Hybridität und Spiel: Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit 9783050064963, 9783050058399

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Hybridität und Spiel: Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit
 9783050064963, 9783050058399

Table of contents :
Einleitung
Gattung und Reflexion
Ein idyllischer Roman ohne Idylle. Zu Paris et Vienne
Eine Verlegenheitslösung. Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik
The Residue of History: Quotation Marks and Character Speech in Bartsch’s. Edition of Konrad’s Partonopier und Meliur
Herkunft und Hybridität: Biopolitics of Lineage in Mai und Beaflor
Hintergangene und Hintergeher. Überlegungen zu einer Poetik der Intrige in Mai und Beaflor, Friedrich von Schwaben und Wilhelm von Österreich
Inzest und Emotion im Liebes- und Abenteuerroman
Vorgeschichten. Inzestthematik im Liebes- und Abenteuerroman
Spatializing Time: The Adventure of Multiple Temporalities in Chaucer’s. Man of Law’s Tale
Das Begehren der Dinge
Gegenweltliche Dingobjekte im Apollonius von Tyrland – das Schachspiel
Brief und Briefwechsel im Minne- und Aventiureroman. Phänomenologie – Funktionalität – Perspektiven
Die Struktur des Begehrens. Erzählprinzipien des mittelhochdeutschen Minneund Aventiureromans
Der antike Liebes- und Abenteuerroman und sein Weiterleben bis in die Neuzeit
Retelling the Tale: The Byzantine Rewriting of Floire and Blancheflor
Charitons Kallirhoe: Ein früher antiker Liebesroman und seine späte Entdeckung
Historia und Episteme in der Aethiopica Historia
Liebe, Abenteuer und weibliche Autorschaft: Charlotte Schillers Die Königinn von Navarra als novellistische Umdichtung der historischen Geschicke Marguerites de Navarre
Raum und Erzählen
Raumverschaltungen als Erzählprinzip im Minne und Aventiureroman? Überlegungen zum Partonopier Konrads von Würzburg
Lose Enden. Nichterzähltes und Unbeendetes in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur
es wil mein namen nirgez nenen. Identitätskonstruktionen in der jiddischen Paris un Viene-Adaption
Der Liebes- und Abenteuerroman im Spätmittelalter
Hybridität und Gattungsmischung in Pierre de Provence et la Belle Maguelonne
Verblasste Wunder: Zum Umgang mit dem Wunderbaren in Warbecks Magelona
Echoes of the Romance in the Galician-Portuguese Prose Narrative: the Lenda de Gaia
Konversion und problematische Gewissheit Transformationen des antiken Liebesromans und der frühchristlichen acta-Literatur in legendarischen Liebes- und Abenteuerromanen des Mittelalters
Autoren- und Werkregister

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Hybridität und Spiel

Martin Baisch, Jutta Eming (Hg.)

Hybridität und Spiel Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung des Interdisziplinären Zentrums „Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit“ der Freien Universität Berlin.

Titelbild: Holzschnitt zum Roman Florio und Bianceffora, Design: Bill C. Ray Einbandkonzept: hauser lacour Einbandgestaltung: pro:design, Berlin Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2013 Akademie Verlag GmbH www.degruyter.de/akademie Ein Unternehmen von De Gruyter Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN eISBN

978-3-05-005839-9 978-3-05-006496-3

Inhaltsverzeichnis

Martin Baisch (Berlin/Konstanz), Jutta Eming (Berlin) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gattung und Reflexion Friedrich Wolfzettel (Frankfurt am Main) Ein idyllischer Roman ohne Idylle. Zu Paris et Vienne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Christine Putzo (Lausanne/Neuchâtel) Eine Verlegenheitslösung. Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Lydia Jones (Berlin) The Residue of History: Quotation Marks and Character Speech in Bartsch’s Edition of Konrad’s Partonopier und Meliur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Markus Stock (Toronto) Herkunft und Hybridität: Biopolitics of Lineage in Mai und Beaflor . . . . . . . . . . . . 93 Matthias Meyer (Wien) Hintergangene und Hintergeher. Überlegungen zu einer Poetik der Intrige in Mai und Beaflor, Friedrich von Schwaben und Wilhelm von Österreich . . . . . . . . . . . . 113

Inzest und Emotion im Liebes- und Abenteuerroman Nora Hagemann (Berlin) Vorgeschichten. Inzestthematik im Liebes- und Abenteuerroman . . . . . . . . . . . . . . 135 Andrew James Johnston (Berlin) Spatializing Time: The Adventure of Multiple Temporalities in Chaucer’s Man of Law’s Tale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

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Inhaltsverzeichnis

Das Begehren der Dinge Margreth Egidi (Paderborn) Gegenweltliche Dingobjekte im Apollonius von Tyrland – das Schachspiel . . . . . . 177 Martin Baisch (Berlin/Konstanz) Brief und Briefwechsel im Minne- und Aventiureroman. Phänomenologie – Funktionalität – Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Franziska Wenzel (München) Die Struktur des Begehrens. Erzählprinzipien des mittelhochdeutschen Minneund Aventiureromans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Der antike Liebes- und Abenteuerroman und sein Weiterleben bis in die Neuzeit Stavroula Constantinou (Nikosia) Retelling the Tale: The Byzantine Rewriting of Floire and Blancheflor . . . . . . . . . Günter Berger (Bayreuth) Charitons Kallirhoe: Ein früher antiker Liebesroman und seine späte Entdeckung . Jutta Eming (Berlin) Historia und Episteme in der Aethiopica Historia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gaby Pailer (Vancouver) Liebe, Abenteuer und weibliche Autorschaft: Charlotte Schillers Die Königinn von Navarra als novellistische Umdichtung der historischen Geschicke Marguerites de Navarre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Raum und Erzählen Annette Gerok-Reiter (Tübingen) Raumverschaltungen als Erzählprinzip im Minne und Aventiureroman? Überlegungen zum Partonopier Konrads von Würzburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Uta Störmer-Caysa (Mainz) Lose Enden. Nichterzähltes und Unbeendetes in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Annegret Oehme (Chapel Hill/Durham) es wil mein namen nirgez nenen. Identitätskonstruktionen in der jiddischen Paris un Viene-Adaption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Inhaltsverzeichnis

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Der Liebes- und Abenteuerroman im Spätmittelalter Brigitte Burrichter (Würzburg) Hybridität und Gattungsmischung in Pierre de Provence et la Belle Maguelonne . . Peter Baltes (Berlin) Verblasste Wunder: Zum Umgang mit dem Wunderbaren in Warbecks Magelona . . John Greenfield (Porto) Echoes of the Romance in the Galician-Portuguese Prose Narrative: the Lenda de Gaia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Röcke (Berlin) Konversion und problematische Gewissheit Transformationen des antiken Liebesromans und der frühchristlichen acta-Literatur in legendarischen Liebes- und Abenteuerromanen des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autoren- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

Einleitung

Der vorliegende Band versammelt die Ergebnisse einer Tagung, die vom 30.9.–02.10.2011 an der Freien Universität Berlin veranstaltet wurde. Anlass und Gegenstand dieser Tagung war der Versuch einer vorläufigen Bilanz: Beim Liebes- und Abenteuerroman handelt es sich um eine von der hellenistischen Antike über Mittelalter und Frühe Neuzeit bis in das Barock beliebte und bis in das 19. Jahrhundert hinein immer noch bekannte, reflektierte und teils parodierte Gattung. Die Handlung um ein Liebespaar, das durch äußere Einwirkung voneinander getrennt wird und erst durch die Überwindung großer räumlicher Distanzen wieder zusammen kommt, stellt – wenn Dauer und Verbreitung eines Erzähltyps zum Maßstab für Popularität gemacht werden können – das erfolgreichste Romangenre der Weltliteratur überhaupt dar. Von den Philologien ist die Gattung jedoch lange vernachlässigt worden und handelte sich früh das Verdikt der Trivialität ein. Erst seit etwa der Mitte der 80er Jahre änderte sich in den historischen Literaturwissenschaften diese Situation nachhaltig. Die Tagung wollte Ergebnisse der bisherigen Arbeit auf internationaler und interdisziplinärer Basis resümieren und davon ausgehend versuchen zu bestimmen, welche weiter führenden Perspektiven sich inzwischen ergeben haben und wo nach wie vor Desiderate bestehen. Der internationale und interdisziplinäre Zuschnitt der Zusammenkunft war sowohl durch die Überlieferungs- als auch durch die Forschungsgeschichte begründet. Denn einige der wichtigsten Impulse für die Wiederentdeckung des Genres gingen – und gehen bis heute –1 von der internationalen klassischen Philologie und Untersuchungen zu den ersten, griechischen Vertretern der Gattung aus.2 1

So etwa durch den instruktiven Band: The Cambridge Companion to the Greek and Roman Novel. Hrsg. von Tim Whitmarsh, Cambridge 2008. 2 In chronologischer Reihenfolge sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – zu nennen: Otto Weinreich: Der griechische Liebesroman, Zürich 1962; Isolde Stark: Zur Erzählperspektive im griechischen Liebesroman. In: Philologus 128 (1984), S. 256–270; Heinrich Kuch: Gattungstheoretische Überlegungen zum antiken Roman. In: Philologus 129 (1985), S. 3–19; Niklas Holzberg: Der antike Roman, München/Zürich 1986 (Artemis Einführungen Band 25); Thomas Hägg: Eros und Tyche. Der Roman in der antiken Welt, Mainz am Rhein 1987 (Schwedisch zuerst 1980); Heinrich Kuch u. a.: Der antike Roman. Untersuchungen zur literarischen Kommunikation und Gattungsgeschichte. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Heinrich Kuch, Berlin 1989.

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Martin Baisch, Jutta Eming

Der erste deutsche Roman, der dem Genre zugerechnet wird,3 ist zugleich derjenige, der bis heute die intensivste literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat. Er illustriert in herausragender Weise die Verbreitung in unterschiedlichen europäischen Literaturen: Zuerst, wie die meisten Romane der Zeit, als französischer Versroman überliefert (Floire et Blancheflor, ca. 1150), wird er früh im deutschen Sprachraum adaptiert (Trierer Floyris, um 1170, Flore und Blanscheflur, um 1220) und geht dann in verschiedene andere europäische Literaturen ein (Niederländisch, English, Skandinavisch). Im Spätmittelalter wird eine deutlich amplifizierte Version zum ,Erstling‘ eines später zu großem literarischen Ruhm gelangenden italienischen Dichters, Giovanni Boccaccio (Il Filocolo, 1338/41), die dann wiederum in andere sowohl deutsche (Florio und Bianceffora, 1499) als auch andere europäische Sprachen übertragen wird. Obwohl der Erfolg dieses Romans sicher außergewöhnlich ist, kann er dennoch die Tendenz der ganzen Gattung exemplifizieren, in verschiedenen europäischen Sprachen adaptiert zu werden – vielleicht am häufigsten von Französisch ins Deutsche – und vom Hochmittelalter bis in die Frühe Neuzeit populär zu bleiben.4 Die mittelalterlichen Romane dieses Typs wurden nicht nur auf Grund ihrer angeblichen ,Trivialität‘ als zweitklassig erachtet, sondern auch auf Grund ihrer erstaunlichen formalen Flexibilität. Höfische und späthöfische Autoren tendierten im besonderen Maße dazu, weitere Gattungs- und Erzählmuster – etwa aus der religiösen oder heldenepischen Dichtung – zu integrieren. Dies unterläuft augenfällig die Paradigmen von Originalität und formaler Geschlossenheit, welche für die ältere Mediävistik lange vorbildlich blieben. In dem Maße allerdings, in dem sich in den älteren Philologien ein Verständnis für das Ausmaß etablieren konnte, in dem die mittelalterliche literarische Ästhetik auf Serialität, Kombinatorik und Intertextualität beruht – für das die Arbeiten von Umberto Eco eine große Rolle spielten –,5 waren bessere Bedingungen für eine Neubewertung auch der Poetik von Liebes- und Abenteuerromanen geschaffen. Kein literaturwissenschaftlicher Ansatz war dafür einfluss- und folgenreicher als der des russischen Formalisten Michail M. Bachtin. Seine Arbeiten zum Roman sind zum großen Teil bereits in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden, wurden jedoch sowohl in der Sowjetunion als auch anschließend in Europa und Nordamerika mit großer zeitlicher Verzögerung publiziert. Bachtins Theorie des Romans, die ein ganzes Spektrum von Analysekategorien enthielt, die auch und gerade für vormoderne Romantypen relevant sind, war in wesentlichen Teilen am Liebes- und Abenteuerroman entwickelt.6 Zu den bedeutendsten gehörte der Begriff der Hybridität, der den grundsätzlichen 3

Vgl. zu Einwänden, die dagegen auf Grund der Handlungsarmut der versions aristocratiques aller­ dings erhoben worden sind, im vorliegenden Band den Beitrag von Christine Putzo. 4 Einen Überblick verschafft die Untersuchung von Patricia E. Grieve: Floire and Blancheflor and the European Romance, Cambridge 1997. 5 Vgl. etwa Umberto Eco: Die Innovation im Seriellen. In: Ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, München/Wien 31993, S. 155–180. 6 Zu den frühen auf Deutsch vorliegenden Publikationen zählen unter anderem: Michail Bachtin: Zeit und Raum im Roman. In: Kunst und Literatur 22 (1974), S. 1161–1191; ders.: Die Ästhetik des Wortes. Herausgegeben und eingeleitet von Rainer Grübel, Frankfurt a. M. 1979; ders.: Epos und

Einleitung

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Kompositionscharakter des Romans zum Gattungsmerkmal erhob. Das Ausmaß, in dem Bachtin damit neue Forschungen zu Roman und Gattungstheorie inspiriert hat, ist kaum zu überschätzen. Unter dem Einfluss Bachtins folgten in der altgermanistischen Forschung Ansätze, das Genre neu zu definieren,7 Sub-Gruppen zu bilden8 oder Kriterien für eine offensichtliche Nähe zwischen bestimmten Texten zu entwickeln.9 Ob es möglich ist, übergreifende gattungshafte Dominanten festzulegen, wurde angesichts der Vielzahl und Heterogenität der überlieferten Romane zugleich immer wieder in Zweifel gezogen. Aus diesem Grund sind verschiedene Gattungsbezeichnungen neben ,Liebes- und Abenteuerroman‘ im Gespräch, in erster Linie ,Minne- und Aventiureroman‘ für bestimmte Texte des 12. bis 14. Jahrhunderts,10 ,Liebes- und Reiseroman‘, weil die Protagonisten stets im Mittelmeerraum unterwegs sind,11 im Anschluss an Ilka Büschens frühe Studie12 wird mitunter auch noch das Prädikat der ,Sentimentalität‘ als gattungsspezifisches Kriterium herangezogen,13 das aus Sicht der historischen Emotionsforschung allerdings inhaltlich nicht hinreichend ausgewiesen ist.

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Roman. Zur Methodologie der Romanforschung. In: Disput über den Roman. Beiträge zur Romantheorie aus der Sowjetunion 1917–1941. Hrsg. von Michael Wegner u.  a., Berlin/Weimar 1988, S. 490–532. Vgl. Hans-Jürgen Bachorski: grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Günter Berger/Stephan Kohl, Trier 1993 (LIR 7), S. 59–86. Werner Röcke: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens/Ulrich Müller, Stuttgart 1984, S. 395–423. Vgl. Christian Kiening: Wer aigen mein die welt… Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher Minne- und Abenteuerromane des 14. Jahrhunderts. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von Joachim Heinzle, Stuttgart/Weimar 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XIV), S. 474–494; Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: ‚Reinfried von Braunschweig‘, ‚Wilhelm von Österreich‘, ,Friedrich von Schwaben‘, Berlin/New York 1998 (Q & F 12). In erster Linie Ridder (Anm. 9) und Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161). So Bachorski (Anm. 7) und Jutta Eming: Geschlechterkonstruktionen im Liebes- und Reiseroman. In: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg von Ingrid Bennewitz/Helmut Tervooren, Berlin 1999 (ZfdPh Beiheft 9), S. 159–181. Ilka Büschen: Sentimentalität. Überlegungen zur Theorie und Untersuchungen an mittelhochdeutschen Epen, Stuttgart u. a. 1974 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 38). Wolfgang Walliczek/Armin Schulz: Heulende Helden. ‚Sentimentalität‘ im späthöfischen Roman am Beispiel von Mai und Beaflor. In: Abweichende Lebensläufe, poetische Ordnungen. FS Volker Hoffmann. Hrsg. von Thomas Betz/Franziska Mayer, München 2005, S. 17–48.

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Martin Baisch, Jutta Eming

Zugleich ist eine beachtliche Reihe von Monographien zu einzelnen Texten oder Textreihen14 und vereinzelte Neu-Editionen erschienen.15 Obwohl Beziehungen und Überlieferungstransfers zwischen den Texten mittlerweile gut bekannt sind, entstehen allerdings nach wie vor kaum umfassendere komparatistische Arbeiten.16 Die Forschung konzentriert sich auf vereinzelte Studien zu deutschen Adaptionen französischer Texte17 und Übertragungen in andere Sprachen.18 Nur selten werden die frühneuhochdeutschen 14

Neben den bereits genannten von Ridder (Anm. 9) und Schulz (Anm. 10) etwa auch – wieder ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Brigitte Schöning: Friedrich von Schwaben. Aspekte des Erzählens im spätmittelalterlichen Versroman, Erlangen 1991 (Erlanger Studien 90); Cora Dietl: Minnerede, Roman und historia. Der Wilhelm von Österreich Konrads von Würzburg/Tübingen 1999; Anne Wawer: Tabuisierte Liebe. Mythische Erzählschemata in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur und im Friedrich von Schwaben, Köln/Weimar/Wien 2000; Franziska Wenzel: Situationen höfischer Kommunikation. Studien zu Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens, Frankfurt a. M. 2000 (Mikrokosmos 57); Wolfgang Achnitz: Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt, Tübingen 2002 (Hermaea 98); Monika Schausten: Suche nach Identität. Das „Eigene“ und das „Andere“ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2006 (Kölner Germanistische Studien 7); Mathias Herweg: Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300, Wiesbaden 2010 (Imagines medii aevi 25). 15 Veit Warbecks Magelone liegt vor in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der frühen Neuzeit 1), S. 587–677. Darüber hinaus sind verfügbar: Friedrich von Schwaben. Hrsg. und kommentiert von Sandra Linden, Konstanz 2005 (Bibliotheca Suevica 14); Mai und Beaflor. Minneroman des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Christian Kiening/Katharina Mertens-Fleury, Zürich 2006 (www.mediaevistik.uzh.ch/downloads/MaiundBeaflor.pdf). Die Edition des gleichen Romans von Albrecht Classen weist erhebliche Mängel auf: Mai und Beaflor. Hrsg., übers., kommentiert und mit einer Einleitung von Albrecht Classen, Frankfurt a. M. u. a. 2006. Eine Neu-Edition von Flecks Flore und Blanscheflur hat Christine Putzo erarbeitet: Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur. Text und Untersuchungen, Berlin (MTU) [in Druckvorbereitung]. Mathias Herweg plant eine Edition des Willehalm von Orlens von Rudolf von Ems. 16 Ausnahmen bilden Grieve (Anm. 4) und, zum Inzestmotiv, Elizabeth Archibald: Incest and the Medieval Imagination, Oxford/New York 2001 17 Heinrich van Look: Der Partonopier Konrads von Würzburg und der Partonopeus de Blois, Diss. Straßburg 1881; André Moret: L’originalité de Conrad de Wurzbourg dans son poème: Partenopier und Meliur, Lille 1933 (Reprint Genf 1976); Wolfgang Obst: Der Partonopier-Roman und seine französische Vorlage, Diss. Würzburg 1976; Roland Lane: A critical review of the major studies of the relationship between the Old French Floire et Blancheflor and its Germanic adaptations. In: Nottingham Medieval Studies XXX (1986), S. 1–19; Michael Waltenberger: Diversität und Konversion. Kulturkonstruktionen im französischen und im deutschen Florisroman. In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Wolfgang Harms/C. Stephen Jaeger/Horst Wenzel in Verbindung mit Kathrin Stegbauer, Stuttgart 2003, S. 25–43. 18 In Auswahl seien hier genannt Ruth Westermann: Die niederdeutschen und dänischen Übertragungen von Veit Warbecks „Schöner Magelona“. In: ZfdPh 57 (1932), S. 261–313; Karen Pratt: The Rhetoric of Adaption: The Middle Dutch and Middle High German Versions of Floire et Blancheflor. In: Courtly Literature: Culture and Context. Selected papers from the 5th Triennial Congress of the International Courtly Literature Society, Dalfsen, The Netherlands, 9–16 August, 1986. Ed. by Keith Busby/Erik Kooper, Amsterdam/Philadelphia 1990 (Utrecht Publications in General and Comparative Literature 25), S. 483–497.

Einleitung

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Reprisen griechischer oder gar byzantinischer Romane untersucht.19 Nun ließe sich mit einigem Recht behaupten, dass das literarische Material schlicht zu umfangreich ist, um in zusammenhängenden Studien angemessen analysiert werden zu können. Doch auch in methodisch-theoretischer Hinsicht findet ein Austausch zwischen Germanisten, Romanisten, Anglisten, Altphilologen und Byzantinisten bislang noch nicht im wünschenswerten Umfang statt. Dies ist umso bedauerlicher, als in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe neuer Paradigmen für die Romane vorgeschlagen worden sind. Dazu gehören – neben Überlegungen zur ästhetischen Reflexivität der Texte –20 zum Beispiel Genderkonstruktionen, die über die verbreitete Auffassung hinaus, dass in den Romanen die weiblichen Protagonisten ungewöhnlich handlungsmächtig und selbstbewusst agierten, einen differenzierten Aufschluss über die Romane versprechen.21 Darüber hinaus wurde auf konstitutive Elemente wie die Problematik von Genealogie und Inzest hingewiesen;22 19

Wichtige Ausnahmen bilden hier: Günter Berger: Legitimation und Modell: Die „Aithiopika“ als Prototyp des französischen heroisch-galanten Romans. In: Antike und Abendland 30 (1984), S. 177–189, hier S. 185; Werner Röcke: Antike Poesie und newe Zeit. Die Ästhetisierung des Interesses im griechisch-deutschen Roman der frühen Neuzeit. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von Joachim Heinzle, Stuttgart/Weimar 1993 (Germanis­ tische Symposien. Berichtsbände XIV), S. 337–356, sowie in der Untersuchung von Hägg (Anm. 2) die Kapitel: „Vom historischen Roman zum mittelalterlichen Volksbuch“ und „Die Renaissance des griechischen Romans“, S. 156–189 und S. 232–255. 20 Martin Baisch: La varn din getichte/Wan hat es nu ze nihte! Zur Konzeption der Autorschaft in Rudolfs von Ems Wilhelm von Orlens. In: Text und Autor. Hrsg. von Christiane Henkes/Harald Saller, Tübingen 2000 (Beihefte zu editio Bd. 15), S. 53–70; Margreth Egidi: Implikationen von Literatur und Kunst in Flore und Blanscheflur. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisie­ rung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner/Peter Strohschneider/Franziska Wenzel, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 163–186; Margreth Egidi: Die höfischen Künste in Flore und Blanscheflur und Apollonius von Tyrland. In: Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Susanne Bürkle/Ursula Peters, Berlin 2009 (Sonderheft der ZfdPh 128), S. 37–48. 21 In Auswahl: Ingrid Kasten: Ehekonsens und Liebesheirat in Mai und Beaflor. In: Oxford German Studies 22 (1993), S. 1–20; Phillip McCaffrey: Sexual Identity in Floire et Blancheflor and Ami et Amile. In: Gender Transgressions. Crossing the Normative Border in Old French Literature. Ed. by Karen J. Taylor, New York/London 1998, S. 129–151; Eming, Geschlechterkonstruktionen (Anm. 11); E. Jane Burns: Courtly Love Undressed. Reading Through Clothes in Medieval French Culture, Philadelphia 2002; S. 211–229; Schausten (Anm. 14), S. 27–63 und S. 198–236. Noch nicht veröffentlicht scheint die Arbeit von Katharina Altpeter-Jones: Trafficking in Goods and Women: Love and Economics in Konrad Fleck’s Flôre und Blanscheflûr, Dissertation Duke University 2003. 22 Vgl. Archibald, Incest (Anm. 16); Jutta Eming: Zur Theorie des Inzests. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hrsg. von Ingrid Bennewitz/Ingrid Kasten, Münster/Hamburg/London 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 29–48; Dies.: Questions on the Theme of Incest in Courtly Literature. In: The Court Reconvenes. Courtly Literature across the Disciplines. Proceedings of the Ninth Triennial Congress of the International Courtly Literature Society. Ed. by Barbara Altmann/Carleton W. Carroll, Suffolk/ Rochester, NY 2003, S. 153–160; Dies.: Inzestneigung und Inzestvollzug im Appollonius von Tyrus. In: Historische Inzestdiskurse. Interdisziplinäre Zugänge. Hrsg. von Ders./Claudia Jarzebowski/ Claudia Ulbrich, Königstein 2003, S. 21–45; Christian Kiening: Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens, Würzburg 2009; Margreth Egidi: Inzest und Aufschub. Zur Erzähllogik im Apollonius von Tyrland. In: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische

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Martin Baisch, Jutta Eming

auf Tausch- und Gabenlogiken;23 auf Darstellungsmuster von Emotionalität und auf Körpersemantiken;24 im Anschluss an Bachtins Begriff des Chronotopos auf Raumsemiotiken25 und genre- oder einzeltextspezifische Tiefenstrukturen.26 Die Konferenz sollte eine Gelegenheit zum Dialog bieten, methodische Ansätze und Fragestellungen aus den unterschiedlichen Einzelphilologien miteinander vergleichen und zugleich aktuelle Themen und Problem aufgreifen. ‚Hybridität‘ im Titel von Tagung und Tagungsband nimmt in diesem Sinne einen mittlerweile in der Forschungsdiskussion gut eingeführten Begriff zur Analyse der charakteristischen Mischung von Gattungs- und

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Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Margreth Egidi, Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240), S. 277–287. Vgl. Altpeter-Jones, Trafficking in Goods and Women (Anm. 21); Elisabeth Schmid: Über Liebe und Geld. Zu den Floris-Romanen. In: Der fremdgewordene Text. FS Helmut Brackert. Hrsg. von Silvia Bovenschen u. a., Berlin/New York 1997, S. 42–57. Neben der Studie von Büschen (Anm. 12) vgl. Joachim Knape: ‚Empfindsamkeit‘ in Mittelalter und früher Neuzeit als Forschungsproblem. Eine Bestandsaufnahme. In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St.-Andrews-Colloquium 1985. Hrsg. von Jeffrey Ashcroft/Dietrich Huschenbett/William Henry Jackson, Tübingen 1987, S.  221–242; Armin Schulz: Die Zeichen des Körpers und der Liebe. Paris und Vienna in der jiddischen Fassung des Elia Levita, Hamburg 2000 (Poetica 50); Anja Kühne: Vom Affekt zum Gefühl. Konvergenzen von Theorie und Literatur im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg „Partonopier und Meliur“, Göppingen 2004 (GAG 713); Walliczek/Schulz (Anm. 13); Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersu­ chungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts, Berlin/New York 2006 (Q & F 39). Vgl. auch verschiedene Untersuchungen zum Einfluss des frühneuzeitlichen Melancholie-Diskurses auf einige Prosaromane von Bachorski (Anm. 7), sowie von Werner Röcke: Liebe und Melancholie. Formen sozialer Kommunikation in der ,Histori von Florio und Blanscheflur‘. In: GRM 45 (1995). S. 177–191; ders.: Die Faszination der Traurigkeit. Inszenierung und Reglementierung von Trauer und Melancholie in der Literatur des Spätmittelalters. In: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hrsg. von Claudia Benthien/Anne Fleig/Ingrid Kasten, Köln 2000, S. 100–118; Christoph Huber: Subjektivität, Intimität im höfischen Roman. Zum Willehalm von Orlens des Rudolf von Ems. In: Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug. Hrsg. von Gisela Vollmann-Profe u. a., Tübingen 2007, S. 193–212; Christoph Huber: Minne als Brief. Zum Ausdruck von Intimität im nachklassischen höfischen Roman (Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens; Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich). In: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Hrsg. von Mireille Schnyder, Berlin/New York 2008 (TMP 13), S. 125–145. Dazu gehören etwa Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin/New York 2007; Silke Winst: Die Topographie des Selbst: Zur Ausdifferenzierung von Außen- und Innenräumen in spätmittelalterlichen Liebes- und Reiseromanen. In: Grenze und Grenzüberschreitung. 11. Symposium des Mediävistenverbandes vom 14. bis 17. März 2005 in Frankfurt an der oder. Hrsg. von Ulrich Knefelkamp/Kristian BosselmannCyran, Berlin 2007, S. 152–165. Vgl. Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne, Würzburg 1990; Jutta Eming: Geliebte oder Gefährtin? Das Verhältnis von Feenwelt und Abenteuerwelt in Partonopier und Meliur. In: Die Welt der Feen im Mittelalter. Hrsg. von Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok, Greifswald 1994, S. 43–58; Schulz, Poetik des Hybriden (Anm. 10); Margreth Egidi: Der Immergleiche. Erzählen ohne Sujet: Differenz und Identität in ‚Flore und Blanscheflur‘. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS Volker Mertens. Hrsg. von Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 133–158.

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Erzählmustern im Liebes- und Abenteuerroman auf, der Rekurs auf das Konzept des ästhetischen ‚Spiels‘ verweist dagegen auf die kreativen Potentiale der Gattung in ihrer Verwendung poetologischer, narratologischer und Emotionen erzeugender Verfahren, die es vielfach erst noch zu erschließen gilt. Folgende Arbeitsfelder waren von den Veranstaltern vorgeschlagen worden: Überlieferung, Textkritik und Edition. Für eine Reihe von Liebes- und Abenteuerromanen sind neue Editionen entstanden oder befinden sich in Vorbereitung, doch die überwiegende Zahl der Texte liegt nur in vollkommen veralteten Textausgaben ohne Übersetzungen vor. Dies erschwert die interdisziplinäre Behandlung der Romane im akademischen Unterricht in erheblicher Weise, was um so nachteiliger ist, als die Texte erfahrungsgemäß von Studierenden sehr gut aufgenommen werden und ihnen nicht zuletzt Möglichkeiten für die Entwicklung eigener Projekte eröffnen. Es ist deshalb zu ermitteln, für welche Texte sich die Notwendigkeit einer Edition mit besonderer Dringlichkeit stellt, was es angesichts der Überlieferungslage jedoch auch jeweils zu berücksichtigen gilt? Jenseits pragmatischer guter Gründe für (Neu-)Editionen stellt sich grundsätzlich die Frage, welche Editionsverfahren seit den lebhaften Diskussionen um die New oder Material Philology gerade für das Textmaterial der Liebes- und Abenteuerromane geeignet erscheinen und welchen Beitrag beispielsweise die neuen digitalen Medien leisten können. Komparatistische Zugänge, Interdisziplinariät, Retextualität, Medialität. Ein wesentliches Merkmal der Gattung liegt in der Dauer und Breite ihrer europäischen Überlieferung, ihrer Bearbeitungen in immer neuen Sprachen und Literaturen und ihrer Transfers in verschiedene Medien (Bildzyklen, Prosa-‚Auflösungen‘, Dramatisierungen etc.). Nach wie vor besteht über das Ausmaß dieser Transformationen kein annähernd ausreichender Überblick. Dies schien den Veranstaltern Anlass genug zu fragen, wie angesichts der Breite und Differenziertheit der Überlieferung komparatistische Untersuchungen angelegt sein könnten und welchen Fragestellungen sie nachgehen sollten. Gattungszugehörigkeit und Kanonisierung. Seit Michail M. Bachtin den Roman zu den ‚dialogischen‘ Gattungen zählte und Gattungsdominanten unter anderem am Paradigma des Liebes- und Abenteuerromans abstrahierte, hat es verschiedene Ansätze zur Entwicklung weiterer Kategorien der Gattungsanalyse gegeben, welche die vielen Spielarten der Texte systematisieren sollen. Schon die wechselnden Gattungsbezeichnungen verdeutlichen, wie diffizil es ist, die Formenvielfalt in den verschiedenen Epochen und Literaturen zu erfassen. In welcher Weise ist an die bisherige Gattungsbeschreibung sinnvoll anzuschließen, muss sie grundlegend überdacht, sollten weitere Sub-Kategorien gebildet, bestimmte Texte künftig ausgeschlossen werden? Wie könnten gattungssystematische und gattungshistorische Fragen sinnvoll mit weiteren Ansätzen verbunden werden? Erzähltheorie und historische Narratologie. Mit den Begriffen des Chronotopos als der spezifischen Verknüpfung von Zeit und Raum im Roman und der Hybridität sind

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von Bachtin wichtige Kategorien bestimmt worden, die das Erzählen im Liebes- und Abenteuerroman aufschließen. Seitdem wurden weitere Vorschläge für die Gattung als gesamte oder zumindest für einzelne Text-Gruppen und Text-Reihen entwickelt: die Überblendung mit Erzählmustern religiöser Sinnstiftung, Fiktionalität und Erzählerfigur, Tiefenstrukturen u. v. m. Welche dieser Kategorien sind im Rahmen des Forschungsfelds der historischen Narratologie generalisierbar, welche erscheinen als weniger relevant, welche könnten ihnen hinzutreten? Poetologische Ansätze. Auf kaum einem Gebiet ist die Forschung zum Liebes- und Abenteuerroman in den letzten Jahren differenzierter, vielfältiger und kreativer gewesen als auf dem der Bestimmung thematischer Felder und mit ihnen verknüpfter Erzählmuster, welche die spezifische Poetik der Gattung erfassen. Fragen nach den speziellen Formen der Inszenierung von Gender, Emotionalität und Modellen von Familie sind in jüngerer Zeit Untersuchungen zu den Diskursen über Inzest, Neugier und Wissen hinzugetreten. Worin liegt das Potential dieser Ansätze für die Gattung als gesamte? Lassen sich weitere thematische Felder bestimmen? Von den Kolleginnen und Kollegen, die aus dem In- und Ausland eingeladen worden waren und sich zu einer Mitwirkung bereit erklärt hatten,27 entschied sich der überwiegende Teil für einen Beitrag zum letzteren Bereich, der Untersuchung neuer Themen und Paradigmen, welche die Poetik des Liebes- und Abenteuerromans erschließen könnten. Darüber hinaus war die historische Kontinuität der Auseinandersetzung mit der Gattung – auch in Form von Gattungsmischungen und Gattungstransformationen, intertextuellen Anspielungen und Kommentaren – ein faszinierendes und teils überraschendes Ergebnis vieler Beiträge. Ein implizites Gattungsbewusstsein wird historisch bis mindestens in das 19. Jahrhundert daran manifest, dass die Basiskomponenten des Romantyps in immer neuen Varianten behandelt werden. Auch wenn angesichts der schieren Fülle des Materials kein auch nur annähernd ausreichender Überblick über die Gattungsgeschichte gegeben werden kann, ist es – wie die Herausgeber meinen – mit dem Band insgesamt gelungen, einen repräsentativen Querschnitt zu erstellen. Von den vielen Querverbindungen, die sich zwischen einzelnen Beiträgen ergeben haben, kann der folgende Überblick zudem einen gewissen Eindruck geben. Erwähnt sei auch, dass die Beiträge des vorliegenden Bandes zwar von Kennern der Gattung verfasst worden sind, dass sie sich aber nicht nur an solche Kenner richten. Deshalb wurde in den Beiträgen im Allgemeinen nicht nur der Forschungsstand zu den Romanen resümiert, sondern es wurde außerdem nicht darauf verzichtet, ihre Handlung wenigstens überblickartig zusammen zu fassen. Unter dem Titel „Gattung und Reflexion“ eröffnet eine Reihe von Beiträgen den Band, die grundlegende Fragen von Gattung und Gattungspoetik aufbereiten und weiterführen. Dazu gehört der erste Beitrag von Friedrich Wolfzettel, durch den zugleich deutlich wird, dass die Romanistik von ihrer lange währenden Orientierung am Chrétienschen 27

Zu den Eingeladenen gehörte auch der am 21.9.2010 verstorbene Armin Schulz, dem die Forschung eine Reihe von wichtigen Beiträgen zur Poetik des Liebes- und Abenteuerromans verdankt.

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Roman inzwischen Abstand genommen hat und zunehmend andere Romanformen diskutiert. Dazu gehört die des ‚idyllischen Romans‘, die, so Wolfzettel, eine Nähe zum Liebes- und Abenteuer-Roman erkennen lässt. Dies gilt auch für den französischen Roman Paris et Vienne, der zwar den Gattungskonturen des idyllischen Romans folgt, in Teilen jedoch auch wie ein ironischer Kommentar zu ihm angelegt ist und seine Handlung in einer Fülle intertextueller Bezüge, Prätexte und Gattungsregister entfaltet. Insbesondere der Rekurs auf religiöse Erzählmuster wird für die ambivalente Profilierung der Heldin zwischen frommer Demut und Aufbegehren sowie für die Um-Modellierung der gattungstypischen Paradies-Symbolik verantwortlich gemacht, die hier – nicht zuletzt am Beispiel der literarischen Träume – auch in psychoanalytischer Perspektive aufschlussreich wird. Der anschließende Beitrag von Christine Putzo unterzieht die bisherigen Ansätze zu einer Systematisierung der Gattung einer sehr gründlichen kritischen Revision und nimmt zugleich engagiert zu ihnen Stellung. Dafür macht Putzo am Beispiel der altgermanistischen Begriffsentwicklung deutlich, dass die Genese der Bezeichnung ‚Minneund Aventiureroman‘ direkt an die Verabschiedung des älteren literaturgeschichtlichen Blüte-Verfall-Modells zugunsten einer zunehmenden Würdigung der spätmittelalterlichen Literatur als eigenständiger literaturhistorischer Phase gebunden ist. Während die Verfasserin schon für die Menge der zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert überlieferten, der Gattung im einen oder anderen Ansatz zugerechneten Romane keine überzeugende Begründung einer historischen Gattung sieht, scheint ihr die systematische Gattungsbeschreibung grundsätzlich möglich. Den aussichtsreichsten Weg einer hinreichend differenzierten Gattungstheorie sieht sie jedoch in einer Beschreibung von ‚Teilkontinuitäten‘ und einzelnen Textreihen. Mit einem grundlegenden Problem der Textkritik setzt sich Lydia Jones’ anschließender Beitrag zu Karl Bartschs Edition von Partonopier und Meliur auseinander: Die Editionsprinzipien vieler vorliegender Textausgaben sind nach heutigen literaturwissenschaftliche Maßstäben ungenügend, weil sie zu weitgehend in den handschriftlich überlieferten Text eingegriffen haben. Dies zeigt Jones an zwei Beispielen auf der lexikalischen Ebene und sodann am Beispiel der Interpunktion. In Bartschs Textausgabe führt die Überlagerung von (moderner) grammatischer und (historischer) rhetorischer Interpunktion bzw. von textimmanenten Strategien zur Markierung von Figurenrede zu Redundanzen, die, wie die Verfasserin zeigt, nicht nur teilweise sinnentstellend wirken. Die doppelte Markierung von Redeanteilen lässt zudem den Eindruck schlicht gestrickter mittelalterliche Leser entstehen, denen die Dinge gleich mehrfach ausgewiesen sein müssen, damit er – oder sie – diese versteht. Markus Stocks Beitrag analysiert die genealogisch fundierten Macht- und Herrschaftsstrukturen in der anonym überlieferten Erzählung von Mai und Beaflor. Aufgrund der Bedrohung der Erbfolge ergeben sich für die Protagonisten dieses Liebes- und Abenteuerromans differente Formen von Identitätsbildung bzw. -findung. Diese erzeugen einen komplexen Zusammenhang von Frömmigkeit, Genealogie und Subjektivität. Stock konstatiert dabei eine enge Verbindung zwischen Identitätsfindung und der Erschütterung

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der Genealogie. Störungen der Genealogie scheinen aber kaum einfach dadurch aufzuheben sein, dass Mai und Beaflor am Ende des Textes das Kaiserpaar bilden und einen männlichen Erben haben. Matthias Meyer widmet sich in seinem Beitrag einer Poetik der Intrige in Mai und Beaflor, dem Friedrich von Schwaben und dem Wilhelm von Österreich des Johann von Würzburg. Ausgehend von der erzählstrukturell orientierten Konzeption der Intrige von Peter von Mattinteressieren Meyer bei der Analyse der erwähnten Texte die Konstitution des Höfischen, zu dessen zentralen Elementen die Intrige zähle, sowie die Auswirkungen der Intrige auf die Erzählstrukturen der genannten Werke. Ein Abschnitt zu „Inzest und Emotion im Liebes- und Abenteuerroman“ führt nur noch zwei Beiträge an,28 doch dies reflektiert nicht die Bedeutung des Inzestmotivs für die Gattung, die etwa auch durch den Beitrag von Wolfzettel deutlich wird. Gegenstand der Überlegungen von Nora Hagemann ist der Vater-Tochter-Inzest in den vier Liebesund Abenteuerromanen Apollonius von Tyrus (Heinrich Steinhöwel), Apollonius von Tyrland (Heinrich von Neustadt), Mai und Beaflor und Königstochter von Frankreich (Hans von Bühel). Die vier Romane unterscheiden sich darin, dass in den Apollonius-Stoffen der Vater-Tochter-Inzest vollzogen wird, während hingegen in den nach dem Schema ‚Mädchen ohne Hände‘ erzählten Romanen Mai und Beaflor und Königstochter von Frankreich der Inzest durch die Flucht der Tochter verhindert wird. Gemein ist den Texten allerdings, dass die Inzest-Thematik im Rahmen einer Vorgeschichte behandelt wird. Die Fragestellung des Beitrags geht dem Problem nach, welche Rolle und Funktion der Vorgeschichte mit der Inzest-Thematik im Gesamtkontext zukommt. Im Apollonius von Tyrus hat der Inzest, ausgehend von der Vorgeschichte, eine stark strukturbildende Wirkung, während hingegen andere für die Gattung des Liebes- und Abenteuerromans zen­ trale Elemente wie Hybridität und Emotionalität kaum Sinnpotential entwickeln. Anders verhält es sich beim Apollonius von Tyrland, in dem die Inzest-Thematik eher an Bedeutung verliert, da sie als Teil der Vorgeschichte in der Rahmenhandlung angesiedelt ist und so von der Binnenhandlung abgekoppelt wird. Trotz der Hybridität des Romans behält die Vorgeschichte gewissermaßen die Funktion bei, die Krise zu initiieren. In Mai und Beaflor, ebenso wie in der Königstochter von Frankreich, sind Emotionalisierungsstrategien nicht nur ständig präsent, sondern werden in der Darstellung der (aktiven) Flucht der Töchter ein wichtiges poetisches Element. Festzuhalten ist, dass die Inzest-Thematik in den vier Romanen nie bloße Vorgeschichte ist, sondern in besonderem Maße als relevant für Struktur und Sinngebung gelten kann. Andrew James Johnston zufolge setzt sich Chaucer in den Canterbury Tales intensiv mit Fragen von Zeitlichkeit, Periodisierung und mit dem Genre des Romans auseinander. Auch in Man of Law’s Tale, die zugleich eine intertextuelle Allusion auf Gowers Confessio Amantis darstellt, geht es, so Johnston, um das Potential des griechischen Romans, von Inzest und einem achronologischen Geschichtsverlauf zu erzählen. Genauer handelt es sich um eine Anspielung auf den Apollonius-Roman. Chaucers Bezug auf den griechi28

Der Vortrag von Elizabeth Archibald („Relative Roles in Medieval Incest Stories“) konnte nicht in den Tagungsband aufgenommen werden.

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schen Roman greift dabei gerade nicht dessen angebliche – nach Bachtin – ‚Geschichtslosigkeit‘ auf. Die Mittelmeerreise der Heldin führt sie vielmehr durch verschiedene Kulturen, die aus christlicher Perspektive zugleich verschiedene Zeit- und Geschichtsstufen repräsentieren, welche – ganz entgegen der antiken Tradition – auch England auf einer vorchristlichen, ‚barbarischen‘ Zeitstufe einbegreift. Das Potential des griechischen Romans, räumliche und zeitliche Distanzen zugleich zu überwinden, wird dadurch gleichsam dynamisiert. Während der dabei entstehende Anachronismus historische Differenzen gerade profiliert, bildet die Inzestthematik deren kultur-, progressions- und geschichtsfeindliches ‚dunkles Gegengewicht‘. Der dritte Abschnitt untersucht Formen von Begehren im Liebes- und Abenteuerroman. Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland weist in seiner Binnenhandlung eine große Zahl von Monstren und hybriden Wesen sowie von außergewöhnlichen Kostbarkeiten und Dingen auf. Letztere  – magische Ringe, unbesiegbar machende Waffen oder ein Schachspiel, das einst König Nebukadnezar gehörte – lösen, so Margreth Egidi in ihrem Beitrag, ein Begehren aus, welches dazu führt, dass sie häufig ihre Besitzer wechseln. Egidi fragt nach dem vom Text profilierten Zusammenhang von Begehren, Raub und Gegenweltlichkeit. Es zeigt sich, dass die Gegenwelten nicht einfach in Opposition zur höfischen Welt stehen, sondern dass die Relationen von ‚normaler‘ Welt und Gegenwelt vieldeutiger sind. Dabei erscheint das Begehren nach den gegenweltlichen Objekten selbst als eine Art Medium des Übergangs zwischen den Welten. Eine besondere Bedeutung unter den Dingobjekten kommt dem von Apollonius geraubten Schachspiel zu. Denn es dient in der Erzählung als poetologische Metapher, die eine Verbindung der verschiedenen Textebenen markiert und Lücken schließt. Der Beitrag von Martin Baisch untersucht Briefe und Briefwechsel und deren Funktionen in ausgewählten Beispielen des Minne- und Aventiureromans. Aufbauend auf Überlegungen zur spezifischen Poetik, Medialität und Textualität von Briefen werden die Briefsequenzen in Rudolfs von Ems Willehalm und Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich analysiert. Dabei zeigt sich auch, dass Briefe als Begehren auslösende Dingobjekte Fetischcharakter erhalten können. Der Beitrag von FranziskaWenzel bemüht sich aus strukturalistischer Perspektive um eine Klärung des Gattungsbegriffs des Minne- und Aventiureromans. Brautwerbungsepen wie Minne- und Aventiureromane inszenieren auf tiefenstruktureller Ebene – so die Ausgangsthese von Wenzel  – einen Begehrenskonflikt. Am Beispiel von Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens, dem Reinfried von Braunschweig und dem Herzog Ernst analysiert die Autorin die in diesen Texten je unterschiedliche Verknüpfung von Minne- und Machtbegehren. Aufbauend auf Modellbildung und Terminologie von Greimas beobachtet Wenzel, wie Begehrensstrukturen auf einem grundsätzlichen Mangel beruhen und zirkuläre Begehrenskonflikte entstehen. Die Zirkulation des Begehrens ist jedoch nicht unendlich, sondern mit der Überwindung von Gefahr abgeschlossen. Die aktantielle Anordnung ist gleichbleibend, die Besetzung der aktantiellen Rollen jedoch unterschiedlich. Verschieden sind auch die Begehrenskonflikte: So kann sich das Begehren von einem Begehren nach Minne zum Begehren nach Herrschaft wandeln.

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Der vierte Abschnitt ist dem langen Nachleben speziell des griechischen Romans in der Neuzeit gewidmet. Der byzantinischen Literatur ist bislang noch nicht annähernd die Würdigung zuteil geworden, die sie als Vermittler dieser Texte verdient. Wie aus dem Beitrag von Stavroula Constantinou hervorgeht, hat die Vernachlässigung der byzantinischen Überlieferungstradition des Liebes- und Abenteuerromans selbst unter Byzantinisten ebenfalls Gründe in der Wertschätzung künstlerischer Originalität, was dem Literaturbetrieb der Vormoderne prinzipiell in keiner Weise angemessen ist. Auch bei den byzantinischen Romanvertretern handelt es sich um kreative ‚Übertragungen‘ älterer Romane, die zudem mit Blick auf zwei Themenbereiche besonders umgearbeitet werden, die in der byzantinischen Literatur auch in den höher geschätzten kanonischen Werken eine wichtige Rolle spielen: bei den Themen von Erziehungslehre und Freundschaft. Dies wird an der byzantinischen Fassung des Flore-Romans auf verschiedenen Erzählebenen in einer genauen Struktur- und Funktionsanalyse nachvollzogen. Der Erfolg auch dieser – wie immer wieder in Bezug auf die Flore-Romane konstatiert wird – relativ handlungsund abenteuerarmen Geschichte liegt in dem Umstand begründet, dass der Held sich als ‚a good student and friend‘ erwiesen hat. Mit einem rendezvous manqué, der bis ins 18. Jahrhundert nur marginalen Rezeption von Charitons Kallirhoe, beschäftigt sich der romanistische Beitrag von Günter Berger. Der Roman ist in poetologischer Hinsicht anspruchsvoll konzipiert und kann sich insofern mit den überaus beliebten Werken von Heliodor und Longos durchaus messen. Die Verknüpfung von Roman und Historiographie und eine ausgeprägte Intertextualität und Hybridität werden, wie Berger an der 1763er Übersetzung von Pierre-Henri Larcher zeigt, jedoch offensichtlich im höfisch-galanten Diskurs der Zeit als Problem empfunden und durch weitreichende ‚Planierungsarbeiten‘ getilgt. Jutta Emings Beitrag beschäftigt sich mit der Erstedition der deutschen Übertragung der Aithiopika von Heliodor, die in der Frühen Neuzeit höchst erfolgreich waren und als eines der Modelle für den modernen Roman schlechthin gelten. Die ‚äthiopischen Geschichten‘ werden vor allem auf Grund ihrer raffinierten Erzähl- und Kompositionstechnik und ihrer Liebeskonzeption geschätzt, jedoch werden an ihnen im 16. Jahrhundert auch Themen und literaturpragmatische Funktionen akzentuiert, welche sich kurz gefasst als Vermittlungsformen von Wissen bezeichnen lassen. Dies wird insbesondere an den Kommentaren von Johannes Zschorns erster Edition von 1551 und – in Auseinandersetzung mit Bachtins Begriff der Abenteuerzeit – an der Form des Inszenierung des Wunderbaren als Objekten des Wissens erörtert. In den Bereich der – in formaler Hinsicht überraschenden, gleichwohl seit Boccaccio historisch nachweisbaren – Affinität von Novelle und Liebes- und Abenteuerroman führt der Beitrag von Gaby Pailer, und er gibt zugleich Einblick in das Œuvre einer Autorin, die gerade erst für die Literaturszene entdeckt worden ist: in das der Charlotte Schiller, geborene von Lengefeld (1766–1826). Der Beitrag zeichnet die verschlungenen Wege eines mehrere Epochen übergreifenden Gattungsdialogs nach, der von Schillers Text, welcher die Erzählmuster des Liebes- und Abenteuerromans und der modernen Novelle hybridisiert, zur Gattungsmischung ihrer Vorlage führt, Charlotte-Rose de Caumont-la

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Forces (1654–1724) Histoire de Marguerite de Valois und drittens einen intertextuellen Bezug beider Texte auf die zehnte Novelle des Novellenzyklus Heptaméron herstellt, die von der Heldin beider Texte, der historisch bezeugten Renaissance-Fürstin Marguerite de Navarre (1492–1549), verfasst worden ist. Marguerites de Navarre Novelle bezieht sich ihrerseits auf die Alathiel-Geschichte des Decamerone, welche als Parodie der Aithiopika gelesen werden kann. Das in den letzten Jahren überaus viel bearbeitete Thema der literarischen Räumlichkeit bildet das Thema des fünften Abschnitts. Annette Gerok-Reiter fragt daher in ihrem Beitrag nicht nur nach der Konstitution von Räumen und Räumlichkeit in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, sondern auch nach deren narrativen Funktionen für die Sinngebung im Roman. Aufbauend auf Überlegungen von Bachtin und Lotman gelten Gerok-Reiters Überlegungen der Frage nach der erzählerischen Inszenierung der Überführung eines ,privaten‘ Raums (der Liebe) in einen Raum der Öffentlichkeit. Untersucht wird ebenso, welchen thematischen Gewinn bzw. Verlust eben diese spezifische Art der Inszenierung bewirkt. Uta Störmer-Caysa untersucht in ihrem der Alterität mittelalterlichen Erzählens gewidmeten Beitrag Nichterzähltes und Unvollendetes in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur. Es fällt auf, dass weder etwas über Blanscheflurs Vater erzählt wird, obwohl die Vorgeschichten der Eltern sonst einen großen Raum einnehmen, noch wird klar, was mit der Gefährtin Claris geschieht. Um diese Lücken in der Erzählung besser beurteilen zu können, untersucht Störmer-Caysa andere Bearbeitungen des Stoffes (vor allem die beiden französischen Fassungen A und B). Dabei zeigt sich, dass es bei Fleck zu einer Akzentverschiebung gegenüber diesen anderen Fassungen kommt: Die Idoneität zwischen Flore und Blanscheflur wird hervorgehoben durch die Rezeption steuernde Wirkung der Leerstelle, die die nichterzählte Identität des Vaters darstellt. Die Ungewissheit über das Schicksal der Freundin Claris, welches sich auch in anderen Fassungen findet, wird bei Fleck noch verstärkt. Doch die Kohärenz der Figurenzeichnung und des bisher Erzählten eröffnet unterschiedliche Möglichkeiten für den weiteren Verlauf der Erzählung. Eine solche Offenheit des Ausgangs einer Erzählung suspendiert damit letztlich die klare Verteilung von Gut und Böse im Erzählgeschehen. Im Liebes- und Abenteuerroman kann die transitorische Abenteuerzeit nach Bachtin zum Raum für Identitätswechsel werden. Dies ist eine der Ebenen, auf denen Annegret Oehme Identitätskonstruktionen in der jiddischen Bearbeitung des Paris und ViennaStoffs untersucht, den Friedrich Wolfzettel bereits in einer französischen Fassung betrachtet hatte. Auch auf den Ebenen ‚virtueller‘ und materieller Räume sieht sie im Roman spezifische Verschränkungen mit Identitätskonstruktionen angelegt. Als zentrale Instanz des Romans erweist sich jedoch die  – teils ihrerseits maskierte  – Figur des Erzählers, die nicht nur die Bewegungen aller anderen Figuren im Raum, sondern auch die Räume selbst erzeugt. Damit wird zugleich auf komplexe Weise jiddische Identität verhandelt. Der letzte Teil des Bandes ist der Renaissance des Liebes- und Abenteuerromans im Spätmittelalter gewidmet. Gleich zwei Beiträge beschäftigen sich mit einem ihrer be-

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kanntesten Vertreter, den Magelone-Romanen. Brigitte Burrichter beschreibt an Pierre de Provence et la Belle Maguelonne von 1453 eine Gattungsmischung aus Gründungslegende, Ritterroman, erbaulichem Liebes- und Abenteuerroman und Heiligenlegende, die für Romane des 15. Jahrhunderts typisch ist. Entstanden ist ein Text wie ‚aus einem Guss‘, ob der hybriden Anlage des Textes ein bewusstes Spiel mit intertextuellen Referenzen entspricht, muss offen bleiben. Peter Baltes nimmt eine These Michail M. Bachtins zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Veit Warbecks Magelona, dass die Abenteuerzeit im Liebes- und Abenteuerroman eine Zeit der Begegnung mit dem Wunderbaren sei. Dafür setzt Baltes einen erweiterten Begriff des Wunderbaren an, der auf keiner qualitativen Differenz zum (religiösen) Wunder beruht. Wie in der französischen Vorlage sind auch in der Übertragung Warbecks die Elemente des Wunderbaren einerseits reduziert, andererseits refunktionalisiert, doch letztlich religiös vereindeutigt. Ausgehend von Überlegungen zur literarischen Produktion in der portugiesischen Literatur des Spätmittelalters analysiert der Beitrag von John Greenfield historiographisch orientierte Erzählwerke (livros de linhagens), in denen sich – so die These – Spuren des europäischen Liebes- und Abenteuerromans finden. In diesen Texten, die eigentlich der Wiedergabe der Abfolge portugiesischer Adelsgeschlechter verpflichtet sind, finden sich episodische Einfügungen, die der eigentlichen, genealogisch orientierten Intention dieser Werke zu widersprechen scheinen. Untersucht wird am Beispiel der in verschiedenen Fassungen vorliegenden Lenda de Gaia, wie diese Textelemente eine Hybridisierung der chronikalischen Texte bewirken. Festzuhalten ist dabei, dass die erwähnten narrativen Einschübe, die für die Entwicklung eines weltlich-fiktionalen Erzählens in Portugal von Bedeutung sind, ohne die Einbettung in den Kontext genealogischen Erzählens kaum tradiert worden wären. Mit dem Beitrag von Werner Röcke schließt sich der Kreis zu den antiken Anfängen des Liebes- und Abenteuerromans. Denn Gegenstand seiner Überlegungen ist die Thematik der Konversion ausgehend vom antiken Liebes- und Abenteuerroman und der frühchristlichen acta-Literatur. Konversion wird als eine grundlegende Form der Bekehrung religiös motivierter Abkehr von einem ‚alten‘ zu einem ‚neuen‘ Leben verstanden. Um die Ganzheitlichkeit der Konversion zu unterstreichen, betont Röcke zwei Punkte, die für Konversionen in der Regel charakteristisch sind. Zum einen ist dies die Eindeutigkeit der Konversion, also die Ganzheitlichkeit der Veränderung, zum andern ist Konversion ein Werk Gottes, das dennoch des praktischen Vollzugs durch den Konvertiten bedarf. Untersucht werden hierbei die legendarischen Romane Die gute Frau und der Wilhelm von Wenden. Im Zentrum beider Romane steht die Konversion fürstlicher Protagonisten, wobei entscheidend ist, welche Art von Konversion in den Romanen jeweils vollzogen wird. Da sich einerseits die Protagonisten in den Erzählungen ihres neuen Status als Konvertiten sicher sind, sich diese Konversion andererseits nur im Rückgriff auf deren früheren Status vollzieht, entsteht ein Paradox von Gewissheit und Problematisierung. Dies stellt eine Verschiebung der Konversionsproblematik dar, wie sie seit dem neuen Testament (Saulus-Paulus) und den frühchristlichen Apokryphen (Acta Pauli

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et Theklae) entworfen wurde, in denen die Konversion der Helden kompromisslos und radikal von statten geht. Die Vorarbeiten zu diesem Band reichen bis in das Jahr 2008 zurück und wurden von 2009–2010 vom kanadischen Social Sciences and Humanities Research Council gefördert. Die Konferenz wurde durch Zuschüsse der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Exzellenzclusters Languages of Emotion sowie durch Gelder aus der leistungsorientierten Mittelvergabe für Gleichstellung durch die Frauenbeauftragte und das Dekanat des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin ermöglicht; die Drucklegung des Bandes erhielt eine finanzielle Unterstützung des Inter­ disziplinären Zentrums „Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit“ der Freien Universität Berlin. Für Koordination und Vorbereitung der Drucklegung konnten wir auf die Hilfe von Sylwia Bräuer und Britta Wittchow zählen. Britta Wittchow hat zudem das Register erstellt. Ihnen allen, ebenso wie Katja Leuchtenberger vom Akademie Verlag, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Berlin, im März 2013 Martin Baisch

Jutta Eming

Gattung und Reflexion

Friedrich Wolfzettel (Frankfurt am Main)

Ein idyllischer Roman ohne Idylle Zu Paris et Vienne

Als Myrrha Lot-Borodine 1913 ihr inzwischen zum Klassiker gewordenes Büchlein über den „roman idyllique“ veröffentlicht, spricht sie von Kinderliebe und der „nostalgie du paradis perdu“,1 über die Struktur und die Nähe zum griechischen Roman verliert sie jedoch kaum ein Wort. Spätestens, wenn sie die Beispiele mit dem phantastischen Liebes- und Abenteuerroman Guillaume de Palerne abschließt und Daphnis und Chloe als einen antiken Vorläufer nennt, wird auch deutlich warum. Der idyllische Roman bleibt in dieser Perspektive durch das Motiv der frühen Liebe bestimmt und erscheint überdies als eine kurze vergängliche Blüte überzeitlich bukolischer Prägung ohne Fortsetzung und Entwicklung. Tatsächlich ist gerade die Fruchtbarkeit dieses Romantypus, sein Fortleben und seine Verbreitung, erst in der neueren Forschung immer mehr in den Blick gerückt: Floire and Blancheflor and the European Romance lautet der Titel einer 1997 publizierten Monographie von Patricia E. Grieve,2 die das Fortwirken des Gründungsromans wenigstens bis Boccaccios Filocolo verfolgt, und längst wäre wohl mit Sergio Cappello eine übergreifende gattungsgeschichtliche Synthese fällig, die den Bogen vom hellenistischen Liebesroman über den idyllischen Roman des Mittelalters bis zu den neuen Formen des griechischen Romans im 16. Jahrhundert schlägt.3 So geht es also nicht nur, wie Lot-Borodine konstatiert, um eine „floraison […] éphémère“,4 sondern um einen Gattungstypus, der zugleich durch die angedeutete bukolische Thematik und die spezifische zweiteilige Struktur des griechischen Romans bestimmt ist und sich dadurch unübersehbar von anderen Formen des mittelalterlichen Romans unterscheidet. In ihrer großen Studie zur ‚realistischen‘ Variante des idyllischen Romans im Altfranzösischen hat Marion Vuagnoux-Uhlig auf das auffällige Missverhältnis zwischen der Beliebtheit des Gattungsschemas noch im Spätmittelalter und der modernen Unterbewertung, ja Verdrängung einstmals wichtiger Titel hinge1

Myrrha Lot-Borodine: Le Roman idyllique au Moyen Age [1913], Genève 1972, Slatkine Reprint 1972, S. 2 und 3. 2 Patricia E. Grieve: Floire and Blancheflor and the European Romance, Cambridge, 1997. 3 Vgl. Sergio Cappello: Réception et réécritures du roman idyllique au XVIe siècle. In: Le Récit idyllique. Aux sources du roman moderne. Hrsg. von Jean-Jacques Vincensini/Claudio Galderisi, Paris 2009 (Recherches littéraires médiévales, 2), S. 179–192. 4 Lot-Borodine (Anm. 1), S. 269.

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wiesen.5 Das der griechisch-byzantinischen Tradition entlehnte Schema des sogenannten idyllischen Liebesromans, auf dessen gattungsgeschichtliche Problematik ich hier nicht eingehen will, hat von Floire et Blancheflor bis zu den Promessi Sposi Manzonis und wohl auch darüber hinaus eine erstaunliche Lebensfähigkeit bewiesen. „Aux sources du roman moderne“, lautet denn auch der betont provokative Untertitel eines neueren Tagungsbandes, Le Récit idyllique.6 Das gattungsgeschichtlich fast einmalige Beharrungsvermögen hängt vielleicht mit dem archetypischen Motiv der aufgeschobenen Befriedigung zusammen, durch das sich zeitlose Liebessehnsüchte und Idyllikerwartungen mit lebensweltlicher Realistik und vielfältigen Formen des Abenteuerromans verbinden lassen und biographische Tiefe erzeugen. In seinen Überlegungen über den Chronotopos des griechischen Romans hat Michail Bachtin7 bekanntlich die Bedeutung des privaten, individuellen Lebens in seiner Dauer, ein Leben jenseits der Klassenschranken und sozialen Bedingungen, in den Mittelpunkt gerückt und zugleich den abstrakten, d. h. exemplarischen Charakter dieser Individualität jenseits der Geschichte hervorgehoben. Ähnliches gilt auch für den idyllischen Roman des Mittelalters, der eben in seiner Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe die archetypische Grundstruktur des Liebesromans bewahrte. Weil der Akzent nicht auf einem bestimmten sozialen Umfeld liegt, kann dieser Typus an verschiedene Bedingungen angepasst oder auch historisiert werden. In der Hoch-Tief-Struktur dieses obligatorisch glücklich endenden Schemas sind die Talsohlen zwischen erster Liebesbegegnung/Trennung und erneuter Zusammenführung nicht nur beliebig auffüllbar, sondern auch beliebig dehnbar, und verschiedene Erzählmodelle können zur Wiedervereinigung der Liebenden führen. Charakteristisch ist demnach gerade die Offenheit und Anpassungsfähigkeit des Schemas. Keines der auf den Gründungsroman Floire et Blancheflor (ca. 1150) folgenden Werke nimmt z. B. das Modell der mit Märchenelementen ausgestatteten Such- und Erlösungsreise wieder auf, die schon in Aucassin et Nicolette (um 1200) und erst recht in Galeran de Bretagne und L’Escoufle (Anfang 13. Jh.) zu einer potentiell feministischen Perspektive weiblicher Selbstbehauptung umfunktioniert wird. Nichts hat die heiter frivole Stilisierung der chantefable von Aucassin et Nicolette – die Namen, maurisch für den französischen Helden, französisch für die maurische Sklavin, spiegeln bereits eine verkehrte Welt – mit der Ernsthaftigkeit, aber auch den moralischen Ambiguitäten der beiden letztgenannten, sogenannten realistischen Romane zu tun; und umgekehrt lässt die Geschichte des am Ende bekehrten Maurensohns Floire kaum die religiöse, erbauliche Wendung in Pierre de Provence et la belle Maguelonne erwarten, die auch Paris et 5

Marion Vuagnoux-Uhlig: Le Couple en herbe. Galeran de Bretagne et L’Escoufle à la lumière du roman idyllique médiéval, Genève 2009 (Publications romanes et françaises, CCXLV), S. 430. 6 Le Récit idyllique. Aux sources du roman moderne. Hrsg. von Jean-Jacques Vincensini/Claudio Galderisi, Paris 2009 (Editions Classiques Garnier). In ihrer kritischen Ausgabe von Paris et Vienne (Pierre de la Cépède: Paris et Vienne: Romanzo cavalleresco del XV secolo, Milano 1992) spricht Anna Maria Babbi denn auch von „un primo embrione dal quale si è sviluppato il romanzo moderno“ (S. 21f.). 7 M. M. Bachtin: The Dialogic Imagination. Hrsg. von Michael Holquist, Austin, University of Texas Press 1983, „The Greek Romance“, S. 86–110.

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Vienne auszeichnet. Anders als der eher amorphe Abenteuerroman bietet der idyllische Roman mithin Einheit und Vielfalt zugleich; sofern nur die Grundstrukturen zum Tragen kommen, scheint er an keine bestimmten Vorgaben gebunden zu sein. Er kann, muss sich aber nicht dem mittelhochdeutschen Typus des Liebes- und Abenteuerromans annähern, zumal das vorwiegend passive, ja unheroische Verhalten des männlichen Protagonisten den Abenteuerbegriff nur bedingt brauchbar erscheinen lässt.8 Funktionswandel scheint geradezu eine Voraussetzung für die Lebendigkeit eines Schemas, dessen Gattungscharakter offensichtlich auch in die Romane von Paarbeziehungen anderer Gattungen hineingewirkt hat: Erec et Enide, Amadas et Ydoine, Jehan et Blonde, Floriant et Florete und andere mehr wären hier zu nennen.9 Im Folgenden will ich daher gleichsam rückblickend ein spätmittelalterliches Beispiel behandeln, das der genannten These eines Funktionswandels in exemplarischer Weise zu entsprechen scheint, die Liebesgeschichte von Paris und Vienne. Warum Paris et Vienne? Der in acht Handschriften überlieferte Prosaroman des 14. Jahrhunderts,10 der zwischen 1487 und dem Ende des 16. Jahrhunderts in 11 Druckfassungen vorliegt und kurioserweise sogar in Versform zurückverwandelt wurde, hat lange Zeit kaum Beachtung gefunden. Übersetzungen ins Italienische, Spanische, Katalanische, Englische, Flämische, Schwedische, Armenische, eine lateinische Bearbeitung von 1516 und sogar eine mittelgriechische Bearbeitung, Erotokritos und Aretusa, zeugen von der Beliebtheit des Werkes.11 Die Bekanntheit des Romans, dessen Stoff wohl bis vor 1364 zurückgeht, wird durch den Cancionero de Baena bewiesen,12 in dem die Protagonisten unseres Romans zusammen mit anderen berühmten Liebespaaren der mittelalterlichen Literatur genannt werden. Der Verfasser oder Bearbeiter der Handschrift von 1438, Pierre de la Cépède (oder Cypède) aus Marseille, behauptet einleitend, die provenzalische Übersetzung eines livre, escript en langaige cathalain (S.  392; „Buch, das in katala8

Hierzu der gattungsgeschichtliche Forschungsbericht von Christine Putzo (in diesem Band). Entscheidend ist freilich die klare Trennung von dem Brautwerbungsschema, in dem der Held sich auf die Suche nach dem Liebesobjekt begibt. Im idyllischen Liebesroman sind Mann und Frau, gleichgültig, ob schon als Kinderpaar oder als reife Liebende, von Anfang an die Protagonisten einer beiderseitigen und gleichzeitigen Suche nach der Erfüllung und endgültigen Vereinigung. Die gleichberechtigte Liebe bildet die Voraussetzung dieses Romantypus, dessen Eigenart in der germanistischen Forschung zum Liebes- und Abenteuerroman nicht immer ausreichend beachtet wird. 10 Zitate nach der kritischen mehrsprachigen Ausgabe: Der altfranzösische Roman Paris et Vienne. Hrsg. von Robert Kaltenbacher, Erlangen 1904 (Romanische Forschungen, XV). Die Textgeschichte insbesondere im italienischen Bereich beleuchtet die schon genannte Edition von Anna Maria Babbi, von 1992 (Anm. 6). 11 Hierzu Felix Karlinger: Paris et Vienne – Wanderungen, Wandlungen, Nachklänge. In: Romanisches Mittelalter. Festschrift zum 60. Geburtstag von Rudolf Baehr. Hrsg. von Dieter Messner/Wolfgang Pöckl unter Mitarbeit von Angela Birner, Göppingen 1981, S.  127–142, und AnnaMaria Babbi: Destins d’amants: La réception de Paris et Vienne et Pierre de Provence et la belle Maguelonne dans la littérature européenne. In: Le Récit idyllique (Anm. 3), S. 153–164. 12 In dem von Francisque Michel herausgegebenen Cancionero de Juan Alfonso de Baena, Leipzig 1860, Bd. I, S. 199, stehen die Namen „Paris et Vyana“ neben Tristan und Isolde, Lançarote und Guinevra, Amadis und Oryana, Flores und Blancaflor. 9

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nischer Sprache geschrieben wurde“) 1432 ins Französische übertragen zu haben. Die These ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, und ich will an dieser Stelle nicht auf die quellengeschichtliche Diskussion eingehen. Paris et Vienne steht auf jeden Fall im Schnittpunkt zwischen der mittelalterlichen Tradition und der frühen Moderne, die an den wiederentdeckten griechisch-byzantinischen Roman anknüpft, und variiert noch einmal zentrale Motive seit Floire et Blancheflor: das exotistische Setting der Orientfahrt des Helden aus Floire, die Anna Maria Babbi mit einer „Bildungsreise“13 verglichen hat und die auch in Pierre de Provence et la belle Maguelonne wieder aufgenommen wird; in beiden Werken steigt der Held zum Vertrauten und Berater des maurischen Herrschers auf; die Gefangenschaft der liebenden Frau aus Floire und – seitenverkehrt – aus Aucassin et Nicolette, mit dem den Roman auch die provenzalische Topographie verbindet; die Namengleichheit der Heldin mit einem Ort, hier Vienne, kommt noch hinzu. Zu nennen wären auch das zentrale Motiv der List14 aus Floire und das Motiv des Ringes als Erkennungszeichen wie in Galeran de Bretagne oder Pierre de Provence, usw. Ähnlich wie die sogenannten realistischen Romane Galeran de Bretagne und L’Escoufle verknüpft der Roman die Liebeshandlung mit einem politisch-historischen Hintergrund; Kaltenbach äußert die These, es gehe um einen angedeuteten „Dynastiewechsel im Dauphiné“ (S. 366). Das Kreuzzugsthema erinnert an Jehan de Saintré von Antoine de La Sale und zeigt das Bemühen des Autors um eine Aktualisierung und Modernisierung der Gattung ,idyllischer Roman‘. Die betonte Realistik der Beschreibung und die Vermeidung alles Märchenhaften und Wunderbaren steht überdies in deutlichem Gegensatz zu den folkloristischen und providentiellen Zügen von Pierre de Provence et la belle Maguelonne, dem im 15. Jh. entstandenen erbaulichen Roman.15 Die hagiographische Aufwertung der weiblichen Heldin ist beiden Romanen gemeinsam, doch steht der aktiven karitativen Rolle Maguelonnes hier die realistischere Rolle der Heldin als Duldende gegenüber, auch dies ein Indiz für die gewollte Neuorientierung der Gattung, die sich damit dem traditionellen Liebesroman und der konservativen Dichotomie von männlichem Abenteuer und weiblichem Dulden annähert; die mutige Spreizung der beiden geschlechterspezifischen Abenteuerwege mit der eigenständigen ‚Suchfahrt‘ der Frau16 in Galeran de Bretagne 13

Anna Maria Babbi: Introduzione (Anm. 6), S. 20. Zum Orient vgl. auch P. Mildonian: L’Occidente fantastico. Note sulla tradizione orientale del Paris et Vienne. In: Studi medievali e romanzi in memoria di Alberto Limentani, Roma 1991. 14 Hierzu auch R. W. Hanning: Engin in the XIIth Century Romance: An Examination of the Roman d’Eneas and Hue de Rotelande’s Ipomedon. In: Yale French Studies 51 (1974), S. 82–100. 15 Zu Recht betont Anna Maria Babbi (Anm. 6), S. 21, dass „il realismo si manifesta nello sforzo di evitare qualsiasi situazione non verosimile“; freilich ist nicht einsichtig, warum die Herausgeberin dann den deutlich hagiographisch-märchenhaft geprägten Roman Pierre de Provence ebenfalls zu dieser realistischen Tradition zählt. Zu einem Vergleich der beiden Werke siehe W. Söderhjelm: Pierre de Provence et la belle Maguelonne. In: Mémoires de la Société Néophilologique de Helsingfors VII (1924), S. 7–49. Felix Karlinger nimmt dagegen eine ursprüngliche „Verbindung zur Märchenwelt“ (Anm. 12), S. 129 an. 16 Vgl. hierzu auch Friedrich Wolfzettel: Wahrheit der Geschichte und Wahrheit der Frau: „Honor de feme“ und weibliche „aventure“ im altfranzösischen Roman. In: Zeitschrift für romanische Philologie 104 (1988), S. 197–217.

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und L’Escoufle wird so programmatisch zugunsten des herkömmlichen Brautwerbungsschemas zurückgenommen, und in Bezug auf die soziale Unterlegenheit des Helden, d. h. die Umkehrung der sozialen Ausgangskonstellation in Galeran de Bretagne, wäre vor allem auf die Parallelen zu dem Artusroman Gliglois zu verweisen. Paris et Vienne erscheint mithin als bewusst konservative Spätform der literarischen Entwicklung, deren intertextuelle Bausteine in ein ‚realistisches‘ höfisches Milieu integriert und gegebenenfalls auch korrigiert werden, nicht ohne auch die größere antike Tradition zu bemühen: z. B. die Geschichte von Paris und Helena (S. 469) und von Jason und Medea (S. 479) in Bezug auf das Versprechen immerwährender Liebe oder das Beispiel von Boethius (S. 531) im Hinblick auf das Kerkermartyrium der Heldin. Vor allem aber wird das für die Gattung zentrale Paradiesmotiv17 neu interpretiert, problematisiert und zugleich religiös gewendet. Kurz: Paris et Vienne stellt sich zugleich als vorläufige Summe und als Korrektur des idyllischen Romans dar; der Roman reduziert das utopische Potential der Gattung auf sozial verträgliche Maße und fungiert so in idealer Weise als Scharnier zur frühen Neuzeit, in der der griechische Roman bekanntlich neu entdeckt und für die Folgezeit fruchtbar gemacht wurde. Anders als die volksbuchnahe, symbolisch stilisierte Textur des späteren Maguelonne-Romans belegt die umfangreiche Handlung die Suche des spätmittelalterlichen Prosaromans nach Komplexität und engmaschiger psychologischer Interpretation, die auch nur noch wenig mit dem frühen Versroman gemein hat. Hier nur die wesentlichen Elemente des Inhalts, für dessen Resümee der Herausgeber Robert Kaltenbach nicht weniger als 15 Seiten benötigt. Ich gliedere dem Schema des idyllischen Romans entsprechend in zwei Teile mit Schluss. Am Anfang des Aufsteigerromans steht das für die Gattung fast konstitutive Motiv der ungleichen Liebe, das noch in dem gespielten Standesunterschied des Helden in Pierre de Provence thematisiert wird. Vienne, zu Ehren ihrer Geburtsstadt so genannt, ist die Tochter des angesehenen Barons Godefroy de Lanson, der über das Dauphiné herrscht, Paris der einzige Sohn eines reichen bürgerlichen Vasallen, Messire Jacques; Viennes Gespielin ist Isabeau, der Freund von Paris Edoardo. Paris verkehrt trotz seiner untergeordneten Stellung bei Hofe und fasst eine heftige Neigung zu dem Mädchen, das ihm als einfachem Vasall natürlich unerreichbar ist. Doch seine heimlichen nächtlichen Ständchen wecken die Sehnsucht und Neugier Viennes, die zunehmend in Schwermut versinkt, als Paris und sein Freund eines Nachts nur mit Mühe den Wachen entkommen und die Ständchen ausbleiben. Auf einem zum Trost und zu Ehren Viennes veranstalteten Turnier vollbringen die Freunde als unbekannte weiße Ritter wahre Wunder, doch Paris nimmt den Preis unerkannt an sich und entzieht sich der Gesellschaft, um anschließend auf dem Fest bei Tische zu bedienen. Aber das Turniermotiv muss potenziert werden: Ein Schönheitsstreit der Barone auf dem Heimweg soll vom König von Frankreich geschlichtet werden, indem er ein großes Turnier ausrufen lässt. Paris, der sich in das Haus des Bischofs von Saint Vincent zurückgezogen hat, kann dazu überredet 17

Vgl. Friedrich Wolfzettel: Das gefährdete Paradies. Zum idyllischen Roman im französischen Mittelalter. In: Romanische Forschungen 121 (2009), S. 20–38, und Le Paradis retrouvé: Pour une typologie du roman idyllique. In: Le récit idyllique (Anm. 6), S. 59–77.

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werden, daran teilzunehmen; er siegt im Gedanken an Vienne, entzieht sich aber wieder der öffentlichen Aufmerksamkeit. Sein Vater ist derweilen tief betrübt, weil er seinen Sohn bei keinem Turnier gesehen hat. Edoardo überredet den Freund zu einer Reise nach Brabant, während der Vater krank wird. Das ist der Augenblick der ersten Anagnorisis, die bezeichnenderweise an Objekte geknüpft ist. Bei einem Krankenbesuch im Hause von Paris entdeckt die Familie Viennes nämlich die Siegestrophäen, die dieser in seiner Privatkapelle ausgestellt hatte, und Vienne kniet weinend am ‚Altar der Liebe‘ nieder. Sie nimmt die Kleinodien an sich, und unter dem frommen Vorwand, den Diebstahl wieder gutmachen zu wollen, lässt sie Paris mit dem Bischof am folgenden Tag in ihre Kammer kommen. Nachdem die Geheimnisse aufgeklärt sind, können sich die Liebenden wechselseitig erklären und sich ewige Liebe schwören. Der zweite Teil der Handlung beginnt mit dem Gerücht der Verlobung Viennes mit dem Sohn des Herzogs von Burgund. Paris ist verzweifelt und träumt von einem Garten, aus dessen Blumen plötzlich Schlangen schießen und ihn verfolgen; die eine Blume, die er gepflückt hat, muss er darauf fallen lassen. Als er Vienne von diesem Traum erzählt, überredet sie ihn zu dem sinnlosen Plan, seinen Vater um ihre Hand anhalten zu lassen. Nach der zu erwartenden schmachvollen Abfuhr und der traurigen Wendung des Ganzen hat auch Vienne einen Traum: Sie ergeht sich im Garten ihres Vaters, als ein Löwe auf sie zukommt; von dem Apfelbaum, auf den sie sich rettet, sieht sie Paris am anderen Ende des Gartens hinter einen breiten Strom. Er kann ihr nicht helfen. Es folgt die Episode einer durch ein Unwetter missglückten Flucht der beiden Liebenden nach Aigues-Mortes; Vienne wird ergriffen, Paris entkommt mit dem Verlobungsring und gelangt mit Kaufleuten nach Genua. Als Vienne sich abermals weigert, der geplanten Vermählung zuzustimmen, lässt der Vater ein unterirdisches Gefängnis bauen. Da dieses aber an eine Kirche stößt, erbittet sich Freund Edoardo in dieser den Platz für eine Kapelle, in der er mittels eines losen Steins mit der Gefangenen in Verbindung treten kann. Nach sechs Monaten kommt der Sohn des Herzogs persönlich nach Vienne und will mit Vienne sprechen; sie aber hat eine List ersonnen: Sie trägt ein fauliges Huhn unter der Achsel und behauptet, eine schwere übelriechende Krankheit zu haben. Paris hat inzwischen beschlossen, nach Konstantinopel zu fahren; er lernt die ‚maurische‘ Sprache, kleidet sich auf ,maurische‘ Art und lässt sich einen Bart wachsen, der ihn unkenntlich macht. Über Tauris, Bagdad und Jerusalem kommt er schließlich nach Kairo, wo es ihm gelingt, den kranken Lieblingsfalken des Sultans zu heilen und die Gunst des Herrschers zu erlangen. Von Tempelrittern erfährt er, dass Viennes Vater als Botschafter und Spion eines geplanten Kreuzzugs in Palästina ergriffen und in Alexandrien gefangen gesetzt wurde. Es gelingt ihm, ihn im Kerker zu besuchen. Für seine Befreiung verspricht ihm der Baron, ihn in der Heimat in einen hohen Stand zu versetzen, ihm Land abzutreten und die Tochter zur Gemahlin zu geben. Mit einer List gelingt die Flucht, und über Zypern gelangen die beiden Helden glücklich nach Aigues-Mortes zurück. Das Happy End im Schlussteil verzögert sich zunächst. Vienne reagiert bestürzt auf die Nachricht des Vaters, er habe sie seinem Lebensretter versprochen, will sie doch Paris die Treue bis in den Tod bewahren. Der Vater will zwar Gewalt anwenden, aber zuvor

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soll Paris (immer noch als Maure verkleidet und unerkannt) im Beisein des Bischofs mit Vienne sprechen; doch diese lässt sich nicht erweichen und wendet zudem noch einmal den Ekeltrick mit dem fauligen Hühnchen an. In einem Traum hatte sie Paris zuvor als Hilfeflehenden gesehen und seinen Schatten zu sehen geglaubt. Nach der Unterredung überreicht Paris ihr den einstigen Ring, den sie zwar erkennt, aber zuerst als Ring des Totgeglaubten identifiziert, und erst als er sie in der Heimatsprache anspricht, fällt sie mit lautem Schrei und ohnmächtig vor Glück in seine Arme. Edoardo stürzt mit gezücktem Dolch herein und meint Vienne retten zu müssen. Aber Paris gibt sich zu erkennen und alles endet gut. Die Hochzeit ist am Johannistag, während Edoardo Viennes tapfere Gefährtin Isabeau heiratet. Paris und Vienne werden noch viele Jahre Gutes tun und erst in hohem Alter sterben. Ein Schlüssel der Handlung ist das Motiv des gewaltlosen Widerstands, durch das die adlige weibliche Heldin als passives Opfer durch alle Prüfungen hindurch paradoxerweise zur tragenden Gestalt des Romans wird. Schon der Herausgeber kommentiert: „Die Persönlichkeit Viennes ist am besten gezeichnet.“18 In bezeichnender Umkehrung des Motivs der sozialen Ungleichheit in den hochmittelalterlichen Beispielen Aucassin et Nicolette und Galeran de Bretagne ist hier die Frau die Ranghöhere, bleibt aber gerade darum innerhalb ihrer ständischen Schranken; ein weibliches Abenteuer und die Verbindung von Liebe und weiblicher Emanzipation sind hier von vornherein ausgeschlossen. Das heißt, Weiblichkeit und Liebe sind auf das intimistische Register beschränkt. Der Gegensatz aktiv vs. passiv/außen vs. innen zieht sich durch den ganzen Roman und schließt auch die abstoßende List des Ekeltricks mit ein, dessen Motiv der Autor offensichtlich aus der Langobarden-Chronik des Paulus Diaconus19 übernommen hat und das in psychoanalytischer Perspektive wohl auch als Zensur des Begehrens gelesen werden muss. Das faulige Fleisch unter der Achsel des Mädchens, in metonymischer Nähe zur weiblichen Brust, verbindet nicht nur Intimität und drastische Realistik, es zeigt auch, wie sich die Heldin mangels anderer Möglichkeiten aktiven Widerstands auf die ‚ekelerregende‘ Seite des weiblichen Fleisches zurückzieht. Vincensini hat die Abwertung des weiblichen Körpers als perfide Durchbrechung höfischer Normen interpretiert.20 Daher erscheint die ganze Episode der misslungenen gemeinsamen Flucht der Liebenden wie ein ironischer Kommentar der Motivtradition von Liebesflucht und Idylle, wie sie in Aucassin et Nicolette, Galeran de Bretagne und L’Escoufle, und noch in Pierre de Provence et la belle Maguelonne zu finden ist. In dem furchtbaren Unwetter zerreißt der Schleier der Idylle, und der reißende Fluss, den die Heldin zuvor im Traum zwischen sich und dem Geliebten 18

Kaltenbacher (Anm. 10), S. 370. Paulus Diaconus: Historia Langobardorum, IV, 37 (nicht 38 wie der Herausgeber S. 367 irrtümlich angibt): Die Töchter der lüsternen Verräterin, Romilda, schützen sich durch faulige Hühnchen vor der Zudringlichkeit der siegreichen Avaren. Die Tatsache, dass die Episode im spanischen Libro de los exemplos, CLXXVII (Biblioteca de autores españoles, 51, S. 505) wieder aufgenommen wurde, bildet eines der spärlichen Argumente, die für die vom Vf. behauptete katalanische Herkunft des Romans sprechen könnte. 20 Jean-Jacques Vincensini: Désordre de l’abjection et ordre de la courtoisie: le corps abject dans Paris et Vienne de Pierre de la Cépède. In: Medium Aevum LXVIII (1999), S. 292–304. 19

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gesehen hat, wird Wirklichkeit. Der auf den ersten Blick reaktionäre Roman revoziert mithin das zentrale Motiv weiblicher Aventiurefähigkeit, indem er die Heldin nach Hause, d. h. konkret und zugleich symbolisch in den Kerker ihrer Weiblichkeit zurückschickt und aktives Handeln, exotistisches Wandern und öffentliches Auftreten konsequent dem männlichen Protagonisten vorbehält. Intimität war von Anfang an an den geschlossenen Raum der chambre gebunden gewesen21 – man vergleiche nur den Besuch Viennes, der Damen und ihrer Mutter in den chambres von Paris’ Hôtel (S.  445)  –, und Hausaltar und Privatkapelle erscheinen als symbolische Zuspitzung dieser Tendenz zur räumlichen Verengung, die auf Weiblichkeit und Liebe verweist. Das Gefängnis, in dem die Heldin Jahre ihres Lebens verbringen wird, ist anders als das luxuriöse Blumenturmgemach, in dem der Emir die Heldin in Floire et Blancheflor festhält, eine Kammer fast ohne Licht, une petite prison, qui soit toute dessoubz terre, si que il ny puisse entrer si non bien pou de clarte (S. 538; „ein kleines Gefängnis, das unter der Erde sein soll, so dass nur wenig Helligkeit eindringt“), wie es sich der Vater wünscht. Der Strafraum potenziert gleichsam die natürliche Enge des weiblichen Gemachs, wenn nicht sogar die Unzugänglichkeit des weiblichen Körpers22 in einer Art perverser Intimität, die nur durch den gelockerten Stein der Kirchenmauer noch eine Verbindung zur Außenwelt männlichen Handelns hat. Auch dies ein umgekehrtes Echo von Aucassin et Nicolette, wo die Kommunikation Nicolettes mit dem geliebten Aucassin über ein Loch in der alten rissigen Turmmauer erfolgt. Doch legt nichts in dem soliden Gefängnis die ironische Symbolik der bröckelnden feudalen Mauern in Aucassin et Nicolette nahe.23 Anders als in der zum Teil karnevalesk zugespitzten chantefable scheint unserem Autor jede Gesellschaftskritik fremd zu sein. Überhaupt liegen Welten zwischen der aufmüpfigen Maurenheldin Nicolette, die sich selbst aus ihrem Turmgefängnis befreit, nachts wie eine Fee im Mondenschein über taufeuchtes Gras schreitet, nach ihrer Flucht mit den Hirten auf dem Feld plaudert und den Geliebten in einer dem Tristan-Roman von Béroul nachempfundenen Laubhütte im Wald erwartet, und unserer ernst- und tugendhaften Heldin, die auf ihrer Flucht mit Paris bei einem Kaplan übernachtet und sich nach dem Verlust des Geliebten ausgerechnet von dem Priester nach Hause zurückbringen lässt. Auffallend ist ja überhaupt die klerikale Helferrolle, sei es bei dem Bischof von Saint Vincent,24 der von Anfang an als Komplize des Helden fungiert und noch bei dem endgültigen Wiedersehen der Liebenden als Zeuge zugegen ist, oder im Hinblick auf die unschwer durch klerikale Vermittlung eingerichtete 21

Vgl. Renate Kroll: Weibliche Weltaneignung im Mittelalter: Zur Raumerfahrung innerhalb und außerhalb des ‚Frauenzimmers‘. In: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident. Hrsg. von Laetitia Rimpau/Peter Ihring, Berlin 2005, S. 149– 162. 22 Erinnert sei daran, dass Gebärmutter und Unterleib der Frau im Mittelalter als ‚Kammern‘ (chambres) bezeichnet wurden. Vgl. Sydrac le philosophe. Le livre de la fontaine de toutes sciences. Hrsg. von Ernstpeter Ruhe, Wiesbaden 2000, Nr. 92. 23 Die Szene ist von Roger Pensom: Aucassin et Nicolete. The Poetry of Gender and Growing Up in the French Middle Ages, Bern u. a. 1999, S. 48, als Ausdruck der Überwindung einer versteinerten und morschen „gereatric world“ gedeutet worden. 24 Der Herausgeber spricht von dem Motiv des unfreiwilligen Vermittlers (S. 367).

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Privatkapelle, von der aus Edoardo mit der gefangenen Heldin in Beziehung tritt. Wie schon bei der ersten Begegnung der Liebenden in der Privatkapelle des Helden, die durch die Vermittlung des Bischofs zustande kam, fungiert der klerikale Bereich in merkwürdig ambiger Weise zugleich als Garant der Konvention und ihrer Zwänge und als Helferinstanz bei der Erfüllung der ständeübergreifenden Liebe. Das gilt auch, wie wir sehen werden, für die heiligmäße Rolle der Frau. Schon Kaltenbacher bemerkt einmal die auffällige „religiöse Stimmung“25 des Romans, der die Liebeserfüllung nicht an Lebensbewährung allgemein, sondern an eine christlich verstandene Phase der Prüfung binden zu wollen scheint, und Felix Karlinger stimmt ihm hierin zu.26 Wenn die Liebenden am Johannistag heiraten, so scheint das nicht nur, wie in zahlreichen Epen und Romanen auf eine halb religiöse, halb mythische Tradition zu deuten. Auffällig ist auch der überaus erbauliche Schluss, in dem von den Wohltaten der Eheleute die Rede ist. Offensichtlich ist die Liebesidylle nur mit dem Segen der Kirche möglich. In Pierre de Provence et la belle Maguelonne wird es nicht anders sein. Aber weil der idyllische Roman, wie eingangs gesagt, auf der Aufwertung des ‚Privaten‘ beruht, bleibt z.  B. die Kreuzzugsthematik von der religiösen Überhöhung ausgeschlossen und dient nur dem Zweck, den Vater der geliebten Frau in den vorderen Orient zu führen. Private Wohltätigkeit, nicht Glaubenskampf ist angesagt. Freilich schließt Frömmigkeit hier weiblichen Trotz, Selbstbewusstsein und List nicht aus. Wohl gesteht Vienne dem Vater ihre Schuld, doch ohne zugleich von dem Recht auf ihre Liebe abzugehen. In der entscheidenden Aussprache mit den Eltern beruft sie sich auf die göttliche Weltordnung (S. 527), und in einem weiteren Gespräch mit dem Vater weigert sie sich, eine nicht vorhandene größere Schuld einzugestehen, und beruft sich dabei auf Boethius und seine Consolatio philosophiae (S. 531). Wir sind nicht mehr weit vom hagiographischen Register entfernt, erinnert doch die Situation der Heldin z. B. an das Christinenleben, in dem der tyrannische und grausame Vater seine heldenhafte Tochter durch Kerkerhaft und Folter dazu zwingen will, ihre Treue zu dem himmlischen Bräutigam aufzukündigen.27 Die Vie de sainte Cristine gehört ja nicht zuletzt aufgrund der versepischen Gestaltung durch Gautier de Coinci zu den bekanntesten Varianten des weiblichen Martyriums.28 Freilich bedeutet eine solche Analogie nicht weniger als die Gleichsetzung der Treue zum Geliebten mit dem hagiographischen Motiv der Treue zum himmlischen Bräutigam und belegt einmal mehr die merkwürdige Ambiguität des religiösen Registers. Auch Vienne spricht von möglichen Qualen, die sie ertragen würde, und auch der Sohn des Herzogs von Burgund glaubt zunächst in Unkenntnis der Gründe Viennes für ihre Weigerung, dass sie sich insgeheim Gott versprochen habe: entendoit qu’elle eust donne 25

Kaltenbacher (Anm. 10), S. 368. F. Karlinger (Anm 11), S. 130. 27 Vgl. Friedrich Wolfzettel: Weiblicher Widerstand als Heldentum. Interferenzen zwischen Epik und Hagiographie. In: Pöchlarner Heldenliedgespräche. Hrsg. von Johannes Keller/Florian Kragl, Wien 2010, S. 205–218. 28 Gautier de Coinci: La Vie de sainte Cristine. Hrsg. von Olivier Collet, Genève 1999 (Textes Littéraires Français). 26

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son courage au service de Dieu (S. 556; „glaubte zu verstehen, dass sie sich ganz dem Dienst an Gott geweiht hatte“). Und später heißt es ganz ähnlich vom Vater: Le dauphin entendoit qu’elle eust promys son pusselage a Dieu, mes Vienne entendoit de Paris, a qui elle s’estoit du tout donnee et promyse. (S. 602; „verstand, dass sie ihre Jungfräulichkeit Gott geweiht hatte, aber Vienne meinte Paris, dem sie sich geschenkt und versprochen hatte“). Endlich kann auch die List mit dem verdorbenen Hühnchenfleisch als besonders zweideutige Form religiöser Selbsterniedrigung begriffen werden, die zudem durch eine fromme Aufforderung der Heldin an Isabeau zum Fasten eingeleitet wird (S. 551). Selbst das hagiographische Motiv der frommen Verklärung wird bemüht, wenn der Sohn des Herzogs bei seinem zweiten Besuch im Gefängnis feststellt: Quar qui regardoit le doux visage de Vienne, il sembloit que ce fut une estelle, quar il resplendissoit plus fort que ne faisoient les torches qui la estoient […]. (S. 553f.; „Denn wer das süße Antlitz Viennes betrachtete, dem schien es wie ein Stern, der heller strahlte als die Fackeln ringsum“). Ihre Standhaftigkeit nennt die Heldin selbst bonne pascience, par laquelle je puisse advenir a la gloire de paradis. (S. 557; „eine gute Geduld, durch die ich in die Glorie des Paradieses eingehen kann“). Die Glorie des Paradieses wird nicht zuletzt in der Liebeserfüllung bestehen, doch bis dahin lässt der Roman die Möglichkeit religiöser Sublimierung des Begehrens offen. So in einem prophetischen Traum in der Tradition religiöser Verheißung, in die sich auch das Motiv des Paradieses unschwer einordnen lässt. Selbst das visionäre Element zahlreicher Hagiographien gerade des Spätmittelalters wird angesprochen – und zwar so, dass die Ambivalenz von irdischer und himmlischer Liebe, irdischem und himmlischem Glück gewahrt bleibt. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass hier das Vorbild der im späten 13. und im 14. Jahrhundert aufblühenden weiblichen Mystik im Umkreis besonders des Beginentums eine Rolle gespielt hat. Man denke nur an die 1310 verbrannte brabantinische Marguerite Porete, die in ihren Visionen der „vernichtigten Seele“ die weltliche Tradition der höfischen Liebe in den geistlich neuplatonischen Liebesbegriff einbezieht.29 Vienne sieht in ihrem Traum einen prächtigen Adler, der sie in die Freiheit führen will und ihr die „Krone der Freude“ zeigt: C’est la coronne de joye, que je veulh que vous portes en signe de victoire […] Et lors Vienne estoit si ayse – se luy estoit advis – que il luy sembloit estre en paradis. (S. 584; „das ist die Krone der Freude, und ich will, dass Ihr sie als Siegeszeichen tragt. – Und da war Vienne so wohl, dass ihr schien, sie sei im Paradies“). Die religiöse Wendung der Heldin des ursprünglich subversiven Romanschemas wird wenig später auch in Pierre de Provence et la Belle Maguelonne thematisiert, doch diskret in dem karitativen Wirken der Heldin in Südfrankreich. In Paris et Vienne wächst die Heldin dagegen zur weltlichen Heiligen heran, die die lichte Weite in den Traum einer Apotheose transponiert, die alle Zeichen auch religiöser Verzückung (Adler, Krone, Sieg, Paradies) trägt. Als Symbol der Auferstehungshoffnung und der Himmelfahrt Christi und als Symbol des Evangelisten Johannes ist der schon in der antiken My29

Vgl. Barbara Hahn-Hooss: Ceste Ame est Dieu par condicion d’Amour. Theologische Horizonte im Spiegel der einfachen Seelen von Marguerite Porete, Münster 2010 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters, 73), bes. S. 207ff.

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thologie als Bote des Zeus und Seelenführer bekannte Vogel hier ein zentrales Bild der religiösen Umwertung des idyllischen Liebesromans.30 Die Krone erinnert nicht zufällig an das Motiv der Märtyrerkrone und an die Krone der Jungfräulichkeit. Das zentrale Motiv der wechselseitigen Treue rückt so in einen neuen religiös-erbaulichen Kontext, der alle äußerlichen Anfechtungen etwa des originalen griechischen Liebesromans Heliodorscher Prägung von vornherein unterdrückt und religiös überhöht. Die Frau muss nicht in die Welt hinausgehen, um sich zu bewähren, sie wächst durch ihre Innerlichkeit über sich selbst hinaus, und der Adler,31 der sie an der Hand nimmt und nach draußen führen will, ist zunächst nur ein symbolisch interpretierbarer Traumhelfer der Befreiung, der freilich auch die Rolle des Helden am Ende des Romans präfiguriert. Traum und Paradies sind hier aufeinander bezogen, als ob es darum ginge, das für den idyllischen Roman seit Floire et Blancheflor konstitutive Paradiesmotiv neu zu situieren. Das bereits von Lot-Borodine angesprochene Motiv verweist zwar immer auf ein gefährdetes Paradies,32 doch der Gründungsroman Floire et Blancheflor zeigt deutlich, dass das ursprüngliche Paradies der Kinderliebe am Ende einholbar ist. In seiner wegweisenden vergleichenden Strukturanalyse des Romans hat Peter Haidu33 seinerzeit die stufenförmig sich steigernde Romanstruktur des Artusromans mit seinem zweiteiligen Entwicklungs- und Reifungsschema dem ebenfalls zweiteiligen, aber zirkulären Schema der Restitution des Verlorenen im idyllischen Roman gegenübergestellt. Die sogenannte Idylle lebt erst von dieser Spannung, die sich auch in den Konnotationen des paradiesischen locus amoenus der Liebenden vor der Trennung niederschlägt. Nun sind solche Paradieskonnotationen zunächst auch in dem mehrfach aufgerufenen Motiv des Gartens in Paris et Vienne zu finden: Man denke an das frühe Ständchen von Paris im Garten der Geliebten (S. 398), ein Treffen im Garten (S. 499/502), die Weigerung der Tochter im Gespräch mit dem Vater im Garten (S. 517), ja selbst die Falkenepisode, in der Paris den kranken Falken im Garten des Sultans heilt und so die Voraussetzungen für die Erfüllung der Liebe schafft; letzterer ist freilich ein Garten, der nur noch entfernt an den erotischen Zaubergarten des Emirs in Floire et Blancheflor erinnert. Doch das wirkliche Paradies – das zeigt auch der Adlertraum – ist nicht mehr an die erotische Idylle gebunden. Denn Gott ist der „wahre Herr des Paradieses“, vray Dieu de paradis (S. 613), wie die Heldin beim Anblick des Ringes am Ende des Romans ausruft. Und Gott will offensichtlich, dass sich diese Liebe nicht an einem paradiesischen Ort erfüllt. Oder anders: Die weltlichen Paradieskonnotationen sind bewusst in den ursprünglich religiösen Bereich des Begriffs zurückgenommen, und wenn von einem wiedergefundenen Paradies die Rede sein kann, dann nur unter diesen religiösen Vorzeichen. Der idyllische Roman thematisiert die von Gott gewollte Liebe, eine Präfiguration des himmlischen Paradieses, nicht die irdische 30

L. Wehrhahn-Stauch: Art. Adler. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Hrsg. von Engelbert Kirschbaum, Nachdr. Freiburg i. Br., 1990, Bd. I, Sp. 70–74. 31 Trotz des weiblichen Geschlechts – une aigle – ist der Adler hier wohl eine männliche Instanz. 32 Vgl. Wolfzettel (Anm. 17). 33 Peter Haidu: Narrative Structure in Floire et Blancheflor. In: Mélanges de philologie romane offerts à Charles Camproux, Montpellier 1978, Bd. I, S. 417–427.

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Friedrich Wolfzettel

Idylle eines Ersatzparadieses, das an höfische Vorgaben erinnern könnte. Wie wir schon gesehen haben, bleibt das Draußen, die offene Natur, die selbst noch in der MaguelonneGeschichte eine bestimmende Rolle spielen wird, der Heldin hier letztlich verschlossen. In dem beschriebenen Adlertraum geht es um eine imaginäre Sehnsucht, die die Heldin selbst im Traum anzweifelt, träumt sie doch im Traum, dass sie schlafe und träume und dass der Adler sie nur schwer zu wecken vermag. Von dem Unwetter, das die beiden Liebenden auf der Flucht nach Aigues-Mortes überrascht, war bereits die Rede: Die reißenden Fluten strafen jede Paradiessehnsucht, jedes idyllische Draußensein und erotische Verweilen Lügen. Die Trennung der Liebenden nach der idyllischen Gemeinsamkeit entspricht den Gesetzen der Gattung ‚idyllischer Roman‘, aber hier nimmt die Trennung katastrophenähnliche Züge an, während die eingangs angedeutete Idylle im späteren Verlauf ersatzlos gestrichen ist, um erst am Ende des Romans eingelöst zu werden. Deren Problematik bezeichnen dann auch die beiden schon kurz resümierten Träume, die auf die lange Tradition prognostischer Träume seit dem Rolandslied rekurrieren, aber ungewöhnlich deutlich im Dienste der Zurücknahme des Paradiesmotivs instrumentalisiert sind. In ihrem Bestreben, die Zensur des Begehrens anzudeuten, können sie vielleicht auch als Indiz für die Modernität dieser spätmittelalterlichen Variante des idyllischen Romans gewertet werden. Der Autor selbst bezeichnet einen solchen Traum als advision (S. 495) und betont damit den ernsthaften, ja religiösen Charakter des Traumgeschehens. Wiederum dienen religiöse Konnotationen gleichzeitig als Zensur und als Mittel der Überhöhung der beschriebenen Liebessehnsucht. Beide Träume zensieren psychoanalytisch gesehen Paradiessehnsucht und erotische Erfüllung. Der erste, dem Rosenroman nachempfundene Traum von Paris verkehrt das Verhältnis von paradiesischer Befreiung und weltlicher Gebundenheit, indem der Paradiesgarten selbst zum geschlossenen Angstraum mutiert. Der Held hat die allerschönste, duftende Blume gepflückt, doch als er den Garten verlassen will, il trovoit la porte clouse (S. 477; „fand er die Türe verschlossen“), während sich von überall her Schlangen auf ihn stürzen, vor denen er sich nur retten kann, indem er die geliebte Blume fallen lässt, also auf die Erfüllung seiner Liebe verzichtet. Die groteske Vermehrung des biblischen Schlangenmotivs gehorcht einer Traumlogik, die den Helden der Orientierung beraubt, denn nicht nur erkennt er die Zwecklosigkeit seines Schwertes, – ein Hinweis auf seine Impotenz? – er weiß auch nicht, wohin er fliehen soll: et ne scavoit ou aller (S. 477; „und er wusste nicht wohin“). Das scheinbare Paradies erweist sich als vergiftetes Paradies, die Blumenzier als bloße Tarnung einer Schlangenbrut, welche die Vorstellung eines Schutzraums der Idylle als grausame Täuschung entlarvt. Auf den Traum des Helden antwortet in gewisser Weise wenig später der Traum der Heldin, deren realistische Paradieslandschaft nicht zufällig im Garten ihres Vaters angesiedelt ist. Zu dem biblischen Schlangenmotiv gesellt sich jetzt das vage biblische Motiv des Apfelbaumes, der freilich nicht als Baum der Versuchung fungiert, sondern nur zur Rettung vor einem lyon moult estrange (S. 495; „einen angsteinflößenden Löwen“) dient und möglicherweise das gängige Motiv des von Gott geforderten weiblichen Gehorsams andeutet. Das Adjektiv estrange bezeichnet wohl auch hier eine groteske Verformung und Bedrohung; ähnlich wie die vervielfältigten,

Ein idyllischer Roman ohne Idylle

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phallischen Schlangen verweist der Löwe offensichtlich auf die väterliche Zensur. Im Lichte der oben angesprochenen Parallelen zur Christinenlegende wäre ja ohnehin die merkwürdig ambivalente Rolle des tyrannischen Vaters zu betonen, der nahe daran ist, die Tochter zu einem inzestuösen Liebesobjekt zu machen. Der Geliebte auf der anderen Seite eines großen Flusses ist nicht mehr Teil des vom Vater bewachten Paradieses und daher auch unfähig, Vienne zu Hilfe zu kommen: Si veoit Paris d’un coste du jardin, qui luy vouloit venir ayder, mes il y avoit si grande riviere entre eulx deux, que il ne povoit passer (S. 495; „Und da sah sie Paris auf der einen Seite des Gartens, wie er ihr zu Hilfe zu kommen versuchte, aber zwischen ihnen beiden war ein so breiter Fluss, dass er nicht herüber konnte.“) Der Traum der zwei ‚Königskinder‘ nimmt die Katastrophe der vom Strom fortgerissenen Brücke bei Aigues-Mortes vorweg. Und wie schon im ersten Traum geht es auch hier darum, den lügenhaften Charakter idyllischer Träume vorzuführen. Der neuen Dramaturgie psychologischer Entwicklung und Reifung entsprechend weiß die Heldin allerdings noch nichts von dieser Bedeutung: si commenca longuement a penser, mes oncques ne peut apparcevoir que ceste advision vouloit dire. (S. 495; „und sie dachte lange darüber nach, konnte aber nicht sehen, was dieser Traum bedeutete“). Erst im Kerker wird sie begreifen, dass nur die religiösen Vorbildern nachempfundene, heiligmäßige Prüfungsstrecke das geträumte Paradies herbeiführen kann. Als explizite Kritik an der „paradiesischen“ Tradition des idyllischen Romans lenken die beiden programmatischen Träume die Gattung in eine neue Richtung. Als letzter Tribut an die symbolische Technik des mittelalterlichen Romans verabschieden sie zugleich den Bildbereich des Paradieses und Paradiesgartens zugunsten einer neuen Form des historischen Romans, der ‚Ritterbiographie‘,34 und vor allem zugunsten einer neuen Form des Liebes- und Frauenromans. Die  – insgesamt ambivalente  – Aufwertung der weiblichen Hauptfigur setzt hier die Streichung des Paradieses voraus, das durch die hagiographischen Reminiszenzen ersetzt wird. Weltliche und geistliche Tradition werden so miteinander versöhnt, ohne dass das eigentliche Ziel des idyllischen Romans ganz aufgegeben würde. Ein konservatives, angepasstes Bild der Frauenrolle bildet die paradoxe Voraussetzung für die Selbstbestimmung der Frau, die in Wahrheit keiner Idylle mehr bedarf und auch die demonstrativ freche Form der emanzipatorischen Idylle35 des Hochmittelalters in ihre Schranken verweist. Der Ekeltrick mit dem verfaulten Hühnchen verweist nicht nur auf das der Gattung inhärente Motiv der List, er bezeichnet auch eine sehr intime, anzügliche List, mit der die Heldin ihre Weiblichkeit, ja Fleischlichkeit zugleich schützt und betont. Im Zeitalter der Pest, jenes ‚fernen Spiegels‘, als den Barbara Tuchman36 das 14. Jahrhundert beschrieben hat, wohnen Liebe und Tod, Glück und Ekel, wie bei Boccaccio, eng beieinander. Aber für Utopien und parodistische Verwerfungen ist offensichtlich kein Platz mehr. Wenn Kaltenbacher daher „eine innere Verwandtschaft 34

Élisabeth Gaucher: La biographie chevaleresque. Typologie d’un genre (XIIIe–XVe siècle), Paris 1994 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Age). 35 Verwiesen sei hier noch einmal auf die Arbeit von Marion Vuagnoux-Uhlig (Anm. 5). 36 Barbara Tuchman: A Distant Mirror – The Calamitous 14th Century, New York 1978.

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Friedrich Wolfzettel

zwischen Paris et Vienne und Aucassin et Nicolette“ konstatiert,37 so ist diese Verwandtschaft nicht ohne die expliziten Korrekturen an der bis zur Parodie und zur verkehrten Welt gesteigerten frühen Tradition des idyllischen Romans denkbar. Für Vienne gibt es keine verkehrte Welt. Sie ist weniger eine Nachfahrin Nicolettes; sie ist eine Anti-Nicolette, eine heilige Liebende, die alle subversiven Züge ihres Modells abgestreift hat und doch mit weiblicher List ihre Ziele verfolgt. Vor allem soll sie offensichtlich zeigen, dass auch im realen Leben Platz für ständeübergreifende Liebe sein kann.

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Kaltenbacher (wie Anm. 10), S. 368.

Christine Putzo (Lausanne/Neuchâtel)

Eine Verlegenheitslösung Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik

1. Liebe und Abenteuer – minne und aventiure: Pointierter lassen sich die zwei dominantesten Rekurrenzpunkte höfischen Erzählens seit dem 12. Jahrhundert kaum benennen. Über Jahrhunderte kennzeichnet ihre Verbindung die deutschsprachige Romanliteratur ab Hartmanns von Aue Erec (um 1185) bis hinein in die Prosen des Spätmittelalters. Schwerer wird fündig, wer in der Literatur des gleichen Zeitraums nach weltlichen Groß­ erzählungen sucht, denen eines dieser zwei Handlungsmomente fehlt. Anzuführen wären aber doch etwa der Wilhelm von Wenden Ulrichs von Etzenbach (um 1289/97) und der Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt (vor 1298) – Romane, in denen die Liebesthematik bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielt1 – oder die deutschen FloreRomane, etwa Konrad Flecks Flore und Blanscheflur (wohl um 1200): fraglos zwar ein Roman über die Minne, notorisch aber einer, der durch das Fehlen jedweden Aventiuregeschehens auffällt.2 Ausgerechnet diesen Roman, stillschweigend damit schon den um 1

Aspekte benennen jeweils Jan-Dirk Müller: Landesherrin per compromissum. Zum Wahlmodus in Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden V. 4095–4401. In: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Karl Hauck u. a., Berlin/New York 1986, Bd. 1, S. 490–514, hier S. 494–496, und Burghart Wachinger: Heinrich von Neustadt, Apollonius von Tyrland. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von Walter Haug/dems., Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 1), S. 97–115, hier S. 111–115. 2 Vgl. Eva Klingenberg: helt Flore. In: ZfdA 92 (1963), S. 275f.; Kurt Ruh: Der Florisroman. In: Höfische Epik des Mittelalters. Erster Teil: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, 2. Aufl. Berlin 1977 (zuerst 1967) (Grundlagen der Germanistik 7), S. 56–60, hier S. 58–60; aus anderer Perspektive Margreth Egidi: Der Immergleiche. Erzählen ohne Sujet: Differenz und Identität in Flore und Blanscheflur. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer/HansJochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 133–158. Der stereotype Hinweis auf die Aventiurelosigkeit der Handlung und die Statik des Protagonisten findet sich ebenso in der romanistischen Forschung zum altfranzösischen Floire et Blancheflor: vgl. Peter Haidu: Narrative Structure in Floire et Blancheflor. A Comparison with two Romances of Chrétien de Troyes. In: Romance Notes 14 (1972), S. 383–386, sowie (kritisch) Norris J. Lacy: The Flowering (and Misreading) of Romance: Floire et Blancheflor. In: South Central Review 9/2 (1992), S. 19–26. Zur Datierung des deutschen ‚Flore‘

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Christine Putzo

1170 entstandenen Trierer Floyris, stellt die Forschung an den chronologischen Beginn einer Reihe von Texten, die mit der Gattungsbezeichnung ‚Minne- und Aventiureroman‘ oder auch ‚Minne- und Abenteuerroman‘, ‚Liebes- und Abenteuerroman‘ bzw. ‚Liebesund Reiseroman‘ klassifiziert wird3 und zu der zwar auch der Apollonius von Tyrland und der Wilhelm von Wenden gerechnet werden, nicht aber die zahlreichen Romane über minne und âventiure aus arthurischen, tristanischen oder antiken Stoffkreisen. Wer für die mittelhochdeutsche Literatur eine Gattung oder einen Romantyp des ‚Liebes- und Abenteuerromans‘ bzw. ‚Minne- und Aventiureromans‘ postuliert, der bezieht sich mit diesen Bezeichnungen offenkundig nicht auf charakteristische, den Texten eigentümliche oder in den Texten auch nur enthaltene Handlungsbestandteile.4 Mindestens auf terminologischer Ebene besteht hier auf den ersten Blick ein Problem; auf den zweiten findet es sich auf historischer, auf den dritten auf systematischer Ebene wieder. Diese Erkenntnis ist nicht neu: Es herrscht seit langem Einverständnis darüber, dass er problembehaftet ist, dieser – von wem eigentlich stammende? von wo eigentlich ererbte? – Gattungsbegriff ‚Minne- und Aventiureroman‘ mitsamt der dazugehörigen Systematik und seinem unscharf definierten Corpus. Als „Verlegenheitslösung“5 dient er als Sammelbecken für eine heterogene und uneinheitlich begrenzte Gruppe von Romanen des 12. bis 16. Jahrhunderts, über deren historische Zusammengehörigkeit keine Illusionen bestehen dürfen.6

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um 1200 entgegen der gängigen Spätdatierung vgl. Christine Putzo: Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur. Text und Untersuchungen, Berlin (MTU) [in Druckvorbereitung]. Zu den variierenden Gattungsbezeichnungen vgl. Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts, Berlin/New York 2006 (Q & F 39 [273]), S. 11–13. Im Folgenden verwende ich den in der Germanistik geläufigsten Terminus ‚Minne- und Aventiureroman‘, ohne damit konzeptionelle Spezifizierungen zu implizieren. Vgl. indes (für ein Teilcorpus) Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich, Friedrich von Schwaben, Berlin/New York 1998 (Q & F 12 [246]), S. 1, Anm. 1, sowie auch ebd., S. 4f., und Christian Kiening: Wer aigen mein die welt…. Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher Minne- und Abenteuerromane des 14. Jahrhunderts. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von Joachim Heinzle, Stuttgart/ Weimar 1993 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 14), S. 474–494, hier S. 482–484; ferner Werner Röcke: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens/Ulrich Müller, Stuttgart 1984, S. 395–423, hier S. 398f. und S. 421. Ridder (Anm. 4), S. 1. Vgl. die Abrisse zum Gattungsproblem bei Renée Scheremeta: Historical, Hagiographic Romances? Late Courtly Hybrids. In: Genres in Medieval German Literature. Hrsg. von Hubert Heinen/Ingeborg Henderson, Göppingen 1986 (GAG 439), S. 93–102; Alfred Ebenbauer: Andere Großepen. In: Aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit. Höfische und andere Literatur. 750–1320. Hrsg. von Ursula Liebertz-Grün, Reinbek bei Hamburg 1988 (Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hrsg. von Horst Albert Glaser, 1), S.  279–289, bes. S.  279, 281, 284; Brigitte Schöning: Friedrich von Schwaben. Aspekte des Erzählens im spätmittelalterlichen Versroman, Erlangen 1991 (Erlanger Studien 90), S. 2–5; Ridder (Anm. 4), S. 1–9; Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik. Willehalm von

Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik

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Die nachstehende Übersicht (S.  44–47) fasst das potentielle Textcorpus in seinen weitesten Grenzen nur für das 12. bis 14. Jahrhundert zusammen. Darin genannte Texte erhalten die Bezeichnung ‚Minne- und Aventiureroman‘ in jüngeren Forschungsbeiträgen typischerweise in Anführungszeichen, mit dem Zusatz „sogenannt“ oder mit einem Hinweis auf die Unzulänglichkeit dieser Klassifizierung.7 Im Blick auf den Einzeltext, so wird man konstatieren müssen, verliert die Gattungszuordnung jede Schärfe. Den Begriff dennoch grundsätzlich anzuführen aber scheint unerlässlich: einerseits, weil es zur Rhetorik literaturwissenschaftlichen Schreibens gehört, Grundzuordnungen vorzunehmen, welche die Verortung eines behandelten Textes im Gattungszusammenhang selbstverständlich einschließen, andererseits wohl auch, weil die Bezeichnung über die irreführende Terminologie hinaus eine vereinbarte Gruppe von Merkmalseigenschaften aufruft, die kontextuelle Bezüge andeutet und der Untersuchung des Einzeltextes somit förderlich zu sein verspricht. Der trotz artikulierten Problembewusstseins ungebrochen rege Gebrauch des Terminus beweist also mindestens seinen pragmatischen Nutzen, vielleicht seinen funktionalen Wert. Doch stellt sich gleichzeitig die Frage, ob der im wissenschaftlichen Diskurs nahezu reflexartig reklamierte Vorbehalt gegen die Gattungsbezeichnung nicht zum Topos geworden ist, und damit zu einem Lippenbekenntnis, das womöglich die inhaltliche Auseinandersetzung mit tieferliegenden Problemen der Erforschung mittelalterlicher (deutschsprachiger) Romanliteratur ersetzt – ob also die Kategorisierung nicht Wege verstellt, anstatt sie zu öffnen.

Orlens – Partonopier und Meliur – Wilhelm von Österreich – Die schöne Magelone, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161), S. 15–19; Wolfgang Achnitz: Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt, Tübingen 2002 (Hermaea N.F. 98), S. 1–11; Mathias Herweg: Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300, Wiesbaden 2010 (Imagines Medii Aevi 25), S. 29f. 7 Genannt seien neben den oben, Anm.  6, angeführten Beiträgen etwa Karin Cieslik: Typisierung und Differenzierung im spätmittelalterlichen Roman. Überlegungen zu Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur. In: Mediävistische Literaturgeschichtsschreibung. Gustav Ehrismann zum Gedächtnis (Symposion Greifswald, 18.9. bis 23.9.1991). Hrsg. von Rolf Bräuer/Otfrid Ehrismann, Göppingen 1992 (GAG 572), S. 215–225, hier S. 217–219, 224f; Kurt Gärtner/Ingrid Kasten/Frank Shaw: Vorwort. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Hrsg. von dens., Tübingen 1996, S. VII–XII, hier S. IX; Monika Schausten: „Herrschaft braucht Herkunft“. Biographie, Ätiologie und Allegorie in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich/Bruno Quast, Berlin 2004 (TMP 2), S. 155–175, hier S. 159; Ann Mindnich: male bonding – Männerfreundschaft und ritterlicher Zweikampf in Bertholds von Holle Demantin. In: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Martin Baisch u. a., Göttingen 2003 (Aventiuren 1), S. 233–257, hier S. 234.

