortgang."69 In der Kunst inkarniert sich der Selbstvollzug des Daseins im zeitlich-räumlichen Gefuge des Werkes, das analog zum Prinzip der Wesenseinheit und Lebenserhaltung das Mannigfaltige der subjektiven Anschauung in der allgemein kommunikativen Struktur der symbolischen Form zur Anschauung bringt. Von außerordentlichem Interesse in diesem Zusammenhang erscheint der Versuch Weizsäckers, den Gestaltbegriff mit der Definition der biologischen Zeit zu verknüpfen. Dabei werden die als simultan wahrgenommenen oder empfundenen Gestalten oder Gebilde als Phänomene sukzessiver Zustände verstanden, die Wahrnehmung einer Form oder Bewegung als ein Akt der Erinnerung, der Anamnesis, begriffen. Ohne den Zeitfaktor wäre die Interpretation der sichtbaren Dinge, die Orientierung in der Welt nicht möglich. In der Wahrnehmung entsteht dem Menschen eine eigene Welt. Die Reize der physikalischen Welt werden auf gewisse Formen reduziert, die der raum-zeitlichen Ordnung der Empfindung und der Perzeption entsprechen. Weizsäcker spricht in diesem Zusammenhang von der Nomophilie, der Bevorzugung einfacher geometrischer Gebilde in der Wahrnehmung70, und zu den gleichen Schlüssen ist Arnheim später gelangt.71 Die entstehenden Zeichen dienen als Symbole der Kommunikation und der Orientierung.72 Die Gestaltpsychologie ist zu dem einleuchtenden Ergebnis gekommen, daß die Dauer der Wahrnehmung prägnanter Gestalten kürzer sei als für komplizierte, was das Phänomen der Dehnung bzw. der Kürzung der Erlebniszeit zu bestätigen scheint (vgl. S. 18). Im Prinzip gilt, was schon im Zusammenhang mit der Prolepsis hervorgehoben wurde: Der Zeitfaktor tritt im Augenblick der Wahrnehmung anamnetisch in Kraft, d. h., das Bewußtsein speichert zunächst die gewonnenen Eindrücke (primäre Erlebniszeit oder Retention) und orientiert und modifiziert zugleich das Wahrgenommene fortlaufend und proleptisch auf Zukünftiges hin. So verhält sich in der Wahrnehmung die Gestalt primär zur Zeit.73 Die zeitlich-räumliche Verschränkung, auf die wiederholt hingewiesen wurde, sowie der Zeitaspekt selbst erscheinen als „Phänomene in der Wahrnehmung", die Zeit „empfängt ihr Gestalisem aus der Gestaltetheit dessen, was erscheint".74 Das bei der Wahrnehmung dynamisch tätige Gedächtnis, die Anamnesis, ist nicht schematisch im rationalen Sinne, sondern als dynamisch erlebend und mitgestaltend zu verstehen. Proleptisch greift auch die Einbildungskraft, das Erdachte und Vorgestellte, in den Prozeß der Wahrnehmung und Gestaltung

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ein, wobei sie zugleich von der sekundären Erinnerung mit gespeist und modifiziert wird. Nach Becker sind „Schaffen und Rezipieren . . . gerade in der ästhetischen Sphäre in ihrer letzten Wurzel prinzipiell ungeschieden".75 Die wahrgenommenen Gestalten besitzen demnach einen proleptischen und anamnetischen Charakter, sie stellen eine Verbindung vom inneren Zeitbewußtsein des Urhebers zur Wahrnehmungszeit des Rezipienten her. Durch die Wahrnehmung wird das Objekt buchstäblich vergegenwärtigt, tritt seinskonstituierend in das Bewußtsein ein (Präsentation). Zugleich kann es als Anstoß zur phantasmatischen Reproduktion von Phantasievorstellungen fuhren. Richtungsangaben oder Bewegungabläufe im Sinne des von-her und dort-hin gewinnen in diesem dynamischen Prozeß qualitative Bedeutung, fordern die aktive Beteiligung des Subjekts heraus und lassen so die subjektive Zeit des Augenblicks als Bewußtseinsfaktor hervortreten. Intuitiv hat Dehio auf diesen Umstand hingewiesen: „Ein Kunstwerk, wie alt es auch sei, wirkt in dem Augenblick, in dem wir es in uns aufnehmen, als Gegenwart. Dieser Gegenwartspunkt ist für die Wesensforschung ganz einheitlich festzuhalten."76 Auch wenn man nicht geneigt ist, der „Wesensforschung" in ihrem zuweilen holistisch anmutenden Wahrheitsanspruch zuzustimmen, die qualitative Bedeutung der sich unteilbar gebenden Erlebniszeit bleibt davon unbeschadet. Der enge Zusammenhang zwischen phänomenologischer Zeitanalyse und gestaltpsychologisch ausgerichteter Strukturforschung ist allein schon aus der engen historischen und geistigen Affinität ersichtlich. Ungenügend scheint mir bisher die phänomenologische Auswertung des inneren Zeitbewußtseins, die Ästhetik des Augenblicks in der Kunstwissenschaft berücksichtigt worden zu sein. (Der Wahrheitsanspruch desselben steht, objektiv gesehen, auf einem anderen Blatt.) Dies heißt natürlich nicht, daß Untersuchungen über die „Zeit im Bild" bzw. Rezeptionszeit nicht gemacht worden seien, nur stehen sie nicht im Verhältnis zu der kunstwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Raumbegriff, der, wie vormals erläutert, geradezu als Parameter fiir Kunstschaffen überhaupt sowie für entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge gedient hat. Unter Berufung auf Panofskys damals bahnbrechende Studie Die Perspektive als symbolische Form (1924) oder Hans Jantzens Aufsatz Uber den kunstgeschichtlichen Raumbegriff (1938) wurden immer wieder Versuche unternommen, den Entwicklungsgang, zumindest der abendländischen Kunst, an dieser Kategorie als primär vorgegebenes Anliegen und Prinzip zu messen, ohne dabei der anderen, unlöslich damit verknüpften Be-

Erlebniszeit und bildende Kunst

wußtseinsform der Zeit Beachtung zu schenken.77 Zu Recht hat Gottfried Boehm in seiner Studie Bild und Zeit (1987) auf diese Unverhältnismäßigkeit hingewiesen und Bild und Zeit sogar als „die Grundkategorie der Malerei. . . und damit auch ihres Diskurses" als eine „zu überprüfende These" gefordert.78 Grundsätzlich gehe es darum, „die Perspektive ihrer gemeinen Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeiten . . . zu stärken".79 Diesem Ansatz Boehms entspricht wohl auch mein 1984 vorgebrachtes Anliegen, die „Erlebniszeit" des Betrachters als konstitutives Mittel in der wissenschaftlichen Analyse bei der Betrachtung der einzelnen Werke selbst einzusetzen.80 Dies gilt für jedwede Kunstbetrachtung, sei sie auf Werke der früheren Epochen oder solche der Moderne gerichtet. Veränderlich ist freilich die künstlerische Handhabe der zeitlichen Aspekte und Prozesse selbst. Während die klassische Moderne und verstärkt noch die zeitgenössische Kunst den Zeitaspekt direkt, man möchte sagen „elementar" ins Spiel bringt und alles abstreift, was im herkömmlichen Sinne abbildhaft, erzählerisch und fiktiv die Einbildungskraft des Betrachters in vorgegebene Bahnen lenkt, mußte sich die ältere Kunst zusätzlich mit dem Problem auseinandersetzen, wie Zeitlichkeit als objektive Gegebenheit etwa der Bilderzählung, des Handlungsverlaufs und der Bewegungsdarstellung aufscheint, aber auch wie Vorstellungen von Dauerhaftigkeit und Zeitlosigkeit formal umzusetzen sind. Grundsätzlich spiegelt sich in den Kunstwerken sowie in den vorherrschenden Darstellungsmodi einer Periode die Verhaltensweise des Menschen zur Welt - Dagobert Frey, Ernst Strauß und Lorenz Dittmann haben dementsprechend Zeitanalysen vorgenommen und jene mit der vorherrschenden Auffassung oder Tendenz einer dominanten Weltsicht und auch Z«'/anschauung in Einklang zu bringen versucht.81 Dies ist unter Vermeidung holistischer Kausalerklärungen legitim - nur zeigt sich m. E., daß sich hierbei ein so weites Feld an subjektiven Ausdrucksformen auftut und sich eine solche Fülle an Möglichkeiten zeitlicher Aussagen eröffnet, daß induktive Schlüsse vom Einzelwerk zum allgemeinen, kulturellen Rahmen nur selten die Besonderheit anderer, gleichzeitiger Werke erfassen. Eine gewisse Abhilfe schafft die Untersuchung einer Abfolge von Bildwerken, die an gewisse Darstellungsprinzipien gebunden sind. Aber auch in einem solchen, der „Zeit" selbst verpflichteten wissenschaftlichen Betrachtungsmodell Kubierscher Prägung zeigt sich, daß die „neuen Einstiegspunkte" in der Traditionskette, die von vorbildlichen Primärobjekten gebildet werden, eher die Regel als die Ausnahme sind.82 Das künsterische Problem (etwa die Umsetzung zeitlicher Aspekte in der mimetischen, aber grundsätzlich anders

ausgerichteten Kunst — wie etwa der ägyptischen) stellt sich jeweils neu und wird nicht vorgegeben. Die Bewältigung desselben scheint im einzelnen eher ein dynamischer, kaum vorhersehbarer Prozeß zu sein, dem nachzugehen der Kunsthistoriker sich trotzdem bemüßigt fühlt. Zaunschirm hat darauf verwiesen, daß die Kategorien von Raum und Zeit quasi implizit in die kunstwissenschaftliche Analyse Eingang finden. Um so wichtiger ist es, sich dieses Tatbestandes bewußt zu bleiben, um selbst den Prozeß der Auslegung, sei es aus ästhetischer oder „inhaltlicher" Sicht, zu hinterfragen.83 Nur aus der Betrachtung des einzelnen Werkes, natürlich unter Zuhilfenahme des gegebenen Wissens, das leider Gottes oft bruchstückhaft bleibt, kann eine sinnvolle Aussage über dessen spezifischen Zeitcharakter gemacht und eine generelle Zuordnung getroffen werden. Wer den wissenschaftlichen Wert eines solchen Wechselspiels zwischen Bild und Betrachter in Frage stellt, bleibt der Antwort, was „Zeit im Bild" sei, wie sie wirkt und was sie aussagt, schuldig - ja, wer solch einer hermeneutischen Betrachtungsweise abschwört, wendet sich von der eigentlichen Betrachtung bildender Kunst ab. Aus der sinnlichen « W rationalen Erfahrung der Kunst erwächst zugleich ihr Zeitcharakter. Da dieser im Werk selbst niedergelegt ist, läßt sich die Interpretation jederzeit wissenschaftlich prüfen und approximativ nachvollziehen. Ebensowenig wie wir aus unserer Haut können, entrinnen wir der Zeit; aber in gleicher Weise wie die historische Interpretation aus dem Bewußtsein um die Relativität der jeweiligen Standpunkte geschieht und eine Adaption oder zumindest nachträgliche Korrektur ermöglicht, so haftet der Zeiterfahrung, die aus der Analyse eines Werkes erwächst, ebenfalls etwas Relatives an. Dennoch bleibt die Zeit, als unentbehrlicher Faktor menschlichen Bewußtseins, als Aussage, Form der Kommunikation und Orientierung in der Welt von existentieller Bedeutung. Die Kunst, Ausdrucksform oder Gegenstand der Betrachtung, bleibt mit ihr unlöslich verwoben, und dies völlig unabhängig davon, um welche historische Periode und Kunst es sich handelt. Anhand von drei Bildanalysen soll im folgenden die konstitutive Bedeutung des inneren Zeitbewußtseins für die Interpretation bildender Kunst aufgezeigt werden. Daraus geht, wie ich hoffe, zugleich hervor, daß jede Betrachtung erneut den hermeneutischen Kreis der Befragung und Reflexion in Gang setzen muß, dessen Ende im Grunde offen bleibt (Fig. 6). Eine gewisse Affinität dieses Befragungsmodells mit den „drei Sinnschichten" der Ikonologie ergab sich nachträglich, wobei freilich sowohl die formale Gestaltung als auch der Inhalt als Substrat der eigendichen

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Das Zeitproblem in der Kunstwissenschaft

Fig. 6

22

I Gestalt

|

I

I

Erlebniszeit und Werkinterpretation. Phänomenologische Analyse

Erlebniszeit und bildende Kunst

Frage nach der Zeit und ihrer Bedeutung diente. Von einer klaren Trennung der formalen und inhaltlichen Ebenen, wie sie in dem analytischen Schema aufscheinen, kann in der Praxis demnach eigendich nicht die Rede sein. Pieter Brueghel d. Ä.: Sturz des Ikarus (Abb. 5) Durch eine fallende Diagonale von links nach rechts wird die Bildfläche in zwei Teile aufgeteilt. Im Gegensinn des vorderen Kraftfeldes bewegt, sich der Scholle verhaftet, der pflügende Bauer, während der Schäfer am Strand rechts von ihm in den Himmel starrt. In der rechten Bildhälfte öffnet sich der Blick auf das weite Meer. Zackige Landzungen schieben sich links und rechts vor den Horizont, wo die Sonne gerade in das Meer versinkt. Aus der vorderen Bucht steuert eine Kogge mit geblähten Segeln auf die offene See hinaus. In dieser Phase der ersten räumlich-zeitlichen Präsentation wird ein gewisser Kontrast im dynamischen Aufbau intuitiv erfaßt: Begrenzung oder gar Eingeengtheit und Tiefenbewegung im linken Teilstück, Weite und Ruhe im rechten. Dem Einheitsstreben folgend, das der primären Erinnerung (oder der Anamnesis) in der Wahrnehmung zugrunde liegt, suchen wir diese Gegensätzlichkeit durch Auffindung eines Sinnzusammenhanges zu überbrücken. Im Wechselspiel von Protention und Retention, dem Suchen nach möglichen Sinnzusammenhängen und der Auslotung ikonographischer Vergleiche im Gedächtnis,

werden wir der Beine im Wasser unterhalb des davoneilenden Schiffes gewahr, das auch ohne Bezug zu dem parallel davonstrebenden Bauern im Vordergrund steht. Der zufällige, flüchtige Charakter des Details führt uns den vorangegangenen Sturz vor Augen, dient der ikonographischen Identifikation des Geschehens als Sturz des Ikarus. Dem Augenblick des Aufschlagens stellt sich die Dauer des Sturzes entgegen, die dem Kundigen an Hand der sinkenden Sonne ersichtlich wird. Diese Betonung und Ausweitung des Zeitaspektes, die übrigens von Bertolt Brecht im Zusammenhang mit dem Ikarus-Bild aufgegriffen wurde, mag freilich erst später erfolgt sein, da die Sonne in dem Brüsseler Bild wahrscheinlich als spätere Zutat anzusehen ist. 84 In der auch eigenhändigen Version des Ikarus-Sturzes in einer belgischen Privatsammlung sind einzelne Federn in der Luft sowie im Brüsseler Bild ferner konzentrische Kreise, die von der oben stehenden unsichtbaren Sonne ausgehen, sichtbar. Die spätere Hinzufügung der Sonne bezeugt aber, daß der Zeitcharakter des Bildes stets als wesentlich empfunden wurde - sogar so stark, daß eine „Korrektur" vonnöten schien. Nach dieser Aufdeckung des Inhalts stellt sich die Frage nach dem Sinnzusammenhang des Ganzen, d. h. die Modifikation der primär wahrgenommenen Struktur und Polarität durch die inhaltliche Analyse. Die ursprüngliche Wahrnehmung und der damit verknüpfte Bewußtseinszusammenhang wird retentional vergegenwärtigt, stellt sich

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Das Zeitproblem in der Kunstwissenschaft

Ichbezogenheit, in der Präsenzzeit der ästhetischen Betrachtung selbst, die modifizierend auf unser eigenes Wesen und Leben einwirkt.