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Christine Putzo

Übersicht: Potentielles Textcorpus im 12.–14. Jahrhundert Erfasst sind alle Texte, die der Gattung seit 1962 (vgl. Abschnitt 2) zugewiesen wurden, auch wenn diese Zuordnung dem gegenwärtigen Forschungsdiskurs nicht mehr entspricht. Hinzugefügt sind zudem Romane, Romanfragmente und romanhafte Erzählungen, die dem Corpus zwar nicht explizit zugeschrieben wurden, die die formalen Kriterien der Handlungsstruktur aber aufweisen. Der kleine Teil dieser Texte, der das gegenwärtig regelmäßig verzeichnete Kerncorpus bildet, ist durch Fettdruck hervorgehoben. Angaben zur Datierung und Lokalisierung folgen, wo nicht anders vermerkt, dem Verfasserlexikon (Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begr. von Wolfgang Stammler, fortgef. von Karl Langosch. 2., völlig neu bearb. Auflage. 14 Bde. Hrsg. von Kurt Ruh u. a. [ab Bd. 9 hrsg. von Burghart Wachinger u. a.], Berlin/New York 1978–2008). Die Texte sind, soweit möglich, chronologisch angeordnet.

Daten und Bemerkungen:

Corpuszuweisung:

König Rother

Bayern?, 1160/80; ehem. ‚Spielmannsepos‘

Röcke („heroisch-politischer Roman“)

Herzog Ernst

Bayern?, 1160/70; ehem. ‚Spielmannsepos‘

Röcke („heroisch-politischer Roman“)

Trierer Floyris

Niederrhein, um 1170; nur fragmentarisch erhalten. Frz. Vorlage: Floire et Blancheflor

s. u. zu Flore und Blanscheflur

Oswald

Regensburg?, um 1170?; ehem. ‚Spielmannsepos‘

Röcke („Legendenroman“)

Orendel

Mitteldeutscher Raum, um 1190?; Röcke („Legendenroman“) ehem. ‚Spielmannsepos‘

Salman und Morolf

Rheinland?, 2. H. 12. Jh.; ehem. ‚Spielmannsepos‘

Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur

Elsass?, um 1200? Röcke („Empfindsamer Frz. Vorlage: Floire et Blancheflor Minneroman“); seither passim (Ridder, S. 35: „Prototyp“)

Otte, Eraclius

Regensburg?, um 1220? Frz. Vorlage: Gautier d’Arras, Eracle

Flors inde Blanzeflors

Niederrhein, 1. H. 13. Jh.; nur s. u. zu Flore und Blanscheflur fragmentarisch erhalten. Frz. Vorlage: Floire et Blancheflor

Karl und Galie

Niederrhein, um 1215/20 bzw. Aachen, 1. H. 14. Jh. als Teil der Karlmeinet-Kompilation. Nach unbekannter frz. Vorlage

Röcke („Legendenroman“)

Bumke („Legendenhafte Stoffe. – Nahe verwandt mit den L.- u. A.romanen und von diesen nicht klar zu trennen sind eine Reihe von Epen, in denen die L.- u. A.handlung mit Legendenmotiven durchsetzt ist“, S. 243)

„Legendenroman“ nach Ruh

Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik Daten und Bemerkungen:

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Corpuszuweisung:

Rolandslied-Bearb. mit Ospinal-Einschub

Niederrhein, frühes 13. Jh. (?) „Legendenroman“ nach Ruh bzw. Aachen, 1. H. 14. Jh. als Teil der Karlmeinet-Kompilation

Rudolf von Ems, Der gute Gerhard

Oberdeutscher Raum, um 1220

Heinzle, Bumke (s.o. zu Eraclius)

Rudolf von Ems, *Eustachius

Oberdeutscher Raum, vor 1230; nicht erhalten (bezeugt durch Rudolfs Alexander, v. 3287f.)

‚typische‘ Handlungsstruktur

Morant und Galie

Niederrhein (Köln?), um 1220/30 „Legendenroman“ nach Ruh bzw. Aachen, 1. H. 14. Jh. als Teil der Karlmeinet-Kompilation

Die Gute Frau

Elsass, um 1230. Frz. Vorlagen: L’Escoufle; Chrétien des Troyes, Guillaume d’Angleterre

Heinzle, Bumke (s.o. zu Eraclius) „Erbaulicher Abenteuerroman“ nach De Boor „Abenteuerlicher und erbaulicher Minneroman“ nach Röcke

Rudolf von Ems, Wilhelm von Orlens

Oberdeutscher Raum, 1230/40 Nach unbekannter frz. Vorlage (Jehan et Blonde?)

passim (zuerst Heinzle) (Heinzle, S. 113 und Janota, S. 198: „das Muster“; Schulz, S. 15 u. ö.: „traditionsbildender Prototyp“)

Stricker, Karl

Rheinfranken, um 1220

„Legendenroman“ nach Ruh

Karl und Elegast (I)

Niederlande, um 1250 bzw. Aachen, 1. H. 14. Jh. als Teil der Karlmeinet-Kompilation

„Legendenroman“ nach Ruh

*Herzog Friedrich von der vor 1308, vermutlich um 1250 Normandie (Herweg, S. 48); nur in schwedischer Übertragung erhalten Nach unbekannter frz. Vorlage

‚typische‘ Handlungsstruktur

Blanschandin

Rheinfranken, Mitte 13. Jh.; nur fragmentarisch erhalten Frz. Vorlage: Blancandin et l’Orgueilleuse d’Amour

Heinzle, Bumke

Konrad von Würzburg, Engelhard

Ostfranken?, vor 1260

„Legendenroman“ nach Ruh („Muster“), Heinzle, Bumke (s. o. zu Eraclius)

Berthold von Holle, Demantin

Niedersachsen, vor 1267

Ruh (?), Heinzle, Bumke, Brunner

Berthold von Holle, Crane

Niedersachsen, vor 1267

Ruh (?), Heinzle, Bumke, Brunner

Berthold von Holle, Darifant

Niedersachsen, vor 1267; nur fragmentarisch erhalten

Ruh (?)

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Christine Putzo Daten und Bemerkungen:

Corpuszuweisung:

Mai und Beaflor

Bayern, um 1270/80. Nach unbekannter frz. Vorlage?

Heinzle, Bumke (s.o. zu Eraclius) „Erbaulicher Abenteuerroman“ nach De Boor „Abenteuerlicher und erbaulicher Minneroman“ nach Röcke

Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur

Basel, 1277? Frz. Vorlage: Partonopeus de Blois

Ruh („Muster“), Heinzle, Bumke

Konrad von Würzburg, Trojanischer Krieg

Basel, 1281/87.

Ruh

Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden

Böhmen, 1289/97

Heinzle, Bumke (s.o. zu Eraclius) „Erbaulicher Abenteuerroman“ nach De Boor „Legendenroman“ nach Ruh „Abenteuerlicher und erbaulicher Minneroman“ nach Röcke

Reinfried von Braunschweig

Nordschweiz, nach 1291; ohne Schluss überliefert

passim „Abenteuerlicher Minneroman“ nach De Boor

Heinrich von Neustadt, Apollonius von Tyrland

Wien, vor 1298 (Achnitz, S. 235)

passim (zuerst Ruh)

Manuel und Amande

Rheinfranken, Ende 13. Jh. (?)

Steinhoff, S. 244 (anders Achnitz, S. 144)

Der Bussard

Elsass, Anfang 14. Jh. Nach fr. Vorlage (Nähe zu L’Escoufle)

‚typische‘ Handlungsstruktur

Egenolf von Staufenberg, Peter von Staufenberg

Elsass, um 1310

Janota

Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich

Würzburg?, 1314?

passim „Abenteuerlicher Minneroman“ nach De Boor „Empfindsamer Minneroman“ nach Röcke

Abor und das Meerweib (?)

Thüringen oder Ostfranken, 1. H. 14. Jh.; nur fragmentarisch erhalten

‚typische‘ Handlungsstruktur?

Flos vnde Blankeflos

Westfalen, 1. H. 14. Jh.; Übersetzung von Flors inde Blanzeflors (s.o.)

s. o. zu Flore und Blanscheflur

Karl und Elegast (II)

Rheinfranken, 14. Jh.

„Legendenroman“ nach Ruh

Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik

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Daten und Bemerkungen:

Corpuszuweisung:

Augustijn, Herzog von Braunschweig dt.

Mittelfranken, 14. Jh.(?)

‚typische‘ Handlungsstruktur

Johann aus dem Virgiere

Südrheinfranken, Ende 14. Jh. Nach verlorener flämischer Vorlage

Brunner, Janota

Die Königin vom Brennenden See

Ostschwaben, 2. H. 14. Jh?

‚typische‘ Handlungsstruktur

Friedrich von Schwaben

Schwaben, nach 1314 (wohl um 1400)

passim „Abenteuerlicher Minneroman“ nach De Boor „Abenteuerlicher und erbaulicher Minneroman“ nach Röcke

[Der Graf von Savoyen

Erzähllied in Regenbogens Langem Ton Ende 14. Jh.(?) Nach frz. Vorlage?

‚typische‘ Handlungsstruktur]

Referenzierte Literatur: Wolfgang Achnitz: Verlorene Erzählwelten. Zum poetologischen Ort fragmentarischer Artusromane am Beispiel der Neufunde zu Manuel und Amande. In: Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. Festschrift für Kurt Gärtner zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Ralf Plate/Martin Schubert, Berlin 2011, S. 132–164, hier S. 144; Horst Brunner: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters im Überblick, Stuttgart 1997; Joachim Bumke: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 1990 (Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter 2); Joachim Heinzle: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30–1280/90), 2. Aufl. Tübingen 1994 (zuerst 1986) (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hrsg. von Joachim Heinzle, 2.2); Janota (Anm. 79); Ridder (Anm. 4); Röcke (Anm. 4); Ruh (Anm. 26); Schulz (Anm. 6); Hans-Hugo Steinhoff: Ein neues Fragment von Manuel und Amande. In: ZfdA 113 (1984), S. 242–245.

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Die folgenden Überlegungen zeichnen zunächst in einem wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick die Entstehung und Genese des Gattungsbegriffs in der germanistischen Forschung nach (Abschnitte 2 und 3) und fassen anschließend die nach aktuellem Forschungsstand geltend gemachten Kriterien dafür, was einen ‚Minne- und Aventiureroman‘ auszeichnet, systematisch zusammen (Abschnitt 4). Auf dieser Grundlage wird einerseits abstrakt zu fragen sein, ob die Rede von einer Gattung oder, offener, einer Gruppe, einer Reihe oder einem Romantyp gerechtfertigt sein kann, andererseits konkret danach, wo mögliche heuristische Gewinne und wo heuristische Nachteile eines Begriffs ‚Minneund Aventiureroman‘ liegen (Abschnitt 5). Ich beschränke mich aus praktischen Gründen auf das 12. bis 14. Jahrhundert, klammere also mit der Frage nach der Kontinuität des Romantyps in den Prosaroman der Frühen Neuzeit einen weiteren Problemkomplex aus.8

2. Geistige Väter des mittelhochdeutschen ‚Minne- und Aventiureromans‘ sind die Literaturgeschichtsschreiber der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts. Initialzündend war der 1962 erschienene erste Halbband des dritten Teils der großen Literaturgeschichte von Helmut De Boor und Richard Newald.9 Die Konzeption dieser Literaturgeschichte und dieses Halbbandes muss im wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang gesehen werden, will man richtig erfassen, welche Probleme und Motivationen hinter der darin angelegten neuen Perspektive auf Teile des Textcorpus stehen. De Boors erster Spätmittelalterband ist einer der Wegsteine, die die Überwindung der älteren, abwertenden Perspektive auf die Literatur nach der sogenannten höfischen ‚Blütezeit‘10 um 1200 markie8

Vgl. dazu Werner Röcke: Antike Poesie und newe Zeit. Die Ästhetisierung des Interesses im griechisch-deutschen Roman der frühen Neuzeit. In: Heinzle (Anm. 4), S. 337–356; Hans-Jürgen Bachorski: grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Günter Berger/Stephan Kohl, Trier 1993 (LIR 7), S. 59–86; Schulz (Anm. 6), S. 153–229. 9 Helmut de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. Erster Teil: 1250–1350, München 1962 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von dems./Richard Newald, 3.1). 10 Zum Vorstellungsmodell Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, S.  101–113; Wolfgang Pfaffenberger: Blütezeiten und nationale Literaturgeschichtsschreibung. Eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung, Frankfurt a. M. 1981; Hans Günther: Evolution. In: RL 1, Berlin/New York 1997, S. 530f.; L. Peter Johnson: Die höfische Literatur der Blütezeit (1160/70–1220/30), Tübingen 1999 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hrsg. von Joachim Heinzle, 2.1), S. 3–5; Wolfgang Harms: Metapherngesteuerte Wertungen in Literaturgeschichten und deren Auswirkungen auf die Ziele der Beschäftigung mit Literatur und auf die Kanonbildung. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Hrsg. von Peter Wiesinger u. a., Bern u. a. 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik A.60), Bd. 8, S. 33–38; Klaus Grubmüller: Jahreszeiten, Blütezeiten.

Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik

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ren. Gleichzeitig ist es ein entscheidendes Verdienst De Boors, die Literatur des späteren 13. und des 14. Jahrhunderts erstmals eigenwertlich und im Bemühen um eine Systematisierung überhaupt erfasst und dargestellt zu haben – 1962.11 Das geistesgeschichtliche Modell von „Blüte“ und „Verfall“ aus der älteren Forschungstradition war damit freilich nicht überwunden: Auch De Boor blieb diesem Paradigma grundsätzlich verhaftet, wenn er ihm auch mit dem Begriffspaar „Zerfall und Neubeginn“ – so der Untertitel des betreffenden Bandes – eine neue Wendung zu geben bemüht war.12 Unter der Vorgabe dieses Paradigmas unterzog De Boor die Romanliteratur nach 1250 einer Zweiteilung (Abb. 1):13 Er sonderte zunächst „drei Leitgestalten“ ab, die „letzte bedeutende Nachblüte der klassischen staufischen Dichtung“,14 und fasste den gesamten Rest in einer besonderen, thematisch gegliederten Gruppe zusammen: „Die späte höfische Epik“. An den drei „Leitgestalten“ Konrad von Würzburg, Albrecht, Verfasser des Jüngeren Titurel, und Heinrich von Neustadt – deren Auswahl verwundern mag15 – fällt auf, dass De Boor damit gerade die drei Autoren nennt, deren Werk (erstens) mit einem Verfassernamen überliefert ist, (zweitens) sicher noch dem 13. Jahrhundert angehört und (drittens) im Zusammenhang der thematischen Gliederung der zweiten Gruppe einigermaßen sperrig wäre. So darf wohl mit Fug vermutet werden, dass System- und Systematisierungszwänge zumindest einen Teilaspekt schon dieser qualitativen Priorisierung dreier „Leitgestalten“ bildeten. Für die zweite Gruppe, die den gesamten Rest fasst und ihn nochmals untergliedert, bestanden so mithilfe eines kleineren weiteren Kunstgriffs keine Probleme der – jetzt thematischen – Systematisierung mehr: Die restliche Romanliteratur des oberdeutschen Raums16 zerfiel wie von selber in die Stoffkreise „Artusepik“, „Tristandichtung“, Gralroman, „Antike Stoffe“ und – dies der Kunstgriff – zwei neugefasste Gruppen: „Abenteuerliche Minneromane“ und „Erbauliche Abenteuerromane“.17

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Meistererzählungen für die Literaturgeschichte? In: Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochen­ imaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen. Hrsg. von Frank Rexroth, München 2007 (Historische Zeitschrift, Beihefte N.F. 46), S. 57–68. Zur Pionierleistung De Boors eindrücklich Johannes Janota: Neue Forschungen zur deutschen Dichtung des Spätmittelalters (1230–1500) 1957–1968. In: DVjs, Sonderheft 45 (1971), S. 1–242, hier S. 33–35. Vgl. Johannes Janota: Vorwort zur Neubearbeitung. In: Helmut de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Erster Teil: 1250–1350. Fünfte Auflage, neubearb. von dems., München 1997 (zuerst 1962, s. Anm. 9) (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begr. von Helmut de Boor/Richard Newald, 3.1), S. XIf.; Grubmüller (Anm. 10), S. 59; Ulrich Wyss: Helmut de Boor (1891–1976). In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Hrsg. von Christoph König/Hans-Harald Müller/Werner Röcke, Berlin/New York 2000 (Veröffentlichung der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik im deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar), S. 180–188, hier S. 182f. De Boor (Anm. 9), S. IX bzw. S. 27–76, 77–135. De Boor (Anm. 9), S. 27. Vgl. auch Janota (Anm. 12), S. XIf. Den mittel- und niederdeutschen Bereich behandelte De Boor in einem eigenen, nicht weiter systematisierenden Kapitel: De Boor (Anm. 9), S. 119–129. De Boor (Anm. 9), S. IX bzw. S. 78–86, 86–90, 108–113, 113–119, 90–100, 101–108.

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Christine Putzo Romanliteratur 1250–1350 nach DE BOOR (1962)

„Drei Leitgestalten“

„Die späte höfische Epik“ (oberdt.)

Konrad von Würzburg Albrecht, Verfasser des Jüngeren Titurel Heinrich von Neustadt

Artusepik Tristandichtung Gralroman (nur Lohengrin) Antike Stoffe Abenteuerliche Minneromane Erbauliche Abenteuerromane

Abbildung 1: Romanliteratur 1250–1350 nach de Boor (1962)

Signum der ersten Gruppe, der „Abenteuerlichen Minneromane“ Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich und Friedrich von Schwaben,18 ist für De Boor eine bewusste Abkehr vom „märchenhaften Nirgendslande der Artuswelt“ durch die Verlagerung des Abenteuererzählens in die „geographische Wirklichkeit des deutschen Reiches“ oder die „ethnographische Realität“ des Orients, wobei das erzählte Abenteuer „entweder tätige Erwerbung der Geliebten oder leidvolle Trennung von ihr“19 ist, also ein Minneabenteuer. Signum der zweiten Gruppe, der „Erbaulichen Abenteuerromane“ Wilhelm von Wenden, Die Gute Frau und Mai und Beaflor, ist, dass sie neben den für die erste Gruppe geltenden Kriterien einen „erbaulich-legendäre[n] Einschlag“20 aufweisen; nur diese zweite Gruppe verband De Boor explizit mit dem aus dem griechischen Roman bekannten Erzählschema von Trennung und Wiedervereinigung nach Hindernissen.21 Die Flore-Romane, der Wilhelm von Orlens Rudolfs von Ems oder der Apollonius Heinrichs von Neustadt  – aus heutiger Perspektive Kerntexte, gar Prototypen des ‚Minneund Aventiureromans‘ – zählten nicht zum Corpus De Boors. Diese Romane besetzten bereits andere Stellen der literarhistoriographischen Systematik: Heinrich von Neustadt führte den Band als eine seiner „Leitgestalten“ an; das chronologisch etwas frühere Werk Rudolfs von Ems sowie die Flore-Romane gehörten ihm nicht an – sie waren neun Jahre zuvor als „Vorbereitung“ bzw. „Ausklang“ der hochhöfischen Blüte schon im zweiten Li-

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Zu beachten ist, dass De Boor von einer Frühdatierung des Friedrich von Schwaben an den Beginn des 14. Jahrhunderts ausging: vgl. De Boor (Anm. 9), S. 100. 19 Alle Zitate nach De Boor (Anm. 9), S. 90f. 20 De Boor (Anm. 9), S. 101. 21 Vgl. De Boor (Anm. 9), S. 102, 106. Zum griechischen Roman vgl. unten, S. 60–64.

Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik

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teraturgeschichtsband abgehandelt worden22 –, der niederdeutsche Flore-Roman in einem anderen Kapitel.23 Das eigentümlich terminologische Konglomerat ‚Minne- und Aventiureroman‘ stammt nicht von De Boor, dessen Begriffspaar „Abenteuerliche Minneromane“ und „Erbauliche Abenteuerromane“ sich wenig durchsetzte.24 Es geht nicht zufällig auf Kurt Ruh zurück – neben Hanns Fischer, Hugo Kuhn und Karl Stackmann einer der Gründerväter der seit den 1960er Jahren sich zunehmend etablierenden germanistischen Spätmittelalterforschung.25 In einem 1978 erschienenen literaturgeschichtlichen Handbuchbeitrag über das europäische Spätmittelalter benannte Ruh, sicher im Rückgriff auf De Boors terminologische Gruppierungen, aber im Rahmen einer Neusystematisierung, so eine Gruppe von Romanen, die im Kern De Boors „Abenteuerlichen Minneromanen“ entsprach und die auch durch ähnliche Merkmale gekennzeichnet ist.26 Gegenüber De Boor 22

Helmut de Boor: Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang. 1170–1250, München 1953 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von dems./Richard Newald, 2), S. 176–187, 31f., 173–176. 23 Vgl. De Boor (Anm. 9), S. 127f. 24 So werden die betreffenden Textgruppen etwa im Forschungsbericht Janotas (Anm. 11), der auf einer Sichtung der bis 1968 erschienenen Literatur beruht, mitsamt den jüngeren Prosaromanen unter dem Oberbegriff „Ritterroman“ gefasst, dem sich allerdings auch Gruppen wie die Artus- oder Alexanderromane unterordnen: vgl. ebd., S. 73–103. De Boors Termini erscheinen nicht. Die Begriffe „ritterlicher Roman“ und „Ritterroman“ hatte bereits Hanns Fischer im 1957 erschienenen ersten Forschungsbericht zum Spätmittelalter, den Janotas Bericht fortsetzt, verwendet: Neue Forschungen zur deutschen Dichtung des Spätmittelalters. In: DVjs 31 (1957), S. 303–345, hier S. 308, 317; vgl. auch ebd., S. 321, die Bezeichnung „Abenteuerroman“ für den Reinfried von Braunschweig. – In unspezifischem Sinne waren in den 1960er Jahren auch Begriffe wie „Aventiuren- und Minneroman“, „Aventiure- und Minne-Epos“ zur Bezeichnung des höfischen Romans, besonders der Artusepik, üblich: So hatte schon De Boor im ‚Blüte‘-Band seiner Literaturgeschichte (Anm. 22, S. 152) vom „klassischen Aventiuren- und Minneroman“ gesprochen und sich damit vor allem auf den Artusroman bezogen, den er (ebd., S. 63–67), über die Schlagwörter „Aventiure“ und „Minne“ charakterisiert hatte. In weiterem Sinne verwendete Hugo Kuhn den Begriff „Aventiure- und Minne-Epos“: Aspekte des 13. Jahrhunderts in der deutschen Literatur. In: ders.: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters, Tübingen 1980 (zuerst 1968), S. 1–18, hier S. 7; ders.: Aspekt des 13. Jahrhunderts, ebd., S. 19–56 (zuerst 1967), hier S. 25; vgl. auch ebd., S. 24: „Aventiure- und Minne- (Artus-)Epik“. Daneben gebrauchte er die Bezeichnung „Gesellschafts-Liebes-Roman“; vgl. Hugo Kuhn: Liebe und Gesellschaft in der Literatur. In: ders.: Liebe und Gesellschaft. Hrsg. von Wolfgang Walliczek, Stuttgart 1980, S. 60–68 (zuerst 1978), hier S. 64, sowie ders.: Versuch über das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur. In: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters (s. o.), S. 77–101, hier S. 95. 25 Dazu Janota (Anm. 11); ders.: Spätmittelalter. In: RL 3, Berlin/New York 2003, S. 460–464, hier S. 463. 26 Kurt Ruh: Epische Literatur des deutschen Spätmittelalters. In: Europäisches Spätmittelalter. Hrsg. von Willy Erzgräber, Wiesbaden 1978 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 8), S. 117–188. Der hier relevante Abschnitt findet sich ebd., S.  140–147; vgl. auch ebd., S.  118, zu den methodischen Vorbehalten gegenüber der unumgehbaren „schematische[n] Ordnung“. Unter Bezug auf Ruh, aber mit dem Begriff „Liebes- und Abenteuerroman“ nahm Johannes Janota dessen Systematisierung wenig später auf: Das vierzehnte Jahrhundert – ein eigener literarhistorischer Zeitabschnitt? In: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Dubliner Colloquium 1981.

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betonte Ruh zusätzlich vor allem den gegenüber den älteren Artusromanen fehlenden „gesellschaftlichen Bezugspunkt“ und die dadurch fehlende „ideologische Komponente“;27 stärker hervorgehoben sind „der stoffliche Reiz, das unerhörte Leiden und Ausharren, das Pikant-Sinnliche, das Phantastische, Übernatürliche, Zauber und Wunder“.28 Deutlicher als De Boor verweist Ruh zudem auf typische narrative Schemen „wie Trennung-SucheWiederfinden oder Ächtung/Gelübde-Bewährung“.29 Das Corpus allerdings erweiterte er einerseits um den Apollonius von Tyrland, andererseits um die spätmittelalterlichen Trojaromane – also um eine Textgruppe, die dieser Gattungskategorie seither nicht mehr zugewiesen wurde.30 Undeutlich, da in einem anderen Abschnitt, werden auch Bertholds von Holle Demantin, Crane und Darifant hinzugerechnet;31 mitzuzählen ist ferner Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, der nach Ruh als Typus auf die Gruppe vorausweist.32 De Boors zweiter Gruppe, den „Erbaulichen Abenteuerromanen“ entspricht bei Ruh als Subtyp des ‚Minne- und Aventiureromans‘ eine Gruppe „Legendenroman“ („mit legendärem Einschlag“), der neben der freilich „in vorderster Linie“ stehenden Unterhaltungsabsicht „auch auf religiöse Erbauung hin ausgerichtet“ ist.33 Wiederum ist das Corpus mit dem De Boors nicht deckungsgleich: Es überschneidet sich hier überhaupt nur in einem einzigen Text, dem Wilhelm von Wenden. Die gute Frau und Mai und Bea­ flor dagegen behandelt Ruh nicht. Prototypisch ist für ihn hier Konrads von Würzburg Engelhard,34 der daher der Gruppe zuzurechnen ist. Im markanten Unterschied zu allen späteren Darstellungen schlug Ruh ferner die gesamte Karlsepik seit dem 13. Jahrhundert dieser Gruppe zu.

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Hrsg. von Walter Haug/Timothy R. Jackson/dems., Heidelberg 1983 (Reihe Siegen, Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft, Germanistische Abt. 45), S. 9–24, hier S. 14f. Ruh (Anm. 26), S. 140. Ruh (Anm. 26), S. 140. Ruh (Anm. 26), S. 140. Vgl. aber die Hinweise auf den Göttweiger Trojanerkrieg bei Alfred Ebenbauer: Spekulieren über Geschichte im höfischen Roman um 1300. In: Philologische Untersuchungen. Gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag. Hrsg. von dems., Wien 1984 (Philologica Germanica 7), S. 151–166, und bei Kiening (Anm. 4), S. 476, Anm. 9. Vgl. Ruh (Anm. 26), S. 138. Vgl. Ruh (Anm. 26), S. 140. Ruh (Anm. 26), S. 145–147, hier S. 145. Ruh (Anm. 26), S. 140.

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Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik „Abenteuerlicher Minneroman“ (De Boor)

„Minne- und Aventiureroman“ (Ruh)

Reinfried von Braunschweig

„Erbaulicher Abenteuerroman“ (De Boor)

Subtyp „Legendenroman“ (Ruh)

Wilhelm von Wenden

Wilhelm von Österreich

Die gute Frau

Friedrich von Schwaben

Mai und Beaflor

Apollonius von Tyrland

Karl und Galie

Demantin

Rolandslied-Bearb. mit Ospinal-Einschub

Crane

Morant und Galie

Darifant

Strickers Karl

Partonopier und Meliur

Karl und Elegast (I)

Trojanischer Krieg

Engelhard

Göttweiger Trojanerkrieg

Karl und Elegast (II)

Abbildung 2: Corpusgliederung bei De Boor (1962) und Ruh (1978)

Der Rückblick auf das skizzierte frühe Stadium der Gattungsgeschichtsschreibung verdeutlicht, was mit Blick auf gegenwärtige literaturgeschichtliche Darstellungen der Textgruppe kaum noch erkennbar ist: dass sie das direkte Resultat eines wissenschaftsgeschichtlichen Paradigmenwechsels ist – der Perspektivenverschiebung von der BlüteVerfalls-Logik zu einer eigenständigen und eigenwertigen Spätmittelalterforschung  –, und dass sie gleichzeitig Resultat des neuen Systematisierungsbedarfs ist, der sich automatisch einstellte. Wer das Spätmittelalter, und damit muss für diese Forschungsperiode schon die Zeit ab etwa 1220/30 gemeint sein,35 in seinen Eigenarten und Zusammenhängen erforschen wollte, dem konnte eine nur katalogartige Darstellung, wie sie etwa die ältere Literaturgeschichte Ehrismanns für diesen Zeitraum bot,36 nicht mehr genügen. Wie weich die Kriterien waren, die hier angelegt wurden – weil es auf harte Kriterien in diesem frühen Stadium noch gar nicht ankam –, wie dehnbar und frei die Gruppenzuweisungen waren (und bis heute sind), zeigt schon die verschiedensten Zwängen nachge35

Vgl. Joachim Heinzle: Wann beginnt das Spätmittelalter? In: ZfdA 112 (1983), S. 207–223; Janota (Anm. 25), S. 460. 36 Gustav Ehrismann: Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Zweiter Teil: Die mittelhochdeutsche Literatur. Schlußband, München 1935 (Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen 6.2.2.2), S. 3–122, bes. S. 82–96 („Ausklang des höfischen Epos im späteren 13. Jahrhundert und Anfang des 14. Jahrhunderts“). Vgl. dazu Janota (Anm. 11), S. 35 mit Anm. 19: „In der Forschung wird zuweilen übersehen, daß der Schlußb[an]d der Ehrismannschen Literaturgeschichte im Grunde nur eine Materialsammlung ist, deren Ausbau zu einer abgerundeten Darstellung dem alternden Gelehrten nicht mehr vergönnt und auch faktisch nicht zu leisten war.“

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bende Systematik De Boors und zeigen mit der Troja- und der Karlsliteratur besonders deutlich die heute vergessenen Corpusbestandteile bei Ruh. Der in diesem Zweischritt, ob als Gattung oder Typ,37 etablierte ‚Minne- und Aventiureroman‘ erweist sich so als Ausdruck einer Problemverschiebung: Die Rücknahme des Blüte-Verfalls-Modells und die Etablierung einer eigenen Spätmittelalterphilologie geschahen im Bereich der Romanliteratur um den Preis der pragmatisch motivierten Festschreibung eines lockeren Zusammenhangs.

3. Zur Fixierung des Begriffs führte ein 1984 erschienener, bis heute zentraler Handbuchbeitrag Werner Röckes; dennoch war es zugleich Röcke, der ihn an dieser Stelle erstmals methodologisch reflektierte und ausdrücklich darauf hinwies, dass die „Zusammenfassung“ des Corpus „zu einer Erzählgattung problematisch“ sei.38 „Gleichwohl“, so Röcke, seien die Gemeinsamkeiten zwischen diesen so unterschiedlichen Texten deutlich genug: Übereinstimmungen in der thematischen Struktur, in den Schwerpunkten und dem Aufbau der Handlung, Übereinstimmungen aber auch – trotz aller Unterschiede – in der Konstellation und Darstellung der Figuren. Allerdings treten diese Konstanten der thematischen Struktur und des Figurenensembles nur in Verbindung mit ganz unterschiedlichen Stoffbereichen und Erzählweisen, also nur in den vielfältigsten Variationen in Erscheinung, nicht jedoch als unveränderbare Norm.

Auf dieser Grundlage und im Rückgriff auf die gattungstheoretischen Überlegungen von Hans Robert Jauss39 beschrieb Röcke den in Anlehnung an Ruh so benannten „Minneund Abenteuerroman“ als gleichsam offene Gattung: Ihre Vertreter seien zwar einerseits durch „gattungshafte Dominanten“ verbunden, könnten andererseits aber unterschied37

Zur Terminologie vgl. die Unterscheidung zwischen „Texttyp“ und „Gattung“ bei Michael Titzmann: Kulturelles Wissen  – Diskurs  – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: ZfSL 99 (1989), S. 47–61, hier S. 51: „Jede Textklasse soll Texttyp heißen, die aufgrund von Kriterien gebildet wird, die anhand eines Einzeltextes als erfüllt bzw. nicht erfüllt nachgewiesen werden können. Die Gattungen seien dann jene Teilmenge theoretisch denkbarer Texttypen, die in einer Kultur selbst nachweisbare Wissensmenge sind. Gattungen sind also, im Gegensatz zu Texttypen, nur jene Textklassen, die die jeweilige Kultur selbst unterscheidet […]“ (Hervorh. i. O.). Dem entspricht die ältere und verbreitetere Unterscheidung Harald Frickes zwischen systematisch bestimmten literarischen „Textsorten“ und historisch bestimmten literarischen „Genres“: vgl. zuerst ders: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München 1981, S. 132–138, und zuletzt ders.: Invarianz und Variabilität von Gattungen. In: Handbuch Gattungstheorie. Hrsg. von Rüdiger Zymner, Stuttgart/Weimar 2010, S. 19–21. Vgl. auch unten, Anm. 43. 38 Röcke (Anm. 4), das Zitat ebd., S. 396. 39 Hans Robert Jauss: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Ders: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976, München 1977 (zuerst 1972), S. 327–358.

Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik

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lichste Formen der „Gattungsmischung“ aufweisen.40 Als erstere gelten „Konstanten der thematischen Struktur und des Figurenensembles“, als letztere „ganz unterschiedlich[e] Stoffbereiche und Erzählweisen“.41 Dieses gewissermaßen wahlverwandtschaftliche Verhältnis ermögliche die Zusammenfassung auch disparater und chronologisch weit auseinander stehender Texte zu „Textgruppen und Erzähltypen, d. h. zu einer synchronen Gliederung der Gattungsgeschichte“.42 Es muss hier offenbleiben, ob dieses Konzept  – das auf die Unterscheidung eines systematischen Gattungsbegriffs von einem historischen hinausläuft43 – theoretisch und methodologisch überzeugen kann und ob es widerspruchsfrei eingelöst ist. Wie schon die Beiträge De Boors und Ruhs entstand Röckes Artikel mit pragmatischer Zielsetzung: für ein Handbuch, das auf begrenztem Raum eine zuvor desiderate systematische Zusammenschau von Stoffbereichen mittelalterlichen höfischen Erzählens in verständlicher Form bieten sollte, wobei „schwer vermittelbare Forschungsprobleme“ ausdrücklich „nicht diskutiert“ werden sollten.44 Freilich sicherten gerade der systematisierende Gestus und nicht zuletzt wohl auch Röckes kluge Lösung, das Problem des Gattungsbegriffs nicht nur aufzubringen, sondern es gleichsam ins Positive zu wenden, dem Beitrag lang40

Röcke (Anm. 4), S. 396–401, die Zitate ebd. S. 396f. nach Jauss (Anm. 39), S. 332. Vgl. auch Werner Röcke: Minne, Weltflucht und Herrschaftslegitimation. Wandlungen des späthöfischen Romans am Beispiel der Guten Frau und Veit Warbecks Magelone. In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Hrsg. von Georg Stötzel, Bd.  2, Berlin/New York 1985, S. 144–159. 41 Röcke (Anm. 4), S. 396. 42 Röcke (Anm. 4), S. 396. 43 Vgl. nur Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese, München 1973; Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur literaturwissenschaftlichen Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung, Paderborn u. a. 1993 (Explicatio), S. 29–65; Dieter Lamping: Gattungstheorie. In: RL 1 (Anm. 10), S. 658–661 (vs. Wilhelm Vosskamp: Gattungsgeschichte, ebd., S. 655–658); Günter Dammann: Textsorten und literarische Gattungen. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Hrsg. von Klaus Brinker u. a., Bd. 1.1, Berlin/New York 2000 (Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft 16.1), S. 546–561, hier S. 552–555; Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn 2003; ders.: Texttypen und Schreibweisen. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Hrsg. von Tomas Anz, Stuttgart/Weimar 2007, S. 25–80; Harald Fricke u. a.: Aspekte der literaturwissenschaftlichen Gattungsbestimmung. In: Handbuch Gattungstheorie (Anm. 37), S. 7–46, hier bes. S. 12–15, 16f., 19–21; vgl. auch oben, Anm. 37. Zum methodischen Verständnis des im Fall des „Minne- und Abenteuerromans“ konkret zur Geltung kommenden Gattungsbegriffs sei besonders auf das gattungslogische Modell Jean-Marie Schaeffers verwiesen, das eine nochmalige Stufung systematischer Gattungskonzeptionen bietet: Qu’est-ce qu’un genre littéraire?, Paris 1989 (Poétique). Röckes Kriterien entsprechen Schaeffers weitestem Typ: dem einer Gattung, die auf einer „relation analogique“ (ebd., S. 181) der fraglichen Texte beruht, i. e. einer strukturellen, aber nicht über Regeln oder Konventionen gesteuerten Ähnlichkeit. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext, in dem das impulsgebende Modell Jauss’ und wohl auch dessen Rezeption durch Röcke bei der Konstituierung des „Minne- und Abenteuerromans“ stehen, vgl. Dammann (s. o.), S. 553f. 44 Volker Mertens/Ulrich Müller: Vorwort. In: Epische Stoffe (Anm. 4), S. IXf., hier S. X. Intendierter Leser der Beiträge war der „‚interessierte Laie‘“ (ebd.).

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gültige Resonanz: Es lag damit ein dienlicher, prinzipiell gesicherter und handhabbarer Begriff vor, den eine neue Binnentypologie zusätzlich differenzierte (Abb. 3).45 Kaum merklich war damit auch der Gegenstand erweitert: Es ist symptomatisch für das Systematisierungsbedürfnis, das dem Gattungsbegriff seit seinen Anfängen zugrunde lag, dass hier, 1984, plötzlich zwei weitere Textgruppen ins Corpus flossen, und zwar gewissermaßen aus chronologisch entgegengesetzter Richtung: die frühhöfischen sogenannten ‚Spielmannsepen‘, die Michael Curschmanns Studien in den 1960er Jahren mit guten Gründen ihrer traditionellen Gattungsbezeichnung beraubt hatten und die gleichsam ortlos durch die Literaturgeschichte vagierten,46 sowie die in diesem Zusammenhang zuvor nicht diskutierten, in der Forschung ohnehin empfindlich vernachlässigten deutschen Flore-Romane seit dem Trierer Floyris. Auch die Öffnung des Corpus in die Frühe Neuzeit geht auf Röckes Binnentypologie zurück und wurde erst durch seinen gattungssystematischen Ansatz ermöglicht.

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Dadurch wurde auch Dietrich Huschenbetts 1983 zuerst vorgeschlagener und später in einer Reihe von Beiträgen nach vergleichbaren strukturellen Kriterien systematisch entwickelter Gattungsbegriff eines „Minne-Romans“ an den Rand gedrängt: Tradition und Theorie im Minne-Roman. Zum Wilhelm von Österreich des Johann von Würzburg. In: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts (Anm. 26), S. 238–261; ders.: Ehe statt Minne? Zur Tradition des Minne-Romans in Mittelalter und Neuzeit. In: Spannungen und Konflikte (Anm. 7), S. 189–203; ders.: Partonopier und Meliur und die Minnedarstellung bei Konrad von Würzburg. In: JOWG 5 (1988/89), S. 341– 350; ders.: Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich. In: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hrsg. von Horst Brunner, Stuttgart 1993, S. 412–435, bes. S. 423–427. Huschenbetts Corpus umfasst einen Teil des ‚Minne- und Aventiureroman‘-Corpus (Flore und Blanscheflur, Willehalm von Orlens, Engelhard, Partonopier und Meliur, Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich) sowie Wolframs Titurel; grundsätzlich geht es Huschenbett jedoch um eine Romanstruktur, die er im deutschsprachigen Raum vom 12. bis ins 17. Jahrhundert verfolgen kann und die auf einem – etwas gezwungenen – siebenteiligen Handlungsschema beruht: Einzug eines genealogischen Rahmens (I), signifikante Geburt der späteren Liebenden (II), ihre Erziehung (III), Entstehung ihrer Minne (IV), Trennung des Paares (V), seine Wiedervereinigung (VI), Fortsetzung der Dynastie durch ein Kind des Paares (VII); vgl. Huschenbett: Johann von Würzburg (s. o.), S. 423–426; ders.: Ehe statt Minne (s. o.), S. 191, Anm. 7. Zur Kritik des Schemas Schulz (Anm. 6), S. 23, Anm. 28, der Huschenbetts Terminus „Minneroman“ aber aufgreift. 46 Michael Curschmann: Der Münchener Oswald und die deutsche spielmännische Epik. Mit einem Exkurs zur Kultgeschichte und Dichtungstradition, München 1964 (MTU 6), bes. S.  127–155; ders.: „Spielmannsepik“. Wege und Ergebnisse der Forschung von 1907–1965. Mit Ergänzungen und Nachträgen bis 1967 (Überlieferung und mündliche Kompositionsform), Stuttgart 1968, bes. S. 1–6. Vgl. Röcke (Anm. 4), S. 396f.

Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik

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„Minne- und Abenteuerromane“

„Heroischpolitische Romane“

„Legenden­ romane“

„Abenteuerliche und erbauliche Minneromane“

„Empfindsame Minneromane“

König Rother Herzog Ernst

Oswald Orendel Salman und Morolf

Die Gute Frau Wilhelm von Wenden Mai und Beaflor Friedrich von Schwaben [Schöne Magelone] [Heymonskinder] [Melusine]

Trierer Floyris Flore und Blanscheflur Wilhelm von Österreich

Abbildung 3: Binnentypologie nach Röcke (1984)

Die seit Beginn der 1990er Jahre zunehmende Kritik am Konzept des ‚Minne- und Aventiureromans‘ gründete bezeichnenderweise zunächst nicht darauf, dass die einmal etablierte Grundlage – der pragmatische und offene Gattungsbegriff nach Röcke – aus textübergreifender Perspektive an Akzeptanz verloren hätte. Vielmehr ist das in diesem Zeitraum entstehende neue Problembewusstsein, das in den Jahren um die Jahrtausendwende in wichtige Monographien zur Gattung mündete, das Resultat einer zunehmend intensiven Auseinandersetzung mit einzelnen Romanen des Spätmittelalters – eine natürliche Folge des jetzt etablierten Paradigmenwechsels, der am Anfang der Gattungskonstitution stand. Es entstammt dem Interesse am individuellen Text und dessen historisch-systematisch signifikanter Verortung, mithin einer Perspektive, die der auf die übergreifende Ordnung eines umfassenden literaturgeschichtlichen Zusammenhangs entgegengesetzt ist. In Konsequenz dieser Perspektive forderten etwa Brigitte Schöning und Karin Cieslik in Untersuchungen zum Friedrich von Schwaben, 1991, und zum Partonopier, 1992, die Kategorie des ‚Minne- und Aventiureromans‘ (in den Worten Ciesliks) „aus den Literaturgeschichten zu verbannen“.47 Dass der Begriff eines mittelhochdeutschen ‚Minne- und Aventiureromans‘ dennoch Bestand hat, verdankt sich einer Gruppe von drei Monographien, die in dieser Phase des wissenschaftlichen Diskurses entstanden. Alle drei markieren als Ausgangspunkt das methodische Manko der „Verlegenheitslösung“48 (Ridder), des „Problemfall[s]“49 (Schulz) 47

Schöning (Anm. 6), S. 2–4; Cieslik (Anm. 7), S. 219. Vgl. aber dies., Zur Darstellung von Weiblichkeitsnormen im spätmittelalterlichen Minne-Aventiure-Roman. In: Prozesse der Normbildung und Normveränderung im mittelalterlichen Europa. Hrsg. von Doris Ruhe/Karl-Heinz Spiess, Stuttgart 2000, S. 333–352. 48 Ridder (Anm. 4), S. 1. 49 Schulz (Anm. 6), S. 230; vgl. auch ebd., S. 17.

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oder der „Sammelbezeichnung“50 (Achnitz) ‚Minne- und Aventiureroman‘ und setzen sich zum Ziel, systematische Kriterien der Kategorie jenseits ihrer stofflich-thematischen Randposition zu erarbeiten.51 Bei vielfacher Überschneidung variieren die Akzente: Betont Ridder besonders die spezifischen, poetologischen wie inhaltsbezogenen Verfahren der Sinnbildung,52 postuliert Schulz die Zusammengehörigkeit der Texte vor allem auf struktureller Ebene  – als Konkretisierungen eines in 25 syntagmatische Elemente zerlegbaren, dabei offen bleibenden „distinkte[n] Verlaufsmusters“53 –, während wiederum Achnitz die gemeinsame thematische Position der Romane im „Diskurs zu Fragen der Herrschaftsausübung und Machtlegitimation vor dem Hintergrund christlicher (Heils-) Geschichte“54 in den Fokus rückt. Alle drei verbindet somit der Versuch, mit unterschiedlichen Zugriffen und an unterschiedlichen Teilcorpora, den Gattungs- oder Typbegriff zu retten. Ergänzt um Mathias Herwegs 2010 publizierte Habilitationsschrift Wege zur Verbindlichkeit, die neue Perspektiven aufzeigt,55 markieren sie den Forschungsstand bis heute. Was aber zeichnet, systematisch besehen, einen ‚Minne- und Aventiureroman‘ aus?

4. Das dominanteste Kriterium bleibt ein negatives. Als ‚Minne- und Aventiureroman‘ werden Großerzählungen seit dem 12. Jahrhundert klassifiziert, die keiner der anderen, üblicherweise stofflich-thematisch definierten Romangattungen des Mittelalters zugeordnet werden können: nicht den Artusromanen, nicht den Artus-Gralromanen, nicht den Tristan­romanen und nicht den Antikenromanen in ihren verschiedenen Gruppierungen.56 Als Platzhalter in dieser Systemlücke fand die Kategorie sich nicht zufällig von ihren An50

Achnitz (Anm. 6), S. 1. Vgl. zuvor schon Kiening (Anm. 4). 52 „In den Texten ab der Mitte des 13. Jahrhunderts lassen sich vor allem vier Tendenzen erkennen, die sich zwar auch in anderen Formen des Romans finden, sich aber gerade in den hier untersuchten Werken deutlich ausprägen: die Tendenz zu intertextuellem, zu historisierendem, zu fiktions- und sprachreflexivem Erzählen“ (Ridder [Anm. 4], S. 8). 53 Schulz (Anm. 6), Zitat S. 230. 54 Achnitz (Anm. 6), Zitat S. 419. 55 Vgl. unten, S. 68f. 56 Singulär bleibt der Fall des Apollonius von Tyrland, der zugleich zu den Antikenromanen zählt. Über seine lateinische Vorlage, die im Mittelalter intensiv rezipierte Historia Apollonii regis Tyri, stellt er außerdem den einzigen wenigstens indirekten Verbindungspunkt zum antiken ‚Liebes- und Abenteuerroman‘ hellenistischer Prägung dar; dazu unten, S. 60–64. Diese Konstellation verwischt Elisabeth Lienert: Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S.  165, wenn sie die im Mittelalter stark rezipierte Historia als einflussgebend für „einen ganzen Romantyp, den Minne- und Aventiureroman“ sieht. Vgl. auch Maurice Delbouille: Apollonius de Tyr et les débuts du roman français. In: Mélanges offerts à Rita Lejeune, Gembloux 1969, Bd. 2, S. 1171–1204, hier S. 1186, der den lateinischen Apollonius-Roman gar als impulsge51

Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik

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fängen an. Wenn im Folgenden eine Reihe weiterer, zumeist handlungsbezogener Kriterien referiert wird, welche die zum Corpus gerechneten Texte – in unterschiedlicher Ausprägung – aufweisen, dann kann diese Aufzählung nur deskriptiv, nicht exklusiv gelten: In der deutschsprachigen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts weiß ich außerhalb der genannten stofflich-thematisch umgrenzten Gattungen kaum einen Roman zu benennen, der die Kriterien – freilich: in unterschiedlicher Ausprägung – nicht aufwiese.57 Wo sie die Handlungsebene betreffen, gehen die Kriterien weitgehend auseinander hervor. ‚Minne- und Aventiureromane‘ erzählen Geschichten, deren Handlung eine gemeinsame Makrostruktur aufweist: die der Trennung und schließlichen Wiedervereinigung eines Liebespaars, das sich entweder an einem frühen Punkt des Erzählgeschehens gefunden hat oder das bereits als Ehepaar in die Handlung eintritt.58 Dabei kann die Geschichte auch nur einem der Partner gelten, während das Geschick des anderen kaum erzählerisches Gewicht erhält. Zwischen Trennung und Wiedervereinigung sind eine Reihe von Abenteuern geschaltet, die die Natur von Bewährungsproben haben können (aber nicht müssen) und darüber hinaus häufig politisch-herrschaftskonstitutive Bedeutung besitzen. Letztere Perspektive wird in einen weiten dynastisch-genealogischen und historischen Sinnrahmen gefasst. In Verbindung mit ihrer Abenteuerhandlung weisen alle Texte des Corpus eine ausgeprägte Reisestruktur auf, die sich – im Unterschied etwa zu den Wegstrukturen des arthurischen Romans – auf geographisch breiten Raum erstreckt. Besonders häufig führen die Reisen der Protagonisten über den Mittelmeerraum in den Orient; erkennbar ist ein Interesse an der konkreten, gleichsam ‚realistischen‘ Schilderung dieser Räume: Sie sind trotz häufiger unwirklicher Elemente – mit Ausnahmen59 – nicht märchenhaft-unbestimmt, sondern prinzipiell lebenswirklich gestaltet. Wo Monster, Wunderwesen oder andere Elemente des Wunderbaren auftreten, sind sie an die Ferne des Orients gebunden und entsprechen zeitgenössischer Wirklichkeitsvorstellung.60 Die

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bend für die Herausbildung des weltlichen Romans als solchen im Frankreich des 12. Jahrhunderts beschreibt. Vgl. auch unten, Anm. 75. Allenfalls wäre auf romanförmig auserzählte Legenden ohne Minnehandlung, etwa auf Ottos II. von Freising Laubacher Barlaam, Rudolfs von Ems Barlaam und Josaphat oder Reinbots von Durne Georg, zu verweisen, ferner generell auf die deutschsprachige Chanson de geste-Rezeption. Eine Typologie solcher Trennungsstrukturen auch über das Corpus des ‚Minne- und Aventiureromans‘ hinaus unternimmt Hans-Jürgen Bachorski: Posen der Liebe. Zur Entstehung von Individualität aus dem Gefühl im Roman Paris und Vienna. In: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke/Ursula Schaefer, Tübingen 1996 (ScriptOralia 71), S. 109–146, hier S. 111f., Anm. 4. Für eine differenzierende makrostrukturelle Gliederung vgl. Schulz (Anm. 6), bes. S. 50–63. Eine solche bildet insbesondere der – wohl späte – Friedrich von Schwaben. Herbert Kolb: Kreuzzugsliteratur – Das Wunderbare und die Reichtümer des Orients. In: Propyläen Geschichte der Literatur, Bd. 2: Die mittelalterliche Welt 600–1400. Red. von Erika Wischer, Frankfurt a. M. u. a. 1982, S. 483–503; Werner Röcke: Schreckensort und Wunschwelt. Bilder von fremden Welten in der Erzählliteratur des Spätmittelalters. In: Der Deutschunterricht 44/2 (1992), S.  32–48; ders.: Erdrandbewohner und Wunderzeichen. Deutungsmuster von Alterität in der Literatur des Mittelalters. In: Der fremdgewordene Text. Festschrift für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Silvia Bovenschen u. a., Berlin/New York 1997, S. 265–284.

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Protagonisten erleben Liebe wie Abenteuer gleichsam persönlich  – ‚privatisiert‘61 und ‚biographisch‘:62 Ihre Liebe ist nicht, wie etwa die minne des klassischen Artusromans, der aventiure oder dem Abenteuer zu- und nachgeordnet, sondern wird als persönliches Erleben der erzählten Figuren dargestellt. Texte des Corpus zeigen zugleich die Tendenz, Emotionen auszuerzählen und ihnen handlungswichtige Funktionen zuzuweisen.63 Abenteuer werden nicht, wie etwa in den Artusromanen, als Bewährungsproben, sondern als Stadien der Erweiterung der Erfahrungswelt64 der Protagonisten geschildert. Neben diese handlungsbezogenen treten poetologische Kriterien, die insbesondere Ridder und Schulz beschrieben haben: die Tendenz zum intertextuellen, fiktionsreflexiven und sprachreflexiven Erzählen (Ridder)65 bzw. die Tendenz zur Summen- und Hybridbildung, d. h. zum Verschmelzen disparater literarischer Traditionen und Motive oder konträrer Semantiken (Schulz).66 Mit Bedacht erst an letzter Stelle dieser Aufzählung sei schließlich ein Kriterium genannt, das auch am Anfang hätte stehen können, weil es für die Geschlossenheit der Gattung am ehesten einstünde und auch das typischerweise zuerst genannte ist:67 ein Handlungsschema, das an das Erzählmuster des griechischen ‚Liebes- und Abenteuer-‘ bzw. ‚Reiseromans‘ erinnert, wie es – wegen ihrer intensiven Rezeption im europäischen Barock (!)68 – heute vor allem aus Heliodors Aithiopika geläufig ist.69 Eine pointierte Beschreibung dieser Gattung bietet das Lexikon des Hellenismus: 61

Vgl. Schulz (Anm. 6), S. 17. Diesen Begriff setzt vor allem Schulz (Anm. 6), vgl. dort S. 31f., im Anschluss an die Terminologie Bachtins ein: Michail M. Bachtin: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. In: ders: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, Frankfurt a. M. 2008, S. 7–196, hier S. 9–36. Vgl. auch Bachorski (Anm. 8), sowie konzeptionell schon Röcke (Anm. 4), S. 398 und S. 400f. 63 Eming (Anm. 3). 64 Röcke (Anm. 4), S. 398. 65 Ridder (Anm. 4), S. 8; als zentrales Kriterium gilt Ridder ferner die Tendenz zum historisierenden Erzählen, die hier auf Ebene der handlungsbezogenen Kriterien gefasst ist. Vgl. oben, S. 58. 66 Schulz (Anm. 6). 67 Vgl. stellvertretend Röcke (Anm. 4), S. 397f. 68 Georges Molinié: Du roman grec au roman baroque. Un art majeur du genre narratif en France sous Louis XIII, Toulouse 1982 (Travaux de l’université de Toulouse-Le Mirail A.19); Günter Berger: Legitimation und Modell. Die Aithiopika als Prototyp des französischen heroisch-galanten Romans. In: Antike und Abendland 30 (1984), S. 177–189; Gerhard Penzkofer: „L’art du mensonge“. Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudéry, Tübingen 1998 (Romanica Monacensia 56), bes. S. 107–128; für den deutschsprachigen Roman Dirk Niefanger: Barock, 2., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart/Weimar 2006, S. 187, 191f. u. ö.; Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung, München 2009 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begr. von Helmut de Boor/Richard Newald, 5), S. 537f.; vgl. auch Röcke (Anm. 8). 69 Bezeichnet ist eine Reihe griechischer Romane des 1. bis 3. Jahrhunderts n. Chr., zu denen außer den (freilich späten, im Kontext der zweiten Sophistik entstandenen) Aithiopika die Ephesiaka des Xenophon von Ephesos, Charitons Kallirhoë, Leukippe, der Kleitophon des Achilleus Tatios sowie Longos’ Daphnis und Chloë zählen. Fragmenthaft erhaltenen sind daneben Ninos, Sesonchosis, 62

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Zwei junge, mit allen körperlichen und geistigen Vorzügen ausgestattete Menschen vornehmen Standes, Jüngling und Jungfrau, schließen einen Liebesbund, werden bald darauf, nicht ohne durch eigene Irrung den Anlaß dazu gegeben zu haben, durch den Zufall, das Schicksal oder eine Gottheit getrennt, bestehen auf langen Irrfahrten zu Wasser und zu Lande ein jeder die größten äußeren Gefahren (z.  B. Seenot und Schiffbruch, Gefangennahme und Versklavung, Kampf und Krieg, Verhaftung und Anklage, Überfall und Mordanschlag, Verwundung, Scheintod und Bestattung) und inneren Anfechtungen (z.  B. Versuchungen, die Treue zu brechen; Verzweiflung; Absicht, sich das Leben zu nehmen), bewähren sich darinnen oft nicht ohne die Hilfe der Macht, die sie getrennt hat, und werden schließlich wiederum dank eigener Leistung, aber mehr noch durch das Spiel des Zufalls, die Fügung des Schicksals oder den Eingriff einer Gottheit endgültig glücklich vereint. Dieses vorgegebene, der Lesererwartung entsprechende Handlungsschema – das auch gelegentlichen Abweichungen offensichtlich als Folie dient – und die in den Grundzügen ebenfalls vorgegebene, vom Leser erwartete Typologie der Personen (Hauptpersonen: Held und Heldin; Nebenpersonen: z.  B. Eltern, Freunde, Vertraute; Gegenspieler: z. B. Seeräuber, Soldaten; Nebenbuhler: z. B. fremde Herren oder Herrscher bzw. Herrinnen oder Herrscherinnen) bedingen sich gegenseitig und garantieren die Geschlossenheit und Konstanz der Gattung vielleicht mehr als dies eine literaturwissenschaftliche Theorie vermocht hätte.70

Es soll hier eine gewisse Vorsicht geltend gemacht werden, was die verbreitete Bezugsetzung des mittelhochdeutschen Romancorpus zu diesem spätantiken betrifft. Die Verbindung mag auf den ersten Blick naheliegen, weil das zugrundeliegende Erzählmuster aus dem europäischen Roman vor allem des 16.–18. Jahrhunderts im Anschluss an die Chione, Kalligone, Herpyllis sowie die Phoinikika des Lollianus; zwei verlorene, über mittelalterliche Inhaltsangaben aber in ihrer Handlung bekannte Romane sind hinzuzuzählen: Ta hyper thoulen apista des Antonios Diogenes und die Babyloniaka des Iamblichos. Eine zweite, „komisch-realistische“ Gruppe von Romanen persifliert die der ersten („idealisierenden“) Gruppe in ihren typischen Merkmalen: die Satyrica des Petronius, die Metamorphosen (i. e. Der goldene Esel) des Apuleius, Lukios oder der Esel des Ps.-Lukian; fragmenthaft: Iolaos, Protagoras. Vgl. Niklas Holzberg: Der antike Roman. Eine Einführung, 3., überarbeitete Aufl. Darmstadt 2006 (zuerst 1986), S.  16–18; Otto Weinreich: Der griechische Liebesroman, Zürich 1962 (zuerst unselbst. 1950), S. 10–21. Zur Gattung ferner Rudolf Helm: Der antike Roman, 2. Auflage Göttingen 1956 (Studienhefte zur Altertumswissenschaft 4); Thomas Hägg: Eros und Tyche. Der Roman in der antiken Welt, Mainz am Rhein 1987 (zuerst schwedisch 1980) (Kulturgeschichte der antiken Welt 36); Carl Werner Müller: Der griechische Roman. In: ders.: Legende – Novelle – Roman. Dreizehn Kapitel zur erzählenden Prosaliteratur der Antike, Göttingen 2006, S. 391–444 (aktualisierte Version der Erstfassung von 1981); The Novel in the Ancient World. Hrsg. von Gareth Schmeling, Leiden u. a. 1996 (Mnemosyne 159), darin bes. Gareth Schmeling: Preface, S. 1–9, Niklas Holzberg: The Genre. Novels Proper and the Fringe, S. 11–28, Consuelo Ruiz-Montero: The Rise of the Greek Novel, S. 29–85, Ewen Bowie: The Ancient Readers of the Greek Novels, S. 87–106. 70 Uwe Dubielzig: Roman, Novelle und verwandte Gattungen. In: Lexikon des Hellenismus. Hrsg. von Hatto H. Schmitt/Ernst Vogt, Wiesbaden 2005, Sp. 934–946, hier Sp. 935. Zu Strukturdominanten und gattungshafter Geschlossenheit der Textgruppe vgl. auch Isolde Stark: Strukturen des griechischen Abenteuer- und Liebesromans. In: Der antike Roman. Untersuchungen zur literarischen Kommunikation und Gattungsgeschichte. Hrsg. von Heinrich Kuch, Berlin 1989 (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR 19), S. 82–106; Heinrich Kuch: Die Herausbildung des antiken Romans als Literaturgattung. Theoretische Positionen, historische Voraussetzungen und literarische Prozesse, ebd., S.  11–51; ders.: Gattungstheoretische Überlegungen zum antiken Roman in: Philologus 129 (1985), S. 3–19.

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Aithiopika überaus vertraut ist71  – das westeuropäische Mittelalter aber rezipierte den hellenistischen Roman nicht, und die Entsprechungen der Handlungsstruktur, auf der ein solcher Bezug im Fall des ‚Minne- und Aventiureromans‘ somit fast ganz beruhen muss, bleiben ausgesprochen vage. Natürlich sind sie auf prinzipieller Ebene gegeben: Die meisten Romane des mittelalterlichen Corpus basieren wie die des antiken auf der Struktur von Trennung, Bewährung und schließlicher Wiedervereinigung eines Liebespaares – oder auch schon Ehepaares – nach Abenteuern, Reisen und Gefahren. Die Spezifik des antiken Musters und die Topik seines Inventars aber  – ein „vorgegebene[s], der Lesererwartung entsprechende[s] Handlungsschema“, eine „vorgegebene, vom Leser erwartete Typologie der Personen“72 – erreichen die mittelalterlichen Texte gewiss nicht. Wo es für den antiken Roman eben im Spiel mit der Lesererwartung gattungskonstituierend ist, scheint für den mittelalterlichen Roman fraglich, ob das basale Erzählmuster von Trennung und Wiedervereinigung neben den dominanten, je eigenen Akzenten der einzelnen Romane ausreichend Signifikanz besitzt, um eine Zusammengehörigkeit der Texte im literarischen Bewusstsein der mittelalterlichen Produzenten und Rezipienten zu vermitteln oder um, alternativ dazu, als Kriterium einer systematischen Gattungskonstitution gelten zu können.73 Schon die demonstrative terminologische Verbindung des ‚Minne- und Aventiureromans‘ mit dem antiken ‚Liebes- und Abenteuerroman‘ täuscht jedoch eine typen- oder gar gattungshafte Konstanz und Festigkeit vor, die nicht existiert (und die in der Regel auch gar nicht behauptet werden soll). Eine besonders missliche Begleiterscheinung ist, dass überdies der Eindruck entstehen kann, die mittelalterlichen ‚Minne- und Aventiureromane‘ bezögen sich gar auf die hellenistische Tradition oder deren lateinische Rezeption.74 71

Vgl. oben, Anm. 68. Dubielzig (Anm. 70), Sp. 935 (vgl. bereits oben). 73 Dagegen kann gerade vor dem Hintergrund der historischen Offenheit und unspezifischen Verfügbarkeit dieser Struktur systematisch nach Strategien ihrer Sinnfüllung an historisch verschiedenen Punkten gefragt werden. Das hat in einer Reihe von Beiträgen jüngst Julia Weitbrecht an vergleichenden Untersuchungen spätantiker Legenden und zweier ‚Legendenromane‘ (Die gute Frau, Wilhelm von Wenden) des ‚Minne- und Aventiure‘-Corpus gezeigt: Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters, Heidelberg 2011 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), bes. S. 29–37; dies.: Keuschheit, Ehe und Eheflucht in legendarischen Texten: Vita Malchi, Alexius, Gute Frau. In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke/ders., Berlin/New York 2010 (Transformationen der Antike 14), S. 131–154; dies.: Die werlt lâzen durch got. Weltflucht und ‚soziale Heiligung‘ in legendarischen Adaptationen des hellenistischen Liebes- und Reiseromans. In: Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation. Hrsg. von Burkhard Hasebrink/Susanne Bernhardt/ Imke Früh, Göttingen 2012 (Historische Semantik 17), S.  62–79. Anzubinden wäre an Jan-Dirk Müllers Konzept offen gefasster „Erzählkerne“: „die regelhafte Verknüpfung eines Themas bzw. einer bestimmten thematischen Konstellation […] mit einem narrativen Potential, aus dem verschiedene narrative Konfigurationen generiert werden können“ (Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, bes. S. 6–45, Zitat S. 22).  74 Das werden etwa Leser des Überblicksartikels „Roman“ in einer für Studierende konzipierten Auswahl aus dem Lexikon des Mittelalters annehmen müssen, in dem die „sog. Minne- und Abenteuerr[oman] e“ mit der unglücklichen Formulierung eingeführt werden, sie aktualisierten „[i]m Rahmen des (aus 72

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Eine Kontinuität vom spätantiken ‚Liebes- und Abenteuerroman‘ zum mittelhochdeutschen ‚Minne- und Aventiureroman‘ aber ist nur punktuell und zudem vermittelt – mit Heinrichs von Neustadt Apollonius nach lateinischer Vorlage75 – gegeben. Das Erzählmuster von Trennung und schließlicher Wiedervereinigung nach Bewährung ist, soweit es für spezifisch gelten darf, von der Antike ins Mittelalter außer durch die lateinische Historia Apollonii auf anderem Wege vermittelt worden: über die frühchristliche Literatur, insbesondere die apokryphen Apostelakten, und das Zwischenglied der Legende.76 Das sollte auch deswegen nicht zu weit aus dem Fokus gerückt werden, weil die legendenhaften Züge eines großen Teils des Textcorpus, des „Legendenromans“ nach Ruh und Röcke, markant sind und diese eigentümliche Verschränkung mit anderen Dominanten bisher kaum mehr als terminologisch gelöst ist.77 Das Kriterium des hellenistischen Erzählschemas sollte aus diesen Gründen für die Beschreibung einer mittelhochdeutschen Gattung oder auch nur eines Romantyps ‚Min-

dem spätantiken R[oman] übernommenen) Modells von Liebesgewinn – Trennung – Wiedervereinigung […] sowohl heroischgenealog[ische] Sinngebung wie legendenhaft-transzendentale“ (Volker Mertens: [Teilartikel] Deutsche Literatur. In: Lexikon Literatur des Mittelalters. Bd. 1: Themen und Gattungen. Red. von Charlotte Bretscher-Gisiger, Stuttgart/Weimar 2002 [zuerst 1995], S. 403f., hier S. 403). 75 Vgl. Röcke (Anm. 4), S. 398; Alfred Ebenbauer: Antike Stoffe. In: Epische Stoffe des Mittelalters (Anm. 4), S. 247–289, hier S. 282; Werner Röcke: Mentalitätsgeschichte und Literarisierung historischer Erfahrung im antiken und mittelalterlichen Apollonius-Roman. In: Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Hrsg. von Hartmut Eggert u. a., Stuttgart 1990, S.  91–103; Elizabeth Archibald: Apollonius of Tyre. Medieval and Renaissance Themes and Variations. Including the Text of the Historia Apollonii Regis Tyri with an English Translation, Cambridge 1991; Tomas Tomasek: Über den Einfluß des Apollonius-Romans auf die volkssprachliche Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wolfgang Harms u. a., Stuttgart/Leipzig 1997, S. 221–239; Lienert (Anm. 56), S. 163–175; Achnitz (Anm. 6), S. 3. Vgl. auch oben, Anm. 56. 76 Max Wehrli: Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter. In: ders.: Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze, Zürich, Freiburg 1969, S. 155–176 (zuerst 1961); Rosa Söder: Die apokryphen Apostelgeschichten und die romanhafte Literatur der Antike, Darmstadt 1969 (zuerst 1932); Röcke (Anm. 40), S. 145f.; Richard Pervo: The Ancient Novel becomes Christian. In: The Novel in the Ancient World (Anm. 69), S. 685–711; Werner Röcke: Identität und kulturelle Selbstdeutung. Transformationen des antiken Liebesromans in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer. Hrsg. von Johannes Keller/Florian Kragl, Göttingen 2009, S. 403–418; ders.: Das Alte im Neuen. Paradoxe Entwürfe von Konversion und Askese in Legende und Roman des Mittelalters (Eustachius-Typus). In: Askese und Identität (Anm.  73), S. 157–173; Weitbrecht (Aus der Welt; Keuschheit; Die werlt lâzen, Anm. 73). Vgl. bereits Röcke (Anm. 4), S. 399. Daneben vermutete Röcke, ebd., S. 397–399, den Eingang des antiken Handlungsschemas in die mittelalterliche Erzählliteratur über seine Verbindung mit dem Motiv der Brautwerbung oder des Brautraubs, wie es im Deutschen die Gruppe der sog. ‚Spielmannsepen‘ variieren. Auch er beschrieb zudem den Apolloniusroman als wichtiges Einfallstor (ebd.). 77 Vgl. jetzt die Untersuchungen Weitbrechts (Anm. 73).

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ne- und Aventiureroman‘ bzw. ‚Liebes- und Abenteuerroman‘ in historischer wie systematischer Hinsicht besser hintangestellt werden.78

5. Historisch ist die Frage, ob von einer  – noch so frei definierten  – Gattung des mittelhochdeutschen ‚Minne- und Aventiureromans‘ die Rede sein kann, sicher zu verneinen: erstens im Hinblick auf das Fehlen einer geschlossenen Kontinuität eines (als spezifisch geltenden) Erzählmusters ab dem vermeintlichen antiken Referenzcorpus, zweitens im Hinblick auf das Fehlen einer – auch nur indirekten – übergreifenden Bezugnahme auf dieses Corpus, drittens im Hinblick auf das Fehlen einer historischen Kontinuität innerhalb des mittelalterlichen deutschsprachigen Corpus selber  – allein dessen akzeptierte Kerntexte spannen mit dem Trierer Floyris bzw. Flore und Blanscheflur und dem Friedrich von Schwaben einen Bogen vom letzten Drittel des 12. Jahrhunderts bis (vermutlich79) ins frühe 15. Jahrhundert – schließlich zudem im Hinblick auf das offensichtliche Fehlen eines zeitgenössischen kulturellen Bewusstseins einer gattungshaften Zusammengehörigkeit der fraglichen Texte. Erkennbare historische Kontinuität – im Sinne ei78

Es stand dort übrigens seit jeher: Das zeigt ein Blick in die Literaturgeschichte Gustav Ehrismanns – ganz selbstverständlich merkte er in seinen nur katalogartigen Einträgen zu den einzelnen Texten des Corpus Verweise auf das antike Erzählschema an, ohne deswegen eine Gruppe zu konstituieren; vgl. Ehrismann (Anm. 36). Erst mit der Etablierung der Spätmittelalterforschung seit den 1960er Jahren wurde ein spezifischer, systematisierender Bezug hergestellt (symptomatisch etwa Xenja von Ertzdorffs Versuch einer Typologie des sog. nachklassischen Romans „in der Tradition des hellenistischen Romans: Sowohl dessen Bautypen als auch seine Themen und Handlungsmotive leben in den mittelalterlichen Romanen fort“: Typen des Romans im 13. Jahrhundert. In: Der Deutsch­ unterricht 20/2 [1968], S. 81–95, hier S. 82). Auch diese Korrelation ist wissenschaftsgeschichtlich zu kontextualisieren; ich nenne nur zwei, auch miteinander zusammenhängende Tendenzen: (1) Die ‚Entdeckung‘ des Spätmittelalters fiel mit der Entwicklung des einflussreichen strukturanalytischen Ansatzes in der germanistischen Mediävistik forschungsgeschichtlich wie personell zusammen. Ein so grundlegendes narratives Schema wie das von Trennung und Wiedervereinigung musste aus dieser Perspektive dominant in den Fokus rücken. (2) In die gleiche Zeit fällt Hugo Kuhns seit 1967 in einer Reihe von Essays publizierter literatursystematischer Entwurf (postum gesammelt in: Kuhn [Anm. 24]; dazu das Vorwort von Burghart Wachinger, ebd., S. VII–XI), der auf dem Grundgedanken „einer Typologie“ beruhte, „die die jeweils zentralen Strukturen träfe“, um „die Totalität der schriftlichen Überlieferung in den Griff zu bekommen“ (Hugo Kuhn: Versuch über das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur [Anm. 24], S. 85) – also auf dem neuen Gedanken einer systematischen Literaturgeschichtsschreibung basiert: einer Literaturgeschichtsschreibung, die „nicht länger“, so Kuhn in einer hinterlassenen Notiz, „Gänsemarsch der Texte und Verfasser“ (zit. nach Wachinger [s. o.], S. X) sein sollte – die aber, so wegweisend der Ansatz war, dort fehlgehen muss, wo sie um des Systems willen systematisiert. 79 Zur Frage der Datierung des Friedrich von Schwaben vgl. Johannes Janota: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (1280/90–1380/90), Tübingen 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hrsg. von Joachim Heinzle, 3.1), S. 208f.; Herweg (Anm. 6), S. 31f.

Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik

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ner expliziten oder impliziten Bezugnahme der Texte aufeinander, eines gemeinsamen Sinnhorizonts oder eines abstrahierbaren gemeinsamen „System[s] des Denkens und Argumentierens“80 – existiert, entsprechend ja auch der ursprünglichen Gruppenbildung bei De Boor, noch am ehesten für ein Teilcorpus in den Jahrzehnten um 1300. Systematisch allerdings besteht ein Spielraum, der sorgfältig auszuloten bleibt. Bei aller Disparatheit der einzelnen Texte und bei aller Dominanz, mit der sie in Komposition und Sinnangebot zumeist gerade nicht auf ihre „gattungshaften Dominanten“81 setzen, trifft es zu, dass eine Reihe gemeinsamer Eigenschaften die (Kern-)Texte des Corpus von anderen – nämlich den arthurischen, tristanischen oder antikisierenden – Romanen der gleichen Zeiträume abgrenzen; der vorangegangene Abschnitt hat sie zusammengefasst. Zu bedenken ist dabei, dass diese Merkmale mehrheitlich auf ein einziges Dachkriterium zurückführen: Sie sind Folge des Erzählens im lebensweltlich gestalteten Raum, einer Erzählwelt, die sich in ihrer ‚Realistik‘ von den märchenhaft-unbestimmten Welten des Artus- und Gralsromans wie von den unkonkret bleibenden Welten der Tristanromane und der Antikenromane gleichermaßen signifikant abhebt.82 An dieses Kriterium binden sich etwa die konkrete Geographie der Abenteuerreisen, die politisch-herrschaftsgenealogische Thematik und die ‚biographische‘ Signatur der erzählten Handlung, von der sich wiederum typische Figurenkonzeptionen wie die des auch emotional agierenden, ‚Welterfahrung‘ gewinnenden Handlungsträgers ableiten lassen. Anders als in der germanistischen Mediävistik, die das Merkmal der Lebensweltlichkeit zumeist nur als eines unter mehreren angeführt hat,83 ist die übergeordnete Stellung dieses Kriteriums in der Romanistik früh gesehen worden.84 Der Blick auf die Nachbardisziplin ist für die Gattungsfrage auch deswegen von Belang, weil für einen Teil der deutschsprachigen ‚Minne- und Aventiureromane‘ altfranzösische Vorlagen oder stofflich verwandte Romane aus dem 12. und 13. Jahrhundert existieren, die wie auch eine Reihe anderer französischer Romane ohne (erhaltene) deutsche Bearbeitung die handlungsstrukturellen Merkmale des ‚Minne- und Aventiureromans‘ teilen.85 Eine dem germanistischen Gebrauch entsprechende Gattungsfestschreibung gibt es in der Romanistik nicht, doch bestehen vergleichbare Probleme der Kategorienbildung. Gustav Gröber fasste eine Gruppe von Texten, zu denen einzelne der betreffenden Romane zählen, 1902 80

Vgl. dazu die Überlegungen Titzmanns (Anm. 37), Zitat S. 51. Titzmann definiert so seinen Begriff des Diskurses. 81 Vgl. oben, S. 54f. 82 Das hat (bei stärkerer Betonung des heilsgeschichtlichen Bezugsrahmens) am deutlichsten Ebenbauer (Anm. 30) gesehen; vgl. auch ders.: Das Dilemma mit der Wahrheit. Gedanken zum „historisierenden Roman“ des 13. Jahrhunderts. In: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983. Hrsg. von Christoph Gerhardt/Nigel F. Palmer/Burghart Wachinger, Tübingen 1985, S. 52–71. 83 Vgl. aber De Boor (Anm. 9), S. 90f. 84 Anthime Fourrier: Le courant réaliste dans le roman courtois en France au moyen-âge, Bd. 1: Les débuts (XIIe siècle), Paris 1960, bes. S. 179–485. 85 Vgl. unten, Anm. 88, 89 und 90.

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unter dem Begriff der „Schicksalsdichtung“ bzw. des roman d’aventures zusammen. Seine Kriterien gleichen denen, die für das deutschsprachige Corpus gelten: Hier ist nicht mehr die auf der Abenteuerfahrt gesuchte Gefahr und ihre Überwindung durch kühne Ritterthat und nicht der Ehre bringende Erweis von Kraft und Unerschrockenheit Vorwurf der Erzählung, sondern das Suchen und Finden, das Erleiden von Schicksalen und das Ringen mit Widerständen und Widerwärtigkeiten im bürgerlichen Leben, die Prüfung von Tugend, Treue und Gottergebenheit. […] Am häufigsten wird das Thema von der Trennung und dem Wiederfinden oder Wiedererkennen von Ehegatten und Treuliebenden, von der in Leid und Versuchung bewährten Tugend und Treue behandelt. Der Herzensroman spielt immer in aristokratischen Kreisen, nicht unter den Artusrittern und nicht in sagenhafter Vergangenheit, sondern unter Personen fürstlichen Standes verschiedener, vorwiegend süd- und osteuropäischer Länder, deren Sitten der Gegenwart gleichen, und wodurch die Ereignisse als einer näheren Vergangenheit angehörig erscheinen.86

Insbesondere Erich Köhler nahm Gröbers Wendung mit dem Begriff des „Schicksals­ romans“ auf und brachte ihn gezielt für das Problem der Gattungszuordnung jener Romane zur Geltung, die „nicht von König Artus, seiner Tafelrunde und den Aventüren seiner Ritter, noch von Tristan, der blonden Isolde und König Marc erzählen“. Diese „(neben Artusroman und Tristanroman) dritte gruppenspezifische Antwort auf die geschichtliche Wirklichkeit“ werde mit bestimmten stofflichen und motivischen Elementen […] literarisch instrumentiert: sie stammen aus dem Erbe des hellenistisch-byzantinischen Romans und aus der hagiographischen Legende, die sich etwa zu gleicher Zeit oder kurz vorher auch in der ältesten französischen Fassung des weitverbreiteten Apollonius-Romans eng verbinden. […] Für die weitere Entwicklung des Schicksals­ romans ist von Bedeutung, daß er das christliche Wunder seiner hagiographischen Anfänge säkularisiert mit Hilfe von Strukturelementen hellenistisch-byzantinischer Provenienz.87

Der Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters sieht darüber hinaus eine teils chronologische, teils inhaltliche Unterteilung des Corpus vor: in die noch im 12. Jahrhundert entstandenen Romane auf dem Weg du rêve idyllique au goût de la vraisemblance,88 86

Gustav Gröber: Grundriss der romanischen Philologie, Bd. 2.1, Straßburg 1902, S. 523–534, hier S. 523f. 87 Erich Köhler: Einleitung. In: Der altfranzösische höfische Roman. Hrsg. von dems., Darmstadt 1978, S. 1–15, Zitate S. 1 und S. 7. Vgl. auch ders.: Literatursoziologische Perspektiven. In: Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle, Bd. 1: Partie historique. Hrsg. von Jean Frappier/Reinhold R. Grimm, Heidelberg 1978 (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters 4), S. 82–103, hier S. 96–103; ders.: Der Roman in der Romania. In: Europäisches Hochmittelalter. Hrsg. von Henning von Krauss, Wiesbaden 1981 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 7), S.  243–282. Vgl. auch Keith Busby: Narrative genres. In: The Cambridge Companion to Medieval French Literature. Hrsg. von Simon Gaunt/Sarah Kay, Cambridge 2008, S. 139–152, hier S. 145 („an ill-defined category that scholars have dubbed roman d’aventures“). 88 Yves Lefèvre: Du rêve idyllique au goût de la vraisemblance. In: Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle (Anm. 87), S. 265–291, hier S. 265–277. Die dort behandelten Romane – Floire et Blancheflor, Eracle, Ille et Galeron, Partonopeus de Blois, Florimont – gehören mit Ausnahme des Floire nicht zur Gruppe der romans idylliques mit dem Motiv der Kinder- oder Jugendliebe nach Myrrha Lot-Borodine (Le roman idyllique au Moyen Age, Paris 1913). Vgl. William W. Kibler: Idyllic Ro-

Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik

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in die romans réalistes des 13. Jahrhunderts89 und in eine große, heterogene Gruppe der romans d’aventure et d’amour des gleichen Jahrhunderts.90 Mit dem Begriff des roman réaliste, den unter Einschluss auch der im Grundriß separat klassifizierten Texte des 12. Jahrhunderts seither vor allem Michel Zink transportiert hat – „les romans dits ‚réalistes‘ “91 –, ist in der Romanistik also auf das systematische Dachkriterium der Lebensweltlichkeit rekurriert, das sich auch für das deutschsprachige Corpus geltend machen ließe. Eine entsprechende Kategorienbildung ist, wenngleich auch in der Romanistik nicht unumstritten,92 für die französischsprachige Literatur dabei leichter möglich als für die deutschsprachige, weil die betreffenden Romane chronologisch näher beisammenstehen und sich seit dem späten 12. Jahrhundert mit ihren ‚realistisch‘ gestalteten Erzählwelten von den Märchenwelt-Romanen etwa des Artus- oder des Tristankreises mit einer gewissen Geschlossenheit abheben. Das übergreifende systematische Kriterium besitzt also mit Blick auf die französischsprachige Romanliteratur (auch) historische Dimension – nicht aber mit Blick auf die deutschsprachige: Chronologische Dichte oder Kontinuität, die De Boor für die wenigen Texte seiner ursprünglichen Gruppierungen noch annehmen durfte (vgl. Abb. 2), sind für das deutschsprachige Corpus spätestens seit der Synchronisierung des Gattungsbegriffs durch Röcke ausdrücklich kein Kriterium mehr gewesen.

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mance. In: Medieval France. An Encyclopedia. Hrsg. von dems./Grover A. Zinn, New York/London 1995 (Garland Encyclopedias of the Middle Ages 2; Garland Reference Library of the Humanities 932), S. 471f; Friedrich Wolfzettel: Das gefährdete Paradies. Zum idyllischen Roman im französischen Mittelalter. In: Romanische Forschungen 121 (2009), S. 20–38, sowie auch den Beitrag von Friedrich Wolfzettel im vorliegenden Band. Rita Lejeune: Jean Renart et le roman réaliste au XIIIe siècle. In: Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle (Anm. 87), S. 400–453. Texte: L’Escoufle, Galeran de Bretagne, Roman de la Rose (Guillaume de Dole), Roman de la Violette, Roman du Castelain de Couci et de la Dame de Fayel, Joufroi de Poitiers, Manekine, Jehan et Blonde, Roman du Comte d’Anjou. Alexandre Micha u. a.: Romans d’aventure et d’amour. In: Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle (Anm. 87), S. 454–479. Trotz der äquivalenten Bezeichung weist nur ein Teil der darunter gruppierten Romane die formalen Merkmale auf, die für den ‚Minne- und Aventiureroman‘ geltend gemacht und konventionell mit dem antiken ‚Liebes- und Abenteuerroman‘ konnotiert werden. Texte: Amadas et Ydoine, Guillaume de Palerne, Amis et Amilun, Blancandin, Cristal et Clarie, Floris et Liriopé, Sone de Nansav, Richard le Beau, Cléomadès, Méliacin, Le Roman de Silence, Le Comte de Poitiers, Florence de Rome, La Belle Hélène de Constantinople, Le Roman du Hem, Le Tournoi de Chauvency, Guy de Warewic. Michel Zink: Littérature française du Moyen Age, Paris 1992, S. 160–167 und S. 167f. („A proprement parler, n’existe pas, dans la littérature du Moyen Age, de ‚roman réalistes‘. […] L’expression est pourtant couramment utilisée pour désigner une série de romans en vers, à vrai dire assez hétéroclites, qui, de la fin du XIIe à la fin du XIIIe siècle, ont en commun de refuser le merveilleux, de s’attarder avec complaisance sur la peinture des realia et […] de multiplier les allusions à des personnages ou à des situations empruntés à la réalité contemporaine“, S. 160); Michel Stanesco/ ders.: Histoire européenne du roman médiéval. Esquisse et perspectives, Vendôme 1992 (Écriture), S.  83f.; ders.: Realistic Romances. In: Medieval France (Anm.  88), S.  782–784. Vgl. Fourrier (Anm. 84) und auch Köhler (Einleitung, Anm. 87), S. 9. Vgl. Busby (Anm. 87), S. 145, sowie auch Köhler (Literatursoziologische Perspektiven, Anm. 87), S. 96; Lejeune (Anm. 89), S. 400; Zink (Littérature française, Anm. 91), S. 160.

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Ist aber der systematische Wert eines übergreifenden (Dach-)Kriteriums der Lebensweltlichkeit und seiner Ableitungen im Zusammenhang mit einem so verbreiteten Erzählmuster wie dem der Trennung und des Sich-Wiederfindens zweier Liebender  – in einer Epoche, die jahrhundertelang die Liebe zwischen Mann und Frau generell ins Zentrum weltlicher Literatur stellt93  – wirklich hoch genug, um damit eine (im Sinne Jauss’ und Röckes) synchrone Zusammengehörigkeit der Romane und gar eine umfassende Gruppenbezeichnung rechtfertigen zu können? Negieren nicht die schiere Masse und die quantitative Dominanz derjenigen umfangreicheren Erzähltexte ab der Mitte des 13. Jahrhunderts, die außerhalb der in den Jahrzehnten um 1200 etablierten Romangattungen diese Kriterien aufweisen, jegliche Spezifik? Treffender wird man das Erzählen in der Makrostruktur von Trennung und Wiederfinden ebenso wie die Gestaltung ‚realistischer‘ Erzählwelten in ausgedehntem geographischem Raum und die daran sich bindenden Merkmale im weitesten Sinne als Eigenschaften komplexer weltlicher Narration im deutschen Spätmittelalter bezeichnen müssen: eines Erzählens, das sich von der Romania und deren in den Jahrzehnten um 1200 intensiv rezipierten literarischen Weltentwürfen zunehmend löst.94 Dagegen sollten die wenigen frühen Texte, welche die für den ‚Minne- und Aventiureroman‘ postulierten Merkmale tatsächlich aufweisen  – das sind vor allem die Flore-Romane und eventuell der (handlungsstrukturell indes wenig spezifische) Eraclius, kaum aber die sogenannten ‚Spielmannsepen‘ – besser als direkter Reflex eines historisch-systematischen Zusammenhangs im französischen Sprachraum verstanden und gerade nicht in historischer oder systematischer Verbindung mit den jüngeren Romanen des deutschsprachigen Corpus gesehen werden. Das hindert nicht, sondern ermöglicht erst, historische Teilkontinuitäten oder systematische Teilmengen zu benennen: literarische Reihen – über deren Typen- oder gar Gattungshaftigkeit zu diskutieren ist95 –, wie sie zuletzt etwa Mathias Herweg mit dem 93

Vgl. diesen Hinweis auch bei Ebenbauer (Anm. 6), S. 279, sowie ebd., S. 281, die wichtige Bemerkung, dass die typischen Trennungs- und Bewährungshandlungen der spätmittelalterlichen Romane einen logischen Anschluss an die Liebesthematik der älteren Romanliteratur bilden: Sie entstanden, als die „ ‚klassischen‘ Romane […] über Fragen der Ehe/Liebe bereits umfassend diskutiert hatten. Diese Diskussion hatten die späteren Autoren vor Augen, doch die Akzente mußten nun anders gesetzt werden.“ Ebenbauer selber vermeidet den Begriff ‚Minne- und Aventiureroman‘ und auch eine Corpusbildung; seine demonstrativ offen scheinende Bezeichnung „Andere Großepen“ (ebd., S. 279) allerdings geht auf die Bandherausgeberin Ursula Liebertz-Grün zurück: siehe den entsprechenden Hinweis bei Schöning (Anm. 6), S. 4. Vgl. ferner Ebenbauer (Dilemma, Anm. 82), S. 53f. 94 Ebenso ist zu bedenken, ob nicht auch die wiederholt zur Sprache gebrachten poetologischen Kriterien der späten Corpustexte, etwa ihre Tendenz zum intertextuellen Erzählen oder zur Hybridbildung (vgl. oben, S.  60), zugleich Eigenschaften (spät-)mittelalterlichen Erzählens im weitesten Sinne sind. 95 Vgl. für das ‚Minne- und Aventiure‘-Corpus ähnlich schon Kiening (Anm. 4), bes. S. 475f., 493. Grundsätzliche Überlegungen zu einem solches Verfahren finden sich in den Arbeiten Klaus Grubmüllers, der sie im Feld der spätmittelalterlichen Kleinepik und am Gattungsbegriff des ‚Märe‘ entwickelt: Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Walter Haug/ Burghart Wachinger, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 8), S.  37–54; Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg., übers. und kommentiert von dems., Frankfurt a.  M. 1996 (Bibliothek des

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neuen Begriff des „Fürsten- und Herrschaftsromans“ um 1300 überzeugend herausgestellt hat,96 oder, mit stärkerer Betonung des systematischen Nexus, Erzählkerne „unterhalb der Gattungsebene“.97 Für das gesamte Corpus des ‚Minne- und Aventiureromans‘ ab den sogenannten ‚Spielmannsepen‘ oder auch erst ab den Flore-Romanen bis zum Friedrich von Schwaben oder gar zu den Prosen der frühen Neuzeit kann eine – historisch verstandene – literarische Reihung nicht gelingen: Ihr fehlten – systematische – Kriterien mit „reihenbildende[r] Kraft“ durch „Markiertheit“;98 aus dem gleichen Grund bliebe ein corpusumfassend postulierter Erzählkern konturarm. Die Nachzeichnung begründbarer Teilkontinuitäten dagegen mag literarhistoriographisch zu weniger kompakten Ergebnissen führen,99 ist aber das Verfahren, das der Heuristik des einzelnen Textes am dienlichsten ist. Das illustriert das Beispiel des deutschen Flore und Blanscheflur, zu dessen Marginalisierung und hartnäckig transportierter literarhistorischer Fehleinschätzung beigetragen hat, dass er jahrzehntelang mechanisch einer Gruppe von Texten zugeschlagen wurde, mit denen er, abgesehen von der ganz unspezifisch bleibenden Makrostruktur seiner Handlung, nur wenig gemeinsam hat.100 Sein Sinnpotential und seine literarhistorische Stellung erschließen sich viel eher über Bezüge zur zeitgenössischen Literatur der Romania, zur geistlichen Literatur oder zu zeitgenössischen Romanen, die, wie etwa Hartmanns Erec oder die Tristan-Romane, außerhalb des mechanisch gebildeten Corpus des ‚Minne- und Aventiureromans‘ stehen. Was wäre eigentlich verloren, wenn man auf einen übergreifenden Begriff, ob nun ‚Minne- und Aventiureroman‘, ‚Minne- und Abenteuerroman‘, ‚Liebes- und AbenteuerMittelalters 23); ders.: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997. Hrsg. von Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1999, S. 193–210; ders.: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter. Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, S. 11–16; ders.: Prinzipien einer Geschichte des Märe (der europäischen Novellistik). In: La novella europea. Origine, sviluppo, teoria. Atti del convegno internazionale Urbino, 30–31 maggio 2007. Hrsg. von Michael Dallapiazza/Giovanni Darconza, Rom 2009, S. 9–24. Vgl. auch ders.: Über die Bedingungen volkssprachlicher Traditionsbildung im lateinisch dominierten Mittelalter. In: Mehrsprachigkeit im Mittelalter. Kulturelle, literarische, sprachliche und didaktische Konstellationen in europäischer Perspektive. Mit Fallstudien zu den Disticha Catonis. Hrsg. von Michael Baldzuhn/Christine Putzo, Berlin 2011, S. 147–160. 96 Und zwar unter Einschluss eines Textes, der wegen seiner Zugehörigkeit zur Gralsliteratur zuvor nicht im Zusammenhang mit Romanen aus dem Corpus des ‚Minne- und Aventiureromans‘ diskutiert wurde: Zum „Fürsten- und Herrschaftsroman“ zählt Herweg (Anm. 6), S. 29–53, außer dem Wilhelm von Wenden, dem Reinfried von Braunschweig, dem Apollonius von Tyrland und dem Wilhelm von Österreich auch den Lohengrin. Vgl. auch ebd., S. 46–51 zum „Reihenumfeld: Prä- und Nachbartexte“ (S. 46). 97 Müller (Anm. 73), S. 36. 98 Grubmüller (Gattungskonstitution, Anm. 95), S. 203. 99 Die methodischen Probleme der Literarhistoriographie können hier über den exemplarischen Einblick in die Literaturgeschichtsschreibung des deutschen Spätmittelalters (s. o., Abschnitte 2 und 3) hinaus nicht systematisch erörtert werden; vgl. aus der breiten Forschungsdiskussion dazu stellvertretend die kleine Schrift von David Perkins: Is Literary History Possible?, Baltimore/London 1992. 100 Vgl. dazu Putzo (Anm. 2) [in Druckvorbereitung].

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roman‘, ‚Liebes- und Reiseroman‘, ‚Historischer Roman‘ oder gar ‚Realistischer Roman‘, für das deutschsprachige Mittelalter konsequent verzichtete? Wenn man die Leerstelle im System, wie sie sich neben den etablierten stofflich-thematisch definierten Romangattungen naturgemäß auftut, als solche akzeptierte? Wo liegt – am Beispiel des Flore besehen, aber auch generell gefragt – der Gewinn einer systematischen Gattungs- oder Typbildung am Corpus derjenigen Romane außerhalb dieser Gattungen, welche die beschriebenen handlungsstrukturellen Merkmale in unterschiedlichster Ausprägung aufweisen? Kategorisierungen dieser Art dienen konträren Zwecken: Sie wollen einerseits im gleichsam externen Zugriff – zum Nutzen des Wissenschaftlers – Wissen bündeln, Kriterien und Systeme schaffen;101 sie wollen andererseits im gleichsam internen Zugriff – zum Nutzen des Textes und seiner Heuristik – Bezüge aufzeigen und die kulturellen oder strukturellen Bedingungen bezeichnen, unter denen ein untersuchter Text entstanden ist.102 Sie wollen aber auch – das liegt im Wort ‚Gattung‘103 – die besondere Natur und Art eines untersuchten Gegenstands hervorheben und so seine markanten Eigenschaften benennen. Die Frage nach der Gattungs- oder Typzugehörigkeit eines Textes ist somit eine, die in sich zwei ganz unterschiedliche Aspekte enthält und die zwei im Grunde gegenläufige Bewegungen ineinander lenkt: die nach der Verallgemeinerbarkeit des untersuchten Gegenstandes und die nach seiner Besonderheit. Sie ist damit nur ein Umweg der Frage nach dem Gegenstand – vielleicht ein sinnvoller, denn es ist ein Umweg, der die Frage, die er stellt, selbst schon beleuchtet.

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„Gattungszuschreibungen und Schreibweisenbestimmungen gehören zu den ubiquitären literaturwissenschaftlichen Prozeduren, mit denen Literaturwissenschaftler ihren Gegenstandsbereich ordnen, sich in ihm orientieren und ihn im Kontext ihres Faches kommunizierbar (nicht zuletzt: lehrund lernbar) machen“ (Zymner [Texttypen, Anm. 43], S. 25). 102 „Insgesamt dienen literaturwissenschaftliche Gattungs- und Schreibweisenzuschreibungen der Bestimmung von verständnisleitenden Rahmendaten, der Interpretation und Bewertung von einzelnen Texten und Textkorpora und nicht zuletzt der allgemeinen Kartografierung der Literatur. Sie ermöglichen […] die Beschreibung oder (Re-)Konstruktion von Ordnungen, Strukturen oder Netzen als literaturkonstituierende Aspekte“ (Zymner [Texttypen, Anm. 43], S. 26). 103 Klaus W. Hempfer: Gattung. In: RL 1 (Anm. 10), S. 651–655, hier S. 652.

Lydia Jones (Berlin)

The Residue of History Quotation Marks and Character Speech in Bartsch’s Edition of Konrad’s Partonopier und Meliur

Karl Bartsch’s edition of Konrad’s von Würzburg Middle High German version of the European Love and Adventure Novel, Partonopier und Meliur, was published in 1871.1 Just shy of a century later, Bartsch’s edition became prohibitively difficult to find and it was photomechanically reprinted with an afterword by Rainer Gruenter. In his afterword Gruenter concludes: “Die Ausgabe Bartschs bildet also für philologische Arbeiten über den Partonopier eine unzulängliche Grundlage”. In a footnote to this disclaimer, he recommends that due to the unsuitability of Bartsch’s edition for research purposes: “auch die handschriftlichen Textzeugen künftig mit herangezogen werden müssen”.2 1

Konrad’s version of Partonopier und Meliur is dated to 1277. The earliest extant transmissions of the text are two parchment fragments from the 13th century. They are now assumed to have come from the same manuscript. By far the most extensive and important transmission of the Middle High German treatment of the story is the paper manuscript Berlin Staatsbibl., mgf. 1064, also known as the Riedegger Manuscript. It contains approximately 21,782 verses, but lacks a conclusion. According to an inscription, it was copied in 1471 by H. Wincklär. The fragment known as A2, Zürich Zentralbib. Cod C 184 Nr. XXVII, was published by Johann Jakob Bodmer (1698–1783) and Jakob Breitinger (1701–1776) in 1743. The fragment known as A1, Zürich Zentralbib. Cod C 184 Nr. XXVI, was published by Christoph Heinrich Müller (1749–1807) in 1785. Hans Ferdinand Massmann (1797–1874) published both of them together in 1847. Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur. In: Partonopier und Meliur. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer mit einem Nachwort von Rainer Gruenter, ed. Karl Bartsch/Rainer Gruenter, Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke. Texte des Mittelalters). Partial photomech. reprint of: Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur. In: Partonopier und Meliur. Turnei von Nantheiz. Sant Nicolaus. Lieder und Sprüche. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer und Franz Roth, ed. Karl Bartsch, Wien 1871, pp. 1–312; Johann Jakob Bodmer/Johann Jakob Breitinger: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvoller Schriften, zur Verbesserung des Urtheils und des Witzes in den Wercken der Wohlredenheit und der Poesie, Zürich 1743, pp. 38–46; Christoph Heinrich Müller: Samlung deutscher Gedichte aus dem XII., XIII. und XIV. Jahrhundert, Berlin 1784, p. XIV; Hans Ferdinand Massman: Partonopeus und Melior: Altfranzösisches Gedicht des dreizehenten Jahrhunderts in mittelniederländischen und mittelhochdeutschen Bruchstücken nebst begleitenden Auszügen des französischen Gedichtes, geschichtlichen Nachweisungen und Wörterverzeichnissen, Berlin 1847, pp. 24–30, 45–53. 2 Konrad (annot. 1), pp. 354 and fn. 56; Störmer-Caysa provides a similar assessment of Bartsch’s edition of Kudrun, writing: “Im Laufe der Arbeit habe ich an der Richtigkeit der Entscheidung, Bartschs Text zugrunde zu legen, immer mehr gezweifelt […] mir jedenfalls wurde immer klarer, dass man diesen Text neu, näher an der Handschrift, edieren müsste”. In: Kudrun. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. ed. Uta Störmer–Caysa, Stuttgart 2010 (RUB 18639), p. 355.

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Lydia Jones

Des­pite Gruenter’s disclaimer and explicit recommendation, all interpretive and textcritical scholarship on Konrads’s Middle High German version of the novel relies solely on Bartsch’s edition. This situation has developed because Bartsch’s edition of Konrad’s Partonopier is the only one. This situation is untenable because Bartsch’s editorial interventions, enacted on multiple levels, unduly influence scholarly interpretations of the novel. Editorial interventions on the lexical level undertaken by Bartsch are reproduced and interpreted in secondary scholarship, demonstrating the wisdom of Gruenter’s disclaimer. The editorial addition of quotation marks, part of a program of comprehensive editorial punctuation undertaken on the text, likewise has unexamined implications for understanding and interpretating Konrad’s Partonopier. Quotation marks first came into their now stereotypical use of marking direct speech in the late 18th century.3 The subsequent official codification of punctuation marks participated in a 19th century project of normalization and standardization in which the prerogative of institutional power was to regulate attention.4 “History”, as Theodor Adorno writes, “has left its residue in punctuation marks”.5 “Modernity”, according to Jonathan Reé, “is the age of the quotation mark”.6 Quotation marks, as I will demonstrate, carry the residue of modern history, and can have unintended effects when applied to texts that predate the technology; most saliently that of obscuring text-immanent strategies of marking character speech or thought. When these text-immanent strategies come into competition with modern quotation marks, they tend to lose. Their original function is obscured, and they stand in danger of being interpreted as oddly formulaic and ultimately superfluous. None of the three manuscript accounts of Konrad’s Partonopier und Meliur present punctuation marks in a scribal hand. The Riedegger manuscript was rediscovered in 1829, and was subseqeuntly reported in the Österreichische Geschichtsforscher in 1838.7 Preparations for a Middle High German text edition were made by philologist Franz Pfeiffer (1815– 1868) in 1866 and 1867. Pfeiffer undertook what might be called a ‘free transcription’ by analogy with the term ‘free translation’, rendering the manuscript evidence into forms intended to approximate Konrad’s Middle High German as he transcribed. Pfeiffer’s death in 1868 left the intended edition unfinished. Karl Bartsch (1832–1888) inherited the project. The 1871 edition ultimately published by Bartsch is based on Pfeiffer’s notes and free transcription, the previously-published editions of the two parchment fragments, 3

Christian Weyers: Zur Entwicklung der Anführungszeichen in gedruckten Texten. In: Semiotik 4 (1992), pp. 17–28, here p. 25. 4 Jonathan Crary: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture, Cambridge, USA 1999; Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge, USA 1990. 5 Theodor Adorno: Punctuation Marks. trans. Shierry Weber Nicholsen. In: The Antioch Review 48 (1990), pp. 300–305, here p. 301. Trans. of: Theodor Adorno: Satzzeichen. In: Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden. Ed. by Rolf Tiedemann et. al., vol. 11, Frankfurt a. M. 1981, pp. 106–133. 6 Jonathan Reé: Funny Voices. Stories, Punctuation, and Personal Identitiy. In: New Literary History 21 (1990), pp. 1039–1058, here p. 1053. 7 Joseph Cheml: Notizblatt. In: Der österreichische Geschichtsforscher 1 (1838), pp. 153–167.

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Adelbert Von Keller’s 1858 edition of Konrad’s Trojanerkrieg,8 and a rhyme dictionary of the Trojanerkrieg prepared by a student of Pfeiffer’s for reconstruction purposes.9 Two examples of problematic editorial interventions on the lexical level that are replicated in secondary literature illustrate how Bartsch’s Partonopier und Meliur is received by contemporary scholars. A 1992 article by Jan Strümpel examines the function and portrayal of nature and landscape elements in the novel. The article’s title is a verse quoted from Bartsch’s edition, which contains an editorial intervention that significantly varies from the manuscript reading: der walt is aller würme vol (V. 530; “the forest is full of dragons”). 10 The Riedegger manuscript is the only extant witness to this text passage, and it clearly reads, der walt ist bumes vol (V. 530; “the forest is full of trees”).11 This particular intervention is noted in the apparatus, but as Guenther warns, the apparatus is also “sehr nachlässig gearbeitet”.12 The unusual conditions of Partonopier’s edition outlined above account for at least some of the “Nachlässigkeit”. Several of Bartsch’s endnotes contain the phrase “aus Pfeiffers Angabe ist nicht ersichtlich”,13 and many manuscript readings are not noted in the apparatus. In the case of bumes and würme, Strümpel’s prominent reproduction of the editorial intervention reveals assumptions on his part about the reliability of Bartsch’s Partonopier. Strümpel is not alone. Steffeck writes in his monograph on the fairy world in Partonopier und Meliur: “An zwei Stellen des PART. [Partonopier] taucht eine Bezeichnung auf, die verdeutlicht, welchen Eindruck die Kaisertochter Meliur durch ihre Zauberkraft auf andere macht”.14 The term in question is wilde feine, and it does not appear twice in the manuscript. It does, however, appear twice in Bartsch’s edition: in V. 640 and 7500. For example, V. 636–641 in the edition reads, daz selbe schif mit starken listen was gezieret, und allenthalp gewieret mit golde und mit gesteine, sam ez ein wilde feine ze wunsche ir selber hæte erwelt. (V. 636–641)

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Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. In: Der Trojanische Krieg, von Konrad von Würzburg, nach den Vorarbeiten Georg Carl Frommanns und Franz Roths zum ersten mal herausgegeben durch Adelbert von Keller, Stuttgart 1858 (Bibliothek des Literarischen Vereins). 9 Konrad (annot. 1), p. 1. 10 Jan Strümpel: der walt is aller würme vol. Zur Funktionalität der Darstellung von Natur- und Landschaftselementen in Partonopier und Meliur von Konrad von Würzburg. In: WW 42, (1992), pp. 377–388; Konrad (annot. 1), V. 530. 11 Berlin Staatsbibl., mgf. 1064. 12 Konrad (annot. 1), p. 354. 13 Konrad (annot. 1), endn. 7291, 4678, 13141. 14 Hans Wolfgang Steffek: Die Feenwelt in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, Frankfurt a. M./Bern/Las Vegas 1978 (Deutsche Literatur und Germanistik 268), p. 89.

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Lydia Jones that very ship was quite beguilingly ornamented, completely encrusted with gold and jewels just as a wild fairy would wish to conjure up for herself.

In the manuscript, V. 640 reads, sam eß ein milde fenie (like a mild/benevolent fairy). It appears in the edition as sam ez ein wilde feine (like a wild fairy). As in the last case, Bartsch actually does provide a footnote with the manuscript reading mild, though the same editorial intervention at V. 7500 goes without comment. The variants are orthographically similar, but semantically they are wildly (but not mildly) different. These two examples clearly demonstrate that at least some of the scholarship is not heeding Gruenter’s warning that Bartsch’s edition is not reliable for scholarly use. They further offer evidence that some scholars are not even consulting the edition’s admittedly flawed apparatus for manuscript readings. They ultimately suggest that Bartsch’s version of Konrad’s Partonopier is being accepted with very little scrutiny by at least some scholars, and further that his changes are unwittingly playing a role in their understanding and interpretation of the text. Finally, their reproductions of Bartsch’s editorial changes are reinforcing his interpretation of the text.15 The quotation marks enclosing direct character speech and inner monologues that Bartsch adds to the text edition are likewise accepted at face value and reprinted in the secondary literature. Bartsch’s quotation marks are reproduced in virtually all of the scholarship to date.16 This is, of course, not surprising at all. Quoting a passage from an edition of a medieval work and including its punctuation is standard practice. George Fenwick Jones observes: “Once an editor has added punctuation he considers appro­priate, later scholars tend to transmit it unquestioningly and to interpret the text as if the punctuation were that of the original poet”.17 Bartsch’s Partonopier und Meliur offers an excellent opportunity to observe this practice because its conditions of transmission and 15

It is beyond the scope of this paper, but it is interesting to note that both of the editorial changes discussed here, changing a fairy from mild to wild and a forest full of trees to a forest full of dragons, gesture towards a notion of undomesticated or savage nature. It would be instructive to see if the edition yields more examples in which editorial interventions encourage readings of the natural world as savage. 16 See for example: Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts, Berlin/New York 2006 (Q & F 39); Anja Kühne: Vom Affekt zum Gefühl. Konvergenzen von Theorie und Literatur im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, Göppingen 2004 (GAG 713); Lydia Miklautsch: Studien zur Mutterrolle in den mittelhochdeutschen Großepen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, Erlangen 1991 (Erlanger Studien 88); Steffek (annot. 11); Anne Wawer: Tabuisierte Liebe. Mythische Erzählschemata in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur und im Friedrich von Schwaben, Köln 2000; Gisela Werner: Studien zu Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, Bern/Stuttgart 1977 (Sprache und Dichtung 26). 17 George Fenwick Jones: A Caveat on Editorial Punctuation. To Walther 51.6; Nibelungenlied, Str. 251; Wittenwiler’s Ring 3865, 6361. In: GQ 48 (1975), pp. 337–342, here p. 337.

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edition outlined above create a situation in which editorial punctuation can be reliably isolated for examination. Berlin, Staatsbibl., mgf fol. 1064 does not contain punctuation in a scribal hand, but the 1871 edition contains punctuation marks.18 These punctuation marks were therefore added by an editor in the 19th century who was neither influenced by nor concerned with transmitting manuscript punctuation.19 The punctuation marks in the edition of Partonopier und Meliur are therefore demonstrably 19th century additions. Conventional quotation marks are used when a text operates in multiple voices. The simplest case, and the one the following analysis will limit itself to, is direct speech. Direct speech is a formal category that describes a specific mode of integrating utterances imported wholesale into a frame construction. Associated with the attribute of ‘directness’ is the activation of a locative structure that is different from that of the target text.20 The presence of quotation marks indicates that the reader of a text must be instructed regarding the source of an utterance in order to process the information. The combination of cues indicate to him “dass nicht er, sondern der Ansprechpartner aus der wiedergegebenen Redesituation der Adressat ist. Verfasser und Leser blicken gemeinsam auf die Fremdsituation”.21 Direct speech can be conceived of as being ‘imported’ from a source text into the target text, or to use an alternate metaphor, the narrative frame is ‘overlaid’ on top of the character speech. In either conceptual approach, there are two (or more) locative structures, one for each ‘text’. Various strategies are traditionally employed to define their relation to one another. Generally, these strategies work to keep them distinct from one another.22 These strategies are applied in addition 18

The version of Partonopier und Meliur in Berlin Staatsbibl., mgf. 1064 does contain marginalia, corrections, annotations and occasional punctuation marks (generally in the form of a question mark – some are punctuating the text, others annotating it) in pencil. These markings appear to have been made by Pfeiffer. The additions and changes are largely consistent with those in the edition. For example, there are insertion arrows in the margin of the manuscript that consistently correlate with verses added to the edition for the sake or rhyme. For example, insertion points are pencilled into the manuscript at V. 7886, 7986, 8948, 10560, 11574, 11594, 11610, and 13525, all of which are verses added to the edition. 19 In the likely case that Pfeiffer added the editorial punctuation in the course of transcription, and Bartsch prepared it for publication, the marks were, in effect, added by not one but two prominent and productive 19th century editors. 20 Expressing an utterance in this mode does not make any claim regarding the actual existence of a source from which the utterance is duplicated. ‘Quote’ is a functional category that refers to the existence of a source text from which a quote is a duplicate. Quotes are always composed in the mode of direct speech, but not every instance of direct speech is a quote. See Ursula Bredel: Die Interpunktion des Deutschen: ein kompositionelles System zur Online-Steuerung des Lesers, Tübingen 2008, p. 131; Brian Mchale: Speech Representation. In: The Living Handbook of Narratology. Ed. by. Peter Hühn et. al, Hamburg 2011, URL: http://hup.sub.uni-hamburg.de/lhn/index.php/Speech_Representation. Accessed: 4 April 2012. 21 Ursula Bredel: Interpunktion, Heidelberg 2011 (Kurze Einführungen in die germanistische Linguistik), p. 57. 22 Schuhmann identifies instances of free indirect speech in Parzival, positing that allowing the locative structures to permeate one another is not as ‘modern’ of a technique as it is often made out to be. Martin Schuhmann: Gawan MacDowell. Über Figurenrede in Wolframs Parzival und in Joyces Ulysses. In: Nordlit. Tidsskrift i litteratur og kultur 24 (2009), pp. 305–322.

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to the contrasts that already exist between the two source texts. Contrasts can include, for example, grammar (number, tense, person, mode, etc.), content, and style.23 The strategies employed vary historically, and that variance is what creates problems for editors of older texts seeking to ‘modernize’ the regulation of the speaker-listener system. The most common (and modern) approach is the application of quotation marks to passages that exhibit the kinds of contrasts listed above. This approach often maps well onto historical systems, but because it conceives of punctuation as marking existing constructions instead of advising a mode of instruction, it is blind to text-immanent historical structures that issue instructions on how to read, and it runs the risk of either obscuring them, or emptying them of their significance. The quotation mark originated in the diple, a marginal arrow [>] used to refer the reader to a note.24 The diple was gradually graphically and functionally abstracted.25 In the 16th century, the diple slipped from the margins and entered the fabric of the text.26 Over time their use was extended beyond biblical exegesis and applied to quotations from less illustrious sources as well. Finally, their use was expanded beyond quotations and applied to fictional voices rendered in direct speech.27 Quotation marks were generalized to direct speech in the first third of the 18th century, but were still not used consistently in printed German-language texts as recently as the middle of the 19th century.28 In the eighteenth century the most common position for quotation marks was [thus] at the beginning of a line. Even in the 19th century quotations could be flagged in this way but the practice had begun to decline by the end of the eighteenth century and has today vanished completely. What undermined and then superseded the marginal positioning of quotation marks was the movement away from the margin of the first and last double commas so as to indicate the actual words with which a quotation began and ended […] The eventual result was that the special place and mutual contrast of the opening and closing quotation marks made them the key determinant of what was a quotation. The quotation marks on the margin lost their importance, no longer actually designating the quotation, but merely sustaining it.29

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Bredel (annot. 21), p.  59; see also: Schuhmann (annot. 22, annot. 46); and Reinhard Klockow: Linguistik der Gänsefüßchen. Untersuchungen zum Gebrauch der Anführungszeichen im gegenwärtigen Deutsch, Frankfurt a. M. 1980, p. 89. 24 Giordano Castellani: Francesco Filelfo’s Orationes et Opuscula 1483/1484: The first Example of Quotation Marks in Print? In: Gutenberg-Jahrbuch 83 (2008), pp. 52–80 here p. 59; see also C. J. Mitchell: Quotation Marks, National Compositorial Habits and False Imprints. In: The Library 6 (1983), pp. 359–384, here p. 359. 25 Bredel (annot. 21), p. 58. 26 Bredel (annot. 20), p. 132. 27 Bredel (annot. 21), p. 58. 28 Weyers (annot. 3), p. 25; see also Bredel (annot. 20), p. 132; M. B. Parkes: Pause and effect. An Introduction to the History of Punctuation in the West, Berkeley 1993, p. 94; Franz Simmler: Zur Geschichte der direkten Rede und ihrer Interpungierungen in Romantraditionen vom 16. bis 20. Jahrhundert. In: Deutsche Sprache in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Wiesinger zum 60. Geburtstag. Ed. by. Peter Ernst/Franz Patocka, Vienna 1998, pp. 651–674. 29 Mitchell (annot. 24), pp. 367, 369.

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Writing from a typographic point of view, C. J. Mitchell is interested in the distribution of the various forms that we would recognize as quotation marks today. From the perspective of function and history, what Mitchell calls “marginal quotation marks” would be classified as special signs or marks of annotation, whereas the opening and closing quotation marks would constitute punctuation marks.30 The gesture of precisely enclosing displaced utterances with graphic opening and closing marks brings quotation marks into the inventory of punctuation marks. “It is customary to write about emendations as if they were the product of editors’ choices”, writes Aurther Ross, “but editors do not make emendations under circumstances of their own creation […] they are simply the text-editorial manifestation of a larger project”.31 Bartsch’s editorial addition of quotation marks to Partonopier participates in a number of interrelated 19th century projects. M. B. Parkes cites the “mimetic ambitions of the novelist” as the literary innovation that drove the transition of quotation marks from marginal annotations to becoming the standard marker of difference between locative structures, assigning them unprecedented responsibility for regulating the speakerhearer structure of texts.32 The novelist was obliged to impose on readers the responsibility of reconstructing speech, requiring them to contribute their own experience of actual conversation to foster that illusion, and to accept what they found in the text as a record of dialogue. To induce this reaction novelists developed special conventions involving choice of vocabulary and syntactical features, but they also imposed new conventions of layout and punctuation upon the printer to make it as clear as possible that the representation of spoken language was intended.33

Novelistic ambitions under an aesthetic of realism sought to create an illusion of mimesis while relying entirely on the written medium. Novelists trying to simulate spoken discourse were faced with the dilemma that it is impossible to represent authentic spoken discourse in writing. The new technology of quotation marks were part of their solution. They had the benefits of precise enclosure and demarcation to isolate the narrative and speaking locative structures from one another in a way that older techniques, such as inquit forms from the narrator’s side of the divide, and directly addressing the interlocutor on the character’s 30

See Bredel (annot. 21), pp. 7–14 for an inventory of punctuation marks and their defining characteristics. 31 Aurthur Ross: On Editing Sexually Offensive Old French Texts. In: The Politics of Editing Medie­ val Texts. Ed. by. Roberta Frank, New York 1993, pp. 19–64, here p. 51. 32 Nine Miedema addresses the lack of a similar pretension of mimesis in medieval literature, writing: “Der Anspruch auf Mimesis im Sinne einer objektiven, realitätsnahen Abbildung menschlicher Sprache scheint in den Dialogen der mittelalterlichen Texte eine noch geringere Rolle zu spielen als in jüngeren Erzählwerken: Bereits die Versform der vormodernen Texte hält ständig das Bewusstsein wach, dass hier keine unmittelbare Realitätsnähe gesucht wird”. Nine Miedema: Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse. In: Historische Narratologie, mediävistische Perspektiven. Ed. by. Harald Haferland/Matthias Meyer, 2010 (TMP), pp. 35–69 here n. 21 p. 40; see also: Martin Schuhmann: Reden und Erzählen. Studien zur Figurenrede und zum Erzählen in Wolframs ‘Parzival’ und ‘Titurel’, Heidelberg 2008, p. 118. 33 Parkes (annot. 28), p. 93.

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side, did not. Quotation marks make it abundantly clear what is enclosed in a set of quotation marks and what is not. Beyond this, they display a scientific neutrality of presentation due to their purely graphic form that assists in the ambition of simulating the spoken word. Philosopher Daniel Müller Nielada gestures towards older techniques when he calls quotation marks a “rein graphematischer Stimmengeber, der seinerseits gänzlich stimmlos ist”.34 Quotation marks support the new ambition of mimesis by relieving the narrator and the speaking characters of some of their traditional responsibility for regulating the text-internal locative structures and the related speaker-listener system. Their development allowed character speech a new level of independence from a mediating narrator, and lessened the demand on the speaking character that they employ formulaic sayings to regulate the speaker-listener system, for example.35 At the end of the long 19th century, a push for orthographic reform swept punctation along with it towards official standardization.36 Konrad Duden presents his Versuch einer deutschen Interpunktionslehre zum Schulgebrauch as participating in some of the most prominent standardization projects of the time. He writes: Als dann bald nach der Gründung der politischen Einheit Deutschlands auch das Münz-, Maß-, und Gewichtswesen im neuen Reiche einheitlich geregelt wurde, da regte sich auch wieder lebhafter das Verlangen nach Einheit in der Rechtschreibung.37

Like coins, measurements and weights, orthography demanded standardization in service of a new political unity. Bartsch himself also uses the metaphor of currency in his first article in a series of three contributions to the Allgemeine Zeitung reporting on the proceedings of the First Orthographic Congress of 1876, in which he served as a delegate. He writes of orthographic reform in general: “Es ist ähnlich wie mit der Einführung einer neuen Münzwährung; die Generation die sie trifft leidet auch darunter und verliert Zeit und Kraft, doch nur eine kurze Zeit, bis sie sich gewöhnt hat”.38 His interest is not expressed in 34

Daniel Müller Nielaba: Das doppelte Anführungszeichen: ‘Gänsefüßchen’ oder ‘Hasenöhrchen’? In: Punkt, Punkt, Komma, Strich? Geste, Gestalt und Bedeutung philosophischer Zeichensetzung. Ed. by. Christine Abbt/Tim Kammasch, Bielefeld 2009, pp. 141–149 here p. 143. 35 Parkes (annot. 28), p. 93. 36 Neither the first nor the second orthographic conference (1876 and 1901 respectively) addressed punctuation directly. Punctuation rules were not included in the 7th edition of 1902, the first official orthographic rule book released after the second congress. They first appeared in the 9th edition in 1915, without the benefit of peer review or open discussion. The rules were taken directly from the Buchdruckduden of 1903. The Buchdruckduden was a special reference work, created by Duden at the request of printers in the wake of the 1901 reforms. The punctuation rules printed in the 1903 Buchdruckduden were taken from Duden’s 1876 Versuch einer deutschen Interpunktionslehre. In effect, Duden’s 1876 Versuch, composed for pedagogical reasons, remained the official standard through the 20th edition, issued in 1990. Konrad Duden: Versuch einer deutschen Interpunktionslehre zum Schulgebrauch von Dr. Konrad Duden, Gymnasialdirektor, Schleiz 1876 (Beilage zum Jahresbericht des Gymnasiums zu Schleiz). 37 Duden (annot. 36), p. 1. 38 Karl Bartsch: Die orthographische Reform. In: Allgemeine Zeitung 53 (1876), pp. 785–787, here p. 785.

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such an overtly political fashion as Duden’s, but his conviction that orthographic reform can be introduced like new currency reveals a good deal about his concept of what writing and punctuation is and does. Duden gets to the heart of the matter in an 1908 entry in the Enzyklopädisches Handbuch für Pädagogik.39 He recognizes that the unified official rule book falls short of an ideal orthography, but in the same breath asserts: “Sein [the rule book’s] Hauptvorzug ist, daß es, mit der höchsten Authorität ausgestattet, überall anerkannt werden muß, daß es jeder Willkür die Tür verschließt”.40 The greatest virtues of the standardized official rules have nothing to do with their substance. The greatest virtues of the standardized official rules are they are standardized and that they are official. The conception, codification and application of orthography and punctuation participates in and interacts with larger projects of the era. With regard to standardization, historian David Blackbourn calls bringing “an end to arbitrariness” a key concept to understanding the 19th century in Germany.41 Attempts at standardizing punctuation participate in a larger cultural project to shut out arbitrariness. These rules are standards enacted in the interest of national unity like those applied to coins, measurements and weights. The 19th-century project of normalization and standardization as applied to punctuation furthermore participates in an age of standardization in which the prerogative of institutional power was, in the words of Jonathan Crary, “[s]imply that perception function in a way that insures a subject is productive, manageable, and predictable, and is able to be socially integrated and adaptive”.42 From the perspective of institutional power, the standardization of orthography and punctuation is a means to manage perception, thereby producing attentive subjects. In his analysis of the practice of punctuation in editions of medieval German-language texts, Wernfried Hofmeister characterizes Bartsch’s punctuation of Hugo Von Montfort’s poetic works as following an editorial program of repunctuation established by Karl Lachmann (1793–1851).43 In a footnote, he elaborates: “Wir dürfen nur von einem ,stillschweigenden‛ Anschließen an Lachmanns Usus ausgehen, da sich Bartsch dazu im Vorwort seiner Edition nicht explizit äußert”.44 Bartsch’s Partonopier und Meliur is similarly silent on the subject of punctuation (and for that matter, orthography as well). Neither 39

Konrad Duden: Rechtschreibung. In: Enzyklopädisches Handbuch zur Pädagogik, Ed. by. W. Rein, Langensalza 1908 (VII), pp. 321–338, here p. 334. 40 Duden (annot. 39) p. 466. 41 David Blackbourn: The Long 19th century. A History of Germany, New York 1998. 42 Crary (annot. 4), p. 4. 43 Wernfried Hofmeister: Die Praxis des Interpungierens in Editionen mittelalterlicher deutschsprachiger Texte. Veranschaulicht an Werkausgaben von Hugo von Montfort. In: Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen. Traditionen, Innovationen, Perspektiven. Ed. by. Arne Ziegler/Christian Braun, Berlin 2010 (Diachronie, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch 1), pp. 589–606. 44 Seitz situates Bartsch within the tradition as follows: “[Bartsch] gehörte zu jener Generation von Germanisten, die sich nach dem Tod der grossen Leitfiguren Jacob Grimm und Karl Lachmann im Besitz der philologisch-kritischen Methode und damit auf sicherem methodischen Fundament wuss­ ten und die im Begriff waren, damit das noch weithin erst zu entdeckende Feld der Literatur des Mittelalters zu vermessen”. Dieter Seitz: Karl Bartsch (1832–1888). In: Wissenschaftsgeschichte

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the lack of manuscript punctuation nor the editorial punctuation merit mention. The only exception to the silence are two endnotes that appear to have been prepared after the main text was already set. Neither exhibit the kind of anxiety that imbues Lachmann’s writings on editorial punctuation (see below). Bartsch’s footnotes read, “nach versach gehört ein Komma”, and “das Komma nach bî ist natürlich zu streichen”.45 No further explanation is deemed necessary, and word choice, “gehört” and “natürlich” suggests that the necessity of their placement appears self-evident to him. Both Hofmeister’s characterization and these footnotes play into Brigitte Schlieben-Lange’s characterization of the 19th century as having a “selbstverständliche[n] und vollständig durchgesetzte[n] Schriftkultur, die nicht mehr verteidigt werden muss”.46 For Bartsch, it seems, arbitrariness was already shut out. The only thing left to do was to write it down and enforce it.47 Characterizing Bartsch as heir to an established editorial program begun and epitomized by Lachmann, is difficult due to the fact that Lachmann’s style is, as Kurt Gärtner describes it, “unpedantisch”.48 Lachmann’s editorial punctuation is often praised because his punctuation marks ‘set off’ not only grammatical units, but also rhetorical and semantic units.49 In his foreword to Wolfram’s Willehalm, Werner Schröder suggests one reason for the qualities so often admired in Lachmann’s editorial punctuation: he lived and edited a scholarly generation before the codification of punctuation.50 Punctuation theory spent the 18th century pondering the question as to which construction punctuation marks: did it follow a rhetorical, syntactical, or semantic principle? Plenty of theorists weighed in with opinions, but the problem was intractable.51 It turns out they were simply asking the wrong question.52 The flawed assumption that punctuation sets

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der Germanistik in Porträts. Ed. by. Christoph König/Hans-Harald Müller/Werner Röcke, Berlin 2000, pp. 47–68, here p. 47. Konrad (annot. 1), endn. 1218, 3586. Brigitte Schlieben-Lange: Geschichte der Reflexion über Schrift und Schriftlichkeit. In: Schrift und Schriftlichkeit. Writing and its Uses. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research. Ed. by. Hartmut Günther/Otto Ludwig, Berlin/New York 1994, pp. 102–121, here p. 116. Quoted in: Ursula Bredel: Zur Geschichte der Interpunktionskonzeptionen des Deutschen. Dargestellt an der Kodifizierung des Punktes. In: ZGL 33 (2005), pp. 179–211, here p. 190. Bartsch was invested in the project of orthographic codification, and participated in the First Orthographic Congress of 1876. Kurt Gärtner: Zur Interpunktion in den Ausgaben mittelhochdeutscher Texte. In: Editio 2 (1988), pp. 86–89. Gärtner endorses its application to editorial punctuation modeled after what he calls Lachmann’s “fein abgestuftes, an sprechsprachlichen Prinzipien orientiertes Interpunktionssystem”. Hofmeister offers an extended characterization in which he praises Lachmann’s punctuation for marking both rhetorical and syntactical units. Gärtner (annot. 48), p. 88; Hofmeister (annot. 43), p. 592. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. In: Willehalm nach der gesamten Überlieferung kritisch hg. v. Werner Schröder, Berlin/New York 1978, p. LXXXIII. See for example: A. Bieling: Das Princip der deutschen Interpunktion. Nebst einer übersichtlichen Darstellung ihrer Geschichte, Berlin 1880. Bredel (annot. 46), pp. 187–190.

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off pre-existing constructions turns the argument into one in which participants must ultimately argue for valuing rhetoric, syntax or meaning above the others.53 The notion of punctuation marks setting off predefined units, be they rhetorical, syntactical or semantic is one that begins in the 17th century, and it is the very conception that brings on what Bredel calls the “Epoche der Komplikationen”.54 In this paradigm, a mark of punctuation denotes a predefined unit. The “Komplikationen” refer to the fact that when a punctuation mark is defined by the unit it marks, complications, exceptions and caveats necessarily ensue. With this context in mind, Lachmann’s oft-cited explanation of his decision to supply his Wolfram edition with punctuation reads not as a breath of fresh air in comparison to modern rules, which have been written to follow the principle of syntax, but rather as an apologetic and earnest attempt to apply the same technology to simultaneously mark both syntactic and rhetorical constructions. It is a reflective 18th century account that demonstrates the anxiety that being forced to choose between grammar, rhetoric and meaning brings about. [Mir schien] eine sorgfältige interpunction nicht verwegen, sondern erstes erfordernis einer ganz gewöhnlichen ausgabe zu sein, und ich fürchtete, wenn sie unterbliebe, den gerechten vorwurf der trägheit. aber ich habe die trennung und die verbindung der sätze und gedanken mehr in jedem falle wo ein zweifel entstehn könnte, so zwecksmässig [sic!] und genau es mir möglich schien bezeichnet, als nach einer strengen consequenz in der interpunction gestrebt: ja oft hab ich die consequenz, um dem leser im augenblick zu helfen, absichtlich verletzt: andres wird mir, wenn es der mühe lohnt, ohne schwierigkeit nachbessern. wo ich den dichter unrichtig verstanden habe, darf jeder meine interpunction ändern, weil sie nur von mir ist, und auch wenn sie zuweilen auf handschriften beruht, durch ihr zeugnis wenig an sicherheit gewinnt.55

Faced with what appear to be competing demands, Lachmann’s solution is to punctuate inconsistently according to the perceived needs of an imagined audience at any given point in the text, valuing helping the reader over the consistent application of any one of the ‘principles of punctuation’ prevalent in the era. Recognizing the quandary he is in, he ultimately casts punctuation as a matter of interpretation and personal taste, inviting users to improve on his attempts.56 Later in the same document, Lachmann specifically men­tions his addition of quotation marks to mark off speech, writing: “Auf die unterscheidung der rede durch interpunction hab ich den grösten, und wie ich hoffte, den dankenswerthesten fleiss verwandt”.57 That he hopes his diligence in applying quotation marks to instances of speech is worthy of the reader’s gratitude suggests that they have been added primarily for the comfort and ease of modern readers. He does not specify any particular program for identifying “rede” [character speech], whether he identifies and marks it following a grammatical, rhetorical, or semantic principle, or whether he 53

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This is an argument developed by Ursula Bredel in her scholarship on punctuation systems. Bredel (annot. 46), pp. 183, 187. Wolfram (annot. 50), p. IX. George Fenwick Jones makes a similar recommendation. See Jones (annot. 17). Wolfram (annot. 50), p. IIX.

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applies all three as he deems it necessary. Given his previous characterization of practice, however it is reasonable to assume the latter. If Lachmann’s account in Wolfram is inscribed with 18th century conceptions of punctuation, his edition of Iwein, originally published in 1827 and subsequently published in 1843 with an extended foreword, is inscribed with 19th century conceptions of punctuation. It is explicitly couched in terms of perception and attention, and has done away with apologies and much of the uncertainty. In this account, punctuation is one of the primary ways that his edition facilitates the reader’s perception of the text. In contrast to the Wolf­ ram account, he makes claims of precision and making divisions and unions clear. Here, he values consistency and implies that he is marking grammatical units: a comma, for example, precedes an apodoses. If the account in the Wolfram edition is a thoroughly 18th century account, this is a thoroughly 19th century one, formulated under the sign of ending arbitrariness and regulating perception. [D]ie auffassung zu erleichtern dient vor allem die interpunction: ist sie nicht sehr genau, so entsteht bei dem heutigen leser kein deutliches bild des periodenbaus, und er schreibt unvermeidlich die roheit und das ungeschick des herausgebers dem dichter zu. ich habe sie so einzurichten gesucht dass sie dem leser das zusammen gehörige und was er trennen soll im augenblick deutlich mache. nur muss er freilich mit gespannter aufmerksamkeit lesen, nicht obenhin mit den augen: und er muss beachten was zu seiner bequemlichkeit angeordnet ist, zum beispiel dass vor dem nachsatz immer ein komma und das kolon einen kleineren punkt bezeichnet.58

It is the responsibility of the reader to recognize those punctuation marks that are added for their comfort, and treat them as such. Given his comment in Wolfram, the addition of quotation marks enclosing character speech (after whichever principle character speech is identified) falls in the category of punctuation marks added for the reader’s comfort. Mary-Jo Arn comments in her reflections on the modern repunctuation of medieval literary texts, [O]ur system of punctuation […] gives modern readers one of the things we seem most to desire in life: speed. We race through our reading with the aid of highly articulated, multi-functional punctuation. The ultimate failure […] is to make a reader backtrack and reread a misphrased or mispunctuated sentence.59

Lachmann makes the same observation about speed in his Wolfram edition, bringing together his conception of punctuation marks as setting off constructions and his conviction that the editorial punctuation most appropriate to medieval verse follows multiple principles, and his desire to ease the reading experience of modern readers by guiding their perception. 60 Ultimately, these are the basic components that make up a ‘Lachman58

Hartmann von Aue: Iwein. In: Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, mit Anmerkungen von G. F. Benecke und K. Lachmann. Ed. by. G. F. Benecke/Karl Lachmann, Leipzig 1843. pp. VI– VII. 59 Mary-Jo Arn: On Punctuating Medieval Literary Texts. In: Text 7 (1994), pp. 161–174. 60 “wer auch nur als grammatiker verführt kann verständiger weise [sic!] nicht durch nutzlose sinnstörende zeichen die auffassung des periodenbaus hindern wollen: ohne interpunction finden wir, durch

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nian’ approach to repunctuating medieval verse, and the ones that Bartsch most likely silently accepted. Konrad’s Partonopier und Meliur as it appears in Berlin, Staatsbibl., mgf. fol. 1064 employs a system of text-immanent indicators that work in combination to guide the reading process by activating the alternate locative system associated with direct speech. Like modern conventional quotation marks, the text-immanent indicators employed in the manuscript are redundant insofar as direct speech is characterized by identifying morphological markers (person, number, tense) and their syntactic independence. Unlike quotation marks, text-immanent indicators of direct speech do not draw precise borders between speakers. As Schuhmann concludes in his examination of character speech in Parzival: “Man kann in den meisten Fällen Figurenreden im Erzählertext so mit einiger Plausibiltät auffinden, aber im Gegensatz zu neuzeitlicher Markierung durch Anführungszeichen ist alle mittelalterliche Kennzeichnung nur indirekt und interpretationsbedürftig”.61 What follows is a reconstruction of the manuscript’s system of text-immanent indicators managing locative structures and the speaker-hearer system. The reconstruction serves as a baseline against which to test Reé’s (1990) assertion that although editors believe themselves to be “releasing the latent structure of their text” when they enclose instances of direct speech in quotation marks, they could actually be “deforming” it.62 Editorial repunctuation of medieval texts is often received and transmitted by subsequent scholars as an integral part of the text.63 As we have seen, some of the most influential studies of Partonopier und Meliur treat the edition’s quotation marks as integral to the text, reprinting them and thus reinforcing them.64 In a context like this where editorial punctuation is being reinforced and recirculated, Aurthur’s (1993) observation that “[e]ditors concerned with ‘mouvance’ and ‘variance’ ought to be as interested in 19th and 20th century examples of the phenomenon as in 12th and 13th century cases” is particularly fitting and not just for future editors, but for all scholars who base their work on the edition as well.65 For most people and most purposes, Bartsch’s Partonopier und Meliur is Konrad’s Partonopier und Meliur. Since quotation marks were generalized for use marking direct speech in the first third of the 18th century, an instruction to change interactional roles is what conventional quotation marks convey to the reader, regardless of the terms in which grammars have attempted to codify their use. In the Partonopier manuscript, cues instruct the reader in both locative structures on multiple levels: grammatical/morphological, syntactical, and the level of text. These cues signal to the reader that he or she must engage in an interpretative activity, namely of placing the utterance in the appropriate locative structure.

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unser vieles rasches lesen verwöhnt, in irgend schwerer schreibart die verbindungen nicht leicht heraus”. Wolfram (annot. 50), p. VIII. Schuhmann (annot. 32), p. 30. Reé (annot. 6), p. 1045. Jones (annot. 17), p. 337. See (annot. 16). Aurthur (annot. 31), p. 63.

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Schuhmann’s observation of Parzival applies here: “auch wenn alle Interpunktionszeichen fehlen, lassen sich über inhaltliche, syntaktische und morphologische Kennzeichnungen Figurenreden von der Erzählerrede unterscheiden”.66 In Partonopier und Meliur there are general characteristics that differentiate between instances of character and narrator speech. On the grammatical/morphological level, the framing text tends to be rendered in the third person indicative preterite. Character speech and inner monologues on the other hand tend to be rendered in the first person indicative present. On the syntactical level, character speech is rendered as independent from the framing text. The narrator takes primary responsibility for regulating transitions between the locative structures. He explicitly introduces and concludes utterances to support the processing of interactional role changes. However, unlike his modern typographic heirs, his control is not complete, precise, or without ambiguity. Nor does he work alone, speaking characters also participate in the regulation, particularly in instances of dialogical turn-taking. Though the parameters of character speech in the Riedegger manuscript are imprecise compared to the quotation marks contemporary readers are accustomed to, the text systematically employs strategies, in analogy with opening and closing quotation marks, to ‘open’ and ‘close’ character speech. Opening and closing strategies often overlap, but there are also distinct strategies used primarily for each function. Direct character speech is almost always introduced with an inquit form. With very few exceptions, a preterite form of the Middle High German verb sprëchen opens direct character speech, and a preterite form of denken opens character thought rendered in direct speech. In conjunction with this formulaic verb, the narrator often explicitly names the speaking character and/or the interlocutor. This inquit form does not only serve an opening function. In the context of a dialogue, a new inquit form signals a change in speaker, closing the previous speech while opening a new one. At the end of a dialogue or monologue, the narrator systematically closes the speaker’s turn by either (1) referring explicitly to the concluded utterance or the character’s silence, or (2) introducing the narrative structure with an adverb. Occasionally, the narrator indicates the shift by (3) naming the new subject. These cues can appear in combination with one another and appear in combination with the changes on the grammatical/morphological level that characterize the differences between direct speech and narration. Within the system of text-immanent devices that tend to open character speech, the narrator systematically identifies character speech using the formulaic inquit forms with the verbs sprëchen and denken.67 There are, however, occasional exceptions. The alter66

Schuhmann (annot. 32), p. 30. The following examination of the presentation of character speech in Berlin, Staatsbibl., Ms. Germ. Fol. 1064. focuses on the first ca. 6500 verses, though other selected passages are also taken into consideration. The manuscript is quoted from partial transcriptions of Berlin, Staatsbibl., Ms. Germ. Fol. 1064 made by the author in 2010 and 2012. The transcription does not differentiate between round and long , but retains the distinction between / and /. Abbreviations are expanded here. The edition quoted is the 1970 photomechanical reprint of Bartsch’s 1871 edition. (annot. 1).

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nate inquit form for speech, rufen, presents twice in the sample.68 A much more frequent approach to specifying the manner of speech is to modify the inquit form sprach. For example a character speaks “angrily” instead of “yelling”, “screaming” or “scolding”, we sprach sij zornikleichn do (V. 1578; “alas she said angrily to this”), or “quietly” instead of, for example, “whispering” or “muttering”, vernempt sprach er tawgent/vnd lise in allen zu (V. 5662–5663; “listen he said secretly and quietly to all of them”). In conjunction with inquit forms, the narrator often establishes the subject and object of the speech (the speaker and interlocutor). The simplest forms consist of little more than the subject, inquit forms, and objects: die fraw sprach im aber zue (V. 1667; “the woman spoke to him again”), der kunig sprach im aber zu (V. 4929; “the king spoke to him again”), zu seinem chapelan er sprach (V. 4594; “he spoke to his chaplain”), or in the case of an inner monologue, das er gedachte wider sich (V. 1057; “he thought this to himself”). Some more complex constructions that function similarly would include, mit suessen munde rosen rot/sprach dij wunickleich zu ijme (V. 2840–2841; “the wonderful one spoke to him with her sweet rose red mouth”), or zu hijmel er sein augen swang/diemuetckleichen vnd sprach (V. 5366–5367; “he looked humbly to the heavens and said”). dem kunig da zu seiner not der caplan do antburt pot peschaidenleichen vnd sprach (V. 4657–4659) the chaplain modestly offered a response to the distressed king he said

Despite variations, all of these constructions contain the set inquit form sprach and identify the speaker and interlocutor. When one or both are identified with a pronoun or title, the context makes it clear who is speaking to whom. Verses 5366–5367 are slightly unusual in that they introduce a prayer. God, the interlocutor, is not named, but the context and the gesture heavenward in combination with the modifier “humbly” make it clear whom the character is addressing. When the narrator does not identify the interlocutor, the speaking characters often do so by using a form of address. Examples of simple frequently occurring forms include, freunt sprach sij daz maig nit sein (V. 1956; “friend she said that cannot be”), frewnt sprach er (V. 3442; “friend he said”), gnad fraw mein sprach er (V. 1384; “My esteemed lady he said”), and gnad fraw sprach er do (V. 1931; “esteemed lady he then said”). In all four examples, the first word is a form of address uttered by the speaking character (freunt/frewnt and gnad fraw), the narrator then supplies the inquit form “sprach + er/ sij”. The character’s speech continues in the following line. Though they often appear in complementary distribution, explicit identification of the interlocutor by the narrator and implicit identification of the interlocutor by the speaking character are by no means 68

For example, ruefft der vngetrewe zage (V. 6054; “cried the untrue coward”), and si ruefft laute vnd geswinde (V. 1341; “she cried loud and swift”).

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mutually exclusive. Frequently, both the narrator and the speaking character specify an interlocutor, as in the following example, dij fraw im antburt bot junckher sprach sie dise not hat gahes dich pestanden (V. 1632–1634) the lady offered him an answer nobleman she said this adversity has made you mature quickly

In V. 1632–1634, the speaker, dij fraw, and the interlocutor, im, are identified by the narrator in the first verse, the speaker directly addresses the interlocutor, thereby doubly identifying the junckher as such. Finally, the narrator’s inquit form once again identifies the speaker (sie). When character speech is part of a dialogue, a new opening form simultaneously signifies the closure of the preceding turn and the opening of a new one. In dialogues, the inventory of text-immanent devices that close character speech overlaps to a degree with those that open character speech. At the end of a dialogue or monologue, the narrator employs one of three major strategies, or a combination thereof to instruct the readers to place themselves in a different locative structure. The characters play a diminished role in closing instances of direct character speech compared to the role they play in regulating turn-taking in a dialogue. The burden of closing tends to fall on the narrator. The most common strategy is explicit reference to the character’s preceding utterance or to their subsequent silence. Some typical formulations include, mit disen wortten vnd also (V. 2592; “and thus with these words”); diz waren fabruines wort (V. 4241; “these were fabriun’s words”), di klag traib der kunig junck (V. 6351; “the young king expressed his lament”), nu daz diu rede was geschehen (V. 13840; “now that the speech was over”), die rede triben under i/die frouwen (V. 8551–8552; “the ladies carried on the discussion amongst themselves”). A more complex example operates on the same principle, hie mite was diu rede hin/die si dâ triben under in (V. 13981–13983; “herewith the speech that they carried on amongst themselves was over”). diz wart getan vnd geschach waz der ungetrewe sprach das taten sein lewte (V. 5695–5697) these orders the untrue one issued were carried out by his people

In V. 5695–5697, diz […] waz der ungetrewe sprach refers to the character speech, and the narrator’s explicit invocation of it dispels any possibility that the character could still be speaking, thus closing off the character speech and instructing the reader to join him in the locative structure of the narrative frame. References to character silence work in much the same way. Some typical examples include formulations such as: partonopier

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alsô gesweic (V. 8391; “then partonopier was silent”), and alsus getâner rede gnuoc (V. 8493; “presently he had said enough”). A more grammatically complex but functionally similar forms appears in V. 1508–1510, sy lagen auff dem pete seit peij einander vnd swigen ir zwair rede waß gedigen (V. 1508–1510) they lay on the bed side by side and were silent their dialogue was over

Both variations of the explicit strategy appear in this example, the dialogue is named and put to rest, and the characters are silenced. In a closely-related technique, the narrator signals a change in locative structure by using an adverb as a transition. Common adverbs include but are not limited to: hie mit, hie von, damit, also, sus, and nu. An adverb does not necessarily indicate a shift to another locative structure, but different locative structures are often opened with adverbs. A ship’s departure and arrival provide parallel examples: mit disen worten ûf den se/wart daz schiff gestôzen (V. 9222–9223; “with these words the ship was cast to sea”), and hije mit sties der chiel zestrade (V. 791; “with this the ship berthed in the quay”). In V. 9222–9223, the explicit reference mit disen worten refers to a dialogue. In V. 791, hije mit refers to a short prayer said by the adventurer aboard the ship. The adverb could be replaced by an explicit reference to the prayer. The narrator also closes character speech by invoking adverbs of time to signal a shift in locative structure. nu daß der chunig fur sein verließ alda dij rede sein vnd er nit sprechen wolt mer (V. 4393–4395) now that the king fursin left his speech at that and did not want to speak more

In V. 4393, nu closes off the previous time structure, and leads the reader back into the narrative or frame. Where a demonstrative adverb in the previous example points backwards, here an adverb of time points forward, but both work in cooperation with grammatical/morphological markers and content to instruct the reader as to how to place the character speech. These devices constitute a systematic but variable and flexible, text-immanent regulation of locative structures that supports readers’ ability to reliably differentiate between character speech and narration, and in the case of character speech to identify and place the speaker and the interlocutor. The narrator ‘opens’ instances of character speech with inquit forms, which are then ‘closed’, in one of three ways. In the context of a dialogue, a new

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inquit form simultaneously opens the next speech and closes the previous one. To close a monologue, the narrator can explicitly name the speech and/or the character’s silence, use a demonstrative adverb to refer back to the speech, or use an adverb of time to point forward. They work together, essentially, to support the reader’s constant time travel between fictional worlds. The borders they erect are permeable and inexact, at least compared to the modern convention of precisely enclosing displaced utterances in quotation marks. The observation that adding the modern technology of punctuation to unpunctuated or historically punctuated sources can close off possibilities of interpretation has been made by a number of scholars. George Fenwick Jones, for example, demonstrates this in several case studies of the most well-known (and oft-edited) works in the medieval German canon.69 Though they are not numerous in the sample, the places where the manuscript problematizes the mandate to punctuate and the solutions Bartsch selects are instructive. An editorial addition in V. 1368 demonstrates that Bartsch was aware of the formulaic nature of the inquit forms. Where the manuscript reads nu sag mir pald si wer (V. 1368; “now tell me quickly she who”),70 Bartsch supplies quotation marks and the formulaic inquit form for character speech, ‘nu sage mir balde’, sprach si, ‘wer […]’ (V. 1368; “‘now tell me quickly’, she said, ‘who […]’”).71 The quotation marks demonstrates, that although Bartsch has noticed a pattern of text-immanent markers, he has not pursued it as a system. In the following passage, the young Partonopier has found himself alone in the woods, separated from his hunting party, travelled to a distant land on an enchanted ship, arrived in a glorious but curiously empty city, and feasted alone in its palace, waited on by an invisible and silent staff. After he has eaten his fill, Partonopier is led to a bed chamber by one of the invisible servants. He lies in the bed, petrified with fear. To his horror, he discovers that he is not alone in the bed. Meliur, the queen, demands that he explain who he is and how he has come to be in her bed. He abides. Meliur wants him out, but Partonopier pleads his case for being allowed to stay the night. The episode is transcribed from the manuscript below: mein suesse fraw sprach der knab minnikleichen aber zier durch eur salde gunnet mir daz ich an disem pete lige pis das morgen an gesige der nacht unmassen truebe seint ich mit euch nit übe daz laster oder schaden seij so lasst mich ew bonen peij pis an den liechten schone tag 69

Jones (annot. 17). See also: Arn (annot. 59); Howell Chickering: Unpunctuating Chaucer. In: The Chaucer Review 25 (1990), pp.  96–109; Gärtner (annot. 48); Bruce Mitchell: The Dangers of Disguise: Old English Texts in Modern Punctuation. In: The Review of English Studies 31 (1980), pp. 385–413. 70 Berlin Staatsbibl., mgf. 1064. 71 Konrad (annot. 1).

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wann ich enkan noch mag aus der chematen chumen strasse vnd weg sein mit penomen ab dem pete zü der tur so wil ich leiden do fur sunder schlege und ane stoz nain fraw ich bin gemaches ploz gewesen nu vil lange frist und pin fro daz es chunnme ist dije zeit daß ich geren sol darumb so tuet an mir so wol und erlaubet mir daz ich an disen pete chaiserlich geslaffe doch am chlaine pedenck fraw raine ob ir von adel seijt geporen und lant peleiben ane zorn das ich alhie zu rue chum72 (V. 1426–1453) my dear lady said the boy tenderly but with decorum please allow me in your great generosity to lay on this bed until the morning light filters through the night’s excessive darkness as I do not burden or harm you let me stay with you until the fine light of day I do not wish to leave this room until then robbers line the path from the bed to the gate no lady I have been without comfort for a long time now and am pleased that the time I have craved has come for this reason do be so kind and allow me to sleep a little longer here in this regal bed bare in mind chaste lady if you are born of nobility and you do not attend to me without rage that I will come to ruin here

The inquit form sprach er (V. 1426; “he said”) opens Partonopier’s plea, simultaneously closing the preceding speech from Meliur. It is clear from the context that der knab (V. 1426; “the boy”) is Partonopier. The character speech begins with the direct address, mein suesse fraw (V. 1426; “my dear lady”), identifying his interlocutor and serving as the first signal to the reader that they have encountered displaced speech. Bartsch renders mein suesse fraw (V. 1426; “my dear lady”) as nein süeziu frouwe (V. 1426; “no dear lady”). He explains the change in a footnote by citing the occurrence of the address nein frouwe in V. 1442 in a footnote. This footnote is an unusal one as Bartsch very rarely cross-references his notes in this way. Bartsch has noticed that a change in speaker is often associated with a direct address. What he has failed to notice is that with the rare exception of exclamation as an opening strategy, character speech in Partonopier is marked within the first four lines with an inquit form. He has noticed a pattern, but has failed to notice that it is systematically applied. Bartsch, working on the theory that “nein Frau” signals character speech, divides V. 1426–1453 into three turns. In his version, Partonopier pleads his case, Meliur threatens him with violence, then Partonopier continues his plea. With the exception of the in72

Berlin Staatsbibl., mgf. 1064.

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quit form, V. 1426–1439 are enclosed in quotation marks. A new set around V. 1440–1441 attributes the lines to Meliur. Bartsch’s punctuated version reads: ab dem bette zuo der tür.’ ‘sô wil ich leiten iuch derfür sunder slege und âne stôz.’ ‘nein, frouwe, ich bin gemaches blôz […]’ (V. 1439–1442) […] from the bed to the gate’. ‘Therefore I will lead you with mighty blows and kicks’. ‘No, lady, I have been without comfort […]’73

A partial understanding of the text-immanent strategies has led the editor to enact textual emendations to make the content fit the perceived form. Bartsch tries to make Meliur’s speech fit into the pattern of direct speech he perceives in the text. The nain fraw in V. 1442, however, is not a cue signaling a speaker change. It is lacking an inquit form, and in the system that emerges when the manuscript is analyzed on its own terms, a form of address participates in signaling a change, but it is not sufficient. The edition exhibits considerable editorial interventions in service of the belief that Meliur is the speaker in V. 1440–1441. In V. 1440, the verb is changed so that it makes sense, and a direct address is added so that the interlocutor is identified: the manuscript reads leiden do fur, the edition leiten iuch derfür. Because of an incomplete understanding of how the manuscript regulates direct character speech, Partonopier’s expression of humility and vulnerability is rendered instead as Meliur’s threat of violence. Ursula Bredel and Herbert Kraft have both argued that historical systems of punctuation must be approached as systems. This example illustrates that historical structures that act like modern punctuation must also be approached as a system.74 The underestimation of their systemacity in this case leads to a sense-changing textual intervention. Though a partial understanding of historical systems can result in a plea turning into a threat, in the majority of instances of direct speech, modern quotation marks graph easily onto the text-immanent structure. The text-immanent strategy in Partonopier has much in common with the modern graphical strategy of quotation marks. Opening quotation marks correlate roughly with inquit forms and related opening strategies, closing quotation marks correlate roughly with the various text-immanent closing strategies. Klockow identifies this high level of redundancy as one of the defining characteristics of quotation marks. He writes, Dem hohen redundanzgrad ist es zuzuschreiben, daß AZ [Anführungszeichen] dieser funktion gewöhnlich mühelos in texte ohne AZ eingefügt werden können – ein übliches verfahren bei der transkription mündlicher äußerungen oder bei der edition älterer texte. Der gebrauch dieser AZ bereitet normalerweise ebensowenig schwierigkeiten wie ihre interpretation durch den leser. 73

Quotation marks are presented here as they appear in the edition. Bredel (annot. 21), p. 3; Herbert Kraft: Editionsphilologie, Darmstadt 1990, pp. 103–104.

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Zu diskussionen kommt es allenfalls dort, wo es unklar oder umstritten ist, ob das betreffende textstück tatsächich jene eigenschaft aufweist.75

The notion of redundancy applies also to the text-immanent strategies of opening and closing direct character speech in Partonopier und Meliur. Direct speech is already morphologically/grammatically marked as being from a different locative structure than the narration as it retains the tense/person/number/etc. of its (fictional) source. The textimmanent strategies employed in the manuscript are also redundant in the same way quotation marks are redundant. This is where the more subtle aspects of layering textual temporalities come into play. The difficulty with the addition of editorial quotation marks is not only the danger of closing off interpretative possibilities. The text-immanent structures and the overlaid quotation marks interact. Imagine a police officer posted at an intersection that is clearly marked with traffic signs and signals that are in working order. She is directing traffic through the intersection. Her gestures are in accordance with the signs and signals. It is unlikely that she will be viewed charitably by drivers and pedestrians and even less likely that her gestures will be taken seriously.76 The quotation marks added to Partonopier have a similar effect on the narrator and characters. The text-immanent indicators of locative change are relieved of much of their regulatory function. The narrator’s opening and closing strategies, emptied of their original significance, become quaint, formulaic utterances. Instead of a clever and complex regulatory system, readers of the edition encounter puzzling formulaic sayings superfluous at best and irritating at worst. Lachmann argues that the addition of modern punctuation to Iwein protects the poet because without it modern readers would assess him negatively.77 In Bartsch’s Partonopier, the text-immanent system regulating and supporting the transition between locative structures is obscured by quotation marks, inscribed under the sign of realism, standardization, and the misguided punctuation-theoretical debates about which construction punctuation marks actually mark. The editorial addition of quotation marks subtly renders text-immanent strategies obsolete and thus the author, characters, and narrator who employ them quaint and amusing. There are no empirical studies about what it is that modern readers of editions of medieval verse need or how they actually use and process graphic information. Hofmeister collected informal feedback from students on his student edition [Studienausgabe] of the works of Hugo Von Montfort. Not surprisingly, students found modernized punctuation helpful.78 Recall that Lachmann hopes that readers will be grateful that he has 75

Klockow (annot. 23), p. 21. Arn casts the modern reader as a race car driver, and Adorno compares marks of punctuation to traffic lights; Arn (annot. 59), p. 162 and Adorno (annot. 5), p. 300. 77 Hartmann (annot. 58), p. VII. 78 Hofmeister also provides online access to an unpunctuated version. Wernfried Hofmeister: Zur Genese der neuen Studienausgabe der Werke Hugos von Montfort. In: Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft. Ed. by. Gertraud Mitterauer/Ulrich Müller/Margarete Springeth, Tübingen 2009 (Beihefte zu Editio 28), pp.  277–283, here p. 279. See also Hofmeister (annot. 43). 76

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supplied them. I would venture to guess that the majority probably are. The trouble with Bartsch’s Partonopier is not that he has tried to help readers through the text by marking changes in the locative structure. The interpretative trouble with the editorial quotation marks in Partonopier is that they are applied under two false assumptions. The first is that though the manuscript often has recognizable text-immanent devices to regulate the speaker-hearer system, they are not systematic. The second is that punctuation marks mark constructions, be they rhetorical, semantic or grammatical. The more pressing and abstract trouble with the editorial punctuation marks in Partonopier is that even when they map easily on to the text-immanent system and do not pose any difficulty in understanding the content, the residues they carry “distort”, to use Reé’s term, the subjects by obscuring their participation in a complex regulatory system. Recognizing the systemacity of the manuscript system and using it as a guide for supporting the recognition of changes in the locative system would solve most of the instances where quotation marks close off interpretations (or lead to needless and inaccurate textual interventions). This first step also points towards a possible solution for the dilemma the residue contained in quotation marks presents. Instead of enclosing direct speech with quotation marks (marking a grammatical construction) as the edition does, text-immanent indicators regulating the locative system could be graphically emphasized instead. The narrator could have his job directing traffic back. The character’s speech might appear strategic instead of affected. As for modern readers and their need for speed, this solution may or may not be attractive. To belabor the imperfect but compelling traffic metaphor, shared space schemes have reported great successes.79 “We will be creating a bit of indecision in all road users’ minds to create a safe environment”, Martin Low, Westminster City Council’s head of transportation, told a New York Times Blog in 2009. “When lights are out we have noticed that drivers are far more considerate and show more care and attention than they are when they have the reassurance of traffic lights.”80 The trick is that shared space schemes do not mean simply turning the lights out. They entail modifying the public space to support and encourage desired behavior. Ideally, a future edition of Partonopier und Meliur would work in the spirit of a “shared space scheme” to make the text’s inherent regulatory system apparent in ways that support and guide modern readers with their modern reading habits on the one hand, and respect the text’s own logic on the other.

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The concept of ‘shared space’ is associated with Dutch traffic engineer and transportation planner Hans Monderman. 80 Richard S. Chang: London Seeks to Reduce Congestion by Eliminating Traffic Lights. In: Wheels. The Nuts and Bolts of Whatever Moves You. New York Times Blog. New York. 2 September 2009, URL: http://wheels.blogs.nytimes.com/2009/09/02/london-seeks-to-reduce-congestion-by-eliminating-traffic-light/. Accessed: 19 May 2011.

Markus Stock (Toronto)

Herkunft und Hybridität Biopolitics of Lineage in Mai und Beaflor

Liebes- und Abenteuerromane sind grundsätzlich offen für Problematisierungen von Heiratsdisziplinierungen. Dies liegt an dem in der Handlung meist emphatisch ausgestellten Liebes- und Treuemodell, nach dem sich die Liebe einer jungen Frau und eines jungen Mannes gegen Widerstände vielerlei Art durchsetzt. Die Darstellung einer gegen Widerstände beharrenden Liebe eignet sich besonders gut, dynastische Macht und genealogische Fundierung nicht als gegeben, als „autogenetisch“ oder „autosubstantiell“, sondern vielmehr als „Ensemble von Mechanismen und Prozeduren“ offenzulegen.1 So finden sich in bestimmten mittelalterlichen Traditionen des Liebes- und Abenteuerromans dynastisch relevante Krisen und dynastische Kurzschlüsse, welche die Entfernung einer Figur aus ihrem Herkunftsraum erzwingen und damit die Handlung für Alternativen und deviante Lösungen öffnen. In solchen Texten können daher Widerstände gegen eine Disziplinierung formuliert werden, durch die bestimmte dynastisch-genealogische Selektionen durchgesetzt und andere abgewiesen wird. Gleichzeitig können auch Lösungen dynastischer Krisenmomente narrativ entwickelt werden. Mai und Beaflor, ein vielleicht auf französischer Vorlage beruhender mittelhochdeutscher Minneroman, der wohl aus dem dreizehnten Jahrhundert stammt, scheint besonders geeignet, narrative Modellierungen solcher Konstellationen für die mittelhochdeutsche Literatur zu beleuchten.2 Er soll daher im Zentrum meiner folgenden Überlegungen zu literarischen Reflexen solcher dynastisch-genealogischer Disziplinierung und scheiternden „vertikalen Artikulationen“3 von lineage stehen. Gleichzeitig wird sich die Analyse auf die generische Hybridität des Textes einlassen: Diese Hybridität ermöglicht es dem Text, seinen Figuren potentiell eine Mehrzahl von Identitätsentwürfen zuzuweisen und sie damit zu Lösungen solcher dynastisch-genealogischer Probleme zu führen. 1

Mein Frageinteresse folgt hier Foucaults Machtbegriff. Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977–1978. Hrsg. von Michel Sennelart, Frankfurt a. M. 2004, S, 13–17, Zitate S. 14. 2 Der Text wird zitiert nach Mai und Beaflor. Minneroman des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Christian Kiening/Katharina Mertens-Fleury, Zürich 2008, online verfügbar: http://www.ds.uzh.ch/kiening/ Mai_und_Beaflor/MaiundBeaflor.pdf (letzter Zugriff 23. Mai 2012). 3 R. Howard Bloch: Etymologies and Genealogies: A Literary Anthropology of the French Middle Ages, Chicago 1983, S. 73.

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Der Verfasser von Mai und Beaflor nennt sich selbst nicht. Püterichs von Reichertshausen Ehrenbrief aus dem fünfzehnten Jahrhundert kennt zwar das Werk, aber keinen Autor;4 es war wohl von vornherein anonym überliefert. Als Gönner kommt ein werder ritter (durch eines werden riters bet; Mai und Beaflor, Prolog V. 71 „aufgrund der Bitte eines adligen Ritters“) in Frage, der dem Autor die Geschichte erzählt habe. Dies deutet zumindest darauf hin, dass das Werk in adligen Kreisen in Auftrag gegeben wurde.5 Eine Rezeption von Mai und Beaflor in späteren Texten ist nachweisbar, bleibt jedoch regional beschränkt.6 Mai und Beaflor ist eine Fassung eines sehr erfolgreichen mittelalterlichen Erzählstoffes, der sogenannten Manekine- oder Mädchen-ohne-Hände-Erzählung.7 Eine direkte Quelle ist nicht bekannt; eine Identifikation der im Prolog (Mai und Beaflor, V. 75) als Quelle erwähnten Prosachronik ist nicht gelungen, vielleicht ist der Verweis ohnehin topischer Natur. Wenn ein spezifischer Text gemeint ist, könnte es sich dabei um eine französische Vorlage gehandelt haben, wie Knapp vermutete, der anhand der Topographie und der Ortsnamen in der Beschreibung Griechenlands in Mai und Beaflor Parallelen zu historischen, im dreizehnten Jahrhundert von französischen Kreuzfahrern besetzten Teilen Griechenlands aufzeigt.8 Der Gestus des Textes in Bezug auf die mittelhochdeutsche Vorgängerliteratur ist ein aufnehmender, zitierender, wiederholender. Genreversatzstücke, wörtliche Zitate, aufgenommene Weltentwürfe, kopierte Figurennamen deuten einerseits darauf hin, dass der Text die etablierte Literatur als Fundus nutzt; andererseits

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Püterich von Reichertshausen: Ehrenbrief. Hrsg. von Fritz Behrend/Rudolf Wolkan, Weimar 1920, 107, 3–5. 5 Volker Mertens: Herrschaft, Buße, Liebe: Modelle adliger Identitätsstiftung in Mai und Beaflor. In: German Narrative Literature of the 12th and 13th Centuries. Essays Presented to Roy Wisbey on his Sixty-fifth Birthday. Hrsg. von Volker Honemann u. a. Tübingen 1994, S. 392–410, hier S. 406. 6 S. Werner Fechter: Gundacker von Judenburg und Mai und Beaflor. In: ABäG 7 (1974), S. 187–206. 7 Grundlegend zur Stoffgeschichte Hermann Suchier: Introduction: La Manekine. In: Oeuvres poétiques de Philippe de Remi, Sire de Beaumanoir. Hrsg. von dems., Paris 1884 (Société des ancients textes francaises 18), Bd. 1, S. xxiii–xcvi; A. B. Gough: The Constance Saga, Berlin 1902, mit hypothetischer und problematischer Herleitung des Constance-Stoffes von einem postulierten Archetyp („Anglian folk-tale“, S.  12–14); Margaret Schlauch: Chaucer’s Constance and Accused Queens, New York 1927; zusammenfassend siehe Klaus Düwel: Mai und Beaflor, in: EM 9 (1999), Sp. 53–55. Eine neuerliche vergleichende Sichtung der Tradition bei Christian Kiening: Genealogie-Mirakel. Erzählungen vom Mädchen ohne Hände. Mit Edition zweier deutscher Prosafassungen. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2000, S. 237–272. 8 Fritz Peter Knapp: Das Bild Griechenlands in der Verserzählung Mai und Beaflor. In: PBB 98 (1976), S. 83–92, hier S. 88–92. Den Namen der Stadt Griffûn/Griffan könnte der Autor allerdings wie andere Orts- und auch Figurennamen aus dem Willehalm, also innerliterarisch, bezogen haben. Vgl. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen hrsg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9), 36,8. Dazu bereits Otto Wächter: Untersuchungen über das Gedicht Mai und Beâflôr, Erfurt 1889, S. 46.

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zeugt gerade die Art der Verwendung unterschiedlicher konventionalisierter Strukturmodelle von einer gewissen transgenerischen Experimentierfreude.9 Der Manekine-Stoff, der Mai und Beaflor zugrunde liegt, war im Mittelalter beliebt.10 Das Schema des hellenistischen Liebesromans, also der Geschichte über Glück, Trennung und Wiedervereinigung eines Liebespaares, ist in dieser Tradition mit Elementen eines weiteren Faszinationstyps mittelalterlicher Erzählliteratur kontaminiert, der Erzählung über die unschuldig vertriebene Frau. Mai und Beaflor selbst ist in zwei Handschriften überliefert. Der Überlieferungskontext der älteren Pergamenthandschrift (cgm 57) aus dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts deutet auf eine Wahrnehmung als höfische Erzählung und nicht primär, wie vielleicht die legendarischen Einschläge vermuten lassen könnten, als Legende.11 Viele inhaltliche Elemente sind allerdings Wander-Motive, die bevorzugt in Legenden vorkommen. Sie können die verschiedensten Kombinationen eingehen: So sind die im ersten Teil von Mai und Beaflor enthaltenen Elemente des Inzestversuchs und der Flucht in isolierter Form etwa auch die Hauptbestandteile der Dymphna-Legende,12 und das Motiv der unschuldigen, aufgrund einer Intrige mit vertauschten Briefen vertriebenen Frau bildet eine Kernpartie der Constance-Legende.13 Die älteste bekannte überlieferte Fassung der Manekine-Tradition liegt in der Vita Offae primi vom Ende des zwölften Jahrhunderts vor.14 Es handelt sich dabei um einen Vertreter eines von zwei Grundtypen der Tradition. Wie alle Versionen dieses Zweigs setzt die Vita Offae primi nicht mit dem Inzestversuch durch den Vater ein, sondern damit, dass ein Fürst im Wald eine Frau auffindet, die vom Inzestbegehren ihres Vaters und ihrer Aussetzung nach erfolgreicher Weigerung nur erzählt. Nach den stofftypischen Elementen der Heirat und der Intrige mit den vertauschten Briefen werden in den meisten Versionen dieses Typs die Kinder der Protagonistin im Wald getötet und sie selbst verstümmelt; ein Einsiedler (die Vita Offae primi spricht ausdrücklich von einem Heiligen: 9

Nicht nur in diesem Sinne erweist sich der Text als innovativ. Zu Neuansätzen in der psychologischen Figurengestaltung Albrecht Classen: Kontinuität und Aufbruch. Innovative narrative Tendenzen in der spätmittelalterlichen deutschsprachigen Literatur. Der Fall Mai und Beaflor. In: WW 48 (1998), S. 324–344. 10 Suchier (Anm. 7), S. xxiiif. 11 Im Münchner Pergamentcodex cgm 57 aus dem 14. Jh. ist das Werk zusammen mit Heinrich von Veldekes Eneas und Ottes Eraclius überliefert, steht also in einem Kontext der höfischen Epik, wobei im Eraclius wie in Mai und Beaflor ebenfalls religiöse Aspekte eine Rolle spielen. Zur Handschrift Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis. Bd. V,1: Die deutschen Pergament-Handschriften Nr. 1–200 der Staatsbibliothek in München. Beschrieben von Erich Petzet, München 1920, S. 94–96; Kiening/Mertens-Fleury (Anm. 2), S. vif. 12 Heinrich Günter: Psychologie der Legende. Studien zu einer wissenschaftlichen Heiligengeschichte, Freiburg 1949, S. 56; Ludwig Falkenstein: Dinfna e Gerberno. In: Bibliotheca Sanctorum. Bd. 4. Hrsg. von Filippo Caraffa u. a, Rom 1964, Sp. 618–620. 13 Vgl. Suchier (Anm. 7), S. xxxviii–xl. Text der Fassung Nicholas Tribets (14. Jh.) in Originals and Analogues of some of Chaucer’s Canterbury Tales. Hrsg. von F. J. Furnivall u. a., London 1888, S. 1–53; gegen Suchiers Einordnung lässt sich einwenden, dass diese Legende mit dem ManekineStoff eher lose verwandt ist, da das Inzestbegehren des Vaters als Kernelement fehlt. 14 Vgl. Suchier (Anm. 7), S. xxv–xxx. Teilabdruck der Vita Offae primi in: Furnivall (Anm. 7), S. 71– 84.

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sanctus15) findet die Unglückliche und ihre toten Kinder und erreicht durch ein Gebet, dass sie auf wunderbare Weise wiederhergestellt werden; später findet der untröstliche Ehemann seine Familie im Wald wieder und die Wiedervereinigung erfolgt (EremitenTypus). Neben diesem Zweig gibt es die Versionen, die das Inzestbegehren des Vaters schildern, deren Protagonistin nicht im Wald, sondern auf dem Meer ausgesetzt wird, und die – nach den Kernelementen der Heirat und der Briefintrige – die Wiedervereinigung (oft auch mit Versöhnung mit dem büßenden Vater) in Rom stattfinden lassen, wo die Protagonistin nach erneuter Vertreibung über das Meer bei einem Senator Zuflucht gefunden hat (Senatoren-Typus). Mischungen zwischen diesen beiden Grundtypen sind üblich, Mai und Beaflor ist aber deutlich in den Kernbereich des zweiten Typus zu stellen. In Mai und Beaflor sind die in dieser Tradition angelegten familialen und matrimonialen Spannungen in auffälliger Weise als Generationenproblem gestaltet. Die junge schöne Beaflor, Ebenbild ihrer früh verstorbenen Mutter, weckt das inzestuöse Begehren ihres Vaters, vor dem sie mit Hilfe eines Bootes flieht. Sie wird auf der Flucht von Gott in das Land des Grafen Mai getrieben, wo sie ihre Herkunft nicht offenlegt. Minne entsteht, das Paar heiratet gegen den Willen der Mutter Mais und bekommt einen Sohn. Durch lebensbedrohende schwiegermütterliche Intrigen wird Beaflor in Abwesenheit Mais gezwungen, das Land wieder zu verlassen, wird im selben Gefährt zurück nach Rom getrieben. Mai tötet im Zorn die Mutter, verzweifelt, da er Beaflor verloren hat, wendet sich einem Büßerleben zu und wird schließlich nach Rom verschlagen, wo ein Happy Ending stattfindet, in dessen Verlauf auch der ehemals inzestbegehrende Vater Verzeihung erlangt. In Beiträgen zu Mai und Beaflor, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren an Frequenz zugenommen haben, spielt die Hybridität des Textes eine herausgehobene Rolle, also seine charakteristische Mischung von Gattungs- und Erzählmustern, seine transgenerische Sinnkonstitution, in der legendarische Anleihen und die Anlage nach dem seit der Antike geläufigen Schema Entstehung der Liebe, Trennung und Wiedervereinigung zusammenspielen.16 Will man sich auf sehr vereinfachte Definitionen einlassen, so kann Mai und Beaflor als Liebes- und Abenteuerroman bezeichnet werden. Der Text entspricht im Kern basalen Gattungsformeln des hellenistischen Liebes- und Abenteuerromans: Ein junges Liebespaar von außerordentlicher Schönheit wird von einem widrigen Schicksal in vielfältige Gefahren und Abenteuer gestürzt, bis es zum Schluß  – meist nach längerer Trennung – in unverändert treuer Liebe zu einem nunmehr unwandelbar glücklichen Leben vereint wird.17

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Furnivall (Anm. 7), S. 82. So besonders Ingrid Kasten: Ehekonsens und Liebesheirat in Mai und Beaflor. In: Oxford German Studies 22 (1993), S. 1–20; Mertens (Anm. 5); Kiening (Anm. 7). 17 Isolde Stark: Strukturen des griechischen Abenteuer- und Liebesromans. In: Der antike Roman. Untersuchungen zur literarischen Kommunikation und Gattungsgeschichte. Hrsg. von Heinrich Kuch, Berlin 1989 (Veröffentl. d. Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akad. d. Wiss. d. DDR 19), S. 82–106, hier S. 82f.; siehe auch Rudolf Helm: Der antike Roman. 2., durchges. Aufl., Göttingen 1956 (Studienhefte zur Altertumswissenschaft 4), S. 32. 16

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Die Vereinigung und das Glück Mais und Beaflors im Land des Grafen Mai, ihre durch seine übelwollende Mutter bewirkte Trennung und die Wiedervereinigung des Paars nach längerer Zeit, die von treuem, beiderseitigem Liebesbegehren geprägt ist, entsprechen diesem Schema. Die legendarischen Motive aber wirken ebenso auf die Sinnkonstitution ein, ohne dass eine Dominanz der weltlichen oder der geistlichen Perspektive sichtbar wäre: „Weltheil und Seelenheil bleiben bis in die Schlussperspektive hinein aneinander gekoppelt.“18 Mai begibt sich nach der Trennung nicht auf die Suche nach Beaflor, weil er nicht, wie in anderen Versionen des Manekine-Stoffs,19 darüber aufgeklärt wird, dass sie noch lebt, sondern wird zum Büßer und Pilger. Das heißt, dass die für den Liebesund Abenteuerroman typische, manchmal abenteuerreiche, aktive Suche der Frau oder Familie durch den jungen Ehemann zum Büßerleben und zur gottgelenkten Wiedervereinigung gelenkt ist. Die auffälligste Abweichung gegenüber dem paarbezogenen Liebes- und Abenteuerroman liegt aber im Manekine-Stoff begründet: Der Beginn der Erzählung zeigt nicht das Paar, sondern nur die weibliche Hauptfigur im Mittelpunkt.20 Dieser Beginn gestaltet mit dem Inzestbegehren des Vaters und der folgenden Flucht der Tochter eine Art langer, unabgeschlossener Vorgeschichte, die ihre Auflösung zusammen mit der des Liebesromanschemas erst am Ende der Erzählung erfährt. So werden nicht nur die standhafte Liebe der beiden Protagonisten, sondern auch eine christlich-demütige Grundhaltung, wie sie Beaflor exemplarisch vorführt, thematisiert und genealogische Fragen mit Fragen christlich-adliger Lebensführung verknüpft.21 Der Initiationsweg der beiden Protagonisten ist jeweils gedoppelt. Die Zäsur in der Handlung, die sich im Maien-Land durch die Heirat, das kurze Glück und die Katastrophe der Vertreibung ergibt, teilt Beaflors Reise in zwei Abschnitte. Der Flucht aus Rom (erste Meerfahrt) folgt eine instabile Harmonie in Griechenland, die jedoch bald zerstört wird und eine Vertreibung (zweite Meerfahrt) auslöst, die Beaflor zurück nach Rom führt. Auch Mais Bewährung geschieht in zwei Anläufen. Nach der Heirat wird Mai im christlich konnotierten Krieg gegen die muslimischen Anderen kriegerisch-männlich initiiert; als Zäsur steht die Verlustkrise und der Muttermord, und der zweite Abschnitt ist geprägt von Abkehr von Herrschaft und Rittertum, in der solitären Liminalität des Büßenden. Beide Wege finden in der Wiedervereinigung und der Erhebung zum Kaiserpaar ihr Ziel. Auch im Weg Mais finden sich also Strukturanklänge aus der Legende. Der zweite Teil seines Wegs folgt dem Legendenschema: schwere Sünde – exorbitante Buße – Auszeichnung durch Gott. Dabei ist zu beobachten, dass Mai sich mit dem Büßerleben an den Krisenbewältigungsmodus von Beaflor annähert. Dennoch ist Mai und Beaflor auch, und vielleicht vor allem, ein Roman über die Liebe zwischen einer jungen Frau und einem jungen Mann. Liebe ist in diesem Roman vom höfischen Zeichensystem her bestimmt, das in Mai und Beaflor über Signalworte und narrative Weltgestaltung (Szenerie, Ge18

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Kiening (Anm. 7), S. 258. So etwa in La Manekine und im Helene-Roman. Siehe Suchier (Anm. 7). Dies ist ein Kernpunkt der Stoff-Tradition; siehe Suchier (Anm. 7); Kiening (Anm. 7). Dazu bes. Mertens (Anm. 5).

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staltung der sozialen Kommunikation zwischen Figuren) Eingang findet. Die höfische Literatur liefert für Mai und Beaflor einen Weltentwurf und eine Ideologie, die mit dem zentralen Wert der êre weniger über die Struktur als über den konkreten Gehalt sinnkonstituierend auf Mai und Beaflor einwirkt.22 Da aber der nicht nur in struktureller, sondern auch in inhaltlich-motivischer Hinsicht legendarische Zug von Mai und Beaflor die weltlich-höfische Sinnbildung durch ein gezieltes generisches Gegengewicht ergänzt, kann der Text gestalten, was in der Forschung allgemein als sein Zielpunkt angesehen wird: den Ausgleich weltlicher und geistlicher Möglichkeiten aristokratischer Lebensführung, symbolisiert im Paar, das Widerstände überwindend zu höchster weltlicher Herrschaft kommt. Dieses Happy Ending aber kann und soll wohl auch nicht verdecken, dass im Erzählverlauf selbst die respektiven genealogischen Ordnungen krisenhafte Zustände durchlaufen, die sich vor allem in der problematischen Vater-Tochter-Beziehung (Inzestund Vergewaltigungsversuch) im Falle Beaflors und einer zwar nicht inzestuösen, aber dennoch parallelen Konstellation zwischen Mai und seiner Mutter äußern. Es geht also um Genealogie als primärer mittelalterlicher Organisations- und Artikulationsform adliger Geltung und Macht.23 Im Kern, so die These, betreffen die problematischen Konstellationen in Mai und Beaflor eine biopolitics of lineage, um R. Howard Blochs Formulierung aufzugreifen.24 Bloch fasst damit die Reorganisation französischer Adelsfamilien im zwölften Jahrhundert, die im Zeichen einer linearen Institutionalisierung steht und sich etwa in strikter Exogamie und weitgehenden Eherestriktionen ausgewirkt habe. Die Prozessierung dieser Reorganisation fasst Bloch im Begriff der biopolitics of lineage, einer stark in das Leben der Adligen eingreifenden Disziplinierung von Heiratsverbindungen, der Verknüpfung dynastischer Geltungsansprüche mit Eigentumsund Territorialregelungen sowie der Organisation und Manipulation von fundierenden Herkunftsnarrativen.25 Bloch argumentiert historisch vereinfachend, und sein Argument 22

Danielle Buschinger: Skizzen zu Mai und Beaflor. In: Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark. Hrsg. von Alfred Ebenbauer u. a., Bern u. a. 1988, S. 31–48, bes. S. 41–47; zur Minnethematik Mertens (Anm. 5). 23 Dazu grundlegend Beate Kellner: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, S. 13–127, mit Diskussion weiterer Literatur. 24 Bloch (Anm. 3), S. 70. 25 Bloch (Anm. 3), S. 70–75. Die Verbindung dieser Verwendung mit der von Foucault in Vorlesungen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre entwickelten Vorstellung einer Bio-Macht oder Biopolitik ist nicht ganz deutlich. Bloch bezieht sich an einigen Stellen auf Foucault, zum Beispiel, wenn er das genealogische Prinzip als Episteme des Hochmittelalters beschreibt (S. 28). In seiner Benutzung und Definition des Begriffs Biopolitik, die entfernte Ähnlichkeiten mit denen Foucaults zeigen, unterlässt Bloch aber jegliche Referenz auf Foucault. Neben der Tatsache, dass die Vorlesungen bis zu diesem Punkt noch nicht veröffentlicht waren und damit wichtige Erläuterungen Foucaults zur Biopolitik noch nicht schriftlich vorlagen, mag aber vor allem Blochs Zögern eine Rolle gespielt haben, die philosophische Anthropologie Foucaults aufzunehmen, die nach Bloch mehr mit den „various exclusionary provinces of our own others“ (meine Hervorhebung), also mit den Voraussetzungen heutiger Machtdiskurse, zu tun habe. Diese Anthropologie habe daher nur beschränkten Aussagewert für eine historische Anthropologie des Mittelalters. Letztere versteht Bloch als „attempt to understand the presuppositions, semantic range, and context, material conditions, the social, theological, psychological points of reference of the signs of a culture alien enough from

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spiegelt die historische Komplexität wohl kaum wider.26 Gleichzeitig aber hat das Modell heuristischen Wert. Adelsfamilien, so Bloch, veränderten im Zuge dieser Reorganisation auch ihre Zeichenpraktiken, besonders in den Bereichen der Heraldik, der Patronymik und der genealogischen Narrative.27 An der adligen Literaturproduktion interessiert Bloch, inwieweit an ihr solche Zeichenpraktiken sichtbar werden und sie die genealogische Reorganisation reflektiert bzw. prozesshomolog aufgreift und mitgestaltet.28 Wie ich zeigen möchte, können die Anregungen Blochs auch zum tieferen Verständnis der Rolle und Funktion genealogischer Fragen in Mai und Beaflor nutzbar gemacht werden. Ansetzen möchte ich dafür bei den Symmetrien des Textes und bei seiner Reflexion über Genealogie. Dabei wird bisher, glaube ich, Genealogie zu stark als gegebenes Prinzip betrachtet, ein Prinzip, dem die Protagonisten verpflichtet bleiben, wenngleich sie Störungen zu kompensieren haben, so dass am Ende das Prinzip in der Harmonie eines Happy Ending bestätigt, Herrschaft auf Dauer gestellt, genealogische Abfolge gesichert ist. Mai und Beaflor sät hier Zweifel, und dies ist die Kernthese meines Beitrags: Die Krise der Genealogie wird hier derart ausgestellt, dass man das dynastische Prinzip kaum als einfach bestätigt sehen kann, auch wenn Mai und Beaflor am Ende das Kaiserpaar sind und einen männlichen Erben haben. Dabei will ich nicht einmal sagen, dass sich der Text am Ende nicht auf eine Bestätigung des dynastischen Prinzips einlässt, sondern dass ein Fokus auf die religiös akzentuierten Kompensationen der Brüche im genealogischen Gefüge vielleicht nicht das eigentlich Bemerkenswerte hervorhebt: Bemerkenswert sind nämlich die Brüche selbst, welche Alternativen zu einem auf leiblicher Abstammung beruhenden genealogischen Prinzip ausstellen und dieses unter erheblichen Druck setzen. In dieser Perspektive ist der Text nicht nur ein Liebes- und Abenteuerroman um ein Paar, das widrigen Schicksalen trotzend zum Happy Ending der Liebe und Herrschaft kommt, das Abenteuer vielmehr ist das Ringen mit dem Prinzip selbst, ein Ringen, das vielleicht nirgends deutlicher zu Tage tritt als in dem Moment, in dem Mai seine Mutter, die Verour own to allow very little to be taken for granted“ (S. 11). Hier liegen in der Tat auch die wichtigen Unterschiede zur Verwendung des Terminus bei Foucault, der Biopolitik im Kontext der seit dem achtzehnten Jahrhundert voranschreitenden Rationalisierung der Regierungspraxis bezüglich der Bio-Faktoren der Bevölkerung begreift (Gesundheit, Hygiene, Geburtenzahl, Lebenserwartung, ,Rasse‘ etc.). Ein solcher Ansatz , der auf ‚Gouvernementalität‘ zielt, ist sicher für hochmittelalterliche Verhältnisse ungeeignet. Foucault hat übrigens wiederholt eine Ausformulierung des Konzepts der Bio-Macht oder Biopolitik angekündigt, ohne dies je wirklich durchzuführen. Die wichtigsten Referenztexte sind: Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975–1976, Frankfurt a.  M. 1999, S.  280–294; ders.: Sicherheit (Anm. 1), S.  13–51; ders.: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978–1979. Hrsg. von Michel Sennelart, Frankfurt a. M. 2004, S. 435–444. Auf Blochs Begriff der biopolitics of lineage geht Kellner (Anm. 23), S. 91, kurz ein. 26 Kritisch abwägend zur historischen Unschärfe und zum heuristischen Wert dieses Ansatzes Kellner (Anm. 23), S. 91f. 27 Vgl. Bloch (Anm. 3), S. 79–83. 28 Die Blochs Buch zugrundeliegende These zu den Strukturhomologien von Genealogie und Etymologie muss im Interessenzusammenhang meiner Studie nicht weiter diskutiert werden; dazu Kellner (Anm. 23), S. 31–46, zu Bloch S. 33.

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treterin einer strategischen, auf den adligen Körper bezogenen biopolitics of lineage, im Zorn tötet. Wichtiges sinngenerierendes Strukturmoment ist in Mai und Beaflor dabei weniger die temporale Dreiteilung des Liebes- und Abenteuerromans (Liebesentstehung – Trennung  – Suche und Wiedervereinigung) als die räumliche Gliederung: Sieht man vom Nebenschauplatz Spanien ab, sind die vor allem für das generationelle Grundthema des Textes wichtigen Haupthandlungsorte Rom und das Maien-Land. Rom, als Herkunftsland Beaflors, ist dominiert vom gestörten Vater-Tochter-Verhältnis; das Maienland vom gestörten Mutter-Sohn-Verhältnis.

Vater-Land Die Welt Roms, der Heimat der Protagonistin, wird über dominante intertextuelle Signale als Welt zivilisierter Sicherheit in literarisch vertrauter, von Freude gekennzeichneter Harmonie gestaltet. Der römische Hof in Mai und Beaflor hat teil an dem durch die höfische Literatur etablierten Zivilisationsmodell. Dies scheint auch die dominante Funktion der wörtlichen Anleihen aus Hartmanns Iwein zu sein.29 Anders als im Artusroman erfolgt die Herausforderung dieses Modells nicht von außen, sondern von innen: Legendentypisch erscheint die Störung als Korruption eines herausgehobenen Menschen, des Kaisers, durch das Böse, den Teufel. Eingeleitet wird die Katastrophe durch den Tod der Mutter Beaflors. Der Text lässt das Kind Beaflor mit einer religiösen Ausrichtung reagieren. Hier zeigt sich eine in Mai und Beaflor immer wieder gestaltete Form der Verlustverarbeitung. In dieser Phase tritt der kollektive Aspekt stark zurück; der Fokus verengt sich auf die Heldin, die höfische Welt tritt zurück. Damit korrespondiert eine Veränderung der narrativen Bildführung von der gesellschaftlichen Totale zum verengenden Fokus auf die Einzelfigur. Beim Einbruch der Katastrophe, dem Vergewaltigungsversuch durch den Vater, spielt die höfische Gesellschaft aber als normethisch wirksame Instanz weiterhin eine Rolle. Die Tat, zu der der Teufel den König verführt,30 ist so selbstverständlich ein Tabubruch und eine Sünde, dass der Text nicht eigens darauf hinweisen muss. bei der hant er sie do vie: ,wir suln bedev ensampt hie ein minnespil machen.‘ 29

Hartmann von Aue: Iwein. Hrsg. von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6), V. 65–72; vgl. Mai und Beaflor, V. 112–118. 30 Im Hinblick auf den drohenden genealogischen Kurzschluss ist die versteckte Vorausdeutung des Textes auf die inzestuöse Neigung des Vaters bereits vor dem Tod seiner Frau interessant. Die Neigung wird hier noch nicht mit dem Teufel in Verbindung gebracht: Die Weigerung des Vaters, seine Tochter zu verheiraten (Mai und Beaflor, V. 361–372), begründet er damit, dass Beaflor sein einziges Kind sei; siehe auch Kiening (Anm. 7), S. 255.

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div tohter begunde lachen vnd sprach zu dem vater do: ,lieber vater, wi tustu so, was wedeutestu hie mit? es ist wider vatersit, daz du su versuchest mich.‘ (Mai und Beaflor, V. 876–884) Da nahm er sie an die Hand: ,Wir sollen hier beide zusammen ein Liebesspiel machen.‘ Die Tochter begann zu lachen und sagte dann zum Vater: ,Lieber Vater, wieso machst du das, was meinst du damit? Es verstößt gegen väterliches Verhalten, dass du mich so verführen willst.‘

Beaflor weiß, dass das Verlangen des Königs, der mit ihr ein minnespil machen (V. 878) will, wider vatersit (V. 883) ist, was sie der Text zunächst lächelnd oder lachend kommunizieren lässt (V. 879), um anzuzeigen, wie weit außerhalb ihres gegebenen Sinnhorizonts dieser Einbruch ist. Dass auch ein gesellschaftlicher Verstoß gegen die êre vorliegt, artikuliert der Text deutlicher: Beaflor selbst erinnert den Vater an die Gefahr des Ehrverlustes bei Entdeckung des Verstoßes (Mai und Beaflor, V. 894–921). Auch die Pflegeeltern Beaflors denken zuerst an die Unehre, als sie vom Übergriff erfahren. Sie fassen das Vergehen des Königs als Schande für das gesamte Reich auf: ,owe dirr vnere‘, sprachen si zehande, ,vnd der houpt schande. wi ist romis rich geschant!‘ (Mai und Beaflor, V. 1229–1232) ,Oweh, welch Unehre‘, sagten sie gleich, ,und welch große Schande. Wie ist Roms Reich geschändet!‘

Mai und Beaflor entfaltet das Inzestmotiv hier traditionell.31 Das Inzestverlangen wird scharf negativ gezeichnet, weil die Rollennorm, vaterlîchez Verhalten, verletzt und damit weltliche und himmlische êre gefährdet ist – ein bereits im Prolog angeschnittenes Thema. Von gesellschaftlicher Relevanz ist weiterhin der durch den Inzestversuch drohende 31

Zum Inzest in Mai und Beaflor bes. Mertens (Anm. 5); Ingrid Bennewitz: Mädchen ohne Hände. Der Vater-Tochter-Inzest in der mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Erzählliteratur. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Kurt Gärtner/Ingrid Kasten/Frank Shaw, Tübingen 1996, S. 157–172; Kiening (Anm. 7), S. 255f.; Jutta Eming: Zur Theorie des Inzests. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hrsg. von Ingrid Bennewitz/Ingrid Kasten, Münster/Hamburg/London 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 29–48; dies.: Inzestneigung und Inzestvollzug im mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerroman (Mai und Beaflor, Appollonius von Tyrus), in: Historische Inzestdiskurse. Hrsg. von ders. u. a. Königstein 2003, S. 21–45; dies.: Questions on the Theme of Incest in Courtly Literature. In: The Court Reconvenes. Courtly Literature across the Disciplines. Selected Papers from the Ninth Triennial Congress of the International Courtly Literature Society. University of British Columbia, 25–31 July 1998. Hrsg. von Barbara K. Altmann/Carleton W. Carroll, Cambridge 2003, S. 153–160.

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dynastische Kurzschluss,32 da eine Herrschaftsübergabe an die nächste Generation verhindert wird. Für Beaflor selbst ist die Katastrophe der Verlust des Vaters, der sich rollenzersetzend (wider vatersit, Mai und Beaflor, V. 883; unvaterlichen, Mai und Beaflor, V. 926) verhält und der Verlust der gesellschaftlichen Geborgenheit, da die Gefahr durch den Vater andauert und so die Flucht notwendig ist.33 In der Auseinandersetzung Beaflors mit ihrem Vater wird ein Kampf zwischen Gut und Böse offen mit gestaltet. Gott bzw. Christus hilft Beaflor (Mai und Beaflor, V. 1000– 1003; 1072–1074) dem vom Teufel verführten Vater zu widerstehen. Das ist eine legendarische Konstellation. Gott hilft Beaflor auch, ihren von Selbstmordgedanken begleiteten zweyffel (Mai und Beaflor, V. 1098), die „Verzweiflung an Gottes Barmherzigkeit“,34 nach der Abwehr des Vaters zu überwinden; sie ist damit die einzige Figur dieses an Suizidwünschen und -versuchen reichen Romans, die aufgrund ihrer eigenen religiösen Motivierung und nicht nach Einflussnahme anderer einen Todeswunsch zurückdrängt.35 Der Zusammenhang zwischen Inzest und Genealogie ist hier, wie in vielen anderen Fällen der mittelalterlichen Literatur, nicht nur inhaltlich, sondern auch als Denkmodell und Struktur relevant. Der Übergriff des Vaters droht, die generationelle Abfolge durch den genealogischen Kurzschluss zwischen Vater und Tochter zu zerstören. Innerhalb der Logik einer genealogischen Struktur geht damit die Gefahr einher, dass die Tochter als valides Zeichen in der ‚vertikalen Artikulation‘ 36 von lineage entwertet wird. Mai und Beaflor stellt dem aber eine komplexere Anthropologie entgegen, in der nicht allein diese Logik greift. Hier nun zeigt sich der tiefe Zusammenhang der genealogischen Problemstellung von Mai und Beaflor mit der legendarisch-romanhaften Hybridität des Textes. Dabei geht es nicht so sehr um die mirakulöse Auflösung der genealogischen Krise. Viel wichtiger ist, dass die geistlichen Akzentuierungen und religiösen Motivierungen im Text alternative Identitätsentwürfe für die Figuren einspielen. So können die Figuren der Heilsbedrohung durch ‚andere‘ Praktiken ausweichen. In Mai und Beaflor sind diese ‚anderen‘ Praktiken emphatisch religiös. Die genealogische Katastrophe ist an diesem Punkt im Text so in narrative Gestaltungen der väterlichen Übergriffe und der kindlichen Krisenwahrnehmung gebunden, dass fast übersehen werden könnte, wie sorgfältig der Text sich von einer biopolitics of lineage weg und auf eine religiös fundierte Selbstermächtigung der Tochter hin bewegt. Entscheidend ist die Zeichenhaftigkeit des Mädchenkörpers und seiner Handlungen: zunächst fast entblößt durch den Übergriff des Vaters, dann in Kreuzgestalt betend auf dem Boden liegend. Das enkreútztal (Mai und Beaflor, V. 1120, „in Kreuzform am Boden 32

Mertens (Anm. 5), S. 394. Vgl. Buschinger (Anm. 22), S. 33. Die Flucht tiefenpsychologisch als „Kastrierung“ (ebd.) zu deuten, ist schon deswegen überzogen, weil der Terminus eine irreversible Schädigung impliziert. Die defizitäre Minneerfahrung wird jedoch durch die Begegnung mit Mai revidiert. 34 Fritz Peter Knapp: Der Selbstmord in der abendländischen Epik des Hochmittelalters, Heidelberg 1979, S. 194. 35 Vgl. Knapp (Anm. 35), S. 193–197. 36 Vgl. Bloch (Anm. 3), S. 73. 33

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liegend“) betende Kind liefert wie keine andere Szenenbeschreibung in Mai und Beaflor ein verdichtetes legendarisches Bild. Der Text lässt dies vom ahnungslosen Beobachter Roboal noch einmal explizit kommentieren: Er liest die Geste als Zeichen der grössisten andacht,/die ie an kind ward volpracht (Mai und Beaflor, V. 1128f.) und weist seine Frau eigens darauf hin: Er sprach: ,will du schawen an vnnser junckfrawen die grössisten andacht, die ie an kind ward volpracht, gee vnd sich wie sy liget.‘ (Mai und Beaflor, V. 1126–1130) Er sagte: ,Willst du an unserer jungen Herrin die größte Andacht sehen, die sich je an einem Kind zeigte, dann geh und sieh wie sie daliegt.‘

Die genealogisch relevante Familie ist durch Tod und Inzestversuch zerbrochen. Roboal und Benigna,37 die vorher vom Kaiser als Pflegeeltern bestellt wurden, werden in dieser Phase in emphatischer Weise zu Ersatzeltern Beaflors stilisiert. So nennen Roboal und Beaflor einander in der Folge Vater und Tochter, und der Erzähler lässt keinen Zweifel, dass Roboal der bessere Vater ist: 38 er vetert ir michels paz danne ir vater, wizzet daz, er was ir getriwer vil, daz ich wol sprechen wil, danne ir rehter vater was, von dem si chume genas. (Mai und Beaflor, V. 1552–1557) Er war ihr ein viel besserer Vater als ihr Vater, wisst das, er kümmerte sich viel besser um sie, dass kann ich sehr wohl behaupten, als ihr wirklicher Vater, vor dem sie sich kaum retten konnte.

Deutlich ist in Mai und Beaflor an dieser Stelle die dezidiert markierte und durch Anreden performativ gestiftete neue Vaterkindschaft Beaflors. Diese Kindschaft ist als Alternative markiert. Reicht dies aber schon aus, um in Mai und Beaflor eine Problematisierung, ja vielleicht sogar die Emanzipation von einer biopolitics of lineage angelegt zu sehen? Wäre die Behandlung auf eine Figur oder im Text lokal begrenzt, ließe sich diese weitreichende These wahrscheinlich nicht ohne Weiteres aufrechterhalten. Sie ist aber, wie ich in der Folge ausführen will, nicht begrenzt, sondern vielmehr in ähnlicher Vehemenz in der anderen Hauptfigur des Textes angelegt. So führt der Text seine Befragung des genealogischen Prinzips fort, und nicht zuletzt die Nutzung des etablierten Schemas des Liebes- und Abenteuerromans verleiht dieser Fortführung im Partner Beaflors eine zwin37

Roboal ist vielleicht nicht ganz zufällig dem treuen Ersatzvater Tristans, Rual, im Namen ähnlich; Benigna, die Gutartige, ist ein sprechender Name. 38 Dazu auch Kiening (Anm. 7), S. 256.

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gend symmetrische Folge. Ließe sich dabei für Beaflors Fall noch anführen, dass die Patenschaft, die Roboal und Benigna für Beaflor übernehmen, auch in mittelalterlichem Verständnis genealogisch wirksamen Charakter erhalten kann, wie Beate Kellner es für die Theorie und Praxis der Patenschaft im Mittelalter ausgeführt hat,39 so ließe sich eine solche Argumentation im symmetrisch folgenden Fall Mais nicht aufrechterhalten.

Passagen Beaflors Flucht und Meerfahrt haben den Charakter eines Übergangsritus.40 Wie Eli­ zabeth Archibald zeigt, scheint die Flucht einer unschuldigen Tochter vor den inzestuösen Übergriffen des Vaters eine mittelalterliche Innovation zu sein. In klassischer Literatur kommt sie nicht vor.41 Diese Reaktion auf die Krise ist christlich-religiös akzentuiert. Die isolierte Hauptfigur überantwortet sich selbst im ruderlosen Fahrzeug dem Meer: Vertrauen auf die göttlichen Qualitäten der Schicksalslenkung. Genau dieser Gedanke leitet die Darstellung in Mai und Beaflor. Die Heldin wird, im Gegensatz zu vielen anderen Fassungen, nicht verbannt, sondern die Flucht im ruderlosen Boot ist ihre eigene Entscheidung, die sie ihrem Pflegevater gegenüber so begründet: ,liber vater, vnd schaffez so, daz ich schier chom darin vnd stoz mich an daz wazzer hin vnd laz min got walten. vnd wil er mich behalten, er bringet mich schier an di stat, da mein leihte wirdet rat, da ich im ze dienste pin; daz ist mein girde vnd mein sin.‘ (Mai und Beaflor, V. 1385–1393) ,Lieber Vater, mach, dass ich darin schnell davonkomme und stoß’ mich ab hin zum Wasser und lass Gott sich meiner annehmen, und wenn er mich retten will, dann bringt er mich schnell an den Ort, da ich vielleicht Hilfe bekomme, wo ich ihm dienen werde; das ist mein Verlangen und mein Willen.‘

Die Selbstaufgabe in der scheinbar ziellosen Flucht ist Willensentscheidung der Figur, die genealogische Krise (und damit die Krise der fehlenden Geborgenheit, der gefährdeten Sündelosigkeit) durch die bedingungslose Anerkennung einer göttlichen Sinnhaftigkeit zu überwinden. Hier und an vielen anderen Stellen wird in Mai und Beaflor, in dieser 39

Vgl. Kellner (Anm. 23), S. 16–29; siehe auch Bernhard Jussen: Patenschaft und Adoption im frühen Mittelalter, Göttingen 1991 (Veröffentlichungen des MPI für Geschichte 98). 40 Im Sinne von Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt a. M. u. a. 1986, bes. S. 21–30. 41 Elizabeth Archibald, Incest and the Medieval Imagination, Oxford 2001, S. 147.

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Hinsicht wirklich ganz „Genealogie-Mirakel“,42 die „Geborgenheit der Legende“43 als ein Grundzug des narrativen Universums sichtbar. Beaflor stützt sich auf die göttliche Macht und ruft ihre ordnende Kraft auf; sie führt eine ‚sinnlose‘ Handlung aus, um sich eines umfassenderen Sinns zu versichern. Dennoch ist die weltliche Dimension nicht ganz ausgeklammert. Benigna, die Pflegemutter Beaflors, besteht darauf, dass Beaflor das mütterliche Erbe als Ausstattung mitnimmt (Mai und Beaflor, V. 1397–1415), um ihren adligen Stand sichtbar beweisen zu können. Die Schilderung der preziösen Kleidung Beaflors (Mai und Beaflor, V. 1558– 1639) gipfelt in der aufs bloße Haar gesetzten Krone: die Ausstattung der cheiserliche[n] magt (Mai und Beaflor, V. 1572; „stattlichen Jungfrau“) verrät bereits ihre zukünftige Bestimmung als kaiserliche Herrscherin in Rom. Die Grundfarbe der Ausstattung, lazurbla (Mai und Beaflor, V. 1574; „lasurblau“) als Farbe Marias deutet auch auf die andere, vom Text forcierte Stilisierung Beaflors hin, die christliche Dulderin in Nachfolge Marias. Auch im weiteren Text finden sich Hinweise darauf. Beaflor bezeichnet sich selbst als arm dirn gotes (Mai und Beaflor, V. 3026; „arme Dienerin Gottes“).44 Entscheidend ist das zeichenhafte Handeln, das von der Annahme des Muttererbes ausgeht: Wie wir gleich auch noch einmal am Beispiel Mais sehen werden, gestaltet der Text keine radikale Absage an genealogisches Denken, vielmehr modelliert er punktuelle, aber gleichzeitig deutliche und auf der Figurenebene heftig ausgedrückte oder ausagierte relativierende Positionen.

Mutter-Land Der „Darstellungsmodus von gegenbildlich aufeinander bezogenen Figuren“ wurde als konstitutiv für die Sinnkonstitution in Mai und Beaflor beschrieben.45 Dieser zeigt sich besonders in den gegenbildlich einander zugeordneten schädlich endogamen Beziehungen: dem Begehren des Vaters, mit der Tochter, die der Mutter ähnlich sieht, zu schlafen, und der mörderischen Feindseligkeit, mit der Eliacha, die Mutter Mais, seiner Heirat mit Beaflor nach ihrer gottgelenkten Ankunft in seinem Land gegenübersteht. Die gestörte Vater-Tochter-Beziehung steht der gestörten Mutter-Sohn-Beziehung ge42

Kiening (Anm. 7). Max Wehrli: Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter. In: Worte und Werte. Festschrift für Bruno Markwardt. Hrsg. von Gustav Erdmann, Berlin 1961, S. 428–443, hier S. 443 (ohne Bezug auf Mai und Beaflor). 44 Vgl. Mertens (Anm. 5), S. 396; vgl. Lukas 1,38. In Bezug auf das legendenhafte Wunder der schnellen Überfahrt wird Zweiflern über Gott gesagt, daz im niht vnmuleich sei (Mai und Beaflor, V. 1988). Der Satz bezieht sich einerseits allgemein auf den christlichen Glaubensgrundsatz der Wirkungsmacht Gottes in der Welt, fällt jedoch auch im Lukasevangelium, das den Erzengel Gabriel die unbefleckte Empfängnis mit diesen Worten kommentieren lässt, und zwar in direkter Verbindung mit Marias Selbstcharakterisierung als ‚Magd des Herrn‘. 45 Eming, Inzestneigung (Anm. 31), S. 38. 43

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genüber. Von hier aus wurde der Weg in die Entschlüsselung der Wirkungsweise eines Subtextes gesucht, was im Hinblick auf das Umspielen von inzestuösen und endogamen Beziehungen und deren Analogien gerechtfertigt erscheint.46 Meine Analyse aber steuert zunächst die Textoberfläche an, zwei vergleichsweise unscheinbare Details, die allerdings für eine Lektüre des Textes auf genealogische Fragen hin entscheidend sind und die einem auf genealogische Legitimationszusammenhänge hin sensibilisierten Publikum, wie man es für das dreizehnte Jahrhundert wohl annehmen kann, nicht entgangen sein werden. Das Land, in das Beaflor durch ir heil (Mai und Beaflor, V. 2007; „wegen ihres Heils“, „zu ihrem Heil“) kommt, wird zwar nicht als andersweltlich semantisiert, trägt aber Charakteristika eines idealen, fruchtbaren, immer frühlingshaften Raumes: irgendwo in Griechenland, das beste unter den bekannten Ländern (Mai und Beaflor, V. 2008f.). Dass Beaflor sich in einem genealogisch devianten Raum befindet, macht der Erzähler sofort, wenngleich beiläufig, deutlich. Zwei Details springen hier ins Auge: Erstens fällt früh in der Passage der Name des Landes, Maien-Lant. Der Name wird en passant erläutert: nu was da sunder schande ein grafe des landes herre, den man bechande verre von siner hoher tugende. in seiner blunden iugende er ez darzu brahte, daz man sin wol gedehte. Der was May genant, nach dem noch heizet daz lant. (Mai und Beaflor, V. 2035–2043) Nun lebte da ohne Schande ein Graf, der Landesherr, den man wegen seiner hohen Vorzüge weit und breit kannte. Er brachte es in seiner blühenden Jugend dazu, dass man sich positiv an ihn erinnerte. Er hieß Mai, nach ihm heißt noch heute das Land.

Und wie, um es noch einmal eigens in der Wiederholung zu betonen: noch hat ez nach im den namen, daz edel lant genuhtsam. (Mai und Beaflor, V. 2044f.; „Noch immer hat das vortreffliche, angenehme Land von ihm seinen Namen.“) Subtiler als im Falle des Inzestversuchs, aber auch radikaler als dort, wird hier das genealogische Prinzip suspendiert: Gestaltet wird eine mythische Ursprungs-Konstruktion, wenn das Land nach dem schönen, noch ganz jugendlichen, noch nicht einmal zum Ritter geschlagenen Herrscher heißt, und nicht Vater- oder Vatersippe dem Land seinen Namen geben, sondern der Jungherrscher.47

46

Vgl. Eming, Inzestneigung (Anm. 31), S. 38 und Eming, Theorie (Anm. 31). Der Name impliziert auch positive (höfische) Frühlings- und Minneerfahrungen, was wohl sicher als Assoziationshintergrund angenommen werden kann. Dies ist hier aber nicht entscheidend.

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Das zweite Detail, welches für die dynastische Ordnung im Maien-Land einige Bedeutung hat, ist, dass der Landesfürst keinen Vater hat. Dies wird nicht erklärt. Textuell thematisiert gibt es den Vater nicht, was sich zusammen mit dem auffälligen Landesnamen zur gezielten Konstruktion zu verdichten scheint. Er wird einfach nicht genannt oder erinnert. Die männliche Position der Vorgängergeneration ist lediglich durch den abwesenden, im fernen Spanien herrschenden Mutterbruder besetzt. Das mit dem jungen Mai identifizierte Land weist also keine Erinnerung an einen Vorgänger auf. Damit ist das patrilineare Prinzip in zwei wichtigen Punkten suspendiert: Weder gibt es eine fundierende Verbindung zwischen Territorium und Linienbezeichnung zur Sicherung genealogischer Identität („Mai von Maien-Land“ wäre eine genealogische Tautologie) noch eine Verbindung des gegenwärtigen Fürsten zu einer diskursiv thematisierten oder institutionell auf Dauer gestellten Ahnenschaft. Dies macht vor allem den in genealogischer Hinsicht heterotopen Charakter des Maien-Landes aus.48 Mais Vater wird nicht einmal dann genannt, als Eliacha später in einem Streit über Mais Pläne, Beaflor zu heiraten, darauf hinweist, dass eine nicht standesgemäße Ehe auch sie selbst und Mais Onkel (ihren Bruder) betreffe. Also selbst dann, wenn der Text einmal die Diachronie der Genealogie Mais thematisieren lässt, bezieht er sich nur auf den mütterlichen Zweig. Nur einmal kommt in der ganzen Handlungspartie, die im MaienLand spielt, das Wort vater vor, in phraseologischer Beiläufigkeit, aber in der wichtigen Situation der Nacht nach der Hochzeit zwischen Mai und Beaflor: der ritter ouch scham niht verphlac, doch lert in sines vater art, daz er ein teil palder wart. ein sune ergie do minnenchlich, da von si wurden vreudenrich. (Mai und Beaflor, V. 3677–3684) Der Ritter wusste sich auch zurückzuhalten, aber seines Vaters Art lehrte ihn, dass er etwas kühner wurde. Da verbanden sie sich in Liebe und hatten viel Freude daran.

Mai muss Beaflor aus dem Status der Unberührtheit führen: sines vater art ist hier nicht mehr als die Bezeichnung männlichen Lust- und Prokreationstriebs, bezeichnet phraseologisch Mais Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht. Auch wenn das patrilineare, ja selbst das patronyme Prinzip ausgeschaltet ist, heißt das nicht, dass dynastisch-genealogische Disziplinierung keine Rolle spiele. Ganz im Gegenteil: Die Biopolitik Eliachas, der Mutter Mais, dominiert den gesamten mittleren Handlungsteil. Diese Biopolitik ist auffallend drastisch und direkt. Dies zeigt sich gleich nach Ankunft Beaflors: In einer in ihrer Sichtregie auffälligen Szene49 arrangiert Eliacha 48

Die Eigen-Macht des jungen Fürsten zeigt sich auch darin, dass er, der noch nicht einmal Ritter ist, seine eigene Schwertleite als zeremoniellen Schritt vor der Hochzeit beschließt: ,ich wil ritter werden e‘ (Mai und Beaflor, V. 3198; „,Ich möchte zuerst Ritter werden‘“). 49 Vgl. Zusammenfassend Eming, Inzestneigung (Anm. 31), S. 27–29.

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ein Bad für die Neuangekommene und begutachtet sie sowie den Stand ihrer körperlichen Entwicklung. Eliachas transgredierender Blick gewinnt fast der versuchten Vergewaltigung durch den Vater analoge Qualität. Wiewohl sie den Sohn zum Sex mit der unbekannten Schönen auffordert, reagiert sie extrem abweisend auf dessen kurze Zeit später entstehende Heiratspläne. Für sie ist die ihre Herkunft nicht offenlegende Adlige verdächtig, aufgrund eines Ehebruchs verbannt zu sein. Eliacha ist also hauptsächliche disziplinierende Kraft und Vertreterin eines dynastischen Prinzips im Maien-Land. Auffällig ist, wie stark Eliachas Biopolitik auf den Körper der jungen Adligen zentriert ist: Dies lässt sich schon für den transgredierenden Blick in der Badeszene beobachten. Hier deuten sich zwei narrative Strategien an, mit denen in Mai und Beaflor dynastische Disziplinierung sichtbar gemacht wird. Diese Strategien sind die Personifizierung und Anschaulichkeit durch Figurenhandeln: Die Disziplinierung hat in Eliacha eine konkrete Akteurin und Vertreterin, ist also in einer Figur ‚personifiziert‘, wenn man den Begriff terminologisch lose gebraucht; und sie wird in (visuellen und physischen) Übergriffen auf den Körper der Protagonistin anschaulich gemacht. Dynastische Biopolitik erscheint hier also als Eingriff in das Leben und als Übergriff auf den Körper, besonders den weiblichen Körper. Die genealogische Problematik wird aber nicht nur in Handlung und Figurenrelationen ausgedrückt, sondern auch direkt und verbal thematisiert. Zentral ist hier die hitzige, von dynastischen Erwägungen dominierte Diskussion zwischen Mai und seiner Mutter. Eliacha beschwört die drohende Schande für seine Familie angesichts einer Heirat mit Beaflor. Sie weist auf die Folgen für ihre eigene Generation wie auch für seine Folgegenerationen hin, erinnert ihn also daran, dass er in einem kontinuierlichen genealogischen Zusammenhang stehe, den er nicht eigenmächtig gefährden solle, weil sein Heiratshandeln die gesamte lineage betreffe. Deutlich wird hier also, wie auch durch die Figurenrede, also explizit und diskursiv, dynastische Disziplinierung thematisiert wird. Dass Mai gegen den Willen seiner Mutter handelt, die Bedenken seiner Berater mit dem Hinweis auf die visuelle Evidenz der Schönheit Beaflors missachtet und nicht den Rat des Mutterbruders einholt, zeigt ihn in einem selbstermächtigenden Durchsetzungsversuch nicht nur gegenüber der Vorgängergeneration, sondern gegen eine allgemein geteilte Biopolitik. Damit setzt er auch das Konzept der Liebesheirat gegenüber der feudalen Heiratspraxis (wie sie die Mutter vertritt) durch. Vielleicht greift der Autor in „eigenwilliger Form“ eine zeitgenössische Diskussion über Ehepraxis auf.50 Mir scheint jedoch nicht nur dies, sondern die Auflehnung selbst, die Selbstermächtigung wichtig. Sie stiftet eine ganz grundlegende Parallele zu Beaflors Verhalten in Rom: In dieser Perspektive ist die Liebesheirat ein weiteres Symptom einer tiefer liegenden Emanzipation. 50

Kasten (Anm. 16), S. 5. Zu mittelalterlichen Ehediskursen siehe auch Rüdiger Schnell: Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe, Köln u. a. 2002; darin zur Liebesheirat in Mai und Beaflor S. 423 mit Anm. 12 und S. 425 mit Anm. 21; zur konsensuellen Hochzeitsnacht S. 440. Mai ist dem verwandtschaftlichen Prinzip verpflichtet, daran besteht kein Zweifel, so hilft er dem Mutterbruder im Krieg. Dieser Einsatz wird auch von den Ratgebern gutgeheißen: sein rat, sin tat ist reine (Mai und Beaflor, V. 5004; „Sein Ratschlag und seine Tat sind untadelig“).

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Die Mutter versucht nicht nur kommunikativ sehr direkt, ihr Prinzip durchzusetzen, sondern sammelt auch auffällig direkt Informationen über Beaflor und ihre biopolitische Relevanz (Schönheit, adlige Kleidung). Beaflor kann oder will aber nichts von ihrer Herkunft preisgeben, und hier zeigt sich deutlich die Begrenztheit ihrer symbolischen Geste der Annahme des Muttererbes. Dessen sichtbare materielle Zeichen deuten zwar an, dass die Trägerin von Adel ist, da sie aber ihre Herkunft verschleiert, wirken die Adelszeichen umso verdächtiger. Die Mutter ordnet sie daher als schändlich oder geschändet ein. In dieser Logik ist Beaflor genealogisch nicht identifizierbar: Sie kann von der Mutter aufgrund ihrer Schönheit und ihrer gerade eingesetzten Geschlechtsreife als intime Partnerin des Sohnes empfohlen, darf aber nicht genealogisch relevant werden. Als sie das durch Heirat und Fortpflanzung wird, greift die Mutter manipulativ ein, um die Tötung und damit Tilgung Beaflors und ihres Kindes zu erzielen. Die Tötung gelingt zwar nicht, aber Mais Mutter erreicht durch eine Reihe von Intrigen die räumliche Entfernung Beaflors.51 In direkter Äquivalenz zu ihrer ersten Fahrt führt Gott Beaflor später auf ihrer zweiten Meerfahrt in fast identischer Ausstattung zurück nach Rom. Spiegelbildlich ist ihre Ankunft: Roboal und Benigna, die sie bei ihrer Ausfahrt verabschiedet hatten, treffen sie providentiell motiviert wieder direkt am Ufer an. Signifikante Veränderung an Beaflor sind die Haube, die sie unter der Krone trägt, und das männliche Kind, das sie bei sich hat: Sie ist verheiratete Königin und Mutter. Über Roboals Vermutung, Beaflors Meerfahrt hätte sie in den verstrichenen eineinhalb Jahren (Mai und Beaflor, V. 7426) Jesus als Braut zugeführt (Mai und Beaflor, V. 7461–7465), bringt der Text einen christlichen rite de marge, eine ritualisierten Zustandswechsel,52 ins Spiel, der, wiewohl sofort durch Beaflor als Fehlinterpretation abgewiesen, den Kontakt zur ersten Meerfahrt und zur Stilisierung Beaflors zur Nachfolgerin Marias (wieder)herstellt. Wichtiger aber ist, dass sie das Muttererbe angetreten hat. Dem inzestuösen genealogischen Kurzschluss und der mörderischen Biopolitik der Vorgängergeneration entgangen, führt sie die Linie weiter. Mais Aufbegehren gegen die in Eliacha personifizierte Biopolitik ist ebenso direkt wie deren Politik selbst. Im Zorn ersticht er sie: daz swert er durch die muter stach/daz si totiv viel dar nider (Mai und Beaflor, V. 6920f.; „Er stach das Schwert durch die Mutter, so dass sie tot niederfiel“). Dies ist nun wirklich radikale Suspension der lineage. Radikal ist sie aus mehreren Gründen. Zunächst aufgrund der Position der Mutter im Generationen-Zusammenhang: Eliacha dient wegen des Fehlens des Vaters und der Abwesenheit des Onkels, der im Roman nach Mais Spanienzug ohnehin keine Rolle mehr spielt, allein als Vertreterin der Vorgängergeneration; ihre Beseitigung tilgt diese Stufe auf Mais Seite daher nahezu völlig. Ebenso wichtig ist allerdings, dass sie auch Vertreterin der aggressiven dynastischen Biopolitik ist, deren Überwindung drastisch im Matrizid repräsentiert wird.

51

Zu den Intrigen in Mai und Beaflor und ihrer zentralen Bedeutung für die Sinnstiftung des Romans siehe den Beitrag von Matthias Meyer in diesem Band, S. 113–132. 52 Im Sinne van Genneps (Anm. 40), S. 21.

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Es mag der Misogynie des Textes geschuldet sein, dass die Mutter Mais für ein Prinzip getötet wird, das Beaflors Vater genauso wie sie vertritt.53 Dem Vater wird, in einer von vielen Kompromisspositionen des Textes, am Schluss verziehen. Der Kompromiss geht allerdings nicht so weit, dass er wieder in eine genealogische Position eingesetzt wird. Vielmehr bleibt er substituiert,54 denn Mai und Beaflor bestätigen als Herrscherpaar in Rom die Einsetzung von Roboal und Benigna als Eltern.55 Bereits zum Kaiser gekrönt, empfängt Mai Roboal bei Hofe, um ihm in rechtsgültiger Öffentlichkeit zu erklären: ,du můst vnnser vater sein/ ymmer mer die weyll wir leben‘ (Mai und Beaflor, V. 9646f.; „,Du sollst unser Vater sein, für immer, solange wir leben‘“).

Alternative Artikulationen der Lineage Mai und Beaflor spielt durch, wie die „vertikale Artikulation“56 der lineage scheitert und die Nachfolgegeneration selbstbestimmend eingreift und sich und im Rückgriff auf religiöse Verhaltens- und Beziehungsmuster emanzipierend ihre eigene ‚Artikulation‘ findet. Dieser Befund lässt sich sowohl an vermeintlich unscheinbaren Details als auch an übergreifenden Sinnstrukturen belegen. Von hier aus ließen sich sowohl die Frage nach Subjektivität neu stellen als auch die extremen Gefühlsäußerungen der beiden Protagonisten neu bewerten, nämlich als Äußerungsformen einer subjektiven Krisenerfahrung gegenüber dem Scheitern vertikaler Ordnungen.57 Ich benutze Ausdrücke wie ,Emanzipation‘ oder subjektive ,Krisenerfahrung‘ mit großen Vorbehalten. Es sind dies behelfsmäßige Termini, sie sind problematisch, weil sie moderne Konzepte auf prämoderne Modellierungen anwenden und zudem mit erheblichem weltanschaulichen Gepäck reisen. Um es ganz deutlich zu sagen: Mai und Beaflor ist sicherlich nicht proto-aufklärerisch. Vielmehr scheint vor allem die religiöse Grundierung, also die Wendung des Paares zu starken Frömmigkeitsgesten und -praktiken, in eine andere Richtung zu weisen.58 Die dominante Möglichkeit, mit dem Scheitern der vertikalen Artikulation der lineage umzugehen, ist für Mai und Beaflor die Rückver53

Siehe bes. Bennewitz (Anm. 31). Vgl. Kiening (Anm. 7), S. 256. 55 Spätestens hier wird man sich auch den Echos von Gottfrieds Tristan und Isolt nicht entziehen können (und dies nicht nur wegen der Namensähnlichkeit der beiden Pflegeväter): In Tristan und Isolt wird aber das genealogische Prinzip durch Tristans Verhältnis (oder Nicht-Verhältnis) zum Vater Riwalin, zum Mutterbruder Marke und zum Pflegevater Rual, also in der Multiplizität der ‚Väter‘ emphatisch verstärkt, während sich Mai und Beaflor in der Bestimmung des einen Vaters absetzen. 56 Bloch (Anm. 3), S. 73. 57 Dies in Abgrenzung zu Armin Schulz/Wolfgang Walliczek: Heulende Helden. ,Sentimentalität‘ im späthöfischen Roman am Beispiel von Mai und Beaflor. In: Abweichende Lebensläufe, poetische Ordnungen. Festschrift für Volker Hoffmann. Hrsg. von Thomas Betz/Franziska Mayer. Bd. 1, München 2005, S. 17–48. 58 Ähnlich argumentieren Schulz/Walliczek (Anm. 58). 54

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sicherung in Frömmigkeitspraxis, zumindest dort, wo sich ein solcher Umgang nicht in überschäumender Emotionalität und Suizidreflexen ausdrückt. Dieser Befund könnte für weitere Studien zum Zusammenhang zwischen Frömmigkeit, Genealogie und Subjektivität fruchtbar werden, da eben mittelalterliche Frömmigkeitspraxis auch eine breite diskursive Brücke zu Formungen neuzeitlicher Subjektivität bietet. Ebenso könnte weiter darüber nachgedacht werden, inwieweit sich Spuren jenes komplexen mittelalterlichen „Geflechts von biologischen, geistlichen und gesetzlichen ‚Verwandtschaften‘“59 in den Problematisierungen der lineage und dem Ausstellen einer beidseitig krisenhaften Genealogie in Mai und Beaflor zeigen.

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Kellner (Anm. 23), S. 28.

Matthias Meyer (Wien)

Hintergangene und Hintergeher Überlegungen zu einer Poetik der Intrige in Mai und Beaflor, Friedrich von Schwaben und Wilhelm von Österreich

Die Literatur des 13. Jahrhunderts ist mittlerweile immer stärker in den Mittelpunkt der Forschung getreten – womit man auch eine durch das Verdikt ‚nachklassisch‘ ausgelöste Periode der Vernachlässigung konterkariert. Dabei handelt es sich aber weitgehend um (mehr oder weniger große Textgruppen oder Autoren) berücksichtigende Einzeluntersuchungen – eine detaillierte Literaturgeschichte des 13. Jahrhunderts ist zumindest in meinen Augen immer noch ein Desiderat. Denn es finden in dieser Zeit etliche interessante Paradigmenverschiebungen innerhalb der höfischen Literatur statt. Eine davon betrifft – wenn die Metapher erlaubt ist  – eine Verschiebung in den Leitfossilien: Ein höfischer Roman um 1200 (oder, genauer, in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts) ist in der Regel ein Artusroman, ein höfischer Roman um 1300 ist ein Minne- und Abenteuerroman1 – das gilt besonders, wenn man die fragmentarisch überlieferten Texte (die zahlreichen Artusromanfragmente) mit in die Überlegungen einbezieht.2 Diese Verschiebung führt aber nicht dazu, dass der höfische Kern der Texte aufgegeben wird.3 1

Die Aussage geht von den üblichen Datierungen aus. Ein Ausreißer könnte, in der Spätdatierung von Achnitz, der Gauriel von Muntabel sein, der aber – trotz seiner Nähe zum Iwein und trotz diverser Szenen am Artushof vielleicht der unarthurischste Artusroman ist. Konrad von Würzburg schreibt keine Artusromane mehr, die ‚großen‘ Romane um 1300 sind alle vom Genre Artusroman entfernt. Diese Aussagen gelten selbstverständlich nur für die Produktion, nicht für die Rezeption. Eine Erklärung ist schwer zu finden, vielleicht hat sich das literarische Modell des Artusromans letztlich als zu restriktiv erwiesen, um noch genug Potential für Neuschöpfung zu bieten. Das Phänomen wird aber sicher nicht monokausal zu erklären sein. 2 Zur Literatur des 13. Jahrhunderts rechne ich auch Texte wie den Friedrich von Schwaben und den Wilhelm von Österreich, die zwar nachweislich nach 1300 entstanden sind, aber wohl eher als Nachzügler der Produktionswelle des späten 13. Jahrhunderts zu sehen sind. Zu den Zahlenverhältnissen vgl. Thomas Cramer: Aspekte des höfischen Romans im 14. Jahrhundert. In: Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Hrsg. von Walter Haug/Timothy R. Jackson/Johannes Janota, Heidelberg 1983 (Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft 45), S.  208–220, hier S. 208. 3 Artusromane stellen mit dem Artushof ein Modell höfischen Funktionierens in ihre Mitte – und sie tun das auch dann, wenn zu dem Artushof ein anderes Zentrum tritt, da es sich auch dabei um eine Hofgesellschaft handelt (das gilt für den Laudinehof, aber auch für die Gralsgesellschaft). Das Höfische spielt in der Heldenepik, z. B. in der im 1. Jahrhundert in der Schrift reüssierenden Dietrich­ epik (auch der aventiurehaften) eine vergleichsweise zurückgestufte Rolle. So wäre es auch nicht

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Was aber bedeutet das: ‚höfisch‘? Gemeint sind damit zunächst – eigentlich uninteressant und selbstverständlich – die Auftraggeber, dann das Publikum. Hier zeigt sich – selbst wenn der Ort des Höfischen sich an städtische Bischofssitze oder Patrizierhäuser verlagert – ebenfalls eine deutliche Kontinuität, zumindest was das Erzählen in Romanform anbelangt. Höfisch heißt aber auch, dass die dargestellte Welt eine höfische ist, und auf diese dargestellten Höfe will ich im Folgenden mein Augenmerk richten. Der Artushof ist gekennzeichnet, so die communis opinio, durch eine – vielleicht in einigen Texten der Gattung kritisierte – vergleichsweise starre, aber im wesentlichen unangefochtene Idealität des Artushofes, der als Garant eines mehr oder minder komplexen Wertesystems (oder, genauer, eines einfachen Wertesystems mit komplexen Regelmechanismen) steht.4 Dieser Artushof (oder ein im epischen Verlauf an seine Stelle tretender Surrogathof eines Artusritters) bleibt als unangefochtenes Ideal stehen – höchstens findet man, im Gralroman und im Gralsreich, eine religiöse Überhöhung, die den Artushof an die zweite Stelle treten lässt.5 Zwar gibt es Probleme an diesen Höfen, doch erweisen sie sich alle als lösbar, die Idealität des Hofes bleibt unangetastet. Und: Als Werteinstanz unangefochten, wird der Artushof auch nicht hintergangen, denn darin zeigt sich letztlich sein Wert, dass er nicht hintergangen werden kann – es sei denn, man befindet sich in den wenigen wiederum hochreglementierten Ausnahmen, die ein solches Hintergehen zulassen: Keie kann hintergehen und hintergangen werden6 – und es gibt das klassische zwingend, das Höfische ins Zentrum eines Minne- und Abenteuerromans zu setzen – doch machen die Romane von dieser Möglichkeit erstaunlich wenig Gebrauch. 4 Zu dieser Grundstruktur des Artusromans vgl. z. B. Volker Mertens: Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998 (RUB 17609) oder schon Karin R. Gürttler: Künec Artûs der guote. Das Artusbild der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, Bonn 1976 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 52). Zur Problematik des Erzählens, die sich daraus ergibt, vgl. Norris J. Lacy: King Arthur. In: Le héros dans la réalité, dans la légende et dans la littérature mediévale. Der Held in historischer Realität, in der Sage und in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok, Greifswald 1996 (WODAN 63), S. 67–80. – Die Idealität des Artushofes hat dabei – das sollte nach der Einrede Lacy’s klar sein – hauptsächlich eine narrative Funktion. Es geht mir einerseits nicht darum, ihn als Vorbild eines ‚wirklichen‘ Hofes zu lesen. Dennoch ist festzuhalten, dass auch eine solche narrative Funktion nur dann erfüllt werden kann, wenn das Dargestellte unter mimetischer Perspektive nicht völlig einer ‚realen‘ Idealität widerspricht. 5 Die Debatte um das Verhältnis von Gralswelt und Artuswelt im Parzival ist umfangreich und unabgeschlossen, wohl auch unabschließbar, weil Wolfram im Text selbst Hinweise auf eine Nebenordnung und eine Überordnung der Gralswelt über die Artuswelt bringt. Innerhalb der Gattungsentwicklung gibt es dagegen eindeutige Lösungen (wie im Jüngeren Titurel, dessen finaler und endlos perpetuierter Hof der des Priesterkönigs Johannes ist, oder in der Crône, in der der Gralshof einer weltlichen Herrschaft im wahrsten Sinne des Wortes aufsitzt und sein Verschwinden als Befreiung empfunden wird). 6 Zu Keie vgl. die Untersuchungen von Martin Baisch: Welt ir: er vervellet;/Wellent ir: er ist genesen! Zur Figur Keies in Heinrichs von dem Türlin Diu Crône. In: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von dems. u. a., Göttingen 2003 (Aventiuren 1), S. 149–173, sowie Werner Röcke: Provokation und Ritual. Das Spiel mit der Gewalt und die soziale Funktion des Seneschall Keie im arthurischen Roman. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hrsg. von Peter von Moos/Klaus Schreiner, Köln 2001, S. 343–361.

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rash-boon-Motiv, das in der Entführung der Königin, einmal auch des Königs endet, das aber am Schluss wieder in die Idealität zurückgeführt wird.7 Auch kann der Artushof selbst hintergehen (oder es zumindest versuchen: Artus und Gawein versuchen eine List im Daniel, auch die Lösung des Erbkonflikts im Iwein durch Artus’ überraschende Frage könnte man als Versuch hinstellen, die ältere Schwarzdorntochter, selbst eine Betrügerin, zu hintergehen) – aber er tut das, wenn er es denn tut, im Namen des Rechts.8 Das ist, ich weiß es, eine Holzschnittarbeit mit der Kettensäge, aber so falsch ist sie wiederum nicht.9 Dennoch gibt es  – zunehmend mit Wolfram, beim Pleier wieder völlig zurückgeschraubt – so etwas wie Rudimente einer höfischen Normalität, in der man – so schon im Erec – fröhlich seine Freunde hintergeht (etwa wenn Gawain Erec gegen dessen Willen an den Artushof zwingt).10 Es ist dieser Aspekt des Höfischen (noch nicht der von Il Principe Macchiavellis, aber vielleicht doch auf dem Weg dorthin) der doch ein weitaus 7

Zu Ginover die klassische Studie von Kenneth G. T. Webster: Guinevere. A Study of her Abductions, Milton (Mass.) 1951. 8 Klaus Ridder hält fest: „Nur der Artusroman kann auf den Typus des intriganten Protagonisten verzichten, weil das Negative weitgehend in eine Gegenwelt abgedrängt und über einen Stationenweg bewältigt wird.“ (Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthofischen Roman: ‚Reinfried von Braunschweig‘, ‚Wilhelm von Österreich‘, ‚Friedrich von Schwaben‘, Berlin/New York 1998 (Q & F 12), S. 27. Das ist, in dieser Zuspitzung, falsch, denn auch legendarische Minne- und Abenteuerromane kommen ohne intrigante ProtagonistInnen aus (allerdings wird überlistet), und es werden die am Artushof stattfindenden Intrigen ignoriert, weil Intrige bei Ridder wohl immer etwas Unmoralisches hat. 9 Eine Ausnahme stellt der Iwein dar: Lunete spinnt zweimal eine umfängliche Intrige. Man könnte das als eine Art Urszene der arthurischen Intrige bezeichnen – wenn sie denn wirklich Folgen hätte. Doch Wolfram verurteilt Laudine und Lunete im Parzival (253,10f.; 436,4ff.), in den folgenden Iwein-Variationen findet sich für diese Szenen keine Entsprechung; zu Lunete als kupplerischer Dienerin und zum Komödienhaften der Szene vgl. Renate Schusky: Lunete – eine ‚kupplerische Dienerin‘? In: Euphorion 71 (1977), S.  18–46, die die Funk­tion von Lunetes „Lügennetz“ darin sieht, in Iwein den möglichen Verdacht, Laudine werfe sich ihm an den Hals, zu zerstreuen (S. 35). 10 Zwei Lesarten dieser Szene scheinen mir möglich (und schließen sich nicht gegenseitig aus!): 1. Sie ist hauptsächlich wegen ihrer komischen Aspekte inszeniert: Gaweins List, die er selbst als waegest (V. 4999; „ausgezeichnet“) bezeichnet, der Trick, den Artushof heimlich die beiden Ritter überholen zu lassen, trägt in der Vorstellung des heimlichen und überhasteten Aufbruchs des kompletten Hofes geradezu slapstickhafte Züge. 2. Die Szene zeigt, wie Gawein sich psychologisch kompetent verhält: Als er erkennt, dass es Erec mit seiner Weigerung, den Hof zu besuchen, ernst ist, reagiert er emotional (des wart er ein teil unvrô, 4986; „darüber wurde er durchaus missgelaunt“), was als empathisches Aufnehmen der fehlenden Hofesfreude Erecs lesbar ist. Daraufhin entwickelt er den Plan, nicht Erec zum Hof, sondern den Hof zu Erec kommen, also dessen vroide-Potential von außen bestätigen zu lassen. Dass er nicht weiter in Erec dringt, zeigt, dass Gawein begriffen hat, dass Erec in der momentanen Situation nicht umzustimmen ist. Allerdings würde Gaweins Trick nicht funktionieren, wenn Erec nicht auf Gaweins permanente Konversationsangebote und Verzögerungen eingehen würde. Nicht im berichteten Gespräch, das jegliche Einblicke in Erecs Innenleben verweigert, aber im berichteten Faktum des Gesprächs und Erecs Eingehen auf Gawein bietet Hartmann einen Hinweis auf Erecs Innenleben: Er hat die höfischen Formen nicht vergessen, ist also noch hoffähig und über diese Rudimente des Höfischen hinaus offenkundig bereit, seinem Freund Gawein im Spiel der Konversation zu folgen. Er lässt sich, so ließe sich argumentieren, gerne überlisten. Aber es ist eine List, denn trotz aller Komplexität der Situation, die Gawein hier ganz richtig erkennt, ist sein Trick vergleichsweise einfach, keine verwickelte Intrige. Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von

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differenzierteres Bild eines Hofes liefert, in dem nicht nur Keie ein Risikofaktor ist, dem ich in meinen nichtarthurischen Beispielen nachgehen will. Kurz: Mich interessieren der Hof als Ort der Intrige und die Auswirkungen der Intrige auf die Struktur der Romane. Meine Überlegungen schließen zum einen an die Frage nach Verstellung und Betrug im Mittelalter an – und sie treffen sich mit dem Buch von Peter von Matt, der in einem großangelegten – und im Einzelnen sicher ausführlicher zu diskutierenden und zu kritisierenden – Versuch eine Theorie und Praxis der Hinterlist entwickelt hat.11 Von Matt entwickelt ein dreigliedriges Intrigenmodell, bestehend aus Planung – Durchführung – Anagnorisis. Das versteht sich fast von selbst, doch sind die Einzelglieder noch genauer aufzuschlüsseln. Jeder Intrige liegt nach von Matt eine Notsituation und eine Zielphantasie zugrunde. Das Intrigensubjekt versucht, beides zu vermitteln, daraus entsteht der Plan. Das ist natürlich eine idealtypische Konstruktion, in der literarischen Realisation gibt es hier großen Differenzen. Zwischen Notsituation und fertigem Plan kann nur ein Satz stehen – oder es werden diese Kernszenen der Intrige nachgereicht oder sie können nur erschlossen werden.12 In der Durchführung erfährt das Intrigensubjekt Unterstützung durch freiwillige und unfreiwillige Helfer. Je komplexer das System ist, in dem die Intrige abläuft, je mehr Personen und/oder Institutionen in die Umstände der Intrige verstrickt sind, umso eher kommt es zu einer Gegenintrige. Während der Durchführung des Intrigenplans finden – nicht immer vollständig, aber doch zumindest in Teilen erkennbar  – Formen der Verstellung Verwendung: Körperverstellung, Intrigenstimme, Intrigenschrift, mimetische Verstellung, bis hin zur platten Identitätslüge.13 Schließlich kommen wenige literarische Intrigen ohne ein Intrigenrequisit aus – man denke nur an das Taschentuch Desdemonas, das Othello zur Weißglut bringt, oder an den fingierten Liebesbrief Luises in Kabale und Liebe. Die Intrige endet in einer Anagnorisis. Die Anagnorisis, das Wiedererkennen im wörtlichen Sinn, stellt in der Dramaturgie der Intrige jenen Augenblick dar, wo alles auskommt, wo das ganze Verstellungsgefüge auffliegt. […] Ästhetisch, in literarisch-künstlerischer Hinsicht, wozu ja nicht zuletzt die Steuerung der Lesergefühle gehört, ist die Anagnorisis ein herausragendes, wenn nicht das Haupt- und Kronereignis des Intrigenprozesses. Aller Spannungsaufbau geschieht über die erwartete, die erhoffte, die

Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 6. Auflage besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (ATB 39). 11 Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München/Wien 2006. Das Modell wird summarisch vorgestellt S. 118–121. 12 Für von Matt ist die Planszene ein unabdingbarer Teil der Intrige, auch wenn er oft nur schwer zu identifizieren ist: „Wie Goethe den menschlichen Zwischenkieferknochen nur finden konnte, weil er ein morphologisches Modell vom Knochenbau besaß, welches diesen Bestandteil des Skeletts grundsätzlich überall voraussetzte, läßt sich in der Literatur die Planszene gelegentlich nur vom Postulat ihrer systematischen Unabdingbarkeit her ausmachen, so blitzartig-flüchtig kann sie in der konkreten Erscheinung sein.“ Von Matt (Anm. 9), S. 38. 13 Zu diesen Formen vgl. von Matt (Anm. 9), S. 119.