John G. Johnson, Philadelphia

„repräsentiert" dem neuen Bewußtseinsgehalt der inhaltlichen Interpretation. Die Präsenzzeit des Sturzes erscheint als ein Geschehen, das ohne zeitlichen Bezug zum Bewegungsablauf des Schiffes oder des Bauern steht. Die Isolation und der ephemere Charakter des Sturzes wird an der Weite der Meeresfläche ersichtlich, wo das Bedeutsame unbedeutsam und ohne Wirkung erscheint. Die Diskontinuität zeitlicher und räumlicher Bezüge des beiläufigen Hauptobjektes im Bilde entspricht der Ambivalenz zwischen Erscheinung und der retentional erkannten Bedeutung des Themas in unserem Bewußtsein. Immer noch um Einheit der Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt bemüht, suchen wir die Diskrepanz der Struktur und der inhaltlichen Bezüge durch erneute Einfühlung und ästhetisch-moralische Auswertung des Erlebten zu überbrücken. Welche Absicht liegt hinter der räumlich-zeitlichen Anordnung des Ganzen? Was besagt die Diskontinuität der „symbolischen" Formen hinsichtlich des Inhalts? So gelangen wir zuletzt durch protentives Abtasten hypothetischer Möglichkeiten und stete Repräsentation der Bewußtseinszustände der vorangegangenen Interpretation zu einer plausiblen Erhellung der ursprünglichen Absicht und zu einer Einsicht in Prinzipien künstlerischer Gestaltung überhaupt. Geht es doch um die Umsetzung geistiger Vorstellungen und innerer Bewußtseinszustände in sichtbarer Form: die Beziehung von Göttlichem und Irdischem, die Blindheit oder die Gleichgültigkeit der Welt vor dem Bedeutsamen, die Relativität zeitlicher, räumlicher und moralischer Werte und vieles mehr. Sie drängen sich hier als Fragen auf. Und letzten Endes vollzieht sich dieser Akt des Verstehens und Auslegens, der Reflexion und der

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Pieter Brueghel d. Ä.: Der ungetreue Hirte (Abb. 6) Unmittelbar erfassen wir bei diesem Bild den Mann vor einer weiten Ebene, der aus dem immensen dargestellten Raum in unsere Richtung herauszulaufen scheint. Gegen den dynamischen Augenblick der Bewegung hebt sich die Weite der Umgebung ab - aus ihrer natürlichen Homogenität und Passivität gleichsam herausgerückt, da sie, dem Bewegungsablauf des Mannes zufolge, als Gegenbewegung erscheint und die Orthogonalen des Weges gleichsam als „Fahrtspuren" die Dynamik der Figur veranschaulichen. Die Darstellung von Bewegung und Raum mag als äquivalenter, symbolischer Ausdruck für Zeit und Dauer dienen (vgl. S. 13 ff.) - unmittelbar werden hier elementare Fähigkeiten des menschlichen Bewußtseins, die Orientierung in Zeit und Raum, angesprochen. Zu dieser primär wahrgenommenen „Gestalt", die schon von der angesprochenen elementaren Erlebnisqualität durchdrungen ist, tritt nachträglich die retentiv erschlossene ikonographische Bedeutung der Figur als „Hirte" sowie die besondere Beachtung der ihm zugeordneten Schafe im Hintergrund hinzu. Jene bewegen sich in die entgegengesetzte Richtung in die Tiefe, kausal begründet durch den jagenden Wolf. So führt die retentional gewonnene nähere Bestimmung der Figur zu einer erhöhten Erwartung, einer Schärfung der präzisen Wahrnehmung und der Selektion. Die primär schon empfundene Polarität von Figur und Landschaft wird nun auch in bezug auf Hirte und Tiere wirksam und zudem durch die konträre Bewegungsrichtung derselben unterstrichen. Durch die gesteigerte Anteilnahme am Geschehen, den immer mehr differenzierteren Akt der Wahrnehmung, steigt im Betrachter jenes Gefühl des Ausgeliefertseins empor, das sich im Affekt der Angst fortsetzen kann. Damit nähert er sich dem eigentlichen Gegenstand des Gemäldes, welches schon in seiner Struktur auf eine solche Affektion hin angelegt ist. Es wurde daraufhingewiesen, daß eine Verlängerung der Erlebniszeit dann eintreten kann, wenn eine starke Protention bei geringer Fülle vorliegt. Die psychologische Auswertung des sinnlich Gegebenen entspricht diesem Tatbestand. Durch die Figur des anstürmenden Hirten erkennen wir das vergangene Geschehen, das sein Bewußtsein im Augenblick bedrängt. Zugleich sucht jener sich aus dieser Lage zu lösen, um die Sicherheit des Betrachters in der unmittelbaren Zukunft zu erlangen. Was für uns j edoch im Augenblick der Betrachtung sicher ist, kann dem Hirten nur als unge-

ErUbniszeit und bildende Kunst

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Pieter Brueghel d. Ältere, Gleichnis von den Blinden, 1568, Museo Nazionale, Neapel

wisse Zukunft erscheinen. Ungewiß wie das Leben selbst in seiner existentiellen „Geworfenheit" ist der Ausgang des Geschehens. In der formalen und inhaltlichen Gestaltung des Bildes kann von einer Darstellung der „Erlebniszeit" des Hirten gesprochen werden, die wir als Betrachter reflexiv und auch projektiv mitgestaltend nachvollziehen. Symbolisch erschließt sie sich uns in erster Linie durch die Lage der Figur im Raum, Sinn erhält sie durch den Bezug zur Landschaft und zu den Tieren, zu der elementaren und sozialen Lebenserfahrung. In der ästhetischen Wahrnehmung, im Akt des Schauens, wird die innere Erlebniszeit des Hirten in ihrer retentionalen und protentiven Durchdringung, psychologisch nachvollzogen, nacherlebt. Zugleich werden Angst und Ausgeliefertsein des Augenblicks reflexiv der Dauer moralischer Werte und Verantwortung gegenübergestellt - vor den zeitgebundenen Affekten heben sich jene Imperative ab, die allein das Uberleben und die Fortdauer der Gesellschaft gewährleisten. Wie immer bei Brueghel mündet die fortlaufende Modifikation des Bildinhalts im Bewußtsein des Betrachters in die moralische Reflexion ein. Der erste Anstoß zu diesem Ablauf geht stets von der Bildstruktur aus, die in wundersamer Weise die moralische Intention in künstlerische Gestalt umsetzt und dem Bewußtseinsprozeß vorgreift.

Pieter Brueghel d. Ä.: Gleichnis von den Blinden (Abb. 7) In dem Gemälde mit dem Blindensturz wird ein Ablauf auf einen Augenblick des Vollzugs zusammengedrängt. Schon bei der ersten Präsentation werden uns die Zeitphasen des „noch nicht - jetzt gerade - schon gewesen" gegenwärtig. In der fallenden Diagonale von links nach rechts schwanken fünf Männer voran, werden vom Sog des Falls ergriffen und stürzen in der Drehbewegung rücklings in einen Graben. Als Endpunkt des Bewegungsablaufs sehen wir in der rechten unteren Ecke den sechsten Mann in starker Verkürzung auf dem Rücken im Graben liegen. Die labile Anordnung der Figuren, ihre Verkettung, die zum Fall fuhrt, wird durch den festen Aufbau der Landschaft, die Vertikale des Kirchturms und Horizontale des Wiesenrandes rechts noch verstärkt. Dem primären Eindruck zugehörig erscheint die Blindheit der Figuren, die existentiell mit ihrer Bewegung und Verkettung verknüpft ist. Freilich tritt dabei schon retentional verankerte Lebenserfahrung in unserem Bewußtsein bei der Bildbetrachtung hinzu. 85 Im Nachvollzug des Bewegungsablaufes in unserem Bewußtsein werden Blindheit, Verkettung und Fall an Hand der Bildstruktur ästhetisch ausgekostet, die verschiedenen Phasen des Geschehens und seine Notwendigkeit in ihrer formalen Umsetzung einsichtig. Der sinnbildhafte Charakter des Inhalts spiegelt sich in der phänomenal gegebenen

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Das Zeitproblem in der Kunstwissenschaft

Struktur. Angesichts des determinierten Mißgeschicks der labilen Figuren und des tragischen Gebrechens der Menschen stellt sich die Frage nach der biologischen oder historischen Ursache ihrer Blindheit, das spontane Verlangen des Betrachters, wenigstens rational die Einheit einer heilen Welt wiederherzustellen. Gegen den unerbittlichen Vollzug des Unglücks, durch den die unmittelbare Zukunft praktisch in ein schon Geschehenes gekehrt wird, steht das Verlangen des Menschen nach Freiheit, der voluntaristische Vorgriff auf die ungewisse Zukunft, die lebensnotwendig ist. Nicht im ästhetischen Akt der Wahrnehmung, sondern nur in der nachträglichen moralischen Reflexion wird das gestörte Gleichgewicht von Freiheit und Notwendigkeit wiederhergestellt. Die moralische Auswertung der Bewußtseinsphasen, des phänomenal Wahrgenommenen und der retentional gerichteten, inhaltlichen Differenzierung in ihrer Bezogenheit auf Sein und Gegenwart des Betrachters, ist selbst wieder gemäß der dreifachen Gerichtetheit der Erlebniszeit strukturiert: a) die Frage nach der biologischen und historischen Vergangenheit, nach der Gegebenheit der Natur und der Schuld und tragischen Verstrickung von Individuum und Gesellschaft; b) der Vollzug des unabwendbaren Falls, der sich in der Präsenz des Augenblicks und der Wahrnehmung im Bewußtsein des Betrachters abspielt, der sich selbst vor die existentielle Frage der Determiniertheit seines Ichs und der Gesellschaft gestellt sieht; c) der eigene Drang, sich die Freiheit des Handelns und eine offene Zukunft zu bewahren. Der letztere schlägt wieder modifizierend auf die Präsenzzeit der Bildbetrachtung zurück, trägt zur Verstärkung des Bewußtseins um die Tragik der Darstellung und die der menschlichen Existenz überhaupt bei. Erlebniszeit und bildende Kunst, innerer Nachvollzug der symbolischen Form: im Augenblick der Bildbetrachtung wird die zeitlich-räumliche Struktur des Bildes wieder in die qualitative reine Dauer des Erlebens und der Empfindung im Sinne Bergsons zurückgewonnen. In ähnlicher Weise ist die Rezeption der reinen Erzählung, das Narrative, in neuerer Zeit beurteilt worden, d. h., der komplizierte Prozeß der Aufnahme und Verarbeitung des im Bilde dargestellten erzählerischen Inhalts seitens des Betrachters. Paul Ricoeur hat in einem tiefschürfenden Aufsatz, der von der existentiellen Zeitdefinition Heideggers ausgeht, diesen Zusammenhang zwischen Erzähltheorie und Zeittheorie herzustellen versucht.86 Im Gegensatz zu der linearen Zeitdarstellung in den Naturwissenschaften bilde die existentielle Zeit, wie sie dem lebenden Individuum eigen ist, den Grund zu jener übergreifenden Innerzei-

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tigkeit, in welcher literarisch-fiktives Leben vorgestellt wird und in der die Ereignisse sich abspielen.87 Dies bietet Ricoeur auch Anlaß, an der longue durée der französischen Strukturalisten Kritik zu üben. Bei den im Verlauf der Geschichte immer wiederauftauchenden ähnlichen Strukturen bleibt die erwähnte „Innerzeitigkeit" auf der Strekke.87 Auch im kunsthistorischen Zusammenhang wäre es durchaus möglich, immer wiederkehrende Konfigurationen, wie etwa die innovativ ausgerichteten Figuren mit den aufgestreckten Händen, im Sinne einer longue durée zu interpretieren. Meines Erachtens lassen sich daraus allzu weitreichende Schlüsse hinsichtlich des historischen Kontextes kaum ziehen — es sei denn, wir werten die verwandten Formlösungen als Ausdruck der künstlerischen Bewältigung verwandter Problemlösungen im Sinne jener „Rahmenthemen", von denen bei Bialostocki die Rede ist. Allenfalls könnte man auch von Figurenprägungen mit archetypischem Charakter sprechen, die nicht zuletzt infolge ihrer einprägsamen „zeitlichen" Gestaltung oft wiederholt, als „überzeitlich" im Sinne der longue durée, verstanden werden könnten.88 Um nun auf das Narrative zurückzukommen, das von dem literarischen Horizont Ricoeurs durchaus auch auf die narratio im Bild übertragen werden kann, bildet die Innerzeitlichkeit des Erzählstoffes gleichsam den Rahmen und den Grund, in und vor der Geschichtlichkeit in der Form der Erzählung erfahrbar wird und mit der Existenz des Individuums verschmilzt. Die Geschichte, deren Ablauf die Zeitentrias der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft in sich begreift, wird letztlich in dem Augenblick der Vereinnahmung eins mit dem Erfahrungsschatz des Lesers oder Betrachters — zu einem Teil seines Ichs, in der Ekstatik der Erlebniszeit der diskursiven Zeitlichkeit enthoben. Leben gewinnt die Erzählhandlung und auch das Narrative im Bild, wenn das Handlungsgeschehen als Kontingent empfunden und beurteilt wird, die Geschichte als Ganzes, ob in literarischer oder bildlicher Form und je nach geltenden Modalitäten vom Rezipienten mit Verstand und Gefühl angenommen wird. Die Innerzeitigkeit der Geschichte wird so aus dem Verband der physischen Zeit und der „Sorge" (Heidegger) des Menschen um die Zeitlichkeit seines Daseins gelöst; in der Erlebniszeit des Rezipienten wird das Narrative geistiges Eigentum und Teil seines Ichs; es leistet so einen konstitutiven Beitrag zur Orientierung und zum Verhalten in der Welt.89 Es versteht sich, daß die vorliegende Arbeit in ihrem hermeneutischen Ansatz auch der Wahrheit und Methode Gadamers verpflichtet ist.90