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gefürchtete Anagnorisis. Sie ist das Phantasiebild am Horizont, das die Lektüre begleitet von dem Moment an, wo der Plan ausgedacht wird.14

Aus meiner Perspektive ist eine der Schwierigkeiten bei von Matt, dass er nicht überzeugend zwischen List und Intrige unterscheidet. Ich versuche für das Folgende eine Präzisierung: 1. Eine Intrige ist – der Wortherkunft entsprechend – verwickelt,15 eine List dagegen in der Regel einfach. Das bezieht sich zunächst nur auf den Aufwand oder den Verlauf. 2. Eine Intrige involviert mehrere Personen, eine List dagegen oft nur den Listigen und den Überlisteten. Daher – das ist auch bei von Matt schon deutlich – spielen in einer Intrige oft mehrere Figuren freiwillig oder unfreiwillig mit. Bei den listen des Daniel in Strickers Artusroman (und selbst bei vielen der Listen im Tristan) ist die Grundkonstellation dyadisch.16 Allerdings ist  – das ist evident  – der Tristan ein zentrales Einfallstor der Intrige in die höfische Literatur des 13. Jahrhunderts.17 3. Ich verstehe eine Intrige als ein formales Modell (von Matt spricht von einem „morphologischen Intrigenmodell“),18 eine bestimmte, verwickelte Handlungssituation. Eine Intrige ist nicht per se unmoralisch, eine Gegenintrige moralisch. Allerdings kann es häufig dazu kommen, dass über eine Intrigensituation (besonders, wenn sie von einer Gegenintrige konterkariert wird), auch Vorstellungen von Moral diskutiert werden.19 14



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Matt (Anm. 9), S. 120f. Vgl. weiter S. 122: „Die letzte Steigerung der Spannung fällt in ihr mit der erlösenden oder aber endgültig niederschmetternden Entspannung zusammen. Die gesamte Geheimnis-Strategie eines Werkes explodiert hier gewissermaßen, unabhängig davon, ob der Leser in diese Geheimnisse immer schon eingeweiht war […]“, sowie die Kapitel S. 122–138. Das Wort wird ins Deutsche aus dem Französischen entlehnt. Es geht zurück auf das lateinische intricare, ‚verwickeln‘, das wiederum auf tricae zurückgeht, das zwei Bedeutungsfelder aufweist: 1. Possen, Unsinn, 2. als übertragene Bedeutung Verdrießlichkeiten, Widerwärtigkeiten, Ränke. Das Wort geht auf die Wurzel *trei(q) zurück, die „winden, drehen“ bedeutet, vgl. Karl Ernst Georges: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Unveränderter Nachdruck der achten, verbesserten und vermehrten Auflage von Heinrich Georges, Bd. 2, Darmstadt 1998, Sp. 3212f. Für den Daniel gilt das in den Soloaventiuren, in denen er sich jeweils einem nicht-menschlichen Gegner stellt. Für den Tristan gilt das mit der Einschränkung, dass man Tristan und Isolde als Doppelindividuum begreifen muss. In der Tat könnte man hier bereits eine Struktur von Intrigensubjekt und (willigem) Intrigenhelfer sehen. Ich klammere den Tristan aus den Überlegungen vorerst aus, bin mir der Bedeutung des Textes für den Themenkomplex der Verstellung und der Bedeutung und Problematik von Verstellung am Hofe aber durchaus bewusst. Diese Auslassung scheint mir aus zwei Gründen gerechtfertigt: Der Themen­komplex der Verstellung ist im Tristan sehr viel enger als in den hier behandelten Texten thematisch gebunden; er ist an die transgressive Liebe der Protagonisten geknüpft. Eine solche Bindung aber führt zu einer Einschränkung, die ich zunächst vermeiden möchte. Außerdem ist mir letztlich nicht klar, wie stark die literaturgeschichtliche Position, wie groß der produktive Einfluss des Tristan wirklich war. von Matt (Anm. 9), S. 118. „Es gibt die gute, die rettende, die, wenn man so will, weiße Intrige gegenüber der bösen, der vernichtenden, der schwarzen Intrige.“ Von Matt (Anm. 9), S. 94. Vgl. auch ders., S. 93: „Wichtiger aber noch als der Aspekt der potenzierten Dramatik ist beim Ereignis der Gegenintrige die erweiterte von

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Bevor ich mich nun mit diesem Modell im Hintergrund den Texten zuwende, noch eine weitere Vorbemerkung: Wenn ich von höfischer Literatur spreche, so habe ich bislang implizit die Heldenepik sowie die Chansons de Geste ausgenommen. Das lässt sich vorrangig mit dem Thema des Sammelbandes rechtfertigen  – bei einer großräumigen Untersuchung des Themas bietet natürlich die Heldenepik breites Material zum Thema Intrige. Passend zu den Resultaten von epischem Ausmaß sind diese großen und großartigen Intrigen in der Forschung lange bekannt und weithin untersucht. Sie führen in den (im Rahmen der Chansons de Geste gegebenenfalls nur vorläufigen) Untergang und sind letztlich in diesem aufgehoben. Mit dem Fokus auf dem Minne- und Abenteuerroman aber kommt es mir darauf an zu zeigen, dass Intrigen auch in eine Happy-End-Struktur integriert werden können – und dass das mit einer gewissen Regelmäßigkeit geschieht.20

1. Mai und Beaflor – ein locus classicus der Intrigenstruktur? Ich beginne mit dem anonym überlieferten Roman von Mai und Beaflor,21 in dem sich eine geradezu archetypische Intrige nach dem von von Matt aufgestellten Modell findet: Die Intervention der entmachteten Mutter, die ihren  – vielleicht inzestuös geliebten  – Sohn hintergeht, nachdem ihre Versuche, ihn als Liebhaber in Beaflors Arme zu treiben, über das Ziel hinausgeschossen sind, und in eine von der Mutter kritisierte Ehe geführt haben. Die Mutter Eliacha, die nicht nur ihre Machtstellung untergraben, sondern auch ihre zusammen mit ihrem Bruder geplante Ehepolitik gescheitert sieht, rauscht wutentbrannt auf ihre Burg ab. Nach dieser dramatischen Szene scheint zunächst alles gut zu gehen: Die Ehe wird vollzogen, Beaflor wird schwanger, nur wird Mai dann von seinem Onkel zur militärischen Unterstützung herangezogen, er leistet Heeresfolge, und in seiner Abwesenheit wird sein Sohn geboren. Die übergroße Freude über die Geburt eines gesunden Kindes erklärt sich aus den bis dahin immer wieder unterschwellig präsent gehaltenen Befürchtungen, dass mit der angeschwemmten Braut doch nicht alles in Ordnung sein könnte, dass der Augenschein doch hätte trügen können. Diese Angst spricht der Text nur durch die negative Figur der Eliacha aus, für die Beaflor als Sexualobjekt adäquat, als Ehefrau aufgrund ihrer völlig ungeklärten Herkunft inakzeptabel ist. Die Präsenz des adligen Körpers wie auch die mit Beaflor zusammen angelandeten Schätze dienen der Möglichkeit zur Inszenierung moralischer Normen, zur spielerischen Indoktrination der Leser und Zuschauer mit der vom Werk vertretenen Bestimmung des Guten und des Bösen.“ 20 Meine Fragestellung bezieht sich damit zunächst auf ein Problem des Erzählens. In weiteren, den Rahmen dieses Beitrags sprengenden Überlegungen wird zu fragen sein, wie sich die narrative Präsenz der Intrige mit der höfischen Gesellschaft, ihrem Selbstverständnis, das sich in literarischen Texten, in Hofzuchten, in Fürstenspiegeln und ähnlichen Genres zeigt, und der klerikalen Hofkritik verrechnen lässt. 21 Ich zitiere den Roman nach der Ausgabe: Mai und Beaflor. Minneroman des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Christian Kiening/Katharina Mertens Fleury, Zürich 2008, online unter www.mediaevistik. uzh.ch/downloads/MaiundBeaflor.pdf.

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Mutter gerade nicht als Ausweis einer adligen Identität, kurz: Eliacha weiß, dass Körperverstellung möglich ist, dass das Äußere keinerlei Evidenz besitzt.22 Der weitere Verlauf wird deutlich machen, dass dieses Wissen direkt mit der Intrigenkompetenz der Mutter verbunden ist: Sie kann gegen diese Idealvorstellung anschreiben und erfinden, dass Beaflor ein Monster geboren hat. Mai sowie die Grafen folgen diesem (eben höchstens literarischen) Ideal, und sie werden zum Opfer der Intrige – und sie wären genauso Opfer einer Intrige (nur diesmal einer Beaflors), wenn die Mutter richtig liegen würde und Beaflor sich als den adligen Idealen nicht genügend herausstellen würde23. Kurz: Wer dem Ideal der Kalokagathia glaubt, ist also eher intrigenanfällig. Der abwesende Graf Mai wird durch Briefe der von ihm eingesetzten Stellvertreter, den Grafen Corneljus und Effreide und deren Gattinnen sowie von Beaflor über die Geburt eines Sohnes informiert.24 Hier wird der Text relativ ausführlich. Dies ist der Brief der Grafenehepaare: ,herre tugentriche,/wir enbiten ev innerchliche/dienst mit rehter steticheit,/des wir ev immer sein bereit,/vnd danchen eur,liber herre gut,/daz ir vns also rein gemut/enpholhen hat ein reines wip,/diu so rein ir suzzen lip/behuet vor aller missetat./so vil si reiner tugende hat,/daz si vns manige vreude geit./si churzet vns die sweren zeit./wier din ev an ir chleine,/wan si ist so reine,/ daz si vns mit ir reinem leben/chan selicheit vnd vrowde geben./got hat evch wol mit ir gewert./ ir habt an ir swes ir gert./si wenimt vns mange swere./wir enbiten iv libev mere,/dar umb gebt vns daz betenbrot:/si ist enbunden von ir not/vnd ist ein schons suns genesen/der wol mit eren mac wesen/vnser erbeherre./nahen oder verre/wart nie gesehen schoner chint,/des vreunt sich alle die hie sint.‘(V. 5099ff.) „Tugendreicher Herr, wir entbieten Euch von Herzen (unseren) vollkommen beständigen Dienst, zu dem wir Euch gegenüber immer bereit sind und danken Euch, lieber guter Herr, dass Ihr uns so reinen Herzens eine reine Frau anempfohlen habt, die ihren süßen Leib so keusch vor jedem 22

Armin Schulz hat in seiner großangelegten Untersuchung zu Erkennen und Verkennen das epische Werk Konrads von Würzburg als eine narrative Versuchsanordnung interpretiert, in der „die Möglichkeiten des visuellen Erkennens durchgespielt werden, aber auch die Schwierigkeiten, die v. a. aus der Vorstellung einer ‚Lesbarkeit der Körper‘ und entsprechend einer Evidenz personaler Eigenschaften entstehen“ (S. 355). Dies müsste man auch für den etwa zeitgleich anzusetzenden Roman von Mai und Beaflor als eine der Grundtendenzen des Textes annehmen, und das, obwohl Beaflor immer wieder als adlige Evidenz erzeugend hingestellt wird – eine Evidenz, an die sie selbst nicht glaubt. Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008 (MTU 135). 23 Dies jedenfalls, wenn diese Verstellung in einen größeren Plan, etwa dem der Zieheltern, eingebettet wäre. Dieser Verdacht aber bleibt in der Erzählung immer wieder spürbar und verfolgt Beaflor durch den Text. 24 Diese Episode ist wohl die am häufigsten analysierte des Romans. Allgemein zu den Briefen vgl. ihre Systematik bei Christine Wand-Wittkowski: Briefe im Mittelalter. Der deutschsprachige Brief als weltliche und religiöse Literatur, Herne 2000 passim, bes. S. 40f., 67f., 76–79; Matthias Meyer: Von Briefen und Zauberbüchern. Schreiben und Lesen in Mai und Beaflor und im Reinfried von Braunschweig. In: Sprache und Literatur durch das Prisma der Interkulturalität und Diachronizität. Festschrift für Anton Janko zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Marija Javor Briški, Ljubljana 2009, S.  5–48, sowie Elisabeth Martschini: Schrift und Schriftlichkeit in höfischen Erzähltexten des 13. Jahrhunderts. Diss. Wien 2012, S. 219–229 sowie S. 260–265.

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Fehltritt bewahrt hat. Sie hat so viele vollkommene Tugenden, dass sie uns viele Freuden gibt. Sie verkürzt uns die betrübliche Zeit. Wir haben mit ihr wenig Last, denn sie ist so rein, dass sie uns mit ihrer reinen Lebensführung Glückseligkeit und Freude gibt. Gott hat Euch mit ihr etwas Gutes gegönnt. Ihr habt an ihr, was immer ihr begehrt. Sie nimmt uns Beschwernis. Wir senden Euch eine freudige Botschaft, deswegen gebt uns Botenlohn: Sie hat entbunden und einen schönen Sohn geboren, der wirklich voller Ansehen unser zukünftiger Herrscher sein kann. Nah und fern gab es kein schöneres Kind, darüber freuen sich alle hier.“

Der Brief ist ein interessantes Dokument einer Art von Schattengeschichte, der Kehrseite der offen gespielten Inszenierung einer höfischen Normalität, die an die Evidenz adliger Körper glauben muss. Nicht so sehr die gute Nachricht der Geburt, sondern was sie bedeutet, dass nämlich Beaflor nicht, wie die Mutter insinuiert hat, eine vertriebene Hexe ist, bildet seinen eigentlichen Inhalt. Parallel dazu wird Beaflors Brief geschrieben – eine Ergebenheitsadresse an Mai, um folgenden Kernsatz herumgruppiert: swaz du wild an mir, daz sei./der liebe wird ich nimmer erlost (V. 5140f.; „Was immer du über mich verfügst, das geschehe. Niemals werde ich von der Liebe (zu dir) frei.“) Beide Briefe sind übrigens – der Text ist hier eindeutig – keine Autographen, die Urheber lassen sie schrei­ ben: die getriwen graven peide/hiezzen briefe schreiben (V. 5094f.; „die beiden treuen Grafen ließen Briefe schreiben“) und Div vrowe ir brif sus scriben hiez…(V. 5127; „Die Herrin ließ ihren Brief folgendermaßen schreiben“). Der Bote nimmt nun nicht den direkten Weg zu Mai (obwohl ihm das eingeschärft wurde), sondern er reitet zuerst zu Mais Mutter Eliacha. Auch wenn der Text das nicht begründet, sondern setzt, so wirkt die Handlung doch einigermaßen plausibel, reagieren doch die Grafen in ihrem Brief sehr viel mehr auf die durch die Befürchtungen der Mutter in die Welt gesetzten Ängste als auf die Geburt des Kindes. Der Umweg ist also – wenn auch nicht explizit – durch die allgemeine Stimmung am Hof begründet. In der kurzen Szene, in der der Bote um sein Botenbrot für die gute Nachricht bittet und die Mutter ihn zum Bleiben überredet, fehlt (fast schon auffällig) jeder Hinweis auf das erste Intrigenelement, die Planszene. Vielleicht kann man einen Vers darauf hin ausdeuten: Auf die Frage, ob es Mutter und Kind gut gehe, antwortet der Bote: ‚wrowe wol, des lob ich got.‘(V. 5195; „,Herrin, gut, gottlob.‘“) Im folgenden Vers kommentiert dann der Erzähler: daz was aber gar ir spot. (V. 5196; „Das war böse Ironie“). In diesem Vers könnten Notsituation (unerwünschte Geburt eines Erbfolgers), Zielphantasie (Beseitigung des Kindes) und erste Intrigenverstellung zusammenfallen; es besteht hier allerdings die Gefahr, einen Füllvers, der hauptsächlich wegen des Reimes da ist, etwas überzubelasten. Entsprechend dem Wertesystem des Textes wird die eigentliche Intrige, der Austausch der Briefe (ein klassisches Intrigenmotiv) am betrunkenen Boten, als bose list (V. 5230; „verwerflicher Trick“) bezeichnet. Am Morgen schickt Eliacha den Boten auf den Weg und nimmt ihm das Versprechen ab, auf dem Rückweg wieder bei ihr vorbeizukommen. Die Briefe aber sind ein erstaunliches Dokument einer Intrigenstimme (oder Intrigenschrift), denn sie bieten genaue Entsprechungen zu den Originalbriefen:

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,herre, wir enbiten iv,/wand wir iv willich sin getriv/vnd wanden ie iwren schaden:/wir sein mit zorn vberladen/gegen iv, daz ir ein solch wip/vns habt enpholhen, diu iur lip/gemailt hat mit vntat,/bei der man zwene pfaffen hat/begriffen an der hantat./daz was vnwert geselleschaft,/manig vnfuer hat si getan/(wie solt wir bei ir vrowde han)/vnd ist eines wolfes genesen./da pei welle wir niht lenger wesen./dar umbe tut ir swas ir wellet,/sus habt ir iuch gesellet./ez ist billich, daz im missegat,/swer solch dinch tut an rat.‘ (V. 5235ff.) „Herr, wir entbieten Euch [unsern Gruß], denn wir sind Euch gerne treu ergeben und haben immer Euch Schaden abgewendet: Wir sind voller Zorn Euch gegenüber, dass Ihr eine solche Frau uns anempfohlen habt, die Euch mit einer Missetat befleckt hat; man hat in flagranti delictu zwei Kleriker bei Ihr entdeckt. Das war eine grobe Mesalliance, viel Schlechtes hat sie getan (wie könnten wir in ihrer Nähe Freude empfinden), und sie hat einen Wolf geboren. Wir wollen nicht länger bei ihr sein. Tut deswegen, was ihr wollt, Ihr habt sie Euch selbst ausgesucht. Es ist nur recht, dass es dem misslingt, der so etwas [=eine Eheschließung] unberaten eingeht.“

Im Brief, den vermeintlich die Grafen geschrieben haben, steht nun, dass man bei Beaflor zwei Pfaffen auf handhafter Tat erwischt und dass sie in der Folge einen Wolf zur Welt gebracht habe. Beaflor nimmt in ihrem vermeintlichen Brief nun alle Schuld auf sich, erwartet ihre Strafe und bezeichnet sich als boesez wîp (vgl. V. 5262; „schlechte Frau“, ein klassischer misogyner Topos, den hier die Schwiegermutter als Selbstbezichtigung der ungeliebten Ehefrau des Sohnes verwendet). Wie die Fälschung praktisch ausgeführt wird, interessiert den Text nicht. Auffällig aber ist, dass es ‚gute Fälschungen‘ in dem Sinne sind, dass der Duktus der Argumentation, der Briefstil, jeweils beibehalten wird: In beiden Briefen ist Beaflor unterwürfig, stellt sich in die Obhut, sogar die absolute Befehlsgewalt des Mannes. Der ausgetauschte Brief der Grafen ist aber eine genaue Negativkopie des Ursprungsbriefes: Alles, was dort als implizierte Befürchtung, als Schatten (des Zweifels, um einen Filmtitel Hitchcocks zu zitieren), der bislang auf Beaflor gelegen hat und der nun durch die Geburt des Sohnes aufgehoben ist, lesbar wird, ist im untergeschobenen Brief als vermeintliche Realität ausgedrückt. Interessant sind nun die Schlussverse des untergeschobenen Grafenbriefes: Es ist billich, daz im missegat,/swer solch dinch [Eheschließung] tut an rat (V. 5251f.). Diese Verse sind nur in der Handschrift A überliefert, sie fehlen in Handschrift C – und das kann einen guten Grund haben: Sie könnten ein späterer Zusatz sein, denn sie fallen aus der Rolle in dem vermeintlichen Brief der Grafen. Der Rat der Fürsten, die zuerst ebenfalls skeptisch waren, hat sich von der Evidenz des weiblichen adligen Körpers Beaflors überzeugen lassen und schließlich für die Heirat gestimmt. Es ist einzig die Mutter, deren Rat nicht befolgt wurde, und die sich mit diesen Versen eigentlich als Verfasserin der untergeschobenen Briefe outen würde: erzähllogisch (oder zumindest intrigenlogisch) ist also die bessere Lesart, die beiden Verse zu streichen. Auf dem Rückweg wiederholt sich die Szene: Mai hatte zunächst vom Boten mündlich die positive und den Fakten entsprechende Nachricht von der Geburt eines gesunden Sohnes erhalten, aber offenkundig hat die gefälschte schriftliche größere Präsenz.25 Er 25

„Es zählt allein die schriftliche Nachricht. Die Stimme des Boten hat kein eigenes Gewicht mehr. Das externalisierte Gedächtnis hat sich aus dem Botenkörper zurückgezogen und in die Schrift ver-

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reagiert mit Blutsturz und ähnlichen Symptomen, schreibt aber einen maßvollen Brief an die Grafen, der sie auffordert, nichts zu tun, bis er wieder zurück ist. Doch der Bote kehrt wieder bei Eliacha ein, und sie tauscht auch diesen Brief aus. Es fällt auf, dass hier die Intrige weit weniger glaubhaft erzählt werden kann. Mais Brief ist, anders als die ihn von zuhause erreichenden, ein eigenhändiger Brief. Dementsprechend wäre er eigentlich schwerer zu fälschen.26 Doch spart der Text dieses Element vollständig aus. Nichts wird über das ‚Verstellen‘ der Schrift berichtet. Außerdem ist die vermeintliche Antwort Mais alles andere als ‚in character‘: Dass Beaflor und das Kind sofort getötet werden sollen, widerspricht allem, was man bislang über Mai als idealen und abwägend agierenden Herrscher gehört hat.27 Diese Überreaktion wird allerdings nicht hinterfragt.28 Auch wenn dadurch letztlich Mais Stellung als Landesherr gefährlich unterminiert wird, so wird der vermeintliche festigt.“ Horst Wenzel: Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher Nachrichtenträger. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von dems., Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 86–105, hier S. 102. Weiter spricht Wenzel vom „Briefträger“ (ebd.), zu dem der Bote geworden ist. Diese pointierten Formulierungen lassen die Frage nach dem Warum offen und beschreiben die Lage im Text, die zumindest moderne Leser befremdet. Eine Antwort ergibt sich aus der sozialen Distanz: Der Bote ist kein Adliger, kein Vertrauter Mais (oder der Grafen), sondern eindeutig von niederem Stand, wie sich auch in seiner Reaktion in der Anagnorisis-Szene zeigt. 26 Dass Schrift ein persönliches Merkmal ist, wird durch Gawans Brief im Parzival bewiesen, der eigenhändig verfasst und dessen Urheber durch Ginover an der Schrift erkannt wird. Vgl. Parzival V.  626,9–11 und V. 644,27–645,1; Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übs. von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin/New York 2003 (de Gruyter Texte). 27 Man kann das mehrfach deuten: Zum einen könnte man den Verdacht äußern, dass eine ‚Intrigenschrift‘ ein (noch) zu elaborierter Gedanke sei. Doch angesichts der Tatsache, dass „[e]ines der größten Probleme im realen Briefverkehr des Mittelalters […] Brieffälschungen“ waren, scheint mir das nicht plausibel; Wand-Wittkowski (Anm. 20), S. 40. Allerdings stellt sich das Problem der Fälschungen hauptsächlich angesichts der vielen Etappen des Verfassens im Kanzleibetrieb – und für diesen Fall wird es ja auch im Text ausführlich diskutiert. Es scheint mir hier eher der Fall vorzuliegen, dass ein so großer Sprung ins Exorbitante vorgenommen wird, dass dieser einfach nicht mehr (handlungs-)logisch zu bewältigen ist: Die Fälschungen der Mutter sind exorbitant, dass die Grafen sie glauben, ist unwahrscheinlich – kurz: Es geht hier nicht mehr um Realismen, sondern um literarische Konventionen, und da ist die Detailgenauigkeit in diesem Falle hinderlich. Vgl. auch Ernst: „Um eine bestimmte Gruppe von Briefen im höfischen Roman ranken sich Geschichten, die von Intrigen bestimmt sind und Mißbrauch des epistolaren Nachrichtenmediums indizieren.“ (S. 320), sowie: „Signifikant für die fiktionale Behandlung des epistolographischen Motivrepertoires sind in dieser Dichtung [Mai und Beaflor] die Steigerung des Motivs vom gefälschten Brief, da insgesamt drei Schreiben fingiert werden […]“ (S. 324) – und, so könnte man ergänzen, da braucht es auch eine Steigerung der Differenz zwischen Original und Fälschung. Ulrich Ernst: Formen der Schriftlichkeit im höfischen Roman des hohen und späten Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 252–369. 28 Peter Dreher hält fest, dass dies aus einer modernen Perspektive nicht zu erklären ist – moderne Leser bemerken diesen Widerspruch zwischen Mais sonstigem Verhalten und den Briefen; im Mittelalter jedoch würde die Autorität des Boten jedes Hinterfragen obsolet machen: „There appears to have been a high frequency of forged letters in the Middle Ages, yet a trusted messenger’s word gave

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Befehl doch als echt akzeptiert. Dies ist auch in der Erzählung bereits problematisch und kann nicht mehr handlungslogisch und psychologisch begründet werden, denn es erfolgt nur, weil die Betroffene, Beaflor, es akzeptiert. Damit aber stellt sie der Text (und sie sich) in eine literarische Tradition: in die der verfolgten Unschuld der christlichen Legende; sie wird zur duldenden, heiligförmigen Figur.29 Dennoch wird der Befehl Mais nur im Modus der Gegenintrige befolgt: Die Grafen sind nicht bereit, Beaflor zu töten, sondern geben sie wieder in ihrem kalfaterten Fass dem Meer anheim. Damit ist Beaflor aus der Welt Mais geschafft, aber sie ist Gott (und damit einem gnädigen Schicksal) anheim gegeben. Die Anagnorisis am Ende dieser Intrige, das Auffliegen der Intrige, ist eine der peripathetischen Passagen des Textes. Sie ist betont in Stufen erzählt. Auf diesem Stufenweg wird Ordnung wiederhergestellt, denn Mais Untertanen stehen nach der Rückkehr des Grafen kurz vor der Rebellion: In den brieflichen Befehlen, die er angeblich erteilt hat, erkennt Mai seinen eigenhändigen Brief nicht wieder. In einem nächsten Schritt werden die gefälschten Briefe der Grafen und Beaflors herbeigeholt und als Fälschungen erkannt. Im Folgenden wird der Bote in auffällig hoher Frequenz als morder, boswiht etc. beschimpft (V. 6759–66; „Mörder, Unmensch“), weist aber jede Schuld an den Fälschungen von sich  – er ist damit der klassische unfreiwillige Intrigenhelfer. Erst als er von seinem zweimaligen Aufenthalt bei Mais Mutter berichtet, ist der Sachverhalt klar und das Intrigensubjekt erkannt. Eliacha wird auch sofort als valandinne bezeichnet (V. 6779; „Teufelin“). Der Bote rechtfertigt sich mit einem auffälligen Argument: waz solt ich des getrowen/ an einer so hohen vrowen,/daz dev immer getaete/solich mort vnd vnstaete? (V. 6785ff.; „Wie hätte ich darauf kommen können, dass eine so hochadlige Dame je einen solchen Mord und einen solchen Verrat begehen könnte?“). Hier treffen deutlich die Idealität höfischer Literatur und die Realität höfischer Gesellschaft aufeinander. Der Bote (als Nichtadliger30) glaubt an das höfische Ideal der Kalokagathia: Der Adel ist schön und gut und deswegen des Mordens nicht fähig. Die Mutter aber handelt in der Welt der dynastischen Politik und der höfischen Intrige; sie geht, um ihren Willen durchzusetzen (oder zumindest um Recht zu behalten) über Leichen. Es folgen der Aufbruch nach Claremunt und die Konfrontation mit der Mutter, die zunächst jegliche Kenntnis der Briefe abstreitet: ich weiz vmb deheinen brief (V. 6875; „Ich weiß nichts von einem Brief“). Doch leugnen ist zwecklos, sie bringt die Originalbriefe, die sie aufbewahrt hat und wird schließlich letters authenticity beyond question. These facts are historically accurate and also fit perfectly into the tragic machinery of the tale.“ (S. 242). Doch auch Dreher räumt ein, dass eine solche Akzeptanz schlicht von der Geschichte gefordert wird. Das kann daran liegen, dass die ‚mittelalterliche‘ Erklärung vom modernen Leser nicht akzeptiert wird – oder daran, dass sie einfach unzureichend ist und für jegliche Rezipienten durch eine formale Erklärung gestützt werden muss. Peter Dreher: Enclosed Letters in Middle High German Narratives. Diss. UC Riverside 1979. 29 Vgl. z. B. Volker Honemann: Mai und Bêaflôr. On meaning and importance. In: Vir ingenio mirandus. Studies presented to John L. Flood. Hrsg. von William J. Jones, Göppingen 2003 (GAG 710), S. 155–171, hier S. 163. 30 Zu dem relativ hohen Anteil von nichtadligen Handelnden vgl. Honemann (Anm. 25), S. 167f., der das auf den sozialen Wandel im 13. Jahrhundert zurückführt.

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(im Affekt,versucht der Text zu suggerieren, nach der mehr als dreimaligen Lektüre der Originalbriefe durch Mai) von ihrem Sohn erschlagen31. Damit ist diese Intrige zu Ende. Ist die Intrige der Mutter der tragische Kern der Geschichte, so ist die Intrige von Beaflors Ziehvater Roboal, die den Roman abschließt, das komische Gegenstück: Sie besteht eigentlich nur in einer längeren Identitätsleugnung (was ja an sich ein klassisches Intrigenmoment ist). Beaflor gelangt auf wundersame Weise zu ihren Zieheltern zurück, Mai und seine Begleiter finden später den gleichen Weg, und ohne erkennbare handlungslogische Notwendigkeit wird nun erzählt, wie Roboal die beiden Eheleute mit Wissen Bea­flors eine kleine Weile nebeneinanderher leben lässt, bevor schließlich in einer erneuten Anagnorisis-Szene, die zur Wiedervereinigung von Mai und Beaflor (und von Rom und Griechenland) führt, der Roman endet. Mit diesem Ende wird auch die erste Intrige des Romans geschlossen, die mit der erotischen Notsituation des Vaters von Beaflor (oder mit den Einflüsterungen des Teufels) beginnt, zu einer Gegenintrige Beaflors führt,32 die schließlich, am Romanschluss, in der Abdankung des Vaters endet. Dabei stellt der Text in seiner Anfangsszene ziemlich genau den Punkt dar, in dem Beaflor beginnt, sich gegen den Vater, der sie schon zu Boden geworfen hat, zu wehren: Sie entwirft plötzlich ein Bild eines angenehmeren Ambientes, in dem später eine genussvolle Liebesvereinigung beider passieren soll – sie überrumpelt den sie überrumpelnden Vater mit einer gespielten Zustimmung.33 Darauf folgt nun eine Planszene, in der es darum geht, den gewonnenen Freiraum zu nutzen und dem Vater zu entkommen. Beaflor und ihre Zieheltern Roboal und Benigna ziehen hier zunächst nur vermeintlich an einem Strang, da Beaflor sich als Märtyrerin aussetzen lassen will, ihre Zieheltern aber ganz pragmatisch Vorsorge nicht nur für die Bootsfahrt, sondern auch für deren Ende treffen: Sie geben Beaflor Schätze mit, mit denen sie ihre Ankunft angenehmer gestalten kann.34 Mit der identischen Rückkehr Beaflors wird diese Intrige wieder aufgenommen und mit der Rückkehr Mais mit der Gegenintrige Beaflors wieder verknüpft. Vielleicht entspricht die unlogische Länge 31

vor vrouden der vrei/mer danne dristunt er si las (V. 6898f.; „Der Freudlose las sie mehr als dreimal“). Die Inszenierung im Text ist deutlich: Das mehrmalige Lesen ist als reaktionssteigernd zu werten. Die aktualisierte Erinnerung an die Briefschreiberin und deren aktueller Verlust führen zu einer Affektsteigerung. Dennoch: Es ist auch ein Moment der Retardierung im dreifachen Lesen, und mit dieser Retardierung besteht eigentlich genug Zeit, dass Mai sich aus den Affekten hätte lösen können – oder dass ihn jemand daraus hätte lösen sollen. Wenn das mitgedacht wird, dann könnte hier auch eine Kritik an Mais überzogener Reaktion und/oder am Nichteingreifen des Hofes gesehen werden. 32 Ob man das Begehren des Vaters als Auftaktintrige bezeichnen kann, ist allerdings unklar – auch, wer dann die Intrige spinnt: der Vater oder der Teufel. 33 „Beaflor conceives of a successful rescue strategy and can convince her father of the sincerity of her own words […] She finds enough strength to laugh and to pretend that she is quite relaxed and does no longer feel disturbed by her father’s attempt to rape her […]“. Albrecht Classen: Sexual Violence and Rape in the Middle Ages. A Critical Discourse in Premodern German and European Literature, Berlin 2011, S. 186 – kurz: Sie entwickelt erfolgreich eine Intrigenstimme. 34 Vgl. Albrecht Classen: Rituale des Trauerns als Sinnstiftung und ethische Transformation des eigenen Daseins im agonalen Raum der höfischen und postheroischen Welt. Zwei Fallstudien, Mai und Beaflor und Diu Klage. In: Ritual und Literatur. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, LiLi 144 (2006), S. 30–54, hier S. 40.

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der herausgezögerten Anagnorisis auch einfach nur der Vielzahl der ineinander verstrickten Intrigen. Dies ist zwar ‚nur‘ eine formale Erklärung, aber eine zufriedenstellende inhaltliche Erklärung für den überlangen Schluss hat die Forschung bislang nicht zuwege gebracht.35 Es wird also deutlich, dass nicht nur an allen dargestellten Höfen Intrigen zum Normalfall gehören (denn es sind ja nicht nur die ‚Bösen‘, sondern auch die ‚Guten‘, die intrigieren36), sondern auch, dass sich beinahe alle Ereignisse des Romans in eine Intrige einordnen oder als Folge einer Intrige beschreiben lassen.37

2. Friedrich von Schwaben oder die Normalität intriganten Handelns Der nächste Text, mit dem ich mich ausführlicher beschäftigen möchte, ist der anonym überlieferte Friedrich von Schwaben.38 Der Text hat einen relativ intrikaten Erzähleingang: Nach dem Tod des alten Herzogs von Schwaben gerät dessen jüngster Sohn auf einer Jagd in ein Abenteuer, das ihn in eine wundersame Burg führt, in der er der tagsüber in eine Hirschkuh verwandelten Angelburg begegnet. In einer langen Binnenerzählung berichtet sie von ihrem Schicksal: Sie ist ein Intrigenopfer. Hintergangen wird sie von der Person, die ihren Vater hintergeht, seiner zweiten Ehefrau Flanea, die eine außereheliche Liaison mit dem Zauberer Jeroparg führt.39 35

„Gerade gegen Ende, aber nicht nur hier, könnte man gut und gerne auf einige retardierende Elemente verzichten.“ Fritz Peter Knapp: Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273–1439. I. Halbband: Die Literatur in der Zeit der frühen Habsburger bis zum Tod Albrechts II. 1358, Graz 1999 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von Herbert Zeman Bd. 2/1), S. 339. Auch der Hinweis von Knapp, der Roman suche gezielt ein ‚Achtergewicht‘, verweist auf die formale Notwendigkeit, die Anagnorisis angesichts der komplexen Intrigenstruktur zu verlängern. 36 Vielleicht ist aber auch Roboals Schlussintrige mit der herausgezögerten Anagnorisis so etwas wie eine Intrige um ihrer selbst willen, denn eigentlich gibt es keinen intradiegetisch erkennbaren Grund dafür. Dann wäre sie so etwas wie eine Signatur, die die Intrigenstruktur des Romans am Schluss noch einmal besonders ausstellt. 37 Im Rahmen einer solchen Intrigenstruktur fällt es mir schwer, von einer Besserungs- und Entwicklungsstruktur auszugehen, wie es Classen in Anlehnung an die Doppelwegstruktur tut; vgl. Albrecht Classen: Kontinuität und Aufbruch. Innovative narrative Tendenzen in der spätmittelalterlichen deutschsprachigen Literatur; der Fall Mai und Beaflor. In: Wirkendes Wort 48 (1998), S. 324–344, hier S. 328. 38 Friedrich von Schwaben. Aus der Stuttgarter Handschrift hrsg. von Max Hermann Jellinek, Berlin 1904 (DTM 1). 39 Ich verwende hier die Namen, die die Protagonisten im Text zum Teil erst deutlich später erhalten. Es ist ein poetisches Prinzip des Friedrich von Schwaben, Personennamen erst mit großer Verspätung zu nennen. Ob das mit der Bedeutung von Intrigen für den Text korreliert, muss ich vorerst offen lassen. Es ist aber zumindest ein intrikates Erzählen. – Dieter Welz ist davon ausgegangen, dass die unterschwellige Basis dieses Konflikts die sexuelle Konkurrenz zwischen Stiefmutter und Tochter ist. Damit würde auch dem Friedrich von Schwaben eine inzestuöse Struktur zugrunde lie-

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Der Text findet für den Intrigenkomplex von Körperverstellung, Intrigenstimme und deren Auswirkungen auf das Intrigenopfer ein schönes Bild: Der Vater Angelburgs wird von Blindheit geschlagen, die die gesamte Außenwelt betrifft. Nur da, wo sich Flanea so verhält, wie sie sollte, in seinem Schloss, kann er noch sehen. Wir erfahren in diesem Bericht Angelburgs nur die Perspektive des Opfers,40 deswegen fehlt die Planszene, sie ist aber deutlich rekonstruierbar: es ist die Beseitigung der allzu genau sehenden Tochter. Das aber gelingt Flanea in einer Szene, in der ihre beiden Opfer, Vater und Tochter, gleichzeitig unfreiwillige Intrigenhelfer sind: Der Zauber, mit dem der König belegt ist, wird in einer öffentlichen Inszenierung von ihm genommen, scheinbar indem man drei Ringe von den Händen Angelburgs und ihrer beiden Begleiterinnen zieht. Dass hier die zukünftigen Opfer willig und unwissentlich mitspielen, wird im Text sehr deutlich gemacht: Ich unnd die junckfräwen mein/Begunden der hennd bietten willig sein,/Wann wir den grossen falsch nit erkantten. (V. 373ff.; „Ich und meine jungen Hofdamen zeigten bereitwillig unsere Hände vor, da wir den großen Betrug nicht bemerkten.“) Das Resultat dieser Inszenierung ist eine – durch Flanea noch vermeintlich abgemilderte – Strafe, eine Verzauberung mit hochkomplizierter Erlösungsbedingung. Als dann im Verlauf des Textes die ‚einfache‘ Variante der Erlösung zu gelingen droht, wird der Zauberer Jeropag aktiv und bringt Friedrich dazu zu versagen, so dass die zweite, noch kompliziertere Erlösungsbedingung zu erfüllen ist. Diese Intrige generiert einen Großteil der Handlung des Romans, der Bogen reicht vom Beginn der eigentlichen Handlung bis zur Heirat von Friedrich und der erlösten Angelburg. Eingebettet in diesen Bogen sind weitere Intrigen, z.  T. von geringerer Reichweite. Eine davon aber hat letztlich Auswirkungen auf den Romanschluss. Die Zwergenkönigin Jerome entführt Friedrich in einen hohlen Berg und hält ihn dort mehr oder weniger gegen seinen Willen fest.41 Friedrichs Intrige, die ihn schließlich aus dieser Gefangenschaft führt, startet, als sich aus seiner Notlage heraus (der Gefangen. Vgl. Dieter Welz: Zeit als Formkategorie und Erzählproblem im Friedrich von Schwaben. In: ZfdA 104 (1975), S. 157–169, hier S. 159. Da man auch der Beziehung der Mutter zu Mai inzestuöse Züge zugeschrieben hat, müsste man in einem späteren Schritt einmal dem Zusammenhang von Inzest und Intrige genauer nachgehen. Zum Inzest in Mai und Beaflor vgl. Danielle Buschinger: Skizzen zu Mai und Beaflor. In: Dies.: Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters, Greifswald 1995 (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 53; Wodan 53), S. 258–271, sowie Jutta Eming: Zur Theorie des Inzests. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hrsg. von Ingrid Bennewitz, Münster u. a. 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 29–48. 40 Angelburg ist das Opfer der aktuellen Intrige. Vgl. Karin Cieslik: Angelburg, Flanea und Jerome. Zur Normenvermittlung im Friedrich von Schwaben. In: Ethische und ästhetische Komponenten des sprachlichen Kunstwerks. Festschrift für Rolf Bräuer zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Jürgen Erich Schmidt, Göppingen 1999 (GAG 672), S. 21–36, hier S. 26. – Cieslik interpretiert Flanea als Negativfigur: „All ihre Bösartigkeit und ihr Intrigantentum sind lediglich auf eines ausgerichtet: Auf das Ausleben ihres Triebes.“ (S. 28). Ob man auch Angelburgs Vater als Intrigenopfer sehen muss, macht der Text nicht wirklich deutlich. Man könnte ihn auch schlicht als überlisteten Ehemann bezeichnen; Opfer aber ist er allemal. 41 Friedrich erweist sich aber zunächst als williges Objekt der Begierde Jeromes; er zeugt mit ihr ein Kind.

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genschaft im Berg) nicht nur eine Zielphantasie (die zwischendurch beinahe aufgegebene Suche nach Angelburg), sondern auch der Weg ergibt, diese zu verwirklichen. Dazu braucht es eine Vorgeschichte, in der es wieder von Hintergehern und Hintergangenen wimmelt. Friedrich streift, als Vater des ungeborenen Kindes der Zwergenkönigin, mittlerweile unbewacht durch den hohlen, aber immer noch verschlossenen Berg. Es heißt im Text ausdrücklich, dass er dabei sein wahres Ziel, einen Weg nach draußen zu finden, so gut verheimlicht, dass sich die Zwergenkönigin darum keine Sorgen macht. Dies ist die erste erfolgreiche Verstellung, die Friedrich im Rahmen dieser Intrige leistet. Bei diesen Explorationsgängen stößt er auf eine angekettete junge Frau, die ihm ihre Geschichte erzählt: Sie war eine Vertraute Jeromes, die ihrer Herrin den Rat gegeben hat, den allzu schweren magischen Stein, mit dem sich der Berg öffnen und schließen lässt, in drei Teile zu zerlegen. Jerome stimmte dem zu, doch Syrodamen, so heißt die junge Frau, ließ vier Teile schneiden und behielt einen insgeheim für sich. (Damit ist, noch ohne genauen Plan, ein Intrigenrequisit entstanden.) Mit diesem Stein wollte sie später einen drängenden, aber abgewiesenen Liebhaber Jeromes namens Tytrian in den Berg lassen. Doch der Plan fliegt auf, der offene Berg und das nahende Heer werden bemerkt und die Zwerge verteidigen sich. Der Liebhaber wird gefangen und gibt nach einer Todesdrohung den Namen seiner Komplizin preis. Syrodamen aber hatte vorher den Stein versteckt. Die Existenz des vierten Steines ist also immer noch unbekannt – und somit kann Friedrich einen Weg finden, mittels dieses Steines den Berg zu verlassen. In diesem Handlungsgeflecht hintergeht Syrodamen Jerome zwei Mal, Tytrian, der Liebhaber, hintergeht seine Geliebte ebenso wie seine Gehilfin Syrodamen; schließlich kann nun endlich der gegen seinen Willen festgesetzte Friedrich Jerome hintergehen und aus dem Berg fliehen – kurz: jeder betrügt jeden. Für den Friedrich von Schwaben aber ist ein solches Szenario nicht wirklich ungewöhnlich sondern höfisches ‚business as usual‘. Nach der erfolgreichen Rückkehrschlacht kommt es zur großen Auflösungsszene der Hauptintrige – eine Szene, die für das Publikum wenig Neues bringt, die aber die Intrigen der Flanea durch öffentliche Aufdeckung formal beendet und Angelburg rehabilitiert. Ausgelöst wird dies durch den Sieg Friedrichs über den Zauberer Jeroparg. Der hält eine große Erklärungsrede, und in ihr findet sich eine wichtige Aussage: Ich hab nun niemantz gunst:/Darumb sag ich die sach gantz,/Gar ön allen schranntz (V. 6440ff.; „Ich sitze jetzt zwischen allen Stühlen, deswegen sage ich die ganze Wahrheit ohne jegliche Auslassung“). Jeroparg ist hier deutlich weniger Intrigant, weniger Hintergeher, als aktiver Intrigenhelfer, und diese Position ist in einer Intrige eine für das Intrigensubjekt hochgefährliche – aber natürlich auch für den aktiven Intrigenhelfer selbst, der, egal wie die Intrige ausgeht, schließlich immer in einer prekären Situation landen kann.42 42

Seine Aufklärungsarbeit nützt ihm nichts: Er wird zusammen mit Flanea verbrannt (V. 6535–39). Vgl. auch Ridder (Anm. 6), S. 132, der von einer „durch Zauberei, Intrige und Ehebruch korrumpierte[n] gesellschaftliche[n] Ordnung“ spricht. „Ein Ausgleich zwischen den unterschiedlichen ethisch-moralischen und gesellschaftlich-politischen Positionen ist nicht möglich. Das Böse muß vollständig ausgerottet, das Paar verbrannt werden.“

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Es ist bekannt, dass mit dieser Anagnorisis der Roman sein Ende haben könnte – aber er findet es nicht, weil die mit der Zwergenkönigin gezeugte Tochter während der Eheschließung mit Angelburg plötzlich auftaucht.43 Anders als bei Mai und Beaflor, wo in der überlangen Anagnorisisszene in Rom alle Probleme geklärt werden können, lässt sich das Problem der zwei Ehefrauen in diesem Roman nicht parallel lösen, da es innerhalb des Wertesystems des Textes keine Möglichkeit gibt, die beiden Frauenbeziehungen zu hierarchisieren. Anders als Gahmuret, der sich auf die Religion herausreden kann, kann sich Friedrich nicht wirklich auf die vorgängige Beziehung zu Angelburg hinausreden, da er sich mit einer gewissen Freiwilligkeit der Zwergenkönigin ergeben hat.44 Um den Ansprüchen beider Frauen (und beider Handlungsstränge) zu genügen, wird die Zeit gedehnt; Angelburg stirbt und Friedrich kann die zweite und letzte Ehe mit Jerome eingehen. Im Friedrich von Schwaben ist es normal, andere zu hintergehen. Das gilt nicht nur für die großen Intrigen, sondern auch in kleineren Episoden mit geringerer Reichweite. Dieses Hintergehen hat immer egoistische Motive. Manchmal werden diese ausdrücklich beschrieben, manchmal sind sie implizit erschließbar. Das Wertesystem des Textes ist noch soweit intakt, dass sich diese Hintergehensaktionen einer Schwarz-Weiß-Zeichnung eingliedern lassen. Doch ist, das macht die durch das Auftauchen der außerehelichen Tochter gestörte Hochzeitsszene deutlich, diese Schwarz-Weiß-Moral nicht mehr durchgängig gültig: Natürlich ist Friedrich gegen seinen Willen im Berg festgehalten worden, aber zur Zeugung der Tochter konnte es nur mit seiner Zustimmung kommen; er überlegt dann auch, als er Angelburg einmal mehr nicht gefunden hat, ob er nicht lieber in den bequemen und eigentlich ganz netten Berg zurückkehren soll, wo Sexualpartnerin und Tochter auf ihn warten.45 Strukturell besteht ein Unterschied zu Mai und Beaflor: Während dort der ganze Roman durch Intrigen und Gegenintrigen strukturiert ist, so gilt das für Friedrich von Schwaben nicht im gleichen Maße. Immer wieder gibt es Episoden, in denen zwar Hin43

Über die Frage, ob es sich bei der Jerome-Handlung um eine Interpolation handelt, ist viel geschrieben worden; knapp zusammenfassend Cieslik (Anm. 36), S. 31. Plausibel sind die Argumente für die Interpolationsthese nicht. Sappler kommentiert richtig: „Allerdings fehlte einer Urfassung ohne Jerome doch sehr viel […]“ und schließlich ist die Fassung mit der Episode um die Zwergenkönigin die verbreitetste Fassung. Vgl. Paul Sappler: Friedrich von Schwaben. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von Walter Haug, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 1), S. 136–145, hier S. 143, Anm. 5. Schon Brigitte Schöning hat die Interpolationsthese überzeugend zurückgewiesen („Friedrich von Schwaben“. Aspekte des Erzählens im spätmittelalterlichen Versoman, Erlangen 1991 [Erlanger Studien 90)], bes. S. 44–48). 44 Das macht ja gerade den Unterschied zu einer vergleichbaren Episode im Demantin Bertholds von Holle aus, in der Demantin in die Gefangenschaft einer Feenkönigin gerät und in der er eine erfolgreiche Treueprobe durchläuft: Die permanente Weigerung, mit der Feenkönigin zu schlafen, bringt Demantin schließlich die erwünschte Freiheit. Zu dieser Episode vgl. Matthias Meyer: Zwischen Herrschaft und Entführung. Frauenrollen im Demantin Bertholds von Holle. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens. Hrsg. von Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 551–573, hier S. 561–563. 45 V. 4185–4204. Dies ist eine der Szenen, in denen der Text zu kippen droht: Wir haben es hier mit einem Protagonisten eines Minne- und Abenteuerromans zu tun, der sich den Gattungsgesetzlichkeiten zu widersetzen droht.

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tergehen eine Rolle spielt, die aber strukturell nicht in eine Intrige eingebunden sind. Sie sind Teil der additiven Struktur, die Friedrich bei Geldmangel immer wieder in einen neuen Dienst treibt. So wird Friedrich in einer Episode, in der er wieder einmal um Geld gedient hat, um seinen wohlverdienten Lohn gebracht (V. 4113–4182). Auch wenn der Lohn, den er schließlich erhält, ihn zu seinem gewünschten Ziel führt, so ist das doch nicht die Absicht des ihn hintergehenden Landesherrn. Hier wird Friedrich schlicht geprellt und übertölpelt, ohne dass man von einer Intrige sprechen müsste. Bei Peter von Matt wird anhand seiner Beispiele deutlich, dass ein in seinen Überlegungen wichtiges Element der Intrige das Intrigenrequisit ist. Im Friedrich von Schwaben tauchen nun (mit dem Schlüsselstein, diversen Antizauber-Ringen) Requisiten auf, die in die Intrigen und Gegenintrigen mehr oder weniger stark eingebunden sind. Es handelt sich dabei – vielleicht mit Ausnahme des Schlüsselsteins – jedoch nicht um eigentliche Intrigenrequisiten, sondern eher um Märchenrequisiten. Doch hat bereits von Matt die Nähe von Intrigenerzählungen zum Märchen betont.46

3. Wilhelm von Österreich – Versteckte Intrigen Mein letztes Beispiel stammt aus einem Roman, der vor lauter Exkursen, theoretischen Erörterungen, Klagen, Briefen und allegorischen Auftritten kaum zum Erzählen kommt, und in dem es dementsprechend kaum eine als solche auserzählte Intrige gibt, oder, genauer, in dem über die zahlreich vorhandenen Intrigen ‚hinwegdiskursiviert‘ wird. Finden sich im Friedrich von Schwaben immer wieder Sätze, die ein genaues Bewusstsein von der Intrige und ihren Mechanismen aufzeigen, so fehlen solche Sätze im Wilhelm von Österreich des Johann von Würzburg weitgehend.47 Der vom Erzähler immer wieder angeschlagene hohe allegorische Ton, die permanenten Minneklagen, Dialoge mit Frau Minne oder der Aventiure lenken von der Intrige ab.48 Und doch ist sie auch hier ein Grundelement der Handlung, es wird in einem Maße hintergangen, das eigentlich quer zum idealischen Ton der Erzählung steht: Wilhelm wird immer wieder aus gefährlichen Lagen gerettet, indem seine Gegner hintergangen werden. So rettet ihn ein gefälschter Mahomet-Brief (wieder ein klassisches Intrigenrequisit) vor der Vollstreckung des gegen ihn ergangenen Todesurteils; andererseits wird Wilhelm selbst zweimal in betrügerischer Absicht auf eine tödliche Mission geschickt; doch ist vielleicht am typischsten für den 46

von Matt (Anm. 9), bes. S. 54–65. Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich. Aus der Gothaer Handschrift hrsg. von Ernst Regel, Berlin 1906 (DTM 3). 48 Entsprechend ist die didaktische Funktion des Textes für die meisten Interpreten deutlich. Cramer (Anm. 1) weicht von dieser idealisierenden Sichtweise deutlich ab: „Die Höfe, an die Wilhelm/Ryal im Laufe seiner Abenteuer gerät, sind Zentren von Willkür und Verrat, von Machtkampf, Gewaltanwendung und Intrige.“ (S. 214) Das ist richtig – richtig und wichtig ist aber auch, dass Wilhelm hier immer fröhlich mitmischt. 47

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Umgang mit der Intrige im Text, wie Wilhelm seinen Freund und Konkurrenten Wildomis aus dem Weg schafft.49 Zweimal muss Wilhelm mögliche Gatten seiner Geliebten Aglye beseitigen; gegen den einen, Walwan, zieht er in die Schlacht. Mit von der Partie ist bereits der junge Held Wildomis, der ihm schon vom Namen her zugeordnet ist. Im ersten Auftreten reiten beide nebeneinander her, beide schön wie Engel. In der Schlacht schlägt sich Wildomis tapfer auf der Seite Wilhelms; nur wird er dann vom Vater Aglyes als Ersatz für den erschlagenen Walwan auserkoren, was ihn zum Feind von Wilhelm (und vom Erzähler) macht. Nun wird das allegorische Geschütz aufgefahren: Frau Minne und der Erzähler unterhalten sich über die Probleme, die Wildomis Wilhelm bereitet, Briefe zwischen den Liebenden werden ausgetauscht etc. Von einer Intrige ist nichts zu sehen. Doch dann wird, ohne dass man es im Austausch der immer gleichen Liebesbriefe merken würde, der Punkt des Hochzeitsfests und des damit verbundenen Turniers erreicht, in dem Wildomis im Beisein seiner Braut natürlich immer siegen möchte. Die entscheidende Szene der Hinterlist wird eingeleitet durch einen verzweifelten Erzählerausruf: Ach Got, durch din grozz kraft/laz so getan liebschaft/zergen niht, diu doch erlich ist! (V. 10205ff., „Ach Gott, lass eine solche Liebe, die doch echt ist, durch deine Almacht nicht vergehen.“) Wilhelm hat sich in einem fremden Wappenkleid mit einem dürren Baum als Zeichen in einem Gestrüpp in der Nähe der Damentribüne verborgen. Er rüstet sich mit einem vergifteten Speer aus, den er vom König Indiens erhalten hat,50 und er will nun entweder Aglye oder den Tod erjagen. Ein vergifteter Speer ist jedoch ein durchaus unritterliches Objekt. Wilhelm tritt unerkannt auf, Wildomis will natürlich gegen ihn kämpfen und wird durch den vergifteten Speer getötet. Allerdings muss nicht das Gift seine Wirkung tun, um das Ziel Wilhelms zu erreichen: Wildomis erhält bereits in der Tjost eine tödliche Wunde. Es gehört zu der an Doppelungen immer reichen Poetik des späten Minne- und Abenteuerromans, in dem kaum eine Idee schlecht genug ist, um nicht zweimal verwendet zu werden, dass das Motiv des vergifteten Speers ein zweites Mal verwendet wird: So wie Wildomis durch einen vergifteten Speer getötet wird, wird auch Wilhelm am Schluss durch einen vergifteten Speer eines versprengten Heidenkönigs, als epische Spiegelstrafe, getötet. Und auch in diesem Falle ist die Vergiftung angesichts der sowieso tödlichen Wunde eigentlich überflüssig. Man kann sich also fragen, warum dann überhaupt vergiftete Speere. Das ist natürlich einerseits eine Tristan-Referenz, und das mag als Erklärung ausreichen. Außerdem könnte man von ausgleichender poetischer Gerechtigkeit 49

Der Feldzug gegen Walwan beginnt V. 5951, der Moment, in dem Wildomis vom Gefährten zum Gegner unkodiert wird, liegt ab V. 9007; zur Struktur vgl. Ridder (Anm. 6), S. 98 sowie, mit anderen Strukturierungen und besonderer Betonung der Doppelungen und variierten Wiederholung als Strukturmerkmal Cora Dietl: Minnerede, Roman und historia. Der Wilhelm von Österreich Johanns von Würzburg, Tübingen 1999 (Hermaea N. F. 87), S. 112–122, bes. S. 113–115. 50 Die Forschung hat darüber debattiert, ob Wilhelm von der Vergiftung weiß, vgl. Ridder (Anm. 6), S. 112, der argumentiert, dass dieses Wissen wahrscheinlich, aber letztlich auch für die Bewertung als Intrige unwichtig ist. Die Spiegelung in der Sterbeszene Wilhelms legt allemal nahe, dass Wilhelm hier von der Vergiftung weiß.

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Hintergangene und Hintergeher

sprechen, wenn der Protagonist schließlich seinen eigenen unmoralischen Praktiken zum Opfer fällt. Doch ist dieser Umgang mit dem Motiv typisch für den Umgang des Textes mit Intrigen: Sie kommen vor, sie werden aber auf einen motivlichen Rest heruntergespielt: Ja, Wilhelm entwickelt einen Plan (wenn auch der Plan unter der großen Geste ‚Sterben oder Siegen‘ verdeckt wird), er versteckt sich in einem Gebüsch, er tarnt sich (Körperverstellung), er besorgt sich ein Intrigenrequisit, die vergiftete Waffe, er hat Intrigenhelfer (seine Getreuen), aber all das spielt dann wiederum kaum eine Rolle, sondern wird im großen Gestus des Erzählers, in den Anrufen an die Minne und den Klagen überspielt. Es ist aber wichtig festzuhalten, dass trotz dieser Versuche auch hier das Hintergehen eine zentrale Rolle in der Handlung spielt und dass es auch hier nicht moralisch nur den ‚Bösen‘ zugeordnet wird. Klaus Ridder hat diese Szene ausführlich vor der Folie eines (allgemeineren) Intrigenbegriffs diskutiert und kommt zu dem Schluss: „Auf eine drastische Weise hat die Intrige als Folge einer Minne ohne Kompromisse die Aventiure verdrängt.“51 Er liest diese Szene allerdings vor dem Hintergrund des Artusromanmodells, er sieht hier den Drehpunkt zwischen den zwei Romanteilen, quasi die Krise des Protagonisten. Ich schlage dagegen vor, diese Szene vor dem Hintergrund des sich entwickelnden Intrigenschemas zu lesen, das immer bestimmender für die Gattung höfischer Roman wird. Selbst die in Prolog und allegorischen Repräsentationen beschworene Idealität kann die Intrige nicht bannen, selbst die ideale Minne greift wie selbstverständlich zum intriganten Mord. * Mir ist klar, dass nicht alle Minne- und Abenteuerromane eine solche Intrigenstruktur aufweisen – bei der Guten Frau, z. B. fällt es mir schwer, sie herauszuarbeiten.52 Dennoch fällt auf, dass viele Romane dieses Genres Intrigen nicht nur akzidentell aufweisen, sondern dass ihre Grundstruktur durch den Ablauf einer oder mehrerer Intrigen nach dem von Matt’schen Modell gekennzeichnet ist. Damit aber stellt sich für mich die Frage, ob man mit dieser Struktur, die zwar immer noch sehr allgemein ist, die aber doch spezifischer die Trennungs- und Wiedervereinigungsstruktur ist, die man mit diesen Romanen in Verbindung bringt, nicht ein Merkmal greift, das eine distinkte Untergruppe dieser amorphen Gattung bestimmt. Und man greift in der Intrige – zumindest in der strukturell bedeutsamen Variante  – auch eine Differenz zum Artusroman, der solche Intrigen nur akzidentell aufweist, jedenfalls wenn man den Gralroman ausnimmt. Doch sind das im Moment nicht mehr als Verdachtsmomente. In erster Linie will ich auf das Phänomen hinweisen, dass Intrigen in den späteren Minne- und Abenteuerromanen, so ideal sie sich auch geben mögen, ubiquitär sind. Das gilt für die Gattung auf jeden Fall in gegenüber der arthurischen Idealität gesteigertem Maße. Wichtig ist mir auch, 51

Ridder (Anm. 6), S. 27. Wenn überhaupt, könnte man hier von einer Folge von Listen sprechen, die es der guten Frau ermöglichen, ihre sukzessiven Ehemänner in eine keusche Ehe zu zwingen.

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dass Intrigen nicht nur mit aus dem Typus der Volkserzählungen bekannten Requisiten durchgeführt werden, sondern dass es einen elaborierten Motivfundus an Verstellungen gibt: Intrigenstimme (Beaflors freudige Reaktion auf die väterlichen Übergriffe), Intrigenschrift (Eliachas erste Fälschungen), Körperverstellungen53 – für alles lassen sich Belege in der mittelalterlichen Intrige finden. Die Verbindung von der mittelalterlichen Intrige in die Neuzeit liegt nun gerade darin, dass sie die Intrige des höfischen Romans ist: Im 13. Jahrhundert hat sich der höfische Roman so von der Präsentation von Idealität freigeschwommen, dass er nicht mehr mit der Ausgrenzung der Intrigen in Figuren mit besonderen Lizenzen arbeiten muss, sondern dass das Hintergehen und Hintergangen-Werden zur Normalität auch der epischen Welt gehört. Damit aber ist die Grundstruktur des Artusromans vergleichsweise starr geworden. Die freiere Darstellung der Höfe im Minne- und Abenteuerroman entspricht diesen erweiterten Darstellungsmöglichkeiten des Höfischen eher.54 Die Intrige wird aus dem Bereich der Moral weitgehend herausgelöst: Allerhöchstens noch der Zweck der Intrige, wenn auch nicht im moralischen, sondern im literarischen Sinne (also: hilft’s den Guten oder den Gegnern) gibt noch einen Bewertungsmaßstab ab. Im Grunde aber wird auch das immer unwichtiger: Der höfische Roman ist mit der literarischen Etablierung der Intrige in einer höfischen Welt angekommen, die schließlich vom Hof von Angelburgs Vater bis zum Hof des Präsidenten von Walter reicht.

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Man könnte hier wieder auf Beaflors scheinbare Einwilligung oder auch auf Wilhelms Verhalten Wildomis gegenüber verweisen. Außerhalb der hier untersuchten Texte gibt es aber im Verhalten Engeltruds im Engelhard Konrads von Würzburg ein weitaus schlagenderes Beispiel. 54 Hier wäre nun wieder der Tristan in die Überlegungen einzubeziehen  – allerdings nicht so sehr, wenn ich richtig sehe, die List-Episoden nach dem Minnetrank, sondern vor allem die Episoden aus dem ersten Teil, in denen Tristan und Markes Höflinge gegeneinander intrigieren. Aber auch hier ist Tristan jemand, der eher mit Verstellungen, mit Identitätslügen etc. arbeitet als jemand, der andere Personen in seine Intrige als Intrigenhelfer involviert. Außerdem ist Tristan – anders als Ripley, der einer der Ausgangsfälle für von Matt ist – immer auch das, was er zu sein vorgibt: Er verfügt ja über all die Fähigkeiten, die Ripley nur vortäuscht.

Inzest und Emotion im Liebes- und Abenteuerroman

Nora Hagemann (Berlin)

Vorgeschichten Inzestthematik im Liebes- und Abenteuerroman

Inzest ist ein populäres Thema in jenen mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Texten, die wir heute der Gattung des Liebes- und Abenteuerromans zurechnen. In den beiden volkssprachigen Bearbeitungen des aus der Antike tradierten Apollonius-Stoffes – Heinrichs von Neustadt Versroman aus dem frühen 14. Jahrhundert und der Prosavariante von Heinrich Steinhöwel von 1471 – vergeht sich König Anthiochus nach dem Tod seiner Gattin an seiner Tochter. In dem anonym überlieferten Versroman Mai und Beaflor aus dem 13. Jahrhundert versucht Kaiser Telyon Beaflor zum Beischlaf zu nötigen. Und bei Hans von Bühel sieht sich Die Königstochter von Frankreich (um 1400) mit dem Heiratsansinnen ihres Vaters konfrontiert. Alle vier Liebes- und Abenteuerromane erzählen von einem Vater-Tochter-Inzest, der allerdings nur in den Apollonius-Romanen vollzogen, in Mai und Beaflor und der Kö­ nigstochter von Frankreich jedoch im letzten Moment durch die Flucht der Töchter verhindert wird. In allen vier Texten aber wird die Inzestthematik in einer Art Vorgeschichte behandelt: Setzt man den strukturellen Dreischritt von Zusammenkunft, Trennung und Wiedervereinigung der Liebenden als konstitutiv für die Gattung an, fällt die Inzestepisode aus der Haupthandlung heraus, wird zum bloßen ‚Vorspiel‘. Welche Rolle aber spielt sie dann im Gesamtkontext? Bleibt die Vorgeschichte der Haupthandlung äußerlich oder kommt ihr eine zentrale Funktion im Gesamtkontext zu? Dieser Frage nachzugehen ist Ziel der folgenden Untersuchung. Gegenstand sind die vier bereits genannten Liebes- und Abenteuerromane, entstanden in der Zeit zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert. Im Hintergrund der Analyse stehen gattungstheoretische Überlegungen, die in einem ersten Schritt kurz entfaltet werden, damit die Fragestellung präzisiert und vergleichend an die Texte herangetragen werden kann.

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1. Gattungsspezifische Merkmale des Liebes- und Abenteuerromans So disparat die einzelnen Untersuchungen zur Gattung des mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Liebes- und Abenteuerromans auch sein mögen, was nicht zuletzt daran sichtbar wird, dass bis heute unterschiedliche Gattungstermini fluktuieren und die gemeinten Korpora entsprechend divergieren,1 zeichnen sich in der Forschungsdiskussion doch drei Gattungskonstituenten ab: Struktur, Emotionalität und Hybridität. Michael Bachtin fasst das basale Erzählschema des Liebes- und Abenteuerromans, welcher als Gattung bei ihm den Namen ‚abenteuerlicher Prüfungsroman‘ trägt und sich auf den hellenistischen Liebesroman bezieht, in seinen Arbeiten zum Chronotopos zusammen: Ein Jüngling und ein Mädchen im heiratsfähigen Alter. Ihre Herkunft ist unbekannt, geheim­ nisumwoben […]. Sie sind von außergewöhnlicher Schönheit. Und sie sind überaus keusch. Es kommt zu einer unerwarteten Begegnung zwischen ihnen, gewöhnlich an einem Festtag. Jäh­ lings und mit einem Schlage ergreift beide ein leidenschaftliches Gefühl füreinander – unüberwindlich, schicksalshaft, wie eine unheilbare Krankheit. Aber es ist ihnen nicht vergönnt, sofort zu heiraten. Eine Ehe zwischen ihnen stößt auf retardierende Hindernisse, die die Ausführung dieses Vorsatzes hinauszögern. Die Liebenden werden getrennt, sie suchen einander, finden sich wieder, verlieren einander erneut und finden sich abermals wieder. In der Regel haben sie folgende Prüfungen und Abenteuer zu bestehen: Entführung der Braut am Vorabend der Hochzeit; fehlendes Einverständnis der Eltern […], die für die Liebenden einen anderen Bräutigam und eine andere Braut vorgesehen haben (die falschen Paare); Flucht der Verliebten, ihre Reise, Sturm auf hoher See, Schiffbruch, wundersame Rettung, Piratenüberfall, Gefangennahme und Kerker, Anschläge auf die Unschuld des Helden oder der Heldin, Bestimmung der Heldin zum Sühneopfer, Kriege, Schlachten, Verkauf in die Sklaverei, Scheintode, Verkleidungen, Wiedererkennen und Nichtwiedererkennen, vermeintlicher Verrat, Anfechtungen, die sich gegen die Keuschheit und Treue richten, falsche Verbrechensanschuldigungen, Gerichtsverhandlungen, bei denen Keuschheit und Treue der Liebenden auf die Probe gestellt werden.2 1

Werner Röcke spricht von ‚höfischen und unhöfischen Minne- und Abenteuerromanen‘; vgl. Werner Röcke: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens/Ulrich Müller, Stuttgart 1984, S. 395–423; Christian Kiening von ‚Minne- und Abenteuerromanen‘; vgl. Christian Kiening: Wer aigen mein die welt… Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher Minne- und Abenteuerromane des 14. Jahrhunderts. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposium. Hrsg. von Joachim Heinzle, Stuttgart/Weimar 1993 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 14), S. 474–494; Klaus Ridder wählt den Begriff ‚Minne- und Aventiureroman‘ als „Verlegenheitslösung“; Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minneund Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: Rein­ fried von Braunschweig  – Wilhelm von Österreich  – Friedrich von Schwaben, Berlin/New York 1998 (Q & F 12), S. 1; und Jutta Eming ‚Liebes- und Abenteuerroman‘ als „Kompromissformel“; Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebesund Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts, Berlin 2006 (Q & F 39), S. 13. 2 (Herv. i. O.) Michail M. Bachtin: Chronotopos. Übers. von Michael Dewey, Frankfurt a. M. 2008, S. 10f.

Vorgeschichten

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Obgleich sich das Erzählschema in dieser Detailtreue im Einzelfall eher selten durchgeführt findet, lässt sich aus Bachtins inhaltlicher Beschreibung ein Dreischritt aus Vereinigung, Trennung und Wiedersehen der Liebenden ableiten, der auch im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman das Handlungsschema prägt. Elementar ist daneben die aus dieser Struktur resultierende Unterscheidung zwischen der biografischen Zeit, in der Ereignisse lebensgeschichtliche Bedeutung besitzen, und der Abenteuerzeit, die sich zwischen Trennung und Wiederzusammenkunft erstreckt und Prüfungen beinhaltet, die aber, so Bachtin, keine Spuren im Leben des Helden hinterlässt.3 Inwiefern das Diktum der Spuren-Losigkeit allerdings für den mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman zu halten ist, ob also die Prüfungen tatsächlich für den Weg des Helden bedeutungslos bleiben, ist mit Hans-Jürgen Bachorski kritisch zu hinterfragen und wird in den Textanalysen zu überprüfen sein.4 Insbesondere aber lässt sich die in der Vorgeschichte behandelte Inzestthematik nicht mit dem dreigliedrigem Schema erfassen. Die Inzestepisode ist der Begegnung der Liebenden noch vorgelagert, handelt gar, im Fall der Apollonius-Bearbeitungen, von anderen Protagonisten als die Haupthandlung. Im Folgenden soll deshalb versucht werden, die Vorgeschichte in die Erzählstruktur der jeweiligen Texte zu integrieren und zu eruieren, welche Funktion sie für den Gesamtkontext besitzt. Die Kategorie der Emotionalität hat Jutta Eming in ihrer Habilitationsschrift Emo­ tion und Expression als Spezifikum der Gattung systematisch herausgearbeitet. Auf der Grundlage ihrer Ausführungen lässt sich der Analysefokus in zwei Richtungen erweitern: Zum Einen steht nun nicht mehr allein das namengebende Gefühl der ‚Liebe‘ im Zentrum der Untersuchung, sondern sie wird für andere Emotionsdarstellungen geöffnet, zum Anderen tritt neben die Achse der Liebenden eine Reihe weiterer Bindungen, die durch die Emotionalisierung als bedeutungstragende Beziehungstypen gezeigt werden, etwa zwischen Eltern und Kind oder innerhalb von Lehnsverhältnissen.5 Im Anschluss hieran kann untersucht werden, welche Beziehungstypen im Zusammenhang mit der Inzestthematik relevant werden. Drittens steht im Hintergrund meiner Analyse die Kategorie der Hybridität, wie Armin Schulz sie in seiner Poetik des Hybriden entwickelt hat. Charakteristikum der Gattung ist demnach, dass sie andere Erzähltraditionen, verschiedene literarische Motive und Schemata akkumuliert und integriert.6 Durch die Kombination unterschiedlicher Elemente kommt es zu Überlagerungen; das Sinnangebot wird heterogen und ambivalent.7 3

Bachtin (Anm. 2), S. 13–18. Vgl. Hans-Jürgen Bachorski: grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Günter Berger/Stephan Kohl, Trier 1993 (LIR 7), S. 59–86, hier S. 71ff. 5 Vgl. Eming (Anm. 1), S. 23. 6 Vgl. Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens – Partonopier und Meliur – Wilhelm von Öster­ reich – Die schöne Magelone, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161), S. 19. 7 Vgl. Schulz (Anm. 6), S. 9. 4

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Mit dieser inhaltlichen Bestimmung überschneidet sich das Konzept der Hybridität in wesentlichen Teilen mit dem der Intertextualität, wodurch es an Trennschärfe verliert. Zugleich zeigt sich im Vergleich, dass Hybridität die umfassendere und abstraktere Kategorie bereitstellt, wodurch sie einen Mehrwert für gattungsbezogene Überlegungen erhält – nicht konkrete Textpassagen und Zitate, Vorlagen und Prätexte, sondern elementare Erzählstrukturen und -schemata rücken in den Mittelpunkt der Analyse. Allein aus den vier Romanen lässt sich ein ganzes Inventar verschiedener literarischer Traditionen wie Heilsgeschichte und Heiligenlegende, Artustradition und Kreuzzugsepik ableiten; zu fragen ist also, welche Erzähllogiken sich an die Inzestthematik in ihrer jeweils spezifischen Kombination mit anderen Elementen anschließen.

2. Apollonius-Bearbeitungen Ich beginne meine Untersuchung achronologisch mit Heinrich Steinhöwels Apollonius von Tyrus aus dem 15. Jahrhundert, dem jüngsten Text im Korpus.8 Er bietet sich als Ausgangspunkt an, da die Handlung weitgehend mit der antiken Historia Apollonii Regis Tyri übereinstimmt und der Text so als Modell herangezogen werden kann, um Spezifika der mittelalterlichen Bearbeitungen vergleichend herauszuarbeiten.

a. Heinrich Steinhöwel: Apollonius von Tyrus Der Erzählung vorgelagert ist eine vorred, in der das Geschlecht des Anthiochus von Alexander dem Großen hergeleitet und seine Geschichte über mehrere Generationen entfaltet wird (vgl. S. 3–8). Vor diesem Hintergrund erscheint die Situation am Hof von Anthiochia umso prekärer: Die Frau des Königs verstirbt, ohne ihm einen Sohn geboren zu haben, nur er und seine Tochter bleiben zurück, die Herrschaftsfolge ist nicht geregelt, kein männlicher Thronfolger vorhanden. Diese Konstellation generiert unter herrschafts- und erbschaftspolitischen Gesichtspunkten implizit eine Art ‚genealogischen Zwang‘, den Ingrid Bennewitz als Entlastungsmoment gedeutet hat, da der Inzest erzähltechnisch vorbereitet, das Begehren des Vaters motiviert und somit in gewisser Weise ent-schuldigt wird.9 Vom inzestuösen Akt wird im Modus der körperlichen Gewalt erzählt: 8

Heinrich Steinhöwel: Appollonius von Tyrus. Hrsg. von Helmut Melzer/Hans-Dieter Kreuder, Hildesheim 2006 (2. Nachdruck der Ausgabe Augsburg 1471 und 1516). Im Faksimile-Druck werden keine Blattangaben angeführt, die im Folgenden im Fließtext angegebenen Seitenzahlen entsprechen eigener Zählung. 9 Vgl. Ingrid Bennewitz: ‚Mädchen ohne Hände‘. Der Vater-Tochter-Inzest in der mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Erzählliteratur. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993. Hrsg. von Kurt Gärtner/Ingrid Kasten/Frank Shaw, Tübingen 1996, S. 157–172, hier S. 161ff.

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Aines tages gieng er in die kamer einer tochter/vnd hieß alle ſeine diener vß gan/och der toch­ ter alles hofgeſind/als ob er etwas haimliches/mit ir ze reden hett. Er ward beweget von wietten­ dem raissen/der unkuenschait/das er einer tochter gewalt an legt/o kreftenklich/das ir macht/ des vatters boesen willen nit widerstan mocht/den sy zwungenlich volbringen muot. (S. 9) Eines Tages ging er in die Kammer seiner Tochter/und befahl allen seinen Diener hinaus zu gehen,/auch der Dienerschaft der Tochter,/als ob er etwas Heimliches/mit ihr zu besprechen hätte./ Er wurde getrieben von der rasenden Verlockung/der Unkeuschheit,/so dass er seiner Tochter Gewalt an tat,/auf so heftige Weise,/dass ihre Kraft dem bösen Willen des Vaters nicht widerstehen konnte,/den sie gezwungenermaßen vollbringen musste.

Nach der Tat bleibt die Tochter allein in ihrer Kammer zurück, weinend ringt sie mit Gedanken an Selbstmord, von dem ihre Dienerin sie jedoch abhalten kann (vgl. S. 9f.). Um in seinem Treiben fortfahren zu können, ersinnt Anthiochus eine List. Er stellt den Werbern um seine Tochter ein Rätsel; wer die richtige Lösung nennt, soll sie zur Frau erhalten, wer nicht, wird getötet, sein Kopf abgeschlagen und auf die Zinnen gepflockt (vgl. S. 10f.). Erst jetzt tritt Apollonius, der eigentliche Held der Geschichte, als Freier auf den Plan. Ihm gelingt es, das Rätsel zu lösen, doch der König enthält ihm die Tochter vor und schmiedet mit seinem Getreuen Taliarchus hinterrücks ein Mordkomplott (vgl. S.  13). Währenddessen gelingt Apollonius die Flucht, seine lange Irrfahrt beginnt und mit ihr wird nun endlich auch der Teil der Geschichte eingeleitet, der sich mit dem gattungsspezifischen Dreischritt erfassen lässt. In Pentapolis kommt es zur Begegnung und Heirat mit der Königstochter Cleopatra und damit zur ersten Strukturposition, der Zusammenkunft der Liebenden. Von Anthiochus und seiner Tochter ist in dieser Zeit nicht mehr die Rede, sie scheiden aus dem Erzählprozess aus, nur einmal noch wird an späterer Stelle kurz erwähnt, dass das Höllenfeuer Vater und Tochter auf dem Meer verbrannt hat (vgl. S.  32). Somit scheint die Inzestepisode für die sinntragende Struktur des Liebes- und Abenteuerromans zunächst weitgehend überflüssig, die Geschichte nimmt auch ohne die Protagonisten der Vorgeschichte ihren Lauf. Auf einer Schifffahrt gebiert Cleopatra auf hoher See eine Tochter und stirbt bei der Geburt, in einem Sarg wird sie im Meer bestattet. Nun setzt die Zeit der Trennung und der Prüfungen ein, wobei erstens, wie Bachorski konstatiert hat, das Trennungsschema auf zwei Aktanten verteilt wird: Es betrifft nicht nur die Achse der Liebenden, sondern Apollonius trennt sich auch von seiner neugeborenen Tochter,10 die er zur Erziehung in eine Stadt gibt, von der sie ihren Namen erhält, Tarsia. Zweitens wird vom männlichen Helden in dieser Zeit, der Abenteuerzeit, im Prinzip überhaupt nicht erzählt. Apollonius legt ein Gelübde ab, sich weder Haar, Bart noch Nägel zu schneiden, bis seine Tochter herangewachsen ist (vgl. S. 37), von den vierzehn Jahren aber, die er in Tyrus und Ägypten verbringt, wird nichts berichtet. Vielmehr stehen während der Prüfungsphase die Frauen im Mittelpunkt der Erzählung. Der Sarg mit Cleopatra treibt in Ephesus an Land, wo ein Arzt sie auffindet und wiederbelebt, daraufhin widmet sie sich dem Dienst als Priesterin im Tempel der Diana. Noch abenteuerlicher ge10

Vgl. Bachorksi (Anm. 4), S. 66.

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staltet sich Tarsias Weg. Als sie herangewachsen ist, entkommt sie einem Mordanschlag der Pflegeeltern, wird von Piraten entführt und an ein Bordell in Militena verkauft. Sie bewahrt dort jedoch ihre Keuschheit gegenüber den Freiern, indem sie ihnen ihre traurige Geschichte erzählt und einen jeden so zu Tränen rührt, dass er von seinem Begehren absieht. Es ist also Tarsia, die Prüfungen besteht, und es ist ihre Keuschheit, die sich zu bewähren hat, ihre Jungfräulichkeit und Tugendhaftigkeit, die es zu verteidigen gilt. Lange bevor die Liebenden wieder zueinander finden, kommt es in Militena schließlich zur Wiederbegegnung von Tarsia und Apollonius. Die Beziehungsachse, die durch das Trennungsschema hervorgehoben wird, bezieht sich primär nicht auf das Liebespaar, sondern auf Vater und Tochter. Apollonius, der Tarsia tot glaubt, bleibt allein und von Trauer gezeichnet auf dem Schiff zurück, während seine Gefolgsleute in die Stadt ziehen. Tarsia wird zu ihm geschickt, um ihn aufzuheitern, Vater und Tochter treffen zunächst unerkannt aufeinander. Für diese Szene, und das ist in der Forschungsdiskussion besonders betont worden, besitzt die in der Vorgeschichte eingeführte Inzestthematik durchaus eine zentrale, antithetische Bedeutung.11 Motivparallelen werden anzitiert, insbesondere stellt Tarsia ihrem Vater eine Reihe an Rätseln (vgl. S. 49–53), die ebenso wie das Inzesträtsel durch ihre versifizierte Form vom Haupttext abgesetzt sind. So wird die Wiedererkennungsszene in ein Spiegelverhältnis zum initialen Inzest gestellt, die Vorgeschichte dient als eine Art Folie, die zwar nicht als normativer Rahmen expliziert oder als kausaler Begründungszusammenhang in Anschlag gebracht wird, jedoch im Hintergrund wirkt. Apollonius setzt sich vom Fehlverhalten des Anthiochus dezidiert ab, er vergreift sich nicht an seiner Tochter. Tarsia, die ihre Keuschheit wiederholt und selbst gegen den unerkannten Vater verteidigt hat, wird zur Kontrastfigur zur Tochter des Anthiochus. Diese antithetische Funktion lässt sich auf das gesamte Schlusstableau erweitern und mit einer herrschaftspolitischen Perspektive verknüpfen.12 Während Anthiochus seine Tochter nicht exogam verheiratet, sondern für sich selbst beansprucht hat, gibt Apollonius Tarsia sogleich Athanagoras, dem König in Militena, zur Frau. Der Held wird am Ende rechtmäßiger Herrscher über ein gewaltig angewachsenes Herrschaftsgebiet, das durch geschickte Allianzbildungen neben Tyrus nun auch Tarsus, Anthiochia, Pentapolis und Militena umfasst. In der Schlussperspektive schließt sich der genealogische Kreis, der in der vorred aufgemacht wurde, Anthiochus, geboren aus dem Geschlecht der Seleukiden (vgl. S. 6), verheiratet mit einer Tochter des Antipatris (vgl. S. 8), markiert das Ende seines einst so mächtigen Geschlechts, vor diesem Negativbeispiel erstrahlt aber 11

Vgl. Jutta Eming: Inzestneigung und Inzestvollzug im mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerroman (Mai und Beaflor und Appollonius von Tyrus). In: Historische Inzestdiskurse. Hrsg. von Ders./ Claudia Jarzebowski/Claudia Ulbrich, Königstein im Taunus 2003, S. 21–45, hier S. 35f.; Elizabeth Archibald: Incest and the Medieval Imagination, Oxford/New York 2001, S. 93f.; Xenja von Ertzdorff: Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts in Deutschland, Darmstadt 1989, S. 56. 12 Auf die enge Verknüpfung von Inzestthematik und einem Diskurs über richtige Herrschaft im Apol­ lonius von Tyrus hat schon Eming hingewiesen, vgl. Eming (Anm. 11), S. 38.

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nun Apollonius’ weitläufiges Herrschaftsnetzwerk, als krönender Abschluss wird ihm ein Sohn geboren (vgl. S. 61). Allerdings fungiert die Vorgeschichte nicht allein als multifunktionale Negativfolie für die Haupthandlung, sondern wird darüber hinaus an mindestens zwei Stellen konkret strukturrelevant: Sie motiviert die Flucht des Apollonius, der eigentlich in Tyrus herrscht, nun aber in die Welt zieht. Die vermeintlich unverbundene Vorgeschichte ist also konstitutive Vorbedingung für die Zusammenkunft der Liebenden in der Fremde. Und sie motiviert die Trennung der Liebenden, denn erst durch den Tod von Anthiochus fällt Apollonius, der einst das Rätsel löste, die Königswürde in Anthiochia zu – und nur das ist der Grund für die Überfahrt, auf der es zum Scheintod Cleopatras kommt. Selbst der dritte Strukturschritt ließe sich gegebenenfalls, wenn auch über Umwege, mit der Inzestthematik in der Vorgeschichte verbinden. Man muss der psychoanalytischen Deutung Otto Ranks nicht folgen, dass Motive wie die Aussetzung von Mutter und Kind und die Entführung durch die Seeräuber ursprünglich auf einen unwissentlichen Inzest zwischen Tarsia und Apollonius hinführen sollten,13 sehr wohl aber können Bezüge zwischen der Inzestepisode und der Wiederzusammenkunft der Liebenden hergestellt werden: Apollonius’ Gelübde wiederholt fast wörtlich die Beschreibung der Königstochter in der Vorgeschichte, ist diese zum Zeitpunkt des Inzests gerade vff die manbaren iar (S. 9; „ins Alter der Geschlechtsreife“) gekommen, so schwört Apollonius, seine Tochter erst wieder zu sich holen, wenn sie manbar (S.  37; „geschlechtsreif“) geworden ist, was die Gefahr des Inzests zunächst heraufbeschwört. Die Wiedervereinigung der Liebenden in Ephesus wird zwar recht unvermittelt durch einen Traum motiviert (vgl. S.  57), dieser aber ist strukturell erst an der Stelle eingefügt, an der Apollonius Tarsia exogam verheiratet hat und die Möglichkeit des Inzests nachhaltig abgewendet wurde. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Inzestthematik im Apollonius von Tyrus die Haupthandlung nicht nur mittelbar, sondern auch unmittelbar tangiert, und von der Vorgeschichte ausgehend strukturbildend wirkt. Die Kategorien der Hybridität und der Emotionalität indes konnten in der Analyse kaum profiliert werden. Obgleich Grundaspekte durchaus gegeben sind, ein antiker Stoff aufgegriffen und neu erzählt wird und die Protagonisten emotional reagieren und handeln, wie ich am Beispiel der Inzestepisode und der Wiederbegegnung von Vater und Tochter in Militena en passant referiert habe, entfalten Hybridität und Emotionalität im Apollonius von Tyrus, wie noch zu zeigen sein wird, weit weniger Sinnpotential als in den im Weiteren zu analysierenden Texten.

b. Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland In der Adaption des Apollonius-Stoffes durch Heinrich von Neustadt wird der antike Stoff zur bloßen Rahmenhandlung umfunktioniert und ein umfangreicher Binnenteil inseriert, 13

Vgl. Otto Rank: Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens, Leipzig/Wien 1926, S. 349.

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der von den Abenteuern des Helden im Orient erzählt.14 Der Text ist im besten Sinne hybrid: Der hellenistische Liebes- und Reiseroman wird mit Heilsgeschichte, Artus- und Alexandertradition verknüpft, das Brautwerbungsschema in verschiedensten Ausformungen durchgespielt. Ob und inwiefern sich hieraus ein neues Sinngefüge ergibt, ist in der Forschung bis heute umstritten. Alfred Ebenbauer sieht in der Binnengeschichte Elemente des arturischen Doppelweges aufschimmern, die sich jedoch zu keinem Sinnganzen zusammenfügen,15 Burghart Wachinger negiert ein erkennbares, alle Einzelglieder verbindendes Konzept.16 Tomas Tomasek und Helmut Walther erkennen den ‚roten Faden‘ in einer heilsgeschichtlichen Konzeption des Gesamtgeschehens,17 ein Ansatz, den auch Wolfgang Achnitz verfolgt, wenn er dafür plädiert, die Binnenhandlung als Doppelweg zu verstehen, der – heilsgeschichtlich ausgedeutet – mit der Rahmenhandlung verbunden werden könne.18 Mit Blick auf die Inzestthematik hat Bennewitz konstatiert, dass der Einschub des Binnenteils deren Sinnpotential für die Haupthandlung verdrängt.19 Nicht mehr das Schicksal der weiblichen Protagonistinnen steht im Mittelpunkt, da in der Zeit der Trennung nicht ihre Prüfungen dominieren, sondern quantitativ durch die ausufernden Abenteuer des männlichen Helden marginalisiert werden. Tatsächlich lässt sich auch die im vorangegangenen Abschnitt erläuterte strukturbildende Funktion der Vorgeschichte für den Apollonius von Tyrland nur rudimentär nachzeichnen. So ist Heinrichs Apollonius der einzige unter seinen ‚Stoffbrüdern‘, der an der Braut festhält, nachdem er vom Inzest weiß; kämpferisch, nicht flüchtend macht er sich auf, um sein Recht auf die Königstochter einzufordern (vgl. V. 755–794). Der heimliche Aufbruch, so Ulrike Junk, wird zum blinden Motiv.20 Auch der zweite Strukturschritt, die Trennung der Liebenden, ist weniger deutlich durch die Vorgeschichte motiviert. Zwar bietet auch hier die Nachricht, dass Apollonius zum König in Anthiochia gewählt wurde, 14

Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland nach der Gothaer Handschrift. Hrsg. von Samuel Singer, Dublin/Zürich 1967. 15 Vgl. Alfred Ebenbauer: Der Apollonius von Tyrland des Heinrich von Neustadt und die bürgerliche Literatur im spätmittelalterlichen Wien. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050–1750). Hrsg. von Herbert Zeman, unter Mitwirkung von Fritz Peter Knapp, Graz 1986, S. 311–348, hier S. 322. 16 Vgl. Burghart Wachinger: Heinrich von Neustadt, Apollonius von Tyrland. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von Dems./Walter Haug, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 1), S. 97–115, hier S. 115. 17 Vgl. Tomas Tomasek/Helmut G. Walther: Gens consilio et scienca caret ita, ut non eos racionabiles extimem. Überlegenheitsgefühl als Grundlage politischer Konzepte und literarischer Strategien der Abendländer bei der Auseinandersetzung mit der Welt des Orients. In: Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposions des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlaß des 1000. Todesjahres der Kaiserin Theophanu. Hrsg. von Odilo Engels/Peter Schreiner, Sigmaringen 1993, S. 243–272, hier S. 264. 18 Vgl. Wolfgang Achnitz: Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im Reinfried von Braun­schweig und im Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt, Tübingen 2002 (Hermea 98), S. 243. 19 Vgl. Bennewitz (Anm. 9), S. 169. 20 Vgl. Ulrike Junk: Transformationen der Textstruktur. Historia Apollonii und Apollonius von Tyr­ land, Trier 2003 (LIR 31), S. 81.

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den Anlass für die Überfahrt, doch wird bei Heinrich allein Anthiochius, nicht aber seine Tochter vom Donner erschlagen (vgl. V. 2275–2298). Die Erb- und Herrschaftsproblematik ist somit eigentlich noch virulent, wird an dieser Stelle jedoch ausgeblendet. Der Nexus von Inzest – Tod des Anthiochius – Zufallen der Königswürde – Überfahrt und Trennung wird auf narrativer Ebene explizit blockiert, wenn es direkt im Anschluss in einem Erzählerkommentar heißt: Nu lasse wir die rede stan Und heben die abentewr an: Es ist auch noch das peste Und deß puches grund feste; Was untzher ist gelesen, Das ist ain vor red gewesen. (V. 2299–2304) Lassen wir die Geschichte nun auf sich beruhen/und beginnen mit den Abenteuern:/Das Beste kommt auch noch/und das Fundament des Buches;/was bisher erzählt wurde,/das ist eine Vorrede gewesen.

Was Heinrich in diesem Kommentar als Vorrede markiert, entspricht nicht der Zäsur zwischen der aus der antiken Vorlage tradierten Rahmen- und der von Heinrich hinzugefügten Binnenerzählung, sondern bezieht sich ganz konkret auf die Vorgeschichte in Anthiochia, die hiermit abgeschlossen und vom Fortgang der Geschichte abgekoppelt wird. Das Trennungsschema ist bei Heinrich ebenfalls gedoppelt und auf die Vater-TochterAchse ausgeweitet, durch den Einschub der Binnenhandlung bildet sie jedoch nicht mehr die primäre Beziehungsachse. So legt Apollonius zwar sein Gelübde ab (vgl. V. 2884– 2889), doch im Goldenen Tal von Crisa verliert er den Bart nach einem Bad im Jungbrunnen (vgl. V. 13003–13014) und mit ihm, so Achnitz, das Zeichen seiner kontinuierlichen Trauer.21 Auf die Rückkehr nach Tarsus, die eigentlich den dritten Strukturschritt, die Wiedervereinigung, initiiert, wird bereits im Vorfeld angespielt. Apollonius macht sich aus Crisa auf den Weg nach Tarsus, um seine Tochter zu sich zu holen (vgl. V. 13526– 13530), er gelangt jedoch nicht an sein Ziel, sondern in das Bett der Königin Palmina. Auch hier wird der Aufbruch also zum blinden Motiv, die Rückholung der Tochter verbindet nicht mehr die Strukturschritte von Trennung und Wiederzusammenkunft, der Dreischritt verliert an Stringenz. Dass die von Heinrich hinzugefügten Einschübe und Veränderungen die bei Heinrich Steinhöwel so deutlichen strukturellen Zusammenhänge und thematischen Bezüge der Haupthandlung zur Inzestepisode auflösen und überdecken, lässt sich dabei als Effekt der Hybridisierung beschreiben. Durch das Hinzufügen von Erzählelementen aus der Artus- und Alexandertradition büßt die für den Liebes- und Abenteuerroman typische Struktur an Signifikanz und Sinnpotential ein. Dennoch lässt sich auch für Heinrichs Apollonius eine Funktion der Vorgeschichte bestimmen. Christian Kiening hat vorgeschlagen, die vorliegende Erzählstruktur als eine paradigmatische zu verstehen. Die einzelnen Episoden sind nicht syntagmatisch 21

Vgl. Achnitz (Anm. 18), S. 268.

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mitein­ander verknüpft, ergeben keine kausale Folge von Ursache und Wirkung, sie stehen jedoch in einem thematischen Zusammenhang – in unterschiedlichen Varianten und Konstellationen wird ein und dasselbe erzählt, den übergeordneten Nenner der âventiu­ ren bildet das Thema der gestörten Ordnung, der Gewalt und der regellosen Sexualität innerhalb von Leitkategorien wie Minne und Tugend und Natur und Kultur.22 Diese Themenkomplexe aber werden durch die Vorgeschichte überhaupt erst eingeführt. Das bereits in der Inzestepisode angelegte Konfliktpotential wird in der Binnenhandlung, so Kiening, ins Monströse gesteigert, die Wunderwesen des Orients verbindet eine „‚artübergreifende‘ sexuelle Begierde“,23 das Thema der gestörten Sexualität durchzieht die âventiuren. Zu denken ist etwa an das riesenhafte Mischwesen Flata und ihren Sohn Kolkan, der sechshundert Jungfrauen auf seiner Burg hält und mit einer Menschenfrau ein Kind zeugt (vgl. V. 4389–4394; 4493–4502; 5535–5546). Almut Schneider hat auf die exponierte Bedeutung von Genealogie in diesem Kontext hingewiesen, Kolkans weitverzweigtes Geschlecht tierisch-menschlicher Mischwesen stellt eine intakte Genealogie dar, ist jedoch auf eine antihöfische Welt projiziert, die von Gewalt geprägt ist.24 Das Reich Galacides, in dem Flata und Kolkan wüten, kann so als „verzerrtes Abbild Anthiochias“25 verstanden werden, der Inzest als „genealogischer Kurzschluß“26 wird in der Binnenhandlung präsent gehalten. Auch der Held Apollonius selbst steht im Spannungsfeld gestörter Ordnungen. Er heiratet ein ums andere Mal, und die eingegangenen Beziehungen besitzen Berührungspunkte mit dem in der Inzestepisode eingespielten Konfliktpotential. Um nur zwei Beispiele zu geben: Der Aspekt der Tugendhaftigkeit, die Frage nach dem richtigen und dem falschen Verhalten, wird mit den Tugendproben in Crisa wieder aufgegriffen, die Apollonius bestehen muss (vgl. V. 10934–13044), um Diomenas Hand zu erhalten. Das Motiv der Genealogie wird relevant, wenn Apollonius der Königin Palmina beiliegt, deren vorrangiges Ziel es ist, einen Thronerben für die Herrschaftsnachfolge zu zeugen (vgl. V. 14153ff.). Das hybride Ineinandergreifen disparater Erzähltraditionen wirkt bis in die Schlussperspektive fort, am Ende wird ein christlich-heilsgeschichtlich konnotiertes Bild entworfen, Apollonius wird zum Zeitgenossen Christi, begegnet den Propheten Elias und Enoch und lässt sich taufen. Zugleich aber wird eine höfisch-ritterliche Bedeutungsebene profiliert, Apollonius wird zum Begründer der Tafelrunde und bewährt sich als ebenso kampfessicherer wie auch gerechter Herrscher, der  – superlativ nach dem Prinzip der 22

Vgl. Christian Kiening: Apollonius unter den Tieren. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 415–432, hier S. 417 und 421. 23 Hier S. 428. 24 Vgl. Almut Schneider: Chiffren des Selbst. Narrative Spiegelungen der Identitätsproblematik in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich und in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyr­ land, Göttingen 2004 (Palaestra 321), S. 235f. 25 Schneider (Anm. 24), S. 236. 26 Schneider (Anm. 24), S. 197.

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Steigerung – weitere 45 Jahre über seine Länder regiert und dem nicht ein, sondern gleich zehn Söhne geboren werden. Die paradigmatische Prägung des Binnenteils, so lässt sich im Umkehrschluss mit Rekurs auf Kiening zeigen, wirkt auch auf die Vorgeschichte zurück. Als Folge der Hybridisierung unterscheidet sich das Heldenbild bei Heinrich eklatant von anderen ApolloniusBearbeitungen. Schon in der Vorgeschichte wird Apollonius vom Rätsellöser zum Ritter, Abenteurer und Erlöser, zwölf Ritter begleiten ihn nach Anthiochia, in seinem Gefolge befinden sich bereits zu diesem Zeitpunkt Wunderwesen und Gestalten des Orients wie der Mohr Falech und der Zwerg Galiander (vgl. V. 425–440). Vor den Toren der Stadt wird ein Turnier abgehalten, in dem Apollonius über Taliarcus siegt, lange bevor dieser dazu bestimmt wird, ihn zu töten (vgl. V. 454–524). Und als Apollonius zum König tritt, um das Rätsel zu lösen, rufen die Fürsten aus: Ditz mainet abentewer (V. 629; „Das bedeutet Abenteuer“) und markieren damit  – auch wenn der Erzähler den Abenteuerteil erst zu einem späteren Zeitpunkt einläutet – den Auftritt des Helden am Hof als die erste âventiure, von der berichtet wird. Was hier dominiert, ist nicht die syntagmatische Verknüpfung von Ursache und Wirkung, sondern das paradigmatische Prinzip von Wiederholung und Steigerung, das Apollonius als Ritter und Reisenden, als Erlöser sowie kampfesbereiten Helden konturiert. Selbst auf den inzestuösen Akt strahlt diese Prägung motivisch ab, von ihm wird im Modus einer Kampf- und Jagdmetaphorik erzählt: Aines morgens, do es tagtt, Grosser gelust in jagt Und sein prynnunder muett An ain ding, das was nit guett. […] In die kamer er sich schwaif, Sein liebe tochter er pegraiff. Er vergaß das er ir vatter was Und ir ir muter genas. Der vatter wart seines kindes man, Das kind sein weyb: das ist ubel gethan. Sust prach er ir der keusche strigk, Die raine die verlost den sigk. (V. 229–244) Eines Morgens, als es tagte,/trieben ihn große Begierde/und sein loderndes Verlangen zu einer Sache, die nicht gut war. […] Er drängte in die Kammer,/packte seine liebe Tochter./Er vergaß, dass er ihr Vater war/und mit ihrer Mutter geschlafen hatte./Der Vater wurde zum Mann seines Kindes,/das Kind seine Frau:/das ist unrecht getan./So brach er ihr die Fessel der Keuschheit,/ die Reinheit, die verlor den Sieg.

Die Tochter spielt nicht nur mit Selbstmordgedanken wie bei Heinrich Steinhöwel, sondern ergreift fast schon kämpferisch eine Lanze und versucht sich hineinzustürzen, ihre Dienerin Pynnell kann sich gerade noch dazwischen werfen und den Selbstmord verhindern (vgl. V. 296–304).

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Bleibt die Gattungskonstituente der Emotionalität. Es lassen sich wesentliche Unterschiede zur Bearbeitung des Apollonius-Stoffes durch Heinrich Steinhöwel feststellen: Der Inzest ist zum Teil emotional motiviert und über diese Gefühle wird in Erzählerkommentaren reflektiert. So heißt es unmittelbar vor dem Inzest in einem Minne-Exkurs: Fraw Mynne, das ist unrecht tan, Ir seitt schuldig gar dar an: Ir sullet zu rechter mynne wegen, Nicht zu solher mynne stegen. Macht ir den kunig also plintt Das er so mynnet sein aigen kindt, Das ist nicht raine mynne. Ir valsche ratgebynne, Ir sult nach solher mynne streben Als die natur hatt gegeben Und Got selber gepotten hatt. Tuett solhes nit, das ist mein ratt: (Psäch, Mynne, ir sult euch sere schamen) Ir verlieset anders ewren namen. (V. 147–161) Frau Minne, das ist Unrecht getan,/daran seid ganz und gar ihr schuld:/zu rechter Liebe sollt ihr einen Weg bahnen,/nicht einen Steg zu solcher Liebe./Wenn ihr den König so blind macht,/ dass er sein eigenes Kind liebt,/ist das keine reine Liebe. Ihr falsche Ratgeberin,/ihr sollt nach jener Liebe streben,/wie die Natur sie vorgesehen/und Gott selbst sie geboten hat. Tut so etwas nicht, das ist mein Rat:/(Pfui, Minne, ihr solltet euch schämen!),/oder ihr verliert euren Namen.

Rechte und falsche Liebe werden in diesem Kommentar voneinander unterschieden und ‚Frau Minne‘ wird als umfassende Macht inszeniert, die zur Agentin des inzestuösen Begehrens avanciert. Als implizite Emotionsnormen, als adäquate emotionale Haltung zum Inzest, werden Scham und – durch das Einfügen der Interjektion Psäch – Ekel entworfen. Dieser normative Impetus steht durchaus in Kontrast zur Binnenhandlung. Ob Apollonius als Vertreter einer rechten minne gelten kann, scheint in Anbetracht der vielen Frauen, die er während seiner âventiuren heiratet und wieder verlässt, fraglich, auch die bereits erwähnten Tugendproben in Crisa besteht er nur mit einer List. Zusammenfassend und vergleichend lässt sich sagen, dass die in der antiken Überlieferung wie auch bei Heinrich Steinhöwel greifbaren strukturellen und motivischen Bezüge bei Heinrich von Neustadt durch den Einschub der Binnenhandlung aufgebrochen sind, insbesondere die dreigliedrige Struktur und mit ihr auch die Inzestthematik in der Vorgeschichte verlieren an Bedeutung. Sie erhält ihre genuine Funktion jedoch als initiale Krise und Kernkonflikt, dessen Bestandteile  – die Störung von gesellschaftlicher Ordnung, Genealogie und Brautwerbung sowie Gewalt und Willkür – paradigmatisch die Ingredienzien für die âventiure-Episoden bereitstellen.

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3. ‚Mädchen ohne Hände‘ Die beiden Liebes- und Abenteuerromane Mai und Beaflor und Die Königstochter von Frankreich erzählen im Gegensatz zum Apollonius-Stoff nicht von einem vollzogenen, sondern von einem versuchten Vater-Tochter-Inzest. Diese Konstellation des zwar heraufbeschworenen, im letzten Moment jedoch verhinderten Inzests lässt sich mit Eliza­ beth Archibald als „medieval innovation“ bezeichnen.27 Beide Romane folgen dem Schema vom ‚Mädchen ohne Hände‘, welches in den größeren Zusammenhang des Erzählkomplexes ‚Die unschuldig verleumdete und verfolgte Frau‘ gehört. Dies bringt eine gewisse Strukturaffinität mit sich. Der Verbindung der Liebenden folgt in Abwesenheit des Ehemannes eine Intrige, häufig eine Briefvertauschung, welche die Flucht der Frau nach sich zieht, ihre Leidenszeit und Prüfungen werden auserzählt, Fluchtpunkt ist die Wiederherstellung des Eheglücks.28 Die Inzestthematik begegnet zwar regelmäßig im Eingangsteil, ist jedoch nicht konstitutiv für die beiden Erzählschemata. Für Erzählungen, die dem Schema ‚Mädchen ohne Hände‘ zugeordnet werden können, ist vielmehr das Motiv der Verstümmelung signifikant, welches besonders sinnfällig im französischen Liebes- und Abenteuerroman La Manekine von Philippe de Beaumanoir gestaltet ist. Hier hackt sich die Protagonistin beide Hände ab, um dem Inzestversuch des Vaters zu entgehen, am Ende aber werden sie auf wundersame Weise wiederhergestellt. Kiening hat in diesem Zusammenhang den Begriff des ‚GenealogieMirakels‘ geprägt: Die Erzählwelt ist geprägt von einer Matrix von Genealogie und Heiligkeit, changiert zwischen Welt- und Seelenheil, und führt von der Krise, einer fragilen genealogischen Ausgangssituation, nach einer ganzen Reihe von Transformationen auf ein harmonisches Ende in Rom hin.29 Das Motiv der verlorenen und wiedergewonnenen Hand symbolisiert die Rettung, ist Objekt des Wunderbaren und Zeichen des besonderen Bezugs der Heldin zu Gott.30 Durch die hybride Mischung von Brautwerbungsschema und Heiligenlegende ergibt sich zudem, so Kiening, eine finale Erzählweise, die am glücklichen Ende orientiert ist, sichtbar gemacht am direkten Eingreifen göttlicher Instanzen.31 Auch Mai und Beaflor und Die Königstochter von Frankreich teilen diesen legendarischen Einschlag, das so sinnfällige Motiv der verlorenen Hand fehlt jedoch. Im Folgenden wird die These vertreten, dass die Systemstelle ‚Verstümmelung‘, die kausal die Abwehr des Vaters und final die mirakulöse Rettung leistet, in diesen beiden Erzählungen durch eine emotionale Reaktion der Tochter auf den Inzestversuch ersetzt ist und so einer 27

Archibald (Anm. 11), S. 147. Vgl. Elfriede Moser-Rath: Art. ‚Frau‘. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hrsg. von Kurt Ranke/Rolf Wilhelm Brednich, Berlin 1993 (5), Sp. 100–137, hier Sp. 114f. 29 Vgl. Christian Kiening: Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens, Würzburg 2009 (Philologie der Kultur 1), S. 108, 111f., 116f. 30 Vgl. Kiening (Anm. 29), S. 119. 31 Vgl. Kiening (Anm. 29), S. 108. 28

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eher kausalen Logik folgt, in der Emotionen die Funktion von Schnittstellen im Erzählsyntagma zukommt. Die Emotionalisierung ist allerdings nicht allein auf die Inzestepisode beschränkt, sondern prägt die beiden Romane insgesamt. Insbesondere für den Roman Mai und Beaflor sind ostentative Gefühlsdarstellungen charakteristisch, die ihm in der älteren Forschung das Verdikt der ‚Sentimentalität‘ eingetragen haben.32 In einer neueren Untersuchung haben Schulz und Wolfgang Walliczek unter dem programmatischen Titel Heulende Helden die spezifischen Darstellungsweisen von Emotionen in Mai und Beaflor als Folge der Hybridisierung von höfischem Roman und Legende beschrieben: Aus der Gattungsmischung resultiert die Konfrontation eigentlich unvereinbarer Epistemiken, Gesellschaftsmodelle und Konzepte von ‚Person‘ und ‚Körper‘: Die höfische Kultur ist eine Kultur der Sichtbarkeit, in der man idealerweise davon ausgehen möchte, dass es eine sichtbare, ‚lesbare‘ Korrelation zwischen dem Äußeren und dem Inneren […] gibt. Damit konfligiert aber das asketisch-legendarische Büßer-Modell, im Sinne christlicher Demut gerade den eigenen Körper aus dem Blickfeld der weltlichen Kultur und ihren Verführungen zur superbia verschwinden lassen.33

Dominieren im höfischen Register Aktivität, Schönheit und Reichtum das Heldenbild, sind in der Legende Passivität, christliche Demut und Selbsterniedrigung gefordert. Die Darstellung von Emotionen erfüllt dabei in Abhängigkeit von der jeweiligen Gattungslogik unterschiedliche narrative Funktionen, was zu Konflikten, aber auch Kompromissbildungen führt. Einen weiteren alternativen Begriff für das Schema ‚Mädchen ohne Hände‘ führt Archibald in ihrer Monographie Incest and the Medieval Imagination an: ‚Flight from the Incestuous Father‘.34 Archibald benennt damit die meines Erachtens wichtigste Funktion, die der Inzestthematik in Mai und Beaflor und der Königstochter von Frankreich zukommt, nämlich nicht nur Brennglas der genealogischen Krise, sondern auch und vor allem Katalysator für die Flucht der Protagonistinnen zu sein. Das Motiv des versuchten, aber nicht vollzogenen Inzests leistet eine Freisetzung der Tochter, die ohne männlichen Schutz in die Welt zieht. Mit Blick auf die hier zu behandelnden gattungstheoretischen Implikationen lässt sich im Anschluss die These formulieren, dass in Liebes- und Abenteuerromanen, die dem Erzählschema ‚Flight from the Incestuous Father‘ folgen, nicht nur die Flucht, sondern auch der strukturgebende Dreischritt insgesamt wesentlich stärker mit der Inzestepisode in der Vorgeschichte zusammenhängt als in den Bearbeitungen 32

Vgl. etwa Helmut de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. 1250–1350, München 1997 (Ders./Richard Newald: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 3/1), S. 94; oder auch Erwin Wendt: Sentimentales in der deutschen Epik des 13. Jahrhunderts, Borna u. a. 1930. 33 Armin Schulz/Wolfgang Walliczek: Heulende Helden. ‚Sentimentalität‘ im späthöfischen Roman am Beispiel von Mai und Beaflor. In: Abweichende Lebensläufe, poetische Ordnungen. Für Volker Hoffmann. Hrsg. von Franziska Mayer und Thomas Betz, München 2005, S. 17–48, hier S. 25f. 34 Vgl. Archibald (Anm. 11), S. 147ff.

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des Apollonius-Stoffes, da die Protagonistinnen der Inzestepisode auch Heldinnen der Haupthandlung bleiben.

a. Mai und Beaflor Mit dem Tod der Kaiserin Sabie findet sich im Eingangsteil von Mai und Beaflor die typische Ausgangskonstellation vor.35 Atypisch ist jedoch, dass die Erbproblematik nicht virulent wird, charakteristisch zudem, dass diese Episode im Gegensatz zu den Apolloni­ us-Bearbeitungen emotionalisiert wird. Der Roman ist biografisch angelegt, Kaiser und Kaiserin wünschen sich nichts sehnlicher als ein Kind. Nach der Geburt von Beaflor heißt es: nu wolde got erniwen an in maniger vreuden teil. in gab got durch ir heil einen erben wunechlich, der schone do niht was gelich, ein junckfrawelein, das nicht schóner mócht gesein. (V. 160–166) Nun wollte Gott an ihnen viel Freude erneuern./Gott gab ihnen wegen ihrer Seligkeit/einen prächtigen Erben/der an Schönheit unvergleichbar war,/ein Mädchen/das nicht schöner hätte sein können.

Beaflor ist ein gottgeschenktes Kind, ihre Geburt soll geistliches heil und weltliche vreude mehren, die Erbproblematik wird entschieden zurückgenommen. Jenseits eines genealogischen Sinnzusammenhangs wird der Inzestversuch dennoch präfiguriert, Beaflor wird von frühester Kindheit an als Minnedame inszeniert (vgl. V. 329–360, 419–432), als sie heranwächst, weigert sich Kaiser Telyon, sie zur Ehe zu versprechen (vgl. V. 368–371). Stattdessen hält er ein Fest zu ihren Ehren ab, im ganzen Land erhebt sich von vrowden ein schal (V. 377, wörtliche Wiederholung V. 390; „ein Jubel der Freude“). Das Gefühl der vreude, das hier sowohl im emotionalen als auch im höfischen Sinn zu verstehen ist, wird wiederholt hervorgehoben.36 Der Tod Sabies gerät zur Zäsur: mit ir lac vil vrouden tot (V. 507; „mit ihr starben viele Freuden“), heißt es, die vreude wird zu iamer (vgl. V. 495f.). Das ganze Land trauert, doch Beaflor steigert sich in ihrem Leid in den Exzess. Wiederholt wird sie aufgefordert, ihr Klagen zu mäßigen, schließlich wendet sie sich auf 35

Vgl. Mai und Beaflor. Minneroman des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Christian Kiening/Katharina Mertens-Fleury, Zürich 2006 (zurzeit nur online verfügbar www.mediaevistik.uzh.ch/downloads/ MaiundBeaflor.pdf, letzter Zugriff 14.08.2013), V. 485–501. 36 Rom wird als multikulturelle Metropole mit allen höfischen Vorzügen wie Musik und Unterhaltung, Frauendienst und Ritterschaft eingeführt, da was aller vrouden hort (V. 111; „da war der Schatz aller Freuden“); der Kaiser ist über die Geburt von gantzem herzen fro (V. 173; „von ganzem Herzen glücklich“), auch die fúrsten all frewten sich (V. 182; „Die Fürsten freuten sich alle“).

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Rat ihrer Pflegemutter Benigna einem frommen Leben in Andacht und Gebet zu – Bea­ flors Trauer wird zu ‚Gottesminne‘ transformiert (vgl. V.  744–750). Diese aber bildet die Voraussetzung für den Inzestversuch, denn Beaflors Nähe zu Gott ruft den Neid des Teufels hervor, der nun wiederum Kaiser Telyon Liebe zur Tochter einflüstert. Wesentlich differenzierter als bei Heinrich von Neustadt motivieren Emotionen den Inzestversuch, bilden eine Dynamik aus, die in einer aufeinander Bezug nehmenden Kette emotionaler Zustände mündet und Handlungen begründet. In einem breit auserzählten Dialog nähert sich der Vater seiner Tochter in eindeutiger Weise, Beaflor aber gelingt es mit einer List, ihn für zwei Wochen hinzuhalten. Trauer und Schmerz prägen diese Frist, autoaggressive Handlungen treten hinzu, sie reißt sich das Haar vom Kopf, verweigert Speise und Trank (vgl. V. 1079–1084; 1146ff.). Schulz und Walliczek haben Beaflor in diesem Kontext als eine „Märtyrerin der Minne“37 bezeichnet und das Bild der Heldin auf die Hybridität des Textes zurückgeführt, der höfische und geistliche Weltentwürfe integriert.38 In der Inzestepisode erzählt der Text, so Schulz und Walliczek, „gewissermaßen einen pervertierten Minneroman“,39 dessen konstitutives Erzählsyntagma, die Überführung einer illegitimen Verbindung in die Legitimität, mit falschen Rollen besetzt ist. Die Symptome, die Beaflor nach dem Inzestversuch zeigt, können in einem höfischen Sinn paradoxerweise als Minnekrankheit interpretiert werden, als Zeichen einer unerfüllten Liebe, die zudem mit dem adeligen Ideal der mâze bricht und entsprechend negativ konnotiert ist.40 Im geistlichen Sinne jedoch wird Beaflors maßloses Leiden zum Ausweis ihrer Demut und Leidensbereitschaft, sie erhält Züge einer Märtyrerin und Dulderin, das legendarische Muster stellt innerhalb eines christlichen Deutungsmodells ein positives Frauenbild bereit.41 Dem lässt sich mit Blick auf die Hybridität des Textes hinzufügen, dass auch das Gefühl der Furcht, das im Rahmen des Inzestversuchs als Emotionsnorm eingeführt und in Beaflor verkörpert wird,42 doppelt 37

Schulz/Walliczek (Anm. 33), S. 35. Schulz und Walliczek stützen sich hier vor allem auf einen intertextuellen Vergleich Beaflors mit Isolde (vgl. V. 1101–1106). 38 Vgl. Schulz/Walliczek (Anm. 33), S. 25. 39 Schulz/Walliczek (Anm. 33), S. 36. 40 Vgl. Schulz/Walliczek (Anm. 33), S. 35. 41 Vgl. Schulz/Walliczek (Anm. 33), , S. 37ff. 42 Über den Vater vermeldet ein Erzählerkommentar: nu merchet an dem verborhten,/wi gar er vner­ vorhten/sich selben schenden wolde,/des er doch nicht enscholde (V. 826–829; „Nun erkennt an dem Verdammten, wie er ohne jede Furcht sich selbst schänden wollte, was er nicht tun sollte“). Kaiser Telyon schändet mit seinem Vorhaben sich selbst, also sein Geschlecht, gerade hierin, so kann gefolgert werden, liegt sein Vergehen, das Furcht als angemessene Reaktion hervorruft. Im Gespräch mahnt ihn Beaflor: wirt man des vnpildes gewar,/so hab wir verlorn gar/bedev lob vnd ere./daz furch ich an dir sere./doch chlag ich wenic miniv lait,/wan daz ich furht diner werdicheit (V. 906–911; „Wird jemand des Unrechts gewahr, so haben wir beide Lob und Ehre verloren. Das fürchte ich sehr an dir. Doch klage ich weniger mein Leid, als dass ich um dein Ansehen fürchte“). Der Umstand, dass ihr das normativ geforderte Gefühl der Furcht zugeschrieben wird, zeigt sich auch an ihrem Körper: vor vorhten si was enblichen,/die varb ir was entwichen (V. 964f.; „Vor Furcht erblasste sie, alle Farbe wich aus ihr“).

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konnotiert ist und sowohl an der weltlichen als auch an der christlichen Ordnung ausgerichtet wird (vgl. V. 895–911). Allerdings erschöpft sich die ausführliche Darstellung von Emotionen an dieser Stelle nicht in der narrativen Funktion, Beaflor als Märtyrerin zu stilisieren, sondern weist noch darüber hinaus. Die Systemstelle ‚Verstümmelung‘, die eigentlich der Vernichtung der Schönheit und der Abwehr des Vaters dient, wird als autoaggressive, emotional aufgeladene Handlung gestaltet und folgt damit einer eher kausalen Logik. Beaflors Gefühle werden auf das Begehren des Vaters zurückgeführt, und sie leiten auf die Flucht hin. Ihre Pflegeeltern, bei denen sie seit dem Tod ihrer Mutter lebt, bemerken ihren Kummer, Bea­ flor vertraut sich ihnen an, gemeinsam planen sie die Flucht. Gerade im Stoffvergleich mit anderen Erzählungen, die dem Schema ‚Flight from the Incestuous Father‘ folgen, gewinnt die Gestaltung der Fluchtszene in Mai und Bea­ flor diesbezüglich an Kontur. Denn im Unterschied zu La Manekine, wo Joïe vom Vater verurteilt, vom Seneschall vor dem Flammentod bewahrt und auf dem Meer ausgesetzt wird,43 oder dem König von Reussen, einer Episode aus der Weltchronik von Jans Enikel, in der die Tochter in ein Fass geschlagen der See anheim gegeben wird,44 flieht Bea­ flor selbsttätig. Zwar ist sie auf Helferfiguren angewiesen, ihre Pflegeeltern heuern einen Zimmermann an, der das Schiff baut, und sie sorgen für Verpflegung und Ausstattung; auch ist das Schiff derart konstruiert, dass Beaflor auf ihm eingeschlossen ist und Hilfe bedarf, um es verlassen zu können. Es ist jedoch konkret ihr eigener Vorschlag zu fliehen. Während ihre Pflegeeltern Roboal und Benigna mit Selbstmordgedanken spielen, um dem drohenden Konflikt mit dem Kaiser zu entgehen, erdenkt Beaflor eine List und gibt genaue Anweisung, wie die Flucht zu geschehen hat, die Pflegeeltern folgen ihrem Rat. Beaflor ist nicht allein demütig und fromm, nicht passive bis naive Heldin, sondern sie ist zugleich ausgesprochen sprachmächtig. Mit rhetorischem Geschick entzieht sie sich dem Vater zunächst temporär, mit der Flucht-List auf Dauer. Wie schon im Apollonius leitet die Flucht auf die Zusammenkunft der Liebenden hin, wesentlich deutlicher jedoch generiert die in der Vorgeschichte behandelte Inzestthematik den gattungsüblichen Dreischritt. Die ersten beiden Strukturschritte, Begegnung und Trennung, korrelieren dabei mit zwei Statuswechseln, dem Übergang vom Mädchen zur Ehefrau und dem von der Ehefrau zur Mutter,45 die beide durch die Inzestthematik ein spezifisches Problempotential erhalten. Die exogame Heirat wird verhindert, da Telyon seine Tochter selbst begehrt. Anders als im Apollonius, wo dieser Zustand Status quo bleibt, ermöglicht das Motiv des verhinderten Inzests die Flucht Beaflors, die nicht wie die Tochter des Anthiochus aus dem Erzählprozess ausscheidet, sondern wichtigste Protagonistin der Handlung bleibt. In der Fremde begegnet sie einem Mann, den sie heiraten wird, wobei zweierlei bemerkenswert erscheint: Erstens liegt, darauf haben Frieder 43

Vgl. Philippe de Remi: La Manekine. Text, Translation, Commentary. Hrsg. und übers. von Irene Gnarra, New York/London 1988, V. 826–1053. 44 Vgl. Jansen Enikels Werke. Hrsg. von Philipp Strauch, Dublin/Zürich 1972, V. 26833–26863. 45 Vgl. hierzu auch Archibald (Anm. 11), die S. 159 konstatiert: „The Flight from the Incestuous Father plot can be read as an important social and personal rite de passage gone horribly wrong.“

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Schanze, Bennewitz und Kiening hingewiesen, eine Inversion bzw. feminine Variante des Brautwerbungsschemas vor, weil nicht der männliche Held auszieht, sondern die Braut selbst flieht.46 Dem lässt sich mit Ingrid Kasten hinzufügen, dass die erste Begegnung von Beaflor und Mai deutliche formale wie inhaltliche Reminiszenzen an die Inzestepisode enthält.47 So ist die Verbindung der Liebenden als Minnegespräch inszeniert, welches, ebenso wie der Inzestversuch, in Form eines Dialogs wiedergegeben wird; forderte der Vater einst zum minnespil (V. 878; „Liebesspiel“) auf, fragt Beaflor nun Mai Ir sprechet minne, was ist daz? (V. 2526; „Ihr sagt ‚Liebe‘, was ist das?;“). Zweitens stellt die Verbindung der Liebenden eine Mesalliance dar, zumindest scheinbar. Niemand weiß von Herkunft und Stand der Königstochter, was direkt aus der Inzestthematik resultiert und wiederholt thematisiert wird, am deutlichsten von Mais Mutter Eliacha, die zu einer Vertreterin des dynastischen Prinzips wird und sich gegen die Ehe mit der Unbekannten wendet.48 Zugleich handelt es sich um einen echten Rangunterschied, was im Text an keiner Stelle explizit gemacht wird und meines Wissens auch in der Forschung bisher nicht thematisiert worden ist. Beaflors Status ist eigentlich höher als Mais, sie ist Kind eines Kaisers, er bloß ein Graf. Die Verbindung bedeutet für ihn einen sozialen Aufstieg, durch die Heirat wird er am Ende zum Kaiser in Rom ernannt. Aus dem Problem der unbekannten Herkunft bezieht auch der zweite Statuswechsel, der Übergang von der Ehefrau zur Mutter, sein Konfliktpotenzial und bietet das Einfallstor für Intrige und Verleumdung. Eliacha vertauscht die frohe Botschaft über die Geburt eines Sohnes während der Abwesenheit Mais, der in Spanien gegen die Heiden kämpft, mit der Schreckensnachricht, Beaflor habe ein Wolfskind geboren (vgl. V. 5235–5247). Als der Bote vom schockierten, doch gleichwohl an seiner Gattin festhaltenden Mai zurückkehrt, vertauscht Eliacha die Briefe erneut und befiehlt, man möge Beaflor vierteilen (vgl. V. 5526–5541). Mit Hilfe der Grafen Cornelius und Effraide gelingt es dieser jedoch, mit ihrem Sohn über das Meer zu fliehen. Damit ist auch der zweite Strukturschritt, die Trennung der Liebenden, durch die Inzestepisode motiviert; das Begehren des Vaters bedingt die Flucht und macht die Lüge über die Herkunft notwendig, die unbekannte Herkunft bietet den Anlass für die Intrige. Es folgt die Phase der Prüfungen, die Abenteuerzeit. Dabei ist auffällig, dass dem männlichen Helden in dieser Zeit, ganz ähnlich wie bei Heinrich Steinhöwel, kaum 46

Vgl. Frieder Schanze: Hans von Bühel, Die Königstochter von Frankreich. Struktur, Überlieferung, Rezeption. In: Haug/Wachinger (Anm. 16), S. 233–327, hier S. 240; und im Anschluss hieran Bennewitz (Anm. 9), S. 165; sowie Kiening (Anm. 29), S. 117. Blickt man von hier noch einmal zurück auf den Apollonius, fällt auf, dass zwar der Held auszieht und in Pentapolis seine Braut findet, die Erzähllogik indes sich treffender als ‚Bräutigamwerbung‘ bezeichnen ließe, denn Cleopatra/ Lucina spielt den deutlich aktiveren Part – sie ist es, die Apollonius auswählt und mit einer Brieflist schließlich für sich gewinnt. 47 Vgl. Ingrid Kasten: Ehekonsens und Liebesheirat in Mai und Beaflor. In: Oxford German Studies 22 (1993), S. 1–20, hier S. 12. 48 Vgl. hier S. 14; sowie Jutta Eming: Zur Theorie des Inzests. In: Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hrsg. von Ingrid Bennewitz/Ingrid Kasten, Münster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1), S. 29–48, hier S. 40.

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etwas widerfährt, das als Abenteuer bezeichnet werden könnte. Die Trennungsphase ist geprägt von der Rache an der Mutter, Mai tötet sie mit einem Schwert und begibt sich danach in eine asketische Büßerhaltung. Diese ist, darauf hat Volker Mertens hingewiesen, wesentlich durch Liebe begründet, nicht der Muttermord, sondern die Trauer um die vermeintlich tote Gattin ist das Hauptmotiv.49 Das Bachtinsche Diktum von der Abenteuerzeit, die Prüfungen enthält und doch spurlos am Helden vorübergeht, ist deshalb nur schwer zu rechtfertigen. Jenseits des Festhaltens an der Ehefrau kann kaum von einer Prüfung gesprochen werden, gar von einer, die keine Spuren hinterlässt – Muttermord, Reue und Trauer um Beaflor bilden vielmehr konkret den Beweggrund für die Romreise und verknüpfen so syntagmatisch Inzestepisode und Wiedervereinigung. Das Diktum der Spuren-Losigkeit lässt sich am ehesten mit Blick auf Beaflor aufrecht erhalten, durchzieht dann jedoch den gesamten Roman. Als sie aus Rom flieht, werden ihr – wenn auch gegen ihren Willen – reiche Schätze und Kleider mitgegeben, edelste Speisen, Gold und Schmuck sowie ihre Krone (vgl. V. 1512–1548; 2094ff.). Als sie schließlich aus Griechenland fliehen muss, wird ihr Schiff durch göttliche Fügung genau da an Land getrieben, wo sie Rom einst verlassen hat. So kommentiert ihr Pflegevater Roboal, der sie sogleich auffindet: so pistu her wider chomen in dem selben gewande, in dem ich dich ouzsande. […] so stat ouch din chrone als eben vnd als schone als do, wan daz si ouf blozzem har niht ist gesetz. […] der tugentreich milter Christ ein hort aller tugent ist, der ist zu dir in schef chomen vnd hat ze gemaheln dich genomen. wie moht ez anders sin ergan? an in ez nieman hat getan. daz chindel hat er dir gegeben. (V. 7444–7467) Nun bist du wieder hergekommen/in demselben Kleid/in dem ich dich fortschickte./[…] Auch deine Krone steht/noch ebenso sicher und schön wie damals/außer dass sie nicht auf dem offenen Haar sitzt./Der gnädige wohltätige Christus, (der) die Fülle aller Tugend ist,/ist zu dir auf das Schiff gekommen/und hat dich zur Ehefrau genommen. Wie könnte es anders zugegangen sein? Außer ihm hat es niemand getan./Das Kind hat er dir geschenkt.

Obgleich der mitgeführte Sohn und die Haube offensichtlich machen, dass biografische Einschnitte erfolgt sind, deutet Roboal die Geburt als Wunder der unbefleckten Empfäng49

Vgl. Volker Mertens: Herrschaft, Buße, Liebe. Modelle adliger Identitätsstiftung in Mai und Bea­ flor. In: German Narrative Literature of the 12th and 13th Centuries. Studies presented to Roy Wisbey on his Sixty-Fifth Birthday. Hrsg. von Volker Honemann u. a., Tübingen 1994, S. 391–410, hier S. 398.

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nis. Auch als Mai im Hause Roboals zum ersten Mal wieder auf Beaflor trifft, bemerkt er in großem Kummer, dass sie seiner tot geglaubten Frau bis auf Kleid und Krone gleiche (vgl. V. 8664–8678). Beaflor bleibt, wie Werner Röcke formuliert hat, „sich selbst immer gleich“.50 Die Zeit geht, so wird es zumindest von den Protagonisten bewertet, spurlos an ihr vorüber. Ihr Status wird als statischer inszeniert, der Übergang vom Mädchen zur Ehefrau, Mutter und Herrscherin wird erzählstrategisch unterminiert. Ich möchte abschließend zeigen, dass die Inzestthematik in der Vorgeschichte über die bereits genannten Strukturelemente hinaus auch eine Pluralisierung des Trennungsschemas leistet. Neben den Liebenden existiert eine ganze Reihe weiterer Beziehungsgeflechte, die durch Emotionalisierung als bedeutsame Beziehungstypen aufscheinen, und von denen einige durch die Applikation des Trennungsschemas noch einmal besonders hervorgehoben werden. Dabei betrifft die Phase der Trennung zum Einen, ähnlich wie auch schon im Apollonius, nicht nur die Achse der Liebenden, sondern auch die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Als Mai schließlich in Rom zunächst unerkannt auf seinen Sohn Schoyfloris trifft, ist er sogleich emotional affiziert und bricht in Tränen aus (vgl. V. 8492ff.). Zum Anderen wird durch das Motiv des verhinderten Inzests das Trennungsschema auch schon an einer viel früheren Stelle aktiviert und auf die vertikale Dimension der Verwandtschaft, die Herkunftsfamilie, angewendet – lange bevor es zur Begegnung der Liebenden kommt, trennt sich Beaflor von ihrem Vater. Auch auf dieser Ebene kommt es zur Wiedervereinigung in Rom, Kaiser Telyon beichtet öffentlich vor dem Papst. Die Versöhnung mit dem Vater, der Abschluss des Trennungsschemas auf der vertikalen Ebene der Verwandtschaft, bildet dabei die Voraussetzung dafür, dass auch die Liebenden den für sie vorgesehen Status nun endlich erreichen, Herrschaft wird übergeben, der Ausgangskonflikt in der Vorgeschichte überwunden. Schließlich wird das Trennungsschema auf einen dritten Beziehungstyp angewendet, die Bindung zwischen Beaflor und ihren Pflegeeltern Roboal und Benigna. Es ist charakteristisch für die Inzestthematik in mittelalterlichen Texten, dass eine Reihe alternativer Verwandtschaftsbeziehungen durchgespielt werden. Durch den Inzest werden verwandtschaftliche Positionen frei und neu besetzt, das Konzept der Blutsverwandtschaft wird durch spirituelle Formen der Verwandtschaft ergänzt und überschrieben.51 Schulz und Walliczek haben dieses Phänomen, das ich mit dem Begriff der ‚Verwandtschaftsverschiebung‘ bezeichnen möchte, ebenfalls als Folge der Hybridisierung beschrieben. Während die feudale Kultur dem Prinzip der adeligen familia folgt, werden diese auf Blutsverwandtschaft basierenden Bezüge im christlichen Verständnis gerade aufgelöst und in eine Orientierung zu Gott hin gewendet. Die Inzestthematik in Legenden und le50

Vgl. Werner Röcke: Isolation und Vertrauen. Formen der Kommunikation und des Weltbildwandels im Creszentia- und Mai und Beaflor-Roman. In: Weltbildwandel. Selbstdeutung und Fremderfahrung im Epochenübergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Dems./Hans-Jürgen Bachorski, Trier 1995 (Skript-Oralia 71), S. 243–268, hier S. 256. 51 Zu denken ist hier etwa an das Findelkind Gregorius, der bei einem Fischer aufwächst und im Abt einen geistlichen Vater findet, oder an Judas und Albanus, die nach ihrer Aussetzung an fremden Königshäusern aufwachsen.

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gendenhaften Erzählungen problematisiert den Kern weltlicher Verwandtschaftsentwürfe und korreliert mit der in diesen Texten verbreiteten Tendenz, harmonische Ersatzfamilien im Rahmen spiritueller Verwandtschaftsentwürfe zu bilden.52 In Mai und Beaflor findet diese Verschiebung signifikanterweise bereits vor dem Inzestversuch statt und ist Folge des Todes der Mutter. Die Beziehungsachse von Pflegeeltern und Beaflor wird durch Emotionalisierung und Applikation des Trennungsschemas als eine bedeutsame gezeigt. Der Abschied erfolgt mit viel Schmerz, Trauer und Tränen, Angst und Furcht; beim Wiedersehen weinen Roboal, Benigna und Beaflor vor Liebe und Leid (vgl. V. 7286f.). Auf dieser Ebene wird das Trennungsschema als erstes abgeschlossen, Roboal wird zur treibenden Kraft bei der Wiederzusammenführung mit dem Ehemann und dem Vater (vgl. V. 8378–9346). Das Schlusstableau ist insgesamt emotional gezeichnet. Unter Tränen wird gebeichtet und wiedergefunden, Beaflor lacht zum ersten Mal seit acht Jahren (vgl. V. 8556), das höfische Gefühl der vreude hält erneut Einzug (vgl. V. 9358–9367). Weltheil und Seelenheil, die Kiening als Zielachsen des ‚Genealogie-Mirakels‘ beschrieben hat, befinden sich im Einklang.53 Was fehlt, ist die mirakulöse Heilung am Ende. Im Gegensatz zu den Inzestkindern und Muttergatten Gregorius und Albanus wird Beaflor keine Heilige und wird auch nicht mit einem finalen Wunder ausgezeichnet. Es ist jedoch auffällig, dass Beaflor von Anfang an in die Nähe Gottes gerückt wird. Sie ist gottgeschenktes Kind, wird als ausgesprochen fromm und demütig gezeichnet. Das Schema der Legende, das als hybrides Element den Roman mit prägt, gewinnt vor allem in ihr Gestalt, wird in der Zeit der Trennung aber auch an Mai manifest; in beiden Fällen erschöpft sich die Darstellung der Protagonisten aber nicht in diesem Aspekt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mai und Beaflor eine starke Tendenz zur Emotionalisierung aufzeigt, die das ganze Werk durchdringt und auch in der Inzestepisode handlungswirksam wird. Emotionen übernehmen die Funktion von Schnittstellen im Erzählsyntagma, folgen in ihren Darstellungs- und Funktionsweisen aufgrund der Hybridisierung jedoch zum Teil unterschiedlichen Logiken. Stärker als im Apollonius begründet die Inzestthematik mit der Flucht die Zusammenkunft, als Ursache für die verschwiegene Herkunft die Trennung und als Grund für die Bußwilligkeit der Könige auch die Wiederzusammenkunft der Liebenden. Das Trennungsschema wird pluralisiert und auf die Beziehungsachsen Vater-Sohn, Vater-Tochter sowie die Pflegeeltern ausgeweitet, die allesamt als emotionalisierte Beziehungstypen aufscheinen.

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Vgl. Schulz/Walliczek (Anm. 33), S. 30. Vgl. Kiening (Anm. 29), S. 125.

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b. Hans von Bühel: Königstochter von Frankreich Die Königstochter von Frankreich54 setzt ebenfalls mit dem Tod der Königin ein, wiederum wird die Episode emotionalisiert, diesmal aber ist es der König, der maßlos trauert, nach zwei Jahren ist seine Trauer noch genauso ausgeprägt wie zu Beginn (vgl. V. 44f., 59–64). Seine Fürsten drängen ihn, erneut zu heiraten, damit ihm ein Thronfolger geboren wird, das Problem weiblicher Herrschaft wird explizit angesprochen (vgl. V. 102– 109). Der König indes möchte nur eine Frau heiraten, die seiner ersten Gattin gleicht (vgl. V. 137–141). Boten werden ins ganze Land gesandt und fertigen Bildnisse potentieller Kandidatinnen an, die dem König in einer Art ästhetisierter und entkörperlichter Brautschau-Galerie präsentiert werden (vgl. V. 149–170). Doch seine Wahl ist erzähltechnisch bereits vorbereitet, vorzügliches Prädikat seiner Tochter ist, der Mutter wie ein Ebenbild zu gleichen, tragen beide ein Kleid, sind sie nicht auseinanderzuhalten (vgl. V. 13–18). Die Fürsten wehren den Wunsch des Königs ab, die eigene Tochter zu heiraten, willigen jedoch schließlich ein, als er ihnen mit drastischen Strafen droht (vgl. V. 191–256). Der Inzestversuch ist im Modus der Eheanbahnung gestaltet, was Anknüpfungspunkte zu den zeitgenössischen Inzestverboten bietet, die sich in erster Linie als institutionelle, von der Kirche errichtete Ehehindernisse beschreiben lassen.55 Als die Königstochter vom Heiratswunsch des Vaters erfährt, zieht sie sich in ihre Kammer zurück: Vnd als sie weinte so cleglich, In dem bedachte sie sich Als die stat lag an dem möre. Sie gedacht, ee das du dein ere Verlürest also lasterlich, Du wilt vil ee doch wagen dich In ein gar cleines schiffelin Vff dem wilden möre da hin. (V. 277–284) 54

Hans von Bühel: Des Büheler’s Königstochter von Frankreich. Mit Erzählungen ähnlichen Inhalts. Hrsg. von J. F. L. Theodor Merzdorf, Oldenburg 1867. 55 Mit dem IV. Laterankonzil 1215 waren die betroffenen Verwandtschaftsgrade zwar reduziert worden, schlossen jedoch noch immer eine Eheschließung zwischen Blutsverwandten sowie zwischen Verschwägerten bis zum 4. Grad aus, vgl. Dekrete der ökumenischen Konzilien. Konzilien des Mittelalters. Vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517). Hrsg. und übers. von Josef Wohlmuth, Paderborn u. a. 2000 (Conciliorum oecumenicorum decreta/Dekrete der ökumenischen Konzilien 2), S. 257f. Sie umfassten daneben weiterhin das spezifisch christliche Kon­ zept der geistlichen Verwandtschaft, das sexuelle Kontakte innerhalb der Patenschaft sowie mit und zwischen Nonnen und Mönchen verbot. Das Motiv des päpstlichen Dispenses, der durch Geschenke und Gaben korrumpierten Einwilligung des Papstes in die Eheschließung, wie er beispielsweise im König von Reussen begegnet, wird an dieser Stelle allerdings ausgespart, Theodor Merzdorff hat deshalb stoffgeschichtlich Mai und Beaflor und Die Königstochter von Frankreich einer ‚deutschen Gruppe‘ zugeordnet, da nicht nur das Motiv der Verstümmelung, sondern auch der päpstliche Dispens fehlt; vgl. J. F. L. Theodor Merzdorf: Einleitung. In: Ders. (wie Anm. 54), S. 13f.

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Und während sie so schmerzlich weinte,/besann sie sich darauf/dass die Stadt am Meer liegt./ Sie überlegte, bevor du dein Ansehen/auf so lasterhafte Weise verlierst,/willst du doch dich eher wagen/ in ein kleines Schiffchen/auf das wilde Meer hin.

Die Inzestepisode ist ebenso wie in Mai und Beaflor (wenn auch weniger ausgeprägt) emotionalisiert, die Systemstelle ‚Verstümmelung‘ durch eine gefühlsmäßige Reaktion ersetzt. Abweichend wird nicht Furcht, sondern Scham als Emotionsnorm entworfen (vgl. V. 303ff.; 488–501). Was im Vergleich jedoch am deutlichsten auffällt, ist die Selbstständigkeit der Königstochter: Allein und ohne Hilfe plant und führt sie die Flucht durch. Die Königstochter von Frankreich teilt wesentliche Struktur- und Motivmomente mit Mai und Beaflor. Die Flucht leitet auf die Begegnung mit dem Geliebten hin, die Verbindung der Liebenden ist im Modus der Eheanbahnung gestaltet und lässt sich somit ebenfalls thematisch und motivisch auf die Inzestepisode zurückbeziehen. Der König von England möchte die Königstochter zunächst zur Geliebten; als diese sich vehement weigert, ist seine Liebe bereits so groß, dass Symptome der Minnekrankheit ihn quälen und er ihr die Ehe anträgt (vgl. V. 867–1211). Dieser versucht sich die Königstochter zunächst zu entziehen,56 indem sie insbesondere auf das Problem ihrer Herkunft, die sie verschweigt, und das hieraus resultierende herrschaftspolitische Konfliktpotential verweist (vgl. V. 1045–1049, 1105–1112). Die Schwiegermutter als Vertreterin des feudaldynastischen Prinzips wird erst bei der Briefvertauschung eingeführt, die Intrige gegen die eheliche Verbindung jedoch ebenso mit dem Problem der unbekannten Herkunft begründet (vgl. V. 1636–1641). Während der König von England gegen die Schotten kämpft, erhält er einen gefälschten Brief mit der Nachricht, ihm sei ein Kind der Teufelskunst geboren, oben Mensch, unten Tier (vgl. V. 1711–1731). Er bricht in große Klagen aus, hält jedoch an seiner Ehefrau fest. In einer zweiten Briefvertauschung ordnet die Schwiegermutter Tod durch Verbrennen an, die Königstochter muss mit ihrem Sohn fliehen. Die Trennung der Liebenden ist also auch hier über das mit der Inzestepisode zusammenhängende Motiv der unbekannten Herkunft motiviert. Analoges gilt für die Wiederzusammenkunft. Die Racheepisode wird über 653 Verse narrativ entfaltet und ist damit fast doppelt so lang wie in Mai und Beaflor. Der König von England belagert die Burg seiner Mutter zwei Jahre mit einer ganzen Streitmacht und lässt sie öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Die Trauer um seine vermeintlich verlorene Gattin prägt weitere zwei Jahre, schließlich wird auch seine Trauer in Gottesliebe übersetzt, der König lässt Kirchen bauen und Almosen geben und lebt ein gottgefälliges Leben. Die Liebe zu Gott wiederum motiviert die Wiederzusammenkunft. Aus Furcht, wegen des Muttermordes Gottes Zorn auf sich zu ziehen, drängt es den König von England nach Rom (vgl. V. 4863–4876). Auch der König von Frankreich zieht mit großem Gefolge nach Rom, Movens für Beichte und Buße ist allerdings nicht der Inzestversuch, sondern der vermeintliche Tod der Tochter, an dem er sich schuldig sieht (vgl. V. 4843–4862). Weitere Gemeinsamkeiten bestehen in der Emotionalisierung zentraler Szenen und Protagonistenkonstellationen, die zwar weniger ausgeprägt ist als 56

Vgl. hierzu auch Bennewitz (Anm. 9), S. 166f.

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in Mai und Beaflor, doch ebenso Handlung begründet und motiviert. Das Trennungsschema wird auch hier auf die Vater-Tochter-Ebene projiziert, in der Phase der Prüfungen wird daneben die Vater-Sohn-Achse relevant. Ebenso widerfährt der Heldin ähnlich wie Beaflor zwar kein Wunder, sie trägt jedoch heiligenmäßige Züge und wird wiederholt als Engel und Heilige bezeichnet,57 Kiening erkennt in ihr die „Idealfigur eines tätigen Christentums“.58 In drei Punkten aber unterscheiden sich die beiden Erzählungen gravierend: dem Weg der Heldin, dem Umfang und der Struktur der ‚Verwandtschaftsverschiebungen‘ sowie der Schlussperspektive. Ganz anders als bei der sich selbst gleich bleibenden Beaflor, die, so Röcke, nicht in Isolation gerät und keine Entwicklung durchmacht,59 lässt sich der Weg der Königstochter durchaus als abenteuerlich bezeichnen. Schon die erste Überfahrt wird mit einiger Drastik geschildert: Stürme ziehen auf, die Königstochter wird auf dem Schiff hin und her geworfen, fällt in Ohnmacht, kann kaum ein Wort sprechen  – so treibt sie länger als ein Jahr auf dem Meer, bis auch noch der Hunger zu ihrer Not tritt. Die Landschaft, an dessen Ufer Gott sie nun endlich spült, ist karg und zerklüftet, der Pfad, den sie einschlägt, schmal und dornig, und es heißt ebenso wie bei der Flucht vor dem Vater explizit, sie wolle wagen (V. 381; „wagen, sich trauen“), ihm zu folgen. Sie gelangt zu einem Bauernhaus und bietet den Bauern an, niedere Arbeiten wie Vieh-Hüten zu übernehmen. Über ihre Herkunft lügt sie: Eins armen mannes kind ich bin, Ich tranck in einem jar nie wyn, Ich mag auch wol hunger lyden Vnd den wyn vast wol vermyden. (V. 455–458) Ich bin das Kind eines armen Mannes,/in einem Jahr trank ich nie Wein,/ich kann auch gern Hunger ertragen/und auf Wein sehr gern verzichten.

Aus Seidenfäden spinnt sie kleine Beutelchen, welche die Bäuerin auf dem Markt verkauft. Die Frau eines Marschalls und dann auch er selbst sind so davon angetan, dass sie das Mädchen zu sich in ihr Haus holen. Movens ist weder Mitleid noch Schutzbedürftigkeit, sondern die Kunstfertigkeit der Königstochter. Ihr Weg wird als einer des Wiederaufstiegs gezeichnet, der als Magd bei Bauern weit unter ihrem eigentlichen Stand beginnt, eine Zwischenstufe im Haus des Marschalls erreicht und einen vorläufigen Schlusspunkt findet, als sie die Frau des Königs von England wird. 57

Die Bäuerin ruft aus: Ich gloub sie sy von hymel kummen (V. 691; „Ich glaube, sie ist vom Himmel gekommen“); der König von England stimmt ein Sie ist einem engel glych (V. 876; „Sie ist einem Engel gleich“); der römische Bürger, der die Königstochter bei sich aufnimmt, stellt dem Papst gegenüber fest: Ich gloub das hübscher mensch nit sy/Vnd auch nit heiliger daby (V. 4653f.; „Ich glaube, dass es keinen schöneren Menschen gibt,/und auch keinen heiligeren dazu“); und schließlich bestätigt selbst der Papst: Ich gloube das sie heilig sey (V. 5758; „Ich glaube, sie ist heilig“). 58 Kiening (Anm. 29), S. 126. 59 Vgl. Röcke (Anm. 50), S. 256.

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Nach der Verleumdung durch die Schwiegermutter werden an ihrer und ihres Sohnes statt ein Rind und ein Kalb auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Es kommt zu einem cross-dressing, als Knecht verkleidet und mit einer Armbrust über der Schulter flüchtet die Königstochter aus der Stadt auf das Meer. Es folgt eine ‚Robinsonade avant la lettre‘, gestrandet auf einer einsamen Insel ernährt sie sich und ihren Sohn sechs Jahre von Vorräten, Kräutern und Wurzeln, erst als diese sich dem Ende zuneigen, zieht sie weiter nach Rom, wo sie sich wiederum als Magd mit niederen Arbeiten bei einem römischen Bürger verdingt. Diese Phasen weiblicher Selbstbehauptung, so Kiening, lassen das Sinnangebot des ‚Genealogie-Mirakels‘ brüchig werden, der göttliche Einfluss verschwindet nicht ganz, tritt aber deutlich zurück, ist mehr Hilfe und Beistand als aktives Lenken und Eingreifen.60 Dies ist meines Erachtens darauf zurückzuführen, dass in der Königstochter von Frankreich im Unterschied zu Mai und Beaflor ein drittes struktur- und sinngebendes Muster narrativ verarbeitet wird. Schanze hat darauf hingewiesen, dass die beiden Teile der Handlung „weitgehend parallel angelegt und kontrastiv aufeinander bezogen sind“.61 Nach dem ersten Durchlauf ist der erreichte Zustand noch belastet von der Krise, im zweiten Teil aber wird durch Steigerung und Intensivierung ein Zustand erreicht, in dem alle Hinderungsgründe beseitigt sind. Schanze diskutiert diese Aspekte eher beiläufig unter dem Begriff des Brautwerbungsschemas in einer Fußnote, mit Blick auf die Kategorie der Hybridität lässt sich aber durchaus die These vertreten, dass hier jene Strukturen und Sinnbildungsprozesse relevant werden, die Hugo Kuhn und Walter Haug unter den Begriffen des Doppelweges und der Symbolstruktur diskutiert haben.62 Zwar fehlt der konstitutive Bezug zum Artushof, auch findet kein männlicher Held ritterliche Bewährung, doch ähnlich wie auch für Hartmanns von Aue Gregorius ein Zwei-Wege-Schema63 respektive ein religiös gewendeter doppelter Kursus64 beschrieben worden ist, sind auch für die Königstochter von Frankreich strukturelle Analogien deutlich rekonstruierbar. Fall und Wiederaufstieg werden zweifach durchgeführt, die einzelnen Stationen auf dem Weg der Heldin wiederholen sich im zweiten Durchgang und lassen sich im Modus der Steigerung symbolhaft aufeinander beziehen. Ähnlich wie auch im Gregorius sind etwa das Schiff und das Meer durchgehende Symbole, die motivisch gedoppelt und gesteigert werden  – die einsame Flucht vor dem Vater, bei der die Königstochter auf dem Meer Stürmen ausgesetzt ist, und die Flucht mit dem Sohn vor dem Ehemann, bei der Gott ihr Schiff lenkt; die zerklüftete Küste Englands und die einsame Insel; die Tätigkeit als Magd bei Bauern und Marschall sowie beim römischen Bürger. Eine wichtige Rolle 60

Vgl. Kiening (Anm. 29), S. 125f. Vgl. Schanze (Anm. 46), S. 241. 62 Vgl. Hugo Kuhn: Erec (1948). In: Hartmann von Aue. Hrsg. von Dems./Christoph Cormeau, Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 359), S. 17–48; Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 1992, S. 91–107. 63 Vgl. Walter Ohly: Die heilsgeschichtliche Struktur der Epen Hartmanns von Aue, Berlin 1958, S. 10–39. 64 Vgl. Haug (Anm. 62), S. 151. 61

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kommt in diesem Kontext dem bereits skizzierten Phänomen der ‚Verwandtschaftsverschiebung’ zu. Im Unterschied zu Mai und Beaflor, wo die Verschiebung auf die Bindung zu den Pflegeeltern beschränkt ist, wird dieser Aspekt in der Königstochter von Frank­ reich produktiv durchgespielt. Die Heldin wird zunächst von der Bauernfamilie, später von der Marschallsfamilie als Tochter angenommen, was sich auch in der Sprachpraxis widerspiegelt. Diese Verschiebungen lassen sich als sozialer Wiederaufstieg deuten; im zweiten Durchlauf ist es dann ihr Sohn, der zunächst vom römischen Bürger als Kind angenommen wird, sodann gar zum Sohn des Papstes aufsteigt, der dem Bürger ein Blankoversprechen abnimmt und fordert, den Jungen als seinen Sohn übergeben zu bekommen (vgl. V. 4679–4691), ihn zu sich holt, mit Lehen beschenkt (vgl. V. 4693–4698) und fortan als seinen Sohn bezeichnet (vgl. etwa V. 4936). Es werden also eine ganze Reihe alternativer Verwandtschaftsbeziehungen durchdekliniert, das Trennungsschema wird jedoch nur auf die Beziehungsachse Marschallfamilie – Königstochter angewendet und hebt sie so hervor. Mit einer symbolhaft auszudeutenden Doppelstruktur korreliert insbesondere der Stand der Königstochter. Ist sie am Ende des ersten Durchgangs zwar die Frau eines Königs, erreicht sie ihren wahren Status als Königin über Frankreich erst am Ende des zweiten Durchgangs. Schien die Thronfolge anfangs unmöglich und gipfelte im Inzestversuch, so wird die Königstochter am Ende tatsächlich zur Thronerbin und Regentin und nicht etwa, wie in Mai und Beaflor, ihr Ehemann. In der Wiedervereinigungsszene wird eine weitere Form der Verwandtschaft eingespielt, nicht nur die beiden Könige, sondern auch die Königstochter selbst beichten vor dem Papst, alle drei werden zu seinen Beichtkindern, Familienheil und Seelenheil befinden sich im Einklang. Allerdings endet der Roman nicht hier, vielmehr bedingt die von Hans von Bühel hinzugefügte historische Verlängerung – und damit das vierte hybride Element, das den Text mit trägt –, dass kein eindeutiger Sinn mehr zu bestimmen ist. Die Königin verstirbt rasch nach ihrem Vater, die Fürsten folgen ihrem Rat nicht, den Sohn als Thronfolger einzusetzen, und der 100-jährige Krieg zwischen Frankreich und England beginnt. Das glückliche Ende, das sowohl im Erzählschema ‚Mädchen ohne Hände‘ als auch im Liebes- und Abenteuerroman, in der Legende wie auch im doppelten Kursus angelegt ist, wird durch das krisenhafte Ende, das auf das historische Inserat zurückzuführen ist, konterkariert.

4. Fazit Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Inzestthematik in der Vorgeschichte in vielfältiger Weise mit dem Gesamtkontext zusammenhängt, nicht nur in thematischer, sondern auch in struktureller Hinsicht. Sie ist in das Erzählsyntagma integriert und begründet wesentliche Handlungsschritte. Im Apollonius wirkt sie auf Zusammenkunft und Trennung der Liebenden hin und motiviert mittelbar auch die Wiederzusammenkunft, in Mai und Beaflor und der Königstochter von Frankreich ermöglicht das Motiv des verhinderten

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Inzests die Flucht der Töchter, stellt die weiblichen Protagonistinnen in den Mittelpunkt der Haupthandlung und generiert damit noch deutlicher die einzelnen Strukturschritte. Die Emotionalisierung bestimmter Beziehungstypen lässt neben die Achse der Liebenden weitere bedeutsame Bindungen wie die zwischen Vater und Tochter, Vater und Sohn sowie Tochter und Pflegeeltern treten. Einige dieser Beziehungstypen werden noch einmal besonders hervorgehoben, indem das Trennungsschema pluralisiert wird. Durch die hybride Mischung mit anderen Erzähltraditionen ergeben sich Unterschiede im Sinnangebot, das durch die Inzestthematik bereitgestellt wird; dominiert einmal das genealogische Moment, wie im Apollonius von Tyrus, wird ein anderes Mal, wie im Apollonius von Tyr­ land, der Inzest selbst zum Abenteuer umgedeutet. In den beiden Erzählungen nach dem Schema ‚Mädchen ohne Hände‘ bedingt die legendarisch geprägte Erzählweise heiligmäßige Züge der Protagonistinnen, doch sie werden nicht zu Heiligen. Während sich durch das Zusammenspiel höfischer und legendarischer Erzählelemente in Mai und Beaflor am Ende ein Gleichgewicht zwischen Welt- und Seelenheil hergestellt findet, sperrt sich der Roman Die Königstochter von Frankreich durch die historische Verlängerung einer eindeutigen Sinnzuschreibung. Für alle hier behandelten Texte lässt sich jedoch sagen, dass die Inzestthematik nie bloß Vorgeschichte ist – sondern strukturrelevant und sinnstiftend.

Andrew James Johnston (Berlin)

Spatializing Time The Adventure of Multiple Temporalities in Chaucer’s Man of Law’s Tale

Chaucer’s works abound in attempts to come to grips with the issues of temporality and periodization – for instance, when he makes fun of Arthurian nostalgia in the Squire’s Tale or at the beginning of the Wife of Bath’s Tale. In both cases, the problem of temporality is addressed by picking holes in the gloss of timelessness that envelops the world of Camelot. When scrutinizing romance through an Arthurian prism, Chaucer appears to be accusing the genre of a self-conscious withdrawal into an a-historical fairy-tale world, wherein the pressures of the social and the political do not obtain. But Chaucer’s analytical forays into the genre of romance do not end there. On the contrary, there is good reason to believe that Chaucer accords romance a considerable potential for historical analysis. And this potential, I contend, is closely connected to the issue of adventure. In this article, I will argue that in confronting the exigencies of adventure as a specifically literary phenomenon, Chaucer interrogates the ways in which periods are constructed and notions of temporality deployed for political purposes. The example I wish to discuss is the Man of Law’s Tale. My principal focus will be on the tale’s generic links to the ancient novel/Greek romance,1 and especial attention will be paid to this genre’s association with incest. Incest constitutes an all-pervasive presence in the tale – but this is a presence that frequently betrays itself in terms of a conspicuous absence. It is one such absence, that of a non-existing biography of a Roman emperor called ‘Maurice’ from the Gesta Romanorum, which will be of crucial importance in demonstrating the particular sophistication of Chaucer’s use of Greek romance’s potential for imagining an a-chronological panorama of history. Through its discussion of its own generic origins in the Greek romance, the Man of Law’s Tale does not merely address the cultural constructedness of time, but actually discusses the practice of periodization and its guiding principles. Even before the Man of Law’s Tale actually starts, its fascination with matters of temporality is already being foreshadowed in its head-link through an uneasy meditation on the passage of time, a meditation that joins time and space in a visually compelling manner. Seeing that the shadows of the trees have reached a point where their length equals that of the trees themselves, the Host realizes how much time has already passed and decides to speed up the tale-telling game. As he reminds his fellow-pilgrims of the inexorable passage of time, he effectively de-historicizes the notion of the temporal. 1

Throughout, I shall use the terms ‘Greek romance’ and ‘ancient novel’ synonymously.

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‘Lordynges’, quod he, ‘I warne yow al this route, The fourthe party of this day is gon. Now for the love of God and of Seint John, Leseth no tyme, as ferforth as ye may. Lordynges, the tyme wasteth nyght and day, And steleth from us, what pryvely slepynge, And what thurgh necligence in oure wakynge, As dooth the streem that turneth nevere agayn, Descendynge fro the montaigne into the playn.’2 (The Canterbury Tales, Fragment II, ll. 16–24)

The Host compares time to the movement of a stream or river, endlessly running from the mountains into the plains, and never turning back. Likened to a force of nature whose course is determined by the most basic principles of physical geography, this purely mechanical concept of temporality seems to be located beyond the range of culture and hence of history. Harry Bailly’s image of time thus resembles that which Dipesh Chakrabarty, borrowing a phrase from James Chandler, refers to as “the dated grid of an homogenous empty time”.3 But as so often in the Canterbury Tales, though Harry Bailly might be drawing attention to an important issue, his understanding actually falls short of the problems negotiated in the tale that follows. As I shall show, in the Man of Law’s Tale, the idea of a single, universal temporality, a temporality inexorably flowing from the mountains into the plains, is superseded by a complex sense of time that sees temporal experience as a cultural construct, and one that is encapsulated most impressively in the genre of the tale itself. Ostensibly, the Man of Law’s Tale is a legend, a saint’s life, and this is very much the way the narrator tells it, frequently addressing not only his audience but also his narrative’s characters with pious, prayer-like commentaries on what is going on. Yet for all its religious veneer, in structural terms the Man of Law’s Tale clearly follows in the tradition of the Greek romance. Like the Greek romance, it is a tale whose principal characters are repeatedly separated and reunited, eventually returning to their original point of departure. As in the ancient novel, the sea plays a central role, carrying Custance to no fewer than four different shores, first to Islamic Syria, then to pre-Christian Northumberland, then to an unnamed heathen castle and finally back to Rome again. And as in the Greek romance, the question of incest makes its presence felt, with – as Carolyn Dinshaw has shown – two mothers jealously seeking to guard their sons from the dangers of exogamous heterosexuality.4 As if to clinch matters, the telling of the tale thus performatively contradicts its narrator’s initial claim that Chaucer never told a tale of incest, like that of Apollonius of Tyre which Gower relates in the Confessio Amantis. 2

Geoffrey Chaucer: The Canterbury Tales. In: The Riverside Chaucer. Ed. By Larry D. Benson, Oxford 1988. 3 Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2008 [2000], p. 12. 4 Carolyn Dinshaw: Chaucer’s Sexual Poetics, Madison 1989, p. 103.

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Incest is first introduced into the context of the tale through an extended literary joke. In the prologue to his tale, the Man of Law haughtily denigrates his own literary creator’s qualities as a poet: […] But nathelees, certeyn, I kan right now no thrifty tale seyn That Chaucer, thogh he kan but lewedly On metres and on rymyng craftily, Hath seyd hem in swich English as he kan Of olde tyme; as knoweth many a man; […] But certeinly no word ne writeth he Of thilke wikke ensample of Canacee, That loved hir owene brother synfully – Of whiche cursed stories I sey fy! – Or elles of Tyro Appollonius, How that the cursed kyng Antiochus Birafte his doghter of hir maydenhede, That is so horrible a tale for to rede, Whan he hir threw upon the pavement. (The Canterbury Tales, Fragment II, ll. 45–50 & 77–85)

Although he does not deem Chaucer to be an accomplished master of poetic technique, the Man of Law is willing, at least, to acknowledge that the poet never stooped so low as to re-tell the tale of Apollonius of Tyre and its disgraceful narrative of incest. As Chaucer criticism has long been aware, these observations constitute a response to John Gower’s Confessio Amantis, a frame-tale narrative that self-consciously engages in poetic exchange with Chaucer’s own writings. Chaucer’s allusion to the Confessio is highly ironic. Whereas older criticism tended to trace in these words evidence of a literary rivalry between the two Middle English poets, more recent feminist interpretations have attacked this reading for relying on a stereotypically gendered notion of masculine authorial identity.5 Indeed, Chaucer’s playful gesturing towards the Confessio does not so much suggest a bid for poetic dominance as rather an interest in elevating literature written in English to the level of an officially acknowledged cultural institution. After all, the Man of Law does not merely refer to the incest in Apollonius but retells it in a brief, but nevertheless impressively graphic sketch. Drawing on the original Latin source, Chaucer’s text imagines the incest scene in terms of a brutal rape – “Whan he hir threw upon the pavement”. Gower, by contrast, paints a far more ambiguous picture, portraying events as driven by a more mutual form of desire linking parent and child. What is central to Chaucer’s rendition of the scene, however, is that he frames it as a performative contradiction. Even as the Man of Law emphatically denounces tales of incest, this is exactly the kind of tale he tells himself by providing a 5

Carolyn Dinshaw: Rivalry, Rape and Manhood: Gower and Chaucer. In: Chaucer and Gower: Difference, Mutuality, Exchange. Ed. by Robert F. Yeager, Victoria, BC 1991 (English Literary Studies 51), pp. 130–152, here p. 132.

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summary of the narrative’s most sensational event. Hence, the moralistic narrator unwittingly turns his creator Chaucer into a second Gower through making him just as guilty of representing incest. Moreover, in Chaucer’s text the depiction of the crime has a touch of the sensational entirely lacking in Gower. Once again we witness Chaucer exploiting one of his more typical narrative devices, that is, we see him consciously playing with the distance between a narrator, on the one hand, and the implicit author Chaucer, on the other. But there is more to this game than merely providing a Chaucerian signature, and more to it even than establishing a notion of the literary field à la Bourdieu through staging a self-consciously allusive poetic dialogue with Gower.6 This is because the question of incest thus highlighted in the prologue will remain meaningful all through the tale proper. The Man of Law’s Tale is rife with incestuous desire as it tells of saintly Custance’s adventures, a tale also to be found in the Confessio Amantis. And, as we have seen, this is only one of the tale’s many generic echoes of the ancient novel. Both Chaucer and Gower drew on the Dominican Nicolas Trivet’s Anglo-Norman retelling of the widely known Custance material. This erudite Friar composed his version in the first half of the fourteenth century for the edification of Princess Mary of Woodstock, a royal nun who lived in the abbey of Amesbury. Because his intended audience was royal, female and ecclesiastical, Trivet produced a bowdlerized rendition of the material, cutting, amongst other things, the threat of incest which originally motivates Custance’s travels. Rather, Trivet chooses to embark on his plot in a fashion that reflects his intended audience’s royal status, hence the heroine is sent to marry the Sultan of Syria with the aim of converting his country to Christianity.7 Although Chaucer did, in all probability, know about the incest motif,8 he did not visibly reinsert it into the beginning of his tale, but preferred it to remain a subtext – albeit a powerful one that emphasizes maternal incestuous desire instead of the more frequent paternal variety.9 The ineradicable presence of incestuous desire, on the one hand, and the tale’s generic links to the ancient novel, on the other, turn Custance into a female version of Apollonius. These are the problems Chaucer draws attention to when he presents his own thumbnail sketch of the tale of Apollonius in response to Gower’s version, thus making sure we understand how his version of Custance’s story, through its generic affiliations to the Apollonius-material, is drawn into a complex web of incestuous desire. I shall return to the question of incest farther below. Apollonius of Tyre, an abridged Latin version of a much longer Greek original now lost, contains all the typical ingredients of the Greek romance and remains the single 6

For an attempt to describe Chaucer’s literary environment in accordance with Bourdieu’s notion of the literary field see Andrew James Johnston: Clerks and Courtiers. Chaucer, Late Middle English Literature and the State Formation Process, Heidelberg 2001. 7 For a detailed account of the tale’s history and its many versions see Robert M. Correale: The Man of Law’s Prologue and Tale. In: Sources and Analogues of the Canterbury Tales. Volume II. Ed. by Robert M. Correale/Mary Hamel, Cambridge 2005, pp. 277–295. 8 Dinshaw (annot. 4), p. 100. 9 Dinshaw (annot. 4). here p. 103.

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literary material adapted in the Old English, the Middle English and the Early Modern English periods.10 The ultimate source of Shakespeare’s romance Pericles, the Apollonius-novel was the only ancient novel known to the occidental Middle Ages.11 Indeed, few other ancient texts have had such a direct impact on the development of romance and other medieval genres  – including saint’s legends. Composed in the third century CE, the Apollonius-novel helped to make the Middle Ages familiar with the specific themes and narrative structures of the ancient novel before the actual rediscovery of Heliodorus, Longus or Chariton in the Renaissance.12 For a long time, literary scholars tended to dismiss the ancient novel as an inferior genre. They spoke of it with a “tone of fastidious distaste” and discussed it as “something not fit to be an object of a gentleman’s attention”.13 Amongst other things, the ancient novel was subject to such a consistent denigration because it refuses to fit all kinds of literary grands récits. For instance, it cannot easily be integrated into Bakhtin’s scheme of things with its juxtaposition of the allegedly monologic epic and the polyvocalic novel, starting with Rabelais and reaching its climax in Dostoyevsky’s works. Although Bakhtin did acknowledge that “Greek romance utilized and fused together in its structure almost all genres of ancient literature”,14 he nevertheless argued that, as a genre, it lacked the capacity for representing any true form of historical or cultural difference. According to Bakhtin, time and space in the Greek romance were depicted in terms of a principle he called “adventure time”, which means a link between the spatial and the temporal that is “not of an organic but of a purely technical (and mechanical) nature”.15 Thanks to the fundamentally episodic nature of its plots, the ancient novel might well extend its temporal trajectory forever and ever. But in a Bakhtinian perspective, neither time nor space really contributes to giving meaning to the novel’s action. Bakhtin’s harsh view has since been superseded by a more nuanced and more generous appreciation of the Greek romance,16 10

For a detailed discussion of the medieval versions of Apollonius with a special emphasis on incest see Elizabeth Archibald: Incest and the Medieval Imagination, Oxford 2003, pp. 93–103. 11 A history of Apollonius in scholarly discussion is provided by Margaret Anne Doody: The True Story of the Novel, New Brunswick 1996, pp. 82–83. 12 Apollonius of Tyre was not the only conduit through which the Middle Ages became acquainted with the Greek novel’s basic features. Other traditions and sources are the Clementine Recognitions, the Eustachius-legend and the French Floire et Blancheflor. See Tomas Tomasek: Über den Einfluss des Apolloniusromans auf die volkssprachliche Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Ed. by Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller, Stuttgart 1997, pp. 221–239, here pp. 222–225. 13 Doody (annot. 12), p. 9. 14 Mikhail Mikhailovich Bakhtin: Forms of Time and Chronotope in the Novel. In: M. M. B.: The Dialogic Imagination. Four Essays. Ed. by Michael Holquist, transl. Caryl Emerson/Michael Holquist, Austin 1981, pp. 84–258, here p. 89. 15 Mikhail Mikhailovich Bakhtin (annot. 14), here pp. 89 and 99. 16 Lawrence Kim, for instance, pays tribute to Bakhtin’s notion of adventure time as a “powerful heuristic tool”; yet at the same time he endeavours to show that “other temporalities intervene to complicate adventure time”: for example “a psychological, erotic time that exists in somewhat dialectical fashion with the dominant adventure time”, or, especially in the Roman as distinct from the Greek novel, “everyday time” (Lawrence Kim: Time. In: The Cambridge Companion to the Greek

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but his position still deserves to be mentioned since it highlights some of the central issues that matter to me in this chapter. Chaucer’s handling of his material clearly contradicts Bakhtin’s view of the ancient novel. Instead of denying a sense of historical temporality, the Man of Law’s Tale’s use of the Greek romance’s episodic plot structure seems rather to emphasize historical difference. While Custance’s first voyage takes her to Syria, a nation described in terms of a considerable cultural sophistication that might even be considered to equal that of Rome, her second destination, Northumberland, is depicted as being not only pagan but barbarian. Whereas the Man of Law’s Tale’s Islam seems to present something close to a mirror-image of Christianity itself, King Alla and his subjects’ hazy paganism displays all the characteristics of superstition, a superstition best encapsulated by the King’s use of the Christian scriptures for the purposes of judicial oath-swearing. The heathen Northumbrians employ the gospels as a kind of magical object whose power they accept as a given, even though they do not acknowledge its original religious purpose. In other words, as Custance follows the somewhat meandering trajectory of the Greek romance’s typical itinerary, she comes into contact with various cultures which, especially from a Christian point of view, resemble different stages of historical development. But these different stages of historical development are further complicated by the fact that they do not straightforwardly translate into a conventional concept of Heilsgeschichte – however much the tale may present itself as a saint’s legend. For all its overt pagan barbarianism, Northumberland proves to be a complex site of cultural exchange where heathen conquerors live in close proximity to the Christian Celts they have subjugated and not all of whom have fled to Wales or elsewhere. Strictly speaking, Northumberland thus possesses not one culture but two and the two are themselves divided by history, in this case a history of pagan conquest and Christian defeat. In a sense then, Custance’s role in Northumberland is that of a cultural negotiator, whose missionary activity reconciles the pagan conquerors with their Christian victims and, moreover, links this newly Christianized polity with the traditions of imperial Rome, thus embodying, as Geraldine Heng suggests, “past, present, and future, all rolled into one beautifully emblematic bundle through the twists and turns of desire”.17 If we left it at that, then the ideological work the Man of Law’s Tale performs would be fairly obvious. The tale would once more be helping to bridge the embarrassing gap between Heilsgeschichte and migration period history. It would help to provide historical legitimacy to a Christian European kingdom, in this case England, which – like most others – traces its origins to a pagan conquest of an already Christian country. But a closer look reveals that in the Man of Law’s Tale things do become more complicated. and Roman Novel. Ed. by Tim Whitmarsh, Cambridge 2008, pp. 145–161, here pp. 154–155). While acknowledging the critical potential inherent in Bakhtin’s concept, Kim thus shows that the issue is not simply one of a single notion of temporality, but that temporalities themselves are considerably more diverse than Bakhtin’s scheme of things implies. 17 Geraldine Heng: Empire of Magic. Medieval Romance and the Politics of Cultural Fantasy, New York 2010 [2003].

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After all, through its particular blend of a national with a Christian agenda Trivet’s Greek-romance-cum-saint’s-legend considerably expands the ancient novel’s generic geography: It features a heroine who escapes from Syria by boat only to be washed ashore in pre-Christian Anglo-Saxon Northumbria where she weds and converts King Alla. Thus, instead of remaining firmly locked in the confines of a culturally Greek Eastern Mediterranean, the tale of Custance reaches out to the shores of a dark-age Britain largely untouched by classical civilisation – even the gospels are present only in Celtic translation, as a Britoun book.18 And this expansion of the Greek romance’s topographical frame of reference has immediate consequences for the notions of temporality the tale conveys. In a certain sense, we witness Custance travelling not only through space but also through time. Within the heilsgeschichtliches scheme of things the female saint actually voyages backwards into an era of barbaric paganism. Admittedly, this breach of generically conditioned topographical tradition may not be quite as revolutionary as I have just put it. After all, the ancient novel’s very structure must, in fact, be read as an invitation to travel to distant parts, many of which might bear the imprint of the exotic and culturally Other. Greek romances “show a strong orientalising impulse, meaning that they include travels far from home and seek out encounters with the foreign, the exotic and the marvellous (qualities found predominantly but not exclusively, in the East)”.19 The ancient novel thereby possesses the potential for turning the crossing of geographical distance into a traversing of cultural boundaries. And as those cultural boundaries are being crossed we find that also the temporal boundaries are being re-drawn. The tale of Custance’s anachronistic adoption of Northumbria into its topography thus constitutes an entirely fitting tribute to the ancient novel’s capacity for using its familiar voyages and its highly episodic structure in the service of shuttling its protagonists back and forth across all manner both of spatial and of temporal divisions. Only this time, the exotic is not presented in the orientalising mode, but rather in terms of Britain’s own history of migration, conquest and Christianisation. Interestingly, Trivet, Gower and Chaucer are by no means unique in exploring the ancient novel’s episodically structured spatiality for the purposes of depicting historically successive cultural moments as though they were actually contemporaneous. As Christian Kiening has shown, the early fourteenth-century Middle High German adaptation of the Apollonius-material, Apollonius von Tyrland by Heinrich von Neustadt, makes similar use of its episodic structure in order to expand its temporal boundaries and create an effect of simultaneity deliberately abandoning the notion of strict chronology in favour of an over-arching Heilsgeschichte that infuses each individual episode of the plot with allegorical meaning.20 But while the allegorical approach outlined by Kiening achieves 18

Chaucer (annot. 2), l. 666. James Romm: Travel. In: The Cambridge Companion to the Greek and Roman Novel. Ed. by Tim Whitmarsh, Cambridge 2008, pp. 109–126, here p. 112. 20 See Christian Kiening: Apollonius unter den Tieren. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Ed. by Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, pp. 415–431, pp. 420–422. 19

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a de-historicizing effect not dissimilar from Bakhtin’s assertion of the fundamental ahistoricity of the ancient novel, in Chaucer the situation is different. Precisely because the Man of Law’s Tale maintains historical difference even as it paradoxically subjects that distance to an effect of simultaneity, do we encounter a fictional universe where the historical assumes an even greater urgency through being depicted in anachronistic simultaneity. Chaucer’s Rome is indisputably imperial and Roman, whereas his Syria resembles the Orient familiar to the Crusaders and his Northumbria betrays all the archaic characteristics of a cultural environment straight out of Bede’s Ecclesiastical History. The obvious result is a form of anachronism deliberately drawing attention to itself as an anachronism and not merely as a lack of historical consciousness. Yet in order to fully understand how Chaucer exploits the Greek romance’s generic properties in the service of a critique of chronological time – here understood as a notion of time implying a clear succession of distinct historical stages – we must take another look at the problem of incest and the way it is treated in the Man of Law’s Tale. After all, as we have seen, Chaucer provides the tale with a prologue that effectively does two things at the same time: First, it establishes a clear link between the tale of Custance and its generic model, the Greek romance, by invoking the very text which, from a medieval point of view, would have represented that genre’s archetype: Apollonius of Tyre. Second, it introduces this text and its genre through the context of a literary debate on the depiction of incest, hence drawing attention to the Greek romance’s deep obsession with incestuous desire. And this obsession with incest recurs in the Man of Law’s Tale, where, however, the familiar threat of father-daughter incest is, on the surface level, supplanted by two mothers’ desire for their own sons. Creating a dialogue between frame and tale, Chaucer thus does not merely highlight the issue of incest but links it to the question of the tale’s source. Chaucer’s immediate source Nicholas Trivet had re-told the widely disseminated tale of Constance in AngloNorman with a number of crucial changes. Most importantly, he had erased the original motivation for Custance’s foreign travels  – the threat of father-daughter incest  – and supplanted it with the idea of converting the Saracens to Christianity via royal marriage. As I have already explained, Gower, whose version of the story in the Confessio Amantis Chaucer definitely knew, follows suit, as does Chaucer. But by drawing attention both to the question of incest in Apollonius of Tyre and also to the question of the tale’s sources, Chaucer actually re-inserts father-daughter incest into the Man of Law’s Tale. It is restored in the form of a lacuna – a lacuna Chaucer highlights by implicitly prompting his audience to place the tale in yet another context of literary history: Of Custaunce is my tale specially, In the olde Romayn geestes may men finde Maurices lyf; I bere it noght in mynde. (The Canterbury Tales, Fragment II, ll. 1125–1127)

Chaucer refers to his source ambiguously as the olde Romayn geestes. In the Riverside Chaucer Romayn geestes is glossed as “Roman histories”, arguing that this phrase cannot

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possibly refer to the Gesta Romanorum, since they do not contain a version of Emperor Maurice’s life.21 But on closer inspection this proves to be a rather specious comment, since no Roman history could contain a life of an emperor Maurice either, since there was no Roman emperor called ‘Mauritius’ – merely a single Byzantine emperor of that name in its Greek version ‘Maurikios’.22 So at this point, the Riverside Chaucer’s rather positivist explanatory note does not take us very far. As a narrator, the Man of Law is known for committing minor errors even as he seeks to impress his audience with his literary expertise; to name only one example: He tells how Medea supposedly hanged her children, while according to Ovid she put them to the sword. Hence his reference to the Gesta Romanorum might simply be one of his typical and sometimes very significant slips. And in this case his slip would be very significant, indeed, because even though there is no life of an ‘Emperor Maurice’ in the Gesta Romanorum, the Gesta do, in fact, contain a text which matters considerably to his tale, and that is the story of Apollonius of Tyre.23 It seems as though here, in the context of a seemingly innocuous discussion of sources, we were witnessing a return to incest as compulsive as is to be found at the level of the Man of Law’s Tale’s plot. Vaguely referring to the Romayn geestes the Man of Law is not alluding to his tale’s actual source, but rather to Apollonius of Tyre, his tale’s generic model and literary ancestor and, consequently, to the incest contained in that pre-text. And even if we took this simply for a typically Chaucerian game of confusing his sources – comparable for instance to the Lollius-allusion in Troilus and Criseyde – what seems to matter most is that incest once again becomes an ineluctable feature of the Man of Law’s Tale, always lurking just below the surface. And this feature would have been especially visible to an audience capable of recognizing the tale in its specifically generic context, that is, as a generic sibling to Apollonius. The narrator thus proves to be staging his own act of story-telling very much like a Greek romance, namely as a narrative flight from incest, i.e. as an inverted echo of the flight-from-incest narratives that characterize his generic model in the first place. But the Man of Law’s flight is doomed to failure, since again and again he finds himself obsessively alluding to his text’s generic and source history and returning to the incest this must inevitably imply. What then does incest add to our understanding of the Greek romance’s approach to periodization? We have already seen the ancient novel’s potential for placing side by side 21

The Riverside Chaucer (annot. 2), Explanatory Notes, Fragment II, p. 862, note to l. 1126. Ironically, the historical Byzantine emperor Maurice of Cappadocia who succeeded Tiberius II to the throne of Constantinople in 582 was the husband of his predecessor’s daughter, Constantina (Carol F. Heffernan: The Orient in Chaucer and Medieval Romance, Cambridge 2003, p. 27). Seen from a Chaucerian perspective, the Emperor would have been married to his own mother and thus been committing incest. 23 Not all and not even the majority of all medieval manuscripts of the Gesta Romanorum contained the Historia Apollonii, but the earliest of those that do date from the 14th century. The version of the Historia Apollonii that found its way into the Gesta was considerably Christianized; for details see Brigitte Weiske: Die Apollonius-Version der Gesta Romanorum. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Ed. by Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1991, pp. 116–122. 22

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on a geographical plane cultures which, in a typically Western scheme of history, would be seen as inhabiting successive stages in history. To put it anachronistically, what the Greek romance thus seems capable of doing is to undermine the notion of ‘historicism’ in the sense critiqued by Dipesh Chakrabarty, that is a historicism that “posited time as a measure of the cultural distance (at least in institutional development) that was assumed to exist between the West and the Non-West.”24 Especially as viewed from Chaucer’s perspective, the ancient novel provides a narrative model capable of subverting the concept of chronological time and the political uses such a concept is frequently put to.25 Indeed, the Greek romance’s narrative structures unfold a panorama of cultural simultaneity that spreads cultural difference out in geographical space as opposed to ordering it in hierarchical temporalities. At the same time, the particular forms of movement that mark the ancient novel ensure that this cultural simultaneity can be accessed only by way of a storm-tossed randomness defying both the temporal vectors of teleology and the topographical vectors of colonial expansion. This is something that Chaucer’s text is powerfully aware of. That awareness is literally framed by the incest that seems to haunt the Greek romance as a genre. I would suggest then, that incest here represents the dark underside of the Greek romance’s utopian temporality. Metaphorically speaking, i.e. as representing a mode of temporality, incest amounts to a denial of the progressive trajectory of history indispensable to a teleological notion of history. Defying the idea of generational succession, incest means a turning-back rather than a movement forward. Incest constitutes a denial of the exogamous imperative underlying the continuation of the dynastic line.26 Hence, incest bespeaks a resistance to dominant patterns of temporality not unlike the one suggested by the particular relation of time and space we witness in the ancient novel’s typical voyages. But whereas the ancient novel’s travelers venture forth into what one might call a utopian re-alignment of time, space and culture, incest seeks to achieve its ends through sexual violence. Chaucer’s insistence on the incestuous subtext to his saint’s legend could thus be read as a skeptical response to the attempts made by both Trivet and Gower to enlist the Greek romance for the purposes of a legitimizing national-cum-Christian historiography, a historiography bent on erasing both the political and the religious embarrassments of the European migration period. This would see the Man of Law’s Prologue and Tale engaged in a critique not only of secular teleologies, but also of the way Christianity itself, due to its historiographical desire for clear-cut ruptures – before and after the Fall, before and after Christ, before and after the advent of the missionaries – is easily appropriated for the 24

Chakrabarty (annot. 3), p. 7. For an incisive critique of the notion of chronological time see Carolyn Dinshaw: Temporalities. In: Middle English. Ed. by Paul Strohm, Oxford 2007, pp. 107–123. 26 For the importance of the incest-theme in the context of dynastic discourses see Jutta Eming: Inzest­ neigung und Inzestvollzug im mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerroman. In: Historische Inzest­ diskurse. Interdisziplinäre Zugänge. Ed. by Jutta Eming/Claudia Jarzebowski/Claudia Ulbrich, Königstein/Taunus 2003, pp. 21–45, esp. p. 38. 25

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purposes of those teleologies. Taken seriously as a literary genre with its own particular potential for a non-teleological temporality, the Greek romance’s adventurous temporalities might thus be understood to offer a model for an alternative Christian historiography, one capable of existing without hierarchical forms of periodization and therefore capable of restoring to Christianity at least some of the utopian power that must inevitably get lost when an Anglo-Norman Dominican Friar writes the legend of an imperial saint for the privileged consumption of a royal nun. And yet, Chaucer’s skepticism might extend still further: since this historical utopianism is, likewise, informed by the constant, albeit hidden, presence of incest.

Das Begehren der Dinge

Margreth Egidi (Paderborn)

Gegenweltliche Dingobjekte im Apollonius von Tyrland – das Schachspiel

1. Die Dynamik der singulären Objekte Am Erzählen von der Gegenwelt als einer Welt des Monströsen, Normüberschreitenden hat der Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt1 ein auffälliges Interesse. Es zeigt 1

Zitierte Ausgabe: Apollonius von Tyrland, Gottes Zukunft und Visio Philiberti. Nach der Gothaer Handschrift. Hrsg. von Samuel Singer, Berlin 1906, Nachdruck Dublin/Zürich 1967 (DTM 7). – Entstanden sein könnte der Text zu Anfang des 14. Jahrhunderts, vgl. Alfred Ebenbauer: Der ‚Apollonius von Tyrlant‘ des Heinrich von Neustadt und die bürgerliche Literatur im spätmittelalterlichen Wien. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050–1750). Hrsg. von Herbert Zemann, unter Mitwirkung von Fritz Peter Knapp, Teil 1, Graz 1986, S. 311–347, hier S. 338f.; Wolfgang Achnitz stützt seine Datierung („in den Jahren um 1300“; Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im ‚Reinfried von Braunschweig‘ und im ‚Apollonius von Tyrland‘ Heinrichs von Neustadt, Tübingen 2002 [Hermaea N. F. 98], S. 239) allerdings u. a. auf die in ihrer Deutung umstrittenen Verse 18416–18424. – Zum Apollonius vgl. ferner: Tomas Tomasek: Über den Einfluß des Apolloniusromans auf die volkssprachliche Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller, in Verbindung mit Susanne Köbele und Bruno Quast, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 221–237; Burghart Wachinger: Heinrich von Neustadt, ‚Apollonius von Tyrus‘. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von Walter Haug/Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 1), S. 97–115; Christian Kiening: Apollonius unter den Tieren. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer/ Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S.  415–431; ders.: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a.  M. 2003, S.  56–80; Ulrike Junk: Transformationen der Textstruktur. Historia Apollonii und Apollonius von Tyrland, Trier 2003 (LIR 31); Jutta Eming: Inzestneigung und Inzestvollzug im Appollonius von Tyrus. In: Historische Inzestdiskurse. Interdisziplinäre Zugänge. Hrsg. von ders./Claudia Jarzebowski/Claudia Ulbrich, Königsstein 2003, S. 21–45; Almut Schneider: Chiffren des Selbst. Narrative Spiegelungen der Identitätsproblematik in Johanns von Würzburg „Wilhelm von Österreich“ und in Heinrichs von Neustadt „Apollonius von Tyrland“, Göttingen 2004 (Palaestra 321); Monika Schausten: Suche nach Identität. Das „Eigene“ und das „Andere“ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2006 (Kölner Germanistische Studien 7); Mathias Herweg: Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300, Wiesbaden 2010; Margreth Egidi: Tausch/Gaben. Ökonomische und anökonomische Logik in Flore und Blanscheflur und Apollonius von Tyrland, Habilitationsschrift Konstanz 2008 (masch.); dies.: Inzest und Aufschub. Zur Erzähllogik im Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt. In: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in

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sich ausschließlich in der sogenannten Binnenhandlung, die Heinrich den Plot-Vorgaben der spätantiken Historia Apollonii regis Tyri2 hinzugefügt hat, und es unterscheidet den Text von den meisten anderen Repräsentanten seines Genres. Auch die Konzeptionalisierung der Figur des Protagonisten ist hiervon betroffen: Apollonius hat im Durchgang durch die Gegenwelt diese immer wieder zu überwinden (und damit die Geltung der normsetzenden und -erfüllenden höfischen Welt zu bestätigen), so dass er (zumindest in der Binnenhandlung) keineswegs dem für den Minne- und Aventiureroman sonst typischen passiven Helden entspricht, dessen Qualitäten sich weniger in kämpferischer Verausgabung als vielmehr im ausharrenden Erdulden von Prüfungen und widrigen Geschehnissen zeigen.3 Apollonius ist dagegen eine extrem ‚bewegliche‘ Figur, worauf noch zurückzukommen sein wird. Die Faszination der Gegenwelt also prägt den Text. Monstren und hybride Wesen bevölkern sie, aber ebensoviel Aufmerksamkeit widmet der Text den gegenweltlichen Ding­ objekten, zumeist unbesiegbar machenden Waffen oder magischen Requisiten. Zu ihnen ist nicht nur anzumerken, dass sie singulär sind und dass ihre Herkunft und Geschichte von großer Bedeutung ist, sondern auch, dass fast alle von ihnen permanent in Bewegung sind. Die wenigsten wechseln in einem einfachen (und einmaligen) Akt des Gebens den Besitzer,4 alle anderen werden auf die eine oder andere Weise mit dem Raubmotiv in Verbindung gebracht, zum Teil mehrfach und mit dramatischer Betonung. Hierzu gehören der unsichtbar machende Ring, den Apollonius von der Sirene erhält, das Schwert des Monstrums Kolkan, der sigestain von Apollonius’ dritter Ehefrau Diomena, zwei magi­ sche Ringe und eine Spange der Kentaurin Pliades sowie schließlich das Schachspiel ihres Mannes Piramort, das einst Nebukadnezar gehörte. Einige der geraubten Objekte werden überdies durch die besondere Funktion ausgezeichnet, die sie in der Handlung erhalten. So wird das Schwert Kolkans zur wichtigsten der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Margreth Egidi u. a., Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240), S. 281–290. 2 Ihre Entstehung wird ins 5. oder 6. nachchristliche Jahrhundert datiert; die Historia Apollonii ist der im Mittelalter am intensivsten rezipierte Repräsentant des antiken Liebes- und Reiseromans (vgl. Tomasek [Anm. 1], S. 225), der mit seinem Grundmuster – Zusammenkommen, Trennung und Wiedervereinigung eines Paares nach zahlreichen Prüfungen und Abenteuern – das Schema des mittelalterlichen Minne- und Aventiureromans zum großen Teil vorgibt, der das Liebessujet allerdings mit den Themen Genealogie und Herrschaft kombiniert. – Zusammenfassend zur Überlieferung der Historia Apollonii sowie kritisch zur hypothetischen Konstruktion einer (angeblichen) verlorenen griechischen oder lateinischen Vorlage: Junk (Anm. 1), S. 12–15. 3 Vgl. Wachinger (Anm. 1), S. 100f. u. 115. Damit ist auch die Gattungsfrage berührt, insofern die eklatante Häufung der seriell kombinierten Befreiungsaventiuren eher auf eine Nähe zum Artusroman als auf den Minne- und Aventiureroman verweist (ohne dass allerdings eine substantielle generische Überschneidung mit dem Artusroman vorläge). Wachinger sieht in der „Stoffklitterung“ (S. 100) auch einen Gattungs-Mix aus Familien- und Aventiureroman (S. 101). 4 Hierzu gehören die Lanze Susan, die Formosa Apollonius nach der Befreiung des Reichs Galacides bei seinem Abschied übergibt (sie hatte ursprünglich Achiron bzw. Kolkan gehört), und der Ring, den Diomena ihm als magisches Helferrequisit für das Bestehen der Tugendprobe der Treppe übersendet. Ferner erhält Apollonius von dem Wesen Milgot zauberkräftige Wurzeln und auf seiner Heimreise zwölf Äpfel von Elias und Enoch.

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Waffe des Apollonius und findet von den singulären Waffen am häufigsten Erwähnung; vor allem spielt es in allen Kämpfen gegen monströse Gegner die entscheidende Rolle.5 Mit dieser Hervorhebung des Schwertes korrespondiert die Hervorhebung durch die Art des Erwerbs: Während Achirons Bogen in den Besitz des Apollonius übergeht, nachdem er jenen getötet hat, und die Lanze Susan, wie erwähnt, eine Gabe der Formosa ist,6 eignet sich Apollonius das Schwert auf den Rat der Sirene hin durch Raub an, und zwar mit Hilfe des unsichtbar machenden Rings, den er von ihr erhielt. Von den magischen Schutzobjekten kommen die zwei Ringe der Zentaurin Pliades am häufigsten zur Anwendung, mit denen sie von dem sie bedrohenden Apollonius ihr Leben zu erkaufen sucht – zwar kein Raub, aber doch ein gewaltsamer Besitzwechsel.7 Hervorgehoben wird durch die Handlungskontexte, in die er eingelassen ist, auch der Ring, den die Sirene Apollonius aus Dank dafür überlässt, dass er ihr das Leben rettete. Den Übergang aus der Gegenwelt vollzieht der Ring also im Rahmen höfischer Reziprozität, die hier das gegenweltliche Wesen, die Sirene, mit dem Repräsentanten der höfischen Welt verbindet; im weiteren Verlauf der Handlung wird der Ring jedoch, obgleich selbst nicht Objekt eines Diebstahls, auf andere Weise mit dem Raubmotiv in engste Verbindung gebracht und gerät durch mehrfachen Besitzerwechsel in Bewegung: Er ermöglicht nicht nur den Raub von Kolkans Schwert,8 sondern später auch die Entwendung des magischen, schutzspendenden sigestains, den Diomena Apollonius zum Abschied schenkte.9 Als sie ihm aufgrund seiner Eheschließung mit Palmina die Liebes- und Ehebindung aufkündigt, lässt sie den magischen Stein mit Hilfe des Rings der Sirene, den sie zum Abschied von ihm gefordert hatte,10 durch ihren Gesandten Cleopatras entwenden; Apollonius bezeich5

Mit Kolkans Schwert tötet Apollonius Kolkan (und Flata), er nutzt es im ersten Kampf gegen Ydrogant und Serpanta und im Kampf gegen die wilden Tiere am Ganges (woraufhin Pilagrus das Schwert als sehr wertvoll preist), rettet damit den Panther vor dem Drachen und tötet schließlich Serpanta (und Ydrogant) im zweiten Kampf. Ferner kommt das Schwert in Schlachten gegen eine Überzahl von Gegnern zum Einsatz (so in der Schlacht von Balthasar und Apollonius gegen Abakuk und Nemrot sowie im Turnier in Chrisa, das Apollonius mit 29 Begleitern gegen 500 Ritter bestehen muss). – Auch die anderen gegenweltlichen Waffen und Kampfausrüstungen, die Apollonius in Galacides erhält, finden, wenn auch seltener, in entscheidenden Kämpfen Verwendung. 6 Schuppenharnisch, Helm und Schild stellt sich Apollonius selbst her, indem er sie mit den Schuppen des getöteten Kolkan besetzen lässt. 7 Apollonius rettet mit ihnen sein Leben auf der Flucht vor den Drachen in Babilonia, im ersten Kampf gegen Ydrogant und Serpanta, als er durch den Wurm Pelua verschleppt wird, im Kampf gegen die wilden Tiere am Ganges (in diesen drei Episoden ist nur von einem Ring der Pliades die Rede) und im zweiten Kampf gegen Ydrogant und Serpanta. 8 Der Ring hilft außerdem auch im Kampf gegen Kolkan und im zweiten Kampf gegen Ydrogant und Serpanta. Ferner ist in diesem Kontext noch die Wurzel des Milgot zu erwähnen, mit der Apollonius sich und Printzel in der Schlacht gegen Abakuk und Nemrot stärkt sowie sich selbst im Kampf gegen den Drachen in Babilonia. 9 Der sigestain schützt vor Wasser, Feuer, Unglück und Krankheit und dient außerdem als Orakel bei der Ermittlung eines geeigneten Kriegstermins. 10 Zuvor hatte Apollonius den Ring beim Aufbruch nach Armenia in Galacides gelassen; dies geht aus der Tatsache hervor, dass Formosa ihn ihm später für den (zweiten) Kampf gegen Nemrot sendet.

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net dies in seiner zornigen Erwiderung ihrer Anklage als unzucht (V. 14473) und Diebstahl (V. 14476f.) und betont, der Ring, mit dessen Hilfe dies geschehen sei, gehöre ihm. Zuletzt erhält er beides wieder zurück. Dass seltsame Dinge geraubt werden, ist im höfischen Roman an sich noch nicht sehr bemerkenswert, doch legt der Apollonius viel Wert auf die Profilierung eines Zusammenhangs von Raub, Begehren und Gegenweltlichkeit, und es ist dieser Zusammenhang, der mich interessiert. Dabei werden auch die Fragen zu berühren – wenn auch nicht grundlegend zu klären – sein, was denn ‚Gegenweltlichkeit‘ in diesem Text im Kern ausmacht und welche Strukturen das Begehren aufweist. Anschließen werden sich Beobachtungen zur Reflexion des Erzählens, und zwar zur poetologischen Dimension eines ganz besonderen Dingobjekts, des Schachspiels Nebukadnezars.

2. Gegenweltlichkeit, Raub und Begehren Ins Zentrum rücken Raubmotiv und Gegenweltlichkeit insbesondere in der BabiloniaEpisode. Es handelt sich um die erste einer Reihe von Aventiuren, die Apollonius als Gefangener und Dienstmann König Nemrots zu bestehen hat. Nemrot beauftragt ihn, den Zustand und die Zugänglichkeit der reichen, verfluchten und von Drachen und wilden Tieren bewohnten Stadt Babilonia zu erkunden. Als Beweis dafür, dass er dort gewesen ist, soll er ein wortzaichen mitbringen (V. 8098). Bereits die Erzählung Nemrots lässt erahnen, dass auf Apollonius eine Grenzüberschreitung wartet, die die bisher erzählten Gegenwelt-Episoden an Gefährlichkeit übertrifft. Betont wird die Grenze durch die Erwähnung des biblischen Fluchs, symbolisiert durch den Euphrat, markiert durch Drachen und andere Grenzwesen.11 Gleichwohl bereiten zunächst sowohl die Überwindung der Wassergrenze wie auch die Drachen als Wächter auf der Fahrt ins Innere Babilonias keine Probleme, betont wird nur die latente Bedrohlichkeit der Situation.12 In der menschenleeren, prächtigen Stadt betritt Apollonius einen kostbar ausgestatteten Palast, in welchen ihn Trittspuren auf einer Treppe führen, und findet eine schmale Tür: Die tür was ain jochant Ain velsloß er dar an vant. A[]n13 guldene spangen Was di tür gehangen, 11

Dem Euphrat als Wassergrenze vorgelagert sind außerdem – als weitere Abspaltungen der Grenze – ein bewaldetes, unwegsames Gelände und ein steiler Hang. 12 Diese Latenz bringt sich z. B. darin zum Ausdruck, dass die Drachen und anderen wilden Tiere um die Mittagszeit schlafen (V. 8165–8167) und dass, wie es wenig später heißt, das Gebrüll der Drachen die Luft erfüllt (V. 8173–8178), wobei jedoch nicht davon die Rede ist, dass sie für Apollonius sichtbar sind, geschweige denn, dass er von ihnen angegriffen wird. 13 Mit A; Singer (mit B): Ain.

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Di waren starck und groß. Das vellsloß er auf sloß Und gie zu dem türel ein. Da gie gegen im ain schein Das im das sehen geprast: Also krefftig was der glaßt Der im in di augen schain. Manig kostreicher stain Stund in der kemnatten Di was auch wol peratten Mit karfunckeln und rubinen. […] Von arabischem golde, Von jaspis und von crisolde Waren die mawren. (Apollonius von Tyrland, V. 8239–8261) Die Tür war ein einziger Edelstein. Einen Riegel bemerkte er an ihr; an starken, großen goldenen Türangeln war die Tür aufgehängt. Er schob den Riegel auf und trat durch die kleine Tür ein. Da leuchtete ihm ein solcher Glanz entgegen, dass er nicht hinschauen konnte – so gleißend war der Schein, der ihm in die Augen drang. Viele kostbare Steine befanden sich in der Kemenate, die auch mit Karfunkeln und Rubinen reich geschmückt war. […] Ihre Mauern waren aus arabischem Gold, Jaspis und Chrysolith.

In der wie ein Schatzkästlein mit Edelsteinen ausgelegten Kemenate, in die Apollonius nun eindringt, findet er das schöne Kentaurenpaar Piramort und Pliades so sehr in eine Schachpartie vertieft, dass sie sein Eintreten zunächst nicht bemerken: Er sach dort zwo figuren, Der antlütz was mynniklich, Ir klaider kosper und reich. Es was ain man und ein weib. Also rechte schoner leib Ward auf erden nie gesehen, Als mann in selben horte jehen, Vonn menschlichem pilde.

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Niderhalb was es wilde: Als ain klaines rosselein Wol gemacht und fein Yetliches hette vier pain. Schneweys als ain helffenpain14 Was sein haut und sein har. Vor in lag ain prett klar: Si spilten schachzabel spil. Ir unmusse was so vil Das sy sein nit deten war Untz das er kam auff sy aldar. (Apollonius von Tyrland, V. 8262–8280) Zwei Gestalten sah er dort – ein Mann und eine Frau – mit lieblichem Antlitz und kostbaren, reichen Gewändern. Wie er selbst später erzählte, hat es solche Schönheit nie zuvor unter Menschen gegeben, doch sah ihre15 untere Körperhälfte höchst wundersam aus, nämlich wie die eines kleinen Pferdchens, jedes mit vier Beinen; aber auch hier waren sie wohlgebildet und schön. Schneeweiß wie Elfenbein [Alabaster; A] waren ihre Haut und ihr Haar. Vor ihnen lag ein erlesen schönes Schachbrett. Sie waren so sehr in das Spiel versunken, dass sie den Eindringling nicht bemerkten, bis er auf sie zukam.

Sofort greift Apollonius das zierlich-schöne, vom Nabel abwärts wilde Paar an. Nach einem kurzen, heftigen Kampf fordert er neben den beiden magischen Ringen, die die bedrängte Pliades ihm im Tausch für ihr Leben anbietet, eine Spange, die sie trägt, als Zeichen, dass er dort gewesen ist, und nimmt zuletzt noch die kostbaren Figuren des Schachspiels an sich. Seine wilde Flucht erweist sich nun – anders als auf der Hinfahrt – als überaus gefährliche Grenzüberschreitung, es gelingt ihm mit knapper Not, den zahlreichen ihn verfolgenden Kentauren und Drachen zu entkommen und den nun reißenden Strom zu überwinden. Nach einem letzten Drachenkampf bemerkt er zu seinem Ärger den Verlust eines Turmes. Erschöpft legt er Harnisch, Schild, Helm und Schwert ab, die Schachfiguren und 14

A: als Alabasterstain. Ich übersetze hier und in V. 8275 den im Mittelhochdeutschen stehenden Singular mit Plural, da die Aussagen wie die der vorausgehenden und folgenden Verse (im Sinne des Pronomens yetliches; V. 8273) sicher auf beiden Kentauren zu beziehen sind.

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die Spange legt er in den Helm. Während er schläft, stiehlt ihm ein Wildes Weib, verlockt von den glänzenden Gegenständen, die Spange, die sie sich anheftet, sein Pferd und seine gesamte Kampfausrüstung einschließlich des Helmes (und damit – so muss man wohl annehmen – auch die Schachfiguren, ich komme darauf zurück). Als sein Freund Climodan auf das Wilde Weib trifft, flieht es, er kann sich aller gestohlenen Gegenstände (außer der Spange) bemächtigen und sie Apollonius zurückgeben. Dieser übergibt nach seiner Rückkehr die Schachfiguren Nemrot (wieder wird der Verlust des Turmes erwähnt), der auch die Spange wiederbeschaffen lässt. Nemrot dankt Apollonius und weist auf den unermesslichen Wert der Steine hin, die, wie er weiß, aus dem Besitz Nebukadnezars stammen (V. 8780).16 Am Ende kehren die Schachfiguren jedoch zu Apollonius zurück: Als Nemrot, den jener nach einer gewonnenen Schlacht töten lassen will, von den Fürsten freigebeten wird, muss er ihm als Preis für sein Leben das Schachspiel zurückgeben (V. 10554f.). Bei allen singulären, nicht substituierbaren Objekten im Apollonius-Roman verweist das Raubmotiv nachdrücklich auf das Begehren, das konstitutiv für den Wert der Objekte ist, und damit auch auf Rivalität im weitesten Sinne, aus der Apollonius fast immer siegreich hervorgeht: Mit einer Ausnahme17 kehren alle Objekte mit mehrfachem Besitzwechsel, sind sie einmal in Apollonius’ Besitz gewesen, schließlich zu ihm zurück: der Ring der Sirene, Kolkans Schwert, Harnisch, Helm und Schild, der magische Stein Diomenas und eben die Schachfiguren. Dabei steht am Anfang der komplexen Besitzwechselbewegungen jeweils der irreversible und zumeist dramatisch erzählte, deutlich sujethafte Übergang der Dingobjekte aus einer ‚anderen‘ Welt in die des Protagonisten. Es kann nicht ohne Bedeutung sein, dass das Begehren sich fast stets auf einen Gegenstand richtet, der aus einer Gegenwelt stammt. Wurde diese eingangs als eine Welt des Monströsen und Normüberschreitenden bezeichnet, so ist das nun zu präzisieren. Gerade die strukturelle Relation zur ‚höfischen Welt‘ ist intrikat; so wurde in der Forschung auf die Inszenierung von übergro16

Außer in den weiter unten besprochenen Dimensionen zeichnet sich das Schachspiel also auch dadurch vor den anderen singulären Objekten aus, dass es bereits eine längere eigene Geschichte hat. Wie es aus dem Besitz des Nabuchodonosor bzw. seiner Erben in den des Achiron übergegangen ist, der sein gesamtes Gut seiner Tochter Pliades vererbt hat, wird nicht erzählt (wie auch über das Schicksal der Stadt Babylon nichts weiter gesagt wird, außer – mit Verweis auf die Bibel –, dass sie von Gott verflucht ist und nicht mehr von Menschen, sondern von Ungeheuern bewohnt wird). Möglicherweise ist das Schachspiel auch in fernerer Vergangenheit einmal Objekt eines Raubes gewesen. 17 Es handelt sich um die auf die Funktion als wortzaichen (V. 8098) festgelegte Spange der Pliades, die in Nemrots Besitz bleibt: Si [das Wilde Weib] warff das hefftlein von ir/Das ward Nemrotten schier (V.  8798f.; „Sie warf die Spange von sich, die bald darauf in Nemrots Besitz überging“); warum Birkhan den zweiten Vers mit „was Nemrot sogleich bemerkte“ übersetzt, ist nicht nachvollziehbar, da ein kunt oder ähnliches in keiner Handschrift überliefert ist; Heinrich von Neustadt: Leben und Abenteuer des großen Königs Apollonius zu Land und zur See. Ein Abenteuerroman von Heinrich von Neustadt verfaßt zu Wien um 1300 nach Gottes Geburt. Übertr. mit allen Miniaturen der Wiener Handschrift C, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Helmut Birkhan, Bern u. a. 2001, S. 144.

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ßer Bedrohlichkeit, Gewalt und Scheußlichkeit einiger gegenweltlicher Wesen im Text hingewiesen, zugleich wurden aber gleitende Grenzziehungen zwischen Fremdem und Vertrautem, Monstrosität und Normerfüllung vermerkt:18 Einige der hybriden Wesen und Wildleute (die Sirene, der Wilde Mann), ja sogar das Wundertier Milgot verhalten sich gemäß den Regeln höfischer Reziprozität, wechselseitiger Ehrerweisung und Hilfeleistung; das Monstrum Kolkan herrscht nach Prinzipien feudaladeliger Herrschaft, hat ‚menschliche‘ und zugleich ausgesprochen nichtmenschliche Züge; Mischwesen auf der Skala zwischen Mensch und Nicht-Mensch lösen Schrecken und Ekel aus und sind zugleich in Sippen-triuwe aufeinander bezogen (Kolkan, Flata, Achiron). Dabei sind im Übrigen die Grenzziehungen (bzw. ihre Relativierungen) zwischen ‚menschlich‘ und ‚nichtmenschlich‘ sowie diejenigen zwischen ‚höfisch‘ und ‚nichthöfisch‘ keineswegs kongruent, sondern markieren jeweils unterschiedliche Oppositionen bzw. Übergänge (wie an dem z. T. ‚höfisch‘ agierenden Tier Milgot einerseits und an dem teils menschlichen, aber ganz und gar unhöfischen Kolkan ersichtlich ist). In jedem Fall wird deutlich: Die Gegenwelten sind nicht einfach nur oppositiv auf die Welt des ‚Höfischen‘ und ‚Normalen‘ bezogen, sondern erscheinen „wie ein monströses Zerrbild des vertrauten zivilisatorischen Zustands“.19 Interessant scheint mir, mit diesem Befund eines spannungsvollen Spiegelungsverhältnisses auch die Dingobjekte der Gegenwelten zu befragen. Mit Oppositionen wie ‚Natur/Kultur‘ oder ‚wild/höfisch‘ lässt sich das Verhältnis der Handlungsräume Galacides, Chrisa20 und Babilonia zur ‚normalen‘ höfischen Welt kaum adäquat beschreiben. Diese Reiche tragen entweder Züge (allerdings zeitweise erlösungsbedürftiger) paradiesischer Welten bzw., so könnte man im Falle des verfluchten Babilonia sagen, das noch den Glanz und die Kostbarkeit seiner materiellen Kultur dem Protagonisten erlebbar macht, eines pervertierten Paradieses. Alle drei Reiche sind, so lässt sich vorerst festhalten, auf den Skalen zwischen Vertrautem und Fremdem einerseits und kultureller Norm und (monströser) Abweichung andererseits jeweils unterschiedlich verortet. Galacides erhält die Dimension bedrohlicher Normabweichung nur durch die (vorübergehende) Gewaltherrschaft der Monstren. Die kulturelle Norm repräsentiert es mit seinen paradiesischen Aspekten in gesteigerter Form; die hierin liegende positive Spiegelung der ‚normalen‘ höfischen Welt gilt noch eindeutiger für Chrisa, das Goldene Tal,21 das als das 18

Vgl. Wachinger (Anm. 1), S. 109–111; Kiening, Appollonius unter den Tieren (Anm. 1), S. 419 und 421–427. 19 Kiening, Appollonius unter den Tieren (Anm. 1), S. 425. 20 Es mag überraschen, dass hier auch Chrisa (das Goldene Tal) als Gegenwelt eingeordnet wird; es ist zwar kein feindliches Reich, aber als zu erlösendes doch parallel zu Galacides konstruiert und stellt eine in abstrakt-strukturellem Sinne jenseitige Welt dar; zudem können die Überlegungen zu einem Spiegelungsverhältnis zwischen der höfischen Welt und den Gegenwelten auch auf Chrisa bezogen werden. 21 Die nach dem Bruch mit Diomena vom Protagonisten formulierte Abwertung des Goldenen Tals ist zum einen in Zusammenhang zu sehen mit der Relativität von Werten im Apollonius, zum anderen ist aufgrund der übergeordneten Rückkehrstruktur (Rahmenhandlung) die Durchbrechung der auf Diomena orientierten, untergeordneten Rückkehrstruktur strukturell erforderlich und damit auch

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ander paradeyß (V. 8848; „das zweite Paradies“) keinen Mangel und keine Vergänglichkeit kennt und dessen Zentrum, Diomenas künstlicher Garten, den Inbegriff gesteigerter Kostbarkeit der höfischen Kultur bildet, im Spiegelungsverhältnis der ‚normalen‘ Welt gleichwohl gegenüberstehend. In Babilonia dagegen ist das bedrohlich Andere, die monströse Abweichung, dauerhaft präsent und zentral konstitutiv, nicht ephemer oder marginal: nicht allein in Gestalt der gefahrbringenden Wächterfiguren (der den Zugang versperrenden Drachen und wilden Tiere), sondern mehr noch in der Menschenverlassenheit, die den Zustand der Verfluchtheit noch nachdrücklicher zum Ausdruck bringt. Gerade dieses massive Defizit Babilonias macht ja die extrem gesteigerte Pracht, Exklusivität und Kostbarkeit der materiellen höfischen Kultur in ihrer Wertigkeit ambivalent, macht sie zu etwas VertrautUnvertrautem, Höfisch-Normabweichendem. In der Gegenwelt Babilonias ist die Ambivalenz widersprüchlicher Relationierungen zur höfischen ‚Normalität‘ am stärksten, ist die in der Spiegelung höfischer Kultur entstehende Verzerrung am eklatantesten. Bezogen auf die geraubten Dingobjekte entspricht dem die ambivalente Verknüpfung von Kostbarkeit und Exklusivität einerseits und ‚monströser‘, normabweichender, ‚jenseitiger‘ Singularität der Objekte andererseits. Zum Vergleich möchte ich auf die großen Mengen von quantifizierbaren und substituierbaren Gaben wie Gold, Silber, Edelsteine, Gewänder und Pferde hinweisen, die im Apollonius in Akten der milte ununterbrochen zirkulieren, ohne dass hier übrigens die Kategorie des Begehrens auch nur im geringsten relevant würde. Der Wert dieser Gaben leitet sich aus der Perfektion des im höfischen Sinne Normgerechten her, was Substituierbarkeit impliziert. Demgegenüber ist an den gegenweltlichen Dingen das begehrenswert, was als das sowohl Höfisch-Exklusive wie auch ganz Andere nicht in Relation zum Normativen erfasst werden kann – eben auch nicht in einer deutlichen Opposition –, da es außerhalb von Vergleichbarkeit liegt, mithin inkommensurabel ist. Textstrukturell gesprochen, ist die komplexe Relationierung von höfisch-‚normaler‘ Welt und Gegenwelt, die sowohl durch eine harte Grenze als auch durch ein Spiegelungsverhältnis gekennzeichnet ist, gleichsam die Voraussetzung dafür, dass die Dingobjekte begehrenswert sein können – um singuläre, hochaufgeladene werthafte Objekte zu sein, müssen sie gegenweltlich und zugleich Inbegriff einer gesteigerten höfisch-exklusiven Kultur sein. Ferner fällt auf, dass einige der Objekte von ihren gegenweltlichen Vorbesitzern am Körper getragen wurden: Harnisch, Schild und Helm (später vom Wilden Weib gestohlen) werden mit Kolkans Schuppen besetzt, die beiden Ringe und die Spange trägt Pliades bei Apollonius’ Eintritt in die Kemenate, die Spange heftet sich das Wilde Weib ihrerseits an die Brust. Nähe zum Gegenweltlichen ist damit auch für die späteren Besitzer indiziert. Aber nicht nur über die Objekte, sondern mehr noch über das Begehren selbst entstehen Berührungspunkte mit den Gegenwelten. Das Begehren ist gleichsam die durchlässige Stelle oder das Medium, das einen ‚Austausch‘ zwischen normgerechter Welt und Gegenwelt ermöglicht, die doch (auch) durch deutlich exponierte Grenzen voneinander getrennt die Wertneutralisierung ihres Reichs und aller von ihr erhaltenen Gaben; vgl. Egidi, Tausch/Gaben (Anm. 1), Kap. 3.2.2. Anders Achnitz (Anm. 1), S. 307–337.

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sind.22 Es ist ein Austausch in beide Richtungen, wie das Verlangen des Wilden Weibes zeigt, Waffen, Rüstung und Spange zu besitzen. Bei solchen rivialisierenden Begehren handelt es sich zwar nicht exakt um das, was René Girard ‚mimetisches Begehren‘ genannt hat:23 Er bezeichnet damit bekanntlich ein Begehren, das ein anderes nachahmt, wobei das begehrende Subjekt sich im Grunde dem ‚Mittler‘ zuwendet, den es begehrend nachahmt.24 Doch scheint mir, und dies lässt sich von Girards Konzept vielleicht auch für die vorliegenden Begehrensstrukturen lernen, als entstünde über die Rivalität im Begehren ein kaum wahrnehmbares Band zwischen den Welten. Beide skizzierten Merkmale, die Ambivalenz in der Relationierung der Welten als grundlegendes Strukturmerkmal und deren geheime Verbindung im Begehren, entsprechen einander und sind benachbart. Dabei ist das Begehren die Kategorie, mit der die Struktureigentümlichkeit – die verzerrte Spiegelung der höfisch-‚normalen‘ Welt in der Gegenwelt – in der Erzähldynamik entfaltet werden kann. Und wieder ist es die Schachraubszene, in der beide Aspekte am deutlichsten zu Tage treten. So ist die Nähe zwischen ‚höfisch-exklusiv‘ und ‚abweichend-unvertraut‘ hier am stärksten und am irritierendsten in Szene gesetzt: in der nach außen abgeschlossen wirkenden Einheit, die sich im Ausgangs-Setting der Szene aus dem Kemenaten-Schmuckkästchen, den schön-wilden Kentauren und dem luxuriös-singulären Schachspiel bildet, Chiffre für Kultur und mit seiner Herkunft zugleich in die Vorgeschichte des verfluchten Babilonia zurückführend. Überdies ist das Schachspiel die dingliche Verdichtung dessen, worauf sich Begehren richten kann, es wird zum Inbegriff des gegenweltlichen25 begehrten Objekts. Zwar unternimmt der Protagonist die Babilonia-Aventiure nicht aus eigenem Antrieb, sondern im Auftrag Nemrots, doch war in dem Auftrag von einem Schachspiel nicht die Rede. In der Intimität der Kemenate, in der das Kentaurenpaar in eine Partie versunken am Schachbrett sitzt, fällt der Blick des Eindringlings erst beim Hinausgehen auf das Schachspiel, er kehrt noch einmal um und nimmt nun erst die kostbaren Figuren an sich: 22

Galacides und Chrisa sind von Monstern ‚verschlossen‘, die Zugänglichkeit Chrisas ist außerdem durch die verschiedenen Tugendproben eingeschränkt; Babilonia ist verflucht und ebenfalls von Ungeheuern umgeben. 23 Vgl. René Girard: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh, Münster u. a. 1999 (Beiträge zur mimetischen Theorie 8), S. 11–60 („Das ‚trianguläre‘ Begehren“). 24 Die vorliegenden Begehrensstrukturen sind mit Girards Konzept des mimetischen Begehrens deshalb nicht wirklich vergleichbar, weil das Objekt des Begehrens zu sehr im Zentrum steht und der ‚Mittler‘ (dessen Begehren nachgeahmt wird) zu wenig; außerdem wäre die Richtung der Nachahmung unklar. 25 Zur gegenweltlichen Herkunft beim Motiv des Schachspiels verweise ich auf das Motiv des magischen Schachbretts im altfranzösischen Gralsroman und im mittelniederländischen Walewein; vgl. Walther Haug: Der Artusritter gegen das magische Schachbrett oder Das Spiel, bei dem man immer verliert. In: Ders.: Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Bd. 1: Strukturen als Schlüssel zur Welt, Tübingen 1989, S. 672–686, der das Schachspiel als Schwellensymbol zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt deutet.

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Lonius der gie hin für Di richte gegen der schonen tür. Er sach das schachzabel prett. Zehant er widerkere det Und nam das gestaine, Das was edel und raine. (Apollonius von Tyrland, V. 8369–8374) Lonius ging schon auf die kostbare Tür zu, als sein Blick auf das Schachbrett fiel. Sofort kehrte er zurück und nahm die schönen, erlesenen Steine an sich.

Die sorgfältige Inszenierung des Raubes zeigt: Dies geschieht nicht aus Zufall, sondern folgt einer immanenten Logik – das Schachspiel ist das gegenweltliche Objekt schlechthin, das Begehren auf sich zieht und das es mitzunehmen gilt. Es ist zunächst Teil der Intimität des gegenweltlichen Paares, dem es aufs Engste zugehört. Die Verbindung zwischen dem Schachspiel und den Kentauren wird umso deutlicher, als auch diese selbst als exotisch-schön beschrieben werden, gleichsam als kostbar-exklusive Figuren (V.  8262–8280; siehe oben), deren Haut und Haare schneeweiß wie Elfenbein sind (in Handschrift A: als Alabasterstain; V. 8274); eine Farb- und Materialzuweisung gibt es auch bei den Schachfiguren, die aus Smaragden und Rubinen bestehen (V. 8768–8770). Kentauren wie Schachspiel sind gleichsam kostbarer Inhalt der schatzkästleinartig ausgestatteten Kemenate mit einer Tür aus einem einzigen Hyazinth, Wänden aus Gold, Jaspis und Chrysolith, geschmückt mit Karfunkeln und Rubinen, die einen derartigen Glanz verbreiten, dass der Eindringling, als er die Kemenate öffnet, zunächst geblendet ist (V. 8239–8261; siehe oben). Es scheint, als sei er in das innerste Zentrum der Gegenwelt gelangt. Die narrative Entfaltung der Raubszene verweist darauf, dass das Begehren hier nicht als etwas Sekundäres aufzufassen ist, das in einem sauber in einzelne Teilschritte zerlegbaren Nacheinander etwa erst aus dem Blick und dem Wert des Objekts entstünde und aus dem der Impuls der Aneignung seinerseits erst hervorginge. Vielmehr wird mit dem Erblicken im letzten Moment ein ‚unwillkürliches‘ Begehren in Szene gesetzt, das, so könnte man zuspitzen, sich gleichzeitig mit Blick und Raub ereignishaft vollzieht, und mit welchem die strukturelle Ambivalenz im Verhältnis von höfischer Welt und Gegenwelt narrativ entfaltet wird. Selbstverständlich sind die kostbaren und singulären Schachfiguren auch unabhängig von diesem Geschehen wertvoll und gehören damit zu den Dingen, auf die sich generell Begehren richten kann. Doch die Aktualisierung dieser Möglichkeit, die blitzartige Entstehung eines ereignishaften Begehrens liegt in genau dem Moment des Herausreißens der Figuren aus der engen Verflechtung mit ihrem gegenweltlichen Herkunftsraum – und ist damit Teil einer Bewegung, einer Dynamik, die sich gleichermaßen im Blick wie im Raub realisiert sowie schließlich auch in der aber-

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maligen Grenzüberschreitung auf der Flucht aus Babilonia. Die Stärke des Begehrens entspricht der vormaligen engen Einbettung der Figuren in das gegenweltliche Zentrum und dem gewaltsamen Akt des Herausreißens. Das zeigt sich auch an Piramorts Reaktion: Sich hub schreyen und clagen, Da Piramort dar zu kam Da Lonius di staine nam (Apollonius von Tyrland, V. 8376–8378) Lautes Schreien und Klagen erhob sich, als Piramort dazukam und sah, wie Lonius die Steine an sich nahm.

Die Verfolgung des Apollonius ist primär durch den Verlust der Schachfiguren motiviert, nicht durch den der anderen Kostbarkeiten: Gar lautte schre da Piramort: ‚Er hatt da pey im meinen hort, Das schachzabel gestaine, Paide groß und klaine.‘ Da ward in allen auff in zoren. (Apollonius von Tyrland, V. 8403–8407) Laut schrie Piramort: ‚Er hat meinen Schatz bei sich, die Schachfiguren – alle ohne Ausnahme!‘ Da entbrannten sie alle in Zorn.

Zorn als Reaktion auf das Entbehrenmüssen des begehrten Objekts empfindet auch Apollonius, als er auf der Flucht den Verlust des Turmes bemerkt (Das was im laid und zoren; V.  8490; „das bereitete ihm Zorn und Verdruss“)  – wieder wird die im Begehren entstehende Nähe zu den Vertretern der Gegenwelt erkennbar. Nemrots Freude ist groß, als Apollonius ihm die Figuren übergibt, und diesem sind sie am Schluss der BabiloniaEpisode begehrenswerter als Nemrots Tod, den er doch durchaus wünscht. Dass das beiderseitige Begehren ein unsichtbares Band zwischen höfischer Welt und Gegenwelt herstellt, dass es als durchlässige Stelle einen verdeckten Austausch zwischen ihnen ermöglicht – auch dies gilt für die Schachfiguren als integralem Teil der Gegenwelt mehr als für jedes andere Dingobjekt.

Gegenweltliche Dingobjekte im Apollonius von Tyrland – das Schachspiel

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3. Schachspiel und Erzählen Eine weitere Dimension, in der sich das Schachspiel von anderen singulären Objekten unterscheidet, ist das Spiel mit unterschiedlichen Textebenen. Schachfiguren und Protagonist sind nicht nur als Objekt und Subjekt des Begehrens aufeinander bezogen: Apollonius wird an früherer Stelle selbst als rôch bezeichnet, der seinen Gegenspieler, König Antiochus, schließlich mattsetzen wird.26 Konstitutiv ist hier im Übrigen abermals Rivalität und Nähe im Begehren, denn Apollonius begehrt die Tochter des Antiochus zur Frau (was ein auf Herrschaft gerichtetes Begehren mit umfasst), mit der dieser eine Inzestbeziehung führt.27 Was hat es mit der Bezeichnung als Turm auf sich? Zum einen geht es zweifellos, wie Almut Schneider überzeugend argumentiert, um Herrschaftsübernahme; auf die Herrschaftsthematik ist das Schachspiel als Modell von Gesellschaft ja traditionell bezogen.28 Die besondere Pointe ist hier, dass die Schachfigur des Turmes, auf die Apollonius in der Gegenüberstellung mit Antiochus bezogen wird, im mittelalterlichen Schachspiel neben dem König die wichtigste Figur ist, nämlich dessen Stellvertreter.29 Schneider weist darauf hin, dass die Macht des Turmes, der den König absetzen kann, in der Schachbücher-Tradition durch den Vergleich mit historischen Ereignissen der Machtübernahme erläutert wird, und stellt dies (sicher zu Recht) in den Kontext der Thematisierung gerechter Herrschaft.30 Ich sehe im Schachmotiv im Apollonius allerdings noch eine weitere, ebenfalls zentrale Dimension: die Relationierung verschiedener Ebenen des Textes mit poetologischer Perspektivierung. Könnte das Schachspiel nicht neben seiner traditionellen Funktion als statisches Modell der mittelalterlichen Gesellschaft auch ein dynamisches Modell 26

Der Kontext dieser Stelle ist ein Erzählerkommentar, der auf die Erwähnung des Kopfgeldes, das Antiochus auf Apollonius aussetzt, folgt (er bezieht sich auf den eingangs erzählten Traum des Nebukadnezar): Anthiochius, unrainer pawm!/Nu rurt dich der trawm:/Dein golt [mit AD; B: got] verplaichet vaste,/[…]./Valsch ist gar dein opfer,/Dir sagt schier matt [B: mait] das roch./[…]/Was hat dir Tyrus gethan,/Das du in umb sust wilt mden [mit A] lan? (V. 871–882; „Antiochius, du verfaulter Stamm! Nun trifft dich der Traum [sc. des Nebukadnezar]: Rasch verbleicht dein Gold […]. Dein Damenopfer [so Birkhan, Anm. 18, Anm. 25] war vergebens, denn nun setzt dich der Turm matt. […] Was hat dir der Tyrer getan, dass du ihn ohne Schuld ermorden lassen willst?“). 27 Allerdings ist Antiochus kein Vertreter einer Gegenwelt, sondern, wie Nemrot, Negativexempel im Rahmen der höfischen Welt. 28 Vgl. Schneider (Anm. 1), S. 240–247; vgl. Hans Petschar: Schachspiel. II. Das Schachspiel in der Literatur. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7 (1995), Sp. 1428–1430. 29 Vgl. Schneider (Anm. 1), S. 243–246; vgl. auch Achnitz (Anm. 1), S. 307, Anm. 261. 30 Schneider versteht in ihrer Deutungsperspektive die schließliche Inbesitznahme der Schachfiguren durch Apollonius als Signal dafür, dass dieser „würdig wird, in die Position des Königs zu wechseln“, was zwar sicher zutreffend ist, aber mir die Suggestionskraft und Vielschichtigkeit des Spiels mit dem Schachmotiv doch nicht ganz auszuloten scheint; Schneider (Anm. 1), S. 247. Gleiches gilt für den Verlust des Turmes, den Schneider auf den zeitweisen Identitätsverlust des Apollonius als ‚Lonius‘ deutet (S. 246) – auch dies ist gewiss nicht falsch, aber doch wohl auch nicht erschöpfend, was das Motiv des Verlustes betrifft (ganz davon abgesehen, dass die soziale Identität des Apollonius restituiert, der Verlust des Turmes jedoch nicht aufgehoben wird).

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der Raumdurchmessung durch die Figuren einer Handlung sein – in Zügen, die (grenzüberschreitende) Aventiuren symbolisieren?31 Wichtig ist hier der Hinweis von Almut Schneider, dass die Macht des Turms im mittelalterlichen Schachspiel in seinen besonderen Bewegungsmöglichkeiten liegt – er ist „die einzige Figur, die raumgreifend agieren kann“.32 Der Turm ist also die beweglichste Figur. Im Text wird Beweglichkeit auf der Ebene des Erzählens wiederum gerade in den Grenzübergängen zum Gegenweltlichen und ‚Jenseitigen‘ hin evident – und zwar, aufgrund der Gefährlichkeit des Übergangs, besonders in der Schachraubszene! Ausgerechnet der Turm ist es ja, den Apollonius bei dem ‚Zug‘ dieser eminent sujethaften Grenzüberschreitung ‚verliert‘ (was ja auch in einer Schachpartie geschehen kann). Und die Grenzüberschreitung zeichnet ihn wiederum als hochgradig bewegliche Figur (im Sinne Lotmans) aus.33 Die Verdoppelung des Turmmotivs weist auf eine komplexe Form der Ebenenverschränkung hin. Das Schachspiel (oder der Turm als seine offenbar wichtigste Figur) wird zur poetologischen Metapher, die einen Zusammenhang markiert zwischen dem Begehren und der Gegenweltlichkeit der geraubten Dinge auf der einen Seite und Strukturen des erzählenden Textes auf der anderen Seite: seiner ausgestellten Sujethaftigkeit und dem betonten Grenzüberschreitungscharakter des erzählten Geschehens. Weiter oben wurde postuliert, dass die strukturelle Relation zwischen den Handlungswelten gewissermaßen die Voraussetzung dafür ist, dass gegenweltliche Dingobjekte begehrenswert sein können. Zugleich ist aber die ereignishafte Aktualisierung des Begehrens im Falle der Schachfiguren als Teil einer Bewegung zu sehen, zu der – zusammen mit der gewaltsamen Herauslösung aus ihrem gegenweltlichen Herkunftsraum – auch die gefährliche Rücküberschreitung der Grenze durch die bewegliche Figur des Protagonisten gehört. Begehren und Textstruktur bzw. -dynamik sind somit wechselseitig aufeinander bezogen, und eben dies indiziert die poetologische Metapher des Schachspiels. Auf die Ebene des Erzählens führt auch eine letzte Beobachtung zu den Schachfiguren. Eigentümlich sind die Lücken, die das Erzählen vom Diebstahl durch das Wilde Weib aufweist. Ausdrücklich wird erwähnt, dass Apollonius, als er sich nach der Flucht aus Babilonia erschöpft schlafen legt, außer der Spange auch die Schachfiguren in seinen Helm legt: Di staine [i. e. die Figuren] und das häfftelein/Legt er in den helm sein (V. 8587f.). Beim Raub durch das Wilde Weib ist jedoch nur von Harnisch, Schild, Schwert, Helm 31

Hierzu vgl. Melanie Urban: Kulturkontakt im Zeichen der Minne. Die Arabel Ulrichs von dem Türlin, Frankfurt a. M. 2007 (Mikrokosmos 77), S. 159, zu einem als Plenar umgearbeiteten Schachbrett, dessen Miniaturen Kampf- und Aventiureszenen darstellen. 32 Schneider (Anm. 1), S. 243–246, zit. 243; vgl. auch Achnitz (Anm. 1), S. 307, Anm. 261. 33 Vgl. Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, München 4 1993, S. 329–340; zu Lotman mit Bezug auf den mittelalterlichen höfischen Roman vgl. Rainer Warning: Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion. In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Dieter Henrich/Wolfgang Iser, München 1983 (PUH 10), S. 183– 206.  – Eine solche strukturorientierte Einordnung der Turmmetapher schließt ja im Übrigen den Bezug auf das Motiv der Herrschaftsübernahme und Herrschaftslegitimierung keineswegs aus, im Gegenteil: Die beweglichste Figur, die sich zentrale Dinge aus der ambivalenten Gegenwelt anzueignen vermag, ist auch für die Herrschaftsübernahme legitimiert.

Gegenweltliche Dingobjekte im Apollonius von Tyrland – das Schachspiel

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und Pferd die Rede  – und von der Spange, die auch im Helm liegt. Ausgerechnet die sich ebenfalls im Helm befindenden Schachfiguren bleiben unerwähnt (V. 8579–8596).34 Nach dem Erwachen klagt Apollonius nur über den Verlust der Rüstung und des Schwertes, was der Situation geschuldet ist, da niemand, so seine Sorge, dem Unbewaffneten die Drachentötung glauben werde (V. 8608–8641). Unweit davon findet Climodan, während das Wilde Weib vor dem Herannahenden flieht, das herrenlose Pferd samt der gesamten Kampfausrüstung und schließt daraus fälschlicherweise auf Apollonius’ Tod: Er vie das roß und rayt hin dan Und klagte sere den werden man. In den helm gesach er nie, Seyt das er das [ros]35 gevie: Vor rechtem layde das geschach. (Apollonius von Tyrland, V. 8716–8720) Er fing das Ross ein und ritt weiter; dabei klagte er um den Edlen. In den Helm sah er in seinem aufrichtigem Kummer nicht hinein, da er das Ross [ohne Reiter] gefunden hatte.

Ausdrücklich heißt es, dass er aus Schmerz über den vermeintlichen Tod seines Freundes also nicht in den Helm schaut – aber was dort einzig zu sehen wäre, wird nicht gesagt: die Schachfiguren (die Spange hat das Wilde Weib ja zuvor herausgenommen). Nachdem er Apollonius gefunden und ihm die wiedergewonnenen geraubten Gegenstände übergeben hat, freut sich dieser: Zehant was Lonius gemait, Do er sein harnasch an gelait. Das schachzabel hett er noch: Deß frewte sich sein hertze doch. (Apollonius von Tyrland, V. 8750–8753) Als er seinen Harnisch angelegt hatte, wurde Lonius wieder froh; Sein Herz freute sich darüber, dass ihm die Schachfiguren nicht abhanden gekommen war.

Insofern von seiner Freude über das Schachspiel genau dann die Rede ist, als er die anderen entwendeten Objekte zurückerhält, ist auch in dieser Stelle ein zugleich mit Auslassungen einhergehender indirekter Hinweis darauf zu sehen, dass die Schachfiguren ihm 34

Diese Auslassung könnte man (jenseits der hier vorgeschlagenen Deutung) allenfalls noch als indirekte Charakterisierung der Perspektive des Wilden Weibes auffassen und so deuten, dass es sich nur für ‚glänzende Dinge‘ interessiere, aufgrund seines Status’ als Grenzwesen zwischen Natur und Kultur das kostbarste Objekt jedoch – das Schachspiel, das ja zugleich Kulturmetapher ist – nicht zu erkennen vermöge. 35 ros fehlt in B.

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ebenfalls entwendet worden waren und nun in seinen Besitz zurückgekehrt sind.36 Das aber wird explizit gerade nicht gesagt. Die Auslassungen im Erzählen werden also durch Hinweise, die sich gleichsam an ihren Rändern anlagern, als solche sichtbar gemacht. Es scheint, als schlüge sich in diesen markierten Lücken des Erzählens das Thema des Mangels und Verlustes in der narration nieder.37 Dies allerdings nicht im Sinne einer Parallelisierung von histoire und narration, sondern als suggerierte unmittelbare Auswirkung des Erzählten auf das Erzählen. Das Schachspiel, so sei abschließend zusammengefasst, ist im Apollonius-Roman auf der Ebene der histoire das begehrte gegenweltliche Objekt schlechthin, welches im Begehren Nähe zur Gegenwelt entstehen lässt; dabei kann mit der Kategorie des Begehrens die Struktureigentümlichkeit – die verzerrte Spiegelung der höfisch-‚normalen‘ Welt in der Gegenwelt – erzählend entfaltet werden: das prekäre Spiegelungsverhältnis, in dem das Vertraute zugleich das ganz Andere ist, in dem sich die Erfüllung kultureller Norm mit dem Monströs-Bedrohlichen unauflösbar verbindet. Das Schachspiel – insbesondere der Turm – wird ferner auf der Ebene der narration zur poetologischen Metapher, mit der eine Verschränkung der verschiedenen Textebenen markiert wird, ein Zusammenhang zwischen dem auf die gegenweltlichen Objekte gerichteten Begehren und den Strukturen des Erzählens, und eröffnet schließlich die Möglichkeit, mit den Auslassungen und Lücken einen unmittelbaren Effekt des Erzählten auf das Erzählen zu suggerieren.

36

Zwar scheint das Adverb noch (V. 8752) nahezulegen, dass sie es die ganze Zeit waren, doch sind die übrigen Aussagen eindeutig, insbesondere die explizite Erwähnung, dass Apollonius die Schachfiguren in seinen Helm gelegt hatte. Noch mag sich hier auch darauf beziehen, dass er die Figuren bei seiner Rückkehr Nemrot übergeben wird. 37 Ein Thema, das nicht nur in dieser Episode eine Rolle spielt (Verlust des Turms), sondern schon in der Inzest-Vorgeschichte eingeführt wird, in der dem Protagonisten die Braut, auf die er aufgrund der Lösung des Rätsels einen Anspruch hat, vorenthalten wird.

Martin Baisch (Berlin/Konstanz)

Brief und Briefwechsel im Minne- und Aventiureroman Phänomenologie – Funktionalität – Perspektiven

1. Yrkanes ovidischer Briefkuss In dem anonym und unikal überlieferten, auf das letzte Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts datierten Minne- und Aventiureroman Reinfried von Braunschweig schreibt Reinfrieds Ehefrau Yrkane dem Helden, der sich auf Abenteuerfahrt im Orient befindet, einen langen Liebesbrief (vgl. Reinfried V. 23449ff.). In diesem erzählt sie von der Geburt des gemeinsamen Sohnes und fordert ihn auf, nach Hause zurück zu kehren. Ein Bote übergibt den Brief an Reinfried, nachdem er ihn endlich in Ascalon gefunden hat. Die Wirkung ist erstaunlich: Reinfried zeigt eine extreme körperliche Reaktion, als er durch den Boten zur Heimkehr ermahnt wird. Noch bevor er den Brief seiner Ehefrau überhaupt gelesen hat, gerät er vor Freude in einen emotionalen Ausnahmezustand, der dazu führt, dass seine Hautfarbe sich mehrfach ändert, dass er aus Nase und Mund blutet und dass man meint, der Fürst müsse nun sterben (vgl. Reinfried V. 24442ff.).1 Yrkanes Brief – golden versiegelt – beginnt ohne eigentliche „salutatio, die entsprechend der Norm der lateinischen Briefsteller und auch der deutschen Minnebriefe hier zu erwarten wäre“,2 mit einem Unfähigkeitstopos, der der Verifikation des Geschriebenen dient. Sie, Yrkane, sei eigentlich nicht imstande, einen Liebesbrief zu schreiben – und die Heldin schreibt dann doch, eine paradoxe Konstruktion, einen der umfänglichsten Liebesbriefe, der sich innerhalb der mittelhochdeutschen Romanliteratur findet. 1

Reinfrieds Reaktion betont neben der Lesefähigkeit des Helden seine Reflexivität: als im die brieve wurden schîn/und er ir schrift vil gar durlas,/verdâht ein lange stunt er saz/biz er wol zuo im selben kan./sunder er sîn ritter nan/und trâget sî der maere/waz im ze tuonde waere. (Reinfried V. 24816–22). Allerdings genügt ein Brief nicht: Reinfried erhält noch mehrere Briefe, die ihn auffordern, zu seiner Ehefrau, zu seinem Sohn, zu seiner Herrschaft zurück zu kehren. Aus den Ländern Westfalen, Sachsen und Braunschweig kommen Briefe keiserlîch versigelt,/verslozzen und verrigelt/mit ingesigeln silberîn (Reinfried V. 24813–15). Der Roman wird zitiert nach: Reinfrid von Braunschweig. Hrsg. von Karl Bartsch, Stuttgart 1871 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 109). 2 Albrecht Jürgens: Wilhelm von Österreich. Johanns von Würzburg Historia poetica von 1314 und Aufgabenstellungen einer narrativen Fürstenlehre, Frankfurt a. M. u. a. 1990 (Mikrokosmos 21), S. 373.

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Den Gestus der Distanz gegenüber der Gattung Brief und seiner Normen behält Yrkanes Botschaft auch im Folgenden bei: „Dieser Brief ist eher ein Diskurs über das, was ein Minnebrief sein könnte und was er enthalten sollte, als daß er selbst Minnebrief im herkömmlichen Sinne ist.“3 Dass in Yrkanes Schreiben ein „Nachdenken über die Bedingungen des Briefeschreibens“4 verwirklicht ist, zeigt sich auch in ihrem Wunsch, sie könnte ihre Liebe zu Reinfried so trefflich ausdrücken, wie dies Penelope tat, als sie dem Odysseus nach Troja schrieb, oder wie Dido dem Aeneas, Briseis Achillen, Phylis dem Demophoon, Helena dem Paris oder Medea dem Jason.5 Die Kenntnis antiker Literatur scheint für Yrkane, welche die Situation der hier genannten Heldinnen mit ihrer eigenen in Beziehung setzt, wie auch für den Leser bzw. die Hörer ihres Briefs vorausgesetzt. Wie die Forschung nämlich schon früh erkannte, entstammen die aufgeführten Liebespaare einem als Briefsammlung angelegten Werk, den Ovidschen Epistulae heroidum. Yrkane selbst gibt ihre Quelle preis, wenn sie zugibt, sie wollte alles, was der hoch angesehene Ovid von minne minneclîch geschreip, zu einem einzigen poetischen Kuß verdichten: ob nu mîn herze waere listic gên der minne für ir aller sinne in den ie staeter muot beleip ald von minne minneclîch geschreip ie der werd Ovidîus, daz wolt ich als an einen kus mit gedihte schrîben. (Reinfried, V. 24558–24565)6 Wenn nun mein Herz in Liebesdingen klug wäre, mehr wüsste als alle, in denen je Beständigkeit war, oder wenn der berühmte Ovid je liebenswert über die Liebe geschrieben hat – das wollte ich dichten und schreiben wie in einen Kuß.

Auffällig scheint mir hier zunächst die Rolle und der Grad der inszenierten Literarisierung bzw. Schriftlichkeit, wenn Yrkane sich auf Ovid als ihren auctor beruft. Schon Jürgens hatte „das Zitieren der Briefpartner aus den ‚Heroides‘“ als einen Hinweis an den Hörer verstanden, „mit der Literarizität, der Form und der Ausdehnung des Briefes ad3

Jürgens (Anm. 2), S. 374. Jürgens (Anm. 2), S. 375. 5 Vgl. …künd ich als Benelopê/durchgründen rehter liebe mez,/dô sî dem helt Ulixes/brief und boten sante,/daz er wider want/von Troye sîne widervart,/der sî doch entwertet wart,/wan der künste rîche starp/ûf dem mer dâ er verdarp,/sô wolt ich schreiben ouch alsô./Ald kund ich joch als Dydo/ Schreib Enêâ dem fürsten wert,/des sî ouch leider wart entwert/dâ von sî sich verbrande. (Reinfried V. 24534–24557). Vgl. hierzu auch Manfred Kern: Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungs­ rezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik, Amsterdam 1998 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 135), S. 198. 6 Vgl. zur Übersetzung dieser schwierigen Textpassage die Überlegungen bei Kern, S. 198. Ich danke für eine Diskussion der Verse Uta Störmer-Caysa sehr herzlich. 4

Brief und Briefwechsel im Minne- und Aventiureroman

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äquat umzugehen“.7 Ferner ist auffällig, dass die Grenzen zwischen fiktionaler Ebene und Rezeptionsebene verschwimmen: Die Figur selbst registriert die intertextuelle Relation, die der Text konstituiert, als solche. Sie erbringt eine Leistung, die im Normalfall – also etwa dann, wenn Yrkane nur von der schrei­ benden Penelope usw., nicht aber vom Autor Ovid sprechen würde  – erst das Publikum des ‚Reinfried‘ zu erbringen hätte. […] Der Brief Yrkanes präsentiert sich schlussendlich selbst sozusagen als 22. Brief der Ovidischen Sammlung, verfaßt von Yrkane als Pseudo-Ovid.8

Folgerichtig erfahren die Zuhörer den Brief innerfiktional  – Reinfried präsentiert den Brief öffentlich durch eine laute Lektüre – auch als ein Stück Literatur: mit gemeinem schalle lopten sî des brieves schrift. sî hatten alle ûf solhe trift süezer wort gehoeret nie, dâ von die herren dort und hie rûnden disiu maere und sprâchen daz ez waere schoene âventiure. (Reinfried V. 24690ff.)9 Mit einhelligem Preis lobten sie den Brief. Sie alle hatten auf solche Weise nie süßere Worte gehört, überall redeten die Herren heimlich und leise über diese Nachricht und sagten, dass sie eine schoene âventiure wäre.