II Prähistorische Kunst Da das Zeitbewußtsein zu den grundlegenden menschlichen Vermögen und Erfahrungen gehört, ist es einleuchtend, daß die Kategorie der Zeit praktisch von Anfang an auch jene Gebilde mitkonstituiert, die wir als „Kunst", d. h. durch Menschenhand geformte Zeugnisse der Empfindung und des reflexiven Bewußtseins bezeichnen. Das Zeitbewußtsein als dem Menschen ureigene, existentielle Eigenschaft dürfte wohl schon vor rund 5 Mio. Jahren ausgeprägt gewesen sein, als die genetische Entwicklung des Großhirns abgeschlossen war. Der „Weltbildapparat", nach Lorenz in seiner biologischen Beschaffenheit ebenfalls ein Teil der Realität, wurzelt in den Stimmungen und Gefühlen des Gemüts selbst; und aus dieser Sphäre des Autonomen, zunächst Unbewußten, erhebt sich das Bewußtsein, welches imstande ist, die Funktion des „Weltbildapparates" und des Denkens selbst in kritisch-rationaler Weise reflexiv zu betrachten.1 Dementsprechend folgt bei der Entwicklung des Bewußtseins allmählich auch die Eingliederung des menschlichen Gefühlslebens und der mit ihr verbundenen spezifisch „ästhetischen Wahrnehmung", die ihren Niederschlag in manchen Gegenständen und bewußten Gestaltungen findet.

nicht, daß sich die biologischen Voraussetzungen grundlegend verändert hätten - wohl aber, daß eine weitere Differenzierung des reflexiven Bewußtseins bzw. eine „Blockierung" anderer Gemütszustände erfolgt sei. In einem anderen Zusammenhang, nämlich in der Erörterung der Genese einer spezifischen „ästhetischen Verhaltensweise", die ihren Niederschlag in der bildenden Kunst findet, habe ich auf dieses Phänomen der „Blockierung" hingewiesen, die erst die Ausbildung gewisser Reaktionsmuster und somit zu normativen Selektionsprinzipien von kultureller Relevanz geführt hat: „Gehirntätigkeit und Erkenntnisapparat speisen das Bewußtsein mit immer neuen Bildern, die, gespeichert und überliefert, von der Gruppe allgemein akzeptiert werden (d. h., ihre Selektion wird gefördert); andere Bewußtseinsinhalte werden blockiert und in tiefere Schichten verdrängt, um später womöglich in Bildern, Mythen und Märchen wiederaufzutauchen. Denn gerade dort, wo der Konsens der Gesellschaft im rationalen Bereich gesucht und entwickelt wird, tritt das Bedürfnis nach Fiktion, nach ,Schein' des künstlerischen Bildes, sowie das ,Glaubenmachen' in mehr trivialen Produkten in stärkster Weise wieder hervor."2

Der „Zeitkomponente" darf bei dieser Evolution des Bewußtseins gar eine primäre Rolle zugesprochen werden - so trägt das Gedächtnis, das zur Arterhaltung bei der stetig vorausschauenden, planenden Aktivität des Großhirns in Aktion tritt, konstitutiv zur raum-zeitlichen Orientierung des Menschen bei. Ob im Sinne des Kurzzeitgedächtnisses oder in der Form einer mehr oder weniger bewußt evozierten „sekundären Retention" - stets dient das Gedächtnis dazu, die Jetzt-Lage des Individuums zu bestimmen und den Blick auf das unmittelbar Bevorstehende zu richten, um es zu kontrollieren. Darüber hinaus greift das Gedächtnis als unumgänglicher Faktor der sozialen Gruppenbildung, der Kommunikation und des kollektiven Bewußtseins in das Leben der Gemeinschaft ein, dient als Garant für den Erhalt und den Fortbestand derselben. Aus diesem sozialen Gedächtnis erwachsen Verhaltensnormen und Verhaltensprägungen, entstehen schließlich auch jene Ausdrucksformen des spezifisch menschlichen Gesellschaftslebens, die wir mit Kultur zu umschreiben pflegen. In einer weiteren Perspektive dient das Gedächtnis im Zusammenwirken mit dem Bewußtsein um die Präsenzzeit und einer gesteigerten Erwartungshaltung auch der Mythenbildung und der Geschichte im weitesten Sinne. Diese späten Äußerungen des menschlichen geistigen Vermögens besagen

Gleichberechtigt neben der Sprache als Mittel und Weg der Kommunikation stehen Bewegung, Gebärde, Zeichen und Bilder - ja, wir dürfen die letzteren gar in eine frühere Phase der Evolution des menschlichen Bewußtseins zurückverlegen, da sie einer tiefer liegenden, früher anzusetzenden Schicht der Gehirnfunktionen zugehörig erscheinen - dem Gleichgewicht des Organismus, der Stimmung und dem Gefühl dienend. Die körperlichen Ausdrucksmittel und die sichtbaren Zeichen und Ausdeutungen dienen demnach der Orientierung des Individuums in Zeit und Raum. Diese beiden Kategorien sind nicht nur ureigenstes Gut des Menschen aus seiner biologischen Existenz heraus, sondern bilden zugleich das dynamische Kraftfeld seines geistigen Seins, das sich in Kommunikation und Gemeinschaft offenbart. Dient die Orientierung im Evolutionsprozeß zunächst als Uberlebensstrategie des einzelnen und der Gruppe aus biologischer Sicht, so schält sich doch auch ein Zeitbewußtsein geistiger Art allmählich heraus, das die Existenz des Menschen in einem weiteren Sinn denn nur in der irdischen Lebensspanne des einzelnen begreift und der Zeitlichkeit des Lebens die Dauer des Unvergänglichen, oder zumindest das Weiterleben nach dem Tode, entgegenhält. So lassen früheste Bestattungsfunde aus der Zeit des

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Prähistorische Kunst

Neandertalers (dem Mousterien um 70 000-50 000 v. Chr.) auf Vorstellungen schließen, daß der Mensch nach seinem Tod im Körper oder in seinem Grab weiterlebt. Die Existenz von Gräbern überhaupt sowie Speisebeigaben und Objekte legen von solch einer Zeitvorstellung des anhaltenden Lebens Zeugnis ab - die Einheit von Leib und Seele, Mensch und Natur eröffnet eine Zeitperspektive, die auf das Zukünftige gerichtet ist, aber zugleich zeitlos erscheint. Eine Untersuchung, die sich mit dem Phänomen „Zeit" in der bildenden Kunst befaßt, und zwar sowohl in der objektiv vorliegenden Form des Gegebenen und Strukturierten im Werk selbst als auch im Sinne der ästhetischen Wertschätzung, sprich aus der Sicht der „Erlebniszeit" des Betrachters, darf und kann so weit in die prähistorische Zeit zurückgehen, wie die bildende Kunst uns bekannt ist. Wir gelangen dadurch in die Periode des Aurignacien (um 32 000—23 000 v. Chr.), aus der eine Reihe von bemerkenswerten Funden vorliegt: Ritzungen und Reliefdarstellungen weiblicher Genitalien, Figuren aus Kalkstein und Bisonhorn, schwarze Umrißzeichnungen (zuweilen auch mit rot ausgefüllten Flächen) von Tieren sowie plastische Gestaltungen derselben aus Elfenbein, Steatit und gar Terrakotta. Über die Beweggründe und Absichten, die der Herstellung dieser frühesten Zeugnisse menschlichen bildnerischen Vermögens zugrunde lagen, können nur Vermutungen angestellt werden. Fraglich erscheint es, ob der angeborene „Schmucktrieb" (Riegl), d. h. eine ästhetische Verhaltensweise, den entscheidenden Ansstoß zur künstle-

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Venus von Galgenberg (Krems /Stratzing), um 30 000 v. Chr., Naturhistorisches Museum, Wien

rischen Gestaltung gegeben hat.3 Rein hypothetisch erscheinen andererseits Fruchtbarkeitskulte, Jagdriten und Zukunftssicherung im Sinne von allgemein verbindlichen Vorstellungen und Normen, die Thematik und Ausführung dieser frühesten Ritzungen und Plastiken um 32 00027 000 v. Chr. zu bestimmen. Collins und Onians haben 1978 versucht, die Entstehung aus der unmittelbaren geistigen oder besser tagträumerischen Beschäftigung der Jugendlichen mit den gegebenen Lebensumständen zu erklären.4 So gewagt dieses evolutionistische Erklärungsmodell in manchen Stücken auch ist, unbestreitbar spricht die statistisch nachweisbare Einschränkung auf zwei Themenkreise, weibliche Sexualität und Jagd, zumindest für den dominanten Einfluß der „biologischen Variante". Von weitreichender Bedeutung ist ebenfalls der Umstand, daß unterschiedliche Darstellungsweisen und Materialien schon von Anfang an die Regel gewesen zu sein scheinen. Die Gruppen, nach Themen, Material und Fundorten geordnet, erscheinen recht homogen. Die wichtigsten Gebiete liegen im Südwesten Frankreichs (Abri Castanet, Abri Blanchard, Laussei, Abri du Poisson und Rennes, Pair-non-Pair), in Schwaben (Blaubeuren) sowie in Böhmen und Mähren (Hohlenstein, Brno und Vogelherd). Im Zeitraum von 32 000-27 000 sind in Frankreich die Reliefdarstellungen weiblicher Genitalien vorherrschend, während nur drei phallische Gebilde vorliegen (darunter ein geschnitzer Phallos aus Bisonhorn im Museum zu Perigueux). Demselben Zeitraum zuzurechnen sind die schwarzen Umrißzeichnungen von Tieren (manchmal rot schattiert) auf Kalkstein (Les Eyzies, Museum Perigueux). Vorwiegend handelt es sich um Jagdtiere, die leicht zu erlegen waren: Pferde, Ochsen, Rentiere und Böcke. Von Bewegungsdarstellungen kann jedoch bei diesen zeichenhaften „Kürzeln" kaum die Rede sein, es sei denn, man legt die Dynamik der Umrißlinien selbst in diesem Sinne aus. Ganz abwegig ist dies freilich nicht, denn die elfenbeinernen Tierfiguren wie Pferd, Mammut, Bison etc. aus Vogelherd (um 29 000-27 000 - im Schloß Tübingen) sind in bewegtem Seitenaspekt erfaßt - die Umrißzeichnungen aus demselben Zeitraum im Museum zu Les Eyzies unterscheiden sich nicht sonderlich von den Tierkürzeln der vorangegangenen Jahrtausende. Ungewiß ist die Interpretation der Bewegung in der vor kurzem gefundenen sog. Venus von Galgenberg (Krems/Stratzing, Wien, Naturhistorisches Museum Abb. 8). Die schon um 30 000 v. Chr. angesetzte winzige Figur aus Schiefer (Amphibolit), 7,2 cm 1, 0,7 cm stark, ist gar als eine „Tänzerin" interpretiert worden, d. h. eine

Prähistorische

bewegte Gestalt.5 Vielleicht dürfen wir auch schon bei den frühen Kleinplastiken von verschiedenen Möglichkeiten statischer und plastischer Darstellungsweisen sprechen. Für diese Annahme spricht auch die erst neulich gefundene und zusammengefugte Plastik aus Mammut-Elfenbein aus der Höhle Stadel im Hohlenstein (Gde. Asselfingen, Alb-Donau, nicht weniger als 29,6 cm hoch, um 32 000-30 000 v. Chr.) - eine aufrecht stehende Menschengestalt mit einem Löwenkopf im Museum zu Ulm, die am ehesten an das kleine sumerische „Monster" im Brooklyn Museum erinnert (Abb. 9). Sollte die Datierung um 32 000 v. Chr. stichhaltig sein, hätten wir es mit der frühest bekannten Vollplastik zu tun, in der sich schon die Bildung komplexerer menschlicher Gesellschaftsformen infolge der wohl im Kultischen zu ortenden Tierfigur oder Gottheit ankündigt. Vor allem legt die naturalistische Darstellung des Löwenkopfes eine erstaunlich ausgereifte mimetische Kunstfertigkeit an den Tag. In sich selbst zentriert, aber zugleich dynamisch schwellend die wohl etwas spätere Venus von Willendorf (um 27 000 v. Chr.) im Naturhistorischen Museum zu Wien, die als Unikat einer späteren Gruppe von Venusplastiken aus Steatit, Elfenbein und Terrakotta aus Petrkovice und Dolni Vestonice (heute Brno) vorangeht. Diese Plastiken sowie die Venusfiguren aus Les Pugues (Elfenbein, St-Périer, Musée de l'Homme) und Savignano (Kalkstein, Rom, Museo Pigorini) besitzen keine Standfläche, sind alle kleinformatig und weisen oft grotesk vergrößerte weibliche Geschlechtsmerkmale auf, so daß Onians gewagte Hypothese, wir hätten es mit „Handschmeichlern" zu tun, zumindest in Erwägung gezogen werden muß. Auch ein rudimentär biologisch-ritueller Zusammenhang (etwa eine Entbindung) würde den haptischen Charakter der Figur herausstreichen. So ist es durchaus denkbar, daß der Akt des Tastens, Fühlens und Greifens zu einer Intensivierung der Präsenzzeit gefuhrt hat; ausgelöst wurde diese formal durch die starke Betonung des Organischen, Runden und Schwellenden; die plastische Umsetzung des Erdenschweren und Fruchtbaren entspricht dem Inhalt, der auf die Sexualität und das Fruchtbare, das Zukunftsträchtige ausgerichtet erscheint. Von einer bewußt „ästhetischen Präsenzzeit" hier zu sprechen, wäre wohl verfrüht. Dennoch darf man sagen, daß instinktiv Gefühltes bewußt in eine dezidiert plastische Gestaltung umgesetzt wurde. Zwangsläufig spielt dabei der zeitliche Aspekt, die existentielle Präsenz dieser Figuren, eine wesentliche Rolle; dies gilt auch für ihre suggestive Wirkung, sprich für die unmittelbar angesprochene, haptisch bedingte Erlebniszeit des Betrachters.

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Kunst

Statuette mit Löwenkopf, Höhle Stadel im Hohlenstein (Asselfingen, Alb-Donau-Kreis), um 32 000 v. Chr. Ulmer Museum (Foto: Thomas Stephan, Munderkingen)

Der unmittelbaren Lebenserfahrung des prähistorischen Menschen entspricht lt. Onians demnach der haptische Charakter der frühesten Ritzungen, Reliefs und Kleinplastiken. Ihm steht andererseits die bildhafte, optische Darstellungsweise entgegen, die insbesondere bei der umrißhaften Wiedergabe des Jagdwildes bevorzugt wird. Ganz konsequent läßt sich diese Differenzierung nach Motiv und Darstellungsmodus nicht aufrechterhalten, denn schon um 29 000 v. Chr. sind die kleinen Tierfiguren aus Vogelherd, wie gesagt, anzusetzen. Dennoch liegt das Augenmerk hier auf Erfassung der Bewegung mittels der Umrisse. Der Verbund von plastischen und optischen Werten 29

Prähistorische Kunst

gelangt schon um 24 000 v. Chr., in der Übergangsphase des Gravettien-Protosolutreen, in dem Relief der sog. Venus von Laussei zu einer ersten großartigen Steigerung (Abb. 10). Wie ist die Figur zu deuten? Die großen Brüste, das ausladende Becken und der linke Arm mit der (detailliert ausgeführten) Hand, die auf dem Bauch ruht oder verweist, sprechen eindeutig für das Motiv der Fruchtbarkeit. Eine dramatische Steigerung und Neuerung in der Geschichte menschlichen Gestaltungsvermögens sehen wir in dem eingewinkelten rechten Arm mit dem emporgehobenen Horn, auf das womöglich das zur Unkenntlichkeit zerschlissene Antlitz einmal gerichtet war. Festgehalten wurde hier eine Bewegung oder zumindest eine Haltung, die als Zeigegestus und bewußte Bezugnahme zwischen Figur und Horn bzw. Gegenstand und Betrachter zu sehen ist. Fruchtbarkeitskult und Riten setzen eine soziale Orga-

nisation, kosmische und religiöse Vorstellungen voraus, die zu dieser frühen Zeit keineswegs selbstverständlich sind. Dennoch wurde darauf verwiesen, daß die geistige Beschäftigung mit dem Jenseitigen, oder besser: mit dem Fortleben des Diesseitigen nach dem Tode, anhand früherer Grabfunde bekundet ist und daß die Lage der sog. Venusfiguren in der Schlucht zu Laussei und andere Fundstücke dort auf einen Kultplatz schließen lassen. Die Kombination FrauBisonhorn könnte als Vereinigung männlicher Zeugungskraft und weiblicher Fruchtbarkeit gedeutet werden, zumal ein als Phallus geschnitztes Horn aus früherer Zeit (etwa um 30 000 v. Chr., Périgueux, Museum) bekannt ist. So darf dem Bewegungsakt der Venus von Laussei eine tiefere Bedeutung und Signifikanz zugesprochen werden — aus dem zeitlichen Kontext des Vorgangs gelöst, erstarrt sie zu einem Gestus von zeugender Kraft und Präsenz. In den Jahrtausenden, die auf das Aurignacien folgen, dem sog. Solutréen (um 19 0 0 0 - 1 5 000 v. Chr.), tritt ein Vakuum der Kunstproduktion ein, zumindest nach den Funden zu urteilen. (Womöglich sind aber die erst vor kurzem entdeckten Höhlenmalereien in diese frühe Phase einzuordnen.) O b klimatische oder gesellschaftliche Veränderungen zu einer Retardierung geführt haben, läßt sich nicht mit Gewißheit sagen. Sicher ist nur, daß zu Beginn der zweiten Würmeiszeit um 15 000 jene reiche Periode einsetzte, die ideale klimatische Bedingungen für die Jagd und die gesellschaftliche Konsolidierung schuf. In dieser Zeit des im Einklang mit der Natur lebenden Menschen, die als die „paradiesische" bezeichnet worden ist, setzt die zweite große Phase des Kunstschaffens im Paläolithikum ein. In dem Zeitraum zwischen 14 000 und 11 000 v. Chr., die Periode des sog. Magdalénien, fällt die Datierung der Höhlen im Südwesten Frankreichs und in Nordspanien. Diese Höhlen wurden offensichtlich als Wohnstätten und Kultplätze benutzt. Die Jagd dürfte dementsprechend in gewissen organisierten Formen erfolgt sein; offensichtlich wurden darüber hinaus auch begabte Stammesmitglieder mit künstlerischen Aufgaben betraut, die der Gemeinschaft und womöglich dem Kult dienen sollten. Leroi-Gourhan hat die einzelnen Motive nach Frequenz und Lage in den verschiedenen Höhlen untersucht, um so Aufschluß über ihre ikonographische Bedeutung zu erhalten. 6 Während einige Darstellungen offensichtlich dem Wohnbereich zugehörig waren, dienten andere kultischen Zwecken wie der Jagdmagie oder eventuellen Initiationsriten. So sind manche Tierdarstellungen (etwa in Altamira) manchmal an schwer zugänglichen Stellen ausgeführt worden (Abb. I I ) . 7

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Venus von Laussei, um 19 0 0 0 - 2 0 000 v. Chr.

Ausschlaggebend dürften funktionelle, kultische Aspekte gewesen sein, obwohl auch die Bezugnahme, oder besser:

Prähistorische

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Bison, Altamira (Magdalénien IV), um 13 500 v. Chr.

die Einbeziehung des Betrachters eine erhebliche Rolle gespielt haben dürfte. Zwangsläufig kommt dabei auch der ästhetische Aspekt mit ins Spiel: Die hohe Qualität dieser Kunst, die die Nachwelt bei ihrer Entdeckung am Ende des 19. Jahrhunderts in Erstaunen versetzte, entspringt aus dem Bemühen, das Charakteristische der Tiere, Prägnanz und Dynamik der Bewegung zu erfassen und sie in einer oft monumentalen Weise wiederzugeben. Die reiche Fauna (Mammut, Pferd, Bison, Rentier und Ochse) spiegelt in unmittelbarer Weise die klimatischen Verhältnisse und Lebensbedingungen der Zeit wider; als Grundlage der sozialen und wirtschaftlichen Struktur und den damit im Zusammenhang stehenden mythisch-magischen Vorstellungen gilt die Jagd. So steht die monumentale Tierdarstellung im Zentrum des gesellschaftlichen, kultischen und auch künstlerischen Interesses, während die menschliche Figur nur gelegentlich auftaucht. In den großen Wand- und Deckenmalereien der Höhlen werden die Fruchtbarkeit und das reiche Vorkommen der lebenden Fauna vergegenwärtigt, geht es um die Sichtbarmachung der dynamischen Kräfte, die die Natur beherrschen und in ihrer Gegensätzlichkeit zuweilen zum Ausgleich gebracht werden. Der „Naturalismus" dieser Kunst erwächst nicht aus dem instinktiven Reflex der im Halbdunkel des Bewußtseins gespeicherten Erinnerungsbilder, sondern aus der prägnanten Erfassung des Gesehenen, das mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der Kunst wiedergegeben wird. Die Illusion der Präsenz und die Bewegung der Tiere erfüllt die Aufgabe, Dynamik und Kraft der Natur zu repräsentieren, wahrscheinlich um sich ihrer durch begleitende rituelle Handlungen zunutze zu machen

Kunst

Pferd und Handzeichen, Pech Merle (Dep. Lot), um 15 000 v. Chr.

und so den Fortbestand des eigenen Lebens zu sichern. Wie bewußt und komplex der Gestaltungsablauf zuweilen vor sich gegangen sein dürfte, geht aus dem Umstand hervor, daß die konvexen und konkaven Teile der Höhlenwände oft benutzt wurden, um dem dargestellten Tier zusätzliche Lebendigkeit und Dynamik zu verleihen. So tritt etwa die Schulterpartie eines Bisons in der Höhle zu Altamira plastisch heraus, sind einige Tiere den vorgegebenen Wölbungen der Wände und der Decke angepaßt. Dies setzt eine Projektion des Erinnerungsbildes in die bestehende Felsform voraus, eine Adaption der Körper und der Bewegungen an vorgegebene Konturen und Formen, deren Ausdrucksmöglichkeiten vom Künstler im dialektischen Spiel zwischen Erinnerung und zukünftiger Gestalt erwogen und allmählich zu voller Wirkung gebracht werden. Jener dürfte sich bewußt eine Stelle der Wand oder der Decke ausgesucht haben, die seiner Vorstellung entsprach oder gar als Ausgangspunkt seines Vorstellungsbildes diente und der technischen Ausführung und der Vortäuschung des Lebendigen und Bewegten zu größerer Wirkung verhalf. So setzt die finale Absicht bei der bildnerischen Gestaltung (erinnert sei auch an die bewegten Relieftiere in der Höhle von Pech Merle - Abb. 12) einen komplizierten Denkprozeß voraus, bei dem auch das ästhetische Bewußtsein eine wesentliche Rolle spielt. Was die Projektion zu leisten vermag, wurde erst in unserer Zeit Gegenstand kunsttheoretischer Erörterungen - praktiziert wurde sie bereits in der Steinzeit. Implizit treten dabei wesentliche Zeitaspekte in Kraft: das zwischen Erinnerungsbild und Vorstellung „oszillierende" Bewußtsein des Urhebers; der hohe Grad an illusionistischer Bewegtheit und Lebendigkeit der Tiere sowie die durch diese Präsenz angesprochene Erlebniszeit, sprich Partizipation seitens des Betrachters. Der Sinn der dargestellten Figuren erschöpft sich aber sicher nicht in der Illusion des Zeitlich-Ephemären, son-

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Prähistorische Kunst

dem darf eher in jenen Kräften und Lebensprinzipien gesucht werden, die in ihnen zum Ausdruck gelangen. Der Mensch lebte wohl noch im Einklang mit der Natur, scheint sich aber zugleich um geistige Erfassung der Phänomene und ihrer Kontrolle bemüht zu haben. Soziale Organisation und Ansätze kultisch-kultureller Überlieferung müssen die Folge gewesen sein, auch wenn man nicht so weit wie Max Raphael gehen kann, der aus der Struktur der Höhlenmalerei auf sozioökonomische Auseinandersetzungen glaubte schließen zu können.8 Erzählerisch wurden die Bilder einmal durch die Dynamik der Gestaltung, den illusionistischen Charakter der Bewegungsdarstellung und zum anderen durch die Lage der Figuren zueinander. Im letzteren Falle tritt der erzählerische Charakter besonders stark zutage. In dem Augenblick, wo Einzelfiguren aufeinander bezogen werden, konstituiert sich ein Bezugs- und Spannungsfeld, dessen Bedeutung sich in der interpretativen Betrachtung herausschält, in der Erlebniszeit des Betrachters jeweils neu aktualisiert wird. Solange sich die Darstellungen von Menschenund Tierfiguren in der paläolithischen Kunst auf Einzelgestalten beschränken, oder diese zeichenhaft auf der Fläche ohne direkte funktionale Bezogenheit aufeinander erscheinen, kann von solch einer erzählerisch ausgerichteten Kunst eigentlich nicht die Rede sein. Problematisch bleibt allerdings die nähere Bestimmung jener Grenze, wo die zeichenhaft-repräsentative Darstellungsform in den Modus der funktional aufeinander bezogenen Figuren hinübergleitet, d. h. der unmittelbare Symbolcharakter zugunsten der erzählerischen Relation aufgegeben oder zumindest zurück-

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gestellt wird. Hinzu tritt das Problem nachträglich mehr oder weniger willkürlich vorgenommener Korrekturen am Ursprungsentwurf, wodurch die Figuren aus einem größeren, oft unübersichtlichen Kontext, etwa in Form von Reinzeichnungen, losgelöst und aufeinander bezogen werden. Dies ist nicht zuletzt bei Abbe-Breuil der Fall; infolgedessen sind etwa bei Max Raphael, der sich auf die Rekonstruktionszeichnungen des Vorgängers stützte, interpretatorische Fehler entstanden, aus denen der Forscher allzu weitreichende Schlüsse gezogen hat. Nicht unproblematisch ist demnach Raphaels Versuch, die großen Kompositionen der Höhlenmalereien, etwa jener in Altamira, im Sinne großer erzählerischer Szenerien auszuwerten (Abb. 13). Im letzten Kapitel seines Buches Prehistoric Cave Paintings versucht der Autor die Polarität der frühen Gesellschaft in der künstlerischen Synthese des großen Plafonds in Altamira aufzuzeigen.9 Rotwild und Bisonochsen gelten als Totemtiere und Repräsentanten zweier Klane, die sich gegenseitig bekämpften. Wir hätten es demnach mit einer großangelegten „Schlachtendarstellung" zu tun - links stünden sich Reh und Bison gegenüber, in der Mitte vollziehe sich der Kampf, und rechts seien die getöteten Bisonochsen aufgerichtet, denen geopfert werde. Das Prinzip der Polarität ist zwar einmütig von allen Erforschern der paläolithischen Kunst postuliert worden, nicht aber im Sinne verschiedener gesellschaftlicher Fraktionen, sondern als Ausdruck existentieller Vorstellungen, die biologische Prinzipien wie das Männliche und Weibliche oder Fragen wie Leben und Tod, Arterhaltung und Jagdglück betrafen. So kommen etwa auch Annette Laming und