Ob aber mit dem Zitat der antiken Exemplafiguren eine Überbietungsstruktur angestrebt wird, ist schwer zu entscheiden. Als eine Funktion der Nennung der Ovidschen Figuren im Brief lässt sich (mit Manfred Kern) der durch sie vermittelte ‚atmosphärische Gehalt‘ benennen.10 Gemeint ist damit, dass die Bezugnahmen auf die vorangegangenen Figuren und Texte nicht ‚inhaltlich‘, nicht semantisch codiert erscheinen. Der Vorgang ist – so meine These – anzusprechen als ästhetischer Effekt zur Erzeugung von Unmittelbarkeit bzw. Präsenz. Zu beobachten ist eine doppelte Bewegung: Betont ist die Autorschaft Yrkanes in der Nachfolge Ovids, der Brief wird zu Literatur und gleichwohl erhalten die verhandelten Namen keine hermeneutisch eruierbare Verweiskraft auf ihre Prätexte, sondern wirken als bloße Namen – rhetorisch ausgestellt – Sinn erzeugend. 7

Jürgens (Anm. 2), S. 378f. Kern (Anm. 5), S. 198. Vgl. auch Margreth Egidi: Implikationen von Literatur und Kunst in Flore und Blanscheflur. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner/Peter Strohschneider/Franziska Wenzel, Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen 190), S. 163–186. 9 „Die versammelte Gesellschaft, vor der der Brief verlesen wird, lobt mit gemeinem schalle … des brieves schrift: eine solche trift süezer wort (24692f.) sei noch nie vorgenommen worden. Der Brief selbst ist schoene aventiure, bestätigt das Ansehen des Empfängers und der Gesellschaft.“ Jürgens (Anm. 2), S. 376. 10 Vgl. Kern (Anm. 5), S. 199. 8

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Diese These lässt sich vielleicht auch dadurch stützen, dass man danach fragt, weshalb der Brief von Yrkane als Kuss bezeichnet wird. Der Kuss – so Hartmut Bleumer – ist in der performativ durchwirkten Kultur des Mittelalters als ubiquitäres Phänomen zu verstehen, in Epik wie Lyrik dieser Epoche als Motiv ebenso häufig anzutreffen. Ein Kuss „verbindet die Liebenden unmittelbar, er bedeutet die Liebe und hebt im selben Moment den Zeitverlauf in einer erfüllten Gegenwart auf“.11 Ein romanhafter Kuss vollzieht sich damit im Spannungsfeld textueller Gegenwärtigkeit und narrativer Prozessualität. Kuss (und dann auch der Brief) eignen als Kontaktmedien eine unhintergehbare Paradoxie: Sie verweisen auf die (unmögliche) Arbeit an der Aufhebung von Distanz zwischen Liebenden, auf die nicht leistbare Überwindung der Entfernung zwischen Körpern. Sie sind auf Unmittelbarkeit zielende mediale Effekte; die Präsenz des oder der Geliebten ist der ihnen zugrunde liegende Wunsch. Yrkanes Briefkuss verstehe ich als Versuch, die Trennung zwischen ihr und Reinfried zu überwinden, diese zu bannen. Der erwähnte Unsagbarkeitstopos zu Beginn des Briefes verweist auch auf die Unsagbarkeit des Gefühls und der Gefühle Yrkanes, die im überlangen, die höfische mâze aufgebenden Brief als Kuss aufgehoben scheinen. Derart ist der Brief aufgeladen, wird er zum Fetisch, obwohl Kuss und Brief letztlich vergeblich sind, ihr Ziel nicht erreichen, auch wenn Reinfried reuig nach Hause aufbricht. Am Beispiel von Yrkanes Brief zeigt sich, dass der Umgang mit Schrift als eine doppelte Bewegung begriffen wird, er erscheint einerseits als ästhetisch äußerst reflektiert, andererseits als fetischisiert. Die Briefe (im Minne- und Aventiureroman) lassen sich also auch in Bezug auf ihren dinghaften Charakter analysieren. So betont Andrea Polaschegg in Bezug auf die Schrift die Aspekte der Materialität, der Präsenz, des Dinglich-Körperlichen und der magischen Praxis, indem sie diese Kulturtechnik mit dem Konzept des Fetischismus, wie es Hartmut Böhme12 breit entfaltet hat, in Bezug setzt.13 Allerdings wendet sie ein, dass der Gebrauch der Schrift – im Grunde ein Kippphänomen – Strategien entwickelt, die einer Fetischisierung entgegenstehen, denn die Kulturtechnik der Schrift operiert zwar mit einem Material, das dinglich manifest und somit fetischisierbar ist, generiert zugleich aber Phänomene, die trotz ihrer Sichtbarkeit und raumzeitli-

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Hartmut Bleumer: Die Zeit Ulrichs von Liechtenstein. Oder: Die Entdeckung der Realität aus dem Geist der Lyrik. In: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius, Berlin/New York 2011 (TMP 16), S. 327–355, hier S. 354. 12 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006. 13 Andrea Polaschegg: Moses in Wonderland oder: Warum Literatur (nicht) fetischisierbar ist. In: Der Code der Leidenschaften. Fetischismus in den Künsten. Hrsg. von Hartmut Böhme/Johannes Endres, München 2010, S. 70–95, S. 71: „Die Rede ist von Schrift, verstanden als eine Kulturtechnik, die sich durch drei Aspekte auszeichnet: 1. Durch ihren Referenzaspekt, also ihre zeichenhafte Funktion, 2. durch ihren aisthetischen Präsenzaspekt, also ihren Charakter, als Gestaltformation sinnlich wahrnehmbar zu sein, und 3. durch ihren operationalen Aspekt, also die in der endlichen Differenziertheit des Schriftzeichens begründete Möglichkeit, die Schrift zu handeln.“

Brief und Briefwechsel im Minne- und Aventiureroman

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chen Begrenztheit gleichwohl keine Dinge sind und somit jeder Fetischisierung ihrer selbst die materiale Grundlage entziehen. Die Rede ist von geschriebenen und gelesenen Texten.14

Postuliert wird hier der Doppelcharakter von Schrift zwischen Ding und Nicht-Ding, wenn Polaschegg die These aufstellt, dass literarische Texte (wie Briefe) einerseits aufgrund ihrer Materialität als Dinge fetischisierbar sind, andererseits aber aufgrund ihrer Eigenschaft durch Lektüre in Gebrauch zu sein, einer Fetischisierung widerstehen. Nach diesem einleitenden Beispiel, das einen Eindruck von den poetischen Möglichkeiten des Erzählens von und mit Briefen im Minne- und Aventiureroman vermittelt, werde ich skizzieren, unter welchen Aspekten in eben dieser Gattung Status und Funktion der Inserierung von Briefen erforscht wurde. Den knappen Bemerkungen zur Forschungslage folgt der Blick auf die Verwendungsweise von Briefen in Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens und Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich.

2. Briefe im Minne- und Aventiureroman: Medialität – Emotionalität – Textualität Die mittelhochdeutschen Minne- und Aventiureromane basieren auf den Erzählstrukturen des spätantiken Liebes- und Reiseromans, nach denen zwei Liebende nach einer Phase der Trennung und dem Bestehen zahlloser Prüfungen und Abenteuer endlich glücklich und dauerhaft vereint sind.15 Thematische Schwerpunkte von Texten dieser Gattung sind auch und nicht zuletzt Politik und Gesellschaft, Herrschaft und Genealogie. Konstitutiv für den Romantyp ist die Tendenz zu intertextuellem, fiktions- und sprachreflexivem Erzählen. Dies drückt sich darin aus, dass die Autoren in vielen Fällen eine Reihe unterschiedlicher Quellen bei ihrer Romanproduktion kombinieren und diverse Handlungsschemata oder Strukturmuster miteinander verschränken. Der Begriff der ‚Hybridität‘ als ein in der Forschungsdiskussion etablierter Begriff zur Analyse des Erzählens  – darauf hat Armin Schulz in seinen Arbeiten eindrücklich insistiert – verweist darauf, dass diese Texte andere Gattungstraditionen, verschiedene literarische Motive und Schemata akkumulieren und integrieren. Durch die Kombination unterschiedlicher Erzählelemente kommt es zu semantischen Überlagerungen, das Sinnangebot der Romane wird heterogen und ambivalent. Kenntnis der literarischen Tradition und deren innovative Transformation lassen sich in vielen Werken der Gattung beobachten. Hier wäre das Erzählmotiv des Minnebriefs – als Szenen- und Briefmuster in mittelhochdeutscher Literatur etwa in Veldekes Eneasro14

Polaschegg (Anm. 13), S. 71. Hans-Jürgen Bachorski: grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Günther Berger/Stephan Kohl, Trier 1993 (Literatur – Imagination – Realität 7), S. 59–86, betont die „außerordentlich offene Struktur“ (S. 68f.) des Romantyps.

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man, in Wolframs Parzival oder in Wirnts Wigalois vorgebildet – zu nennen: Es erfährt etwa in Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens eine Weiterentwicklung, indem dort ein regelrechter Minnebriefwechsel zwischen Willehalm und Amelie inszeniert wird.16 Man hat diese Briefe unter ganz verschiedenen Perspektiven zu analysieren versucht: Gefragt wurde nach Formen und Funktionen der Autonomie der Briefe als literarische Gebilde. Sind Briefe im Roman als Werk bzw. Werke im Werk zu verstehen? Oder sind sie in den epischen Rahmen vollauf integriert? Sind sie als Elemente der schon erwähnten Hybridität dieser Romane zu begreifen? Die Briefe im Reinfried von Braunschweig bilden jedenfalls in diesem Roman „ein implizites Kommentarsystem“ aus, das die Romanhandlung neu zu perspektivieren in der Lage ist.17 Gefragt wurde nach den gattungsgeschichtlichen und gattungssystematischen Zusammenhängen. Auf welchen rhetorisch bestimmten Traditionen baut der episch inserierte Brief auf? Mit welchen Textsorten steht er in Kontakt (Minnesang, Minnereden, Versliebesbriefe, etc.)? Blickt man auf die Romanliteratur vom 12. bis zum 14. Jahrhundert, ist danach zu fragen, welche Modelle des Erzählens mit und von Briefen sich ausbildeten, durch welche Bezugnahmen sich diese änderten. Gefragt wurde auch nach der in diesen Briefen dargestellten Emotionalität.18 Dass im Minne- und Aventiureroman der Ebene der Emotionen und ihres Ausdrucks großes Gewicht zukommt, hat die Forschung zwar frühzeitig gesehen, mangels theoretisch-methodisch befriedigender Kategorienbildung aber kaum überzeugende Analysen erstellen können. Vor allem in der älteren Forschung haben die Briefe in diesen Romanen eine äußerst negative Wertung erfahren, da man glaubte, ihnen den Vorwurf der Unangemessenheit des Einsatzes von rhetorischen Mitteln machen zu können.19 Erst in letzter Zeit 16

Vgl. Helmut Brackert: Da stuont daz minne wol gezam. Minnebriefe im späthöfischen Roman. In: ZfdPh 93 (1974). Sonderheft: Spätmittelalterliche Epik, S. 1–18. 17 Jürgens (Anm. 2), S. 369. Auch in der handschriftlichen Überlieferung wird über den Werkcharakter der Briefe reflektiert: „In den Handschriften werden sie (die Briefe, M. B.) schon rein äußerlich durch Initialen am Briefanfang und oft noch zusätzlich durch Überschriften und Nummerierung hervorgehoben.“ Cora Dietl: Minnerede, Roman, und historia. Der Wilhelm von Österreich des Johann von Würzburg, Tübingen 1999, S. 82. 18 Vgl. Jürgens (Anm. 2), S. 369: „Zentral erscheint mir hier (im Falle des Reinfried, MB) auch die emotionale Wirkung, die der Empfang von Briefen zeitigt, so etwa der Verlust des sin (5849), der des Scheintodes (7603), und der der freudebedingten Todesnähe (24101).“ 19 In Bezug auf den Minnebriefwechsel im Willehalm von Orlens schreibt etwa Eugen Mayser: „Die Briefe enthalten kaum etwas anderes als Liebesphrasen, Klangspiele und Redeblumen.“ Eugen Mayser: Briefe im mittelhochdeutschen Epos. In: ZfdPh 59 (1935), S. 136–147, hier S. 138. Noch 1996 kritisiert Werner Röcke ältere Forschungspositionen, nach denen durch die ja zahlreichen Briefe im Wilhelm von Österreich des Johann von Würzburg „die Möglichkeit intensiver Gefühlsäußerungen“ gegeben sei. Röcke betont, „daß diese Briefe weniger ‚sentimental‘ als in hohem Maße stilisiert erscheinen, weniger ‚Gefühlsergüsse‘ als Beispiel rhetorischer Kunst bieten“. Werner Röcke: Liebe und Schrift. Deutungsmuster literarischer Kommunikation in Konrad Flecks Florio-Roman und Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. In: Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel. Hrsg. von Werner Röcke/Ursula Schäfer, Tübingen 1996 (ScriptOralia 71), S. 85–108, die angeführten Zitate S. 97. Vgl. auch Kern (Anm. 5), S. 202: Die Darstellungsweise im anonym überlieferten Reinfried von Braunschweig verweise auf den Willen des Textes nach einem „gestei-

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hat es Neuansätze gegeben, die zeigen, dass eine intensive Beschäftigung mit dieser Gattung für eine historisch argumentierende Emotionsforschung von großem Gewinn sein könnte. Allerdings berücksichtigt die letzte einschlägige emotionshistorisch orientierte Arbeit zum Minne- und Aventiureroman – die Habilitationsschrift Jutta Emings – Briefe und ihre emotionalen Wirkungen und Funktionen überraschenderweise nicht.20 Gefragt wurde schließlich nach der spezifischen Medialität und Textualität der Briefe. Im Gefolge einer reichen geschichtswissenschaftlichen Forschung hat sich auch die mediävistische Germanistik – etwa in den Arbeiten Horst Wenzels – mit den sich ausdifferenzierenden Formen der Kommunikation, mit den medialen Funktionen von Boten und Briefen unter den sich wandelnden Bedingungen des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auseinandergesetzt. In diesen Forschungskontext gehören auch die Fragen nach den Formen der Übermittlung von Briefen, die – wie wir sehen werden – etwa im Wilhelm von Österreich des Johann von Würzburg sehr ausdifferenziert sind. Im Rahmen der Erforschung vormoderner Textkulturen ließe sich bei der Beschäftigung mit dem Motiv des Briefs nach Möglichkeiten des Textwissens auch in den Minne- und Aventiureromanen des Spätmittelalters fragen. Der Begriff ‚Textwissen‘ – eine Prägung Peter Strohschneiders – bezieht sich auf das Wissen des jeweiligen Textes über seine Textualität. Gemeint sind damit seine pragmatischen Voraussetzungen und Bedingungen, sein Status wie seine Funktionsmodalitäten. Episch inserierte Briefe lassen sich in dieser Sichtweise auf die in ihnen entwickelten Textmodelle untersuchen. In diesen Modellen werden jene Möglichkeiten konzipiert, die man dem Textuellen attestiert: Dauer und Distanz, Zeichenhaftigkeit und Diskursivität, aber auch Ereignishaftigkeit, Nähe, Körperlichkeit und Präsenz.21 Die Aspekte der Medialität und Textualität haben meine Analyse gerten Sentiment“ und zeige, „wie sich ein Gespür für oder eine Sehnsucht nach Intimität ausbildet“. Vgl. hierzu auch Walter Haug: Rudolfs Willehalm und Gottfrieds Tristan: Kontrafaktur als Kritik. In: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973. Hrsg. von Wolfgang Harms/L. Peter Johnson, Berlin 1975, S. 83–98, S. 98: „Die subjektive Seite des Konflikts erscheint dabei zugleich aus dem gesellschaftlichen Bezug herausgelöst. Das persönliche Leid ist ganz in die Innerlichkeit hereingenommen. Es entsteht ein neuer Freiraum für individuelle seelische Erfahrung. Diese Erfahrung ist aber in erster Linie Bewährung im Ausharren, sie bedeutet Wachsen und Reifen in duldender triuwe. Dieser Freiraum findet seinen besonderen Ausdruck in einem eigentümlichen literarischen Mittel: im arienhaften Brief, der, handlungstechnisch weitgehend funktionslos, der Darstellung von Innerlichkeit dient. Der Brief, den Amelie an Wilhelm schreibt, als sie dem Spanier vermählt werden soll ist […] eine Trauerarie.“ Formung und Ausgestaltung dieses Innen, das mit dem Begriff der Innerlichkeit mir nicht adäquat beschrieben scheint, wäre weiter zu untersuchen. 20 Vgl. Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts, Berlin, New York 2006 (Quellen & Forschungen 39). Hier anschlussfähig sind auch die wichtigen Überlegungen zum Verhältnis von Medialität und Emotionalität von Mireille Schnyder: Imagination und Emotion. Emotionalisierung des sexuellen Begehrens über die Schrift. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Emotions and sensibilities. Hrsg. von Ingrid Kasten/C. Stephen Jaeger (TMP 1), Berlin/New York 2003, S. 237–250. 21 Vgl. Peter Strohschneider: Sternenschrift. Textkonzepte höfischen Erzählens. In: Wolfram-Studien 19 (2006), S. 33–58; vgl. hierzu auch die Überlegungen von Ursula Peters: Philologie und Text­ hermeneutik. Aktuelle Perspektiven der Mediävistik. In: IASL 2011, S. 251–282, S. 262f.: „Dies

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des Briefes von Yrkane als rhetorisch und ästhetisch äußerst reflektiertem Meta-Brief und seiner auf Unmittelbarkeit zielende Inszenierung als Kuss geleitet. Vor allem die letztgenannten, von einander nicht trennscharf abzuhebenden Aspekte der Medialität, der Emotionalität und der Textualität werden mich bei den folgenden Textanalysen beschäftigen.

3. Der Bote Pitipas und der schweigende Held im Willehalm von Orlens Die Liebesbriefe im Willehalm von Orlens – der Held und seine Geliebte tauschen fünf Briefe miteinander – sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Nicht nur, dass sich hier das bis dahin gültige Muster des Einzelbriefs zu einem Briefwechsel weiter entwickelt hat! Und nicht nur, dass das über den Briefwechsel der Protagonisten organisierte illegitime und heimliche Minnegeschehen in deutlichem Kontrast steht zu einer anderen Form höfischer Kommunikation, nämlich jener, die an Öffentlichkeit und die Wahrnehmung adlig-ritterlicher Körper etwa bei Festen und Turnieren gebunden ist, sondern auch die Konstruktion des in die Liebeskommunikation involvierten Boten, der von Rudolf von Ems mit Pitipas einen sprechenden Namen erhalten hat, ist von besonderer Bedeutung.22 wiederum führt zu typenspezifischen literarischen Geltungsbehauptungen, die auf der Textebene jene faktisch nicht vorhandenen gesellschaftlichen Einbindungen und Verbindungen thematisieren, propagieren, ja geradezu einfordern: in jenen zahlreichen literarischen Passagen historischer Autor- und Gönnerinformationen, der Publikumsadressierung, Dichterkontroversen und meisterschaftPostulate, der Quellenbezeugungen und Buchentstehungsgeschichten, aber auch poetologischer wie literarästhetischer Programmatik und gesellschaftlicher Funktionsbestimmung und nicht zuletzt der Modellierung unterschiedlicher Textpraktiken und Textualitätssignaturen. All diese textbezogenen Spezifika der volkssprachigen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts […] verweisen vielmehr auf ihren spezifischen Textstatus, der ja erst besonderer Akte der Legitimierung, der Geltungsbehauptung und gesellschaftlichen Verortung bedürfe, die sich dann auf der Ebene der literarischen Selbstaussagen realisierten.“ Vgl. auch Mireille Schnyder: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Einführung. In: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Hrsg. von Mireille Schnyder, Berlin/New York (TMP 13), S. 1–22, S. 11: „Schrift ist in einem ganz konkreten Sinn Medium des Auges, indem die Abstraktion des Körpers in der Schrift mit einer Präsentation des Absenten im Zeichen einhergeht, so dass im rezipierenden Blick die Materialität des Schriftlichen (das Pergament, die Tinte, der Codex) wieder zu einer neuen Verkörperung des im Zeichen Abstrahierten werden kann. Die Schrift erhält eine Präsenz, wie sie in der mündlichen Kommunikation das physisch präsente Du hat. So ist die Gestik gegenüber dem Brief als Gestik gegenüber dem Körper des Andern zu sehen. Die Materialität des Briefes wird zum Medium des Körperlichen und die Schrift wird zum Mittel der Präsenzstiftung. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die Schrift in dieser Funktionalisierung auch Teil eines magischen Weltverständnisses sein kann. Entsprechend kann die Schrift da gefährlich und verletzend werden, wo sie in ihrer nicht zeichenhaften Form, als Schriftstück, als Material, die Gegenwärtigkeit des fernen Du vorgibt.“ 22 Vgl. hierzu zuletzt Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 280ff.

Brief und Briefwechsel im Minne- und Aventiureroman

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Was aber ist ein Bote? Seine Tätigkeit verortet sich an der Schnittstelle zwischen der mündlichen Rede und der Schrift: Der Bote lässt sich als „personaler Nachrichtenträger (begreifen), die Botschaft als schriftgebundene Rede“.23 Im Falle einer mündlichen Botschaft wird diese vom Boten (körperlich) aufgenommen und aus der Erinnerung wiedergegeben, die schriftliche Botschaft ergänzt ‚nur‘ und interpretiert. Zu Beginn einer sich institutionalisierenden Schriftlichkeit steht der Bote im Mittelpunkt, der Brief – so die allgemeine Forschungsmeinung – erscheint als sekundär. Er bedarf der Interpretation und der Interaktion, die Botschaft wird erst in späterer Zeit auf den Schriftkanal verkürzt. Die Schrift ist als Verkörperung mündlicher Rede zu verstehen, der Bote als Rahmen der Verständigung. Wollen Botenberichte erfolgreich sein, sind sie überdies an mediale Transformationsprozesse gebunden: Auf das mündliche Diktat folgt die Verschriftung, die wiederum in der von Mimik, Gestik und Stimme modulierten Performanz des Boten reoralisiert wird. Die erste Briefszene, von der im Willehalm von Orlens erzählt wird, spielt vor dem ersten Turnier, in welcher Willehalm Amelies Botschaft von Pitipas erhält: Der Bote wird – nach seiner Reise von England nach Brabant – höflich empfangen und in einen separaten Raum geführt; er hebt die Tugenden der Dame hervor und überreicht den Brief, der von Willehalm sofort gelesen wird. Zuvor allerdings verneigt sich Willehalm vor dem Brief und seiner Geliebten: Do naic der hohgemuote man Der schrift und ouch der vrouwen sin. Den brief hat ain fingerlin Tuire unde claine Mit ainem edeln staine Besigelt; das lost er zehant. (Willehalm von Orlens, V. 6268–6273) Da verneigte sich der edle Herr vor dem Brief und auch vor seiner Dame. Der Brief war mit einem wertvollen und kleinen Ringchen mit einem Edelstein versiegelt, das löste er sofort.

Zu konstatieren ist, dass der Bote Pitipas nicht „als personalisierte Botschaft“ fungiert.24 In der zerdehnten Gesprächssituation besitzt er für das kommunikative Gelingen die Funktion, als „Körperbrücke zwischen den Körpern der räumlich getrennten Minnepartner“ zu dienen.25 Eben deshalb ist in seinem Namen Pitipas/petit pas die räumliche Dis­ tanz zwischen den Liebenden auffindbar und zu einem kleinen Schritt geschrumpft.26

23

Horst Wenzel: Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher Nachrichtenträger. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von Horst Wenzel in Zusammenarbeit mit Peter Göhler u. a., Berlin 1997, S. 86–105, S. 86. 24 Franziska Wenzel: Situationen höfischer Kommunikation. Studien zu Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens, Frankfurt a. M. 2000 (Mikrokosmos 57), S. 126. 25 Wenzel (Anm. 24), S. 126. 26 Vgl. Wenzel (Anm. 24), S. 126.

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Des Weiteren ist zu konstatieren, dass – ausgedrückt durch Willehalms Gebärde der Verneigung – der Brief als „Substitut seiner Dame“ aufgefasst werden kann.27 Brief und Ring sind visuelle und haptische Zeichen Amelies, „die einerseits als ‚Verlängerung‘ ihres Körpers durch die Materialisierung der Schreibbewegung und andererseits als ‚Teil‘ ihres Körpers durch die Berührung des Ringes, in die zweite unmittelbare Kommunikationssituation transportiert werden“.28 Die Geste der Verbeugung ist eine Form der Interaktion mit der nicht anwesenden Dame: „Im Präsenten (Brief und Ring) ist also das NichtPräsente (die ferne Geliebte) mitgedacht und als Unmittelbares inszeniert.“29 Ähnliches lässt sich beobachten, wenn von einem späteren Klagebrief Amelies berichtet wird, dass er mit ihren Tränen begossen ist: Der vrouwen jamer was so groz Das si wainende begoz Den brief mit ir traehene da. (Willehalm von Orlens, V. 8278–8279) Die Trauer der weinenden Dame war so groß, dass sie den Brief mit ihren Tränen begoss.

Hier ist es das Material des Briefes selbst, das zur Brücke zwischen den Körpern wird: „Es rückt zum Medium körperlicher Berührung auf und erhält fast fetischartige Qualitäten.“30 Die Materialität der Schrift wird zum Mittel der Präsenzstiftung.31 Zur Konstruktion der Botenfigur, wie sie Rudolf von Ems konstruiert, gehört schließlich, dass Pitipas seine Dame leiblich vertritt, dass er zum ‚Sehwerkzeug‘ Amelies wird.32 Denn die ritterlichen Taten Willehalms auf einem Turnier werden von Pitipas beobachtet und dann an Amelie weitergegeben, die in ihren Rückschreiben an Willehalm für das Geleistete dankt. Wilhelm der furste stach Den Provenzal hin uf das gras. Alda bi hielt Pitipas. […] Und sach ez mit den ougen an. (Willehalm von Orlens, V. 6478–6483) Der Fürst Wilhelm stach den Provenzalen in das Gras. Genau dort hielt Pitipas. […] Und sah es sich genau an.

27

29 30

Vgl. Wenzel (Anm. 24), S. 127. Wenzel (Anm. 24), S. 127. Wenzel (Anm. 24), S. 127. Christoph Huber: Minne als Brief. Zum Ausdruck von Intimität im nachklassischen höfischen Roman (Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens; Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich). In: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Hrsg. von Mireille Schnyder, Berlin/New York 2008 (TMP 13), S. 125–145, S. 130. 31 Huber (Anm. 30), S. 130. 32 Wenzel (Anm. 24), S. 128. 28

Brief und Briefwechsel im Minne- und Aventiureroman

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Der Bote ist in der Lage, jene, die ihn ausgesandt hat, vollständig zu ersetzen, was konzeptuell an Möglichkeiten „der älteren oralen Kommunikation“ anschließt.33 Als Kehrseite der heimlichen Briefkommunikation, wie ich sie hier in aller Kürze umrissen habe, ist die Bestrafung des Helden anzusprechen, der mit Stummheit geschlagen wird: Da Willehalm ja in illegitimer Minne mit Amelie verbunden ist und daher ihre Kommunikation nur heimlich sein kann, wird er – als dieses Geheimnis entdeckt wird – damit bestraft, dass er in öffentlichen Redesituationen schweigen muss. Aufgehoben wird die Strafe durch einen wiederum öffentlichen Redeakt seiner Dame. Liebesbriefe zu schrei­ben wird, sofern dies heimlich geschieht, sanktioniert.

4. vil suezzer wort ir suezzer munt / suezzeclich tihte (V. 1988f.): Textgenese und Textwissen im Wilhelm von Österreich des Johann von Würzburg In Johann von Würzburgs Wilhelm von Österreich, der an Rudolfs von Ems Konzeption eng anschließt, werden zahlreiche Briefe erdacht, geschrieben, überbracht und gelesen. Die 14 Briefe umfassen insgesamt 900 Verse. Die Briefe Wilhelms bzw. Wildhelms und Aglyes kompensieren die Tatsache, dass die Liebenden trotz ihrer räumlichen Nähe nicht miteinander reden dürfen. Aglyes Vater hat den Kontakt der beiden verboten, weil er aus dynastischen Gründen gegen eine Verbindung ist. „Die Aspekte der Präsenz und des quasi-mündlichen Austauschs gewinnen in dieser Konstruktion an Gewicht.“34 Kennzeichnend ist auch, „dass die Liebenden ihre Briefe in der Einsamkeit schreiben und lesen“.35 Auffällig ist ebenso, dass zu Beginn des Briefwechsels der Brief selbst in IchForm redet: Das Institut des Boten ist in diesem Roman, anders als bei Rudolf von Ems, durch das Schriftstück selbst fast gänzlich ersetzt.36 Im Text wird beschrieben, dass die beiden Briefschreiber hohe Kunstfertigkeit, enormen Fleiß und alle Aufmerksamkeit investieren, um ihre Texte zu verfassen, ja im Falle Aglyes wird sogar geschildert, dass sie ihre Briefe Korrektur liest und Fehler beseitigt. Die Emotion erzeugenden und Emotion lenkenden Briefe werden, je länger die Bindung zwischen Wildhelm und Aglye dauert, auch immer länger und anspruchsvoller, ihr Wollen sinnlicher, „der Pendelausschlag der Affekte weiter, der Umschlag zwischen Freude und Leid dramatischer“.37 Die emotionale Wirkung der Briefe auf ihre Adressaten besitzt – ähnlich wie im Falle Reinfrieds – einen ausgesprochen körperlichen Charakter. Von Wild33

35 36

Huber (Anm. 30), S. 130. Huber (Anm. 30), S. 135. Huber (Anm. 30), S. 135. Vgl. Huber (Anm. 30), S. 136. Die Niederschrift der Briefe und ihre Lektüre ist an Mündlichkeit gebunden. 37 Huber (Anm. 30), S. 142. 34

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helm heißt es nach einer Brieflektüre, dass er vor Freude zu sterben glaubt und dass die geschriebenen Worte von seinem Körper und von seiner Seele aufgenommen werden. und las den brief, daran im schin wart, wie er solt werben, er wand in vraeuden sterben von den worten diu er vant: Aglien lust sich in in want, in lip, in sel, in alle lit (Wilhelm von Österreich, V. 7244–49; Verse nur in den Hss. H und S)38 und las den Brief, an dem ihm klar wurde, wie er handeln sollte. Er glaubte vor Freuden zu sterben durch die Worte, die er da fand. Das Verlangen nach Aglie bohrte sich in ihn hinein, in Leib, Seele und alle Glieder.

Die Art und Weise, in der Wildhelms Antwortbrief zu Aglye gelangt, ist als eindrucksvolles Bild für den Zusammenhang von Körper und Schrift zu verstehen, der hier als von Gewalt erfüllt gezeichnet wird. Denn der Brief soll – so die Verabredung der Liebenden – von einem Falken, der durch eine Taube am Fenster von Aglye angelockt werden soll, überbracht werden (V. 7386–89). Tatsächlich stößt der Falke auch auf die Taube nieder und hat sie bald so fest in seinen Fängen, dass der Taube – wie es im Text heißt – hören und sehen vergeht. Dann zieht die minnencliche zart Aglye (V. 7390f.) an einer Stange die Vögel zum Fenster hinein. Der Falke rupft die Taube und kratzt Aglye die Hände blutig, doch unerschrocken holt sie den Brief unter den Flügeln der toten Taube hervor: „Die Aggressivität und Destruktivität von Schrift als materialem Objekt der Liebeskommunikation im Prozess einer zerstörerisch-beglückenden Minne wird hier drastisch konkretisiert.“39 Wie Christoph Huber zu Recht feststellt, „spitzt“ Johann von Würzburg „die Brief-Kommunikation konsequent auf die je gegenwärtige körperliche und psychische Wirkung hin zu“, er „erzeugt in der objektivierenden Schrift je neu Gegenwärtigkeit und Präsenz“.40 Umgang mit der Schrift ist diesen Helden selbstverständlich: Gottfried von Straßburg steht als auctor – wie ausdrücklich betont wird – zur Verfügung, wenn sie in Beteiligung ihrer Körper die Unmittelbarkeit ihrer Gefühle in der Arbeit der Niederschrift auf das leere Blatt zu bannen versuchen.41 Dies erzeugt stabilisierende Wirkungen, denn so muss die Kommunikation der Liebenden, die ja getrennt sind, nicht abreißen. Die Minne wird damit – ähnlich wie zu Beginn des Reinfried – als besonderer Erfahrungsraum inszeniert, mit dem Ziel der ‚Verinnerlichung‘. Die Briefe lassen sich dann auch als Handbuch nehmen, das darüber informiert, wie man fühlen soll, wenn man liebt. Die Briefe als/in der 38

Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. Aus der Gothaer Handschrift. Hrsg. von Ernst Regel, Dublin/Zürich 1906 (unveränderter Nachdruck 1970) (DTM 3). 39 Huber (Anm. 30), S. 140. 40 Huber (Anm. 30), S. 140f. 41 Näherer Untersuchung bedarf die im Roman geschilderte Anrufung der Minne (V. 7498f.), die einen Musenanruf (durch eine Figur) darstellt und damit (auch) auf den Werkcharakter des Briefes verweist.

Brief und Briefwechsel im Minne- und Aventiureroman

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Literatur wären damit als eine soziale Praktik aufzufassen, die dem Erwerb emotionaler Kompetenzen dient. Allerdings zeigt sich auf Handlungsebene auch, dass diese Briefe in ihrer materialen Dinglichkeit, als Präsenzphänomene destabilisierend wirken. * Das Briefcorpus im mittelhochdeutschen Minne- und Aventiureroman verdient – das haben die exemplarischen Interpretationsskizzen zu zeigen versucht – besondere Aufmerksamkeit. Will man den den Romanen eingefügten Briefen analytisch gerecht werden, scheint es mir notwendig, einen Zugang zu wählen, der unterschiedliche Kategorien berücksichtigt. Aus meiner Perspektive spielen hierbei Medialität, Emotionalität und Textualität eine hervorzuhebende Rolle.42 Die heute von mir vorgestellten Briefe zeichnen sich durch eine hohe Reflexivität gegenüber sich selbst aus: Rhetorisch kalkuliert diskutieren sie die Bedingungen, in denen sie entstehen, geben sie Auskunft darüber, welche emotionalen Wirkungen sie erzielen wollen, welchen medialen Status sie besitzen und welchen Funktionen sie unterliegen. Nicht zuletzt zielt diese Reflexivität auch darauf, das textuelle Wissen der Briefe offenzulegen.43 Überdies wäre weiter danach zu fragen, wie die Briefe in den Minne- und Aventiureromanen sich zu Briefen in späteren Romanwerken verhalten.44 Denn auch Jörg Wickram hat einen Minne- und Aventiureroman geschrieben – oder zumindest einen Minneroman! Sein 1551 entstandener Prosaroman Gabriotto und Reinhart erzählt von einer illegitimen Liebe zweier junger Damen von höchstem Adel zu zwei jungen, ebenfalls adligen Männern.45 Der Roman besitzt allerdings kaum nennenswerte Handlungselemente, die als ‚Abenteuer‘ zu verstehen wären: „Ziel allen Handelns scheint es, Redestoff zu produzieren. Das zentrale, das Sujet bestimmende Ereignis ist […] verbotene Liebeskommunikation zwischen ständisch ungleichen Partnern.“46 Wickrams Roman lehnt sich bekanntermaßen stark der spätmittelalterlichen Tradition des Minne- und Aventiureromans an, wie 42

Damit würde sich die Beschäftigung mit den Minnebriefen auch anschlussfähig zeigen an gegenwärtig intensiv geführten Debatten der germanistischen Mediävistik. 43 Genauer, als ich heute getan habe, könnte und müsste das Entstehen und die Entwicklung der in den Briefen verwandten Affektsprache in den Blick genommen werden, etwa die dort in Anschlag gebrachte Hyperbolik wie die Bilderfülle, die als Kennzeichen geblümter Rede zu besprechen wäre. Dies gilt ebenso für die dadurch sich ändernden Minne-Entwürfe. 44 Hinweise bei Alois Brandstetter: Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der höfischen Epik im frühneuhochdeutschen Prosaroman, Frankfurt a.M. 1971; Ute von Bloh: Information – Appell – Dokument. Die Briefe in den Heldenepen der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. In: LiLi 23 (1993), H. 89, S.  24–49; Jutta Eming/Elke Koch: Geschlechterkommunikation und Gefühlsausdruck in Romanen Jörg Wickrams. In: Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Ingrid Kasten/Gesa Stedman/Margarete Zimmermann. Querelles – Jahrbuch für Frauenforschung, Stuttgart 2002, S. 203–221. 45 Vgl. Armin Schulz: Liebe und Wahrheit. Jörg Wickrams Gabriotto und Reinhart. In: Vergessene Texte – Verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Hrsg. von Michael Mecklenburg/Maria E. Müller, Frankfurt a. M. 2007, S. 333–346. 46 Schulz (Anm. 45), S. 335.

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er prototypisch in den hier behandelten Romanen von Rudolfs Willehalm von Orlens oder im Wilhelm von Österreich Johanns vorgebildet wurde. Liebe ist hier vermittelte Kommunikation durch Briefe und Zeichen: Briefe und Botschaften „werden – wie im Wilhelm von Österreich – in Bälle eingenäht, in einem Blumenstrauß versteckt, man lockt einen Falken mit einer Taube in Philomenas Zimmer, lässt ihn die Taube schlagen und bindet ihm dann einen Brief an, der auf diesem Wege Gabriotto erreicht; oder man versteckt die Botschaft unter dem Flügel eines gebratenen Fasans“.47 Weiter gilt es zu untersuchen, welche poetischen Funktionen mit der Übernahme solcher Textelemente gegeben sind, welchen Wandel derartige Umbesetzungen und Umwertungen hervorbringen.

47

Schulz (Anm. 45), S. 341.

Franziska Wenzel (München)

Die Struktur des Begehrens Erzählprinzipien des mittelhochdeutschen Minne- und Aventiureromans

1. Gattungsbegriff und Gattung Der Minne- und Aventiureroman verklammert zwei thematische Komponenten handlungsbestimmend miteinander; und als Gattungsbegriff verklammert er in den Ordnungsrastern der Forschung auch die Brautwerbungsepen mit versepischen Minneromanen des 13. bis 15. Jahrhunderts sowie mit prosaischen Minneromanen der Frühen Neuzeit.1 Er umfasst damit so unterschiedliche Texte wie König Rother und Orendel, Willehalm von Orlens, Wilhelm von Österreich, Partonopier und Meliur, Reinfried von Braunschweig und die Magelone. Durch auch randständige Texte wie den Herzog Ernst, die Eingang in 1

Ich folge hierin Werner Röcke, auch wenn seine Klassifikation sehr weit ausgreift und über den im engeren Sinne verstandenen Minne- und Aventiureroman des 13. und 14. Jahrhunderts hinausweist. Das Ziel eines weiten und ‚weichen‘ Zugriffs ist die Gattungstradition, die im Sinne der Tagungsprämisse von der Antike bis in die Frühe Neuzeit ausgezogen wurde. Vgl. dazu in diesem Band Günter Berger zu Charitons Kallirhoe sowie Peter Baltes zur Magelone. Werner Röcke: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens/Ulrich Müller, Stuttgart 1984, S.  395–423. Röcke weist der von ihm gewählten Gattungsbezeichnung Minne- und Abenteuerroman a) heroisch-politische Romane und b) Legendenromane zu – hinter dieser Bezeichnung verbergen sich die Brautwerbungsdichtungen. Er unterscheidet c) abenteuerliche und erbauliche sowie d) empfindsame Minneromane, um die Fülle der versepischen und prosaischen Minneromane zu erfassen, so dass die Gattung letztlich im Lichte der subordinierten Texttypen konturiert wird. Anders verfährt die alte Literaturgeschichtsschreibung um Helmut de Boor/Richard Newald: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. Erster Teil: 1250–1350, München 1962 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 3/1). Der Hiat zwischen den sogenannten Spielmannsepen und der höfischen Epik ist deutlich. Im Rahmen der höfischen Epik, ebd., S.  82–98, werden abenteuerliche Minneromane und erbauliche Abenteuerromane unterschieden, so dass weder die Brautwerbungsdichtung noch die Prosaromane als Teil der Gattung erfasst sind. Dagegen sieht Wolfgang Achnitz: Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im Reinfried von Braunschweig und im Apollonius von Tyrland Heinrichs von Neustadt, Tübingen 2002 (Hermaea 98), S.  4, 417f., aufgrund der thematischen Relation von Brautwerbung und Herrschaftslegitimation die Kontinuität einer literarischen Reihe bestätigt, die von den Brautwerbungsepen zu den Minne- und Aventiureromanen reicht. Er schlägt für die literarische Reihe, angefangen vom König Rother über Die gute Frau, Mai und Beaflor, den Wilhelm von Wenden und den Wilhelm von Orlens bis zu Willehalm von Österreich und Friedrich von Schwaben die Gattungsbezeichnung „Herrschafts- und Staatsroman“, ebd., S.  8, vor.

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das Textcorpus dieser Gattung fanden, ist nicht nur die Textfülle der Gattung markiert, sondern zutage tritt in der Diversität der produktive, durchaus freie Umgang mit der literarischen Tradition.2 Die Minne-und Aventiureromane selegieren und kombinieren traditionelle Erzählelemente, Motive und Erzählschemata. Doch das aus dem Vorgefundenen Zusammengefügte weist Überlagerungen, Brüche und Zufälligkeiten auf, gerade in der Phase der ‚Abenteuerzeit‘,3 die auch als Weg der Suche und des Unterwegsseins erfasst 2

Die Einbindung des Herzog Ernst in das Gattungscorpus liegt wegen der Personalstruktur nicht unbedingt nahe. Ein weiblicher und ein männlicher Akteur werden mit Kaiser Otto und Adelheid der eigentlichen Handlung um Herzog Ernst und den Grafen Wetzel vorgeschaltet. Eine vergleichbare Relation des Protagonisten fehlt jedoch. Die Korrelation der narrativen Muster von Ächtermäre und Reiseroman, die im Herzog Ernst sinnbildend ist, unterbindet, dass eine Minneehe zum Zielpunkt der Handlung wird. Dennoch ist sie, auch wenn sie bezogen auf die Haupthandlung leer bleibt, Ausgangspunkt des Erzählens. Mit der Minneehe seiner Mutter wird der Protagonist zum potentiellen Erben des Reiches. Doch muss er sich diesem Anspruch gewachsen zeigen, auch gegen die Intrigen eines Neiders, die dem Herzog zuletzt zum Verhängnis werden, so dass es zum Bruch mit dem Kaiser und zur Verbannung kommt, die als Kreuzzug motiviert und als Orientreise erzählt wird. Das mit der knappen Elternvorgeschichte aufgerufene Brautwerbungsschema tritt in den Hintergrund der politischen Auseinandersetzungen und der Orientreise. Eine zweite Brautwerbungshandlung in der Anderwelt Grippias, die zum Tod der Braut durch das Volk der Kranichschnäbler führt, ruft den axiologischen Gehalt der Brautwerbung in invertierter Form auf und kann deshalb nur als ‚abgewiesene Alternative‘ mitgedacht werden. Der Begriff und die Ausführungen zu einem entsprechenden Konzept des Erzählens von der ‚abgewiesenen Alternative‘ entwickelte Peter Strohschneider: Einfache Regeln – komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum ‚Nibelungenlied‘. In: Mediävistische Komparatistik (Festschrift für Franz Josef Worstbrock). Hrsg. von Wolfgang Harms/Jan-Dirk Müller, Stuttgart/ Leipzig 1997, S.  43–75; Nachdruck in: Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung. Hrsg. von Christoph Fasbender, Darmstadt 2005, S.  48–82, hier S.  73. Dieses Konzept der ‚abgewiesenen Alternative‘ wurde bislang vor allem für die Heldenepik diskutiert, vgl. hierzu zuletzt Kay Malcher: Die Faszination von Gewalt. Rezeptionsästhetische Untersuchungen zu aventiurehafter Dietrichepik, Berlin/New York 2010, S.  146f. Armin Schulz hat den Ansatz darüber hinaus an den Tristan-Dichtungen erprobt, vgl. Armin Schulz: in dem wilden wald: Außerhöfische Sonderräume. Liminalität und mythisierendes Erzählen in den Tristan-Dichtungen: Eilhart – Béroul – Gottfried. In: DVjs 77/4 (2003), S.  515–547. Handlungsfixpunkte der Brautwerbungshandlung in Grippia wie die modifizierte Kemenatenszene mit dem Herzog, dem treuen Grafen Wetzel und der indischen Königs­tochter kristallisieren sich nicht als Teil der handlungsleitenden Sinnbildung heraus, auch wenn der Herzog, gelänge die Befreiung der Königs­tochter, Reich und Macht in der Ehe mit ihr erwürbe. Litera­risiert sind daneben andere Fixpunkte wie die Landung am heimlichen Ort oder der Kampf zur Überwindung des gefährlichen Hindernisses (hier als Kampf zwischen dem Protagonisten und dem Herrscher von Grippia). Durch diese Form rekursiv verweisenden, alternativen Erzählens wird allerdings, und das kann als ein Äquivalent zur textuellen Sinnbildung aufgefasst werden, die axiologische Dimension der Brautwerbung, die Herrschaftssicherung durch exogame Ehe, kommentiert: Die Braut wird ohne ihre Einwilligung von den Grippianern entführt und wie ihre Eltern getötet, so dass die im Habitus des orientalischen Herrschers präsentierte Idealität verkehrt wird und sich die Exzellenz der Qualitäten des geächteten Herzogs im Sinne herrscherlicher Potenz vor dieser Negativfolie abzeichnet. 3 Die Abenteuerzeit hinterlasse, so Bachtin, da sie außerhalb der biografischen Zeit sei, „nirgends die geringsten Spuren“; Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von Edward Kowalski/Michael Wegner, aus dem Russischen von Michael Dewey, Frankfurt a. M. 1989, S.  15. Vgl. dazu Ingrid Kasten: Bachtin und der höfische Roman. In: bickelwort und wildiu maere. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dorothee Lindemann u. a., Göppingen 1995 (GAG 618), S.  51–70; Hans-Jürgen Bachorski: Narrative

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wurde.4 Kontingenz im Abschnitt der Abenteuerzeit zählt man oft zu den Charakteristika der Gattung; gleichwohl nimmt die Finalität des mittelalterlichen Erzählens der Kontingenz ihre Schärfe, streicht sie durch, um eine bildhafte Vorstellung von Armin Schulz aufzugreifen.5 Die Handlungen der Abenteuerzeit sind immer als ein ‚Noch nicht‘ konzipiert. Auf der Handlungsebene wird dies durch die letztendliche Rückbindung des Paares in die Gesellschaft umgesetzt. Diese finale Konzeption ist als endgültige Etablierung idealer Minnepartnerschaft in der Minneehe markiert, manchmal auch im Modus der Negation, wie es der Minnetod im Wilhelm von Österreich zum Ausdruck bringt. Eine solche Rückbindung kann aber auch legendarisch überformt sein, entsagt das Paar der Welt, lebt ein keusches Eheleben wie im Orendel. Der Grund solcher Überformungen sind Kombinationen traditioneller Erzählmuster und Motive, an denen diese Texte teilhaben. Die Montage und Verschmelzung unterschiedlicher, zuweilen auch gegensätzlicher Elemente, Motive, Rollen und eben auch von Handlungsmustern ist im Begriff der Hybri­dität als einem poetologischen Konzept reflexiver Sinnstiftung erfasst worden.6 AlStrukturen des Liebes- und Reiseromans. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Günter Berger/Stephan Kohl, Trier 1993 (LIR 7), S.  59–86, hier S.  27f.; Margreth Egidi: Der Immergleiche. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S.  133–158, hier S.  136–140; Armin Schulz: Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Cornelia Herberichs/Susanne Reichlin, Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S.  206–225, hier S.  206f. 4 Christian Kiening: Wer aigen mein die welt… Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher Minneund Abenteuerromane des 14. Jahrhunderts. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. Hrsg. von Joachim Heinzle, Stuttgart/Weimar 1993 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 14), S.  474–494, hier S.  477. 5 Schulz (Anm. 3), S.  207, 217. Selbst das „vermeintlich Sinnlose“ ist als eine Prüfung angelegt im Rahmen des göttlichen und vor allem anderen maßgeblichen Heilsplans, so dass das „arbiträr sinnlose Walten der Fortuna“ sich letztlich in diese Ordnung hinein auflöst, ebd., S.  209. 6 Der Begriff der Hybridität geht auf Bachtin zurück und wurde z. B. Mitte der 90er Jahre von Stephan Fuchs als Konzeptbegriff anhand der Figuren des Artusromans expliziert: Stephan Fuchs: Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31). Ich setze den Begriff der Hybridität nur für die strukturelle Vermischung verschiedener Erzählmuster und deren Elemente ein, die auch zu einer Mehrfachcodierung des Sinns führen kann. Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik, Berlin 2000 (PhStQu 161), hat strukturelle Hybriden diskutiert und auch solche des Personals, wenn er Formen der Spaltung in einem Beitrag zum Schema der gestörten Mahrtenehe in den Blick rückt: Armin Schulz: Spaltungsphantasmen. Erzählen von der ‚gestörten Mahrtenehe‘. In: Wolfram-Studien XVIII (2004), S.  233–262. Schulz zeigt, dass beispielsweise zwei handlungsführende Figuren im Rekurs auf eine Verknüpfung verschiedener Rollenmuster, die einem Aktanten im zugrundeliegenden Handlungsschema zugehören, funktionalisiert sein können. Als Beispiel überzeugt die Analyse der Mahrte, die strukturell die Rolle der unverfügbaren mächtigen Anderweltfee und die der erotischen Frau vereint, in einigen Texten jedoch gespalten dargestellt wird, wenn das mythische Gewaltpotential der Fee einer anderen Figur angelagert ist und so die begehrte Frau zur idealen höfischen Partnerin werden kann. Intertextuell motivierte Verknüpfungen vorhandener Erzählformen und Motive erarbeitete etwa Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fik-

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lerdings ist das Charakteristikum der Hybridität kein Alleinstellungsmerkmal dieser Gattung. Späte Artusromane, der Tristan und das Nibelungenlied, selbst Hartmanns Armer Heinrich weisen eine Erzählgrammatik auf, bei der zwei oder mehrere Erzählmuster zu einer eigenständigen und semantisch aussagekräftigen Struktur verwebt wurden.7 Strukturell sind auch diese Texte Hybriden.8 Das Gattungsbild des Minne- und Aventiureromans hat aufgrund seiner diffusen, disparaten und unspezifischen Zeichnung immer wieder Bestrebungen motiviert, in sich relativ kohärente Textreihen zu präparieren, etwa durch eine thematisch und personal angeregte Abgrenzung gegenüber Artusroman, Heldenepik und Tristanroman. Eine Abgrenzung auf die sich, wenn ich richtig sehe, die gesamte Forschung eingelassen hat. Diachrone Grenzziehungen gegenüber dem Antikeroman und der Brautwerbungsdichtung sollten das Corpus ebenfalls eingrenzen und spezifischere Untersuchungen anregen.9 Gleiches versuchten selektiv vorgehende Vergleiche auf synchroner Ebene.10 Allen diesen Bestrebungen ist eines gemeinsam: Sie arbeiten mit generalisierten thematischen Kriterien, die den Gegenstandsbereich der Gattung weiter oder enger fokussieren, je nachdem welche literarischen Konventionen11 anhand der untersuchten Textreihe ausgemacht wurden. Die Diversität der Texte erlaubt bei einer Beschreibung gattungshafter Dominanten, geht man denn von einer kohärenten Gattungsvorstellung aus, nur universelle Aussagen, die kaum Distinktionskraft haben. Ein Dilemma, für das keine wirkliche Lösung existiert, trotz weiter differenzierender Handlungsmuster – wie sie Ridder und Schulz vorgelegt haben.12 Dass für den Minne- und Aventiureroman keine stabile Gattungssystematik ver-

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tion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich, Friedrich von Schwaben, Berlin/New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 12). Auch das Raum-Zeit-Verhältnis der miteinander verschränkten Chronotopoi hat der Minne- und Aventiureroman mit dem Artusroman gemeinsam. Zu unterscheiden ist die semantische Ausformung der ‚Abenteuerzeit‘: Im Artusroman ist die aktive Präsentation ritterlicher Identität als ‚Waffentat‘, als „Bewältigung des Unhöfischen, des Unrechtmäßigen“ (Schulz, Poetik des Hybriden [Anm. 6], S.  155) programmatisch, im Minne- und Aventiureroman liegt der Fokus auf der Bewährung der Minnebindung. Elisabeth Schmid erfasst mit ihren Beobachtungen zur Chimäre im Wilhelm von Österreich Hybridität als ein bewusst gewordenes „Prinzip der Erfindung“, als ein Prinzip, welches die Texte selbst zuweilen illustrieren. Elisabeth Schmid: Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich. Die Chimäre als ästhetische und anthropologische Metapher. In: Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Hrsg. von Horst Brunner, Wiesbaden 2004 (Imagines Medii Aevi 17), S.  67–89, hier S.  81. Vgl. Schulz: Poetik des Hybriden (Anm. 6), S.  16. Vgl. Ridder (Anm. 6). Der Begriff der ‚literarischen Konvention‘ nutze ich in Anlehnung an die Überlegungen von Klaus Grubmüller zur Gattung als einer historischen Größe, vgl. Klaus Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997. Hrsg. von Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1999, S.  193–210. Ridder (Anm. 6), S.  18, erklärt etwas detaillierter Werbung, Gewinn einer Geliebten, Braut oder Gattin, glückliche Vereinigung, Trennung, Suche bzw. Rückholung mit einer Fülle von Abenteu-

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fügbar ist, unterscheidet ihn nicht unbedingt von anderen mittelhochdeutschen Gattungen. Für den Artus-Aventiureroman, den Minnesang und die Sangspruchdichtung ist die Verbindlichkeit der Kriterien zwar bei weitem größer, doch so wie die Diskussion um den arthurischen Doppelweg immer wieder auflebt, so wie die Diskussion um die Unterscheidung von Minne- und Sangspruchlyrik nicht abbricht, so stehen auch dort die eigentlich verbindlichen Kriterien ungebrochen in Frage.13 Gattungshafte Bestimmungen suchen in der Regel nach invarianten Merkmalen, und sie erfassen zuerst solche Merkmale, so Wolfgang Raible,14 die dem Objektbereich zugehören und als prototypisch bzw. textübergreifend relevant erkannt worden sind. Im Falle des mittelhochdeutschen Minne- und Aventiureromans sind das die beiden thematischen Komponenten Minne und Aventiure. Obgleich gerade diese beiden Komponenten in deutlicher Nähe zum Artusroman stehen, ermöglicht es die Art ihrer Verschränkung zu unterscheiden: Minne und Aventiure sind weder dialektisch aufeinander bezogen wie im Artusroman, noch dominiert eines der Kriterien die Sinndimension der Texte vollständig, wie das für den Tristan-Roman veranschlagt wird.15 Die Wege, welche die Protagonisten in der Anderwelt zurücklegen, die Aventiuren,16 die sie in der ‚Abenteuerwelt‘17 bestehen, sind der Minne funktional zugeordnet. Gattungskonstitutive Kriterien sind in der Regel neben den thematischen Komponenten, wie ich sie gerade vorgestellt habe, Erzählprinzipien und Handlungsmuster. Die hier

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ern bzw. Prüfungen und die erneute Verbindung bzw. endgültige Trennung zu den grundlegenden gattungshaften Dominanten. So gesehen durchlaufen höfische Protagonisten wie der Tristan diesen doppelten Weg ebenso wie der König Rother, die Helden Ortnit und Hetel, oder auch Magelones Graf Peter. Bereits bei dieser kleinen Auswahl an Literarisierungen des Erzählmusters sind die Unterschiede und Modifikationen, versteht man das Muster bzw. die gattungstypischen Dominanten als einen morphologischen Baukasten, evident. Das Erzählmuster ist damit in einer Weise universell, dass es – Semantisierungen gegenüber – relativ indifferent zu sein scheint. Vgl. Schulz: Poetik des Hybriden (Anm. 6), S.  45–63. Unlängst referierte Volker Mertens Überlegungen, die den Doppelweg des Artusromans neu beleuchten: „Doppelweg – Rundweg – Umweg. Strukturmodelle in Chrétiens und Hartmanns ErecRoman“, Vortrag an der TU Dresden im Januar 2011. Mertens öffnete am Beispiel des Erec, indem er vom ‚spezifischeren Rundweg‘ sprach, die Schematik der Doppelwegstruktur, wies auf die Verschränkung mit dem Erzählmodell der gestörten Marthenehe hin, blendete eine Reihe intertextueller Parallelen ein (Andreas Capellanus, Marie de France, Heinrich von Veldeke) und konnte so die Zeichnung der weiblichen Protagonistenfigur in ihrer Komplexität (Helena, Griseldis, Dido, Lavina) herausarbeiten. Wolfgang Raible: Was sind Gattungen? Eine Antwort aus semiotischer und textlinguistischer Sicht. In: Poetica 12 (1980), S.  320–349. Kiening (Anm. 4), hier S.  474, spricht von einer dialektisch-dynamischen Relation der beiden Komponenten in den Artusromanen und der paradoxen Verschränkung von Liebe und Leid im TristanRoman, neben denen die Minne- und Aventiureromane eigenständige Sinnentwürfe präsentieren. Der Aventiurebegriff, so wie er im Iwein entwickelt wird, ist an die Figur des Ritters, den Kampf und entsprechenden Ansehensgewinn gebunden. Diesen Komponenten treten im Minne- und Aventiureroman zurück: Die Aventiure betont in erster Linie Momente der Suche, der Prüfung und des Abenteuers. Vgl. Bachtin (Anm. 3), S.  9–39; vgl. das Forschungsreferat zur Begrifflichkeit Bachtins: Ridder (Anm. 6), S.  4f.

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in Frage stehende Gattung ist über das Erzählprinzip der Bricolage im Sinne von Claude Lévi-Strauss18 bestimmt worden und über das Handlungsmuster vom ‚Sich-Finden, Trennen und Wiederfinden‘, das allen Minne- und Aventiureromanen gleichermaßen zugrunde liegt und, wie Werner Röcke bemerkte, „so oder ähnlich in den meisten spätantiken Liebes- und Reiseromane[n]“ vorhanden ist.19 Spricht man in diesem Sinne von einer Großgattung des Liebes- und Abenteuerromans, setzt man den seriellen Charakter einer Vielzahl von Texten voraus, die alle dieselbe Geschichte erzählen und damit als Varianten eines universellen narrativen Musters verstanden werden. Man setzt damit einerseits bei der strukturellen Identität der Texte an und arbeitet andererseits die intertextuell motivierten Veränderungen des Handlungsmusters heraus.20 Diese Überlegungen knüpfen an die Vorstellung vom universellen Schema an, mit dessen Hilfe Invarianz gesetzt werden kann, und zugleich bleibt im Blick, dass Gattungen historisch dynamisch sind.21 Die Rede ist also zum einen von einer Gattung mit einem basalen narrativen Muster, das die finale Motivation der Handlung vorgibt und letztendlich alle Abenteuer der Leitidee der Minne funktional zuordnet. Zum anderen steht jedoch eine Gattung in Rede, deren grundlegendes Erzählprinzip der Bricolage Kontingenz impliziert und damit einer Dynamik Vorlauf gegeben hat, welche die Gattung zu einer der langlebigsten vormodernen Gattungen hat werden lassen. Vor allem wegen seiner zeitlichen Erstreckung und der dadurch bedingten Instabilität gattungshafter Konstanten erlaubt das Textcorpus des Liebes- und Abenteuerromans keine klassifikatorische Systematisierung, die detaillierter ist als das genannte universale Schema. Löst man die Gattungsfrage von diesem Ziel und stellt um auf die Vorstellung von der literarischen Reihe – literarische Reihen implizieren diachrone Varianz – dann lassen sich voneinander divergierende Texttypen bestimmen, die sich jedoch im Sinne von Klaus Grubmüller „erkennbar und beschreibbar aufeinander beziehen“.22

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Der Begriff der ,Bricolage‘ im Sinne einer Bearbeitung und Kombination des Vorhandenen wurde von Claude Lévi-Strauss im Rahmen seines Konzepts des wilden Denkens entwickelt, Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken („La pensée sauvage“), Frankfurt a. M. 2009. 19 Röcke (Anm. 2), S. 398. Erzählschemata sind ‚Ersatzrekonstruktionen‘, welche die für eine Textreihe typischen Erzählprogramme auf textübergreifend konstante Komponenten reduzieren, und sie funktionieren zugleich als ein hermeneutisches Ordnungsinstrument im Rahmen der Textcorpora. 20 Vgl. Bachorski (Anm. 3), hier S.  63. 21 Vgl. Grubmüller (Anm. 11), S.  210. 22 Grubmüller (Anm. 11), S.  201.

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2. Texttypen: Brautwerbungsepos und versepischer Minne- und Aventiureroman Der Liebes- und Abenteuerroman, der als Großgattung Texte von der Antike bis in die Neuzeit hinein erfasst, hat eigenständige Texttypen wie die Brautwerbungsepen und die versepischen Minne- und Aventiureromane ausdifferenziert. Diese Texttypen stehen relativ unabhängig nebeneinander. Aber: Sie beziehen sich auch deutlich aufeinander, so dass sie sich als Texte einer literarischen „Reihenform der Koexistenz“, „Sukzession“23 und Verflechtung beschreiben lassen. Werner Röcke konturierte diese Texttypen im Bezug auf das universale Handlungsmuster und ging insofern von einer literarischen Reihe aus. Man unterschied sie aber auch ,markiert durch die gewählten Bezeichnungen, von ihren Gegenständen her: Ist einerseits die Brautwerbungshandlung zentral, so andererseits die Minnehandlung und die ihr integrierte oder beigeordnete Prüfung/Suche bzw. Bewährung in Aventiure, Heidenkampf oder Pilgerfahrt. Denkt man vom Brautwerbungsschema her, das in seiner Feingliedrigkeit auf den Ebenen des Personals und der Handlung von Christian Schmid-Cadalbert entfaltet wurde, dann markiert der Abstand zum universalen Handlungsmuster des ‚SichFindens, Trennens und Wiederfindens‘ ebenfalls einen Abstand der beiden Texttypen.24 Strukturell sind beide Texttypen auf den Gewinn der Frau orientiert, doch die axiologische Besetzung der beiden Handlungsprogramme weicht deutlich voneinander ab. Die Lösung des Konflikts der Brautwerbungshandlung folgt der wertsemantischen Logik der Macht und dient damit explizit der Herrschaftssicherung.25 In den Minne- und Aventiureromanen, in denen die Minnehandlung dominiert, folgt der Konflikt der Minnehandlung hingegen der wertsemantischen Logik der Treue und zielt damit zuerst auf die Sicherung 23

Grubmüller (Anm. 11), S.  201. Das Schema der gefährlichen Brautwerbung kann nicht als gattugsübergreifendes Modell gelten. Sein heuristischer Nutzen für die Analyse der Brautwerbungsepen ist nicht abzustreiten, doch die Kleinteiligkeit, gerade mit Blick auf die sogenannten Handlungsfixpunkte, schränkt seine textübergreifende Funktionalisierung ein. Vgl. Christian Schmid-Cadalbert: Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur, Bern 1985 (Bibliotheca Germanica 28), besonders S.  87f. 25 Unter dieser Perspektive der Machlegitimation hat Wolfgang Achnitz (Anm. 1), S.  8, zuletzt die gesamte literarische Reihe, angefangen von Herzog Ernst und König Rother über Flore und Blanscheflur bis zu Wilhelm von Österreich und Friedrich von Schwaben gebündelt und damit textübergreifend die Minnehandlung dem Herrschaftserwerb funktional zugewiesen. Achnitz ordnet der Machtsicherung und der Herrschaftstranslation als dem für ihn bestimmenden Handlungstelos auch die stark legendarische Motivation vieler Texte unter, ebenso die Dominanz der Kinderminne, die in mehreren Texten die gesamte Handlung bestimmt. Ich denke, dass er damit die Verschränkungen verschiedener Handlungsmuster und die dadurch auf der Textoberfläche greifbaren miteinander verflochtenen Handlungsziele zugunsten einer einzigen Sinndimension glätten möchte bzw. dieser einen Aussage alle anderen funktional nachstellt, und genau hierin scheinen mir die Texte der ‚literarischen Reihe‘ aber nicht passfähig zu sein, vergleicht man den Herzog Ernst mit dem König Rother oder Flore und Blanscheflur, Willehalm von Orlens mit dem Wilhelm von Wenden und dem Reinfried von Braunschweig. 24

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der Minnebeziehung. Die Herrschaftstranslation ist ein nur final erkennbares Ziel. Wenn man diese Diskrepanz zuspitzt, kann man von einem handlungsbestimmenden dynastischen, einem auf Macht- und Herrschaftslegitimation gerichteten Interesse, und demgegenüber von einem deutlich privaten Kalkül der Minnebindung sprechen. Letztendlich stehen zwei narrative Organisationsprogramme nebeneinander, die wertsemantisch verschieden besetzt sind und die beiden Texttypen deutlich voneinander scheiden. Das universelle Handlungsmuster vom ‚Sich-Finden, Trennen und Wiederfinden‘ verbindet also zwei Texttypen, die different und gleichgeartet sind. Ich möchte die Differenzen zwischen Brautwerbungsepos und versepischem Minne- und Aventiureroman auf die Ebene der tiefenstrukturellen Homologie der narrativen Muster legen und sie von dorther beleuchten, um zu zeigen, dass die Verflechtungen der beiden Texttypen im Sinne der literarischen Reihe geschärft werden kann. Ich gehe davon aus, dass die Romane beider Texttypen einer gemeinsamen tiefenstrukturellen Logik folgen, die ich als Begehrens­ konflikt bezeichnen möchte. Zur Veranschaulichung dient mir das erzählgrammatische Aktantenmodell von Algirdas J. Greimas.26 Wenn ich von Begehrensstruktur spreche, unterstelle ich, dass Tiefenstrukturen als Erklärungsmodelle narrativer Texte nicht asemantisch gedacht werden können, auch wenn sie als „semantisch weitgehend indifferent“ gelten und „annähernd beliebig codierbar“ sind wie die exile-and-return-Struktur.27 Bei Greimas ist der Aktant eine morphologische Instanz, die auf der Handlungsebene von den Figuren besetzt wird.28 Aktantenebene und Handlungsebene sind einander „äquivalent, weil sie isotop, aber nicht isomorph sind.“29 Greimas geht für jede Erzählung von einer universellen Tiefenstruktur zweier Aktanten und deren sinnhaftem Bezug aus.30 Überträgt man den Ansatz von Greimas auf Brautwerbungsepos und Minne- und Aventiureroman, lässt sich ein triadisches Aktantenmodell ausmachen und wie folgt umreißen: Das Begehren des einen Aktanen, das grundsätzlich auf einem Mangel fußt, ist auf den zweiten Aktanten als Objekt des Begehrens gerichtet. Es wird gegen einen dritten Aktanten durchgesetzt im Sinne von Konfrontation, Domination und Attribution. In diesem Modell ist die Relation zweier Aktanten konflikthaft und zirkulär: Der Mangel des einen 26

Algirdas J. Greimas: Elemente einer narrativen Grammatik. In: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Blumensath, Köln 1972, S.  47–67; Thomas Grob: Artikel „Aktant“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar/Harald Fricke/JanDirk Müller, Berlin u. a., Bd. 1 (1997), S.  32f.; Schulz: Spaltungsphantasmen (Anm. 6) hat in einem anderen Zusammenhang diesen strukturellen Ansatz gewinnbringend erprobt. 27 Hier im Anschluss an Peter Strohschneider: Kippfiguren. Erzählmuster des Schwankromans und ökonomische Kulturmuster in Strickers Amis. In: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. Hrsg. von Jan-Dirk Müller unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquium 64), S.  163–190, hier S.  163. 28 Greimas beschreibt jede Grammatik als Kombination aus Morphologie und Syntax. Die Morphologie ist taxonomisch, sie gibt also die Ordnung der Terme vor; die Syntax bietet die Regeln, nach denen die Terme gehandhabt werden können, vgl. Greimas (Anm. 26), S.  51. 29 Greimas (Anm. 26), S.  54. 30 Er entwickelt sein Aktantemodell in Analogie zur syntaktischen Einheit von Subjekt und Objekt, die durch das Prädikat in ein semantisches Verhältnis gesetzt sind.

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Aktanten wird beseitigt und der des anderen erzeugt, so dass man von einem zirkulären Begehrenskonflikt sprechen kann.31 In den Handlungsschemata der Brautwerbungsdichtungen, der Minne- und Aventiureromane und auch der Feenmärchen, sind die aktantiellen Rollen den Aktanten äquivalent, wenn beispielsweise der Werber (als Aktant 1), die Braut (als begehrtes Objekt) und der gefährliche Brautvater (als Aktant 2) relationiert werden oder der adlige Jüngling, die Königstochter und deren Eltern. Auf der Handlungsebene ist diese Relation dann in der Bezüglichkeit der Akteure literarisiert, wobei eine Figur mehrere Rollen innehaben kann, etwa wenn sie (wie oft in den Mahrtenehegeschichten) begehrtes Objekt und Hindernis zugleich ist. Andererseits können sich mehrere Figuren eine Rolle teilen, wenn sich beispielsweise zwei Werber um eine Frau bemühen oder zwei Figuren begehrtes Objekt sind.32 In dieser Relation zwischen zwei Akteuren und einem Hindernis, das Person, Gegenstand oder Aufgabe sein kann, ist der Begehrenskonflikt grundsätzlich triadisch. Anders formuliert: Das, was einem Akteur mangelt, und das ist das Objekt des Begehrens, besitzt ein anderer. Im Dreischritt von Konfrontation, Domination und Attribution wird der Mangel des einen behoben und der des anderen erzeugt, wenn das Objekt des Begehrens von A nach B, also z. B. von den Eltern zum Minnepartner, transferiert wird. Dieser Wertetransfer ist potentiell endlos, da ein Dreischritt den nächsten erzeugt.33 Und hier haben die Rückentführungen der Brautwerbungsepen ebenso ihren Platz wie zwei und mehrfache Trennungen des Minnepaares. Weil diese konflikthafte Transferstruktur jedoch auch auf der Ebene der aktantiellen Rollen semantisch besetzt ist – der Brautvater oder die Mahrte repräsentieren die zu überwindende Gefahr des Fremden/Unbekannten –, ist der Transfer nicht endlos zirkelhaft, sondern er ist mit dem Sieg über die Gefahr abgeschlossen. Die tiefenstrukturelle Logik des Begehrenskonflikts ist damit in ihrer aktantiellen Anordnung invariant, in ihrer Umsetzung auf der Ebene der aktantiellen Rollen hingegen flexibel und offen für Erweiterungen, Spielformen und Umwertungen, so dass sie mir als verbindendes Kriterium zur Beschreibung der literarischen Reihe hinreichend erscheint. Im Lichte dieser Tiefenstruktur thematisieren die Brautwerbungsepen das Bestreben ei31

Wenn ich den Begriff des Begehrens gebrauche, dann nicht als psychologische Kategorie. Nicht nur weil die Perspektive eine strukturelle ist, sondern auch weil die den Aktanten entsprechenden Figuren der Handlungsebene in ihren Entscheidungen den narrativen Programmen, nicht aber psychologischer Kalkulation verpflichtet sind. Gerade die Minnekasuistik, die einen situativen Rahmen für derlei Kalkül böte, ist in ihrer Topik noch nicht von intertextuellen Bezügen gelöst. 32 Die Sirene im zweiten Teil des Reinfried von Braunschweig nimmt wie Yrkane die Systemstelle bzw. die Rolle der Braut ein, so dass die Dopplung die grundlegende Struktur des Begehrens problematisiert, ausstellt und auch dynamisiert: Das Begehren verliert seinen eindeutigen finalen Bezugspunkt. Armin Schulz konnte zeigen, dass es in den Literarisierungen der Mahrten eine weitere Möglichkeit der Rollenübernahme gibt, und zwar immer dann, wenn die beiden Rollen des begehrten Objekts und des gefährlichen Hindernisses auf zwei weibliche Figuren aufgespalten sind. Vgl. Schulz: Spaltungsphantasmen (Anm. 6). 33 Rainer Warning: Formen narrativer Identitätsstiftung im höfischen Roman. In: Le roman jusqu’ à la fin du XIIIe siècle. Hrsg. von Jean Frappier/Reinhold R. Grimm, Heidelberg 1984 (GRLMA IV/1), S.  25–59, hier S.  40.

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nes starken Königs nach einer ebenbürtigen Braut, die immer nur exogam und gegen den ebenfalls mächtigen Brautvater zu gewinnen ist. Sie zielen in der Regel explizit auf die Sicherung der Herrschaft durch Eheschließung und Erben, und sie entfalten dieses Ziel der Minneehe im Rahmen der Brautwerbungshandlung, die oft als religiöser Konflikt, der über den vertrauten Raum hinausführt, erzählt wird. Von Missheirat kann nicht gesprochen werden. Die religiösen Unterschiede stellen die Exogamieregel aus, sie stellen nicht das Hindernis der Brautwerbung dar.34 Thematisch gilt die funktionale Verschränkung von Minne und Aventiure bzw. Kampf auch für die Brautwerbungsepen: Glückhafte Minneehe und Herrschaftstranslation sind als Zielpunkt miteinander verknüpft, wenn diese Orientierung auch durch Hybridisierungen zuweilen hinter amplifizierenden Darstellungen zu verschwinden scheint, wie sie im zweiten Teil des Reinfried von Braunschweig entwickelt sind; oder auch dann, wenn dieser Zielpunkt aufgrund der Vermischung zweier narrativer Muster irritierend überformt wird, wie z. B. im legendarischen Brautwerbungsepos Orendel. Im Orendel lässt sich die hybride, aber sinnhafte Struktur auf die Bricolage von Brautwerbungserzählung und legendenhaftem Erzählen zurückführen. Anstelle der strukturell erwartbaren Minneehe und der Herrschaftssicherung durch einen Nachfolger werden keusche Minneehe und Glaubenskampf narrativ entfaltet. Glaube und Treue rücken als religiöse und sittliche Werte an die Stelle dynastischer Interessen. Das Ergebnis der Brautwerbung – und damit meine ich den Ausfall des erwarteten Handlungsziels – irritiert und verweist zugleich auf die Hybridform. Die Mischung der Handlungsmodelle eröffnet, indem sie auf der Handlungsebene Reibungen erzeugt und Irritationen hervorruft, Darstellungsmöglichkeiten des Kommentars, die als narrative Alternative aufzufassen sind:35 Der Orendel, so lässt sich thesenhaft formulieren, zielt zunächst auf irdische Herrschaftstranslation qua Erben und er erzählt – alternativ dazu – die Translation christlicher

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Der religiöse Widerspruch oder Herrschaftskonflikt wie der zwischen west- und oströmischer Herrschaft (König Rother) sind im Kreuzzugsgedanken, einem die Brautwerbung verlängernden Christen-Heiden-Konflikt aufgehoben. Rother als der weströmische Herrscher erweist sich im Kampf gegen den Heidenkönig Ymelot der oströmischen Herrschaft des gefährlichen Brautvaters überlegen und würdig, die Einheit eines Imperium romanum herzustellen. Vgl. Christa Ortmann/Hedda Ragotzky: Brautwerbungsschema, Reichsherrschaft und staufische Politik. In: ZfdPh 112 (1993), S.  321–343. Auch wenn das Paar selbst (Orendel und Bridge) zur Verteidigung des Heiligen Grabes gegen die Heiden zieht, ist das religiöse Konfliktpotential aufgerufen, doch ist es umgelenkt in einen globalen religiösen Konflikt. 35 Die Denkfigur des Dritten, die hinter dieser Überlegung steht, wurde im Rahmen der kulturwissenschaftlich orientieren literaturwissenschaftlichen Ansätze von Homi K. Bhabha entwickelt, der die Beobachtung kultureller Differenz anhand der Irritationen und Reibungen im ‚Raum eines Dritten‘ zu greifen versuchte. Hybridität meint so gesehen, bezogen auf die Erzählschemata des Minne- und Aventiureromans, weniger die Vermischung zweier ‚reiner‘ Modelle, sondern eher die Literarisierung von Irritationen, Reibungen und liminalen Ordnungen, die gerade einer kaum regulierten dritten, eben der Hybridform geschuldet sind. Vgl. etwa Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. (Engl.: The location of culture, London u.  a. 1994), deutsche Übers. von Michael Schiffmann/ Jürgen Freudl, Tübingen 2007 (Stauffenburg Discussion 5), S.  5.

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Herrschaft, die qua Gnade gewonnen und genommen wird:36 Orendel wird nach einer Reihe von gottgegebenen Siegen über die heidnischen Gegner des Heiligen Grabes mit der Davidskrone zum Herrn der Christenheit erhoben, kämpft im Namen Christi gemeinsam mit seiner Frau weiter gegen die Heiden, führt ein nur kurzes keusches Eheleben und wird alsbald ins Himmelreich geführt. Es ist die Vermischung unterschiedlicher Handlungsmodelle, die – man könnte fast sagen aufgrund der Reibungsverluste – ein alternatives Erzählen ermöglicht. Der Begehrenskonflikt verschiebt sich vom Erwerb der Frau gegen den Brautvater zum Erwerb des Heils qua Heidenkampf. Solche Verschiebungen, die gegen die vom leitenden Handlungsprogramm bedingten Erwartungen laufen, markieren das narrative Potential dieses Texttyps; im Reinfried von Braunschweig wird das besonders deutlich. Der Reinfried schließt mit der Brautwerbungshandlung des ersten und der Orientfahrt des zweiten Teils eng an die Struktur der Brautwerbungsepen und den Herzog-Ernst-Stoff an, wie Ridder und Achnitz gezeigt haben.37 Erster und zweiter Teil wurden immer in Spannung zueinander gesehen. Entweder stand die Orientierung des zweiten Teils auf das Wunderschauen in Spannung zum ersten Teil mit seinem Wertehorizont von rechter Minne und Herrschaftssicherung, und das Wunderschauen wurde dabei als curiositas und superbia interpretiert, oder das Wunderschauen wurde im Sinne der Neugier als Erweiterung konventioneller Sinnangebote gesehen.38 Mit seinem zweiten Teil jedenfalls literarisiert der Roman die Kinderlosigkeit des Herrscherpaars als Gefährdung herrscherlicher Kontinuität. Die Semantik des Brautwerbungsmusters scheint damit in Frage zu stehen. Doch wie verbinden sich Kinderlosigkeit und Orientfahrt im zweiten Romanteil? Eine Marienerscheinung lässt zwar den Heidenkampf des zweiten Teils als Voraussetzung der Elternschaft erscheinen, doch Orientfahrt und Sirenenabenteuer sind nur teilweise im Moment göttlicher Providenz eingefangen. (Die in der geträumten Prophezeiung einer glücklichen Rückkehr liegende Handlungsmotivation, aber auch die in der Finalität des narrativen Musters liegende Forderung der Herrschaftstranslation werden jedenfalls prekär.) Es bedarf einer anderen Erklärung für die amplifizierenden Erzählungen der Orientreise. Ich möchte das kurz erläutern: Der durch die Brautwerbungsstruktur final motivierte Mangel des Protagonisten wird mit dem Erwerb der Minnepartnerin beseitigt – bereits am Ende von Teil 1, doch das Begehren überschreitet diesen Endpunkt. Es wird globa36

Orendel ist der jüngste von drei Brüdern und damit nicht Erbe der königlichen Herrschaft. Die von ihm gewünschte Brautwerbung bleibt also bezüglich der Herrschaftstranslation blind. Orendel zieht aus, um die Herrscherin des Heiligen Grabes gegen die Übermacht der Heiden zu verteidigen. Er beweist seine Macht in einem Sieg gegen den Heidenkönig Belial und stellt seine Gnadenfähigkeit in der Gestalt des Grauen Rocks in diversen gottgefügten Heidenkämpfen unter Beweis. So gewinnt er die Hand der Königin und wird selbst Herrscher über die Christenheit. 37 Vgl. Ridder (Anm. 6), Achnitz (Anm. 1). 38 Vgl. Werner Röcke: Lektüren des Wunderbaren. Die Verschriftlichung fremder Welten und abenthewer im Reinfried von Braunschweig. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland/Michael Mecklenburg, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S.  285–301.

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lisiert, es verschiebt sich und erfährt als Begehren nach dem ‚Noch-nicht-Erreichten‘ seine Fortsetzung. Es drückt sich aus im beständigen Bestreben nach dem noch nicht selbst Gehörten und Gesehenen in einer weiter gewordenen Welt. Angestoßen wird die Augen- und Ohrenlust durch Erzählungen vom Unerhörten, nie gehörten Wunderbaren, das im Sirenenabenteuer eine symbolisch aufgeladene Umsetzung erfährt. Im Rahmen der Minnehandlung ist die Finalität des Begehrens jedenfalls nicht mehr eindeutig. Mit der Überschreitung der Raumgrenzen, die auch einer Überschreitung der Minnehandlung gleich kommt, wird eine nicht mehr zirkuläre, sondern linear orien­ tierte Bewegung von Mangel, Mangelbeseitigung und erneutem Mangel ausgelöst. Die aktantiellen Rollen fallen im Protagonisten zusammen. Reinfried ist Begehrender und Hindernis zugleich, man könnte auch sagen, der Begehrenskonflikt ist in ihn hineinverlegt. Im Sirenenabenteuer ist das Begehren eines, das sich auf das absolut gesetzte akustische süeze richtet, materialisiert in der Stimme der Sirene: die toeret sî biz daz sî gar in voller lust ertrinkent und willeclîch versinkent nâ dem süezen dône. (V. 22028–22031) die [Stimme der Sirene] betört sie bis sie voller Lust ertrinken und wegen des süßen Tones willentlich versinken.

Die süeze lässt sich nur haben um den Preis des Todes; nur wenn das Leben ‚überwunden‘ wird, ist der Mangel beseitigt. Das Leben selbst nimmt die Systemstelle des Hindernisses ein. Im Wunsch nach dem lustvollen Ertrinken werden die Erfüllung des Begehrens und der Tod als zwei gleichwertige Zustände eng geführt.39 Der Minnetod, hervorgerufen durch minnenclîch gedoene (V. 22398; „lieblichen Gesang“), so ließe sich postulieren, wird als höchste Erfüllung irdischen Begehrens begriffen, weil in ihm das Streben nach unerreichbarer Schönheit zu einem willentlich herbeigeführten, und eben nicht providentiell vorgegebenen Tod führen würde. Man könnte mit gleichem Recht von einem willentlichen Schritt über das letzte irdische Hindernis sprechen. Dieser Schritt wird durch den Protagonisten antizipiert, wenn er auch durch das Objekt des Begehrens fremdbestimmt bleibt, wenn er auch nicht vollzogen wird. Das Hindernis wird listenreich aus dem Weg geräumt; Reinfried hört, an den Mast gebunden, die Stimme der Sirene und bleibt am Leben, so dass sich eine prinzipiell endlose Bewegung des Begehrens abzeichnet, die nur durch den Eingriff von außen zum Erliegen kommt. Erst durch die Ermahnungen des Perserkönigs, der Reinfried auf seiner Orientreise begleitet, und durch die Briefe Yrkanes wird die Reisebewegung erneut als Teil der Minnehandlung semantisiert. Das narrative 39

Dass Leben und Tod auch anderwärts enggeführt sind, markieren Begriffsfügungen wie daz unbilde von süeze (V. 22412f.; „das Ungeheuerliche der Süße“).

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Potenzial des Begehrenskonflikts geht dadurch jedoch nicht verloren. Denn auch das letzte Abenteuer dieses fragmentarischen Romans, das, dem Erzählmodus der Bricolage folgend, nur schwach motiviert an ein vorangehendes Abenteuer anschließt, entfaltet eben diesen basalen Konflikt. Auf der Rückreise zu Yrkane wird das Schiff Reinfrieds durch ein Unwetter in ein fernes wüstes und wildes Land verschlagen. Der Handlungsgang scheint kontingent, doch wird die Episode im Motiv des Wunderschauens auf die strukturelle Logik des Begehrens durchsichtig. An Land fängt die Schiffer und Ritter ein locus amoenus ein, dessen Süße die Begehrensstruktur in Gang setzt. Reinfrieds Wahrnehmung wird so vollständig vom visuellen und akustischen Liebreiz überformt, dass sie aussetzt. Herz und Leib neigen sich zur Erde, und er sinkt einschlafend in die Blumenfülle. Im direkten Kontakt erfährt Reinfrieds Leib, was dem Verstand verwehrt bleibt. Was durch den Leib aufgerufen wird, ist das unvermittelte Erleben der süeze, das doch zugleich mit dem Motiv des Schlafs zurückgenommen ist. Die Darstellung des Wahrnehmungsverlustes rekurriert damit nicht nur auf die Minnebegegnung mit Yrkane – dort war es der Kuss, der die Minne erfahrbar machte –, sie rekurriert, ohne dass es explizit würde, auch auf den Minnetod. Schlaf und Tod sind wiederum enggeführt. Reinfrieds Fortgehen ist vom Rest der Besatzung unbemerkt geblieben, und die Ausgrenzung aus der Gruppe scheint mit der Abfahrt der Schiffe endgültig zu sein. Der Tod aber wäre das Ende der durch den Begehrenskonflikt ausgelösten linearen Bewegung.40 Die narrative Schematik des ersten Teils stellt den Reinfried in eine Reihe mit den Brautwerbungsepen. Das dem Roman zugrundeliegende universale Handlungsmodell des ‚Sich-Findens, Trennens und Wiederfindens‘ integriert aufgrund der finalen Logik die Episoden beider Teile in großen Zügen, hinterließ und hinterlässt jedoch ein Unbehagen oder Nachfragen nach der Episodenreihe des zweiten Romanteils. Über das Kontingenzargument und das Argument der Fabulierlust hinaus erlaubt die tiefenstrukturelle Logik des Begehrenskonflikts, die Episoden des zweiten Teils in ihrer Funktion zu erhellen. 40

Ein solches Ende wird mit der nachklappenden Aventiure der Einhornjagd im Wilhelm von Österreich erzählt. Die Ermordung des Protagonisten ist nicht nur intertextuell motiviert im Hinweis auf Siegfrieds Tod, sie ist transparent auf die Leitidee der Minne. Das schiere auf einen absoluten Wert gerichtete Begehren – symbolisiert in der Jagd nach dem Einhorn – hat mit seinem gesellschaftsfernen Impetus auch den Tod zu kalkulieren. Dieser passionierten Begehrensform fehlt der soziale Rückhalt in der Gesellschaft und sie ist auch nicht mehr eindeutig auf die hierarchisch übergeordnete göttliche Providenzerfahrung transparent. Der Einzelne löst sich hier aus dem Gesellschaftsbezug, trifft jedoch nach wie vor auf konventionalisierte unveränderliche Beschreibungsmodelle der Welt, ohne bereits schon ein alternatives innerweltliches Wertesystem konturiert zu haben. Vgl. Gisela Vollmann-Profe: Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich. In: Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Hrsg. von Horst Brunner, Wiesbaden 2004 (Imagines Medii Aevi 17), S.  123–135, hier S.  130–134. Kiening sieht in diesem, auf einen absoluten Wert gerichtete Begehren jenseits gesellschaftlich vorgegebener Sinnsysteme eine überzogene Form der curiositas, die mit der Kontingenz des Todes, die hier bereits moderne Züge aufweist, korreliert und zwar entgegen der, der mittelalterlichen Ordnung inhärenten und zum göttlichen Heilsplan gehörenden Todesgewissheit und auch entgegen der finalen Motivation der Minne. Vgl. Kiening (Anm. 4), S.  481. Der Minnetod wird durch die kausale Übermotivation, die „Überdetermination der Sequenz“, nicht mehr ‚von hinten‘ motiviert. Das Kontingente ist nicht mehr vollständig in den göttlichen Heilsplan eingebunden. Vgl. Schulz (Anm. 3), S.  223–225.

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Die Ad-hoc-Kausalitäten, mit denen die Reiseepisoden verknüpft sind, ein plötzlich auftauchendes Schiff, ein plötzlich aufkommender Sturm, lassen „ein Moment ins andere einklinken“, „ohne dass“ „noch ein Faden zwischen dem einen und dem übernächsten Moment bestände“, wie Simon bemerkte.41 Der tiefenstrukturell motivierte Begehrens­ konflikt scheint mir nun jener Faden zu sein, dessen Fehlen Simon noch verbuchte. Der Begehrenskonflikt verknüpft die Brautwerbungshandlung, als einer auch im Raum zirkulären Bewegung des Helden, mit der Orientreise, als einer linearen Bewegung der in Reinfried selbst liegenden Schaulust, die nur endgültig befriedet werden kann, weil die finale Leitidee irdischer Minne, getragen von der Minnepartnerin, die Reisebewegung an den Ausgangspunkt zurückführt. Auch wenn die Kinderlosigkeit im Rahmen der Brautwerbungshandlung irritiert, ebenso wie die beiden unterschiedlichen Interessenslagen, die Herrschaftstranslation einerseits und das auf das Unbekannte bzw. Schöne gerichtete, sich selbst prolongierende Begehren andererseits, so ist diese Hybride letztlich sinnhaft im Blick auf die tiefenstrukturelle Logik des Begehrens. Der zweite Texttyp, um den es mir geht, ist der Minne- und Aventiureroman im engen Sinne: Im Lichte der Tiefenstruktur richtet sich das Begehren eines jungen Fürsten oder Königssohns gegen die intrikaten Eltern auf eine ständisch inadäquate Minnepartnerin (Königstocher, Gräfin oder Andersgläubige), nicht aber auf die Sicherung der Herrschaft. Auch hier zeichnet sich eine triadische Konfliktstruktur ab, insofern die Minnebeziehung durch die räumliche Nähe von Mann und Frau relativ unproblematisch beginnt, ihr aber in der Öffentlichkeit Hindernisse in den Weg treten, die eine Phase der Trennung bewirken, in der sich die Treue der Minnebeziehung während der Suchfahrt bestätigt und/oder der Protgagonist geprüft wird bzw. sich bewähren muss.42 Bewährungshandlung oder Suchfahrt fallen in der Regel mit der Überwindung der familiären bzw. gesellschaftlichen Hindernisse zusammen. Das begehrte Objekt wird zurückgewonnen.43 Es sind zumeist ständische oder mythische Mesalliancen, die eine axiologi41

Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne, Würzburg 1990 (Epistemata 66), S.  136. 42 Egidi (Anm. 3) beschreibt etwa den Florisroman als nahezu sujetlos, die Protagonisten als mit sich in biografischer Zeit und Abenteuerzeit identische Figuren. Sie sieht in der Minnebeziehung eine in ihrer Idealität still gestellte Messalliance, deren Leidfacette, die Beständigkeit des Erduldens bis hin zum (beinahe vollzogenen) Tod, in der Abenteuerzeit noch verstärkt werde. Jede Form der Kontingenz ist in jedem Moment auf die Gewissheit und Stabilität der Minnebindung hin durchsichtig; Grenzüberschreitungen werden als Alternativen aufgerufen und immer wieder zurückgenommen. Sie versanden, wie Margreth Egidi sagt, ebd., S.  148. Doch es gibt Binnedifferenzierungen: Durch aufgerufene intertextuelle Parallelen wird das Verhalten Flores mehrdeutig und insofern tritt „innere Dynamik und Uneindeutigkeit“ neben die statische Treue. 43 Im Florisroman ist die aktantielle Rolle des begehrten Objekts auf Blanscheflur und den Pokal aufgespalten. Mit dem Verkauf der Frau gewinnt der Bräutigamsvater den Pokal, den er seinem Sohn schenkt als er die gegen alle Widerstände stehende Stabilität der Bindung erkennt (V. 2590–2613). Er ist damit überwunden. Flore schenkt den Pokal dem Wächter des Frauenturms und löst Blanscheflur bereits hier symbolisch aus dem Besitz des Kalifen, bevor dieser die Braut explizit zurückgibt (V. 7469–7499). Ingrid Kasten: Der Pokal in Flore und Blanscheflur. In: Haferland/Mecklenburg (Anm. 38), S.  189–198.

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sche Spannung beinhalten, insofern Standeskalkül auf Seiten der Familie und das Ethos der Treue auf Seiten des Minnepaares konfligieren. Die Kontinuität der Herrschaft wird auch hier erzählt, doch ist sie final und nicht kausal motiviert wie im Brautwerbungsepos. Die wertsemantische Besetzung des Brautwerbungsmusters ist offensichtlich ein Kriterium, das den sukzessiven Bezug beider Texttypen (Brautwerbungsepos und Minne- und Aventiureroman) markiert, insofern die strukturelle Logik der Herrschaftstranslation und die Logik der Treueprüfung im Minne- und Aventiureroman miteinander ver­schaltet bleiben.44 Eine markante Hybride für diesen Fall ist der Willehalm von Orlens, der unter dem Stichwort der Kinderminne einem Subtyp zugehört.45 Im gleichwertigen Zugriff auf beide Handlungsmuster zielt dieser Roman auf die Integration einer nicht standesgemäßen Minne in den gesellschaftlichen Normenhorizont und auf die Herrschaftssicherung qua öffentlich sanktioniertem Brauterwerb. Erzählt wird dies als Transformation heimlicher Kinderminne in die Brautwerbung eines dafür qualifizierten Werbers. Der Protagonist vereint drei aktantielle Rollen: den jugendlichen Helden auf dem Weg seiner Profilierung als Ritter, den treuen Liebenden und den Landesherrscher auf dem Weg zur ebenbürtigen Braut. Die Rolle des Werbers ist dabei auf zwei Figuren aufgespaltet, auf den ständisch inadäquaten Protagonisten Willehalm und den dynastisch ebenbürtigen Kontrahenten Avenis von Spanien. Dennoch ist Willehalm als der beste Werber qualifiziert durch den Sieg über seinen Kontrahenten, aber als statusinadäquater Entführer der englischen Königstochter wird er verurteilt und auf Bußfahrt geschickt. Das Hindernis auf dem Weg zur Braut bleibt mit dem unversöhnten Brautvater erhalten. Die Lösung des mehrfach codierten Konflikts wird durch die Überlagerung einer heimlichen bzw. stummen und einer öffentlichen Handlung erreicht. Die Minnehandlung liegt im Bereich der Heimlichkeit, und sie bleibt während der Zeit der Profilierung des jungen Ritters, wenn sie ausschließlich über Briefe und Boten kommuniziert wird, ein heimliches Bekenntnis der Treue. Während der Buß- und Bewährungsfahrt ist sie durch ein Schweige- und Trennungsgebot stumm gestellt, aber als statische Treuebindung aufgerufen, so dass Buße und (Neu-)Bewährung als Ritter erzählt werden können.46 Mit der Besetzung der Rolle des 44

Auch hier gründen die narrativen Alternativen, wohl auch im Sinne eines Kommentars, auf der Verflechtung der Handlungsmuster. Zu denken ist an die Werberrolle, wenn sie statt mit einem etablierten Herrscher mit einem jungen und dementsprechend noch nicht qualifizierten Adligen besetzt wird. Partonopier und Meliur scheint mir eine solche Form des Erzählens in Alternativen vorzuführen. Liest man den zweiten Teil des Brauterwerbs im Turnier vor der Folie des im ersten Teil aufgerufenen Mahrtenehenschemas, zeigt sich die in mächtiger Mahrte, Tabu und Tabubruch liegende Unverfügbarkeit der unbedingten Minne gewendet in die Verfügbarkeit der schwer zu erringenden erotischen Herrscherin qua ritterlicher Qualifikation. Mir scheint hierin eine dem Roman implementierte Kontrafaktur vorzuliegen, die durch die Gelenkstelle der den Protagonisten semantisch entleerenden Krise möglich wird. 45 Gleiches gilt für Flore und Blanscheflur und den Wilhelm von Österreich. 46 Namenlos aufgrund des Schweigegebots, todwund durch die Speerspitze in seiner Schulter und ausgegrenzt im fremden Land durchläuft der Protagonist eine liminale Phase der (Neu-)Initiation analog der Daseinsstufe des symbolischen Durchgangs durch den Tod im Artusroman. Die Umbruchform des Liminalen kursiert in der Altgermanistik seit den Arbeiten von Arnold van Gennep:

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Brautwerbungshelfers durch ein mächtiges Familienmitglied, das an beiden Bereichen teilhat, bindet die Minnebeziehung zuletzt in den gesellschaftlichen Raum ein.47 In der legitimen Herrschaftsehe und der Sicherung der Herrschaft – Willehalm übernimmt den Herrschaftsbereich des Brautvaters – manifestiert sich die finale Motivation von Minneund Brautwerbungshandlung.48 Die Minnehandlung der Kinderminne folgt der Wertsemantik der Treue und literarisiert den Begehrenskonflikt im Status des ‚Immer-schonzueinander-Gehörens‘. Die Brautwerbungshandlung literarisiert den Begehrenskonflikt im Status des ‚Noch-nicht‘: Der Protagonist ist bester und zugleich inadäquater Werber. Seine Machtposition ist die des Unterlegenen. Den mehrfach codierten Begehrenskonflikt erzählt der Willehalm von Orlens in zwei Bereichen, dem der Heimlichkeit und dem der Öffentlichkeit, so dass eine Überdetermination der Handlung nur dort erfolgt, wo sich beide Bereiche überlagern.49 Doch da die Minnehandlung von Beginn an dem gesellschaftlichen Wertekanon verpflichtet wird, Amelie erklärt Schwertleite und Ehe zur Voraussetzung des Beilagers, ist das ‚Immer-schon‘ der Minne von vornherein mit dem ‚Noch-nicht‘ der Brautwerbung verbunden.50

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Übergangsriten, Frankfurt a. M. 1986 und Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. M. 1989. Vgl. zur Brautwerbung im Willehalm Franziska Wenzel: Situationen höfischer Kommunikation. Studien zu Rudolfs von Ems ‚Willehalm von Orlens‘, Frankfurt a. M. 2000 (Mikrokosmos 57), S. 225–253. Auf der Handlungsebene wird diese Überführung aus dem Bereich der Heimlichkeit initiiert durch die Brautwerbungshelferin Savine, welche die Wiederbegegnung, die Lösung des Schweigegebots und die Versöhnung mit dem Brautvater herbeiführt. Schulz: Poetik des Hybriden (Anm. 6), S.  49, weist darauf hin, dass Savine nicht nur der Familie des Brautvaters zugehört, sondern als geistliche Herrscherin die Treue der Minnebeziehung mit ihrer Hilfe bestätigt. Das narrative Muster impliziert auch die Translation der Herrschaft im Erben; erzählt wird in einer Nachgeschichte vom Nachfahren Willehalms, von Gottfried von Bouillon. Mit dieser Figur klingt sich das Geschehen in die zeitgenössische Gegenwart des Autors ein: Der Staufer Konrad IV. begreift sich als legitimer Nachfahre Gottfrieds von Bouillon. In dessen Umfeld und im Auftrag des Reichsschenken Konrad von Winterstetten entstand der Roman. Dazu Wenzel (Anm. 46), S. 24. Die Kemenatenszene wird in den Kräutergarten als einem halböffentlichen Raum verlegt, und es ist keine heimliche Begegnung, sondern eine Wiederbegegnung, bei der zwei Kammerzofen anwesend sind. Mit dem Stichwort der ‚Feenliebe‘ lässt sich ein zweiter Subtypus aufrufen, der die Bezüglichkeit der Akteure und den Begehrenskonflikt anders gewichtet. Diese Bezüglichkeit wird von der starken Frau her erzählt, die das Begehren des jungen Helden hervorruft und die, mit einem Tabu belegt (keusches Beilager und/oder Sichtverbot), Tabubruch, Trennung, Suche und Zusammenführung initiiert. Romane wie Partonopier und Meliur, der Friedrich von Schwaben und die Melusine fokussieren einen solchen Tabubruch, der strukturell durch das Schema der gestörten Mahrtenehe bedingt ist. Narrativ entfaltet und diskursiviert wird jeweils die Idee der gesellschaftsfernen, absolut gesetzten Minne. Literarisiert wird dabei der Konflikt zwischen dem Paar und der Gesellschaft, der zugleich ein Konflikt zwischen höfisch-adliger Welt und mythischer Anderwelt ist, kreuzen sich doch strukturell zwei Begehrenskonflikte, das auf die Frau gerichtete Begehren des Adligen und das Begehren der Fee nach Erlösung. Ausgeblendet bleibt ein dritter Subtyp, der mit dem Stichwort des Familiendramas verkürzt zu erfassen wäre. Burghart Wachinger hat in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland und im Wilhelm von Wenden Ulrichs von Etzenbach das universale Handlungsmodell des Minne-Aventiureromans aus der Perspektive seines zweiten Teils umgesetzt gesehen. Er beschreibt den Handlungsgang als „Trennung und Wiedervereinigung einer Familie“;

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3. Koexistenz, Sukzession und Verflechtung Brautwerbungsepen und Minne- und Aventiureromane als zwei distinkte Texttypen lassen sich, und ich zitiere wieder Klaus Grubmüller, „erkennbar und beschreibbar aufeinander beziehen“51. Ihre Koexistenz in der literarischen Reihe der Liebes- und Abenteuerromane ist eine der Sukzession und der Verflechtung: Die zirkuläre Begehrensstruktur des Brauterwerbs ist mit dem Handlungsmuster der Brautwerbung kausal und final auf die Translation der Herrschaft orientiert. Das ist der Ausgangspunkt, der in Texthybriden der Brautwerbungsepik, etwa im Herzog Ernst oder im Orendel, mehrfach codiert sein kann, so dass man von einem Erzählen in Alternativen spricht. Die zirkuläre Begehrensstruktur des Brauterwerbs findet sich auch in den Minne- und Aventiureromanen. Doch ist sie dort semantisch dominiert von der Leitidee der Minne. Auf der Handlungsebene zeigt sich das in der auf die Kontinuität der Minnebeziehung gerichteten Orientierung der Handlung. Gleichwohl ist die finale Motivation ebenfalls in der Translation der Herrschaft zu sehen. Das Erzählen in Alternativen setzt immer am zugrundeliegenden Begehrenskonflikt an, wenn die zirkuläre Bewegung durch eine lineare Bewegung des Begehrens kommentiert wird, wie im Reinfried von Braunschweig oder wenn sie bestätigt, aber zugleich zurückgenommen und erprobt wird, wie im Willehalm von Orlens. Die narrative Arbeit, die alle Texte leisten, setzt bei der passionierten Liebe an, beim Begehren des Wunderbaren, absolut Schönen oder abstrakter, beim Begehren des Noch-nicht-Errungenen. Was die Texte leisten, ist nicht so sehr die literarische Konturierung blind waltender Schicksalsmächte, um die Unveränderlichkeit der Identität des Einzelnen zu bestätigen. Sie stellen eher die Frage nach den Bedingungen, den Umständen und dem Sinn des menschlichen Begehrens in einer sich öffnenden, nicht mehr ausschließlich providentiell bestimmten Welt.52

die Romane setzen also bei einer bereits bestehenden Minnehe an. Burghart Wachinger: Heinrich von Neustadt Apollonius von Tyrland. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von Walter Haug/Dems., Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 1), S.  97–115, hier S.  97. Die Trennung der Familie werde mit dem Erdulden des Helden und einer „außerordentlichen Tugend und Tüchtigkeit“ kompensiert, die in einer Abenteuerserie narrativ entfaltet sind; ebd., S.  103. Statt der Minne als Leitidee sind Tugend und Glück im Fokus der abenteuerlichen Bewährung des Apollonius narrativ umgesetzt. Im ander paradeys von Chrysa ist es die ethische Qualität des Helden nie kain missetat (V. 11320; „niemals eine Missetat“) begangen zu haben, die ihn letztlich alle Prüfungen bestehen lässt; ebd., S.  107–109. Nicht von der Paarbeziehung her ist der Roman angelegt, sondern vom untadelig krisenlosen Helden her. Eheschluss und Geburt der Tochter stoßen die Handlung an, sind aber nicht ihr Zielpunkt. 51 Grubmüller (Anm. 11), S.  201. 52 Auch die Magelone findet hier ihren Platz, sieht man die Trennung des Paares als Folge des emphatischen visuellen Begehrens, dass sich gegen die keusche Liebe richtet, die Peter Magelone versprochen hatte. Auch hier ist der Begehrenskonflikt in den Einzelnen verlegt; Peter ist Begehrender und Hindernis zugleich. Die verinnerlichten gesellschaftlichen Werte konfligieren mit dem personalen Begehren; sie werden in der Magelone vor allem in Monologen und Gesprächen inszeniert und nicht mehr in Handlungssequenzen entfaltet.

Der antike Liebes- und Abenteuerroman und sein Weiterleben bis in die Neuzeit

Stavroula Constantinou (Nikosia)

Retelling the Tale The Byzantine Rewriting of Floire and Blancheflor

Most scholars divide the vernacular tales of love produced in Byzantium between the 13th and 15th centuries into two categories according to their originality:1 so-called ‘originals’ and ‘translations’.2 While much scholarly attention has been given to the ‘originals’, which have been approached from various literary perspectives,3 the ‘translations’, on the other hand, have been met with indifference by Byzantinists and Neo-hellenists.4 1

For the problematic character of this categorization, see Ulrich Moennig: The Late-Byzantine Romance. Problems of Defining a Genre. In: Κάμπος. Cambridge Papers in Modern Greek 7 (1999), pp. 1–20. 2 See, for example, Roderick Beaton: The Medieval Greek Romance, London/New York 1996 (orig. published in 1989), pp. 101–145; Carolina Cupane: Romanzi cavallereschi byzantini, Torino 1995, pp.  20–35; Carolina Cupane: Roman. VII. Byzantinische Literatur. In: Lexikon des Mittelalters VII, Munich 1996, col. 988–990; Lynda Garland: Be Amorous, But Be Chaste! Sexual Morality in Byzantine Learned and Vernacular Romance. In: Byzantine and Modern Greek Studies 14 (1990), pp. 62–120, here p. 104; Tina Lentari: Romances. In: Greece. Books and Writers. Ed. by Vangelis Hadjivassiliou et al., Athens 2001, pp. 22–26, and Jan Olof Rosenqvist: Die byzantinische Literatur vom 6. Jahrhundert bis zum Fall Konstantinopels 1453. Translated by Jan Olof Rosenqvist/Diether R. Reinsch, Berlin/New York 2007, pp. 169–172. 3 In addition to the above list, see also the following studies (this is a small selection of a large number of publications): Panagiotis A. Agapitos: The Erotic Bath in the Byzantine Vernacular Romance Kallimachos and Chrysorrhoe. In: Classica et Medievalia 41 (1990), pp. 257–273; Panagiotis A. Agapitos: Narrative Structure in the Byzantine Vernacular Romances. A Textual and Literary Study of Kallimachos, Belthandros and Libistros, Munich 1991 (Miscellanea Byzantina Monacensia 34); Panagiotis A. Agapitos: Η αφηγηματική σημασία των επιστολών και των τραγουδιών στο Λίβιστρος και Ροδάμνη. In: Thesaurismata 26 (1996), pp. 25–42; Panagiotis A. Agapitos: Dreams and the Spatial Aesthetics of Narrative Presentation in Livistros and Rhodamne. In: Dumbarton Oaks Papers 53 (1999), pp. 111–147; Carolina Cupane: Concezione e rappresentazione dell’amore nella narrativa tardo-bizantina. Un tentativo di analisi comparata. In: Medioevo romanzo e orientale. Testi e prospettive storiografiche. Colloquio Internazionale. Ed. by A. M. Babbi et al., Soveria Mannelli/Messina 1992, pp. 283–305; Gerhard Emrich: Erzählformen in Kallimachos und Chrysorrhoe. In: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 32.2 (1982), pp. 289–299; Ole Smith: Some Features of Structure and Narrative in the Byzantine Achilleid. In: Hellenika 42 (1991–2), pp. 75–94. 4 Roderick Beaton, for example, in his book on the Medieval Greek romance provides a literary analysis of the ‘original’ romances whereas he only mentions the ‘translations’, giving some information on their content and the context of their production. This shows that he does not consider the ‘translations’ worthy of any literary approach. See Beaton (annot. 2), pp. 101–163. Some Western

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One of these ‘translations’ is the text discussed in the present chapter, namely the anonymous Florios and Platziaflore (hereafter Florios),5 the Greek version of the famous legend of Floire and Blancheflor.6 Florios is dated to the second half of the 14th century, and according to a number of scholars, is based on a 14th-century Italian version of the Floire-romances, the Il Cantare di Fiorio e Biancifiore (hereafter Cantare).7 Florios has come down to us in two versions, the first version survives in a fifteenth-century manuscript, the second in a manuscript of the sixteenth-century.8

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medievalists have shown a similar disregard for ‘translations’, see for example, Patricia E. Grieve: Floire and Blancheflor and the European Romance, Cambridge 1997, p. xi. The other three ‘translations’ of love tales, which are also anonymous, are the following: 1) War of Troy (mid-14th century), a Greek version of the Roman de Troie by Benoît de Saint-Maure; 2) Alexander and Semiramis (first half of the 15th century) that is based on a Persian-Ottoman version of Turandot material; 3) Imperios and Margarona (mid-15th century) whose source is believed to be another popular Western romance, the Pierre de Provence et la Belle Maguelonne. In contrast to the understudied Florios, other European versions of the legend, such as the French and the German, have been discussed by a considerable number of literary scholars. For a more general discussion of the Floire legend, its Spanish origin, its various European versions, and its influence on the European romance, see Grieve (annot. 4). For the French versions, see for example, Jane E. Burns: Courtly Love Undressed. Reading Through Clothes in Medieval French Culture, Philadelphia 2002, pp. 211–229; Huguette Legros: La rose et le lys. Étude littéraire du Conte de Floire et Blancheflor, Aix-en-Provence 1992 (Sénéfiance 31), and Marla Segol: Religious Conversion in Medieval Romance. Religious Conversion, History, and Genre in Floire et Blancheflor, Aucassin et Nicolette, and Flamenca, Saarbrücken 2011. As for the German versions, see, for instance, Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts, Berlin/New York 2006 (Q & F 39), pp. 122–168 and 240–286; Elizabeth Schmid: Über Liebe und Geld. Zu den Floris-Romanen. In: Der fremdgewordene Text. Ed. by Sylvia Borenschen et al., Berlin/New York 1997, pp. 42–57, and Michael Waltenberger: Diversität und Konversion. Kulturkonstruktionen im französischen und deutschen Florisroman. In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. Ed. by Wolfgang Harms/Stephen C. Jaeger/Horst Wenzel, Stuttgart 2003, pp.  25–43. The extremely small number of studies that take Florios into consideration fail to make the text widely known. Many Western medievalists working on the Floire-legend are not aware of the existence of a Byzantine Floire-romance. For example, in the lemma ‘Floire and Blancheflor’ of the encyclopedia on medieval women and gender there is no mention of the Greek version of the legend (Katharina Altpeter-Jones: Floire et Blancheflore. In: Women and Gender in Medieval Europe. An Encyclopedia. Ed. by Margaret Schauss, New York/London 2006, p. 295). See, for instance, Beaton (annot. 2), p. 137; Cupane: Romanzi cavallereschi byzantini (annot. 2), pp. 28–29 and 447–449; Emmanuel Kriaras: Βυζαντινά ιπποτικά μυθιστορήματα, Athens 1955, pp. 135–140; Giuseppe Spadaro: Contributo sulle fonti del romanzo greco-medievale Florio e Plaziaflora, Athens 1966 (Texts and Studies of Modern Greek Philology 26); Anna di Benedetto Zimbone: Dal Cantare di Fiorio e Biancifiore al Florios e Platziaflore. In: Medioevo romanzo e orientale. Oralità, scrittura, modelli narrativi. Atti del II Coloquio Internazionale, Napoli 1994. Ed. by Antonio Pioletti/Francesca Rizzo Nervo, Soveria Mannelli 1995, pp. 191–202. See Cupane: Romanzi cavallereschi byzantini (annot. 2), p. 447 and Anna di Benedetto Zimbone: Ancora su Florios E Platziaflore. In: Ενθύμησις Νικολάου Μ. Παναγιωτάκη. Ed. by Stefanos Kaklamanis/Athanasios Markopoulos/Giannis Mauromatis, Herakleio 2000, pp.  269–290, here 272–274. For the purposes of the present study, the older version of Florios will be used as edited by Carolina Cupane (Cupane: Romanzi cavallereschi byzantini [annot. 2], pp. 464–564).

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Florios has often been described as a “faithful translation” of its source.9 A comparative study of Florios and the Cantare, however, shows that this is not an accurate description. Florios departs from its assumed Italian source in many respects. For example, Florios is not composed in rhyming stanzas (ottava rima), as is the case with the Cantare, but in fifteen-syllable lines – the metre of all Byzantine vernacular love tales, ‘translations’ included. In contrast to the Cantare, Florios does not have a prologue but does have an introductory heading and rubrics, the latter two being further important characteristics of late Byzantine love narratives.10 Patricia Grieve has observed that Florios is thematically closer to the Spanish version of the Floire-legend. Based on this observation, she concludes that Florios is a translation of the Spanish text.11 Despite the demonstrable thematic similarities, Florios and the other versions of the Floire-romances, cannot be accuratelly characterized as ‘translations’ as the term is commonly understood today. The contemporary notion of ‘translation’ as the precise transcription of a text from one language into another does not apply to the Byzantine or the western medieval practice. As a matter of course Byzantine ‘translators’ made various changes to their source texts, including omissions, additions and comments. The resulting texts are more appropriately referred to as ‘rewritings’ than ‘translations’ of the source texts.12 Their rewritings, as any rewriting according to Susan Bassnett and André Lefevere, “reflect a certain ideology and a poetics and as such manipulate literature to function […] in a given way”.13 As the following discussion will demonstrate, the author of Florios rewrote the famous tale primarily according to the ideology, generic conventions and poetics of Byzantine love tales in both the learned novels of the 12th century and the vernacular romances.14 9

Garland (annot. 2), p. 103. See also Beaton (annot. 2), p. 137, and Elizabeth M. Jeffreys/Michael J. Jeffreys: Romance. In: The Oxford Dictionary of Byzantium, p. 1804. The last study describes also the War of Troy as a close translation of the original. Florios’s description as a “fairly close translation” has already been rejected. See Panagiotis A. Agapitos/Ole L. Smith: The Study of Medieval Greek Romance, Copenhagen 1992 (Opuscula Graecolatina 33), p. 69. 10 See Panagiotis A. Agapitos: Genre, Structure and Poetics in the Byzantine Vernacular Romances of Love (SO Debate). In: Symbolae Osloensis 79 (2004), pp. 7–101, here pp. 20–26. 11 Grieve (annot. 4), p. 137. 12 For a discussion of an example of a Byzantine ‘translator’, see Elizabeth A. Fisher: Innovation Through Translation. The Greek Version of Ovid’s Amatory Poems. In: Originality in Byzantine Literature, Art and Music. A Collection of Essays. Ed. by Antony R. Littlewood, Oxford 1995, pp. 93–98. As for the Western tradition, see Rita Copeland: Rhetoric, Hermeneutics and Translation in the Middle Ages, Cambridge 1991. 13 Susan Bassnett/Andre Lefevere: Preface. In: Translation, History and Culture. Ed. by Susan Bassnett/Andre Lefevere, London/New York 1990, p. i. 14 The terms ‘novel’ and ‘romance’ have been employed by Byzantinists to distinguish the two phases of the history of the Byzantine love tale. The first phase goes back to the 12th century when four authors (Theodore Prodromos, Niketas Eugenianos, Eustathios Makrembolites and Constantine Manasses), who were closely associated with the Komnenian court, resurrected the genre of the novel. The four novels produced in this period are modeled after the atticizing language, style and generic conventions of the Hellenistic novels (for a translation of all four novels with introduction, see Elizabeth Jeffreys: Four Byzantine Novels: Theodore Prodromos, Rhodanthe and Dosikles, Euma-

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The present chapter has a twofold purpose. First, to treat Florios in the same way in which the other European versions of the Floire-legend are regarded, thus situating it within the Byzantine literary canon. Second, to bring to light a text unknown even to many Byzantinists. Such an attempt will hopefully enable the addition of Florios to the map of the Floire-romances. In order to serve this double aim, I will analyse Florios under the aspects of instruction and friendship, which, though present in the Floire-legend,15 are not as central in the other European versions as they are in Florios, given the importance of both aspects in Byzantine learned novels and the vernacular romances.16 The analysis attempted here might also offer an explanation of why a Byzantine poet decided to introduce the Floire-legend into the literary system of his culture. It seems that this thios Makrembolites, Hysmine and Hysminias, Constantine Manasses, Aristandros and Kallithea, Niketas Eugenianos, Drosilla and Charicles, Liverpool, 2012 [Translated Texts for By­zantinists 1]). The second phase, the time of the Palaiologan emperors, is also when Florios was produced. As already pointed out, the Palaiologan love tales or romances were written between the 13th and the 15th centuries. The main differences between the later texts and the earlier ones are detected in authorship, language, metric form, setting, the social origins of the protagonists and their sexuality. The romances are anonymous and written in the vernacular and in fifteen-syllable verse. Their poets create new compound words (this is also the case with the poet of Florios). The heroes and heroines are not ancient Greeks, but rather of Byzantine, Latin and eastern origin. The action evolves not in a classical setting, but in contemporary scenery with utopian elements. The protagonists of the novels maintain their virginity until the very end of the story when they marry, while in most romances the erotic couple has sex in the middle of the story and before marriage. These differences, however, do not suggest that the poets of the romances were not aware of the novels. In fact, the novels had a great impact on the romances. For the Byzantine novels, see Panagiotis A. Roilos: Amphoteroglossia. A Poetics of the Twelfth-Century Medieval Greek Novel, Washington, D.C. 2006 (Hellenic Studies 10) and for the romances, see Agapitos (annot. 10). 15 Depending on the authorial intentions, each Floire-version emphasizes certain themes, see Grieve (annot. 4). For example, the Middle English versions have ambiguity as their central element. They present Floris as both pagan and Christian, male and female. As pointed out by John Geck, there is a “deliberate blurring of traditional boundaries” in the Middle English versions, John A. Geck: “For Goddes loue, sir, mercy!”. Recontextualising the Modern Critical Text of Floris and Blancheflor. In: Medieval Romance, Medieval Context. Ed. by Rhiannon Burdie/Michael Cichon, Cambridge 2011, pp. 77–90, here p. 89. The German versions, to mention a second example, focus on the performance of emotions, see Eming (annot. 6), pp. 122–168 and 240–286. 16 Friendships are detected in almost all Byzantine novels and romances. They do not, however, acquire the same significance in all texts. Concerning the novels, friendship is extremely important, for example, in Eustathios Makrembolites’s work, Hysmine and Hysminias (hereafter Hysmine) where the friendship of the protagonist Hysminias with his cousin Kratisthenes proves instrumental for both Hysminias’s initiation into the mysteries of love and his escape with his beloved Hysmine. As for the romances, friendship is very central in Livistros and Rodamne (hereafter Livistros) in which there are more friendly relationships. At the center of the narrative, however, lies the monumental friendship of Livistros and Klitovon. As for instruction, both the novels and the romances are presented as didactic narratives. In addition, instruction and friendship are interrelated in these love narratives, since the friend becomes the protagonist’s best instructor. See Agapitos (annot. 10), pp. 37–50; Panagiotis A. Agapitos: Writing, Reading and Reciting (in) Byzantine Erotic Fiction. In: Lire et écrire à Byzance. Ed. by Brigitte Mondrain, Paris 2006 (Centre de recherche d’Histoire et Civilisation de Byzance Monographies 19), pp. 125–176; Ole Smith: The Byzantine Achilleid. The Naples Version, Vienna 1999 (Wiener Byzantinische Studien 21), pp. 78–81.