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André Leroi-Gourhan, die bei der Deutung der Höhlenmalerei quantitativ-statistisch vorgehen, in ihren Untersuchungsergebnissen auf solche Polaritäten zu sprechen, wobei die Tierarten für wirkende Kräfte wie Zeugung und Geburt stehen.10 Auch in diesem Falle spielt die zeitliche Komponente eine gewisse Rolle, da erst die Bezogenheit der einzelnen Tiere oder Gruppen aufeinander und ihre Interaktion den tieferen Gehalt aufdecken. Im Szenischen offenbart sich die geistige Vorstellung, in der illusionistischen Erfassung der Bewegungsdynamik vollzieht sich die Ubertragung der sich darin manifestierenden Kraft auf den imaginären Betrachter. Einschränkend sei hier gesagt, daß die inhaltliche Ausdeutung der Figuren auch bei Laming und Leroi-Gourhan unsicher bleibt und sich bei diesen beiden Forschern zuweilen auch widerspricht. Die Feststellung, daß wir es bei den großen Szenen um eine ansatzweise Gruppierung von Tieren und eine Interaktion derselben, nicht eine zufällige Anhäufung sich überlagernder Figuren zu tun haben, ist bemerkenswert genug — nicht zuletzt eröffnet sich hier die Perspektive der Transzendenz zeitlicher, „ästhetischer" Erfahrung. Von solchen existentiellen Grundthemen, wie sie für das Paläolithikum überhaupt charakteristisch gewesen zu sein scheinen, auf ökonomisch-gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu schließen, dürfte nicht zulässig sein. So faszinierend die Interpretation eines zeitlich strukturierten Ablaufs des Gesehenen bei Raphael auch ist, droht sie in ihren weitreichenden Folgerungen den Boden des Realen und Nachprüfbaren zu verlassen. Auch haben Ucko und Rosenfeld darauf verwiesen, daß die Lebensformen und gesell-

Tierzauber, Les Trois Frères, Airège, mittleres Magdalénien (nach Breuil)

schaftlichen Konventionen im Rahmen eines ökologischökonomischen Systems, nicht zuletzt in den sog. „primitiven" Kulturen, ungeheuer vielfältig gewesen sein können; die Reduktion ganzer Klassen und Klane im oben angedeuteten Sinne auf eine ökonomisch bedingte gesellschaftliche Konfrontation hin, hieße die Perspektive unzulässig verengen.11 Man darf also festhalten, daß die großen Gruppendarstellungen in den Höhlen der Magdalénienzeit eben schon ein gewisses Maß an „Zeitlichkeit" enthalten, indem überhaupt von dem Phänomen der „Gruppe" und der Gruppenbildung von Einzelfiguren gesprochen wird. Mit Vorsicht dürfen wir auch sagen, daß die Polarität der Gegenüberstellung solcher Ballungen, etwa von Bisonochsen und Pferden, den Zeitcharakter solch einer Darstellung schwächt - ja, daß dieser durch die generelle, beileibe nicht sicher ermittelte existentielle Aussage gar aufgehoben wird. Daß der paläolithische Künstler aber durchaus in der Lage war, solche nur in der Kategorie der Zeit vorstellbare Interaktionen von Figuren zu realisieren, geht aus einer Reihe von Darstellungen hervor, in denen zwei oder drei Figuren eindeutig aufeinander bezogen sind. So sehen wir etwa in der Darstellung des „Bison-Mannes" mit dem Rind und dem Rentier in der Höhle Les Trois Frères, Ariège, den scheinbar in Tierfellen gekleideten, mit Hörnern versehenen Mann (einen Schamanen?) hinter der Herde flötespielend hertrollen, während das letzte Rind ihm den Kopf rückwärts zuwendet (Abb. 14). Dem Bewegungsablauf von rechts nach links wirken hier das Drehmoment und die psychische Gerichtetheit entgegen; aus dem Kontinuum der Bewegung kristallisiert sich räumlich und zeitlich ein

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spannungsreicher Moment heraus, eine zukunftsträchtige Scheide zwischen Mensch und Tier: Beschwörung und Kontrolle, Verlockung und Freiheitsentzug, der freilich noch ganz von der Magie des Augenblicks und der Einbindung in die physischen Gegebenheiten beherrscht wird. Diese künstlerische Darstellung des Augenblicks in Form eines rückblickenden Tieres scheint einen topischen Charakter bekommen zu haben - wir finden ähnliches auf einem Relief einer Bisonkuh in der Madeleine-Höhle sowie auf den Schnitzereien mancher sog. „Kommandostäbe"; später taucht die Bildprägung in der ägyptischen Kunst auf.

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Zauberer, Les Trois Frères, Ariège, mittleres Magdalénien (nach Breuil)

Bison und Schamane, Lascaux, Dordogne, frühes Magdalénien

Ebenfalls aus der Höhle in Trois Frères, Ariège, stammt der sog. „Zauberer" aus dem mittleren Magdalénien (Abb. 15). Wenn wir der Rekonstruktion Breuils Glauben schenken dürfen (auf die Vorbehalte ist schon hingewiesen worden), haben wir es hier ebenfalls mit einem „Schamanen" oder einem hybriden Halbmenschen zu tun, aufrecht sich fortbewegend, in Tierfellen gekleidet, womöglich mit einer Maske und einem Geweih versehen.12 Bemerkenswert ist hier die flächenparallele Fortbewegung und die dadurch akzentuierte seitliche Kopfdrehung, so daß der Betrachter selbst durch die Fixierung des Zauberers in der Präsenz des Augenblicks in dessen Bann gezogen wird. Ob hier wirklich solch eine funktionale Darstellungsweise und Wirkungsart erstrebt wurde, sei dahingestellt — wir hätten es mit einer außergewöhnlichen Aktualisierung der Erlebniszeit des angesprochenen presumtiven Betrachters zu tun, der dadurch am Zauber der dargestellten Figuren partizipieren durfte. Auf Zauber und „Seelenleihung" scheint auch die außergewöhnliche Darstellung mit dem Bison und dem „Schamanen" in Lascaux ausgerichtet zu sein (Abb. 16). Das bemerkenswerte liegt in der Zusammenstellung einzelner Bildmotive, so daß der Eindruck eines Vorgangs oder Ritus erweckt wird, der im Augenblick der Ekstase zu einem Höhepunkt gelangt: Links unten sehen wir einen Vogel auf einer Stange (eventuell ein Totemtier), darüber in Schräglage einen vogelköpfigen Strichmann mit ausgebreiteten Armen und erigiertem Glied; vor ihm mit einem zum Stoß ansetzenden, schräggestellten Kopf einen Bison, dessen Rumpf von einem Speer diagonal überschnitten (d. h. durchstoßen) wird, dem zufolge die Gedärme aus dem Bauch quellen. Handelt es sich um einen Schamanen, dessen Seele sich jener des Vogels bemächtigt hat und nun im Zustand der Ekstase, der Schwerelosigkeit und des Ausgeliefertseins von dem sterbenden Bison bedroht wird? Womöglich soll der psychische Zustand durch die Lage der Figur angezeigt werden; einer Figur, die als reine Konturzeichnung wie der zugeordnete Vogel eher zeichenhaft denn „real" wirkt; haben wir es mit einer Darstellung des Jagdzaubers zu tun, bei dem die

Mesolithikum — Spanische und afrikanische

Momente der Zeugung und des Todes, die Fruchtbarkeit des Wildes und dessen Erlegung als zwei Pole des Daseins verstanden werden, die sich zugleich bedingen und ergänzen? In ähnlicher Weise mag das Prinzip der Doppelgeschlechtlichkeit lebendig gewesen sein, so auch die Vorstellung von der Höhle selbst als einem Ort der Geburt und des Schutzes ebenso wie der des Todes. Es bietet diese Polarität zugleich die Gewähr für die ökologische Balance und damit auch für den Fortbestand des Stammes. Diese Bewußtseinshaltung ist nach Eliade charakteristisch für die frühen Jägerkulturen und findet ihren Niederschlag im Kult und in mythischen Vorstellungen.13 Die szenische Wirkung dieser Gruppe entspringt dem momentanen Charakter der Figurenstellungen und der einzelnen Motive; darüber hinaus erwächst sie auch aus der spannungsreichen Gegenüberstellung von Mensch und Tier sowie der rudimentären Ortsangabe. Noch stärker als beim vorhergehenden Bild wird hier die Vorstellung einer Situation evoziert. Die aus dem Augenblick geborene Bedeutung wird vom Betrachter erkannt,

Felsmalereien

d. h. für seine eigene Existenz im Rahmen seiner kultischmythisch geprägten Vorstellungswelt wirksam. In dieser für die Zeit doch ungewöhnlichen Szene gewinnt die Erlebniszeit gleichsam eine tiefere, von der Gestaltung selbst reflektierten Signifikanz. Über die Kontrollfunktion und finale Bezogenheit des Bewußtseins im bildnerischen Schaffen der paläolithischen Zeit läßt sich meines Erachtens nicht streiten — sie greift in den Gestaltungsprozeß des gesteigerten illusionistischen oder dynamischen Ausdrucks des dargestellten Tieres oder der Menschenfigur ein, zum anderen aber auch im Sinne des Zeichenhaften, der Abstraktion. Das gleichzeitige Auftreten verschiedener Modi, die wir mehrmals haben feststellen können, spricht gegen eine schematische, chronologische Aufteilung und gesetzmäßig wechselnde Sehgewohnheiten und Stilphasen. Zeitaspekte in Form von Bewegungsdarstellungen und eine Tendenz zu Gruppenbildungen und „erzählerischen" Momenten lassen sich wiederholt in den Höhlenmalereien der Magdalenienzeit nachweisen.

Mesolithikum — Spanische und afrikanische Felsmalereien Im Sinne einer allgemeinen Tendenz kann man in der Spätphase des Magdalénien (um 11 000- 9000) von einem Rückgang der groß angelegten Wandmalereien sprechen, was sich vielleicht zugunsten der Kleinkunst ausgewirkt hat, die nun in vielen Gravierungen und Kleinplastiken hoch entwickelt erscheint. In der Höhlenkunst weicht das naturalistische Element einem ausdrucksvollen Stil, großen Szenen mit kleinen Figuren und Tieren, die uns von den südspanischen Felsmalereien und der neolithischen Felskunst Nordafrikas her bekannt sind. Diese Entwicklung ist aus den ungünstigeren Lebensbedingungen erklärt worden. Zunehmende Vereisung setzte dem „paradiesischen" ökologischen Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur im Südwesten Frankreichs und den Pyrenäen ein Ende. Die Jäger wurden dazu getrieben, den weichenden Tierstämmen zu folgen, in kleineren Gruppen in klimatisch rauheren Jahrtausenden einen sicherlich härteren Daseinskampf zu führen. Die Kette der jungpaläolithischen Kunst reißt ab. Uber diese Spätphase heißt es bei Leroi-Gourhan: „Die Figuren haben die letzten Spuren der alten Stile verloren, die Tiere sind in einen Realismus von erstaunlicher Exaktheit der Form und Bewegung integriert. Die Kleinkunst dehnt sich nun bis nach Großbritannien, Belgien und in die Schweiz aus. Um 9000 kennzeichnet ein unvermittelt

auftretender Verfall das Ende des Jungpaläolithikums; die spärlichen Zeugnisse aus dem ausgehenden Magdalénien lösen sich in Steifheit und Schematismus auf."14 So richtig diese Einschätzung Leroi-Gourhans auch sein mag, unbeantwortet bleibt die Frage nach der tieferen Ursache der Stilveränderung. Da Stil bisher als Ausdrucksträger des Künstlers bei der Bewältigung bildkünstlerischer Aufgaben kultischer und sozialer Art interpretiert wurde, sind die Veränderungen ökologisch-gesellschaftlicher Natur relevant - entweder läßt die Fähigkeit oder Möglichkeit nach, das Ererbte weiterzuführen, oder es werden neue Wege des bildkünstlerischen Schaffens gesucht und erschlossen. Nicht als eine bewußte Abkehr von einer früheren Stiltradition oder gar als eine künstlerische Dekadenz ist die Kunst der Levante von Bandi gewertet worden, sondern als Verschmelzung zweier „Kunstlandschaften": der Kunst des Paläolithikums im Südwesten Frankreichs, in den Pyrenäen und den Kantabrischen Bergen mit ihrem Streben, die Fauna so naturalistisch und lebendig wie möglich darzustellen;15 und die mehr auf die menschliche Figur, Expressivität und Erzählung ausgerichtete Kunst im Süden, d. h. in Afrika. Bandi verweist auf die vorgeschichtlichen Felsbilder Afrikas, die Buschmannkunst in Südafrika sowie am Tanganjikasee, am Tschadsee, in der ägyptischen Oase

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Inoro, Felsmalerei, Marandella-Distrikt (nach Lutz-Frobenius)

Ouenat sowie auf die Höhle In-Ezzan im Zentralmassiv der Sahara. Bei diesen afrikanischen Bildern tritt das erzählerische Element stark in Erscheinung: „Die Levantekunst ist also zu einem Zeitpunkt entstanden, als der in der frankokantabrischen Eiszeitkunst wurzelnde, zu Einzeldarstellung tendierende Tierbildstil mit den wohl aus Afrika kommenden Elementen der Menschenfigur und der Bilderzählung in Berührung geriet und sich mit ihnen vermischte." 16 Der Zeitpunkt dieser Vermischung wird in die Mittlere Steinzeit (Mesolithikum) verlegt, die ungefähr im Zeitraum 10 0 0 0 8000 v. Chr. ansetzt und um 5000 zu Ende geht, als sich der Ubergang zu der stark schematisierten Kunst der Jungsteinzeit auf der Pyrenäenhalbinsel vollzieht. Über die Datierung der afrikanischen Felsbilder schien bis vor einigen Jahrzehnten Unklarheit zu herrschen - keine Angaben sind bei Frobenius oder Resch zu finden.17 Allerdings ist es der neueren Erforschung der Sahara-Felsbilder gelungen, ansatzweise eine Chronologie zu erstellen, die sich auf physikalische Untersuchungen und Messungen, Stil und Technik (etwa des Phänomens der Überlagerungen) und der Tiermotive stützen kann. 1 8 Man unterscheidet zwischen der Zeit der großen Wildtiergravierungen der Periode des Bubalus antiquus, die bis in die späte Eiszeit zurückreicht; die Periode der sog. Rundkopfmalereien, die noch vor der Hirten- und Hausrindperiode im 5. Jahrtausend anzusetzen ist, und die späteren Perioden des Pferdes und des Kamels. Die frühen Gravierungen, die Fabrizio Mori im Acacus Gebirge aufgefunden und datiert hat, können zeitlich durchaus mit den mesolithischen Felsmalereien in Spanien zusammenfallen. Bermerkenswert ist auch, daß die Figurendarstellungen aus der älteren Rinderzeit Mitte des sechsten Jahrtausends nach Stil und Bewe-

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gungsduktus der Figuren eine schlagende Ähnlichkeit mit den spanischen Felsmalereien aufweisen. Ein Übergreifen von der Iberischen Halbinsel auf den Kontinent im Süden ist nicht auszuschließen. Die Ikonographie bleibt zunächst auf Tiergravierungen, Wildrind und Giraffen sowie Jagdszenen beschränkt. Im 6. Jahrtausend schließen sich gemalte Darstellungen großer Herden von Hausrindern an (Abb. 17), denen sich später, wie erwähnt, Motive wie Pferd und Kamel anschließen. Die wohl denselben Jahrtausenden zuzurechnenden Tiermalereien im Südosten des Kontinents weisen eine reichere afrikanische Fauna auf. Während in den großen Höhlenmalereien der Magdalenienzeit nur gelegentlich Ansätze einer Interaktion einzelner Figuren und Tieren zu verzeichnen waren, selbst bei dem großen Plafond in Altamira oder in Lascaux die vielen Tiere sich oft überlagern und nicht eindeutig aufeinander bezogen sind (wahrscheinlich sind sie zuweilen wie die Tiergravierungen und Malereien der Sahara auch unterschiedlichen Perioden zuzuschreiben), handelt es sich bei den spanischen Felsmalereien um Darstellungen der Jagd oder kriegerischer Auseinandersetzungen, um Figuren, die aus der Ferne gesehen werden, in Gruppen zusammengefaßt, sich in einem imaginären Raum aufeinander zu- oder fortbewegend. Diese Themen fehlen völlig in der früheren Kunst der „paradiesischen" Magdalenienzeit - in diesem Falle handelt es sich wohl um einen entscheidenden Wechsel der Lebensbedingungen und der damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Strukturen. Wurde in den früheren Bildern etwa das Jagdglück beschworen oder existentielle Fragen wie Leben und Fruchtbarkeit angesprochen, in denen die Zeitkomponente zwar enthalten, aber sogleich in dem Bereich des Grundsätzlichen und Gültigen aufge-

Mesolithikum — Spanische und afrikanische Felsmalereien

hoben erscheint, haben wir es nun mit eher erzählerisch ausgerichteten Szenen zu tun, die die Jagd selbst darstellen. Die Vergegenwärtigung des Diesseitigen spielt eine ungleich größere Rolle: Der kollektive Kampf ums Uberleben, die Auseinandersetzung zwischen den Gruppen und die organisierte Jagd bilden die Inhalte der Felszeichnungen, die meist nicht so monumental, dafür aber oft als kleine Panoramabilder erscheinen, in denen die Verteilung der vielen kleinen, oft als Bewegungskürzel anmutenden Figuren über eine größere Felsfläche die Vorstellung eines weiten Raumes evoziert, in dem sich das dramatische Geschehen abspielt.

Gebärde hin eingeschränkt; jene werden dadurch in expressiver Absicht unerhört vereinfacht und zugleich gesteigert wiedergegeben. So wäre z. B. auf die Jägerfiguren in der Cueva de los Caballos, Valltorta-Schlucht (Prov. Castellón), in den Cuevas del Civil, der Cueva Saltadora oder in Mas d'en Joup (ebenfalls Valltorta-Schlucht) hinzuweisen. In der Gasullaschlucht (Prov. Castellón) finden wir Jagd- und Kampfszenen vor, die in der Bewegtheit der Figuren, Prägnanz der Stellungen (etwa der Bogenschützen) und Dynamik der Motorik hinter den späteren minoischen Darstellungen nicht zurückstehen (Abb. 19). Wie auch dort muß man sich fragen, ob nicht dem Moment der Entfesselung Bei der Analyse der spanischen und auch afrikanischen dynamischer Kräfte auch hier eine zentrale, fast religiöse Felsmalereien ergeben sich zwar lokale Unterschiede, den- Bedeutung zuteil wird? Jedenfalls ist die künstlerische Ausnoch bleiben die Gestaltungsprinzipien im großen und sage im wesentlichen auf den Augenblick ausgerichtet. Als ganzen überraschend einheitlich. Die Figurendarstellungen Extremfall der Bewegungsdynamik möchte ich auf die Jäger im Mesolithikum sind durchweg als flache Silhouetten der Wildschweinjagd in der Cueva Remigia (Gasullakonzipiert, die ausschließlich aus den prägnanten Stel- schlucht) verweisen. In einigen Felsmalereien werden auch lungsmotiven und der Beziehung der Figuren untereinan- Kult- oder Opferszenen dargestellt (Kriegerzug oder Tanzder Leben schöpfen — so erwecken sie Vorstellungen von szene, Cingle de la Mola Remigia, Gasullaschlucht). Bewegung und dramatischen Ereignissen (Abb. 18). Die Aus dem Gesagten geht hervor, daß erzählerische Absicht kleinen Figuren sind als Schattenprojektionen in Hellrot nicht unbedingt mit einer Entwicklung zu naturalistischen bis Rotbraun oder Schwarz unter gelegendicher Verwen- Ausdrucksformen gleichzusetzen ist. Vielmehr können wir dung von Weiß auf die Felsen dünnflüssig, zuweilen sogar von einer Vereinfachung und Stilisierung der Ausdruckslasierend aufgetragen. Verschiedene Grade von Stilisierung mittel sprechen, die es dem Künstler erlauben, eine Vielzahl lassen sich freilich unterscheiden: von der naturalistischen von Figuren und Tieren in groß angelegten Jagd- und Darstellung bis hin zur linearen Abstraktion. Jedenfalls ist Kampfszenen in Gruppen darzustellen. Dabei scheinen die bei der Silhouettentechnik die Aussage auf Bewegung und einzelnen Gruppen jeweils in Stil und Technik homogen zu

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Kampfszene in Rot, Les Dogues, Gasullaschlucht, Cueva Remigia, Provinz Castellón

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Prähistorische Kunst

sein - jedoch nicht in bezug aufeinander, wo Größen unterschiede vorliegen und auch Überlagerungen vorkommen. O b einer oder mehrere Künstler bei diesen Darstellungen mitgewirkt haben, bleibt ungewiß - vermutlich sind die Szenen nach und nach ergänzt worden. Nur bedingt darf man von einer Absicht der Disposition sprechen - so sehen wir auf dem großen Bilderfries in der Cueva Vieja, Alpera (Prov. Albacete), wie größere Silhouettenfiguren in Schwarz kleinere Tiere in Rot oder mehr linear gezeichnete, kleinere Figurengruppen umgeben. Wie ist nun der neue Stil der Levantekunst in bezug auf die der vorangegangenen Zeitabschnitte sowie auf die der nachfolgenden in ästhetischer Hinsicht auszuwerten? Die lose Gruppierung der Einzelfiguren und Gruppen sowie ihre Stilisierung entsprechen der erzählerischen Absicht und der angewandten Technik der Schattenmalerei. Bewegung und Ausdrucksgebärden sind primär; naturalistische Details oder gar psychische Interpretation werden nicht erstrebt. Erneut können wir die Frage stellen, ob hier der innere Antrieb (das „Kunstwollen") oder die äußeren Umstände maßgebend gewesen sind? Und erneut dürfen wir sie mit sowohl „Ja" als auch „Nein" beantworten. Die veränderten klimatischen und damit zusammenhängenden Lebens- und Ernährungsbedingungen hatten zum Abbruch der franko-kantabrischen Höhlenkunst geführt. Dabei wurde die Kleinkunst dieses Gebietes durch die Jägervölker weit über den Kontinent verbreitet. Die sich darin bekundende sichere Erfassung der Tierform und der Bewegung war womöglich dem benachbart lebenden Jägervolk auf der Pyrenäenhalbinsel bekannt, das auf Grund der angeführten, neuen Lebensumstände als ein Ableger der Magdalénien-Völker in den Pyrenäen oder den Kantabrischen Bergen zu verstehen ist. Neu in der Levantekunst ist das Motiv des Menschen sowie die abstrakt-zeichenhafte Stiltradition,

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Steinbockjagd, Gasullaschlucht, Provinz Castellön (nach Potcar/Obermeier/Breuil)

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die vermutlich schon zu paläolithischer Zeit in Afrika beheimatet war. So entwickelt sich sowohl aus den äußeren Lebensbedingungen und der formalen Überlieferung als auch aus neuen künstlerischen Aufgaben heraus der expressive Stil der Levantekunst, der in die zeichenhafte Abstraktion ausmündet. Die künstlerische Absicht dürfte auch hier nicht primär den Anstoß gegeben haben, ebensowenig wie man vorhersagen könnte, daß der Stil sich gerade in diese Richtung weiterentwickeln mußte. Aber im Rahmen der Verknüpfung von älterer Überlieferung und neuen Einflüssen werden in der Levantekunst völlig neue Ausdrucksmöglichkeiten geschaffen, die gerade durch den bewußten (?) Verzicht auf manche Errungenschaft der Magdalenienkunst zu neuen Formen der bildnerischen Gestaltung gefuhrt haben. Von einem „Niedergang" der Kunst in dieser Zeit zu sprechen, wäre in bezug auf die Felsbilder der Iberischen Halbinsel verfehlt. Daß bei der Konzeption dieser Kunstwerke das ästhetische oder künstlerische Bewußtsein selektiv und zugleich expressiv verstärkt mitgewirkt hat, geht deutlich aus den einzelnen Bildern hervor. In eigentümlicher Weise werden dabei die neue Thematik des Kriegerischen, oder die Gewalt der Jagdszenen, die sicher den neuen Lebensbedingungen dieser Jägervölker entsprach, ihres Schreckens beraubt. Das Gewaltsame wird durch die ungeheure Leichtigkeit und Dynamik dieser Silhouettenfiguren in eine Sphäre gehoben, die nur Leben, Bewegung kennt. Aus dem zähen Fluß der Zeit gerückt, der Schwere der Erde enthoben, gewinnen sie als Zeichen der Dynamik und des präsenten Lebens eine Evidenz, die jedem einleuchtet. Wie später in der minoischen Kunst, erweist sich der Augenblick, in dem sich diese Qualitäten gerade offenbaren, als der eigentliche Gegenstand der Gestaltung in den mesolithischen Bilderfriesen. In expressiven Schattenrissen erhält er seine künstlerische Umsetzung.

III Frühe Hochkulturen 1961 hat schon Seton Lloyd darauf verwiesen, daß noch ein Glied fehle in der Kette von den altsteinzeitlichen Höhlenmalereien nach Persien, dem „Ursprungsland der sumerischen Keramik". 1 Obgleich solche Ketten infolge der zufälligen Funde über große Zeiträume hinweg nur hypothetisch bleiben, sei nun doch die „erste" frühe Hochkultur am Indus erwähnt, die spätestens um 7000 v. Chr. einsetzt und sich kontinuierlich bis zur Harappakultur und dem 2. Jahrtausend verfolgen läßt. Die frühesten Schmuckund Gerätefunde aus Flint und Knochen stammen von Mehrgarh nördlich von Mohenjo Daro in Belutschistan (Muscheln, Flint, Knochen nach 7000 v. Chr.). 2 Die Topfertechnik setzt um 6000 v. Chr. ein und entwickelt sich gegen Ende des Jahrtausends zu einer feinen gebrannten Keramik. Die Grabfunde und Beigaben lassen darauf schließen, daß man während des Altneolithikums noch an ein Leben nach dem Tode geglaubt hat, während in späteren Phasen (nach 6000 v. Chr.) der Tote ohne Beigaben bestattet wurde und demnach die Vorstellungen an Abstraktion gewonnen zu haben scheinen. 3 Der erste abstrakte Dekor tritt etwa auf Gefäßen und Schalen um 4300 v. Chr. auf, entwickelt sich dann allmählich zu einer qualitativ hochstehenden Topferornamentik, so daß die Keramik sich durchaus mit den besten Produkten aus Persien (Susa) und Irak (Samarra) messen kann. Der Steinbockdekor auf einigen Keramikscheiben aus Mehrgarh III, um 4000 v. Chr., läßt sich zeitlich und stilistisch etwa mit dem bekannten Becher aus Susa im Louvre vergleichen. Eine Affinität zwischen diesen altneolithischen Bauernsiedlungen in Baluchistan und die des Zagros im nördlichen Iran ist weiters festgestellt worden, sowohl was die Techniken, Funde und Architektur als auch was die Totenrituale betrifft, so daß von einer gewissen Kontinuität der Entwicklung auf dem asiatischen Kontinent gesprochen werden kann, dem sich dann die Hochkulturen im Zweistromland und im Nildelta anschließen. In der späteren Blütezeit der hochentwickelten Stadtkultur von Mohenjo Daro und Harappa (um 2 5 0 0 - 2 0 0 0 v. Chr.) konnten direkte Kontakte mit Sumer und dem nordbabylonischen Raum anhand von Siegelfunden im Zeitraum 2 1 5 0 - 1 7 0 0 nachgewiesen werden. 4 Im Prinzip kann man in der alten neolithischen Kunst, etwa 7000—4000 v. Chr., von einer abstrakten Tendenz sprechen, zumindest was die Ornamentik und die später einsetzenden Tierdarstellungen betrifft. In den drei Hochkulturen freilich wandelt sich das Bild. Neue Aspekte der