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legend has characteristics that suited the literary taste, the horizons of expectation, and the needs of a Byzantine audience. Before I go on to examine the forms of instruction and friendship in Florios, their characteristics, functions and interrelations, I shall present the content of the examined text: A pious, good-looking and brave Roman knight (his name is not given) suffers greatly because his wife Topatzia, an extremely beautiful woman, is barren. The knight implores God and the Apostle James to cure Topatzia’s infertility. He promises to make a pilgrimage to the apostle’s famous shrine in Santiago de Compostela, in Galicia (northwestern Spain) should Topatzia become pregnant. The knight’s prayers are answered, and the young couple travels to Galicia along with a group of pilgrims (V. 1–24). In Spain, the pilgrims are attacked by soldiers of the Saracen king, Philip. Those who do not manage to escape are slaughtered (among them is the Roman knight and his wife). Topatzia is an exception; her divine beauty and nobility prevent the soldiers from killing her (V. 25–67). Topatzia, now a grieving widow, is taken to Philip’s palace. She quickly becomes a very close friend of the likewise pregnant queen, Kalliotera, who along with Philip consoles her. Kalliotera and Topatzia give birth in the palace on the same May day, the flowers blooming outside. Topatzia, who dies in labour, gives birth to a very beautiful girl, Platziaflore, while Kalliotera delivers an equally lovely boy, Florios. The two babies are raised together at the court and become beloved friends (V. 68–155). When the two children reach school age, Philip summons Florios to instruct him about the importance and usefulness of education, and to ask him to go to school. The boy agrees, provided that Platziaflore can be his classmate. Philip happily fulfills his son’s wish (V. 156–181). Florios proves a very hard-working and extremely good pupil. However, his zeal about education diminishes dramatically soon after he reads a textbook on love, which has such a great impact on him that it makes him see his friend Platziaflore with lover’s eyes. The teacher informs the king about his son’s love, and about his lack of interest in learning. He also goes on to advise Philip to separate the two children (V. 182–209). The king consults the queen, and they decide to send Florios away in hopes that he will forget Platziaflore. Philip then summons his son and instructs him for a second time about the importance of education. He asks Florios to continue his education at a school located in Montorion, another part of his realm. Florios is not willing to leave unless Platziaflore follows him (V. 209–248). Philip consults his wife again. The couple agrees upon a ruse: Kalliotera feigns illness so Platziaflore must remain behind and care for her ailing mother. Deeply depressed, Florios obeys his father. The two children separate from each other with great difficulty. Platziaflore gives Florios a magic ring with a shining stone, that loses its luster whenever the girl is in danger (V. 249–285). Having sent Florios away, the king plots to get rid of Platziaflore. He decides, with the queen’s consent, to accuse the girl of trying to kill him by sending him a poisoned chicken. Philip realizes his devious plan with the help of his seneschal, who is his friend (V. 331–392). Platziaflore is condemned to be burnt alive (V. 393–484). Informed by the magic ring that his beloved is in danger, Florios arrives on the scene to prevent Platziaflore’s cruel punishment. He appears disguised as an unnamed illustrious knight who is a close friend of his in Montorion, and kills the seneschal in a duel. He then asks the king to safeguard Platziaflore and returns to Montorion (V. 485–756). Back in Montorion, Florios suffers from the absence of his beloved. In order to make him forget Platziaflore, his uncle, the duke of Montorion, sends him two beautiful noble girls, but neither of them manages to seduce him. When Florios’ uncle is unable to improve his nephew’s extremely bad emotional state, he informs Philip of the situation and advises him to send Platziaflore to

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Montorion (V. 757–872). Philip, however, decides to kill Platziaflore, but the queen intervenes, suggesting they sell the girl to foreign merchants instead (V. 873–1052). Guided by the magic ring, Florios returns to his father’s palace to rescue Platziaflore, but it is already too late. As his parents inform him, the girl has already been taken to foreign lands. After criticizing his father for his treatment of Platziaflore, Florios reveals his plan to look for his beloved. If he does not find her, he will kill himself (V. 1054–1090). With great regret and sorrow, the king accepts his son’s decision. He does not fail, however, to offer Florios some final instruction: he teaches his son how to create friendships and how to treat his friends. The teachings on friendship are continued by the queen, who gives Florios another ring that has the power to protect its bearer from life-threatening danger (V. 1091–1184). Florios departs on his self-imposed mission with friends who are willing to share his adventures. After three days of travelling, they arrive at an inn, where they are informed that Platziaflore spent a night there, and that she has been taken to Egypt. Florios gives the innkeepers precious presents for the information and sails to Egypt. In a second inn, in Alexandria, the hero is given precise information about the merchants’ route to Babylon. In a third inn, located in Babylon, Florios is informed that his beloved has been sold to the emir, who has enclosed her in a tall and strong tower protected by a strict guard (V. 1209–1292). Florios gives the innkeeper many valuable presents, which bind the two men with the bonds of friendship. Then Florios asks for the innkeeper’s help to gain access to the girl. The innkeeper provides further information about the tower’s appearance and construction. He then goes on to describe the guard’s personality: he is a misanthrope, a devilish and wild man. There is, however, a way to approach him and to become his friend: he loves riches and games (V. 1293–1349). The hero manages to approach the guard and to win him over as a friend through his behaviour and presents. As Florios’s faithful friend, the guardian promises to help him in his quest (V. 1350–1534). He thus devises the following plan: now that it is the month of blossoms (May), he will collect various kinds of flowers, put them in baskets, and send them to the emir as a gift. The emir will select some for himself and give the rest to the best girls in the tower. Hidden in one of the baskets, Florios will in this way gain entry to the tower. Everything is carried out according to the guard’s plan: the baskets are prepared and they are taken to the emir who takes some flowers and sends the rest to Platziaflore, his favorite girl (V. 1535–1585). Koritzia, Platziaflore’s lady-in-waiting and close friend, receives the baskets. Florios, thinking that it is his beloved who stands before the baskets, makes his appearance. Terrified by the unexpected visitor, Koritzia screams. Her loud voice attracts the attention of the other ladies-in-waiting. Having quickly deduced who is in the basket, Koritzia tells a lie: she says that a bird flew out from one of the baskets and scared her (V. 1586–1607). She then informs Platziaflore of her beloved’s presence, and the two youths meet and consummate their love (V. 1614–1645). In the meantime, the emir, who desires Platziaflore’s company, asks for her to be brought to him. Koritzia lies for a second time: she says that an illness prevents Platziaflore from going to the emir. Feeling sorry for his beloved, the emir decides to pay her a visit, and discovers the two lovers. Enraged, the emir draws his sword to kill them. However, he cannot bring himself to follow through, and assembles his council of advisers instead (V. 1647–1680). The council unanimously sentences the two lovers to death by fire. However, Kalliotera’s magic ring saves the two lovers. Upon witnessing the young couple emerging unscathed from the flames, the bystanders implore the emir to spare the young couple. A noble knight persuades the emir to ask them to tell their story. Florios reveals his identity, and relates all his sufferings and adventures (V. 1681–1772). The emir realizes that Florios is the son of a relative of his. He happily embraces the couple. He then arranges the lovers’ wedding and bestows them with gifts. Florios and Platziaflore return to Spain where they are happily welcomed by the king and the queen

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who organize a second wedding for the couple. Florios’s family and their subjects convert to Christianity, and the young couple rules over Rome (V. 1773–1795).

Instruction in Florios takes four forms depending on the instructor’s role in the text. First, there is the omniscient narrator as instructor. He suspends the action and turns to his audience to give a lesson, highlighting the narrative’s instructive character.17 Second, there is the unnamed teacher of Florios and Platziaflore, who is by definition an instructor. Third, there are the parental instructors: Philip and Kalliotera become their son’s teachers. Finally, there is the friend as instructor. Some of Florios’s friends teach him about how to find his beloved Platziaflore. The last three forms of instruction, which are undertaken by heroes or heroines of the narrative, are mainly addressed to the romance’s central protagonist. As the following analysis will show, their narrative function is important as they determine some of Florios’s actions through which the plot develops until it reaches its climax and ultimate resolution. The narrator undertakes the role of the instructor in the following passage:18 Τί δὲ κακὰ συνέβησαν ὑπὸ τοῦ βασιλὲως εἰς κόρην τὴν πανεύγενον, ἂς εἰπὼν καταλέξω καὶ ὁποὺ ἔχει πόνους, ἂς πονῇ καὶ θλίψεις, ἂς λυπᾶται καὶ ὁποὺ ποθοῦν καὶ θλίβουνται, πάντα ἂς ὑπομένουν ὅτι τῆς Τύχης ὁ καιρὸς πάλιν ἐπαναστρέφει (Florios, V. 326–330)

What evils were inflicted by the king upon the most noble maiden, let me tell you through narration. And the one who has pains and sorrows shall suffer and grieve, and those who are in love and have afflictions shall endure them all, because the time of Fate turns back again.19

In this passage, the narrator first addresses a more general audience. He informs its members about the direction his narration will now take: in what follows he will present Philip’s evil machinations against Platziaflore whom he describes as a “noble maiden”. With the words that follow, however, the narrator turns to some of his readers or listeners, whom he divides into two categories according to their situation: people who suffer unjustly and lovesick individuals. The narrator teaches each group how to deal with their (love) sufferings. Any suffering members of the audience are advised to take Florios and particularly Platziaflore, who suffers unfairly at the hands of Philip, as their model and bear their 17

In most Byzantine romances, the narrator assumes the instructor’s role mainly in the texts’ prologues and epilogues; see Agapitos (annot. 10), pp. 37–50; Smith (annot. 16), pp. 78–83. This is not the case with Florios that has neither a prologue nor an epilogue. 18 It should be pointed out that this passage is an addition to the Floire-legend made by the Byzantine poet. In the Cantare, the narrator’s interventions are very limited, and they do not have such an instructive function. However, similar comments from the narrator’s part, as already stated, exist in Byzantine love tales. 19 Translation by Panagiotis Agapitos in Agapitos (annot. 16), p. 168 with minor changes of my own.

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afflictions with courage and patience. Their sufferings, like those of the protagonistic couple, are inevitable, yet they are not destined to last forever, since Fate has its twists and turns.20 By directly addressing his suffering readers or listeners before narrating Platziaflore’s afflictions, and by inviting these sufferers to identify with his noble protagonists, the narrator raises awareness about pain and its management. Pain is a universal experience whose endurance provides the sufferer with a heroic status, such as that of the legendary Florios and Platziaflore. In the above quotation, the narrator does not just become a pain instructor whose aim is to provoke an ethical change in his suffering readers or listeners. He also offers a lesson to all members of his audience about how to evaluate two of his characters (Philip and Platziaflore), and about how to read his story as a whole. Philip is presented as an evil character, whom the audience is invited to scorn. Platziaflore, on the other hand, is portrayed as an innocent victim with whom the audience is meant to empathize, and even identify. As for the story, it is not just an “outstanding” and “extraordinary” tale of love (“Διήγησις ἐξαίρετος ἐρωτικὴ καὶ ξένη”), as the text’s introductory heading suggests. It is also a didactic story.21 In other words, Florios goes beyond being an entertaining and interesting love story. It also teaches its audience how to treat and solve their problems: by imitating the story’s protagonists. Florios, as the following analysis will further illustrate, manages to cure his love sufferings by both following instructions and making friendships. The narrator’s role as the teacher of the meaning and function of a text is also mirrored in the schoolteacher’s educational project. He teaches Florios and Platziaflore how to read the books he provides them. One such book has love as its subject. This “book on love” (Florios, V. 184) is likely, as has been suggested, Ovid’s Ars Amatoria,22 which has itself the form of a didactic text.23 It influences Florios to such a great degree that he falls in love. As a result, the hero undergoes a personal transformation, which determines both the course of his life and that of the narrative. The previously zealous and hardworking pupil now loses his interest in formal schooling and will to study. He also loses his self-control, and becomes restless, depressed and 20

Fate plays an important role in Byzantine romances, see Carolina Cupane: Κατέλαβες τὰ

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ἀμφίβολα τῆς τυφλῆς δαίμονος πρόσωπα: il Λόγος παρηγορητικὸς περὶ Δυστυχίας καὶ Εὐ­τυχίας e la figura di Fortuna nella letteratura greca medievale. In: Ἀρχὲς τῆς νεοελληνικῆς λογοτεχνίας. Πρακτικὰ τοῦ δευτέρου διεθνοῦς συνεδρίου Neograeca Medii Aevi ΙΙ. Ed. by N.  M. Panagiotakis, Venice 1993 (Βιβλιοθήκη τοῦ Ἑλληνικοῦ Ἰνστιτούτου Βυζαντινῶν καὶ Μεταβυζαντινῶν Σπουδῶν τῆς Βενετίας 14–15), pp. 162–235.

As previously pointed out (see annot. 16), didacticism is an important element of the ‘original’ Byzantine love narratives. 22 See Cupane: Romanzi cavallereschi byzantini (annot. 2), p. 475, n. 16. In other Floire-versions, such as the French aristocratic version, it is stated explicitly that the two children were taught Ovid’s work on the art of love (Floire et Blanchefleur, V. 226–227). 23 Educated Byzantines might have been familiar with the Ars Amatoria, which was translated into Greek in the late 13th century by the Byzantine scholar Maximos Planoudes. See Fisher: Innovation Through Translation, and idem, Ovid’s Metepsychosis: The Greek East. In: Ovid in the Middle Ages. Ed. by James. G. Clark/Frank T. Coulson/Kathryn L. McKinley, Cambridge 2011, pp. 26–47.

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preoccupied. The hero’s lovesickness, which is provoked through his school education becomes the central theme of the rest of the story. All the actions undertaken in the narrative from this point on are strongly related to Florios’s desire for Platziaflore. King Philip, for instance, who does not approve of a wedding between Florios and Platziaflore, sends his son away, and then he looks for ways to get rid of the girl. Philip’s actions provoke the reactions of other characters, which in turn engender further actions until Florios’s lovesickness is permanently cured through his second marriage with Platziaflore. At this point the narrative comes to an end. The instruction project realized by Florios’s parents takes place in three phases, which constitute significant milestones in the protagonist’s life: beginning formal schooling, losing interest in his studies due to lovesickness, and informing his parents about his decision to leave everything behind in order to search for Platziaflore. At the first two milestones, it is only king Philip who undertakes the teacher’s role. At the third and most important milestone, both parents address similar instructive speeches to Florios. The first two instructive speeches of Philip (Florios, V. 158–166 and 221–229), which correspond to the first two milestones enumerated above, are very similar: they have the same length (about nine verses), subject and rhetoric. The king teaches his son about the usefulness and importance of education. An essential characteristic of his didactic rhetoric is repetition. He mainly repeats words and ideas through which his theory about education is revealed. He uses repeatedly the words prudence (phronesis) and prudent (phronimos) which he consistently associates with education. In so doing, Philip suggests that the importance of formal education lies in its ability to teach the value of prudence, which a prospective ruler such as Florios should acquire in order to rule successfully. Philip’s understanding of prudence lies in accordance with the Aristotelian definition of the term as the intellectual ability directing good and just action. Prudent, according to Aristotle, is the man who knows what is good for both himself and others, and acts accordingly. The end (telos) of the prudent man’s actions is the achievement of happiness (eudaimonia) (Nicomachean Ethics, VI.5–7).24 However, Philip’s approach to prudence as a value that can be learnt at school departs from that of Aristotle. Aristotelian phronesis is acquired through personal development and experience. In fact, the prudent actions undertaken by Florios as the narrative unfolds – through which he regains his beloved, and as a result achieves Aristotelian happiness – are not the result of his school education, as his father might have expected. The protagonist acquires prudence through his personal development in which parental advice, and the experience of both friendship and lovesickness play a crucial role. Philip’s obsession with prudence is neither related to his character nor is it a rhetorical game. It reflects Byzantine imperial ideology in which phronesis was one of the most important virtues for a ruler to possess.25 In fact, as is the 24

Aristotle’s treatise on ethics known as Nicomachean Ethics was very popular in Byzantium, see Dimiter Angelov: Imperial Ideology and Political Thought in Byzantium (1204–1330), Cambridge 2007, p. 220. 25 See Angelov (annot. 24), pp.  80–81, and Paul Magdalino: The Empire of Manuel I Komnenos 1143–1180, Cambridge 1993, pp. 415, 435 and 488.

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case with Philip, prudence was for some emperors or their propagandists the highest of all imperial virtues.26 It should also be pointed out that Florios is not the only example of a love tale that incorporates Byzantine imperial ideology. In the Komnenian novel Hysmine, for instance, Eros the king is depicted as a Byzantine emperor.27 As such, he is surrounded by the female personifications of the four cardinal virtues: Phronesis, Fortitude, Temperance and Justice (Hysmine, Book 2.1–11).28 An example of a Palaiologan love tale in which Eros appears as a Byzantine emperor is Livistros.29 In Livistros, however, the personification of Phronesis does not accompany the king Eros. She is, however, associated with rulership. She – along with other eleven virtues (Fortitude, Veracity, Faith, Justice, Temperance, Humility, Love, Prayer, Patience, Hope, and Charity) – is depicted on the walls of the Silvercastle, which belongs to the Latin emperor Gold, father of the female protagonist Rodamne (Livistros, V. 1023– 1094).30 As is the case in Hysmine, Phronesis is the first virtue represented in Livistros, a fact showing that the authors of both works, like Philip in Florios, consider prudence to be the most important imperial virtue. The incorporation of Byzantine imperial ideology in Florios is obviously another instance of the romance’s Byzantine status and its affinity to the so-called ‘original’ Byzantine love tales. Philip’s third instructive speech (Florios, V. 1091–1148) varies in many respects from the other two. First, it is much longer (about 57 verses). Second, it is placed in the middle of the story. Both its length and its placement within the narrative underscore its greater importance, which will become more obvious as the narrative develops. Philip’s final teachings prove invaluable for Florios, who is so prudent as to follow them, and in so doing achieves his goal, bringing the story to its end. Third, Philip’s final instructions along with those of Kalliotera function as a bridge between Florios’s previous identity, which was controlled by his parents, and his new identity as the independent son, who, though independent, does not fail to heed his parents’ final precepts. Fourth, Philip’s parting teachings are initiated by the fatherly anxiety engendered by his son’s assertions of independence and desire for liberation from parental control. Unable to prevent Florios’s departure, Philip resorts to instruction in an attempt to assist his son in his quest. Under these conditions, the content of Philip’s third 26

See Magdalino (annot. 25) p. 488 and Shaun Tougher: The Reign of Leo VI (886–912): Politics and People, Leiden 1997 (Medieval Mediterranean 15), p. 112. 27 For a discussion of Makrembolites’s use of imperial ideology and imagery, see Paul Magdalino: Eros the King and the King of Amours: Some Observations on Hysmine and Hysminias. In: Dumbarton Oaks Papers (Homo Byzantinus: Papers in Honor of Alexander Kazhdan) 46 (1992), pp. 197–204. 28 See the edition of Miroslav Marcovich: Eustathius Macrembolites. De Hysmines et Hysminiae Amoribus Libri XI, Munich/Leipzig 2001. 29 See Panagiotis A. Agapitos: The ‘Court of Amorous Dominion’ and the ‘Gate of Love’: Rituals of Empire in a Byzantine Romance of the Thirteenth Century. In: Court Ceremonies and Rituals of Power in the Medieval Mediterranean. Ed. by Alexander Beihammer/Stavroula Constantinou/ Maria Parani, forthcoming. 30 See the edition of Panagiotis A. Agapitos: Αφήγησις Λιβίστρου και Ροδάμνης. Κριτική έκδοση της διασκευής α, Athens 2001.

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instructive speech cannot be the same as that of the other two. Now Philip has to teach his son how to behave in unknown and potentially hostile environments. This time the dominant subject of the parental instruction is friendship. This is the first instance in Florios in which the text’s two central themes, friendship and instruction, are combined. The two themes will be brought together again when Florios’s future friends – whom he acquires by following his parents’ advice – become his instructors. In this second case, however, friendship and instruction are differently associated. The instruction on friendship provided by the royal couple is now transformed into instruction acquired through friendship. In his lesson on friendship, the king tells his son to approach all the people he meets on his way to find Platziaflore with friendly feelings, even if they appear hostile. The prince should offer his friendship to everybody: the rich and the poor, the powerful and the weak, the virtuous and the wicked. Philip teaches Florios about how to create friendships with people of diverse backgrounds and personalities. The prince is asked to employ the following strategies: to hide both his real identity and power, to show humbleness, to approach others with respect, to treat everyone according to his character and while avoiding causing him any undue distress, to accept gifts and offer counter-gifts that are at least twice as valuable, and finally, to give his love to everyone. For Philip, friendship is absolutely essential to an individual whose mission takes him to foreign places. Provided that friends care for each other, friendship guarantees safety and offers assistance. Thus Florios’s weapons in his quest cannot be his riches or his social status, but rather his friendships. It is friendship that will enable him to overcome any problems, and to succeed in his mission. Philip does not see friendship solely as a powerful shield against dangers or as a means of achieving one’s purposes, though it does serve both of these purposes, but also as a model of behaviour toward others. The portrait of a friend is that of a humble man who loves, respects and helps others. Kallioteras’s shorter instructive speech, a portion of which paraphrases a famous 12th century Byzantine didactic poem known as Spaneas is very much along these lines (Florios, V. 1151–1168).31 In fact, all the didactic speeches given by Florios’s parents are part of a long Byzantine literary tradition in which instruction is offered to children and young men.32 The didactic genre par excellence is, of course, the mirror of princes in which friendship in particular is an important subject.33 Obviously through the royal couple’s teachings that are addressed to the young prince Florios, the popular Byzantine genre of the speculum principis is incorporated in the Floire-legend. Needless to say, here again we have another case in which Byzantine political and literary ideology informs Florios. 31

See Cupane: Romanzi cavallereschi byzantini (annot. 2), p. 529, note 66. For Spaneas, see Georg Danezis: Spaneas: Vorlage, Quellen, Versionen, Munich 1987 (Miscellanea Byzantina Monacensia 31). 32 See Charlotte Roueche: The Rhetoric of Kekaumenos. In: Rhetoric in Byzantium: Papers from the Thirty-fifth Spring Symposium of Byzantine Studies, Exeter College, University of Oxford, March 2001. Ed. by Elizabeth Jeffreys, Aldershot 2003 (Society for the Promotion of Byzantine Studies 11), pp. 23–37, here pp. 24–25. 33 See Dimiter Angelov: Imperial Ideology, pp. 197, 215–225.

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Friendship in Florios, like E. M. Forster’s characters,34 takes two forms: flat and round. The friendships that do not develop are flat. The author makes no attempt to present the relationship of the two friends. All flat friendships are introduced into the narrative when one of the protagonists (Florios, Platziaflore and Philip) needs a friend’s protection, assistance or instruction in order to solve a problem. When the problem is overcome, the protagonist’s friend disappears from the narrative. The function of flat friendships is thus to serve the protagonists’ intentions and wishes. In so doing, flat friendships contribute to the advancement of the plot. In Florios, flat friendships are depicted between the following pairs: Philip and his seneschal; Florios and the anonymous knight in Montorion; Florios and Pelesantas, the inn-owner in Babylon; and Platziaflore and Koritzia, her lady-in-waiting. Philip’s friendship with his seneschal appears in the narrative when the king needs assistance in his wicked plotting against Platziaflore. Florios’s friend in Montorion is mentioned when the hero asks for the knight’s help in his attempt to save Platziaflore from danger. The innowner in Babylon comes to aid Florios to gain access to Platziaflore, and Koritzia appears to help the two lovers to come to each other secretly and consummate their love. These four friendships form two dyads. To the first dyad belong the first two friendships while the second dyad consists of the last two. The narrative function of the friendships of each dyad is complimentary. Florios’s friendship with the knight is his weapon against Philip’s friendship with the seneschal. Through his friend’s help, Florios manages to save Platziaflore whose life is endangered by the king and his own friend, the seneschal. As for the second dyad of friendships, the inn-owner with his precepts and directions brings Florios closer to his goal, while Koritzia’s assistance enables Florios to fulfill his goal. In contrast to the flat friendships, the round ones are developed, and as a result take up considerable narrative space. The author specifies how they come into being, how they progress and how they sometimes come to an end. Round friendships, unlike the one-sided flat ones, prove important and useful for both friends, who through their relationship improve themselves, and are transformed. Florios describes round friendships between three pairs: Kalliotera and Topatzia, Florios and Platziaflore, and Florios and the towerguard. The friendship of Kalliotera and Topatzia is the first one depicted in the text. Interestingly, the text’s two female friendships (Kalliotera and Topatzia, and Platziaflore and Koritzia) are introduced in strategic places within the narrative. The former is the friendship with which the narrative starts; the latter is the narrative’s last friendship. The first female friendship creates the situation that enables the fatal meeting of Florios and Platziaflore, while the last one marks the reunification of the two lovers. The friendship between Kalliotera and Topatzia starts when Philip’s soldiers bring the young widow to his palace. Kalliotera welcomes a grieving Topatzia who is so devastated at the loss of her husband that she is suicidal. Through her consoling words and her affection, the queen helps Topatzia to regain her composure and interest in life. The religious

34

See E. M. Forster: Aspects of the Novel, London 1980 (orig. published in 1927), pp. 67–80.

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and social differences separating the two women do not prevent them from creating a very powerful relationship that develops in time. Their friendship is deepened and enriched when they find out that they are both pregnant. After this relevation, the queen begins treating Topatzia as her equal. As the narrator points out, there are two queens in the palace now (Florios, V. 115). Kalliotera’s new attitude towards Topatzia is marked by a symbolic act: she dresses her friend in a queen’s chiton which she herself had acquired as a gift. The two women’s friendship ends abruptly when Topatzia dies after giving birth to her daughter. As a faithful friend, Kalliotera raises the girl as her own. The two women’s friendship proves important for both of them. For Topatzia, it initially functions as a therapeutic means that allows her to overcome her extreme grief, which is threatening to lead her to self-destructive behaviour. As the friendship matures, Topatzia, who has been deprived of her husband, family, friends, home and country, acquires the love and affection as well as the self-fulfillment she needs, both as a human being and as a (pregnant) woman. Kalliotera, on the other hand, gains the opportunity to make amends for the great evil that her husband caused to Topatzia and her family. She also has the pleasure of sharing her pregnancy experiences with another woman who finds herself in exactly the same situation. As is the case with Topatzia, Kalliotera is reliant on their relationship for her self-fulfillment and self-sufficiency as a woman. As already suggested, the narrative function of this first female friendship is fundamental. Kalliotera and Topatzia’s friendship brings into being the text’s second friendship, which is the kernel around which the narrative develops. The relationship between Florios and Platziaflore is originally friendly. The two children are inseparable. They spend all their time with each other: they eat, sleep, play, and attend school together. In contrast to the other round friendships, this one is at some point transformed into another form of relationship. As has been pointed out, it becomes erotic when the two friends fall in love. The most fully-presented and complex round friendship in Florios is the one between the main hero and the guardian of the emir’s tower in which Platziaflore is confined. In contrast to the other two round friendships, which emerge naturally from time spent in close proximity, this friendship comes into being due to Florios’s conscious and sustained efforts. To become a friend with the tower guard is extremely essential to Florios, since this is the only way through which the hero could approach his beloved. However, befriending the guard proves a very difficult task. According to Pelesantas’s description, the guardian is the personification of the Devil. He is wild like a beast, evil, dangerous and hostile. He hates people and is an enemy of friendship. He summarily beheads any man who dares to approach the tower (Florios, V. 1337–1343). Whereas approaching such a devilish and threatening man is already very difficult, befriending him seems impossible. In order to pursue the guard’s friendship, Florios must first earn his trust. In order to establish himself as trustworthy, Florios has to devise a plan through which his prudence is demonstrated (Florios, V. 1369). The hero’s first move is to enter the guard’s territory in a non-hostile manner: he approaches the tower alone and unarmed. His lack of hostility proves an effective remedy against the guard’s enmity. He

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notices the approaching hero immediately, but refrains from killing him, because, as he tells him, he has come unarmed (Florios, V. 1367–1368). The guard, in contrast, is interested to know Florios’s identity, his origin, and the reason for which he dared to come to the tower. In an attempt to gain some proximity to the guardian and to intensify the guard’s curiosity, Florios avoids answering his questions. He rather engages in a relatively long speech full of repetitions, the basic message of which is simply not to harm him before ensuring that this is the right thing to do. Florios’s method proves successful. The guard’s reaction is human and almost friendly: he seizes Florios’s hand, and while holding it, restates his previous questions about the hero’s identity and origin. Florios repeats again his previous technique. His rather long and repetitious speech does not really answer the guardian’s questions. He just says that he is a free-man and a foreigner who came to see the tower. He does not fail to praise the tower for its beauty and excellent construction. Through the right approach and behaviour, Florios has managed so far to defeat the guardian’s hostility. In order to win his friendship, however, the hero has to undertake further actions. Following Pelesantas’s friendly instructions, Florios goes on to ask the guardian to play a game with him. The guardian accepts gladly, but when he loses and has to pay the winner, his mood changes. Florios, as the narrator points out, shows his prudent character once more (Florios, V. 1416): he returns the guard’s money, further softening the blow by adding some of his own. Florios’s act proves decisive for the development of his relationship with the guard. Now the guard admires Florios for his generosity and nobility and desires his friendship. He asks the hero to return the following day and have dinner with him. The way in which the guardian says goodbye to Florios reveals his transformation. He takes Florios’s hand and tells him with affection and friendliness: Ἀφήνω ὑγείαν, ἀφέντης μου, ὅτι μὰ τὴν ἀλήθειαν ὅσες πικρίες καὶ στεναγμοὺς καὶ ἀδημονίες ἄν εἶχα, ὅλες μὲ τὲς ἐλάφρωσες, ἔφυγαν ἀπὸ μένα, διατὶ μικρὸν ἐθέλησες νὰ παίξῃς μετ’ ἐμένα (Florios, V. 1425–1428) Stay healthy, my lord, because it is true all the bitterness and the moanings and the anxieties that I might have had, you have alleviated them all, they have gone away, because you wanted to play with me for a while.

Of course, Florios gladly accepts the invitation. Wishing to spend even more time with the guard, however, he offers to return early in the morning. When the hero comes back the next day, the guard’s behaviour has nothing in common with his behavior at their initial meeting. Now the guard is glad to see the hero whom he welcomes as a friend. The two men enjoy their time together and they become closer to each other, a fact that allows Florios to employ his next stratagem.

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Being aware of the guard’s obsession with gold, Florios gives him the most precious object he has in his possession: a jewel-encrusted golden chalice filled with gold. Impressed by such a unique and invaluable present, the guard promises to fulfill Florios’s wishes, and he asks him to name one. Florios, however, does not reveal immediately his intentions. He first makes the guard swear that he will prove a real and faithful friend to him. Then the hero goes on to confess his desire for Platziaflore, to reveal his love sufferings, and to openly ask the guardian to help him. The hero’s lengthy speech, which abounds with love images and motifs, appears to have common elements with Livistros’s account of his own love sufferings addressed to his friend Klitovon in the Palaiologan romance Livistros.35 Upon hearing Florios’s request, the guard is reluctant to help his new friend because he is afraid of the emir. Despite the difficult and dangerous request, the oaths of friendship he has earlier exchanged with the protagonist prove stronger than his fears and the guard eventually agrees, saying to Florios among other things: Ὁπόταν γὰρ εἰς κίνδυνον φίλος διὰ φίλον πάσχῃ, ἐκεῖνον ἔχε ἀληθινόν, ὅτι ἔναι ὡς πρέπει φίλος ὅταν δὲ εἰς πρᾶγμα εὔκολον τάχα συντρέχῃ ὁ φίλος, διὰ τοῦ καιροῦ τὸ εὔκολον πάσχῃ διὰ φιλίαν, οὐκ ἔναι φίλος γνώριμος, […]. Ἐδά, ἀπὲ τώρα γνώριζε καὶ βεβαιώνω σέ το ἄν χάσω τὸ κεφάλι μου τελείως ἐκ τὸ κορμί μου, τὴν Πλατζιαφλόρε βούλομαι νὰ ὀρθώσω νὰ συντύχῃς.36 (Florios, V. 1527–1534) The friend who undergoes danger for his own friend this one you should consider real, because he behaves as a friend should. When a friend offers assistance in an easy situation, and he withstands for friendship because the circumstances are easy, he should not to be seen as a friend. From now on you should know and I assure you that even if I have to lose my head that will be wholly removed from the rest of my body, I want to make arrangements for you to meet Platziaflore.

The guard, who before meeting Florios had no experience of friendship, now gives a lesson on friendship. In fact, his words constitute a short treatise on the subject. According 35

Compare, for example, the verses 705–712 (Livistros) and 1486–1492 (Florios); 1312 (Livistros) and 1496 (Florios); 3297–3305 (Livistros; in this case it is Rodamne who relates Livistros’s love sufferings to Klitovon) and 1507–1512 (Florios). Unfortunately, the scope of the present paper does not allow a more detailed comparison between the two love tales which seem to have more common characteristics. 36 Here again the guardian’s discourse on friendship has parallels with that of Klitovon in Livistros. Like the guardian, Klitovon puts his life into danger for his friend’s sake. Before doing so, he says to Livistros: “Καὶ εἰ μὲν κακὸν παρακαιρὸν, ἄς ποντιστῶ δι’ ἐσέναν,/καὶ οὕτως ἁρμόζει, φίλε μου, πληροφορήθησέ το,/νὰ πάσχουν διὰ τοὺς φίλους τους οἱ καταλήθειαν φίλοι” (Livistros, V. 3137–3139).

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to the guardian, there are two types of friends: real and inauthentic. The real friend proves himself in dangers and difficulties. He is even prepared to die in order to help his friend or save him from danger. The inauthentic friend, on the other hand, appears helpful only when his friend does not face any serious problems. The guard, of course, belongs to the first category, since he is so dedicated to Florios that he accepts the danger of losing his life for him to satisfy the protagonist’s perilous desire to see Platziaflore. The real friendship that binds Florios with the guard, as well as the other friendships the protagonist forms, manifest in the most powerful way the truth and the importance of Philip’s teachings on friendship. Florios’s friendship with the guard in particular is the hero’s ticket to life and happiness. In V. 1514–1520, Florios impresses upon the guard that he is putting his life and happiness in his new friend’s hands. Should Florios make it safely to Platziaflore, the guard will have given him life and joy, should he fail, Florios will almost certainly meet his death. The two men’s friendship does not prove beneficial only for Florios, but also for the guard, who is transformed from a dangerous misanthrope into an exemplary friend. Through his friendship with Florios, the guard is freed from his loneliness, and experiences the pleasures of human interaction and being helpful to others. While in most other European versions of the Floire-legend the protagonist wins his beloved through engin (trick, cleverness, ingenuity),37 in Florios it is both through listening to instruction and forming friendships that the hero achieves his purpose. In other words, Florios succeeds in his quest because he is a good student and friend. The fact that the central protagonist of the legend in question is not a typical romance hero, a brave knight who is constantly confronted with dangers and adventures, has led a number of medievalists to the conclusion that Floire is a romance of Byzantine origin.38 In fact, the heroes of the Palaiologan romances behave similarly to Florios. Like Florios, they do not really act. Others act on their behalf or direct their activities. In addition, they do not get involved in adventures. In some cases, even their enemies appear to be honorable individuals who not only keep their word, but are also prepared to help the heroes reunite with ther beloveds. For Byzantinists, on the contrary, Florios is seen as “basically Frankish rather than Byzantine”.39 I do hope that the analysis attempted here has shown the exact opposite: Florios is basically Byzantine rather than Frankish.

37

See Grieve (annot. 4), pp. 53–88. See, for example, Burns (annot. 6), p. 213 and Altpeter-Jones (annot. 6), p. 295. 39 See Anthony Littlewood: Romantic Paradises: The Role of the Garden in the Byzantine Romance. In: Byzantine and Modern Greek Studies 5 (1979), pp. 95–114, here p. 95. 38

Günter Berger (Bayreuth)

Charitons Kallirhoe Ein früher antiker Liebesroman und seine späte Entdeckung

Vorreden – mehrstimmig, aber (fast) eindeutig Christian Gottlob Heyne (1729–1812) hat 1753, so heißt der Titel, Charitons Liebesgeschichte des Chäreas und der Callirrhoe. Aus dem Griechischen übersetzt.1 Der zu dieser Zeit mit gerade einmal 24 Jahren noch nicht ganz so hochberühmte Gelehrte, der zehn Jahre später als Professor für Poesie und Beredsamkeit an die Universität Göttingen berufen wird, preist in seiner Vorrede des Übersetzers weder seine Übersetzung noch gar das Original nachgerade an: Ich gestehe ganz gerne, daß es eine bloße Uebersetzung ist, und zwar eines alten griechischen Romans, den wir vielleicht nie wuerden vermisset haben, wenn er auch nicht zu unsern Zeiten ans Licht waere gebracht worden; und um den es vielleicht noch weniger Schade gewesen waere, wenn man ihn auch nicht in unserer Sprache erblickt haette. (nicht paginiert)

Nach diesen eher den Regeln der Bescheidenheitstopik geschuldeten spielerisch-apologetischen Bemerkungen, die gelehrter Kritik von vornherein den Wind aus den Segeln nehmen sollen, kommt der junge Heyne ganz schnell auf ein, wenn nicht das Grundproblem der Chariton-Rezeption zu sprechen: Vor einem Roman ist er gar zu natuerlich und vor eine Erdichtung gar zu wahrscheinlich […] Er hat sich der wahren Geschichte so gut zu bedienen gewußt, daß er sich fast glaubwuerdig dadurch macht […] Chariton hat hierinnen eine besondere Kunst gebraucht, daß er solche Leute in seine Geschichte eingemischt, die uns nothwendig aufmerksam machen muessen. (nicht paginiert)

Das Grundproblem scheint also Charitons Umgang mit der Geschichte zu sein, die Verknüpfung von Roman und Historiographie, die Vermischung von Fakten und Fiktionen, man könnte auch sagen: die gattungsmäßige Hybridität. Dass der aus Sicht seiner Gegner 1

Ich zitiere diese in Leipzig bei Friedrich Lanckischer Erben publizierte Übersetzung nach dem Exemplar der Bibliothek der Ludwig-Maximilian-Universität München [8° Maassen 4495]; zu Heynes Bedeutung für die Antikerezeption und Institutionalisierung der Altertumswissenschaft in Deutschland vgl. Martin Vöhler: Christian Gottlob Heyne und das Studium des Altertums in Deutschland. In: Disciplining Classics-Altertumswissenschaft als Beruf. Hrsg. von Glenn W. Most, Göttingen 2002 (Aporemata 6), S. 39–54.

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unbestimmte, offene Ort des Romans zwischen Erfindung und historischem Faktum insgesamt schon in der Antike als Gefahr für das Publikum angesehen wird, beweist ein Diktum aus dem Munde höchster Autorität. Mit folgenden Worten warnt der römische Kaiser Julian (331–363 n. Chr.) vor dem Lesen von Romanen: „Fiktionen (plasmata) […] in der Form von Geschichten, Liebesthemen und schlechthin alles von solcher Art.“2 Ich kehre nun – in einem vielleicht allzu postmodern anmutenden Sprung – wieder ins 18. Jahrhundert zurück, und zwar zu dem Übersetzer, der mein Hauptzeuge für die problembehaftete Chariton-Rezeption im 18. Jahrhundert sein wird. Ich meine Pierre-Henri Larcher (1721– 1812), der seine Kallirhoe-Übersetzung erstmals unter dem Titel Les Amours de Chéréas et Callirrhoë im Jahre 1763 publiziert.3 Für den Übersetzer ist, wie er in seiner Vorrede betont, nicht nur die Erzählung selbst, sondern sogar der Autorname frei erfunden: On ne sait ni son véritable nom ni celui de sa patrie ; quoiqu’au commencement de son ouvrage, il se nomme Chariton d’Aphrodise, ville de Carie, et secrétaire du Rhéteur Athénagore, il y a cependant grande apparence que le tout est feint, de même que l’histoire qu’il raconte.4 Man kennt weder seinen wahren Namen noch den seiner Heimat; obwohl er sich am Anfang seines Werkes Chariton von Aphrodisias, einer Stadt in Karien, und Sekretär des Redners Athenagoras nennt, ist es dennoch sehr wahrscheinlich, dass all das erfunden ist  – genau wie die Geschichte, die er erzählt.

Zwar verkennt auch Larcher nicht die Faktizität des historischen Rahmens, wenn er einräumt: notre auteur suit autant qu’il peut l’Histoire („unser Autor folgt, so weit er kann, der Geschichte“).5 Aber letztlich sieht er darin wie auch in seiner Namensnennung eingangs des Romans nur einen Trick zur Vertuschung von Fiktionalität: En se faisant donc passer pour le secrétaire d’Athénagore, on doit le croire bien instruit de tout ce qui arriva de son tems au fils d’Ariston et à la fille d’Hermocrate.6 In dem er sich also für den Sekretär des Athenagores ausgibt, soll man ihn für wohl unterrichtet von all dem halten, was zu seiner Zeit dem Sohn des Ariston und der Tochter des Hermokrates passierte.

2

Zitiert nach Tomas Hägg: Eros und Tyche. Der Roman in der antiken Welt, Mainz 1987, S. 17. Hier zitiert nach folgendem Nachdruck: Les Amours de Chéréas et Callirhoë, Traduites du Grec de Chariton, Avec des Remarques, Par Pierre-Henri Larcher. 2 Bände, Paris 1797. 4 Préface, Bd. 1, S. XX. 5 Préface, Bd. 1, S. XXIII. 6 Préface, Bd. 1, S. XXIV. 3

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Unbeliebt – schnell vergessen – spät wiederentdeckt Charitons Roman, von Rohde im Jahr 1876 noch als Spätgeburt seiner Gattung ins 5. oder 6. nachchristliche Jahrhundert versetzt,7 gilt heutzutage nach einhelliger Forschungsmeinung als der erste vollständig erhaltene Roman der Antike. Was die genaue Datierung angeht, so besteht zwar nach wie vor Uneinigkeit – die Hypothesen reichen vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr.;8 wenn aber das negative Urteil in Persius’ 1. Satire (Vers 134) tatsächlich auf unseren Chariton gemünzt sein sollte, dann dürfte das Werk jedenfalls früher als 59 n. Chr., also zu oder vor neronischer Zeit geschrieben sein.9 Wenig schmeichelhaft empfiehlt dort das Satire-Ich eher anspruchslosen Lesern als Alternative zum eigenen Werk die Lektüre dieses Romans zur Entspannung – oder zum Einschlafen? – „nach dem Mittagessen“.10 Aber heißt dies, dass wir es wirklich mit reiner Unterhaltungslektüre für die breite Masse zu tun haben, im Sinne eines „early popular romance“, wie Reardon meint?11 Dagegen scheint die hochgradige Intertextualität zu sprechen, die Chariton mit seinen überaus zahlreichen Zitaten aus Homer, der Historiographie von Thukydides bis Xenophon, etlichen Rednern wie auch der Neuen Komödie (Menander) seinen Rezipienten zumutet.12 Und die drei bislang aufgefundenen Papyri-Fragmente aus dem 2./3. Jahrhundert sowie ein weiteres Fragment aus dem 7. Jahrhundert scheinen nicht für eine sonderliche Popularität des Romans in der Antike zu sprechen.13 Wie die einzige Handschrift, die unseren Roman über das Mittelalter hinüber gerettet hat, aber ebenso das Schweigen eines Photios und anderer byzantinischer Gelehrter zeigen, war man auch in Byzanz von ihm nicht gerade begeistert. Polizian hat zwar diese Handschrift im Jahre 1478 konsultiert, sich aber nicht zu Charitons Kallirhoe, sondern zu den dort ebenfalls überlieferten Ephesiaka geäußert.14 Und ein erstes von Henri Estienne (Henricus Stephanus) 1561 angekündigtes Editionsprojekt kommt nicht zu Stande.15 7

So Erwin Rohde: Der griechische Roman und seine Vorläufer, Darmstadt 1960 (1. Aufl. 1876), S. 522. 8 Vgl. Chariton: Kallirhoe. Griechisch und deutsch. Hrsg., übers. und komm. von Christina Meckelnborg/Karl-Heinz Schäfer, Darmstadt 2006, Einleitung, S. VII. Ich zitiere Chariton nach dieser Ausgabe. 9 Chariton (Anm. 8), S. VIII. 10 Chariton (Anm. 8), S. VIII. Zu einem ebenfalls äußerst negativen Urteil des Philostratus (2./3. Jh. n. Chr.) vgl. Chariton (Anm. 8), S. XVII. 11 Bryan R. Reardon: Chariton. In: The Novel in the Ancient World. Hrsg. von Gareth Schmeling, Leiden/New York/Köln 1996, S. 309–335, hier S. 331; ähnlich Niklas Holzberg: Der antike Roman. Eine Einführung, München/Zürich 1986 (Artemis Einführungen 25), S. 41–42. 12 Zur Intertextualität des antiken Romans allgemein vgl. Massimo Fusillo: Naissance du roman, Paris 1989, S. 17–120; Belege zu unserem Autor in Chariton (Anm. 8), S. IX–X. 13 Chariton (Anm. 8), S. XVII. 14 Vgl. Caritone e Senofonte Efesio. Inediti di Giovanni Lami. Hrsg. von Nunzio Bianchi, Bari 2004, S. 137. 15 Caritone (Anm. 14), S. 3.

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Selbst Pierre-Daniel Huet, der in seiner noch im 18. Jahrhundert hochgeschätzten Abhandlung von 1670 doch das gesamte zu dieser Zeit verfügbare Wissen über die Herkunft des Romans versammelt, erwähnt Chariton als bloßen Namen ohne Textkenntnis.16 Bevor sich diese Situation mit der reich kommentierten griechisch-lateinischen Ausgabe von Jacques Philippe d’Orville (1696–1751) als Basis der nachfolgenden Übersetzungen in die europäischen Nationalsprachen mit dem Jahr 1750 schlagartig und grundlegend ändert,17 gab es in Italien noch einen weiteren gescheiterten Editionsversuch von Giovanni Lami (1697–1770): Der bedeutende toskanische Gelehrte, der über lange Jahre sein Editionsprojekt verfolgt hatte, gab dieses schließlich auf, als er von der bevorstehenden Publikation des Chariton-Romans durch d’Orville erfuhr, nachdem er seine eigene Ausgabe dieses leggiadro Romanzo („eleganten Romans“) schon in der florentiner Zeitschrift Novelle letterarie vom Juli 1747 hatte ankündigen lassen.18 In rascher Folge erscheinen nun Übersetzungen ins Italienische von Michelangiolo Giacomelli (1695–1774) im Jahre 1752,19 ins Deutsche von Christian Gottlob Heyne ein Jahr später und von Pierre-Henri Larcher im Jahre 1763 ins Französische, nachdem schon im Dezemberheft 1755 des Journal Etranger des Nicolas Fréron ein Auszug des Romans auf Französisch ohne Übersetzerangabe erschienen war.20 Der Hinweis auf diesen Auszug in der Vorrede Larchers mit dem kaum verhüllten Selbstlob, dieser Auszug stamme von „Meisterhand“,21 lassen ebenso wie zahlreiche übereinstimmende Formulierungen in den jeweiligen einleitenden Vorbemerkungen wie in den Übersetzungen darauf schließen, dass der Verfasser dieses Extrait kein anderer als Larcher selbst war. Dennoch, obwohl die Übersetzung von Giacomelli noch mehrfach aufgelegt wurde,22 obwohl der Übersetzung von Larcher im Frankreich des 18. Jahrhunderts mit derjenigen des Nicolas Fallet (1746–1801) im Jahre 1775 noch eine weitere folgte,23 obwohl die Larcher-Übersetzung im Rahmen der Bibliothèque universelle des dames, Romans 1785 und der Bibliothèque des romans grecs 1797 nochmals aufgelegt wurde,24 bleibt die Rezeption Charitons doch auch in der Frühen Neuzeit bis 1800 relativ bescheiden, relativ bescheiden 16

Vgl. Poétiques du roman. Scudéry, Huet, Du Plaisir et autres textes théoriques et critiques du XVIIe siècle sur le genre romanesque. Hrsg. von Camille Esmein, Paris 2004, S. 495. 17 Mir ist zugänglich die in Leipzig bei Schwickert 1783 publizierte Neuausgabe der De Chaerea et Callirhoe amatoriae narrationes. Libri VIII nach dem Exemplar der UB Bayreuth [20/F C473.783]. 18 Die Ankündigung, in der auf ein weiteres gescheitertes Editionsprojekt von Anton Maria Salvini (1653–1729) verwiesen wird, ist publiziert in Caritone (Anm. 14), S. 18–20. 19 Ich benutze die ohne Angabe von Übersetzer und Ort 1756 publizierte Ausgabe Dei racconti amorosi di Cherea e di Calliroe libri otto tradotti dal greco der Bayerischen Staatsbibliothek [A. gr. b. 1085]. 20 Journal Etranger. Ouvrage périodique. Hrsg. von Nicolas Fréron, Paris, décembre 1755, Band 2, S. 1–81. 21 Les Amours de Chéréas, Préface, S. XXIV. 22 Unmittelbar nach der Erstausgabe folgen mindestens noch drei Editionen 1755 und 1756 (2), vier weitere 1781, 1801, 1803, 1804. 23 Nachgewiesen bei Angus Martin, Vivienne G. Mylne, Richard Frautschi: Bibliographie du genre romanesque français 1751–1800, London/Paris 1977, S. 190 (75.24). 24 Vgl. Martin, Mylne, Frautschi (Anm. 23), S. 284 (85. R2) und S. 406 (97. R12).

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insbesondere im Vergleich zu Heliodor als dem Modellautor des heroisch-galanten Romans oder zu Longos als dem Meister erotischer Bukolik, die in erster Linie den Übersetzungen von Jacques Amyot von 1547 bzw. 1559 ihren durchschlagenden Erfolg verdanken.

Kallirhoe – ein hybrider Roman Von Anfang an präsentiert Chariton seinen Text als ein Werk, das zwischen Historiographie und Liebesroman angesiedelt ist: „Ich, Chariton aus Aphrodisias, Sekretär des Anwalts Athenagoras, will eine Liebesgeschichte aus Syrakus erzählen.“ (1, 1,1). Dasselbe gilt für die Schlussformel: „Soweit mein Buch über Kallirhoe.“ (8, 8,16) Tomas Hägg hat eindringlich darauf hingewiesen, dass Chariton mit seiner Selbstvorstellung zwar berühmten Vorbildern der Historiographie wie etwa Herodot oder Thukydides folgt, aber zugleich die historische Distanz zum Zeitpunkt des Geschehens seines Erzählgegenstands markiert und diesen selbst als „Liebesgeschichte“ bestimmt. Dasselbe gilt für die Schlussformel, die lexikalisch zwar auf die Historiographie, aber nicht nur auf diese, verweist, doch mit dem Namen der Protagonistin im Zeichen der Venus bleibt.25 Und diese Protagonistin, Kallirhoe, ist, auch das zeigt diese Schlussformel an, die einzige Titelfigur und damit maßgeblich für den heute üblichen Titel des Romans. Das historische Geschehen selbst ist im Prinzip am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. angesiedelt, nach dem glorreichen Sieg der Syrakusaner über die Flotte Athens unter ihrem Strategen Hermokrates 413 v. Chr. Hermokrates ist also eine prominente historische Figur, nicht aber Kallirhoe, im Roman seine Tochter. Auch der persische Großkönig Artaxerxes II., der wie alle Männer, denen Kallirhoe begegnet, sich auf der Stelle in sie verliebt, ist ebenso historisch wie seine Gattin Stateira, die zwar als persische Schönheit gepriesen wird, aber der mit Aphrodite rivalisierenden Schönheit Kallirhoes nicht das Wasser reichen kann. Allerdings tritt Artaxerxes II. erst 404 seine Herrschaft an, als Hermokrates – im Roman noch durchaus lebendig – schon drei Jahre tot ist. Auch der Aufstand der Ägypter, bei dem Chaireas und Dionysios, Kallirhoes zeitweiliger zweiter Gatte, sich am Kampf beteiligen, Chaireas als Deserteur auf Seiten der Ägypter erfolgreich zu Wasser, Dionysios ebenso erfolgreich auf Seiten der Perser, ist historisch belegt, aber nicht zur Zeit des Hermokrates.26 Wie Dionysios, hier im Roman ein vornehmer Ionier, ist auch ein weiterer Rivale um die Gunst der vielgeliebten Kallirhoe, der Satrap Mithridates, Träger eines berühmten Namens, lässt sich aber ebenso wenig wie jener historisch genau verorten.27 Und vollends erfunden sind die beiden Protagonisten Kallirhoe und Chaireas – ein typisches Verfahren auch des historischen Romans der Neuzeit, deren prominenteste Vertreter in Frankreich Alexandre Dumas und Victor Hugo ähnliche Techniken anwandten. 25

Tomas Hägg: Callirhoe and Parthenope: The Beginnings of the Historical Novel. In: Classical Antiquity 6 (1987), S. 184–204, hier S. 194–195. 26 Hägg, Callirhoe and Parthenope (Anm. 25), S. 194–196. 27 Chariton (Anm. 8), S. IX.

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Doch nicht nur das Spiel mit der Historie und der Historiographie prägt Charitons Roman, auch das Epos spielt seine Rolle bei der Bemühung um Veredlung des Textes: Gemeint sind hier nicht allein die zahlreichen Kurzzitate aus Ilias und Odyssee. Schon der Ausgangspunkt der Handlung, die Freier, die Chaireas’ Eifersucht auf Kallirhoe auslösen, erinnern an die Freier der Penelope; denn im Gegensatz zu den Protagonisten in den späteren antiken Liebes- und Abenteuerromanen sind die beiden von Anfang an nicht nur Liebespaar, sondern Ehepaar. Und auch nach ihrer Trennung – Chaireas hatte Kallirhoe im Jähzorn einen scheinbar tödlichen Fußtritt versetzt, und diese war aus ihrem Grabmal von Piraten entführt worden – auch nach dieser Trennung wird trotz der aus ihrer Notlage erklärten Zweitehe mit Dionysios immer wieder auf Odysseus und Penelope als epische Vorbilder hingewiesen.28 Und auch mit Blick auf die Freundschaft des Chaireas mit Polycharm wird mehrfach im Text an Achill und Patroklos erinnert.29 Weniger in Form von Zitaten als vielmehr strukturell mit Anagnorisis und glücklichem Ende für das Liebespaar, aber zudem durch die Dominanz der direkten Rede insgesamt oder die Klagemonologe der Protagonistin ist das Drama als weitere führende, anerkannte und beliebte literarische Gattung in unserem Roman präsent.30 Wie die Nachwelt, wie die Rezeption im 18. Jahrhundert insbesondere, mit diesem heterogenen, vielstimmigem Text umgeht, wollen wir am Beispiel der Übersetzung von Pierre-Henri Lacher zeigen.

Larchers Übersetzung: Planierungsarbeiten zur Reduktion von Hybridität Im Gegensatz zur Übersetzung Giacomellis, auf die Larcher in seinen Anmerkungen im Übrigen immer wieder, meist lobend, verweist, lässt sich die translatio des Franzosen mit Fug und Recht als eine belle infidèle („schöne Ungetreue“) bezeichnen. Sie steht damit in einer zunächst auf die Lukian-Übersetzung des Perrot d’Ablancourt von 1654 gemünzten Tradition des Übersetzens, die im Grunde in Frankreich bis zum frühen 19. Jahrhundert dominiert. Kennzeichen sind in erster Linie eine durchgehende Modernisierung der (antiken) Originaltexte, orientiert an der „Vorstellungswelt des zeitgenössischen Publikums“ und den „in Frankreich etablierten literarischen Konventionen“, so Wilhelm Graeber in seiner jüngsten zusammenfassenden Charakteristik dieses Übersetzungstyps.31 Welche Anpassungen an die „Vorstellungswelt des zeitgenössischen Publikums“ lassen sich hier bei Larcher beobachten? Danach hat sich ein adliger Liebender in der Ära 28

Z. B. 4,7,5; 5,5,9; 8,1,17. So schon bei der ersten Erwähnung des Polycharm, dem von diesem Moment an das Attribut Freund anhaftet, vgl. Chariton (Anm. 8), 1,5,2. 30 Vgl. Fusillo (Anm. 12), S. 49–52. 31 Wilhelm Graeber: Blüte und Niedergang der belles infidèles. In: Übersetzung. Translation. Traduction. Hrsg. von Harald Kittel u. a., Berlin/New York 2007, 2. Teilband, S. 1520–1531, hier S. 1527 und S. 1521. 29

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des höfischen Absolutismus immer galant im Sinne höfisch-höflicher Normen zu verhalten und sich, seine Affekte und seinen Körper stets diszipliniert unter Kontrolle zu halten. Dagegen verstößt nun der Fußtritt, den Chaireas seiner Kallirhoe im eifersüchtigen Affekt verpasst und sie damit ins Reich der Scheintoten befördert, in eklatanter Weise (1, 4,12). Da jedoch dieser Fußtritt Ausgangspunkt für alles weitere Geschehen ist, kann auch Larcher ihn nicht unter den Tisch fallen lassen – jedenfalls nicht in der Beschreibung der akuten Szene. Wenn freilich später darauf zurückverwiesen wird, dann ersetzt Allgemeines die Körperlichkeit: Als der Pirat Theron die schöne Kallirhoe in der Nähe von Milet an den reichen Dionysios als Sklavin verkaufen will, hat die Schöne Gelegenheit, ihr Schicksal monologisch zu bejammern und sich im Rückblick über Chaireas’ brutale Rohheit zu beklagen: „Chaireas, der nie auch einen Sklaven schlug, hat mir trotz seiner Liebe einen tödlichen Tritt (elaktise) versetzt.“ (1, 14,7) Larcher tilgt die konkrete rohe Handlung: Chereas, qui n’avoit jamais frappé un vil esclave, m’a blessée dangereusement, moi qui l’aimois. (Bd. I, S. 50; „Chaireas, der niemals einen gemeinen Sklaven geschlagen hatte, hat mich lebensgefährlich verletzt, mich, die ihn liebte.“) Und als später Chaireas selbst seinen unbedachten Fußtritt beklagt (4, 4,10), dann gerinnt der Tritt bei Larcher zu einem allgemein-verharmlosenden, unkörperlichen mauvais traitement (Bd. I, S. 168; „schlechte Behandlung“). In ähnlicher Weise beraubt Larcher aus Gründen der Schicklichkeit die Schwangerschaft Kallirhoes ihrer sinnlich fassbaren körperlichen Erscheinungsform. Ganz nüchtern berichtet Chariton von den Folgen eines Liebesaktes zwischen den beiden Protagonisten vor Chaireas’ Fußtritt: So hatte die Frau kurz vor dem Sturz ein Kind empfangen. Aber wegen der Gefahren und der darauf folgenden Anstrengungen hatte sie nicht gleich bemerkt, dass sie schwanger war. Doch am Anfang des dritten Monats nahm ihr Leibesumfang zu. (2, 8,5).

Larcher schreibt: Peu avant l’accident qui arriva à Callirrhoë, elle portoit dans son sein un gage de la tendresse de son époux; mais les dangers et les malheurs qui la suivirent l’empêcherent d’y faire attention. Au commencement du troisième mois, sa grossesse commença à paroître. (Bd. I, S. 83f.) Seit kurzer Zeit vor dem Unfall, der Kallirhoe passierte, trug sie in ihrem Schoß ein Unterpfand der zärtlichen Liebe ihres Gatten; aber die Gefahren und Unglücke, die darauf folgten, hinderten sie, darauf zu achten. Zu Beginn des dritten Monats machte sich ihre Schwangerschaft langsam bemerkbar.

Larcher entkonkretisiert also zudem seine Vorlage, wenn er den „Sturz“ des Körpers zum „Unfall“ verallgemeinert, poetisiert sie jedoch zugleich im Sinne zeitgenössischer Periphrase nach den Konventionen des Liebesromans, wenn er die schlichte Empfängnis in ein „Unterpfand der zärtlichen Liebe ihres Gatten“ verwandelt. Überhaupt schreckt Larcher, wenn es denn um die Qualitäten der schönen Kallirhoe geht, vor keinem auf den ersten Blick gewagten Bild zurück, das ein zweiter genauerer Blick dann freilich als keineswegs kühne, sondern als durchaus konventionelle Metapher im Kontext hö-

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fischer Liebessprache enthüllt: Attestiert Charitons Erzähler etwa ganz nüchtern seiner Titelheldin „Überzeugungskraft“ in der „Rede“ (2, 6,2), so „residiert“ bei Larcher „süße Überzeugung über ihren Lippen“ (La douce persuasion réside sur ses lèvres, Bd. I, S. 75). Vor allem die Schönheit der Heldin ist es, die Larcher dazu antreibt, seinem Pegasus die metaphorischen Sporen zu geben: Befürchtet Dionysios bei Chariton, dass der Ruf („pheme“) von Kallirhoes Schönheit bis zum Perserkönig gelangen könnte (2, 7,1), so sieht der Ionier bei Larcher schon „den Glanz ihrer Schönheit auf den Schwingen Famas“ (l’éclat de sa beauté, porté sur les ailes de la Renommée, Bd. I, S. 78) unterwegs zum Großkönig. Gerade diese ebenfalls durchaus gängige Metapher verweist über den Sprachstil des Liebes- und Abenteuerromans hinaus auch auf typische Bildkonventionen der Sprache französischer Epik, die von dort in den heroisch-galanten Roman des 17. Jahrhunderts eingedrungen sind. Wir haben schon erwähnt, wie konsequent Chariton seinen Roman mit Homer-Zitaten gespickt und damit intertextuell aufgewertet hat. Larcher nun behält diese Zitate prinzipiell bei und macht sie in seinem Kommentar im Rückgriff auf d’Orville auch als solche kenntlich. Im Text selbst aber werden bei dem französischen Übersetzer diese Zitate typographisch weder durch Absatz und Einrücken noch durch Kursivschrift, wie bei Giacomelli etwa, hervorgehoben, sondern in die Textumgebung integriert und damit gleichsam versteckt. Das Zitat verliert damit seine Eigenständigkeit, seinen Charakter als Fremdkörper, bringt gewissermaßen die fremde Stimme fast zum Schweigen. Kurz, der Text büßt an Hybridität ein, wird planiert. Dazu trägt auch die gelegentliche Tilgung von Anspielungen auf die Ilias und die Odyssee bei, etwa der unterdrückte Vergleich des Chaireas und seines Freundes Polycharm mit Achill und Patroklos (1, 5,1) oder die in der Übersetzung mit vaisseau (S. 123) = „Schiff“ nicht mehr erkennbare Allusion auf das Floß des Odysseus (3, 5,1). Kommen wir nun zu Larchers Umgang mit der historiographischen Intertextualität im Roman des Chariton! Den historiographische Tradition evozierenden, aber zugleich die Liebe thematisierenden und damit hybriden Eingangssatz tilgt der französische Übersetzer ganz aus seinem Text (Bd. I, S. 3), zitiert ihn aber vollständig in der entsprechenden Anmerkung seines Kommentars (Bd. II, S. 118). Anders verfährt er mit der ebenfalls historiographisch deutbaren Schlussformel, die zwar im Text (Bd. II, S. 117) gleichfalls fehlt, aber im Kommentar ebenso wenig aufscheint – wie denn insgesamt gegen Ende des Romans Larchers Anmerkungen immer spärlicher werden. Als einen weiteren Fremdkörper erkennt Larcher wohl die ebenfalls für die Geschichtsschreibung typische Rekapitulation, die insbesondere zu Beginn von Charitons 5. Buch in Form einer katalogartigen Aufzählung des vorangegangenen Geschehens ins Auge des Lesers sticht. Diesen Katalog nun formt Larcher syntaktisch derart um, dass er besser zum Stil der Gesamterzählung passt, sozusagen romanhafter wird und damit den Romanhorizont des Lesers nicht mehr stört.32 32

Larcher (Anm. 3), Bd. I, S. 183–184. Zu Charitons Technik der Rekapitulation vgl. Tomas Hägg, Narrative Technique in Ancient Greek Romances. Studies of Chariton, Xenophon Ephesius, and Achilles Tatius, Stockholm 1971, S. 245–267.

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Kennzeichnend für die antike Historiographie wie für Charitons Roman ist auch die Häufung direkter Reden, die den Helden der Geschichten in den Mund gelegt werden,33 eine Häufung, die im französischen Roman des Ancien Régime nicht mehr zeit- und gattungsgemäß ist und von daher nicht selten zur Transformation in indirekte Rede bei Larcher führt. Aus Platzgründen auch dafür nur ein Beispiel: Zu Anfang des 5. Buches trifft der Satrap Mithridates, um seinen Anspruch auf Kallirhoe geltend zu machen, vor Prozessbeginn in Babylon ein, um dem Eunuchen Artaxates eine Botschaft an den Großkönig zu übermitteln, dessen Antwort unmittelbar darauf ebenfalls in direkter Rede mitgeteilt wird: dann sagte er (scil. Mithridates) zu ihm: „Melde dem Großkönig: ‚Mithridates, dein Sklave ist da, um die Verleumdung eines Griechen zurückzuweisen und dir zu Füßen zu fallen.‘“ Nicht lange, und der Eunuch kam mit der Antwort zurück: „Es ist der ausdrückliche Wunsch des Großkönigs, Mithridates keinerlei Unrecht anzutun. Doch deine Sache wird erst verhandelt, wenn auch Dionysios da ist.“ (5, 2, 2–3)

Larcher übersetzt: il le pria ensuite d’annoncer au roi que son esclave Mithridate étoit venu pour l’adorer, et se purger des imputations calomnieuses de Denys. L’eunuque étant sorti peu après, revint avec la réponse, que le roi souhaitoit le trouver innocent, et qu’il plaideroit sa cause lorsque Denys seroit arrivé. (Bd. I, S. 187–188) er bat ihn daraufhin, dem König zu melden, dass sein Sklave Mithridates gekommen sei, um ihm zu huldigen und sich von den verleumderischen Anschuldigungen des Dionysios reinzuwaschen. Kurz nach seinem Weggang kam der Eunuch mit der Antwort zurück, der König wünsche, dass sich seine Unschuld herausstelle und er seine Sache verfechten solle, wenn Dionysios eingetroffen sei.

In der Gerichtsverhandlung um den rechtmäßigen Besitz Kallirhoes, die einen Großteil des 5. Buches einnimmt, liefern sich Mithidrates und Dionysios, die jeweils ihren Anspruch auf die Schöne selbst verfechten, einen heftigen Schlagabtausch in direkter Rede, die auch als solche von Larcher wiedergegeben wird – eine wohl unvermeidliche Konzession an dieses im Original als Prunkstück des gesamten Romans gestaltete Rededuell. Gleichwohl bildet natürlich auch dieses Rededuell in der Tradition der Gerichtsrede mit seinen zahlreichen Anklängen an Vorbilder aus der Rhetorik ein heterogenes Element im Roman. Zum Gattungsideal des Liebes- und Abenteuerromans auch noch im 18. Jahrhundert, wie es prototypisch und modellhaft aus Sicht nicht nur der Klassik des französischen 17. Jahrhunderts von Heliodors Aithiopika verkörpert wird, zählen nicht zuletzt eine sprachlich dezent sublimierte Erotik und Liebespaare samt ihren Rivalen, deren Handeln zwar ganz im Zeichen der Venus steht, ohne dass ihnen freilich Amor gänzlich die Zügel über die Kontrolle ihrer Leidenschaften aus der Hand risse. Und so preist auch der – wie ge33

Laut Hägg, Narrative Technique (Anm. 32), S. 92 besteht Charitons Text zu 44% aus direkter Rede.

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sagt mit Larcher vielleicht identische – Verfasser des Extrakts im Journal Etranger vom Dezember 1755 Chariton an als encore estimable en ce qu’il ne s’est permis aucune situation indécente, aucune image obscène, aucune expression licentieuse, aucun mot qui puisse offenser l’oreille délicate du lecteur le plus sévère.34 auch deswegen schätzenswert, weil er sich keine unziemliche Situation, kein obszönes Bild, keinen unzüchtigen Ausdruck, kein Wort erlaubt habe, welches das empfindliche Ohr auch des strengsten Lesers beleidigen könne.

Allerdings, um ganz sicher zu gehen und die Schicklichkeitserwartungen seiner Leserschaft vollkommen zu erfüllen, dämpft Larcher nochmals die ohnehin schon gedämpfte Erotik des Originals. Und wenn im Original ausnahmsweise einmal ein obszönes Schimpfwort von einem Freier gegen Chaireas ausgestoßen wird, wenn er ihn als „pornos“, als „Hurensohn“ also, abqualifiziert (1, 2,3), dann fällt dieses der Schere des Zensors im Kopf des Übersetzers zum Opfer. Dies gilt umso mehr für eine Passage, wo Kallirhoe, deren Haus die Freier bekränzt hatten, um sie in den Augen des Chaireas als Hure darzustellen, worauf Chaireas auch prompt hereinfällt, wo Kallirhoe also den Verdacht ihres Gatten empört zurückweist und ihn ihrerseits vorehelicher sexueller Beziehungen mit Männern verdächtigt. Ein Romanheld, vermeintlich ein zweiter Theagenes, ein Protagonist eines Liebes- und Abenteuerromans als Bisexueller! (1, 3,6) Das geht nun wirklich nicht – und verschwindet entsprechend aus dem Text. Da ist es nur konsequent, wenn des Dionysios „epithymia“ („Verlangen“, 2, 5,12 und 2, 6,4) zu bloßen espérances („Hoffnungen“, Bd. I, S. 74) gerinnt oder vollkommen unübersetzt bleibt (Bd. I, S. 77). Und, um ein letztes Beispiel zu zitieren: Vor ihrer Zustimmung zur Zweitehe mit Dionysios beschleichen Kallirhoe schwere Zweifel, ob sie einwilligen solle; diese äußert sie im Zwiegespräch mit dem noch ungeborenen Kind, dem sie versichert, sie wolle „mit keinem anderen Mann Liebeserfahrungen […] machen“ (2, 11,1), während Larchers Kallirhoe in poetisch-feierlicher Rede verspricht, keinen nouvel hyménée (Bd. I, S. 92; „neuen Ehebund“) einzugehen. Ganz im Sinne Bachtins trimmt Larcher Charitons ursprüngliche Vielstimmigkeit auch und gerade in Sachen schicklicher Erotik auf die Linie des monologischen Liebes- und Abenteuerromans. Und weil dazu auch ein glücklich-gerechtes Ende für all die Guten des Romans gehört, erfindet der Verfasser des Extrait in höchst erbaulicher Manier auch eine glückliche Heimkehr von Chaireas’ und Kallirhoes Söhnchen nach Syrakus hinzu35 – immerhin eine Lizenz, die sich Larcher in seiner Übersetzung nicht genehmigt. Da nimmt sich unser Christian Gottlob Heyne, mit dem wir den Kreis schließen wollen, doch ganz andere Freiheiten heraus, die er in seiner schon eingangs zitierten Einleitung auch offen bekennt. Etwa die Kürzungen der Rekapitulationen Charitons nach Art der aeltesten Historienschreiber (nicht paginiert), die er konsequenter noch als Larcher 34

Journal Etranger (Anm. 20), S. 81. Journal Etranger (Anm. 20), S. 80.

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vornimmt, wie er auch die vielen Reden kritisiert, die Chariton seinen Helden in den Mund leget. Der ewige Schwätzer! (nicht paginiert) Und Heyne, der ‚freche Übersetzer‘, soll hier auch das letzte Wort haben, mit seinem Bekenntnis zu einem wahrhaft heldischen Helden Chaireas, dem selbst in höchster Verzweiflung jeglicher Selbstmordgedanke fern liegt: Ich habe unter andern den Chaereas, da er sich haengen will, und schon den Strick aufgeknuepft hat, den wunderlichen Einfall benommen, und ihn beredt, nur uerberhaupt so zu tun, als wenn er sich umbringen wollte. (nicht paginiert)

Jutta Eming (Berlin)

Historia und Episteme in der Aethiopica Historia

In der Mediävistik werden literarische Texte, die sich dem Minne- und Aventiureroman oder Liebes- und Abenteuerroman zurechnen lassen, mitunter auch als ‚hellenistischer‘ oder sogar als ‚griechischer‘ Roman bezeichnet.1 Damit ist die Gattung zwar einerseits auf eine Reihe teils deutlich anders strukturierter Romane hin geöffnet, andererseits werden ihre Motivtraditionen, Überlieferungszusammenhänge und ihr mediterranes Kolorit hervorgehoben. Schließlich kann die Begriffswahl sich auf einige ihrer Vertreter beziehen, die seit der Antike weiter adaptiert wurden und dabei ihre charakteristischen Konturen nicht verloren haben. Dazu gehören die Romane der Apollonius-Reihe, und dazu gehören in besonderem Maße die ‚Äthiopischen Geschichten‘ des Heliodor, deren Überlieferung und Übertragungen in verschiedene europäische Sprachen in der Frühen Neuzeit eine beispiellose Erfolgsgeschichte erfahren haben.2 Der Schwerpunkt der Rezeption liegt in Frankreich, wo die Aithiopika oder ‚Geschichten von Theagenes und Charikleia‘, wie sie in der Frühen Neuzeit auch genannt werden, im 17. Jahrhundert schließlich zum Prototyp des Liebes- oder galanten Romans avancieren,3 was zum einen auf ihre komplexe Struktur und Erzähltechnik zurückzuführen ist,4 zum anderen auf die Akzentuierung enthaltsamer Liebe, die zeitgenössischen Ängsten gegenüber einer moralisch gefährdenden, die Imagination und die Sinne reizenden Romanlektüre entgegenarbeitet.5 Im deutschsprachigen

1

Vom „hellenistischen“ Roman spricht etwa Christian Kiening: Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens, Würzburg 2009, S. 37. In der Altphilologie ist die Bezeichnung ‚griechischer Roman‘ die Regel. Auch in der romanistischen Forschung ist mitunter von roman helléne­stique die Rede, vgl. dazu den Beitrag von Brigitte Burrichter im vorliegenden Band. 2 Nicht zufällig wird bei der Titelgebung für eine Kompilation griechischer Romane, in welcher die neuhochdeutsche Übersetzung erschienen ist, wiederum die Bedeutung von Liebe und Sexualität akzentuiert. Vgl. Heliodor: Die Abenteuer der schönen Charikleia (Aithiopika). Übersetzt von Rudolf Reymer, Zürich 1950. In: Im Reich des Eros. Sämtliche Liebes- und Abenteuerromane der Antike. Band 1. Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Bernhard Kytzler, Düsseldorf 2001, S. 224–512. 3 Vgl. Günter Berger: Legitimation und Modell: Die „Aithiopika“ als Prototyp des französischen heroisch-galanten Romans. In: Antike und Abendland 30 (1984), S. 177–189, hier S. 185. 4 Vgl. Berger (Anm. 3), S. 185f. 5 Vgl. Berger (Anm. 3), S. 186.

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Literaturraum6 ist eine parallele Entwicklung mit der Aufnahme des Textes in die frühneuzeitliche Kompilation von Liebesromanen zu beobachten, die Sigmund Feyerabend im Jahre 1587 in Frankfurt druckt: in das Buch der Liebe.7 Die kontinuierliche Profilierung der Liebesthematik im Zuge der europäischen Rezeption des Romans ist angesichts des großen Stellenwerts nachvollziehbar, den expressive Emotionalität bei Heliodor einnimmt. Wie der Blick auf die erste deutschsprachige Edition zeigt, war es historisch jedoch offensichtlich nicht die einzig denkbare Rezeption. An den ‚äthiopischen Geschichten‘ werden im 16. Jahrhundert über die Liebeshandlung hinaus auch Themen und literaturpragmatische Funktionen geschätzt, welche sich kurz gefasst als Vermittlungsformen von Wissen bezeichnen lassen, und welche in der ersten deutschen Edition an Anleihen bei zeitgenössischen diskursiven und rhetorischen Konventionen bemerkbar werden. Diese Kontexte, die in der Forschung zum Liebes- und Abenteuerroman bislang weniger zur Geltung gekommen sind, bilden das Thema des folgenden Beitrags. Der Umstand, dass sie so wenig berücksichtigt worden sind, wird allerdings besser verständlich, wenn zunächst an die wichtigsten Gründe für den litera­ turgeschichtlichen Rang der Aithiopika erinnert wird.

1. Eine beispiellose Erfolgsgeschichte Bereits die Aithiopika von Heliodor gelten in der Altphilologie als „Höhe- und Endpunkt einer langen Tradition“,8 als Klassiker, der unter allen antiken Liebes- und Abenteuerromanen die höchsten künstlerischen Qualitäten aufweist. Er wird im Allgemeinen zwischen dem 3. und dem 4. Jahrhundert nach Christus datiert. Im 5. Jahrhundert ist der Roman allgemein bekannt.9 In byzantinischer Zeit werden die Aithiopika viel gele6

Zum Buchmarkt im 15. und 16. Jahrhundert vgl. Werner Röcke: Fiktionale Literatur und literarischer Markt: Schwankliteratur und Prosaroman. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hrsg. von dems./Marina Münkler, München/Wien 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 1), S. 463–506. Einen ersten Überblick über die frühneuhochdeutsche Rezeption der Aithiopika vermittelt Xenja von Ertzdorff: Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts in Deutschland, Darmstadt 1989, S. 98–100. 7 Vgl. Das Buch der Liebe. Hrsg. von Siegmund Feyerabend, Frankfurt a. M. 1587, Bl. 179v–229r. Die Histori von Theagenes und Charikleia bildet in der Anordnung der Geschichten, deren Auswahl offensichtlich durch die gemeinsame Liebesthematik angeregt wurde, genau das Mittelstück. Vgl. dazu auch John L. Flood: Sigmund Feyerabends ‚Buch der Liebe‘ (1587). In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St.-Andrews-Colloquium 1985. Hrsg. von Jeffrey Ashcroft/ Dietrich Huschenbett/William Henry Jackson, Tübingen 1987, S. 204–220. 8 Tomas Hägg: Eros und Tyche. Der Roman in der antiken Welt. Übersetzt von Kai Brodersen, Mainz am Rhein 1987 (Kulturgeschichte der antiken Welt 36), S. 95. Auch die weiteren Informationen sind im Folgenden, sofern nicht anders angegeben, dem Standardwerk von Hägg entnommen. 9 Vgl. Renate Johne: Übersicht über die antiken Romanautoren bzw. -werke mit Datierung und weiterführender Bibliographie. In: Der antike Roman. Untersuchungen zur literarischen Kommunikation und Gattungsgeschichte. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Heinrich Kuch, Berlin 1989, 198–230, hier S. 222.

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sen und kommentiert; sie sind in zwei Dutzend Handschriften überliefert. Erst mit der Wiederentdeckung im 16. Jahrhundert und der französischen Übersetzung von Jacques Amyot (1547) jedoch beginnt die größte, durch den Buchdruck entscheidend gestützte Erfolgsgeschichte des Romans. Übersetzungen in fast alle europäischen Sprachen und Theateradaptionen bis in das Barock folgen, Cervantes verfasst mit Persiles y Sigismunda (1615) die bekannteste aller darauf folgenden Nachschöpfungen, als spätes Echo gilt Verdis Oper Aida. Auch wenn es angesichts der großen Lücke in der westeuropäischen Rezeption zwischen dem 4./5. und dem 16. Jahrhundert nicht möglich ist, die Aithiopika direkt mit der Genese des mittelalterlichen Romans in Verbindung zu bringen – ein Einfluss der byzantinischen Versionen ist nicht nachweisbar  –,10 gilt Heliodor neben Cervantes oder Defoe als einer der Begründer des modernen Romans.11 Die erste überlieferte deutsche Fassung wurde von Johannes Zschorn angefertigt und von Paul Messerschmidt 1559 in Straßburg publiziert.12 Das Verhältnis der deutschen Fassung zum Original ist, wenn ich richtig sehe, bislang keiner eingehenden Analyse unterzogen worden, obwohl sie zu aufschlussreichen Ergebnissen führen dürfte: Zschorn legt nämlich nicht den griechischen Text, sondern die erste lateinische Übersetzung von Stanislaus Warschewiczki (1551) zugrunde.13 In der Textgestaltung, insbesondere durch verschiedene Paratexte,14 versucht der deutsche Übersetzer sodann, im Geiste Heliodors und ebenso in seinem Stil seinem Publikum verschiedene Aspekte der Handlung nahezubringen. Feyerabends Buch der Liebe nimmt die Übersetzung von Zschorn zwar vollständig auf, die Marginalien hingegen werden getilgt.15 10

So Francis Gingras: Le bâtard conquérant. Essor et expansion du genre romanesque au Moyen Âge, Paris 2011, S. 27–29. 11 Vgl. Bethany Wiggin: Novel Translations. The European Novel and the German Book, 1680–1730, Ithaca/New York 2011, S. 7, und insbesondere Margaret Anne Doody: The True Story of the Novel, London 1996, S. 82–105 et passim. 12 Vgl. Heliodorus Emesus: Aethiopica Historia. In der deutschen Übersetzung von Johannes Zschorn. Faksimiledruck der Ausgabe von 1559. Hrsg. und eingeleitet von Peter Schäffer, Bern u. a. 1984, hier S. 14. Informationen über den Übersetzer liefert Wilhelm Teichmann: Johannes Zschorn von Westhofen. Ein Beitrag zur elsässischen Literaturgeschichte des sechzehnten Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Literatur Elsass-Lothringens XXI (1905), S. 161–238. Eine wichtige Rezeptionsstufe vertritt außerdem die Heliodor-Epitome des Tübinger Gelehrten Martin Crusius von 1484, vgl. dazu Günter Berger: Rhetorik und Leserlenkung in der Aithiopika-Epitome des Martin Crusius. In: Acta conventus neo-latini guelpherbytani. Proceedings of the Sixth International Congress of NeoLatin Studies. Wolfenbüttel 12 August to 16 August 1985. Hrsg. von Stella P. Revard/Fidel Rädle/ Mario A. Di Cesare, Binghamton 1988 (Medieval & Renaissance Texts & Studies 53), S. 481–490. 13 Die lateinische Übertragung, die in Basel im Druck herausgekommen ist, scheint bislang nicht ediert worden zu sein. Die folgenden Informationen folgen dem Vorwort von Schäffer (Anm. 12). 14 Als Paratexte bestimmt Gérard Genette Textsignale aus dem Umfeld des eigentlichen Textes in Form von Einband, Inhaltsverzeichnis, Vorwort u.  v.  m., denen „sich auch der puristischste und äußeren Informationen gegenüber skeptischste Leser nicht so leicht entziehen kann“. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 1993, S. 12. Zur weiteren Differenzierung der Paratexte nach Genette vgl. u. 15 In Orthographie, Interpunktion und vereinzelt in der Wortwahl weicht die Fassung im Buch der Liebe allerdings deutlich vom Erstdruck ab.

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Ein Überblick über die Erfolgsgeschichte des Romans ist nicht vollständig ohne eine Erwähnung der romantheoretischen Schriften Michail Bachtins, durch welche die Aithiopika zu eigenen literaturgeschichtlichen Ehren gekommen sind und die im Folgenden noch eingehender erörtert werden. Von Bachtin wurden Heliodors ‚Äthiopische Geschichten‘ als so paradigmatisch erachtet, dass er zentrale romantheoretische Kategorien auf ihrer Grundlage entwickelt hat. Zumindest mit Blick auf die deutsche Übertragung hat dies allerdings nicht zu einer intensiveren literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Text geführt.16 Die wenigen Titel, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind, beschäftigen sich vornehmlich mit Liebesthematik und Gefühlskultur des Romans.17 Mitunter wird auch in mediävis­ tischen Arbeiten die deutsche Adaption in einem Atemzug mit Heliodor genannt,18 oder es wird nur auf das griechische Original hingewiesen.19 Angesichts der großen Überein­ stimmungen zwischen den makrostrukturellen Handlungsverläufen der beiden Texte ist diese Gleichbehandlung naheliegend, eine Würdigung der eigenständigen Leistung Zschorns auf der Mikroebene, insbesondere derjenigen seiner sprachlich-rhetorischen Übertragung, wäre gleichwohl wünschenswert. Der speziellen Forschungslage ist jedenfalls geschuldet, dass im Folgenden in erster Linie Untersuchungen angeführt werden, die sich auf das griechische Original beziehen, auch wenn sie sich in vielen Fällen ebenso für die erste deutsche Übersetzung von Zschorn geltend machen lassen. Besonders die Textgestalt des ersten deutschen Drucks weist allerdings, wie zumindest an einigen Fallbeispielen gezeigt werden kann, auch signifikante Abweichungen auf, welche vor allem die paratextuelle Ebene betreffen.

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Eine Ausnahme bildet, gerade unter dem Aspekt der Wissensvermittlung, Werner Röcke: Antike Poesie und newe Zeit. Die Ästhetisierung des Interesses im griechisch-deutschen Roman der frühen Neuzeit. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von Joachim Heinzle, Stuttgart/Weimar 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XIV), S. 337–356. 17 So auch (für die Fassung im Buch der Liebe) Jutta Eming: Geschlechterkonstruktionen im Liebesund Reiseroman. In: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg von Ingrid Bennewitz/Helmut Tervooren, Berlin 1999 (ZfdPh Beiheft 9), S. 159–181. Erzählform und Gattungszugehörigkeit diskutiert – am Beispiel von Zschorns Edition – Hans-Jürgen Bachorski: grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Günter Berger/Stephan Kohl, Trier 1993 (LIR 7), S. 59–86. 18 Exemplarisch Werner Röcke: Die Faszination der Traurigkeit. Inszenierung und Reglementierung von Trauer und Melancholie in der Literatur des Spätmittelalters. In: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hrsg. von Claudia Benthien/Anne Fleig/Ingrid Kasten, Köln 2000, S. 100–118. 19 So Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin/New York 2007, passim.

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2. Schematismus und Experimentierfreude Die Handlung der ‚Äthiopischen Geschichten‘ ist um das Schicksal der Protagonistin zentriert. Die schöne Charikleia ist eine äthiopische Königstochter  – von heller Hautfarbe –, die in frühester Kindheit ausgesetzt wird und nach Griechenland gelangt, wo sie von einem Pflegevater aufgezogen wird. Dort findet sie auch der ägyptische Priester Kalasiris, den ihre Mutter ausgeschickt hat, um ihr einziges Kind zu suchen. Dieser überredet sie und ihren Freund Theagenes, einen Thessalier und Nachkommen des Achill, zur Flucht. In Ägypten fallen sie jedoch Räubern in die Hände, werden getrennt und geraten im Zuge verschiedener Kämpfe mehrfach in Gefangenschaft und Lebensgefahr. Aber zum Schluss finden sie sich beide wieder, heiraten und treten ein gemeinsames Priesteramt in der Heimat Äthiopien an.20 An dieser sehr kurzen Synopsis ist die Basisstruktur des Liebes- und Abenteuerromans, bestehend aus Trennung, Abenteuer und Wiedervereinigung, leicht zu erkennen. Auch die Motive von Flucht, Vertreibung, Suche und Gefangennahme sowie des Eintritts in andere Kulturkreise ist deutlich. Weniger deutlich wird dagegen, welches große Arsenal typischer Motive auf dieser Basisstruktur aufbaut. Dazu gehören ständige Neider, Konkurrenten und Intriganten, die einen der zwei Liebenden oder andere Figuren für sich begehren. So begegnet das Paar schon früh in der Romanhandlung dem Griechen Knemon, der aus seiner Heimat geflohen ist, weil seine Stiefmutter ihm unentwegt nachgestellt und ihn schließlich verleumdet hat. Ebenso kann in der kurzen Zusammenfassung nicht deutlich werden, dass alle Stufen der Handlung von expressiver Emotionalität begleitet werden, den viel beschriebenen Tränenströmen des Liebes- und Abenteuerromans,21 mit denen sowohl weibliche als auch männliche Figuren alle Konflikte und glücklichen Umstände unablässig bekräftigen. Auf moderne Rezipienten wirken die Geschehnisse prima vista kolportagehaft. Denn die Protagonisten müssen regelmäßig und in Serie unter schlimmsten Intrigen übelwollender Eltern und Rivalen leiden: Mordanschläge, Gefangennahmen und Entführungen, versuchte Vergewaltigungen, versuchter Inzest, Scheintod und ähnlich extreme Vorfälle; auch die heidnischen Götter sind darin involviert. Konventionell ist der Versuch des Helden, die Geliebte zu finden, die in den Orient als Sklavin verkauft worden ist; dafür muss er im Extremfall den gesamten Mittelmeerraum umschiffen. Es ist nicht leicht zu beurteilen, welche Wirkung solche heute trivial und realitätsfern erscheinenden Episoden wie ständige Entführungen und Piratenüberfälle auf die historischen Rezipienten ausübten. Kenner der Romane weisen jedoch darauf hin, dass sich die antike Welt in der Epoche des Hellenismus, in welcher sie situiert sind, in vorher nicht gekanntem Maße geographisch geöffnet und einen Austausch zwischen sehr unterschiedlichen Kulturen ermöglicht hat. Durch die Erschließung neuer Handelswege und 20

Die Zusammenfassung folgt Johne (Anm. 9), S. 222. Vgl. dazu Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts, Berlin/New York 2006 (Q & F 39).

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die Ausbreitung der griechischen Sprache – ein Thema auch bei Heliodor – wurden Reisen zu einem beliebten, wenn auch äußerst gefahrvollen Unterfangen. Die für heutige Leser so wenig glaubwürdige Versklavung stellte eine wenn auch nicht besonders häufig auftretende Realität dar,22 ein allgegenwärtiges Problem bildeten für mehrere Jahrhunderte hingegen Überfälle durch Piraten und Räuber.23 Bereits an diesem Beispiel zeigt sich, dass Elemente der Handlung, die hochgradig fiktionalisiert wirken, tatsächlich Realitätskerne und damit Schichten historischen Wissens enthalten können. In der kurzen Zusammenfassung der Handlung wird ferner ein Charakteristikum speziell dieses Romans nicht deutlich, das vor allen anderen für seinen Ruhm verantwortlich ist, nämlich seine ungewöhnliche Erzählperspektive und verschachtelte Erzählordnung. Der Roman beginnt nicht chronologisch, also nicht der gerade erläuterten Reihenfolge der Ereignisse gemäß, mit der Aussetzung von Charikleia als Kind. Die Erzählung eröffnet stattdessen in medias res: Als eines Tages sich die morgen rte erzeigte/vnd die Sonn die spitzen des gebirges vberschein/ Da war ein volck bey der Statt Heraclea (wie der fluss Nilus in das Meer falt) welchs aus raub v krieg sich vff dem Meer ernert vnd erhielte. Von disen waren etliche/die stunden auff einem berg ihrer narung nach/z besehen/was vff dem Meer were. Da sie aber vff dem weyt hohen Meer nichts sehen kundten/wanten sie ihre augen an das gstad des Meeres/da sahen sie ein solche sach. Es stnd ein schiff am port/mit seylen angehefftet/ler one schifleut vnd volck/aber schwer von gtern geladen/wie sie von ferrem erachten mochten/da es war tieff ins wasser belstiget. Auch sahen sie vil todter leute am gestaden des Meeres/etlich die waren gantz erschlag/etlich halb todt/etliche regten sich ein wenig/das man wohl spren kundte/wie erst kurtzlich ein schlacht bey inen geschehen war (ir/v).

So die vieldiskutierten ersten Worte des Romans. Die Szenerie, die hier dargeboten wird, ist nicht vom auktorialen Standpunkt erzählt. Sie entspricht vielmehr der Perspektive von Figuren – Räubern, die vom Berg hinunter auf das Meer sehen. Der Leser folgt ihrer Wahrnehmung, wandert also gleichsam durch ihre Augen am morgendlichen Horizont entlang und erkennt dann ein Schiff, das offensichtlich gekentert ist. Von hier wechselt die Sicht allmählich zum Strand. Dort wird klar: Es hat sich eine Katastrophe ereignet, ein Schiffbruch. In der Forschung zum griechischen Roman ist diese Exposition mit einer Film-Technik verglichen worden, dem Zoom, der zunächst von Ferne die Szenerie umfasst und dann langsam das Paar fokussiert. Historisch gilt diese subjektivierende Erzählweise Heliodors als einzigartig: als neu und innovativ, vorbildlich noch für den modernen Roman.24 Die Idylle, die sich zu Beginn in der Anspielung auf die von Homer bekannte Morgenröte abzeichnet, ist also trügerisch – der Strand liegt voller Leichen. Kurz darauf heißt es: 22

Vgl. Kurt Treu: Der Realitätsgehalt des antiken Romans. In: Der antike Roman (Anm. 9), S. 107– 125, hier S. 121. 23 Vgl. Treu (Anm. 22), S. 120; Hägg (Anm. 8), S. 110f. 24 Vgl. Hägg (Anm. 8), S. 76. Besonders viele Beispiele dafür, dass die Modellhaftigkeit von Heliodors Roman für die weitere Entwicklung der Gattung noch weit über den berühmten Anfang hinausreicht, finden sich bei Doody (Anm. 11), passim.

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Dann es sass ein vber schne Junckfraw in einem felsen/die war wie ein gttin anzsehen/ welche von disem vnglück mit laid vnnd trawren hefftig betrbt vnd grossen schmertzen beladen/ aber ire adeliche tugendt vnd schne hatt sie nit verloren. Aff irem haupt hat sie ein lorber krantz/ein kcher mit pfeylen an ihr hangen/ein schnen bogen z der lincken seitten/die lincke handt vndersich hangend/mit dem rechten ellenbogen lag sie vff dem diech/vnnd was das knye mit iren fingern vmbfangen/steht vndersich sehende ohne bewegnüs des haupts . Nicht ferr von ihr einen ligenden schnen jüngling hefftig beschauwende/Der jüngling aber war sehr mit vil wunden verwundet/das er an zsehen was/sich ein wenig z regen als aus einem dieffen schlaff des todts sich ermundern. (ijr/v)

Bei diesen Figuren handelt es sich um die Protagonisten, die gerade den im Liebes- und Abenteuerroman obligatorischen Schiffbruch erlitten haben. Der Auftakt des Romans fällt also nicht mit dem Anfang der Geschichte von Theagenes und Charikleia zusammen. Der Beginn ihrer Liebe wird vielmehr an einer späteren Stelle berichtet – ebenfalls nicht von einem auktorialen Erzähler, sondern von einer intradiegetischen Figur,25 dem Priester Calasiris. Dieser erzählt Charikleias Geschichte dem bereits genannten Griechen Knemon, den die beiden Protagonisten kennenlernen, kurz nachdem sie gestrandet sind und erst einmal von Räubern verschleppt werden. Zur experimentellen Erzählweise Heliodors gehört also auch eine hochgradige Verschachtelung und asynchrone Verschaltung der Diegese, die sich offensichtlich an Homer orientiert.26 Es handelt sich zumeist um umfangreiche Analepsen, die an wechselnde intradiegetisch-homodiegetische Erzähler geknüpft sind. Teils gehen die verschiedenen Zeitebenen ineinander über, so etwa, wenn die Protagonisten mit dem Griechen Knemon bei ihrer Flucht auf eben jene weibliche Figur, Thisbe, treffen, welche in Knemons vergangene Probleme mit seiner liebestollen Stiefmutter involviert war (vgl. vvviirff). Wenn von Heliodors ‚Meisterschaft‘ in Bezug auf die Geschichte des Liebes- und Abenteuerromans oder des Romans überhaupt gesprochen wird, dann ist in erster Linie diese avancierte Kompositions- und Erzähltechnik gemeint.27 Bachtin zufolge hat sogar: „die ganze spätere Entwicklung des reinen Abenteuerromans bis in unsere Tage hinein […] nichts wesentliches Neues hinzugefügt.“28 Dies sieht Bachtin allerdings nicht in der skizzierten anachronen Erzählweise begründet, sondern in einer Konvention der Verknüpfung von Zeit und Raum, die er im Begriff des Chronotopos zusammengefasst und mit der Unterscheidung zwischen der ‚Abenteuerzeit‘ einerseits, der ‚biographischen‘ Zeit andererseits verknüpft hat.29 Die Merkmale des Chronotopos 25

Zur Begrifflichkeit vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, München 21998, S. 178f. Vgl. Hägg (Anm. 8), S. 139: „Heliodor […] übertrifft sich geradezu in der Nachahmung Homers. Die Technik, medias in res zu gehen, ist bewußt übernommen und gekonnt weiterentwickelt. Auch seine Methode, Teile der Erzählung einigen der Personen in den Mund zu legen, hat einfachere Vorbilder im homerischen Epos.“ 27 Vgl. neben Hägg (Anm. 8) und Berger, Legitimation und Modell (Anm. 3), S. 185, auch die Ausführungen bei Bachorski (Anm. 17), S. 75f., zum identitätskonstituierenden Potential dieser Erzählweise. 28 Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, Frankfurt a. M. 2008, S. 10. 29 Auf Deutsch zuerst als: Michail Bachtin: Zeit und Raum im Roman. In: Kunst und Literatur 22 (1974), S. 1161–1191. 26

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im Liebes- und Abenteuerroman sind so bekannt, dass hier nur an die wichtigsten Punkte erinnert werden muss. Unter der biographischen Zeit versteht Bachtin die Phasen im Leben literarischer Protagonisten, welche Spuren hinterlassen: Spuren in der Form von Erfahrungen und Veränderungen, aber auch in Form von Reife und Alter, Tod, Verletzung und Verlust. Eine solche Konzeption von Zeit bestimmt Bachtin zufolge im Liebes- und Abenteuerroman ausschließlich diejenigen Erzählintervalle, welche die Protagonisten in der Gemeinsamkeit und der Heimat zeigen. Sind sie dagegen erst einmal getrennt, setzt die Abenteuerzeit ein, und dies ist eine Zeit, in welcher die Helden eine existentielle Herausforderung und extreme Anstrengung nach der nächsten erleben. Ihre physische und psychische Konstitution wird davon aber gerade nicht in irgend einer Weise nachhaltig beeinflusst. Die Spuren- und Geschichtslosigkeit der Abenteuerzeit ist Teil einer Identitätskonstruktion, welche direkt auf die Liebesthematik bezogen ist. Das haben Bachtin und andere überzeugend plausibel gemacht.30 Sich nicht zu verändern ist poetischer Ausdruck des Vorsatzes, an der Liebe zum abwesenden Partner unbeirrt festzuhalten und keinerlei Einflüsse von außen an sich herantreten zu lassen.

3. Abenteuerzeit und Wissenstransfer Die Abenteuerzeit hat auch Einfluss auf die Gestaltung des Raums, der in ‚abstrakter Extensität‘ erscheint.31 Damit ist gemeint, dass die Protagonisten während ihrer ausgedehnten Reisen durch das hellenistische Weltreich häufig sehr exotische Länder kennenlernen, ohne dass sie von ihnen in irgend einer Weise nachhaltig beeindruckt wären und anders in sie involviert würden als durch eine Kalamität, die sie einander aufs Neue entfremdet. Die Abenteuer selbst sind translozierbar: Was in Babylon geschieht, könnte sich auch in Ägypten oder Byzanz abspielen und umgekehrt.32 Die literarischen Räume stehen nach Bachtin in keinem Zusammenhang zu Eigenarten der betreffenden Kultur. Alles ist gleich fremd: abstrakt fremd.33 Bachtin nimmt in diesem Zusammenhang allerdings eine wichtige Einschränkung vor, welche die Vermittlung von Wissen betrifft: „Zugegeben, in einem ganz winzigen Ausmaße gibt es in diesen Romanen […] (für Autor und Leser) […] gewisse Maßstäbe für die Wahrnehmung der Wunderdinge und Raritäten dieser fremden Welt.“34 Was Bachtin hier anspricht, ist die hohe Frequenz von Beschreibungen einzelner Exotika: von landschaftlichen Gegebenheiten, religiösen Ritualen, vereinzelten Tieren und Bauwerken, Edelsteinen und kostbaren Gegenständen, welche über die Romane verstreut 30

32 33 34 31

Vgl. etwa Bachorski (Anm. 17), S. 68ff. Vgl. Bachtin, Chronotopos (Anm. 28), S. 23. Vgl. Bachtin, Chronotopos (Anm. 28), S. 24. Vgl. Bachtin, Chronotopos (Anm. 28), S. 25. Bachtin, Chronotopos (Anm. 28), S. 25.

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sind. In den Aithiopika finden sich solche eingestreuten Informationen in verschiedenen Exkursen und Kommentaren, welche mehr oder weniger zufällig in die Liebeshandlung inseriert sind und verschiedene Aspekte der fremden Länder explizieren, welche die Lie­benden durchstreifen müssen. Uta Störmer-Caysa hat in Bezug auf diese Besonderheit, die Heliodor mit anderen griechischen Romanen teilt, davon gesprochen, dass „Handlungs­abbilder mit zeitenthobenen Wissensinseln“ entstehen.35 Gleich der Beginn des Romans, den die Edition von Zschorn eng am griechischen Original erzählt, bietet dafür ein Beispiel. Theagenes und Charikleia werden zwar nicht von den Räubern, die sie nach ihrem Schiffbruch ins Visier genommen haben, doch von einer zweiten Bande gefangen genommen und in die Nähe eines Sees verschleppt. Über diese Gegend wird dann Folgendes erzählt: in disem See waren hien vnd her etliche kleine Insulen/in den selbigen haben die Rauber ihre hütlin/weib v kind/flehen auch die geraubten gter dar ein/dann sie mit wasser vmbher/ darz mit grossem dicken rhor/als ein maur vmbgeben/dardurch sie wunderbarliche verborgne geng/ z ihren hüttlin gemacht haben/mit sonderlichem vorgebew aus ror/dardurch niemandt baldt z in kummen mag/ire weyber erziehen die kinder erstlich von der milch der brüst/vnd so bald sie ein wenig erstarcken/geben sie inen fisch aus dem See/an der Sonnen gedrt/das ist ir speys (iiijv/vr).

Der Erzähler berichtet also über eine Vorrichtung, welche die natürlichen Gegebenheiten der Landschaft nutzt, und mit der die Räuber zugleich ihre Vorräte sichern und ihre Familien abschirmen. Zschorn findet insbesondere die Angaben zur Ernährung der Kinder bemerkenswert und glossiert: Der jungen kinder speys (vr). Zschorn schreibt durch seinen Text und seine Kommentare damit einerseits die bei Heliodor angelegte Tradition fort und zeigt sich andererseits der „Trias von Historie, Topographie und ‚vita et mores‘“ verpflichtet, welche die deutschsprachigen Reiseberichte der Frühen Neuzeit kennzeichnet.36 Zurück zu Heliodor: Bachtin hat die kurzen, informativen Passagen über die Abenteuerwelt in den Aithiopika nicht übersehen, doch er hat sie als Formen der Vermittlung von Wissen nicht ernst nehmen können: „[…] das Ausmaß derselben ist derartig gering, daß die Wissenschaft nahezu überhaupt nicht imstande ist, über eine Analyse dieser Romane die implizierte ‚eigene Welt‘ und ‚eigene Epoche‘ der Autoren zu erschließen“.37 Bachtin spricht als enttäuschter Historiker, der – verständlicherweise – gerne mehr über die multikulturelle Welt des Hellenismus erfahren hätte und sich in dieser Hoffnung frustriert findet. Unbefriedigend wirkt auf ihn insbesondere die fakultative und dekontextualisierte Beschreibung von Einzelphänomenen: 35

Störmer-Caysa (Anm. 19), S. 43. Auch Kiening (Anm. 1), verweist auf die Bedeutung der „Begegnungen mit kulturell Fremdem“ im hellenistischen Roman, S. 37. 36 Vgl. Wolfgang Neuber: Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik der deutschen AmerikaReiseberichte der Frühen Neuzeit, Berlin 1991 (Philologische Studien und Quellen 121), S. 45. Bei Neuber finden sich auch ausführliche Erläuterungen zu Topik und Rhetorik der frühneuzeitlichen Reiseberichte, die bei Zschorn ebenfalls erscheinen. 37 Bachtin, Chronotopos (Anm. 28), S. 25.

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An keiner Stelle wird hier ein Land als Ganzes – in seinen Besonderheiten und Erkennungszeichen gegenüber anderen Ländern sowie in seinen Zusammenhängen – vorgeführt. Beschrieben werden lediglich einzelne Bauwerke ohne jeden Bezug zu dem Ganzen, das sie umgreift, oder einzelne Naturphänomene, z. B. seltsame Tiere, die in dem jeweiligen Land anzutreffen sind.38

Bachtin kritisiert also eine isolierte Technik der Beschreibung von potentiellen Gegenständen des Wissens, welche die Autoren der antiken Liebes- und Abenteuerromane zu keinem Syntagma verknüpfen und in keinen kulturellen Kontext rücken. Damit setzt er für die antiken Autoren Maßstäbe einer Beschreibung der Fremde an, die vielleicht noch keine modernen Taxonomien für die Verortung des Einzelfalls voraussetzt, aber doch ihre Situierung in einer erkennbaren Ordnung des Wissens. Die altphilologische For­ schung zum griechischen Roman, in der Bachtins Arbeiten unübersehbare Spuren hinterlassen haben, ist ihm in diesem Punkt nicht gefolgt.39 Stattdessen wird, unter Aspekten wie ‚Realitätsgehalt‘ (Treu),40 ‚gesellschaftlicher Hintergrund‘ (Hägg),41 ‚literarischer Stammbaum‘ (Hägg)42 auf die Nähe des Romans zur Geschichtsschreibung43 verwiesen sowie auf ihre allgemeine Orientierung an der hellenistischen Kultur, die den Zeitpunkt ihrer wahrscheinlichen Entstehung, nämlich die römische Kaiserzeit, nicht zu erkennen gibt: Römer werden „nicht ein einziges Mal auch nur namentlich erwähnt“.44 Bei der Projektion der Romanhandlung in die Epoche des Hellenismus verfahren die griechischen Autoren zwar ebenso wenig historisch korrekt; stattdessen weisen ihre Texte eine Vielzahl von kulturellen und politischen Anachronismen und Synkretismen auf,45 die nicht zuletzt auf intertextuellen Bezugnahmen beruhen. Zugleich jedoch folgt die Erzählund Darstellungsweise in den Romanen traditionsreichen Konventionen der Präsentation von Wissen, die sich in der paradigmatischen Darbietung ebenso wie in der syntagma-

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Bachtin, Chronotopos (Anm. 28), S. 26. Auch in der Forschung zum deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerroman lässt sich eine Tendenz erkennen, gerade eine spezifische ‚Welthaltigkeit‘ der Gattung geltend zu machen. Vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag von Putzo. 40 Vgl. Treu (Anm. 22), S. 107–125. 41 Vgl. Hägg (Anm. 8), S. 105. 42 Vgl. Hägg (Anm. 8), S. 138. 43 Vgl. Hägg (Anm. 8), S. 141ff. Hägg verweist S. 147ff. außerdem auf Anleihen der griechischen Romane bei der „Reisefabulistik“, unter der er Berichte sagenhafter Völker und Orte versteht, die einzelne Abenteuer z. B. des Epos bestimmen oder in naturkundliche Beschreibungen ferner Länder, wie die von Ktesias, eingegangen sind. Es handelt sich um den Bereich der ‚Wunder des Orients‘, wie ihn Rudolf Wittkower beschrieben hat: Marvels of the East: a Study in the History of Monsters. In: Ders.: Allegory and the Migration of Symbols, London 1977, S. 46–74. 44 Hägg (Anm. 8), S. 114. Die Nähe zur Geschichtsschreibung sollte, wie Tim Whitmarsh vor einiger Zeit diskutiert hat, allerdings keine Missverständnisse über den Genrecharakter der Texte aufkommen lassen. Die Amalgamierung von Roman und Historiographie gilt für Heliodor (und Xenophon) in höherem Maße als für andere griechische Autoren und rechtfertige es dennoch nicht, die Romane als eine Subgattung von Geschichtsschreibung aufzufassen. Vgl. Tim Whitmarsh: The Greek Novel: Titles and Genre. In: The American Journal of Philology 126 (2005), S. 587–611, hier S. 604f. 45 Dafür besonders aufschlussreich: Treu (Anm. 22). 39

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tischen Verknüpfung von modernen Wissensordnungen signifikant unterscheidet. Es sind diese Inszenierungsformen von Wissen, die Zschorn aufgreift und weiter entwickelt.

4. Zschorn: Wissen auf Kommentarebene Auch für Zschorn trifft vermutlich noch zu, was Jan-Dirk Müller als eine Tendenz der häufig anonym überlieferten Prosaromane beobachtet hat: „Wo sich […] Übersetzer/ Bearbeiter nennen, steht bis mindestens zum Ende des 15. Jahrhunderts die Rolle des Vermittlers von Wissen aller Art im Vordergrund […] Wissen schließt Geschichte, Sittenlehre, rhetorische Fertigkeiten, aber auch die naturkundliche Kuriosität […] ein.“46 Dies gilt bereits für den polnischen Übersetzer Warschewiczki, der seiner lateinischen Ausgabe der Aithiopika von 1551 einen umfassenden Index beifügt, welcher den gesamten Roman nach unterschiedlichen Wissenpartikeln alphabetisch eingeteilt präsentiert – von bestimmten Stationen über ethnographische Besonderheiten bis zu Sentenzen und Auskünften über bestimmte Gefühle.47 Einen Roman solchermaßen als ‚mine of information‘ zu edieren ist, wie Margaret Anne Doody anlässlich dieses Indexes feststellt, ein allgemeiner, wenn auch nicht ganz selbstverständlicher Trend der Zeit: „It is not surprising that the education-mad Renaissance should so treat serious books, but most interesting to find the novel so firmly defined as instructive and instructional.“48 Obwohl die Änderungen Zschorns gegenüber seiner lateinischen Vorlage und dem griechischen Original noch einer eingehenden Untersuchung harren, lässt sich bereits auf formaler Ebene feststellen, dass auch er diesen Trend aufgreift, doch gemäß literarischer Konventionen umorganisiert, welche die deutsche Buchproduktion des 15. und 16. Jahr­ hunderts kennzeichnen. So untergliedert Zschorn den bei Heliodor in 10 Bücher geteilten Text in weitere 5 bis 12 (Unter-) Kapitel. Typischerweise und der Mode seiner Zeit folgend bezeichnet er seine Übertragung als Historia49 und stellt allen Kapiteln jeweils eine Kurzbeschreibung voran. Nach einer Vorred50 lässt Zschorn vor dem eigentlichen Romantext, ebenfalls den literarischen Konventionen der Zeit entsprechend, zusätzlich ein ausführliches Register folgen und erläutert in jeweils einem Satz ebenfalls den Inhalt der einzelnen Kapitel. Die Zusammenfassungen im Inhaltsverzeichnis sind nicht nur knapper als die resümierenden Beschreibungen an den Kapitelanfängen, sondern auch in Wort46

Jan-Dirk Müller: Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung. In: IASL 1. Sonderheft 1985, S. 1–128, hier S. 26–27. 47 Vgl. Doody (Anm. 11), S. 238. In Doodys Arbeit findet sich ferner eine Abbildung des Registers. 48 Doody (Anm. 11), S. 238. 49 Historia, Historie oder Histori heißen in der Inkunabelzeit und vielfach darüber hinaus praktisch alle in Prosa verfassten und eine Geschichte erzählenden Werke. Vgl. Joachim Knape: ‚Historie‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext, Baden-Baden 1984 (Saecvla Spiritalia 10), S. 389–400, hier S. 391. 50 Zur Vorrede vgl. insbesondere Röcke, Antike Poesie und newe Zeit (Anm. 16), S. 343ff.

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laut und Stil anders gehalten, nämlich auf einen Leser ausgerichtet, der sich kurz über den Inhalt des gesamten Textes informieren will, ohne sich zum Beispiel die Namen der einzelnen Figuren merken zu müssen. Zschorn bemüht sich also darum, potentiellen Lesern den Zugang zu seinem umfangreichen Text durch zwei verschiedene Paratexte zu erleichtern,51 die einander ergänzen können, aber nicht müssen: Das Inhaltsverzeichnis verschafft einen ersten Überblick über die Romanhandlung und kann, wenn sie neugierig macht, durch die Lektüre der Kapitel gefolgt werden, welche ihrerseits aufbereitet sind. Die wichtigste Form der Rezeptionssteuerung und Perspektivierung der Diegese jedoch erfolgt durch eine dritte paratextuelle Ebene in Form unterschiedlicher Typen von Kommentaren, welche den gesamten Text begleiten. In der Terminologie von Gérard Genette ist von Anmerkungen zu sprechen, deren Differenzkriterium gegenüber anderen Paratexten darin besteht, dass sie sich  – im Gegensatz insbesondere zu Vorwort und Nachwort – nur partiell und lokal auf den Bezugstext richten.52 Möglicherweise der Indexikalisierung des Romans nach Wissenspartikeln durch den Verfasser seiner lateini­ schen Vorlage folgend, akzentuiert Zschorn auf diese Weise einzelne Romansegmente und konstituiert einen systematisierenden Begleittext, der auch durch seine Druckgestalt klar abgehoben wird. Durch ihre visuell-materielle Situierung am Textrand und ihre teils äußerst knappe Form unterscheiden sich die Anmerkungen klar von Kommentaren, die in Form von Erzähler-Digressionen in narrative Bezugstexte integriert sind. Diese hat, als eine Form der Wissensvermittlung im Liebes- und Abenteuerroman, in letzter Zeit vor allem Martin Baisch mit Blick auf das Wechselverhältnis von Fiktionalisierung und Objektivierung auf Narrations- und Kommentarebene untersucht. Von den Funktionen, die Baisch dabei für die Kommentare ermittelt, interessiert hier diejenige, „Fenster“ zu bilden, „durch die ein allgemein verfügbares, womöglich ‚objektives‘ Wissen (der Fiktion) verfügbar gemacht wird.“53 Genau dies unternimmt Zschorn. Auch wenn seine Marginalien häufig einfach Bemerkenswertes hervorheben und so die selbe Funktion übernehmen wie ein an einen Seitenrand geschriebenes Ausrufezeichen (Ein seltzamer traum, xxxvv), akzentuiert er die kulturelle und historische Alterität seines Romans.54 Dies gilt selbst da, wo seine Kommentare von anrührender Unbeholfenheit sind, wie bei dem Versuch, das im Roman erwähnte Orakel von Delphi zu 51

Zu Vorwort und Inhaltsverzeichnis als Paratexten vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2001, S. 157–189 (zum Vorwort), S. 301–303 (über „Inhaltsangaben, Kolumnentitel“). Während Genette in den Ausführungen zum Vorwort auch auf eine Reihe antiker, mittelalterlicher und frühneuhochdeutscher Beispiele eingeht, werden seine kurzen Erläuterungen zu Inhaltsangaben der Vielfalt, welche diese in der frühneuhochdeutschen Erzählliteratur annehmen können, nicht gerecht. 52 Vgl. Genette, Paratexte (Anm. 51), S. 305. Genette hebt hier auch hervor, dass Anmerkungen in der Tradition der mittelalterlichen Glosse und der frühneuhochdeutschen Marginalien stehen. 53 Martin Baisch: durchgründen. Subjektivierung und Objektivierung von Wissen im Reinfried von Braunschweig. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von dems. u. a., Königstein/Taunus 2005, S. 186–199, hier S. 186. 54 Schäffer, der Herausgeber der Übersetzung von Zschorn, hat die fast 400 Marginalien unterschieden als Auszeichnung und Hervorhebung – dies macht den größten Anteil aus – (1); sprichwörtliche

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erklären: Z Delphi ist ein loch/welcher dari gewesen/vnd wider heraus kummen ist/der hatt verborgne heimliche ding knnen offenbaren (xxxiijr). Er behandelt die fiktionalen Wissensinhalte wie Faktenwissen oder misst sie jedenfalls am Maßstab der Faktizität; er erläutert, grenzt sich ab, bestätigt oder verwirft.55 Er behandelt das Wissen also im Sinne von Aristoteles als Episteme: als Wissen, das mit einem Geltungsanspruch auftritt und an diesem Anspruch gemessen werden kann. Der größte Teil von Zschorns Kommentaren hat die Form von sprichwortartigen Sentenzen, durch welche er die erzählte Zeit in einem Duktus nah an die Erfahrungswelt seiner Leser heranrückt (Der hunger ist ein gter koch, xxxviiir), der den dramati­schen Ereignissen auf der Diegese zwar nicht immer angemessen ist und sie womöglich entidealisiert, der jedoch zugleich den Vorteil besitzt, unmittelbar sinnfällig zu sein. Es handelt sich um eine Sprechweise, die keinen lehrhaften Charakter besitzt, sondern eine Erfahrung retrospektiv, punktuell und insofern resignativ auf den Punkt bringt, als, so André Jolles, bereits ‚das Kind in den Brunnen gefallen ist‘.56 Zschorn verständigt sich mit seinen prospektiven Rezipienten in einer Form über geteiltes Erfahrungswissen,57 mit dem er zugleich das überlieferte, Autoritäten-Wissen über das Fremde, Entlegene oder Wunderbare konfrontiert, eine der zentralen erkenntnistheoretischen Operationen des frühneuhochdeutschen Prosaromans.58 Auf der Linie einer solchen Dialogisierung von Wissensformen liegt auch eine andere Gruppe von Kommentaren, in denen er sich von Wissensgehalten seiner Vorlage, die er für überholt hält, distanziert, wie von der allfälligen Traumprophetie des Liebes- und Abenteuerromans: Solcher narren findt man noch vil die vff treum halten/deutens v legens in selber aus v treffens beim ars an kopff (xvijr/v). Eine ganze Reihe von Kommentaren verrät eine allgemeine protestantische Orientierung: Er hatt sie erfrewet als wann einer einem münch in die kappen hofiert (lxviir) oder eine zeitkritische Haltung: Klaider geben z erkennen was landes der ma ist/aber nicht bey den Teutschen affen (xxxixv). An einigen Stellen schließlich fügt er eigene Sachinformationen hinzu (Die ehrlichn maenner haben vor zeitten ir haar in hauben wie die weiber getragen, cxxijr).

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Redensarten (2); wenige Sacherklärungen (3); moralische Kommentare (4); zeitkritische Äußerungen (5); christliche, teils spezifische protestantische Anspielungen (6). Vgl. (Anm. 12), S. 20–24. Röcke, Antike Poesie und newe Zeit (Anm. 16), S.  344 zufolge etabliert Zschorn über seine Paratexte eine Kommunikationssituation, welche historische Distanzen gerade negiert: „Er referiert das angeblich Selbstverständliche und ohnehin Gewußte und behauptet so eine Homogenität der Überzeugungen, die seinem Zweck personaler Kommunikation und der Integration in Familie und Freundschaft, die er mit seinem Werk verfolgt, zweifellos förderlich ist.“ Dies scheint mir nur für einen Teil der Wissensbestände zutreffend. Vgl. André Jolles: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 51974, S. 159. Zur Kommunikationssituation von Zschorns Bearbeitung vgl. Röcke, Antike Poesie und newe Zeit (Anm. 16), S. 343ff. Vgl. Müller (Anm. 46), S. 88–92.

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Auch der Romantext weist entsprechende Eingriffe auf: Der Tod des zwielichtigen Thermutis durch einen Schlangenbiss etwa, den Heliodor relativ knapp erzählt,59 ist bei Zschorn um zusätzliche Informationen zur Spezies angereichert: da es biss in ein schlang (welcher biss so gifftig ist/das der ohn alle mittel sterben mss der gebissen wirt/er lasse ihm dann gleich das glid/fss oder hand abschneiden/darinn der biss ist/ vnd heisst die schlang Aspis/ist nicht ein grosse schlang) (xxxviijv).