Bildstruktur, der Plastik, des Figurenstils und der Erzähltechnik tun sich auf, die für die Frage nach der „Zeit im Bild" von Belang sind. Während eine gewisse Kontinuität zwischen der mesolithischen Kunst in Spanien und Afrika angenommen werden darf, ist nichts Sicheres hinsichtlich der Verbindung zwischen Fundorten in Asien, dem iranischen Hochland oder gar dem Industal bekannt. Die plumpe Darstellung eines Stieres aus Catal Hüyuk um 6000 v. Chr. (heute in Ankara, Museum) läßt nichts von der Bewegtheit und Dynamik der füheren Tierdarstellungen spüren - die lebhaften kleinen Silhouetten der Jäger hingegen, die um den Stier schwirren, erinnern freilich an die dynamischen Schattenfiguren in den Felsmalereien Spaniens und Afrikas (Abb. 20). 5 Die gegebenen Verhältnisse mögen zu einer ähnlichen künstlerischen Lösung geführt haben. Bemerkenswert sind ferner die kleinen Vollpastiken aus Catal Hüyuk, etwa die einer gebärenden Göttin, in denen das Motiv der Fruchtbarkeit und der Geburt sich als Akt in der Präsenzzeit abspielt. Von der Tonplastik greift die Thematik auf die frühe Keramik über - eine solche Gefäßfigur von etwa 5300 v. Chr. aus Ha^ilar befindet sich in Ankara. Die einfache aber schlagende Verbindung von Funktion und Form der menschlichen (aber auch tierischen) Gefäßfigur lassen den Sinngehalt unmittelbar aufscheinen; die tragenden Vorstellungen von Zeugung und Fruchtbarkeit in den frühen seßhaften Kulturen finden darin eine ebenso einfache wie tiefgründige Umsetzung, die im täglichen Leben unmittelbar begriffen werden konnte (Abb. 21): Präsenz in der vereinfachten, haptischen Form, unmittelbare Sinnfälligkeit im Gebrauch des Gefäßes selbst. Vielleicht ist es gerade diese archetypische Qualität, die zu der ungeheuren Kontinuität dieser Gefäßform geführt hat (vgl. das Gefäß aus Kaluraz um 700 v. Chr., Ankara Museum). 6 Kennzeichnend für die Keramik ist die symmetrische Rundform und die von der Töpferscheibe bedingte Standfläche, die freilich auch in der altneolithischen Kleinplastik als große Neuerung auftaucht. Diese Figuren und Gefäße sind oft auf wesentliche charakteristische Merkmale beschränkt, weisen zugleich eine erstaunlische Dynamik der Bewegungsmotive auf. Hier sei etwa auf eine „Tanzende" der prädynastischen Amra-Kultur in Unterägypten um 4000 v. Chr. verwiesen (Ashmolean Museum, Oxford) oder die schlanke Tonfigur aus Marmarija mit ihrer ausladenden Geste (New York, Brooklyn Museum - Abb. 22). 7 Sollte hier Invokation oder Epiphanie angezeigt werden? Kombi-

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Frühe Hochkulturen

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Stier und Jäger, Catal Hüyuk, um 6000 v. Chr., Ankara

niert wird diese unmittelbar lebendige plastische Gestaltung (etwa in der „tanzenden Figur") mit einem abstrakten Oberflächenmuster, dem vermutlich auch symbolische Bedeutung zukommt. In den Gefäßen und Vasen können wir denselben Prozeß beobachten: Auf die plastische Gestaltung des Gefäßes selbst folgt der abstrakte Nachvollzug durch die Betonung seiner Tektonik im Dekor. Vom dynamisch kreisenden Zentrum ausgehend, sehen wir etwa auf dem Boden

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Gefäßfigur, Ha^ilar, um 5300 v. Chr., Ankara

der offenen Schalen strahlenförmige Kronenblätter, die auf ein breites, von Textilien oder Flechtarbeiten entlehntes Bandmuster stoßen (Schale aus Teil Haläf, aus Arpatschiyya, Bagdad, Irak Museum, erste Hälfte 5. Jh. v. Chr.); oder die Tiermotive auf dem Grund einer Schale aus Samarra, die in stilisierter, aber doch ungemein bewegter Weise in einer Folge um das Schalenrund dargestellt sind, so daß die Beine und die Hörner der Böcke vektorenhaft Geschwindigkeit und Dynamik der Drehbewegung vermitteln (Abb. 23). So fließt gleichsam das Zeitmoment des Produktionsablaufs in das Gestaltungsmuster mit ein. Die Außenseiten der Schalen und Vasen sind hingegen nur zum Teil von der Vasenform abhängig — zu den konstanten Umlaufbändern kommen Rahmendekor und Flechtmuster hinzu. In die Felder werden Bilder von Bergziegen, Steinböcken, Sumpfvögeln und Wildeseln eingesetzt, die Umwelt und Fauna widerspiegeln. Sie sind als schwarze oder weinrote Silhouetten meist in Seitenansicht erkennbar und mit rein ornamentalen Zeichen kombiniert. Die Stilisierung geht soweit, daß die Körperformen auf geometrische Figuren reduziert werden und die organischfunktionale Darstellung dem ornamentalen Flächenmuster weichen muß (Abb. 24). Dynamik und Bewegung werden in Kreise und Spirale umgesetzt, die sich motivisch zwar auf die charakteristische Hornform der betreffenden Tiere zurückführen lassen, allein schon aber in ihrer abstrakten Prägung Leben und Bewegung evozieren. So erscheinen sie als Bilder und Figuren zwar völlig dem Kontext des Diesseitigen und Zeitlichen enthoben, sagen aber dennoch etwas Prinzipielles darüber aus. In der Keramik von Susa I (nach 4000 v. Chr.) stehen lt. Guido Kaschnitz von Weinberg die Zickzacklinien für den Okeanos, die runde Scheibe

Frühe

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Magisches Tonfigürchen, Marmarija, um 4000 v. Chr., Brooklyn Museum, New York

Hochkulturen

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Schale mit Bockdekor, Samarra, Hassuna, um 5000 v. Chr., Irak Museum, Bagdad

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Vase mit Steinbockdekor, Susa I, Anfang 4. Jh. v. Chr., Louvre, Paris

(zuweilen mit dem Kreuz der Himmelsrichtungen versehen) für die Erde, ein mehrstreifiges Band für den Himmel und Hakenkreuze für die Sonne. 8 Doppelköpfige Tiere (womöglich auch die spiegelsymmetrische Darstellung derselben) repräsentieren den lebenspendenden Regen. Der Jahreszyklus wird in seiner Periodizität als Dauer begriffen, Welt und kosmische Zeit finden in der Prägung symbolischer Zeichen ihre bleibende Form. Manche Zeichen wie Fische oder auf Dreiecke reduzierte Körper von Ziegen rufen meines Erachtens solche Zeichen ins Gedächtnis, die etwa auf den sog. „Batons de commandement" im Paläolithikum als Gravuren auftauchen und durchweg mit Vorstellungen von männlicher Zeugungskraft und weiblicher Fruchtbarkeit in Verbindung zu bringen sind. So könnte man die rein mit geometrischen Mustern ausgestattete Vase aus Susa I im Louvre mit den Zickzackbändern, Rhomben und Federn auf die Thematik der Fruchtbarkeit beziehen: den Okeanos, das Wasser, weibliche und männliche Sexualität (Abb. 25). Der archetypische Charakter der Zeichen und Ornamente bleibt freilich nur eine Hypothese. Nur selten taucht die menschliche Figur als Motiv in dieser frühen Keramik auf. Im Prinzip wird auch hier ein hohes Maß an Abstraktion gewahrt, man siehe etwa die Figur mit dem invokativ emporgehobenen Händen auf einer Schale aus Bakun Kaftari um 4000 v. Chr. (London, British Museum). Eine Ausnahme bildet die kleine bewegte

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Frühe Hochkulturen

sich durch lebhafte Figurendarstellungen aus, die sich völlig von der abstrakten Tendenz im vorangegangenen Jahrtausend unterscheiden. So sehen wir auf einer Granitstele aus Uruk bärtige Männer mit Stirnbändern mit Speer oder Pfeil und Bogen bei der Löwenjagd (Abb. 26). Bodenlinien und räumliche Organisation im strengeren Sinne fehlen. Hier geht es vor allem um die dramatische Konfrontation zwischen Jägern und Löwen. Plastisch zupackend und möglichst naturgetreu versucht der Künstler das Jagdgeschehen zu schildern; das Motiv der Löwenjagd mag hier, wie später in Assyrien, dem Herrscher vorbehalten gewesen und deshalb als Ausdruck seiner Macht in den Granit verewigt worden sein. Von einem festgelegten formalen Kanon kann noch keine Rede sein — so fehlt z. B. die markante Frontalansicht der Schultern, die auf späteren Stelen und Reliefs aus Chafadje, Ur und Lagasch maßgeblich wird. Dies gilt auch für die flachen Reliefs auf der Alabastervase aus Uruk (Bagdad, Irak Museum-Abb. 27). In dem oberen Register bringt ein König (?) der Priesterin oder Göttin (Inanna?) einen Korb mit Früchten dar, darunter sehen wir 25

Vase mit geometrischen Mustern, Susa I, Anfang 4. Jh. v. Chr., Louvre, Paris

Silhouette eines Bogenschützen auf einer Schale aus Susa (Louvre) wohl aus derselben Zeit, die charakteristischerweise von Seton Lloyd nur als „rahmenfüllendes Motiv" bewertet wird. 9 Zeitlichkeit und Illusion werden demnach in diesem Kontext eher abwertend als ephemer beurteilt, während die ornamentalen Zeichen den Bezug zum Kosmos anzeigen, Dauerhaftes repräsentieren.

Sumer Mesopotamien Die Herkunft der Sumerer ist ungewiß, ihre Spuren verlieren sich im iranischen Hochland. Ein gewisser Kontakt zu der Zivilisation im Industal ist wohl nicht auszuschließen. In Mesopotamien entwickelte sich im 3. Jahrtausend, parallel zu der ägyptischen Kultur im Marschland des Nildeltas, eine Ackerbaukultur, die allmählich von einigen administrativen und religiösen Zentren aus beherrscht wurde. Vornehmliches Material waren Lehm und Schilf, die Architektur und Kunsthandwerk ihren Stempel aufdrückten. Hinzu kamen später vorzügliche Arbeiten in Stein, Lapislázuli, Muscheln und Gold. 10 Zwei Werke aus dieser frühdynastischen Periode weisen

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Löwenjagd, Granitstele aus Uruk, 3. Viertel 4. Jh. v. Chr., Irak Museum, Bagdad

Sumer Mesopotamien

den reich gefüllten Tempelspeicher; in dem mittleren Register erscheint eine Prozession von nackten Figuren (Priestern?), die Körbe tragen, in den beiden unteren folgen eine Reihe von Ziegen und Rindern sowie eine Zone mit Schilfgewächsen und ein Wellenband. Der strenge Aufbau der einzelnen Register von der Vegetation über das Tierreich bis zu den Menschen und dem gottähnlichen König und der Göttin darf als Sinnbild der festgelegten Hierarchie in der Welt verstanden werden, innerhalb derer die Gestalten sich in streng geschlossenen Kreisen bewegen. Die Darstellung der Einzelfiguren, freilich, ist noch unbefangen, von Verkürzungen und Überschneidungen geprägt. Die Bänder mit ihren Randleisten dienen zugleich als Rahmen und Standlinien, so daß hier zum einen ein festes Gerüst für die streng horizontal ablaufenden Prozessionen geschaffen wird, zugleich jedes Ausscheren aus dieser unveränderlichen Ordnung oder gar eine vertikale Bezogenheit unterbunden wird. Bewegung-Leben-Zeitlichkeit scheint zwar ein Charakteristikum des Einzelwesens zu sein, als solches bleibt es aber streng in der überzeitlichen Ordnung eingebunden. Die Vase erscheint als Bild der Welt - vom Fuß und dem darauf folgenden Wellenband und den Stauden führt die Abfolge bis zu der Begegnung von Gott und König unter dem oberen Rand, der Grenze zwischen Himmel und Erde. Die zyklische Wiederkehr der Gezeiten und Uberschwemmungen und die Hierarchie des Kosmos und der Welt dienten dem Menschen und der Gesellschaft als Schutz und Gewähr für Fruchtbarkeit und Fortbestand. Einen unmittelbaren Niederschlag finden diese strikten Ordnungsprinzipien, die das Leben der Natur und der Gemeinschaft regeln, in den gigantischen, in Terrassen angelegten Zikkurats (in Ur, Eridu, Uruk, Nippur um 2 2 9 0 - 2 0 4 0 v. Chr.). Der Stufentempel diente als Heiligtum, astronomischer Aussichtspunkt, Kultbau und womöglich auch als Kornspeicher; er vermittelte zwischen Volk, Priester und Gottheit. Dauer wird hier in der rigiden, stereometrischen Form niedergelegt, Kalkül und Vorhersehbarkeit bestimmen den Bau wie jene Serien astronomischer Messungen, die über Jahrhunderte später tabellarisch

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Alabastervase aus Uruk, 3. Viertel 4. Jh. v. Chr., Irak Museum, Bagdad

in Babylon bis zur Zeitenwende fortgesetzt wurden. Die fundamentale Rolle der Priester und Könige bei der Zeitbestimmung, die den Fortbestand der Gesellschaft in den agrarischen Kulturen zu sichern hatten, wird von Elias hervorgehoben. 11 Die Naturzeit wurde hier wie auch schon in Ägypten gemessen, astronomisch-chronologisch geordnet und fixiert. Dementsprechend plante und baute man nach rationalen Prinzipien. Für die Dynamik und Unregelmäßigkeit bewegter Figuren war hier zunächst kein Platz.

U m so charakteristischer die Gestaltung jener dämonischen Kräfte und Mächte in der Natur, derer sich der Mensch in seiner zivilisatorischen Tätigkeit zu erwehren suchte. So begegnet uns in der kleinen Marmorfigur im Brooklyn Museum (New York) ein Monster, halb Löwin, halb Frau, in ungebändigter Drehung und Bewegung (wohl aus voroder frühdynastischer Zeit).

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Frühe Hochkulturen

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Standarte vom Königsfriedhof, Kriegsseite, Ur, um 2 6 8 5 - 2 6 4 5 v. Chr., British M u s e u m , London

Als ein entscheidender Schritt in Richtung eines gesellschafilichen Zeitbewußtseins dürfen wir das eigentliche historische Bewußtsein bewerten, das sich im Rahmen der sich schnell entwickelnden frühen Hochkulturen in Mesopotamien und Ägypten herauskristallisiert. Auf Stelen und Standarten werden im ersten Falle Namen und Taten der Könige und Herrscher überliefert, militärische Siege sowie mehr alltägliche Ereignisse wie die Errichtung eines Gebäudes oder die Anlage eines Kanals festgehalten. So sehen wir auf den beiden in Mosaik mit Muscheln, Karneol und Lapislazuli eingelegten Seiten der Standarte (oder des Klangkastens) vom Königsfriedhof in Ur (um 2685-2645 v. Chr.) die kleinen Figuren in jeweils drei Registern aufgereiht: auf der „Kriegsseite" im unteren Streifen vier Streitwagen mit Lenkern und Speerwerfern, die sich von links nach rechts bewegen (Abb. 28 a). Während der erste Wagen durch die Beinstellung des Gespanns nur langsam zu rollen scheint, setzen die folgenden drei „im Galopp" über die besiegten, auf der Bodenlinie liegenden Figuren hinweg. (Man beachte den Versuch, die verschränkte Armhaltung der Gefallenen und deren Wunden wiederzugeben!) Helme und Felle ebenso wie die Lanzen und Axte dürften der Realität entsprochen haben. Auch im mittleren Register geht es nicht ohne Dramatik ab: Die etwas monotone Reihung der Krieger links mit ihren Mänteln, Kapuzen und Schürzen wird in der Mitte von zu Boden geworfenen Feinden unterbrochen, die nach rechts nackt abgeführt werden, um dann in der obersten Reihe,

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von rechts kommend, dem Herrscher vorgeführt zu werden, der in der Mitte des Bildfrieses, alle anderen überragend, mit einem Sonnenschirm, Stab oder einer Keule in der Hand erscheint. Hinter ihm die Gefolgsleute sowie der leere Streitwagen, hinter dem der Kutscher, in diesem Fall mit seiner Streitaxt, einherschreitet. Man kann demnach eine Reihe von erzählerischen Merkmalen festhalten, die dazu beitragen, den dramatischen Charakter des fortlaufenden Berichts zwischendurch zu erhöhen, ohne daß der Anspruch auf Monumentalität und Repräsentanz aufgegeben würde. Dies wird insbesondere durch die Tendenz zur Symmetrie im mittleren und oberen Register gewährleistet, natürlich auch durch die Wertperspektive der Herrschergestalt, nicht viel anders als die Darstellungsprinzipien, die auf den Reliefs des Konstantinbogens bestimmend werden sollten. Mir scheint auch ein signifikanter Unterschied im „Darstellungscode" zwischen den Kriegern/Hofleuten und den Bediensteten/Gefangenen zu bestehen. Während die Vertreter der ersten Kategorie den Kopf im strengen Profil, die Schultern von vorne und die Beine in Seitenansicht zeigen, weisen die weniger bedeutsamen Figuren Verkürzungen und Überschneidungen auf. Also: charakteristische, ideoplastische Körperdarstellungen bei hochgestellten Personen der Gesellschaft, funktionale „naturgetreuere" Darstellungen bei den Dienern - d. h. im ersten Falle Reduktion, im zweiten Verstärkung der zeitlichen Bezugnahme zum Betrachter. Diese Unterscheidung tritt noch stärker in der ägyptischen Kunst auf.

Sumer Mesopotamien

mm?

28 b

In ähnlicher Weise ist die „Friedensseite" des Klangkastens strukturiert (Abb. 28 b). Im unteren und mittleren Register jeweils von links nach rechts eine Prozession von Sklaven, Gefangenen und Bediensteten mit Beute, Böcken und Rindern; im oberen Streifen, wie bei der Pendanttafel, gelangt die Prozession von rechts kommend zu dem Herrscher links, der auf seinem Thron sitzt, den Becher in der Hand. Sechs Würdenträger sitzen ihm zugewandt mit erhobenen Bechern auf ihren Schemeln. Im Gegensatz zu der symmetrisch endenden Huldigung des Siegers in der Mitte der ersten Tafel endet der Erzählfries mit dem Festgelage in der oberen linken Bildecke. Nur sukzessiv erschließt sich dem Betrachter das Geschehen vom Kampf und Sieg bis zur Prozession und zum Festgelage, steigert sich die Darstellung zur Huldigung und zur festlichen Apotheose des Herrschers und seiner Nächsten. In der späteren Hälfte der frühdynastischen Zeit in Sumer, der sog. Meskalandu-Phase (um 2685-2645 v. Chr.), tauchen verstärkt Tiere und Fabelwesen in den Einlegearbeiten, in der Glyptik sowie in der Kleinplastik auf. Verschiedene Gestaltungsmodi kommen hier zur Anwendung: Figuren in Vorder- und Seitenansicht, in Schrittstellung und Kampfhaltung, in vollem Lauf oder in charakteristischer, dem wirklichen Leben abgeschauten Stellungen. Der Mensch im Spannungsfeld der fruchtbaren, aber auch dämonischen Kräfte der Natur, versinnbildlicht durch Tiergestalten und mythische Wesen, halb Mensch, halb Tier. Mythos, Ritus oder Fabel - um welchen Inhalt es sich auch handeln mag, all dies öffnet ein weites Feld differen-

Standarte vom Königsfriedhof, Friedensseite, Ur

zierter zeitlicher Darstellungsformen, auf die hier nur beispielhaft eingegangen werden kann. Dem Klangkasten aus Uruk nahestehend im Figurenstil, wobei Binnenzeichnung und Individualisierung der Figuren entschieden weitergebildet werden, erscheinen die Menschen- und Tierfiguren auf einem Leierkasten aus Ur (University Museum, Philadelphia, Pennsylvania — Abb. 29). Zwei auf den Hinterläufen stehende Stiere werden vom Helden Gilgamesch, der in strenger Frontalansicht von Kopf und Schultern gezeigt wird, bezwungen; Hüften und Beine sind seitlich wiedergegeben — durch diese Selektion des „typischen" Aspekts werden Stärke und Dominanz angezeigt, die das dramatische Geschehen zu einer Formel erstarren läßt, die als solche immer wieder zur Anwendung gelangt. Die Uberwindung funktional-zeitlicher Bezüge wird hier insbesondere durch die Symmetrie bewerkstelligt, die als hierarchisches Mittel zur Ausschaltung ephemerer Zeitaspekte dient. Erzählerischer und demgemäß asymmetrischer, in flächenparalleler Bewegung auf dem Bodenstreifen vor neutralem Grund, erscheinen die fabelähnlichen Tierfiguren der unteren Register: von rechts nach links der mit Speis und Trank aufwartende Wolf und der Löwe, der Esel, eine Harfe spielend, die von einem Bären gestützt wird, während die assistierende kleine Wüstenziege auf einem Schlaginstrument, einem ägyptischen Sistrum, begleitet. Zuunterst ein „Skorpion-Mann" mit invokativ erhobenen Händen — im Gilgamesch-Epos Bewacher der Region des Sonnenaufganges - von einer Gazelle mit Pokalen gefolgt. Nach Henri Frankfort haben wir

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Von außerordentlicher Kunstfertigkeit sind die qualitativ hochstehenden kleinen Tierplastiken, Kunst- und Gebrauchsgegenstände, die ebenfalls um 2 6 8 5 - 2 6 4 5 v. Chr. entstanden sind und im sog. „Königsgrab" in Ur gefunden wurden (Abb. 30). Der auf den Hinterläufen stehende Geißbock am Blütenstrauch, der aus einem mit Gold verkleideten Holzkern aus Lapislázuli, Silber und anderen Materialen gefertigt wurde, zeugt von dem hohen Grad an Kunstfertigkeit und Naturtreue, der hier erstrebt wurde. Nicht nur wurde ein charakteristischer Moment der Haltung und Bewegung festgehalten, sondern dieser wiederum der Funktion des Geräts, wahrscheinlich eines Ständers, dienstbar gemacht. Die präzise Erfassung des Bockes und seiner flüchtigen Bewegung wird in den Werdeprozeß der künstlerischen Projektion und Gestaltung eingebunden. Das Motiv des stehenden Tieres selbst taucht wiederholt in der Glyptik auf, dabei oft menschliche Figuren flankierend. Die virtuose Erfassung des Momentanen und die gleichzeitige liebevolle Ausfuhrung aller Einzelheiten läßt den Ziegenbock aus Ur fast als ein „manieristisches" Kunstwerk der Frühzeit erscheinen.

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Leierkasten, Ur, University Museum, Philadelphia (Pa.)

es vermutlich mit der mythologisch verwurzelten Darstellung eines Tierorchesters zu tun, das wiederholt im Laufe der Jahrhunderte in der mesopotamischen Kunst auftaucht. 12 Somit werden der erzählerische Charakter der Szene und die „funktionale" Darstellung der Tiere mit ihren vermenschlichten Details doch aus dem Kontext der Realität und des Zeitlichen gerückt, das Lebendige im zeitlosen Rahmen des Mythischen aufgehoben.

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Die auf dem Leierkasten so beeindruckend eingesetzte Symmetrie, die in der Textilkunst etwa im sog. „Wappenstil" in den unterschiedlichsten Zusammenhängen als repetitives Ornament auftaucht, mag zuletzt auf die Siegelkunst zurückzuführen sein. Ohne Zweifel ergeben sich aus der Funktion der „Abrollung" zwei völlig gegensätzliche Gestaltungsprinzipien, die als Bejahung und Betonung des Zeitaspekts bzw. seiner Verneinung und Aufhebung charakterisiert werden dürfen. Im ersten Falle wird die fortlaufende Bewegung z. B. in Gestalt von stark stilisierten, in Seitenansicht wiedergegebenen Tieren festgehalten - etwa die wogende vorwärtsdrängende Bewegung einer Herde, die sich beliebig fortsetzen läßt (Abb. 31). Aus diesem zeitlichen Strom der vorübereilenden Körper, die ähnlich wie im Vasendekor zu Bewegungs- und Kraftlinien reduziert sind, wird ein ornamentales Muster erstellt, das in erster Linie den Eindruck von der Dynamik des Bewegungs- und Zeitablaufs vermittelt, vergänglich und zugleich sich wiederholend wie das Leben selbst (vgl. Siegelabrollung aus der ersten Phase der frühdynastischen Zeit). Eher auf ein existentielles Prinzip denn auf die naturalistische Wiedergabe des Sichtbaren ist dieser Stil gerichtet, was auch aus seiner Benennung desselben als „Brokatstil" hervorgeht. 13 Die gegensätzliche Position wird von einer Reihe von Siegeln aus der späteren, frühdynastischen Zeit eingenommen (Abb. 32). Mythische Tiere, Böcke und Löwen werden einander gegenübergestellt oder symmetrisch um eine meist frontal wiedergegebene, zentrale Gestalt grup-

Sumer

Mesopotamien

piert. Aus der Verflechtung der oft verschlungenen Leiber der Löwen schälen sich infolge des strengen Kompositionsschemas einzelne Figuren heraus, denen die anderen untergeordnet werden. Beherrschung, Beschwörung und Dominanz — zuweilen auch inhaltlich durch die maskenhaften Figuren evoziert — werden demnach durch Gestaltungsprinzipien zur Anschauung gebracht, die der Zeitlichkeit zuwiderlaufen: Fixierung der Bewegung durch Frontalstellung; symmetrische Anordnung von Figuren. Das Bild tritt uns als ein abgeschlossenes Ganzes, ein aus der Kontinuität der Abrollung und des Zeitstroms herausgelöstes autonomes Gebilde entgegen. Struktur und Motive der frühen Zylindersiegel sind sich oft überraschend ähnlich, auch wenn sie aus weit auseinanderliegenden Zentren und Kulturen stammen; so etwa die Siegel aus Monhenjo Daro, fast zeitgleich mit den sumerischen und ihnen technisch sogar überlegen. Wiewohl die Siegel in erster Linie im „profanen" Zusammenhang der frühen Hochkulturen, wie dem des Handels, zur Anwendung kamen und dadurch große Verbreitung fanden (Siegel der Induskultur sind in Mesopotamien von etwa 2150 v. Chr. an aufgetaucht, mesopotamische wiederum in Oberägypten), so spiegeln sie nach Motiv und Struktur doch Vorstellungen existentieller Natur. Implizit ist darin auch die Zeiterfahrung enthalten, die die bildhafte Umsetzung, Struktur und Komposition mitbestimmt. Dies trifft auch auf die literarische Gestaltung ritueller und mythologischer Stoffe zu, in denen sagenhafte Gestalten, Dämonen und Tiere vorkommen. Sterblich ist der Mensch, Teil des Werdens und Vergehens der Natur. Nur aus der gesicherten Lebensordnung, und beschränkt durch den Nachruhm in Gestalt der Kunst, überdauert er als Kette des Geschlechts oder in der Erinnerung der Nachkommen. Das Rätsel der Unsterblichkeit zu ergründen ist Ziel des Gilgamesch, des Helden in dem ersten großen Epos der Menschheitsgeschichte aus semitisch-akkadischer Zeit; aber letztlich ist die Sterblichkeit (Zeitlichkeit) des Individuums als Faktum und Geschick hinzunehmen: „Denn als die Götter den Menschen schufen, ließen sie zugleich den Tod sein Geschick sein, während sie das Leben in ihren eigenen Händen zurückhielten." 14 In der Erinnerung an seine Täten, den Nachruhm, besteht für den Menschen, zumindest für den Herrscher, eine Möglichkeit, die Zeit zu überdauern; vielleicht erwuchs aus diesem Bestreben zunächst das historische Bewußtsein gewisse Handlungen ritueller, praktischer und nicht zuletzt martialischer Natur wurden für so wichtig, rühmenswert und zukunftsträchtig gehalten, daß sie in kommemorativen Darstellungen sowie durch Inschriften verewigt wurden. So

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Geißbock am Blütenstrauch, Königsgrab in Ur, um 2685—2645 v. Chr., British M u s e u m , London

finden wir zu Beginn der zweiten dynastischen Periode um (2500 v. Chr.) bis zum Ende der dritten (um 2425/2340 v. Chr.) Gedenktafeln und Stelen mit Reliefdarstellungen von der Feier des Neujahrsfestes (Stele von Khafaje, Bagdad, Irak Museum), vom Bau eines Tempels in Lagash durch den König Urnansche oder die berühmte Siegesstele Eannatums aus Tello (beide im Louvre). 15 In ähnlicher Weise wie auf dem Klangkasten in London bewegen sich die Figuren flächenparallel auf den Grundlinien. Bei aller Liebe für das charakteristische Detail (Musikinstrumente,

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Siegelabrollung, Sumer, frühdynastisch