Am Textrand findet sich als Markierung dieser informativen Passage: Eigenschafft vnd gifft der schlangen Aspidis (xxxviijv). Auch andere Glossen zeigen, dass Zschorn seine Margi­ nalien vielfach dazu verwendet, seinen Lesern Wissenswertes anzuzeigen: Hie wirt offenbar das Chariclia v liebe kranck ist (lxvjr). Auch dies wird dann zu einer Frage praktischen Wissens transformiert: Wie wird eine bewusstlose Person wieder zum Leben erweckt (vvv)? Der paratextuelle Status von Kommentaren bzw. Anmerkungen ist, so Genette, auf Grund ihrer Heterogenität grundsätzlich schwer zu bestimmen; ihre Relation zum Bezugs­text kann zwischen Markierungen, deren Wertigkeit sich kaum von Satzzeichen unterscheidet, und kritischen Revisionen eines inhaltlichen Textelements changieren.60 In Zschorns Anmerkungen ist eine breite Skala solcher Möglichkeiten vertreten. Unzweifelhaft sind jedoch Formen einer Dialogisierung gegeben, in der das auf der Ebene des Romans präsentierte Wissen bestätigt und ergänzt, doch auch transformiert wird, und auf der neues Wissen entsteht. Sein Text bildet zudem ein Beispiel für die vielfältigen Formen der Überschneidung zwischen Fiktion und Historiographie, die im 15. und 16. Jahrhundert durch die Einführung eines empirischen Wahrheitsbegriffs plötzlich in eine prekäre neue Kon­stellation treten. Sie kommen insbesondere in solchen Kommentaren zur Geltung, in denen Zschorn die hellenistische Fremde mit der eigenen Erfahrungswelt konfrontiert.61 Die traditionsreiche Überblendung von Historia und Episteme bekommt damit eine neue Signatur.62

5. Das Wunderbare als Inszenierung von Wissen Um seine Kritik an der isolierten Form zu verdeutlichen, in der im griechischen Roman Wissenswertes über die fremde Abenteuerwelt präsentiert wird, macht Bachtin eine ingeniöse Beobachtung. Wie er sagt, „nehmen diese ungewohnten Dinge zwangsläufig den 59

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Vgl. Heliodor (Anm. 2), S. 276. Vgl. Genette, Paratexte (Anm. 51), S. 326. Vgl. neben Müller (Anm. 46) auch Neuber (Anm. 36), S. 35ff. Justin Stagl zufolge ist eine Verknüpfung von historía und epistïme als Wissen von wandelbaren Phänomenen und von der wandellosen kosmischen Ordnung kennzeichnend für die Geschichtsschreibung der klassischen griechischen Epoche, und er hält fest: „Man kann hierin den […] Gegensatz zwischen empirischem und identitätsstiftendem Wissen wiedererkennen.“ Justin Stagl: Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800, Wien u. a. 2002, S. 57.

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Charakter von Kuriosa, Wunderdingen und Raritäten an“.63 Damit stellt Bachtin scharf­ sichtig, aber womöglich, ohne dass ihm dies selbst bewusst war, eine Verbindung zwischen einer literarischen Beschreibungstechnik und einer spezifisch vormodernen Form der Konfiguration von Wissen her. Denn die Präsentation von Kuriosa und Wundern, kurz, des Erstaunlichen oder Wunderbaren in der Welt ist, wie Lorraine Daston und Kathe­ rine Park in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Studie Wonders and the Order of Nature gezeigt haben, eben dies: eine zentrale Form der Vermittlung von Wissen in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit.64 Von den Monstra an den Rändern der Welt über magische Steine, orientalische Automaten des Orients oder Fossilien und Straußeneier konstituieren diese Kuriositäten einen Thesaurus des Wissens. In den Schatz- und Wunderkammern zunächst der weltlichen und geistlichen Eliten, dann zunehmend auch bürgerlicher Schichten, wird dieser Thesaurus im Europa der Frühen Neuzeit überall auch sinnlich vergegenwärtigt.65 Erst im 17. Jahr­ hundert löst – so Daston/Park – ein neuer gelehrter Phänotyp, exemplarisch vertreten durch Francis Bacon, die Kultur des wissenschaftlichen Staunens ab.66 In den Formen der Präsentation des wissenswerten Wunderbaren liegt eine weitere zentrale Gemeinsamkeit mit den Reiseberichten der Frühen Neuzeit, die um den Erfahrungsradius des Reisenden arrondiert sind: Es stand außer Zweifel – es war eine kulturelle Selbstverständlichkeit –, dass dieser [scil.: der Reisende, J. E.] seine Aufmerksamkeit vor allem solchen Phänomenen zuwenden würde, die sich durch ihre Besonderheit oder Neuartigkeit von seinem Erfahrungshintergrund abhoben, also, nach altem rhetorischen Rezept, das „Merkwürdige“, „Auffallende“, „Kuriose“, „Sehensund Wissenwerte“ (memorabilia, insignia, curiosa, visu ac scitu digna).67

Heliodors Roman und seine deutsche Übertragung weisen eine ganze Fülle von Wundern des Orients und von Kuriosa auf, die in ihrem Realitätsgehalt zwar grundsätzlich wahrscheinlich weniger bezweifelt wurden als heutige Leser es tun, die in der Frühen Neuzeit zugleich in eine spezifische Spannung zum neu nobilitierten Begriff der erfarung treten.68 Über diese spezifisch vormoderne Form der Wissensvermittlung geht Bachtin in zweierlei Hinsicht, die sich jeweils einer irreführenden Korrelierung mit dem Abenteuer verdankt, zu schnell hinweg: 1. Die erste Analogiebildung betrifft die Ebene der paradigmatischen Präsentation. Nach Auffassung von Bachtin tragen die isolierten Kuriosa einen ebenso zufälligen Cha63

Bachtin, Chronotopos (Anm. 28), S. 26. Vgl. Lorraine Daston/Katherine Park: Wonders and the Order of Nature, 1150–1170, New York 1998. 65 Zu dieser Dynamik in Bezug auf die Wunder der Neuen Welt, die Gattung der frühneuhochdeutschen Reiseberichte und die Rhetorik der Verwunderung vgl. auch Christian Kiening: Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der neuen Welt, Göttingen 2006 (Historische Semantik 9), S. 163–201. 66 Vgl. Daston/Park (Anm. 64), S. 220. 67 Stagl (Anm. 62), S. 75. 68 Vgl. Müller (Anm. 46). 64

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rakter wie die Abenteuer selbst.69 Er scheint zu übersehen, dass die Kuriosa ‚isoliert‘ erzählt werden, aber nicht von Isoliertem berichten. Eine Schlange, ein Kult oder ein Edelstein werden zwar am Einzelfall geschildert, doch sie werden nicht als Einzelphänomene begriffen. Es ist gerade typisch für diese Form der Wissensvermittlung, dass das Einzelne die Gattung repräsentiert.70 Riesen, Pygmäen und exotische Tiere sind deshalb schon in der antiken Naturgeschichte respektabel: Weil sie Teile einer Gattung sind, unterstehen sie den Naturgesetzen. Dies zeigt auch die Geschichte um den Räuberanführer in der Aethiopica Historia: Er gehört gewissermaßen einem Volk an, dessen Lebensgewohnheiten erzählt werden sollen, welche sich auch an den geogra­phischen Gegebenheiten – See und Sonne – orientieren. Selbst das Signalwort des Wunderbaren wird genannt. 2. Auf der Ebene der syntagmatischen Anordnung werden die Abenteuer keinesfalls so additiv und zufällig aneinandergereiht, wie Bachtin erklärt (s. o.). Sie folgen einer Epis­ teme (Foucault), also einer Form der Organisation von Gegenständen des Wissens, das auf einem System impliziter, d. h. dem modernen Rezipienten nicht ohne weiteres einsichtiger Affinitäten beruht. Die von Foucault als wissens-archäologische Arbeit begrif­ fene Frage nach dem „historischen Apriori“, von dem aus es möglich ist, „Beziehungen der Ähnlichkeit oder der Äquivalenz zwischen den Dingen reflektieren zu können“,71 ist für einen Roman wie die Aithiopika eindeutig zu beantworten: die Vorstellung einer exotischen Fremde. Sie bildet das gemeinsame Signifikat nicht nur der griechischen Liebes- und Abenteuerromane, sondern auch antiker Naturgeschichten, mittelalterlicher Reise- und Antikenromane, frühneuzeitlicher Reiseberichte und Prosaromane. Zschorn schreibt diesen Diskurs über das Wunderbare und Außergewöhnliche in seinen Kommentaren fort, so in einer Glosse zum Krokodil: Crocodill ist ein wurm geformieret wie ein Eyder/mit kopff/schwantz vnd vier fssen/aber sein lenge erstrecket sich biss in etlich v zwtzig schch/v auch lenger/wie z Brun in Morauia vnder dem rahthaus einer hanget/mit grausamen zen vnd hareten hrnen schppen (ciiv).

Wie aus der wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung von Daston/Park hervorgeht, kann ein präpariertes Krokodil im Mittelalter selbst in einer Kirche ausgestellt werden.72 Denn es gehört zum Wissen der Zeit, das solchermaßen zu Repräsentationszwecken in einem respektablen Ort des Geistes exponiert wird. Bachtin hat in seinen Schriften über den Roman an mehreren Stellen explizit oder implizit gegen Georg Lukács’ Theorie des Romans,73 gegen seine einseitige Orientie­ 69

Vgl. Bachtin, Chronotopos (Anm. 28), S. 27. Das betonen Daston/Park (Anm. 64), S. 48ff. 71 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 222012, S. 27. 72 Vgl. Daston/Park (Anm. 64), S.  85, Abb. 2.6.2. Nach Auffassung von Teichmann (Anm. 12), S. 165, hat Zschorn dieses Exponat selbst gekannt. 73 So im Aufsatz „Das Wort im Roman“, vgl. Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt 70

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rung am krisenhaften Subjekt und seinen Klassizismus74 polemisiert.75 Bekanntlich hat Bachtin dem gegenüber einen offeneren Begriff des Romans entwickelt, der es auf Grundlage vieler neuer Kriterien ermöglicht, ein größeres Spektrum an Romantypen zu integrieren, das auch verschiedene vormoderne Ausprägungen der Gattung umgreift. Auch der Ansatz beim Chronotopos und bei der Differenzierung von biographischer und Abenteuerzeit waren Versuche, die spezifische Poetik der Liebes- und Abenteuerromane angemessen zu würdigen. Es ist deshalb ironisch, dass Bachtin in Bezug auf den Liebes- und Abenteuerroman indirekt am Kriterium des subjektzentrierten Erzählens festhält, wenn er die ‚isolierte‘, d. h. auch und vor allem vom Schicksal der Helden isolierte, Darstellung von Wissen kritisiert. Bachtin zufolge laufen die Abenteuerwelt als abstrakte Fremde und Erläuterungen von Kuriosa im Liebes- und Abenteuerroman letzt­ lich wie parallele Röhren nebeneinander her, ohne überzeugend miteinander verknüpft zu werden. Dass dies tatsächlich nicht der Fall ist, kann ein letztes Beispiel illustrieren. Es stammt aus einem der letzten Kapitel des Romans. Hydaspes, der König der Äthiopier und Vater von Charikleia, hat die ägyptische Stadt Syene unterworfen und möchte sie nun genauer kennenlernen. Dabei wird einer der ältesten und in der fiktionalen Literatur des Mittelalters weit verbreiteten Topoi zu den Wundern des Orients aufgerufen, nämlich das Staunen über die Exotik der fremden Stadt:76 Er reitt auff einem schnen Helphanten/vnd wie er in die statt kam/stnde sein gemt z ihrem opffer/vnnd vom fest so dem Nil gehalten ward/fraget was die vrsach were/das sie ein solchs fest hielten/auch ob nicht etwas seltzams wunderbarlichs in der statt were/welches lustig z sehen sey (clxxiiijr).

In Heliodors Original erklärt der Erzähler, dass Hydaspes Wunder und Sehenswürdigkeiten kennenlernen möchte.77 Im frühneuhochdeutschen Text dagegen äußerst Hydaspes selbst den Wunsch nach etwas, das lustig zuo sehen sey. Dies ist eine aufschlussreiche Auskunft. Die Formulierung bezieht sich auf die Lust am Sehen oder Augenlust, über die Augustinus in seinen Bekenntnissen als concupiscentia oculorum gehandelt hat. Augustinus sieht die Augenlust in gefährlicher Nähe zur curiositas, zur verwerflichen Neugier auf die Wunder der Welt, und er hält sie nur unter der Bedingung für zulässig, dass sie

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a. M. 1979, S. 154–300. Vgl. auch Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt/Neuwied 71982. Vgl. dazu Rolf-Peter Janz: Zur Historizität und Aktualität der „Theorie des Romans“ von Georg Lukács. In: Schiller-Jahrbuch 1978, S. 674–699. Eine ähnliche Stoßrichtung der Kritik artikuliert Neuber in Bezug auf die Gattung der Reiseberichte, vgl. Neuber, Fremde Welt (Anm. 36), S. 20f. et passim; ferner ders.: Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hrsg. von Peter J. Brenner, Frankfurt a. M. 1989, S. 50–67. Vgl. dazu auch Neuber, Fremde Welt (Anm. 36), S. 38f. Vgl. Heliodor (Anm. 2), S. 470.

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angesichts dieser Wunder in die demütige Anerkennung der Schöpfung Gottes mündet.78 Vormoderne Einstellungen zum Verhältnis von Wissen und Wunderbarem stehen vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit in diesem Spannungsfeld von admirativer Anschauung und Transgression, und literarische Texte entwickeln Formen von weltlicher Neugier, die sich von theologischer curiositas tentativ emanzipiert. Literarische Texte seit dem 12. Jahrhundert, die ganz oder teilweise in der Antike und/oder im Orient situiert sind, exponieren die Spannung zwischen Bewunderung und Transgression mitunter dann, wenn ihre Helden in einer fremden, luxuriösen Stadt ankommen und diese voller Neugier betrachten. Selbstverständlich ist die Neugier der Helden dann auch die paradigmatische Situation für den Beginn eines Abenteuers. Anders gesagt: Sehen, Erfahren und Aneignung von Wissen sind Elemente des Abenteuers. Die Aethiopica Historia setzt diese Abenteuertradition durch die Neugier des Hydaspes auf die Wunder der ägyptischen Stadt selbstverständlich voraus. Auch das, was Hydaspes dann zu sehen bekommt, steht in der Tradition einer Ankunft in der orientalischen Stadt: Sie zeigten im ein schnen vnnd tieffen brunnen/von schnem gepolierten steinwerck/darein kom das wasser vnder der erden/aus dem Nil durch etlich adern/vnd seubere sich durch die subtilen lchlin in den steinen/darbey wissen sie/wann der Nil z oder ab nimpt/auch wann er wachsen will/vnnd die landschafft befeuchtigen/dann so halten sie solch fest. Sie zeigten im auch sonnen uren/welcher zeiger zuo Sonnen wenden im mittag gar keinen schatten geben/also gerad schein die so von oben herab/das sie auch in den allertieffst bruen/das wasser gantz v gar erleuchte/v bescheine (clxxiiijr).

Neben dem Luxus des Orients, der an der vorliegenden Stelle weniger präsent ist, gehört seine technische Überlegenheit etwa seit dem 12. Jahrhundert zum Orientbild im mittel­ alterlichen Roman. Arabisches Ingenieurwissen dringt seit dieser Zeit zu den europäischen Eliten vor und inspiriert die Imagination ihrer Dichter. Zu den technischen Wunderwerken gehören oft raffinierte Automaten, doch auch Kenntnisse über die Bewässerung von Stadt und Land. Bereits im Herzog Ernst (Anfang 13. Jahrhundert) landet der Held in einer fremden, prächtigen orientalischen Stadt und besucht dort unter anderem eine luxuriöse Badeanlage, welche zugleich die Straßen der Stadt reinigt.79 Dieses Motiv erscheint hier als raffinierter Brunnen, dessen Wasserstand den Pegel des Nils anzeigt und dadurch die Gelegenheit zum kultischen Fest. Die Neugier des Hydaspes bildet nur ein Beispiel für vielfältige Formen, in denen die Darstellung der Fremde in Theagenes und Charikleia mit der langen literarischen Tradition der Stilisierung von Wundern des Orients zu Objekten des Wissens verknüpft ist. Bachtins Begriffe des Chronotopos und der Abenteuerzeit verlieren nichts von ihrer Überzeugungskraft, wenn in Bezug auf den letzteren ein (zu) hoher Abstraktionsgrad 78

Vgl. Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück, Frankfurt a. M./Leipzig 1987, 34,51–35,55 (S. 566–575). 79 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Jutta Eming: Neugier als Emotion. Beobachtungen an literarischen Texten des Mittelalters. In: Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. Hrsg. von Martin Baisch/Elke Koch, Freiburg 2010, S. 107–130.

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konstatiert wird, der selbst den hellenistischen Romanen nicht ganz gerecht wird.80 Ganz entgegen seiner These nämlich hinterlässt die Abenteuerzeit durch die Ausbreitung verschiedener Schichten des Wissens Spuren – im Horizont ihrer Leser, und mitunter auch in dem ihrer Figuren.

6. Schluss In Liebes- und Abenteuerromanen geht es einer verbreiteten Auffassung nach um „Liebe, Liebe und nochmals Liebe“.81 Der lange Erfolg der Gattung wird im Interesse des Publikums an sentimentalen Liebesgeschichten gesehen, im Falle der Aithiopika speziell an einer Liebe, welche die Kontrolle des eigenen Begehrens und das des anderen zu einem herausragenden Thema macht.82 Bislang wird noch wenig gesehen,83 dass die Romane eine zentrale Intention mittelalterlichen, frühneuzeitlichen und wohl auch antiken Erzählens teilen, nämlich: Autoritäten- oder tradiertes Wissen zu vermitteln, welches indessen – wie Wissen wohl selten – nicht einfach weiter transportiert, sondern reflektiert, dialogisiert und transformiert wird. Um diese Intentionen der Texte weiter zu folgen, ist es, wie das Beispiel der Aithiopika und ihrer frühneuhochdeutschen Adaptionen zeigt, erforderlich, die subjektzentrierte Perspektive auf die Romane aufzugeben und eine leser­ orientierte und wissenstheoretische Perspektive zu integrieren.

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Vgl. auch die differenzierte Analyse von Lawrence Kim: Time. In: The Cambridge Companion to the Greek and Roman Novel. Hrsg. von Tim Whitmarsh, Cambridge 2008, S. 145–161, zur Abenteuerzeit besonders S. 151–155. 81 Eming, Emotion und Expression (Anm. 21), S. 23; in Anlehnung an eine Formulierung von Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt a. M. 1976, S. 99. 82 Die Aufgabe, das eigene Begehren zu kontrollieren, ist klar genderspezifisch organisiert. Vgl. dazu Eming, Geschlechterkonstruktionen (Anm. 17). 83 Als Ausnahme sind neben den genannten Untersuchungen von Röcke, Antike Poesie und newe Zeit (Anm. 16) und Baisch (Anm. 53) auch die Untersuchungen herrschaftspolitischer und -theoretischer Aspekte in den Minne- und Aventiureromanen von Klaus Ridder zu nennen: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: ‚Reinfried von Braunschweig‘, ‚Wilhelm von Österreich‘, Friedrich von Schwaben‘, Berlin/ New York 1998 (Q & F 12); ferner Werner Röcke: Erzähltes Wissen. „Loci communes“ und „Romanen-Freyheit“ im ‚Magelonen‘-Roman des Spätmittelalters. In: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache. Hrsg. von Horst Brunner/ Norbert Richard Wolf, Wiesbaden 1993 (Wissensliteratur im Mittelalter 13), S. 209–226; außerdem Christian Kiening: Wer aigen mein die welt… Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher Minne- und Abenteuerromane des 14. Jahrhunderts. In: Heinzle (Anm. 16), S. 474–494, hier S. 489– 491.

Gaby Pailer (Vancouver)

Liebe, Abenteuer und weibliche Autorschaft Charlotte Schillers Die Königinn von Navarra als novellistische Umdichtung der historischen Geschicke Marguerites de Navarre

Ausgangs- und Zielpunkt dieser Untersuchung bildet Charlotte Schiller, geb. von Lengefeld (1766–1826), in deren handschriftlichem Nachlass sich die Erzählung Die Königinn von Navarra. Nach dem Französischen befindet.1 Schillers zentrale Quelle ist der Roman Histoire de Marguerite de Valois, reine de Navarre von Charlotte-Rose de Caumont-la Force (1654–1724).2 Protagonistin beider Erzähltexte ist die Renaissance-Königin Marguerite de Navarre (1492–1549), Verfasserin des Novellenzyklus’ Heptaméron.3 Von den drei hier in intertextuelle Beziehung zueinander gesetzten Autorinnen ist Marguerite die einzige, die einen gewissen Platz im kulturellen Gedächtnis innehat,4 während de la Force 1

Charlotte Schiller: Die Königinn von Navarra. Hs. im Goethe- und Schillerarchiv Weimar. Sigle: GSA 83/1641. Im Folgenden zitiert nach der Handschrift (Orthographie und Interpunktion folgen dem Original, Kursivierungen indizieren lateinische Schrift). Die Erzählung ist erstmals ediert in: Charlotte Schiller: Literarische Schriften. Hrsg. und kommentiert von Gaby Pailer. Unter Mitarbeit von Andrea Dahlmann-Resing und Melanie Kage, Darmstadt 2013 (in Vorbereitung). Der größte Teil von Schillers Nachlass ist bisher unveröffentlicht. 2 [Charlotte-Rose de Caumont] De la Force: Histoire de Marguerite de Valois, reine de Navarre. 6 Bde, Paris 1783 (Romans historiques. XVIe siècle). 3 Marguerite de Navarre: L’Héptameron des nouvelles. Édition présentée et annotée par Nicole Cazauran. Texte établi par Sylvie Lefèvre, 2me éd. Paris 2007 (Édition folio classique). 4 Vgl. Cazauran: De „si belles histoires“ et leurs „débats“ (Préface). In: Marguerite de Navarre: Heptaméron (Anm. 3), S. 7–51, hier S. 7. Ihr zufolge wurde der Autorin 1992 zum 500. Geburtsjubiläum erstmals größeres Interesse zuteil, was sich in mehreren Sammelbänden manifestiert: Etudes sur l’Heptaméron de Marguerite de Navarre. Colloque de Nice. Organisé par Christine MartineauGénieys 15–16 Fèvrier 1992, Nice 1992; Marguerite de Navarre 1492–1992. Actes du Colloque international de Pau (1992). Textes réunis par Nicole Cazauran et James Dauphné, Mont-de-Marsan 1995; International Colloquium Celebrating the 500th Anniversary of the Birth of Marguerite de Navarre. Ed. by Régine Reynolds-Cornell, Birmingham, Alabama 1995. In ihrer Grundlagenstudie zum Heptaméron beschreibt Cholakian den Kippmechanismus, der sich einstellt, sobald eine historische Autorin neue, insbesondere feministisch orientierte, Würdigung erfährt – dass sie nämlich Gefahr läuft, den Regeln der ihrem Wesen nach ‚männlichen‘ Diskursmacht einverleibt zu werden. Vgl. Patricia Francis Cholakian: Rape and Writing in the Heptaméron of Marguerite de Navarre, Carbondale/Ewardsville 1991, S.  xif. Verdienstvolle ältere Grundlagenstudien stammen von Pierre Jourda: Marguerite d’Angoûleme Duchess d’Alençon, Reine de Navarre (1492–1549). Étude biographique et litéraire. 2 Bde, Paris 1930, sowie unter mentalitätsgeschichtlicher Neuperspektivierung der Frühneuzeitforschung von Lucien Febvre: Margarete von Navarra. Eine Königin der Renaissance zwischen Macht, Liebe und Religion. Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter

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weitgehend vergessen ist.5 Charlotte Schillers literarischen Schriften wird erst in neuester Zeit (editions-)philologische Aufmerksamkeit zuteil, die unabdingbar ist, um Untersuchungsvoraussetzungen unter ästhetischen Fragestellungen erstmals zu ermöglichen.6 Mit Schillers Königinn von Navarra, entstanden vermutlich 1816, wird ein Erzähltext behandelt, der bisher unveröffentlicht blieb. Im Rahmen meiner philologischen Ersterschließung des Materials konnte ich als direkte Quelle den Roman von Mademoiselle de la Force ermitteln.7 Ein erster Vergleich zwischen Schillers Erzählung und der Vorlage hat zur Entwicklung der vorliegenden Fragestellung geführt: inwiefern zum einen Schillers Text die Erzählmuster des Liebes- und Abenteuerromans und der modernen Novelle amalgamiert, welche Bedeutung dafür zum anderen der Genre-Mélange in de la Forces Histoire zukommt und inwieweit sich drittens ein intertextueller Bezug zur zehnten Novelle des Heptaméron, der Geschichte der Amours d’Amadour et de Florinde,8 herstellt, welche selbst bereits als eine Hybridform aus Liebes- und Abenteuerroman und Nouvelle historique bestimmbar ist. Voranstellen möchte ich diesem Fragegefüge Überlegungen zum poetologischen Diskurs um die Erzählmuster des Liebes- und Abenteuerromans im Verhältnis zu den Mustern der Histoire bzw. Nouvelle historique im literarischen Genretransfer zwischen Deutschland und Frankreich. Gezeigt werden soll letztendlich, wie Charlotte Schiller im Prozess der Anverwandlung des französischen Materials um und von Marguerite de Navarre eine selbstbezügliche Schlüsselerzählung zum Thema weiblicher Autorschaft hervorbringt.

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Schöttler. Aus dem Französischen von Grete Osterwald, Frankfurt a. M./New York 1998. Die jüngste Monographie zu Leben und Werk stammt von Patricia F. Cholakian/Rouben C. Cholakian: Marguerite de Navarre. Mother of the Renaissance, New York 2006. Eine Hommage an die vergessene Dichterin präsentiert Michel Souloumiac: Mademoiselle de La Force. Un auteur méconnu du XVIIe siècle, O.O. 2004. Bisherige Biographien übergehen Charlotte Schillers Tätigkeit als Autorin. Eine Würdigung erfährt ihr Œuvre erstmals in: Gaby Pailer: Charlotte Schiller. Leben und Schreiben im klassischen Weimar, Darmstadt 2009. Die Monographie bildet zugleich die Voraussetzung für die im Abschlussstadium befindliche Edition (vgl. Anm. 1). Der Roman erschien erstmals 1696. Ermittelt werden konnten die vierbändigen Ausgaben: Paris 1720 und La Haye 1739. Ein Exemplar der sechsbändigen Ausgabe von 1783 befindet sich im Bestand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, es ist also denkbar, dass Charlotte Schiller diese Fassung zugänglich war. Für eine digitale Reproduktion derselben Ausgabe danke ich der University Library of Saskatchewan. Für die Recherche-Hilfe nach den Vorlagen dieses Textes und anderer Texte Schillers schulde ich Thea Lindquist (Associate Professor and History Librarian, University of Colorado Boulder) großen Dank. Marguerite de Navarre (Anm. 3), S. 122–160. Der hier verwendete Titel Amours d’Amadour et de Florinde ist der „Table des sommaires des Herausgebers“ entnommen. Vgl. ebd. S. 747.

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1. Das Erzählmuster des antik vorgeprägten Liebes- und Abenteuerromans in seinen europäischen Filiationen über Mittelalter und Renaissance wurde lange Zeit als ‚vormodern‘ bestimmt, insbesondere was die Übergangszeit zwischen Mittelalter und Moderne betrifft. Als Epochenschwelle für eine Umstellung der Romanform überhaupt von einer äußerlichen, episoden-, schauplatz- und figurenreichen ‚Abenteuerlichkeit‘ der Handlung auf die innere ‚Entwicklung‘ einer zentralen Figur gilt die Zeit um 1800. Diskursbegründend ist Hegel, dessen Ästhetik in der Regel an den Beginn aller Untersuchungen zur Poetik des ‚modernen‘ Romans gestellt wird.9 Sein Hauptkriterium der Umstellung vom älteren Epos auf den neueren Roman ist die männliche Verfasstheit der zentralen Figur. Kennzeichnend dafür ist die gemäß Hegel veränderte Ritterlichkeit der in neueren Romanen agierenden Helden. Sie stehen als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt. […] Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen und es nun für ein Unglück halten, daß es überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufsgeschäfte usf. gibt […]. Nun gilt es ein Loch in diese Ordnung der Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern oder ihr zum Trotz sich wenigstens einen Himmel auf Erden herauszuschneiden: das Mädchen, wie es sein soll, sich zu suchen, es zu finden und es nun den schlimmen Verwandten oder sonstigen Mißverhältnissen abzugewinnen, abzuerobern und abzutrotzen. Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn.10

Aus dem Blickwinkel der Moderne hinterfragt bereits Jan Knopf die dieser Vorstellung zugrunde liegende grobe Trennung zwischen Epos und Roman, für die das jeweilige „Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft/Gesellschaft bzw. Welt (Totalität)“11 bestimmend sei. Aus mediävistischer Perpektive bestreitet Hans Jürgen Bachorski die von Hegel begründete diachrone Abfolge, die eine kategorische Trennung von „mittelalterlichem Ritterepos (dessen Blüte etwa bis ins 14. Jh. gereicht habe) und modernem, bürgerlichen Roman (der sich ab dem 17. Jh. etabliert habe)“;12 in der zeitlichen Grauzone dazwischen werde mit unscharfen gattungstheoretischen Begriffen wie ‚Prosaroman‘ 9

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, 2 Bde. Hrsg. von Friedrich Bassenge. 2., durchges. Aufl. Berlin u.a. 1965. Vgl.: Romanpoetik in Deutschland. Von Hegel bis Fontane. Hrsg. von Hartmut Steinecke, Tübingen 1984, S. 44–46 (Deutsche Textbibliothek 3). Die die Anthologie eröffnenden Auszüge Hegels entstammen den Kapiteln „Die Abenteuerlichkeit“ und „Die epische Poesie“. 10 Hegel (Anm. 9), Bd. 1, S. 567f. 11 Jan Knopf: Frühzeit des Bürgers. Erfahrene und verleugnete Realität in den Romanen Wickrams, Grimmelshausens, Schnabels, Stuttgart 1978, S. 10. 12 Hans-Jürgen Bachorski: grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittel-

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oder ‚Volksbuch‘ gearbeitet.13 Aufmerksamkeit verdient insbesondere jene Gattung, die Bachorski als „Liebes- und Reiseroman“ bezeichnet und deren unscharfe Genregrenzen sich in der variablen Bezeichnungspraxis selbst niederschlagen: „griechischer Roman“ oder „abenteuerlicher Prüfungsroman“ (Michail Bachtin)14, „Minne- und Abenteuerroman“ (Werner Röcke)15 oder, wie im vorliegenden Rahmen verwendet, „Liebes- und Abenteuerroman“ (Jutta Eming).16 Die Diskussion dieses Genres, das sich im deutschsprachigen Raum insbesondere vom 12. bis 16. Jahrhundert entfaltet, wurde lange Zeit von einer rückwärtsgewandten Leitvorstellung des ‚modernen‘ Individuums dominiert. Röcke beispielsweise verknüpft seine Genredistinktion zwischen höfischem Roman und Liebes- und Abenteuerroman mit einer erkennbaren Wertungsstrategie: Wunder und Abenteuer bieten hier keineswegs, wie im höfischen Roman, je neu Gelegenheit zur Bewährung des Helden und seines ritterlichen Ethos, sondern schaffen neue Erfahrungen in einer weiter gewordenen Welt […]. Die minne ist im höfischen Roman diesem Zweck der aventiure untergeordnet. Im Minne- und Abenteuerroman hingegen meinen Minne und Liebe das persönliche Glück, die Trauer über die Trennung von der Geliebten, die Freude über die Vereinigung mit ihr […].17

Wie Eming in ihrer Grundlagenstudie ausführt, dominiert im Genrediskurs des Liebesund Abenteuerromans die soziologische Kategorie des modernen Individuums, nun in Ergänzung zur Hegelianischen Orientierung insbesondere im Rahmen eines teleologischen, zivilisationsgeschichtlichen Modells (im Anschluss an Elias).18 Dem entgegen eröffnet sie in einem emotionsgeschichtlichen Ansatz eine neue Perspektive auf die Formen erzählerischer Subjektkonstitution, bei dem analytisch zwischen der entworfenen ‚Welt der Gefühle‘ auf Diskursebene und dem ‚Gefühlsausdruck‘ auf Figurenebene unterschieden

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alter und Früher Neuzeit. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Günter Berger/Stephan Kohl, Trier 1993 (LIR 7), S. 59–86, hier S. 62. Bachorksi (Anm. 12), S. 62. Der Genrebegriff „Volksbuch“ gilt mittlerweile als obsolet. Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von Edward Kowalski und Michael Wegner. Aus dem Russischen von Michael Dewey, Frankfurt a. M. 1989. Bachtin spricht vom „abenteuerlichen Prüfungsroman“ als einer distinkten Form des antiken griechischen Romans, während es ihm beim Chronotopos der „Abenteuerzeit“ vor allem darum geht, die A-Historizität des an sich stark ereignishaften Geschehens zu bestimmen. Werner Röcke: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens/Ulrich Müller, Stuttgart 1984, S. 395–423. Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebesund Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts, Berlin/New York 2006 (Q & F 39). Röcke (Anm. 15), S. 398. Vgl. den Forschungsbericht bei Eming (Anm. 16), S. 8–25, insbesondere ihre Kritik am zivilisationsgeschichtlichen Ansatz S. 33f. Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt a. M, 81981. In Bezug auf letzteren halte ich die Kritik am zivilisationsgeschichtlichen Modell, wie sie Foucault formuliert, für bedeutend; er entwickelt einen diskurs- und körpergeschichtlichen Blick, der anstelle fortschreitender Triebregulierung von einer zunehmenden Diskursivierung und diskursiven Systematisierung sexueller und emotionaler Vorgänge ausgeht. Vgl. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 181987.

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wird. Auf diese Weise wird auch das Verhältnis der nach Bachtin so genannten ‚Abenteuerzeit‘ als Charakteristikum des Chronotopos dieses Romantyps, das heißt, der wundersame Umstand, dass im Romangeschehen keine definierbare ‚biographische Zeit‘ zu verstreichen scheint, neu fassbar. Nimmt man die oben zitierte Passage aus Hegels Ästhetik als die diskursbegründende Fabel des modernen, auf „Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit“19 gerichteten Romans, so lässt sich Emings Skizzierung der wesentlichen Komponenten des Liebes- und Abenteuerromans als Gegen-Fabel lesen: Der Handlungskern beschreibt eine konfliktbelastete ‚Liebe‘, in der sich Partner aus unterschiedlichen Kulturen und von (vermeintlich) unterschiedlichem Stand kontinuierlich gegen Widerstände zu behaupten haben. Die Konflikte führen zu einer längeren Trennung, zu ‚Abenteuern‘ und ausführlichen Darstellungen der emotionalen Verfassung beider Liebenden. Auch die Entstehung der Beziehung, die Auseinandersetzung mit Eltern und anderen Autoritätsfiguren, die Reflexion über die eigenen Emotionen im Gespräch mit dem Geliebten, mit Freunden, Dienern, Vertrauten dient zur Entfaltung eines ‚Vokabulars‘ der Gefühle, das neben verbalen ausgeprägt körpersprachliche Darstellungsmuster umfasst und schon durch seine Frequenz den Eindruck von Steretypie vermittelt. Zu immer neuen Gelegenheiten fließen Tränen gleich in Strömen, folgt eine Ohnmacht der nächsten, werden Hände gerungen, Haare gerissen und die Schläge des Schicksals beklagt. Typischerweise haben die Romane ein mediterranes Kolorit, das sich teils in Beschreibungen exotischer Länder niederschlägt, teils darauf beschränkt bleibt, dass der Schauplatz der Handlung geographisch im Mittelmeerraum angesiedelt wird […].20

Zum Vergleich: In Hegels Fabel liegt der Schwerpunkt auf der Geschichte eines einzelnen, männlichen Helden, der in die Welt gestaltend eingreift, indem er in ritterlicher Aktion den widrigen Verhältnissen – heimischen oder fremden – trotzt, die geliebte Frau erringt und auf diesem Weg (der zumeist ein Reiseweg ist) sich selbst als Vernunftwesen heranbildet. In Emings Fabel handelt es sich um die Geschichte eines Paars, das anfangs auseinander gerissen, am Ende vereint wird und im großen zeitlichen wie geographischen Zwischenraum getrennt auf widrige Verhältnisse – heimische und fremde – stößt. Dabei zeichnen sich geschlechtliche Rollenunterschiede ab, jedoch keineswegs in einem dem bürgerlichen Geschlechterverhältnis um 1800 mit seinen binären und komplementären Codes (aktiv/passiv, öffentlich/privat) entsprechenden Sinn. Während im Liebesund Abenteuerroman einerseits zur männlichen Rolle ritterliche Kampfhandlungen, zur weiblichen die Bewahrung der Unschuld gängige Topoi bilden, liegt andererseits nicht selten ein Geschlechterrollentausch vor, wenn es um die Aktivität oder Passivität im Angehen von Konfliktsituationen geht.21 Im erzählerischen Prozess sind beide Teile des Paars gleichwertig, insofern sie in der emotionalen Relation aufeinander sowie auf andere Figuren und Ereignisse, die ihnen begegnen, konturiert werden.

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Hegel (Anm. 9), S. 568. Implizit bestimmt er damit als Prototyp des neuen Typus des Bildungsromans Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96). 20 Eming (Anm. 16), S. 9. 21 Vgl. Eming (Anm. 16), S. 23.

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Auf Grenzverwischungen zwischen romanhaftem und novellistischem Erzählen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit weist Bachorski hin, indem er seine Studie mit einer frühneuhochdeutschen Version der siebten Novelle des zweiten Tages aus Boccaccios Decameron als eine Parodie der Aithiopika präsentiert, so dass die Geschichte der schönen Alathiel bereits als Liebes- und Abenteuerroman bzw. als dessen Kontrafaktur lesbar wird.22 Dies lässt aufmerken in Bezug auf Marguerites de Navarre an Boccaccios Novellensammlung unmittelbar angelehntes Heptaméron, dessen zehnter Novelle bisher besonders große Aufmerksamkeit zuteil wurde als frühe Ausprägung der Nouvelle historique, wie sie im 17. Jahrhundert dann vor allem durch Madame de Lafayette weiter entwickelt wird. In seiner Entwicklungsgeschichte der französischen Prosanovellistik regt Blüher an, die zehnte Novelle in diesem Sinn zu lesen,23 in gewisser Vorläuferschaft zur Princesse de Montpensier Lafayettes. Hierbei bringt er das Erzählmuster des Liebes- und Abenteuerromans für den Handlungsaufbau ins Spiel, wenn er „jene peripetienreiche Aufreihung dramatischer Handlungsphasen, die zwei Liebende nach langer Trennung schließlich glücklich vereint“, konstatiert.24 Ein Blick auf das Gesamtœuvre Lafayettes zeigt sie in gewissem Sinne als Grenzgängerin, die nach der novellistisch einsträngigen Princesse de Montpensier (1662) zunächst die deutlich dem Erzählmuster des Liebes- und Abenteuerromans folgende Zaïde. Histoire Espagnol (1766) und anschließend den in französischen Hofkreisen des 16. Jahrhunderts angesiedelten Roman La Princesse de Clève (1678) veröffentlicht. Posthum erscheint das wieder eher novellistische Werk, die Comtesse de Tende (1718).25 In diesem Zusammenhang verdienen zudem die Reprisen des antiken Liebes- und Abenteuerromans, wie sie Günter Berger nachweist, insbesondere der Aithiopika des Heliodor, im französischen Roman des 17. Jahrhunderts, Beachtung.26 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zu Genreentwicklung, -hybridisierung und -transfer möchte ich im Folgenden zunächst Charlotte Schillers Erzählung, sodann de la Forces Histoire als Quelle und drittens Schillers intertextuellen Bezug auf das Heptaméron analysieren. 22

Vgl. Bachorski (Anm. 12), S. 4. Karl Alfred Blüher: Die französische Novelle, Tübingen 1985 (UTB 49), S. 57. 24 Blüher (Anm. 23), S. 91. Ein Textsignal bildet etwa die zufällige Wiederbegegnung der Princesse de Montepensier mit dem Duc de Guise während einer Jagdpartie, die als „aventure“ und „une chose de roman“ bezeichnet wird, vgl. S. 98. 25 Madame de Lafayette: Romans et nouvelles. Édition revue et corrigée par Alain Niderst, Paris 2010. Zum Diskurs der Genreentwicklung innerhalb des Werks von Lafayette vgl. Niderst: Introduction. In: Lafayette: Romans et nouvelles, S. 17–71. Sehr erhellend ist auch die Diskussion der Nouvelle historique im Rahmen der englischen Übersetzungen von Terence Cave: Introduction. In: Madame de Lafayette: The Princess de Clèves. The Princess de Montpensier. The Comtesse de Tende. Translated with an Introduction and Notes by Terence Cave, Oxford, UK 1992, S. vii–xxx. 26 Vgl. Günter Berger: Legitimation und Modell: Die ‚Aithiopika‘ als Prototyp des französischen heroisch-galanten Romans. In: Antike und Abendland 30 (1984), S. 177–189. Ein weiterer Kontext im Genretransfer deutscher und romanischer Erzählformen ist im Bereich der spätmittelalterlichen Prosa-Historie zu sehen. Vgl. Werner Röcke: Das Spiel mit der Geschichte. Gebrauchsformen von Chanson de Geste und Roman in der ‚Histori von dem Keyser Octaviano‘ In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 23:89 (1993), S. 70–86. 23

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2. Im Zentrum der Erzählung Die Königinn von Navarra steht die Liebe zwischen Margarete von Navarra und dem Herzog von Bourbon, Konnetabel von Frankreich, unter der Regentschaft Franz I., die durch die unvernünftige Leidenschaft von Margaretes Mutter, der Herzogin von Angoulême, für denselben Mann hintertrieben wird und den Liebenden immer wieder neue Entsagung abverlangt.27 Eine kurze eröffnende Rahmenerzählung28 markiert die diskursive Situation als eine Zusammenkunft adliger Damen am Hof Franz I., als Teil derer Margarete, gebürtige Prinzessin von Valois, nunmehr verheiratete Königin von Navarra, durch ihre Freundin, die Gräfin von Sancerre, ihre unglücklichen Liebesgeschicke erzählen lässt. Die Binnenerzählung in personaler Perspektive Sancerres29 entfaltet sodann die Geschichte dieses Paars vom ersten Kennenlernen im Rahmen eines Turniers (der männliche Held ist zunächst im Rang eines Grafen von Montpensier), über Diskurse der Standesraison, die eine Verbindung zu verbieten scheinen (mit den Freundinnen Sancerre und Prinzessin Renée, Tochter Ludwigs XII., sowie dem Grafen selbst), bis hin zur Intrige von Margeretes jung verwitweter Mutter, die selbst in den jungen Grafen leidenschaftlich verliebt ist. Beide Liebenden werden aufgrund von innerer Verkennung und äußerem Zwang mit anderen Partnern vermählt; Margerete, die eigentlich dem spanischen Carl V. versprochen war, muss den Direktiven ihrer Mutter gemäß unter Stand den Grafen von Alençon heiraten. Die Intrige der Herzogin von Angoulême treibt den nach erfolgreich geschlagenen Schlachten unter Franz I. zum Herzog von Bourbon und Konnetabel von Frankreich aufgestiegenen Helden dazu, sich verräterisch auf die Seite Carls V. zu schlagen. Eine glückliche Wende steht erst in Aussicht, als er im Rahmen der Madrider Gefangenschaft des französischen Königs infolge der desaströsen Schlacht von Pavia nicht nur dessen Befreiung, sondern auch seine eigene Vermählung mit der seit derselben Schlacht verwitweten Margarete von Alençon plant. Diese wird von ihrem Bruder und dem Herzog nach Spanien gerufen, wo Carl V. seine Regierungsgeschäfte über der für sie entflammten Leidenschaft vergisst. Vom Herzog rechtzeitig gewarnt, kann Margarete entfliehen; im beherzten Ritt gelangt sie mit kleinem Gefolge ins nördlich angrenzende Königreich Navarra, von wo aus sie nach Paris weiter reist. Doch neuerlich hintertreibt ihre Mutter das so greifbar nah scheinende Liebesglück, indem sie ihr mittels gefälschter Briefe und gedungener Zeugen weismacht, der Herzog habe sich nun doch entschieden, die spanische Infantin Isabella zu ehelichen, um sich so das Königreich Mailand zu sichern. Aus Trotz und um dem Geliebten zu beweisen, dass sie ihrerseits nicht aus Standesdünkel oder Machtkalkül dem kaiserlichen Werben nachgegeben habe, willigt sie kurzerhand in die Vermählung mit Henri d’Albret ein – und wird von Schmerz überwäl27

Figurennamen entsprechend der deutschen Schreibweise Schillers. Vgl. Schiller (Anm. 1), Bl.1r. 29 Vgl. Schiller (Anm. 1), Bl.1r–36r. 28

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tigt, als sie unmittelbar nach vollzogener Zeremonie erfährt, dass alles eine Intrige ihrer Mutter war. Zurückkehrend zur Rahmenhandlung30, wird in auktorialem Erzählverhalten mitgeteilt, wie während eines Maskenballs ein Vertrauter des Herzogs Margarete ein Medaillon mit seinem Bildnis überreicht, das durch einen Zufall in die Hände ihrer Mutter gerät. Heimlich plant der Kreis von Margaretes Freunden, sie und den versteckt in der Nähe von Paris weilenden Herzog zusammenzubringen. Eine erste, als Überraschung für Margarete inszenierte Wiederbegegnung löst jedoch eine Ohnmacht und eine schwere Krankheit der Königin aus. Den Höhepunkt bildet das Auftreten des Astrologen Gauric, dem die Mutter das Bild des Herzogs vorlegt und von dem sie das Orakel erhält, der Abgebildete werde sich zuletzt „in den Armen seiner grausamsten Feindin finden“31 (was sie verkennend auf sich selbst bezieht). Margarete, die an seiner astrologischen Kunst zweifelt, prophezeit er, „daß dieser Tag der grösste Ihres Lebens ist, daß die Sonne nicht sinken wird, ehe Sie die größte Überraschung haben werden“,32 was sich bewahrheitet, da sie kurz darauf den Herzog wiedersieht und einen glückseligen Abend in „unschuldige[r] Liebe“ und „reine[r] Freude des Herzens“ verbringen darf.33 Die Erzählung endet mit der durch Margarete herbeigeführten Versöhnung zwischen Franz I. und Bourbon sowie der finalen Trennung der Liebenden, die ihrer jeweiligen historischen Bestimmung zugehen: Er stirbt bei der „Belagerung von Rom“ (in den Armen seiner ‚grausamsten Feindin‘ also); sie bringt bedeutende Nachkommen hervor, „die berühmte Johanna Königinn von Navarra Mutter des Großen Heinrichs“.34 In dieser Wiedergabe des Handlungsverlaufs deutet sich bereits an, inwiefern die wesentlichen Elemente des Erzählmusters des Liebes- und Abenteuerromans hier aufgerufen werden: Dem initialen Moment gegenseitig empfundener Liebe folgt eine Palette von Hindernissen, bis das Paar, für eine kurze Zeit zumindest, zusammenfinden kann. Während sich der männliche Held, entfernt von der Geliebten, Kriegsruhm erwirbt, zum höchsten Amt im französischen Kriegswesen aufsteigt, durch Intrige veranlasst zum Landesverräter wird, am Ende rehabilitiert wird und in der Eroberung Roms seine Dankesschuld gegen den König abträgt, sieht sich die Heldin mit ihrer Liebe den dynastischen und persönlichen Interessen ihrer Mutter ausgesetzt. Ihre Reisewege, im Gefolge des Königs nach Lyon, ihr Rückzug auf einen Landsitz, ihre Reise nach Spanien zur Auslösung des Bruders, wo ihr einerseits der Geliebte, andererseits ein neuer mächtiger Verfolger begegnen, stehen allesamt im Zeichen der Tugendprüfung: Bei stetig wachsender Erkenntnis ihrer wahren und einzigen Liebe zum Herzog bleibt die Bewahrung ihrer Unschuld oberstes Ziel, so dass das Ereignis der ‚glücklichen‘ Vereinigung – in traditioneller Topik: die Liebesnacht – in einen gemeinsam verbrachten Abend in vergeistigter 30

32 33 34 31

Vgl. Schiller (Anm. 1), Bl. 36r–55r. Vgl. Schiller (Anm. 1), Bl. 48r. Vgl. Schiller (Anm. 1), Bl. 48r. Schiller (Anm. 1), Bl. 48v. Schiller (wie Anm. 1), Bl. 55r.

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Liebe umgewandelt wird, nach welchem beide getrennt zu Bett gehen und ihr Schicksal betrauern. Werfen wir einen Blick zurück auf meine eröffnende Gegenüberstellung der Fabel des modernen Bildungs- und Entwicklungsromans (Hegel) – die sinngerichtete Herausbildung des männlichen Individuums, das über ritterliche Taten einer feindlichen Umwelt die Geliebte abtrotzt – mit jener des Liebes- und Abenteuerromans (Eming) – die episodenhaft-abenteuerliche Geschichte eines Paars, die sich über tief empfundenen, anderen mitgeteilten, auf vielfältige Weise mimisch und gestisch zum Ausdruck gebrachten Trennungsschmerz gestaltet. Es fällt auf, dass bei Schiller die zweite Variante Vorrang erhält, jedoch auf modernisierte Weise: Für beide Teile des tragischen Paars, die auf je eigene Art auf die an sie herangetragenen Intrigen reagieren müssen, wird eine sich entwickelnde Gefühlswelt zur Darstellung gebracht, die im Moment tugendhaft-empfindsamer Vereinigung gipfelt. Dies ist der Erzählperspektive geschuldet, insofern Sancerre als Erzählerin eine Art Medium bildet, das die Gefühle beider Liebenden mitempfindet, -durchlebt und -durchleidet. Der männliche Held Bourbon reagiert auf die an ihn herangetragenen Intrigen, indem er Kriegsgeschichte schreibt; die Heldin Margarete dagegen verarbeitet ihre Flucht vor den Nachstellungen ihrer Mutter in Dichtung. Auf der Reise nach Lyon, in mehrtägigem Abstand hinter dem König und seinem Hofstaat, bereitet ihr der Herzog (heimlich) eine Überraschung: eine Festveranstaltung mit Faunentanz und einem ihr errichteten Blütenthron, ein Ereignis, das sie in Dichtung verwandelt: Die Erfindung dieses Festes hatte der Herzogin einen so angenehmen Eindruck gegeben, daß sie ein Gedicht darauf machte welches man lange noch pries als die Hand nicht mehr war, die es aufzeichnete. Dianens Nimphen, und Satyrn, war die Ueberschrift.35

Angespielt wird hier auf Marguerite de Navarres Gedicht L’Histoire des satyres et nymphes de Dyane (bzw. La Fable du faux cuyder), das von Satyrn erzählt, welche die Nymphen Dianas zu verführen versuchen; als diese sich in den Fluss stürzen wollen, verwandelt die Göttin sie in Weidenbäume. Cholakian/Cholakian lesen sie gegenüber älteren allegorischen Auslegungen als eine Warnung an „vulnerable females about the dangers of male sexuality“.36 Schillers Grundmotiv der weiblichen Rolle Margaretes, die sich gegen hochadelige Verführer behaupten muss und den Herzog nur heimlich (und keusch) lieben darf, kulminiert gewissermaßen in der Allusion auf ihre Dichtung. Nachdem der Herzog zum Verräter wird, zieht sie sich zur Kontemplation und musischen Beschäftigung mit nur wenigen Vertrauten auf einen Landsitz zurück. Die Erinnerung an die Reise nach Lyon und die festive Inszenierung lösen schwere Krankheit und Krise aus. Zum Eindruck der Modernität in der Handlungs- wie Figurenentwicklung trägt nicht zuletzt der Diskurs novellistischen Erzählens bei, wie er sich um 1800 in der deutschsprachigen Literatur etabliert. Auch wenn die zur Novellenanalyse bekannten Schulbuchkriterien wie „unerhörte Begebenheit“ (Goethe, 1827), „Wendepunkt“ (Ludwig Tieck, 35

Schiller (Anm. 1), Bl. 16r. Vgl. hierzu auch die erläuternde Fußnote bei de la Force (Anm. 2), S. I/199. 36 Cholakian/Cholakian (Anm. 4), S. 244–247, insbesondere S. 245.

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1828) und der an Boccaccio angelehnte „Falke“ als Bezeichnung des Leitmotivs (Paul Heyse, 1871) sich erst im Verlauf des 19. Jahrhundert sukzessive bilden, lassen sich gerade in den Novellentexten um 1800 diese Gestaltungskriterien durchaus ausmachen, wenn auch nicht im Sinne rekonstruierend-normativer Poetik.37 Am Beispiel von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili (1807) etwa, die sich in den vorliegenden Zusammenhang als die abenteuerliche Geschichte eines liebenden Paars vor historischer Szenerie fügt, zeigt Karlheinz Stierle auf, inwiefern sich die Erzählkonfiguration zwischen Zufall und Prägnanz bewegt und in generischer Selbstbezüglichkeit „die Novelle immer neu die Tendenz [hat,] zur ‚exemplarischen‘ Novelle zu werden, die Formidee der Novelle selbst zur Darstellung zu bringen“.38 Ein wichtiges Moment dieser Formidee ist die Verschränkung von Rahmen- und Binnenerzählungen, die diskursive Situierung also, durch die das erzählte Geschehen als exemplarisches erscheint. In Schillers Königinn von Navarra entwirft die Erzählerin Sancerre in Retrospektive die Liebes- und Abenteuergeschicke des tragischen Paars entsprechend als singuläres Beispiel, an das die abschließende Rahmenhandlung auf Gegenwartsebene anknüpft. Interessant ist dabei, dass in der Binnenerzählung Bourbon und Margarete ihrem Schicksal ausgeliefert sind und von fremden Mächten instrumentalisiert werden. In den Rahmenteilen dagegen eröffnet sich eine Perspektive, in der beide Figuren im diskursiven Umgang mit dem engen Kreis ihrer Freunde und Freundinnen Handlungsmacht gewinnen. Während der erste Anlauf, eine Wiederbegegnung des getrennten Paars herbeizuführen, noch scheitert bzw. einen (neuerlichen) Rückfall in Krankheit und Krise auslöst, gelingt beim zweiten der Sieg über die Intrige von Margaretes Mutter. Daher darf die Königin nun endlich ihre Liebe zum Herzog eingestehen und als politische Akteurin ihn in sein Amt und seine Beziehung zu ihrem Bruder, dem Monarchen, zurückversetzen. Als novellistisches Leitmotiv fungiert das ‚Bild‘ des Herzogs auf mehreren Ebenen. Sein Auftreten als prachtvoller Unbekannter zu Beginn der Binnenerzählung und am Ende der Rahmenhandlung bildet gewissermaßen eine motivische Klammer. Sein erstes Auftreten schildert Sancerre: In diesem Augenblick trat der Herzog von Bourbon auf, damahls noch Graf von Montpensier, Mutter und Tochter bemerkten ihn zugleich. Und als er bey einem Turnier als ein Unbekannter in Pracht voller Rüstung erschien, und die Preise erhielt in jeglicher Uebung die Kraft und Gewandheit nur erringen können, ward sein Bild noch tiefer ins Gemüth der beyden schönen Frauen geprägt. Die Augen, wie die Herzen wusste der Fremdling zu feßeln. Wir drey, denn auch ich muß mich freymüthig unter die Besiegten rechnen wünschten ihn beständig Sieghaft zu erscheinen. Keiner kam ihm gleich, niemand übertraf ihn.39 37

Vgl. hierzu Gaby Pailer: „Verlaß dich nicht auf dein Gewalt“. Armut, Fremdheit und die Kriminalisierung männlicher und weiblicher Figuren in historischen Novellen. In: Der Deutschunterricht 5 (2012), S. 2–10. 38 Karlheinz Stierle: Das Beben des Bewußtseins. Die narrative Struktur von Kleists „Das Erdbeben in Chili“. In: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists „Das Erdbeben in Chili“. Hrsg. von David E. Wellbery, München 1993, S. 54–68, hier S. 58f. 39 Schiller (Anm. 1), Bl. 2r.

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Kurz vor dem Ende wiederholt sich dieser Auftritt im Kontext eines ritualisierten Festaufzugs und Lanzenspiels, bei dem der durch Margaretes Vermittlung mit dem König Versöhnte (der restliche Hof weiß noch nichts davon) neuerlich als atemberaubender Unbekannter erscheint: Mitten unter die Fechtenden gesellte sich zu den Treuen Liebhabern eine grosse prachtvolle Gestalt. Er begrüsste die Damen auf dem Gerüste, und stellte sich mit Edlem Anstand neben den König. Das Schild des Ritters hatte eine Weltkugel mit diesen Worten: Der Himmel und die Erde. Dieser stolze Wahlspruch gab den Zuschauern nicht wenig zu denken. Man erräth leicht daß der Connetabel dieser Ritter war, der mit der Bewilligung es Königes sich in dieser Gestalt zeigte. […] Der Schöne Unbekannte gewann alle Preise im Lanzenspiel, und erhielt den Preis des Kampfes aus den Händen seiner angebeteten Königin.40

Zweitens spielt das bereits erwähnte Bildnis des Herzogs im Medaillon eine bedeutende Rolle. Auf dem Maskenball tritt ein als Armenier Verkleideter, eine „Masque“, zu Margarete und zeigt ihr zwei Bildnisse, erst eines, das sie selbst darstellt, dann das des Herzogs, das in ihrer Hand zurückbleibt: O gewiß! antwortete sie! Sie sollen die Bildnisse beyd[e]r Liebenden sehen; Ihr Herz wird verrathen, ob es zu fühlen fähig ist: Er zog eine kostbare Dose hervor, und als sie sie geöffnet, erblickte sie ihr eignes Bild! – Ihr Erstaunen war unaussprechlich und nahm noch zu, als die andre Dose die er ihr reichte das Bild des Connetables enhielt. – Sie erröthete. […] Aber die Masque wollte noch mehr hören. Die Königinn verlegen und ungeduldig sagte endlich: Hören sie auf mit diesen Anspielungen, und tragen andern Damen ihre Scherze vor. Sie hielt immer noch das Bild in ihrer Hand um es zu verbergen, die Masque schien beleidigt, und verließ sie; und das Bild blieb in ihren Händen zurück.41

Wenig später findet ihre Mutter durch Zufall das Bildnis, das Margarete offenbar Prinzessin Alphonsine gegeben hatte und das dieser aus der Tasche fiel. Dieser Fund und ihre Reflexion zum Porträt des Herzogs im Medaillon, löst Gedanken darüber aus, welches „Bild“ sie selbst der Nachwelt geben werde angesichts der Grausamkeiten, die sie ihrer Tochter bereitet: Der Mond leuchtete hell, u. wie groß war ihre Verwundrung das geliebte Angesicht zu entdecken mit einem Wort es war das Bild des Herzogs von Bourbon! Sie war bestürzt Grosser Gott was seh ich! Was sehen Sie rief die Vertraute. […] Sah man jemahls eine ähnliche Begebenheit, rief sie aus! Wohin kann dies führen; warum an Connetabel so innig eben jezt denken? […] Ach wenn ich den Lauf meines Lebens nachdenke, wie viele Widerprüche sehe ich! Ich schmeichle mir gar nicht. Ich weiß zu wohl, welches Bild die Nachwelt von mir entwerfen wird. Ich sehe von der einen Seite, nichts als Hohes an mir. Einen glänzenden Ursprung, ein eben so glänzendes Loos und mit Ruhm bedeckt. […] Die Handlungen der Tugend des Muths preiset man, wie meinen Ruhm! Ach welcher Ruhm! Aber nun stechen mich die Dornen die ich selbst in diese Blumen preste! 40

Schiller (Anm. 1), Bl. 53v. Schiller (Anm. 1), Bl. 37v.

41

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Gaby Pailer

Mein Herz wurde durch Leidenschaft überrascht, und ich muß einen Mann lieben, der mich nur verachtet! Meine Tochter die er liebt, wird das Opfer meiner Eifersucht, mein ungerechtes Ansehen und meine Grausamkeit zwingen sie sich zweymahl zu vermählen.42

An dritter Stelle wird das Medaillon von der Mutter (der „Regentin“) schließlich dem Wahrsager Gauric präsentiert: Sobald sie allein waren, zog sie in Gegenwart der Prinzessinn Renee des Connetabels Bild hervor; sprechen sie nichts sagte sie zu ihr. Laßt hören was Gauric von diesem Gesicht sagt. Er nahm das Bild sah es lange mit Wohlgefallen an: welches angenehme Gesicht rief er aus, welche Verwirrung von seltnen Dingen erblick ich. Grösse! Erfahrenheit! der Seele! Doch welche Mischung von Guten und Bösen Begenheiten! Welches Grosse zerstört die Liebe in seinen Tugenden, und zu wieviel Fehltritten veranlasst er seine Verfolger! […] Sein Ehrgeiz wird ihm die grössten Plane eingeben, die je eines Helden Geist zu ersinnen fähig. Die grösste Neugier herrschte in ihren Zügen, weiter, weiter, rief sie: Und doch wird er zulezt sich in den Armen seiner grausamsten Feindin finden, ohne daß menschliche Macht es zu verhindern vermag. Hastig veschloß er die Dose, und gab sie kalt der Regentin zurück.43

Ein viertes Mal wird das Medaillon erwähnt, als Franz I. von seiner Schwester am Ende die Geschichte des „Bildes“ erfährt.44 Dem äußeren Auftreten des Herzogs als bildhafte Erscheinung bei Turnier und Lanzenspiel und seinem übertragenen Auftreten in Gestalt des Porträts korrespondiert das Heraufdrängen seines Bildes im Gemüt Margaretes während ihrer kontemplativen ländlichen Einsamkeit: Eines Abends wo sie in ihren Träumen vertieft unter uns saß, und die Instrumente ertönten, vernahm sie die Musick des Ballets, die sie im Walde bey Lyon vernommen; sie wurde heftig bewegt, das Bild des Geliebten erschien lebhafter im Gemüth, und sie verhüllte traurend ihr schönes Gesicht mit beyden Händen; lange flossen ihre Thränen, denn sie fühlte erschrocken ihre Schwachheit, ihre schönen Augen nach dem Himmel gewendet, verließ sie so schnell sie konnte diesen Plaz.45

Dieser Augenblick höchsten Sehnens und tiefster Krise findet seine Entsprechung im Moment des kurzen keuschen Liebesabends, nach dem beide jeweils des anderen Bild mit sich tragen: Die Freunde führten den Herzog mit sich fort, Er konnte nun an die Königinn denken, und füchtete sich vom Schlaf übermannt zu werden. Welches Glück kann ein Liebender wo anders finden, als in dem Andenken an das was er verlaßen musste! Auch die schöne Königinn gab dem Schlaf wenig Gewalt über sich. Ihr Herz war voller Bewegungen die keine Ruh vergönnen wollten, ob sie gleich durch Angenehme Empfindungen sie verscheuchte. Sie konnte sichs kaum überreden daß alles wircklich sich zugetragen, was sie empfunden. Sie konnte kaum den Zustand des Wachens glücklich finden. Sie dachte es sey 42

44 45 43

Schiller (Anm. 1), Bl. 44v–45r. Schiller (Anm. 1), Bl. 47v–48r. Schiller (Anm. 1), Bl. 51r. Schiller (Anm. 1), Bl. 22r.

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unmöglich daß sie den Mann wieder mit ihren Augen gesehn den sie so unglücklich wusste! Dessen Leben durch ihre Schuld mit so sonderbaren einzigen Begebenheiten durchwebt war.46

Wie diese Ausführungen verdeutlichen sollten, lässt eine zunächst auf Charlotte Schillers Erzählung selbst fokussierte Analyse sowohl das Erzählmuster des Liebes- und Abenteuerromans als auch das der modernen Novelle erkennen. Nun geht es darum herauszuarbeiten, inwiefern sie sich ihrer zentralen Vorlage bedient und in welcher Weise sie diese völlig neu konzipiert.

3. Die Histoire de Marguerite de Valois, reine de Navarre setzt sich in der hier zugrunde gelegten Fassung von 1783 aus sechs Bänden zusammen, wovon die ersten vier den eigentlichen Roman, die letzten beiden ergänzende Materialien enthalten.47 Der Roman untergliedert sich in eine das zentrale Geschehen vermittelnde Rahmenhandlung, die sich über wenige Wochen anno 1527 am französischen Hof in Paris erstreckt, sowie in vierzehn ausgedehnte Binnenerzählungen. Die Verteilung der Rahmen- und Binnenhandlungen sei im Folgenden in tabellarischer Form wiedergegeben. Das Geschehen der Rahmenhandlung (als biographisch markierte Zeit im Jahr 1527) ist im Laufe der vier Bände mit vierzehn ausgedehnten, eigenständigen Binnenerzählungen der Liebes- und Abenteuergeschicke einzelner Figuren durchsetzt. Von diesen bildet die erste Erzählung Sancerres (I.2) das Leitnarrativ des tragischen Paars. Vorherrschend ist das Erzählmuster des Liebes- und Abenteuerromans, insofern über typische Motivkomponenten der ersten Begegnung und erwachendenen Liebe, der Trennung aufgrund widriger Verhältnisse, der Reise, des Kriegs, der Nachstellung und Flucht, kurz, der Wagnisse und Prüfungen fern der Heimat, der Eindruck der ‚Abenteuerzeit‘ entsteht. Dieser wird über die dreizehn weiteren eingebetteten Erzählungen noch verstärkt, über die sich die Geschicke zahlreicher Nebenfiguren miteinander vernetzen. Unterscheiden lässt sich zwischen zehn Erzählungen mit höfisch-historischen und drei mit exotischen Protagonisten. Markiert ist dieser Unterschied durch die Bezeichnungen, die für das Erzählte verwendet werden: Sancerres biographische Liebes- und Leidensgeschichte (III.1) wird als „son histoire“48 bezeichnet, während Prinzessin Aphrigia (III.2) „ses aventures“49 erzählt.

46

Schiller (Anm. 1), Bl. 49a/r. Band 5 enthält „Notices sur les personnages de l’Histoire de la Reine de Navarre“ in alphabetischer Ordnung. Band 6 enthält „Notices dur la vie de François 1er“; „Recueil de quelques poésies de François 1er“; „Remarques et Éclaircissements pour rétablier la vérité des événements de l’Histoire de la Reine de Navarre“; „Recueil des lettres“ sowie „Table des personnages cité dans le Ve volume de l’Histoire de la Reine de Navarre“. Die beiden Supplement-Bände dienen dem Eindruck der Faktizität des historischen Geschehens. 48 De la Force (Anm. 2), S. III/73. 49 De la Force (Anm. 2), S. III/89f. 47

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Bd.

Rahmenhandlung

Binnenerzählungen

I

Der orientalische Ritter Dragut sucht den französischen Grafen Lautrec auf und stößt auf einen „merveilleux inconnu“ [wundersamen Unbekannten],50 bei dem es sich um den inkognito nach Paris zurückgekehrten Herzog von Bourbon handelt. Zwei spanischen Prinzessinnen, Alphonsine de Salerne und Donna Maria d’Aragon, suchen Zuflucht, der Unbekannte streckt ihren Verfolger nieder. Am Pariser Hof des jüngst aus Spanien zurückgekehrten François I. werden beide Prinzessinnen zu Marguerite geführt, die kürzlich mit Henri de Navarre vermählt wurde. Diese lässt ihnen ihre Geschichte durch die Gräfin von Sancerre erzählen.

1. Die spanischen Prinzessinnen erzählen, wie sie nach Frankreich verschleppt wurden, und zwar vom Duc de Nagéra, welchen der Unbekannte unmittelbar zuvor niedergestreckt hat.51 2. Erzählung der Gräfin Sancerre vom ersten Turnierauftritt des Herzogs (bzw. Grafen von Montpensier) bis zu Marguerites Rückkehr aus Spanien und Heirat mit Henri de Navarre.52

II

Maskenball, zu dem zwei Getreue des Herzogs, der Marquis de Guast und Graf Pomperan als Armenier verkleidet auftreten und sich der Königin nähern. Der Marquis zeigt Marguerite zwei Medaillons mit Bildnissen, eines, das sie selbst, eines, das den Herzog darstellt. Das letztere bleibt in ihren Händen (sie wird es später ihrer Freundin Alphonsine geben, der es aus der Tasche fällt, so dass Herzogin Louise es findet). Gemeinsam planen die Freunde und Freundinnen Marguerites – insbesondere Alphonsine de Salerne, die Comtesse de Sancerre, Guast, Pomperan und Graf Lautrec – die Liebenden zusammen zu bringen. Unversehens taucht die Zuflucht suchende Aphrigia auf.53 Der Band endet mit dem Heranreiten des Herzogs.

1. Lautrec erzählt Dragut, wie er selbst eine unglückliche Liebe zu Marguerite hegt, zugleich aber dem Herzog von Bourbon in tiefer Freundschaft verbunden ist.54 2. Fast unmittelbar anschließend folgt der Bericht von Isouf, dem Gefolgsmann Draguts, in dem es um die Verfolgung und Entführung der schönen nordafrikanischen Aphrigia sowie um Draguts55 Freundschaft mit Azan, dem Prince d’Alger, geht, der die schöne Aphrigia liebt. 3. Bericht der Mademoiselle Villars, Tochter des Herrschers von Mailand, le grand Bayard.56 4. Bourbons Freund Pomperan berichtet von den Liebes- und Herrschaftsverwicklungen des spanischen Kaisers sowie des französischen Königs zwischen dynastischen und erotischen Interessen während der Zeit in Madrid.57

50

52 53 54 55 56 57 51

De la Force (Anm. 2), S. I/8 (Übersetzungen französischer Textstellen G.P.). Vgl. de la Force (Anm. 2), S. I/24–98. Vgl. de la Force (Anm. 2), S. I/107–366. Vgl. de la Force (Anm. 2), S. II/298–304. Vgl. de la Force (Anm. 2), S. II/23–78. Vgl. de la Force (Anm. 2), S. II/87–168 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. II/183–203. Vgl. de la Force (Anm. 2), S. II/233–292.

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Rahmenhandlung

Binnenerzählungen

III

Zu Beginn unterhalten sich der Herzog und der Kreis der Freunde über die jüngeren Madrider Ereignisse und die vereitelte Verbindung zwischen ihm und Marguerite. Die Freunde planen eine heimliche Wiederbegegnung der Liebenden. Erst im letzten Teil des Bandes wird die Rahmenhandlung wieder ereignishaft: Der Astrologe Luc Gauric prophezeit der Herzogin von Angoulême, dass Bourbon sich bald in den Armen seiner größten Feindin sehen werde.58 Marguerite prophezeit er, dass dies der größte Tag ihres Lebens werde.59 Wiederbegegnung von Marguerite und Bourbon.60

1. Gräfin Sancerre61 erzählt von ihrer unglücklichen Liebe zum Comte de Rochefoucault, der durch Louise von Angoulême erzwungenen Heirat mit dem Grafen von Sancerre, der ebenso wie der Graf von Alençon bei der Schlacht von Pavia fiel. 2. Die schöne Aphrigia erzählt ihre abenteuerliche Irrfahrt,62 die mit dem zuvor von Issouf Erzählten korrespondiert. 3. Princesse Renée63 erzählt ihre gleichfalls durch Hofpolitik vereitelte frühe Liebesbande. Für sie gibt es ein glückliches Ende, insofern sie Hercule de Ferrare heiraten darf, den sie seit Langem insgeheim liebt. 4. Abschließender Bericht des Comte de Tende.64

IV

Es gelingt Marguerite, die Freundschaft zwischen ihrem Bruder und Bourbon zu restituieren. Der Roman schließt mit der öffentlichen Rehabilitation Bourbons65 sowie der finalen Trennung der biographischen Geschicke des zentralen Paars.66 Der Herzog fällt im Erwerb neuerlichen Kriegsruhms bei der Eroberung Roms, das sich, dem Orakel gemäß, als seine ‚größte Feindin‘ erweist; Marguerite bringt bedeutende Nachkommenschaft zur Welt: die Tochter Jeanne d’Abret, die zukünftige Mutter von „Henri le grand“, also Heinrich IV.67

1. Bericht von la Roche du Maine an Princesse Renée.68 2. Bericht der Princesse Isabelle, Schwester des Königs von Navarra.69 3. Bericht der Madame Lautrec (bzw. Mademoiselle Dorval, die mittlerweile mit Lautrec verheiratet ist).70 4. Erzählung des Prince d’Alger, Azan.71

58

Vgl. de la Force (Anm. 2), S. III/328: „il se verra bientôt entre les bras de sa plus grande ennemie“ („er wird sich bald in den Armen seiner größten Feindin sehen“). 59 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. III/332: […] qu’aujourd’hui sera un des plus grands jours de votre vie, & qu’il ne se passera entièrement sans que vous ayer la plus grand surprise & le plus sensible plaisir que vous poussiez jamais avoir […]. [dass heute einer der größten Tage Eures Lebens sein wird und dass er nicht vollständig verstreichen wird, ohne dass Ihr die größte Überraschung und das empfindsamste Vergnügen, das Ihr jemals haben könnt, erlebt]. 60 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. III/349–351. 61 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. III/24–73. 62 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. III/88–105. 63 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. III/156–226. 64 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. bis III/300. 65 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. IV/365–367. 66 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. IV/370–372. 67 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. IV/372. 68 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. IV/11–67. 69 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. IV/105–129. 70 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. IV/141–230. 71 Vgl. de la Force (Anm. 2), S. IV/250–360.

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Von jenen Erzählungen mit höfisch-biographischem Personal sind zwei direkt auf die Leitnarrative bezogen (Lautrec, II.1; Sancerre III.1), während in den Geschichten der Prinzessin Renée (III.3), des Comte de Tende (III.4) und der Madame Lautrec (IV.3) nur indirekte Bezüge bestehen und die weiteren höfischen Berichte weitgehend davon losgelöst sind. Drei Erzählungen vernetzen einen Handlungsstrang um exotisches Personal, die Berichte von Isouf (II.2), Aphrigia (III.2) und Azan (IV.4). Den stärksten Gegenpol zum Leitnarrativ um Marguerite/Bourbon bildet mithin das über diese drei Narrative vernetzte Geschehen um das getrennte exotische Paar Aphrigia/Azan, das sich über den gesamten Mittelmeerraum von Algerien und Tunesien bis in die Türkei ausdehnt und alle wesentlichen Elemente des Liebes- und Abenteuerromans wie Havarie, Piraterie, SerailVerschleppung, verfolgte Unschuld etc. akkumuliert. De la Forces Histoire unternimmt in struktureller Hinsicht also eine Pluralisierung und Serialisierung von ‚histoires‘ und ‚aventures‘,72 die einen weitgehend parallelen Verlauf zum Leitnarrativ nehmen, am Ende aber dieser prägnant entgegengesetzt werden: Alle Paare finden glücklich zusammen, die Auflistung der Hochzeiten gleicht einem Katalog,73 nur das tragische Hauptpaar muss sich wieder trennen. Innerhalb der romanischen Genreentwicklung der Histoire ist dies bemerkenswert, insofern die unterschiedlichen Erzählmuster Lafayettes, die Nouvelle historique (La Princesse de Montpensier), die Histoire Espagnol (Zaïre) der Roman (La Princesse de Clève) durchaus aufgerufen, jedoch in völlig neue Konstellation gebracht werden. Beachtlich ist dies vor allem in Hinblick auf den Befund Bergers, dass die literarische Rezeption des Liebes- und Abenteuerromans im französischen heroisch-galanten Roman en gros zwischen 1620 und 1660 erfolgt,74 de la Forces Reprise also eine markante Weiterentwicklung darzustellen scheint. Für hier wichtiger ist freilich die Frage nach Schillers Umdichtung dieses komplexen Materialgefüges zur Novelle. Ihre Erzählung Die Königinn von Navarra umfasst 58 Blatt Folio. Quantitativ übernimmt sie etwa ein Zehntel des französischen Romans, indem sie wesentliche Elemente der über die vier Bände verteilten Rahmenhandlung zusammenzieht und die Binnenerzählung Sancerres (I.2) ins Zentrum stellt. Bei ihr setzt die Rahmenhandlung an jener Stelle des ersten Bandes ein, als die spanischen Prinzessinnen den Bericht von ihrer Entführung nach Frankreich beendet haben (I.1) und Margarete, die sie in Madrid kennengelernt haben, bitten, ihnen die Hintergründe ihrer Beziehung zum Herzog von Bourbon zu erhellen:

72

Mit der auf emotionale Vorgänge gerichteten Abenteuerhandlung erklärt sich Bachorski zufolge auch die Pluralität, Serialität und wechselnde Perspektivierung der Ereignisse, die für moderne Lektüreerwartungen „eine Zumutung“ darstelle, da Leser oder Leserin „permanent die verschiedenen Situationen und gleichermaßen die unterschiedlichen Perspektiven auf sie, von denen aus jeweils erzählt wird, reflektieren“ müssen. Vgl. Bachorski (Anm 12), S. 75. 73 De la Force (Anm. 2), S. IV/362–364 (Hochzeiten von Prinzessin Renée und Prinzessin Alphonsine); S. IV/371 (Hochzeiten aller anderen Figuren). 74 Vgl. Berger (Anm. 26), S. 185.

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Die Herzogin von Angouleme, Mutter Franz des Ersten hatte sich mit der Königinn von Navarra, und andern Damen, in ihr Zimmer begeben, und saßen ohne Zwang zusammen, um sich zu unterhalten. Als Franz der Erste mit einen Brief in der Hand zu ihnen trat. Als er ihnen bekannt machte, daß er den Herzog von Bourbon an die Spize seiner Tuppen gestellt, um nach Mailand zu ziehen, überzog eine glühende Röthe das Gesicht der Mutter, die einen drohenden Blick auf ihre Tochter warf, und jene senkte bestürzt die schönen Augen die sich vergebens bemühten des Herzens Gefühle zu verbergen. Mutter und Sohn sprachen lange leise untereinander: Die Königinn nahm die beyden Prinzeßinnen von Arragonien an der Hand führend ohne Verbeugung den Weg nach ihren Zimmer. Kaum waren sie allein, so nahm eine der Damen das Wort.75

Margerete lässt, wie bereits ausgeführt, nun die Gräfin von Sancerre rufen, deren Erzählung die Ereignisse vom ersten Kennenlernen des Grafen von Montpensier beim höfischen Turnier bis zur Reise nach Madrid und der Flucht zurück nach Frankreich umspannt. Im Unterschied zur mehrfach unterbrochenen Erzählsituation bei de la Force lässt Schiller die Gräfin ununterbrochen erzählen, spitzt also die bei ihr ohnehin einsträngige Handlung weiter zu.76 Aus den Rahmenhandlungsteilen der französischen Romanbände II bis IV übernimmt Schiller die Maskenball-Episode, bei der Marguerite das Bildnis erhält (II) sowie den Plan der gemeinsamen Freunde von Margerete und Bourbon, die beiden zusammen zu bringen, konzentriert das Geschehen auf den Auftritt des Astrologen Gauric, dem die Mutter das Bild des Herzogs vorlegt, der zugleich die Wiedervereinigung des tragischen Hauptpaars weissagt (III), und kommt, sehr verkürzt, zum Schluss (IV). Die modifizierte Struktur führt insbesondere zu einer Veränderung in den Charakterentwicklungen des zentralen Paars. Während in de la Forces Roman der Eindruck der ‚Abenteuerzeit‘ in sämtlichen vierzehn Binnenerzählungen dominiert, wird in Schillers Umdichtung bei grundsätzlicher Beibehaltung der Liebes- und Abenteuermotivik die ‚biographische Zeit‘ in der Entwicklung des Hauptpaars in den Vordergrund gerückt. Dies wirkt sich auf die Zeichnung der beiden Liebenden, ihrer emotionalen und intellektuellen Reifung in immer wiederkehrenden Akten der Entsagung aus. Zudem ist die Mutterfigur in Schillers Version psychologischer gestaltet als in der Vorlage, wo sie in burlesker Überzeichnung als ‚liebestolle Alte‘ erscheint. Bei Schiller wird sie zur nachvollziehbaren Figur, deren selbstgeschaffene Tragik durch ihre unerwiderte und unbezwungene Leidenschaft vor dem Hintergrund von Standes- und Geschlechterzuweisungen konturiert wird. In Schillers Verarbeitung ist es daher auch nicht wichtig, ob die 75

Schiller (Anm. 1), Bl. 1r. Vgl. de la Force (Anm. 2), S. I/107. In Schillers Version bildet wohl ein misreading der Vorlage, dass der Herzog die französischen Truppen befehligt, während er dort die gegnerischen kaiserlichen Truppen anführt: „La Reine alloit continuer, quand le Roi entra & vint dire à la Régente que les troupes que commandoit le Connétable marchoient vers Milan.“ 76 Zur Erzählsituation siehe folgende Passagen: S. I/107–110: Marguerite beauftragt die Gräfin von Sancerre zu erzählen, verlässt selbst den Raum und will aufpassen, dass niemand hereintritt. Die Erzählung wird unterbrochen von S. I/262–281: Weitere Figuren treten ein, die von der Anwesenheit der Spanierinnen gehört haben, darunter Madame de Caumont und Prinzessin Renée. Diese fragt die Spanierinnen, an welcher Stelle der Erzählung sie seien, und sie antworten: „à la maison de campagne“ (S. I/263), d. h. in dem schönen Haus am Rande von Paris, in das sich Marguerite zurückgezogen hat, weil ihre Mutter den Herzog mit Leidenschaft, sie selbst mit Eifersucht verfolgt. Ein weiterer kurzer Einschub, in der die Erzählerin ihre Zuhörerinnen anspricht, erfolgt auf S. I/325.

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Episode historisch ist  – tatsächlich handelt es sich um Mythenbildung77  –, da sie den historische ‚Wahrheit‘ suggerierenden Roman de la Forces78 zu einem exemplarischen Einzelfall umformt. Strukturell näher ist sie damit dem Erzählmodell der Princesse de Montpensier von Lafayette. Inwiefern es hierzu beeindruckende Referenzen gibt, insbesondere über die Namen zentraler Figuren (Angehörige der Linien Montpensier/Bourbon bzw. Navarra zwei Generationen später, sozusagen), kann leider an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Ein ganz direkter Zusammenhang eröffnet sich indes zu Marguerites Heptaméron.

4. Für eine vollständige Erfassung des Umdichtungsvorgangs wären mit Sicherheit eine Reihe weiterer möglicher Quellen zu berücksichtigen, genannt seien hier die Histoire de François Premier von Varillas79 sowie eine Darstellung über Anne de Bretagne, die Gattin Ludwigs des XII. (und Nebenfigur bei de la Force und Schiller im Kontext der Erziehung von Marguerite und François am französischen Hof).80 Mit Marguerite de Navarre als Autorin des Heptaméron kommt Schiller in den 1790er Jahren in Berührung, wie aus einem an sie gerichteten Brief von Charlotte von Stein hervorgeht. Offenbar wurde die Ausgabe aus dem Besitz der Weimarer Herzogin zwischen Charlottes Schwester Caroline (zu der Zeit noch verheiratete von Beulwitz) und Wilhelm von Humboldt herumgereicht: Hier schick ich Ihnen liebe Lolo die Erzählungen von der Königin von Navarra, welche ich bitte der Frau von Beulwitz zu geben die sie Herrn von Humbold mittheilen kan, den so viel ich von ihr verstanden, ist es das Buch welches er ohnlängst wie Sie mir schrieben zu haben wünschte; Da es nach der Geschichte eine sehr decente Dame geschrieben hat, und ich es auch aus der Bib77

Die mutmaßliche Dreiecksbeziehung wird in Biographien als solche behandelt. Zur Kritik an der Mythenbildung vgl. Febvre (Anm. 4), S. 177. Cholakian/Cholakian (Anm. 4), S. 84f., gehen auf die historische Rolle und den Aufstieg des Herzogs ein, insofern dieser als Charles de Montpensier an den Hof kommt und über die Heirat mit Suzanne de Bourbon zum Herzog ernannt wird. Nach deren Tod versucht Louise d’Angoulême als nächste Verwandte von Suzanne, Anspruch auf seinen Besitz zu erheben. Dabei fällt auch ein Hinweis darauf, dass sie sich selbst gerne mit ihm vermählt hätte. 78 Vgl. de la Force (Anm. 2), Bände V und VI. (Vgl. hierzu Anm. 47). 79 Vgl. Varrillas: Histoire de François Premier. Bd. 1, Paris 1685. 80 [O. V.]: Anne de Bretagne ou l’amour sans foiblesse. In: Bibliotheque de Campagne ou amusemens de l’esprit et du coeur. Nouvelle Edition rectifié & augmentée. Bd. 13, Genf 1761, S. 5–116. Dieselbe Anthologie enthält auch die französische Vorlage bzw. die zweite Auflage der Erzählung Le Batard de Navarre von Préchac, die die Vorlage zu Charlotte Schillers Der Bastard von Navarra (GSA 83/1640) bildet. Erwähnt findet sich die Sammlung Bibliotheque de Campagne in einem Brief von Charlotte von Stein an Charlotte Schiller vom 4. Juli 1795: „Die bibliotheque de Campagne ist hier nirgends als beym Wieland zu haben, und der verleiht keine Bücher mehr weil man ihn gar zu viel drum gebracht hat.“ In: GSA 83/1756,3 (Kursivierung indiziert lateinische Handschrift im Original). Vgl. hierzu: Pailer (Anm. 1), S. 110f.

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liothek einer sehr decenten Dame, unßrer Herzogin Louise, geliehen habe; wird ja wohl niemand in ihrem kleinen cirkel ein Ärgerniß dran nehmen.81

Eine intertextuelle Beziehung von Schillers Königinn von Navarra zu Marguerites Nouvelle Dixiesme des Heptaméron, wie ich sie im Folgenden anreißen will, ist also mehr als naheliegend. Wie das Heptaméron als Ganzes durch Boccaccios Decameron inspiriert ist,82 lässt sich ebenso ein Bezug auf die (von Bachorski als Parodie des Erzählmusters des Liebes- und Abenteuerromans identifizierte)83 Alathiel-Geschichte in der zehnten Novelle erkennen. Boccaccio erzählt zunächst episch breit die Geschichte, wie sie sich ereignet:84 Nach dem initialen Schiffbruch, den Alathiel als einzige überlebt, weil sie sich, anders als die Mannschaft, nicht vom sinkenden Schiff in die Fluten zu retten versucht, folgt auf eine erste stark emotionale Reaktion der Verzweiflungstränen kontrapunktischer Lustgewinn durch sexuelle Initiation, nach der sie durch die Hände einer Reihe von Ehemännern wandert. Abschließend präsentiert sie, beraten von ihrem Retter, die Geschichte, wie sie hätte ablaufen sollen, indem sie ihren Aufenthalt im Kloster als Schutzraum ihrer Tugend bis zur wundersam unbefleckten Rückkehr vorschiebt. Obschon weniger burlesk als Boccaccios Alathiel-Geschichte, ist Marguerites zehnte Novelle ebenfalls als Kontrafaktur des antiken Liebes- und Abenteuerromans lesbar. Bereits mit dem diskursiven Rahmen des Heptaméron setzt sie einen anderen Akzent, indem ihre Figuren darauf bestehen, sich gegenseitig nur Wahres zu erzählen.85 Wie in der Forschung vielfältig betont, eröffnet sich dadurch eine vollständig abweichende Semantik von Gewalt und Geschlecht im realgesellschaftlichen Bezug.86 Doch zum Handlungskern: Florinde ist die Tochter einer verwitweten Dame von Hochadel, ihr Bruder dient als hoher Offizier in der königlichen Armee. Der junge Ritter Amadour verliebt sich in die erst Zwölfjährige und setzt alles daran, ihre Zuneigung zu gewinnen. Über jeweils mehrjährige Perioden wird er von ihr getrennt, erwirbt sich Heldenruhm, reist zur See, wird 81

Charlotte von Stein an Charlotte Schiller, 30. August 1794. In: GSA 83/1856,2. Wichtige romanistische Arbeiten zur Gattungsentwicklung mit Blick auf die Filiation von Boccaccio zu Marguerite de Navarre auch im Kontext der modernen deutschsprachigen Novellistik sind: Walter Pabst: Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen, Hamburg 1953; Peter Brockmeier: Lust und Herrschaft. Studien über gesellschaftliche Aspekte der Novellistik: Boccaccio, Sacchetti, Margarete von Navarra, Cervantes, Stuttgart 1972; Hans-Jörg Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1969; Hans Sckommodau: Die spätfeudale Novelle bei Margarete von Navarra, Wiesbaden 1977; Hermann H. Wetzel: Die romanische Novelle bis Cervantes, Stuttgart 1977 (Sammlung Metzler 162); Winfried Wehle: Novellenerzählen. Französische Renaissance-Novellistik als Diskurs, München 1984; Blüher (Anm. 23). Eine Perspektive aus dem anglo-amerikanischen Zusammenhang stammt von: Yvonne Rodax: The Real and the Ideal in the Novella of Italy, France and England. Four Centuries of Change in the Boccaccian Tale, Chapel Hill, N.C. 1968. 83 Vgl. Anm. 12 u. 22. 84 Giovanni Boccaccio: Decameron. Introduzione die Mario Marti. Note di Elena Ceva Valla. Con le xilografie dell’edizione Veneziana del 1492, Milano 2001. 85 Vgl. Cazauran (Anm. 4), S. 28–38. 86 So die grundlegende These von Cholakian (Anm. 4). 82

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schiffbrüchig und gerät in orientalische Gefangenschaft. Sobald er zurückkehrt, heiratet er die Dame, die als Gouvernante für Florinde eingesetzt ist, um so bei jeder Rückkehr in ihrer Nähe sein zu können. Während seiner Absenz wird Florinde schließlich einem Adeligen vermählt (indessen nicht demjenigen, den sie selber heimlich begehrt), so dass nach Amadours neuerlicher Rückkehr Florinde nur eine platonische Liebe in Aussicht stellen kann. Als sie durchschaut, dass er es auf eine handfeste sexuelle Beziehung abgesehen hat, zerstört sie ihre Schönheit, indem sie mit einem Stein auf ihr Gesicht einschlägt. Am Ende geht sie ins Kloster. Amadour, der ihren Gatten und Bruder in einer Schlacht rettet, nimmt sich das Leben. Anders als Boccaccios Alathiel-Figur, deren Leiden schnell durch den ihr mehr oder minder gewaltsam zugefügten ‚Lustgewinn‘ behoben wird, glaubt Marguerites Florinde an die Möglichkeit einer rein geistigen Beziehung zu Amadour, dem sie ja tatsächlich zugeneigt ist. In ihrer Naivität verkennt sie allerdings die kupplerische Unterstützung, die Amadour von Seiten ihrer Mutter erhält, ebenso wie die Wirkung ihrer Schönheit, durch die sie der Kontrolle über das Begehren Amadours beraubt ist. Während Boccaccios Protagonistin sich durch schlauen Rat, ihrem Vater nicht die wahre Geschichte zu erzählen, rettet und sozusagen in den Ausgangszustand der Unschuld und ‚Mannbarkeit‘ zurückversetzt, verändert Florinde die Disposition ihres weiblichen Äußeren zu ihrem inneren Selbst, indem sie ihr schönes Antlitz entstellt und sich der Verfügbarkeit für männliches Begehren durch den Klostergang entzieht.87 Cholakian deutet die Erzählung vor biographischem Hintergrund. Die Figur des Amadour identifiziert sie dabei als den französischen Offizier Bonnivet, welcher der historischen Marguerite nachgestellt habe.88 Charlotte Schiller dagegen, so jedenfalls meine These, identifiziert ihn als den Herzog von Bourbon. In ihrer Königinn von Navarra präsentiert sie eine Lektüre der zehnten Novelle des Heptaméron als Schlüsselerzählung, bezogen auf die Dreieckskonstellation aus Margarete, deren Mutter Louise von Angoulême sowie dem Herzog: Hier wie dort finden wir eine Familienkonstellation aus verwitweter Mutter von Hochadel mit Tochter und Sohn. Ähnlich wie Florinde den Heiratsplänen ihrer Mutter folgt, obwohl sie heimlich einen anderen liebt, lässt sich Margerete mit dem Herzog von Alençon vermählen. In der Entwicklung seiner heroischen Karriere lässt sich Amadour durchaus mit Bourbon parallelisieren. Beide sind zu Beginn in zu niedrigem Rang, um als Brautwerber akzeptabel zu sein; während die eigentlich Angehörigen des Hochadels versprochenen Frauen (Florinde macht sich Hoffnungen auf den Infante de la Fortune; Margarete hat Aussichten auf Kaiser Carl V.) in perfider Ironie mit Männern verheiratet werden, die keinesfalls höher im Rang sind als die eigentlich Liebenden. Haupt­ 87

Typisch ist diese Motivik etwa für den Magelonen- und Apollonius-Stoff. Vgl. Cholakian (Anm. 4), insbesondere Kap. 7: From Fact to Fiction. Noch stärker elaboriert ist die biographische Deutung auf Bonnivet in Cholakian/Cholakian (wie Anm. 3), Kap. 1. Bonnivet erscheint als Nebenfigur bei de la Force und Schiller, und zwar als Hauptkontrahent Bourbons. Auch Febvre (Anm. 4), S. 232f., der überhaupt schon vergleichsweise früh die biographischen und realgeschichtlichen Bezüge des Heptaméron in den Blick nimmt und seine Untersuchung auf die zehnte Novelle fokussiert, bezieht die Figur des Amadour auf Bonnivet.

88

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unterschied bildet, dass Amadour das Versprechen platonischer Liebe nicht durchhält, während Bourbon im Laufe der Handlung Entsagung und den kurzen platonischen Liebesabend mit Margarete als höchstes Gut schätzen lernt, sowie dass Florinde sich selbst verstümmelt und ins Kloster geht, während Margarete über Krankheitsfälle innerlich reift und zur Begründerin einer Herrscherdynastie wird. Auf Seite der männlichen Helden ist interessant, dass beide in großen und entscheidenden Schlachten ihr Leben – unter anderem für den Bruder der Geliebten – lassen. In einem weiteren Analyseschritt lässt sich diese von Schiller literarisierte ‚Relektüre‘ der zehnten Novelle zu ihrer eigenen Position als Autorin im familialen und gesellschaftlichen Umfeld in aufschlussreiche Beziehung setzen. Der einzige Hinweis auf die Romanvorlage von de la Force findet sich in einem Brief an Karl Ludwig von Knebel vom 14. August 1816. Schiller sendet ihm das Werk zurück und erwähnt, dass die Lektüre sie selbst, ihre Schwester Caroline (mittlerweile verheiratete von Wolzogen) und Mutter (Luise von Lengefeld) erfreut habe: Ich sende Ihnen hier die ‚Reine de Navarre‘ mit herzlichem Dank wieder. Sie hat meine Mutter und Schwester wie mich erfreut. Es ist so ein Leben darin, daß man glaubt die Gestalten zu erblicken und die Begebenheiten zu theilen.89

Der Hinweis auf den herumgereichten, möglicherweise im geselligen Kreis gemeinsam gelesenen Roman gibt Anlass, ihre novellistische Umdichtung auf die Konstellation der drei Frauen zu beziehen. Rückt man gedanklich die verwitwete Luise von Lengefeld an die Stelle der Louise von Angoulême, so lassen sich die Rollen von Margarete und Gräfin Sancerre auf Caroline und Charlotte übertragen. Drei Textstellen scheinen mir dafür signifikant. Erstens, als Sancerre vom initialen Auftritt des Herzogs von Bourbon (bzw. Grafen von Montpensier) berichtet, betont sie – diskrepant zur Vorlage – dass alle drei, Mutter, Margarete und sie selbst von ihm hingerissen gewesen seien. Der letzte Satz fehlt im franzö­ sischen Roman: Und als er bey einem Turnier als ein Unbekannter in Pracht voller Rüstung erschien, und die Preise erhielt in jeglicher Uebung die Kraft und Gewandheit nur erringen können, ward sein Bild noch tiefer ins Gemüth der beyden schönen Frauen geprägt. Die Augen, wie die Herzen wusste der Fremdling zu feßeln. Wir drey, denn auch ich muß mich freymüthig unter die Besiegten rechnen wünschten ihn beständig Sieghaft zu erscheinen.90

Zweitens: Als Bourbon sich nach seiner heimlichen Rückkehr dem Kreis der Freunde zu erkennen gibt, ereignet sich dies in der Nähe eines Landsitzes, wo er in Begleitung eines Freundes zu Pferd heranreitet. Sancerre läuft, ihn erkennend, auf ihn zu und fällt ihm um den Hals: 89

Charlotte Schiller an Karl Ludwig von Knebel, Weimar, 14. August 1816. In: Briefe von Schiller’s Gattin an einen vertrauten Freund. Hrsg. von Heinrich Düntzer, Leipzig 1856, S. 292 (Hervorhebung im Original). 90 Schiller (Anm. 1), Bl. 1r.

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Gaby Pailer

Man erblickte von fern zwey Reiter in Mäntel verhüllt. Sie kamen näher, die Gräfin Sancerre stürzte aus dem Wagen, und fiel dem Einen davon der vom Pferd gestiegen, um den Hals mit dem ganzen Ausdruck des Gefühls. Es war der Herzog von Bourbon selbst.91

Diese Episode ist gegenüber der Vorlage stark intimisiert. Unmittelbar auf die Umarmung folgt das vertraute Gespräch zwischen Sancerre und Herzog, in dem er ihr die Intrige Carls V., durch die eine Heirat mit Margarete vereitelt wurde, enthüllt. Im Roman dagegen ist seine Ankunft durch das plötzliche Auftauchen Aphrigias am Ende des zweiten Bandes unterbrochen. Erst am Beginn des dritten Bandes löst sich auf, dass es sich bei dem Unbekannten um Bourbon handelt; die Rückblende der spanischen Ereignisse aus seiner Sicht vollzieht sich im Freundeskreis. Bezogen auf Schillers Biographie erinnert die Episode des Heranreitens zudem an den initialen Einritt Friedrich Schillers in Rudolstadt im Winter 1787, wie ihn Caroline von Wolzogen in Schiller’s Leben schildert: An einem trüben Novembertage im Jahr 1787 kamen zwei Reiter die Straße herunter. Sie waren in Mäntel eingehüllt; wir erkannten unseren Vetter Wilhelm von Wolzogen, der sich scherzend das halbe Gesicht mit dem Mantel verbarg; der andre Reiter war uns unbekannt und erregte unsre Neugier.92

Drittens: Am Ende der Königinn von Navarra erwähnt Charlotte Schiller kurz die verschiedenen glücklichen Hochzeiten, die gehalten wurden; den Katalog von de la Force reduziert sie auf drei Einträge: Prinzessin Renée und Hercule de Ferrara, Prinzessin Alphonsine und der Marquis de Guast; sowie Gräfin Sancerre, für die offen gelassen wird, wer ihr ehemals Geliebter ist, den sie nun endlich heiraten darf (im Roman ist es der Comte de la Rochefoucault): Drey Paare waren es, unter denen auch die Gräfin Sancerre einem treuen Geliebten am Altare die Hand gab. Er hatte sie schon vor ihrer Verbindung mit ihrem ersten Gemahl geliebt, und gab ein seltnes Beispiel der Treue, die er ihr so viele Jahre bewahrte.93

Die Auslassung des Namens, während andere Partner namentlich erwähnt werden, lädt zumindest zur Spekulation ein, dass es sich bei dem wahren und eigentlich Geliebten Sancerres um keinen anderen als den Herzog von Bourbon selbst handelt. Will man hinter dieser Heldengestalt Friedrich Schiller erkennen, um den beide Lengefeld-Schwestern seit der ersten Begegnung heftig werben, und der schließlich  – so jedenfalls die biographische Mythenbildung – die jüngere Charlotte heiratet, während er die (bereits verheiratete) Caroline insgeheim weiter liebt, so hätte Charlotte Schiller hier ihre eigene Position poetisch gestaltet: als Autorin an seiner Seite, die eine wesentlich innigere Beziehung mit ihm verbindet und die letztendlich den Vorteil hat, sein tagtägliches Schicksal teilen zu dürfen. Caroline dagegen, die zweimal aus dem Zwang der 91

Schiller (Anm. 1), Bl. 40r. Caroline von Wolzogen: Schiller’s Leben verfaßt aus Erinnerungen der Familie, seinen eignen Briefen und den Nachrichten seines Freundes Körner, Stuttgart, Tübingen 1830. Reprint. Hrsg. von Peter Boerner, Hildesheim 1990, S. I.236. Vgl. Pailer (Anm. 6), S. 59f. 93 Schiller (Anm. 1), Bl. 53v. 92

Liebe, Abenteuer und weibliche Autorschaft

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Verhältnisse, nicht aus Liebe, heiratet und sich Friedrich Schiller nicht als offiziellen Gatten sichern kann, teilt mit ihm allenfalls eine entsagungsreiche ‚Liebes- und Abenteuernovelle‘ à la Margarete und Bourbon. Bleibt nur noch zu erwägen, wer sich dann wohl hinter dem ungeliebten „ersten Gemahl“ der Gräfin Sancerre – alias Charlotte – verbergen mag. Recht schnell rückt ihr erster Mentor in den Blick, der sie in den 1780er Jahren hauptsächlich in Form von Korrespondenz umwirbt, und der regelrecht verstummt, als Friedrich Schiller auf den Plan tritt: der früh pensionierte Weimarer Hofrat Karl Ludwig von Knebel, dem Charlotte im August 1816, seit elf Jahren Schillers Witwe, den Roman von der ‚Reine de Navarre‘ mit Dank zurücksendet.

Raum und Erzählen

Annette Gerok-Reiter (Tübingen)

Raumverschaltungen als Erzählprinzip im Minneund Aventiureroman? Überlegungen zum Partonopier Konrads von Würzburg

1. Raum als Interpretament im Minne- und Aventiureroman Der ,Minne- und Aventiureroman‘ stellt als Gattung eine hybride Gemengelage dar.1 Trotz oder gerade wegen dieser Ausgangssituation hat die Forschung wiederholt Vorschläge gemacht, inwiefern dieses hybride Textkonglomerat bei aller Heterogenität doch zu kategorisieren sei. Hierbei sind vor allem drei Ansätze in Anschlag gebracht worden: der Zugang über die Handlungsstruktur auf der Ebene der histoire, die Analyse der Korrelation einzelner Erzählelemente, die die histoire ausdifferenzieren, sowie – auf der Ebene der Figuren – die Fokussierung von deren spezifischer Raum- und Zeit­ erfahrung. Bei allen drei Ansätzen spielt die Kategorie des Raums eine entscheidende Rolle. 1

In der Forschung herrscht weitgehend Konsens darüber, dass der Terminus ,Minne- und Aventiureroman‘ als Gattungsbeschreibung lediglich eine „Verlegenheitslösung“ bietet, so Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: Reinfried von Braunschweig, Wilhelm von Österreich, Friedrich von Schwaben, Berlin/New York 1998 (Q & F 12 [246]), S. 1; vgl. auch Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens  – Partonopier und Meliur  – Wilhelm von Österreich. Die schöne Magelone, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161), hier S.  15–19: Subsumiert werde unter diesem Begriff das, was nicht Artus- oder Antikenroman, nicht Heldenepik oder Brautwerbungsepik ist, ein „übrig­gebliebener Rest, der sich den gängigen Klassifizierungen entzieht“ (S. 16). Die Schwierigkeit erhöht sich dadurch, dass dieser ,übriggebliebene Rest‘ zugleich an anderen Gattungen deutlich partizipiert. D. h., es werden innerhalb des ,Minne- und Aventiureromans‘ Gattungselemente des arthurischen Romans, der Chansons de geste, der Legende, der Mahrtenehenerzählung etc. mit neuen Strukturen, Motiven und Erzählsequenzen in einer „Poetik des Hybriden“ (Schulz) kombiniert und amalgamiert. In Bezug auf den Partonopier spricht insbesondere Matthias Meyer von einer „Gemengelage“; Matthias Meyer: Wilde Fee und handzahmer Herrscher. Ritterliche und herrscherliche Identitätsbildung in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur. In: Die Welt der Feen im Mittelalter. Le monde des Fées dans la culture mediévale. 2. Tagung auf dem Mont Saint-Michel. 2me congrès au Mont Saint-Michel (Mont Saint-Michel, 31. octobre – 1er novembre 1994). Hrsg. von Danielle Buschinger/Wolfgang Spiewok, Greifswald 1994 (Wodan 47), S. 109– 124, hier S. 123. Vgl. zur Gattungskonstitution auch die Überlegungen von Christine Putzo, in diesem Band S. 41–70.

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Annette Gerok-Reiter

Der erste Ansatz verweist in Bezug auf die Handlungsstruktur in der Regel auf die Grundkonstellation des hellenistischen Liebesromans: Dieser konstituiert sich über den Dreischritt von Begegnung, Trennung und Wiederbegegnung der Partner,2 also über ein Handlungsmuster, das sich exponiert über die Abfolge von Nähe und Distanz im diachronen Erzählverlauf. Diese Grundkonstellation des hellenistischen Romans hat insbesondere Armin Schulz in Hinblick auf den mittelalterlichen Minne- und Aventiureroman weiter zu bestimmen versucht. Er geht – repräsentativ für den zweiten Ansatz – von den „relevanten Haupträumen der Handlung“ aus,3 dem Herkunftsraum des Protagonisten und dem Zielraum der Herrschaft im Bereich der Partnerin. Diese bilden die zwei grundlegenden semantischen Räume, deren Grenzüberschreitung das Sujet des Minne- und Aventiureromans im Lotmann’schen Sinne darstelle.4 Zugleich jedoch würde dieses Sujet durch weitere „Ereignisse“ und „partikuläre Grenzüberschreitungen“ ausdifferenziert.5 Dabei fasst Schulz die Ausdifferenzierungen in einer „Reihe von paradigmatisch besetzten Erzählelementen“,6 von denen ein Großteil wiederum räumlich markiert ist, etwa: „E 2: Räumliche Vermittlung: Der Held wird durch eine Nachricht oder Aktion, die aus dem Zielbereich stammt, dazu veranlaßt, sich dorthin zu begeben. […]“ Oder: „E 3: Ankunft im Zielbereich: Der Held gelangt in das Land der Dame […]“. Oder „E 4: Begegnung mit der Dame: Der Held begegnet der Dame […]“.7

Neben der „gesellschaftliche[n] Determination“ gehe es auch hier, wie Schulz ausdrücklich hervorhebt, „vor allem um die räumliche Organisation des Geschehens“.8 Als „Haupträume der Handlung“ werden auf dieser Ebene  – zumindest in Bezug auf diejenigen Romane, die nicht von einer bereits legitimierten Eheverbindung ausgehen, sondern als Ausgangspunkt eine heimliche, meist illegitime Liebesbeziehung ansetzen9 – 2

Schulz (Anm. 1), S. 15. Vgl. auch Werner Röcke: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens/Ulrich Müller, Stuttgart 1984, S. 395–423, hier S. 397; Ridder (Anm. 1), S. 4. Paradigmatisch für die spätantike Tradition ist die Erzählstruktur von Heliodors Aithiopika aus dem 3./4. Jh. 3 Schulz (Anm. 1), S. 46. 4 Vgl. dazu: Jurij Lotmann: Die Struktur literarischer Texte, München 41993, insbes. Kap. 8.2–8.4 (S. 311–347). 5 Schulz (Anm. 1), S. 45. 6 Schulz (Anm. 1), S. 45; Schulz erläutert hier auch den Begriff des Erzählelements: Auf der Ebene der histoire handelt es sich um „Handlungsbausteine“; sobald man auf eine höhere Abstraktionsebene wechselt, werden diese „Handlungsbausteine“ zu Elementen einer „umfassenden ,Struktur‘“ (S. 45, Anm. 2). 7 Schulz (Anm. 1), S. 51. 8 Schulz (Anm. 1), S. 50. 9 Schulz (Anm. 1), S. 17. Zu weiteren Untergruppen ebd., S. 17f. Vgl. auch Ridder (Anm. 1), S. 6f., der vor allem zwischen abenteuerlichen, legendenhaften und empfindsamen Minne- und Aventiureromanen differenziert (mit Forschungsreferat zu den Untergruppen S. 6, Anm. 26). Zum Kriterium der Kinderminne vgl. vor allem Dietrich Huschenbett: Partonopier und Meliur und die Minnedarstellung bei Konrad von Würzburg. In: JOWG 5 (1988/89), S. 341–350, hier S. 344.

Raumverschaltungen als Erzählprinzip im Minne- und Aventiureroman?

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„Heimlichkeit vs. Öffentlichkeit“ angesehen.10 Der Raum eines heimlichen und insofern ,privaten‘ Glücks steht zunächst einem dynastischen Herrschaftsraum mit oft konträren Ansprüchen gegenüber.11 Schließlich – so der dritte Ansatz – ist nach Michail Bachtin für die Protagonisten des hellenistischen Liebesromans, der in Form des „abenteuerlichen Prüfungsroman[s]“12 als wichtigster Vorläufer des mittelalterlichen Minne- und Aventiureromans gilt, eine spezifische Zeiterfahrung in Anschlag zu bringen, die mit einer ebenso spezifischen Raumerfahrung einher geht. Bachtin fasst die Zeit der Trennung des Paares, die Zeit der Prüfungen und Bewährungen, als ,Abenteuerzeit‘ im Gegensatz zur ,biographischen Zeit‘.13 Ebenso 10

Schulz (Anm. 1), S. 50. Dass sich die „Haupträume“ von ,Heimlichkeit‘ und ,Öffentlichkeit‘ nicht mit den zuerst genannten „Haupträumen“ des Herkunfts- und Zielraums decken (S. 46), wird von Schulz nicht weiter diskutiert. 11 Vgl. zum Grundkonflikt von Minne und Herrschaft resümierend Ridder (Anm. 1), S. 23–26. Die Begriffe ,privat‘ und ,öffentlich‘ nutze ich im Folgenden mit Vorbehalt; sie müssten, wie bereits Schulz (Anm. 1), S. 32, Anm. 20, hervorgehoben hat, historisiert werden. Es bieten sich danach zwei historisch differente Ansätze: ,Privat‘ ist zunächst als das zu begreifen, was nicht öffentlich ist, vgl. Rüdiger Brandt: Enklaven – Exklaven. Zur literarischen Darstellung von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit im Mittelalter. Interpretationen, Motiv- und Terminologiestudien, München 1993 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 15), S. 24. Als das ,Nicht-Öffentliche‘ ist das ,Private‘ in der mittelalterlichen Vorstellungswelt vorrangig negativ besetzt. Hieraus resultieren die Deutungen, die das Anfangsstadium der Minne von Partonopier und Meliur als defizient ansehen. Einen zweiten, grundlegenden Zugang bietet die Unterscheidung Hans Ulrich Gumbrechts zwischen „,Wer einer ist‘ (,privat‘)“ und dem „,Was einer ist‘ (,öffentlich‘)“: Hans Ulrich Gumbrecht: Die Identität des Heiligen als Produkt ihrer Infragestellung. In: Identität. Hrsg. von Odo Marquard/Karlheinz Stierle, München 1979 (PuH 8), S.  704–708, hier S.  704. Vgl. dazu auch Schulz (Anm. 1), S. 73. Dieser Ansatz verdankt sich jedoch bereits dem modernen Identitätsparadigma. Interessant ist demgegenüber zunächst, dass Melior im Partonopeu de Blois die heimliche Liebe zwischen sich und Partonopier amors privee (V. 1479ff.) nennt und damit „einen Raum intimer Vertrautheit außerhalb der Gesellschaft“ mit positiver Konnotation meint: Ingrid Kasten: Vorstellungen und Verstellungen. Zum Problem der Subjektivität im höfischen Roman. In: Sô wold ich in fröiden singen. Festschrift für Anthonius H. Touber zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Carla Dauven-van-Knippenberg/Helmut Birkhan. In: ABäG 43/44 (1995), S. 273–284, hier S. 278f. Entsprechend versteht Jutta Eming Heimlichkeit als „Absonderung“, die jedoch für Meliur einen „hohen Wert“ darstelle: Jutta Eming: Geliebte oder Gefährtin? Das Verhältnis von Feenwelt und Abenteuerwelt in Partonopier und Meliur. In: Buschinger/Spiewok (Anm. 1), S. 43–58, hier S. 54. Damit experimentiert der Partonopier offenbar mit einer Intimitätsvorstellung, die sich zwischen beiden Ansätzen ansiedelt. Auch Ridder (Anm. 1), S. 23–26, hebt in der Variante von „Minne und Herrschaft“ diesen Aspekt als typusspezifische Konfliktkonstellation hervor. 12 Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von Edward Kowalski/Michael Wegner. Aus dem Russischen übers. von Michael Dewey, Frankfurt a.  M. 1989 (Fischer Wissenschaft 7418), hier S.  10. Zur Produktivität der Bachtin’schen Kategorien für die mittelalterliche Literatur vgl. auch Ingrid Kasten: Bachtin und der höfische Roman. In: bickelwort und wildiu maere. Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dorothee Lindemann/Berndt Volkmann/Klaus-Peter Wegera, Göppingen 1995, S. 51–70. 13 Bachtin (Anm. 12), insbes. S. 9–38; vgl. auch Hans-Jürgen Bachorski: grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Abenteuerromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Fremderfahrung

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Annette Gerok-Reiter

stehen sich ,Alltagswelt‘ und ,Abenteuerwelt‘ gegenüber. Klaus Ridder etwa zählt diese Zeit- und Raumgegenüberstellung zu den „gattungshafte[n] Dominanten“ des Minne- und Aventiureromans.14 Alle drei Ansätze zusammen: Erst im Durchgang durch die Abenteuerwelt kann die illegitime, heimliche Verbindung sich als legitim erweisen, kann die Akzeptanz der Öffentlichkeit erreicht werden und der obligate Dreischritt gelingen. Die Überführung der illegitimen Verbindung, die dem heimlich-privaten Raum zuzuordnen ist, in die legitimierte Herrschaftsehe, die den dynastischen Ansprüchen im öffentlichen Raum über den Durchgang durch die Abenteuerwelt Genüge leistet, erweist sich von hier aus als zentrales Thema, so der Konsens der Forschung. Minnequalität und Geltungsraum werden dabei in engster Relation gesehen. So sehr die selbstverständliche Engführung von Minnethematik und Raumkriterium und ihre gemeinsame Transformation im Romanverlauf überzeugt, so sehr überdeckt ebendiese Engführung eine grundsätzliche konzeptuelle Unklarheit, die  – so meine These  – durch eine Fokussierung der zentralen Raumthematik deutlicher als bisher zutage treten kann. Denn vom Raumaspekt aus ist präzisierend zu fragen, worin die Überführung des einen, des illegitimen, privaten Raums der anfänglichen Minne in den anderen, den öffentlichen, legitimen der dynastischen Herrschaftsminne denn, genau besehen, besteht: Geht es um Raumausdehnung, d. h., der ,private‘ Raum nimmt gleichsam den ,öffentlichen‘ Raum in Besitz? Geht es um Raumintegration, bei der sich der ,private‘ Raum in den ,öffentlichen‘ einordnet? Oder geht es um eine Raumsubstitution, bei der der ,private‘ Raum durch den ,öffentlichen‘ restlos ersetzt wird? Und was heißt dies wiederum, wenn man die jeweiligen Räume nicht nur mit der Legitimation oder Nicht-Legitimation des Minnepaares verbindet, sondern mit spezifischen Minnequalitäten, die mit der jeweiligen Art des zugestandenen Raums korrespondieren. Bleibt etwa mit dem ,privaten‘ Raum auch etwas von der mit ihm verbundenen spezifischen Minnequalität übrig oder ist dieser erste Raum mitsamt seinem Minnekonzept rein defizitär gekennzeichnet, so dass eine radikale Loslösung von ihm als Notwendigkeit zu sehen ist? Was aber würde dann in „öffentliche Akzeptanz“15 überführt, wenn das eigentliche Skandalon, der ,private‘ in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Günter Berger/Stephan Kohl, Trier 1993 (LIR 7), S. 59–86, hier S. 64–66. 14 Ridder (Anm. 1), S. 1 und 5. Schulz (Anm. 1) verweist zwar einerseits auf die grundlegende Korrelation zwischen hellenistischem Roman und mittelalterlichem Minne- und Aventiureroman: „Als ,Abenteuerzeit‘ wäre hier wie dort die Phase der Trennung der Liebenden zu begreifen“ (S.  74). Andererseits hebt er aber ebenso die Divergenzen hervor. So führt er aus, dass der Minne- und Abenteuerroman auch an die Chronotopoi des ,abenteuerlichen Alltagsromans‘ sowie der ,antiken Biographie und Autobiographie‘ anknüpfe (S. 32); zudem erläutert er in Bezug auf die Rolle des Zufalls, die Bedeutung öffentlicher Identität sowie die Veränderbarkeit des Helden, dass deutlich andere Schwerpunktsetzungen im Minne- und Aventiureroman vorgenommen würden (S. 31f. und S. 74f.). Was Bachtin (Anm. 12) in seinem Kapitel „Ritterroman“ (insbes. S. 84–89) verhandelt, den er gattungsmäßig jedoch unspezifisch fasst, weicht von den Vorgaben des hellenistischen Romans vor allem dadurch ab, dass nun die gesamte Handlung durch die „wunderbare Welt, in der die Zeit des Abenteuers herrscht“ (S. 87) geprägt ist. 15 Schulz (Anm. 1), S. 50.

Raumverschaltungen als Erzählprinzip im Minne- und Aventiureroman?

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Minneanspruch und sein Raum, gänzlich abundant geworden wäre,16 wenn das „alte“ Ich „symbolisch getötet“17 würde? Der Frage danach, wie die Überführung des ,privaten‘ Raums in einen Raum der Öffentlichkeit narrativ inszeniert wird und welchen thematischen Gewinn bzw. Verlust ebendiese spezifische Art der Inszenierung mit sich bringt, möchte ich im Folgenden nachgehen – und dies anhand des Partonopier Konrads von Würzburg. Denn eben hier erscheint die Frage, wie viel vom ,privaten‘ Raum und seinem Minneanspruch denn im Prinzip im öffentlichen Raum der Herrschaftsehe noch erhalten bleibt, in besonderer Weise virulent. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass der Raum der ,privaten‘ Minnebindung im Partonopier nicht nur durch die topische Heimlichkeit gekennzeichnet ist, sondern auf der Basis der Mahrtenehenerzählungen in der Anderwelt18 eines Feenreichs situiert wird. Damit wechselt der Protagonist nicht nur, wie sonst üblich, von seinem anfänglichen Herkunftsbereich in einen unter Machtaspekten erweiterten, insgesamt jedoch ähnlichen Herrschaftsraum, sondern es wird ein grundsätzlicher qualitativer Sprung bereits mit dem ersten Schritt des ,Sich-Begegnens‘ insinuiert. Dieser Sonderstatus sprengt den Topos der ,Kinderminne‘ und kann daher auch nicht mehr mit Hilfe dieses Topos marginalisiert, d. h. als notwendig defizient19 oder umgekehrt als naturhaft und deshalb 16

Dieser Widerspruch zeigt sich selbst bei Schulz (Anm. 1), dem die Forschung zum Minne- und Aventiureroman so außerordentlich viel verdankt. So spricht Schulz einerseits davon, dass die ,Krise‘ im Minne- und Aventiureroman überwunden wird, „indem die ,öffentliche Identität‘ der Helden wiederhergestellt wird und mit der ,privaten‘ zur Deckung gebracht wird“ (S. 73, entsprechend S. 75), andererseits betont Schulz, dass es beim männlichen Protagonisten um ein „rasches proficere“ gehe, d.  h. um „ein Zurücklassen […] inadäquater Altersstufen“ (S.  75) und ebendies impliziert: „Das alte Ich wird symbolisch getötet, bevor der Held in einen neuen sozialen Zustand übergehen kann“ (S. 75). Entsprechend heißt es bei Meyer (Anm. 11) einerseits, am Ende sei eine „Balance zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen personaler und rollenspezifischer Identität“ (S. 121) erreicht, andererseits jedoch, man habe es mit einem Weg „aus der Privatheit in die Öffentlichkeit, aus der personalen in eine Rollenidentität zu tun“ (S. 121). Der Partonopier werde zu einem „Anti-Feen-Roman mit didaktischem Anspruch“ (S. 124). Demgegenüber betont Eming (Anm. 11) zwar, dass es im Partonopier zentral darum ginge, einen Reflexionsraum der Minne für beide Partner zu entwerfen, da jedoch dieser Reflexionsraum im ersten Teil auf der Basis des Feen­märchens nicht möglich sei, das Beziehungsmodell des Feenmärchens eben deshalb „scheitert“ (S. 57), komme es zur Überführung des Beziehungsmodells des Feenmärchens in das des Liebesund Reiseromans (S. 58). 17 Schulz (Anm. 1), S. 75. 18 Unter Anderwelt wird hier eine qualitativ jenseits der diesseitigen Welt gelegene Welt, jedoch kein Jenseitsreich im engeren Sinn verstanden: Annette Gerok-Reiter: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik, Tübingen/Basel 2006 (Bibliotheca Germanica), S. 256f. Zum Vergleich siehe: Maximilian Benz/Julia Weitbrecht: Die Formierung des Jenseits als Bewegungsraum in Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters (Paulus-Apokalypse, Visio Pauli, Visio Tnugdali). In: Mittellateinisches Jahrbuch 46 (2011), S. 229–243. 19 Mit unterschiedlichen Argumenten etwa: Gisela Werner: Studien zu Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, Bern [u. a.] 1977 (Sprache und Dichtung NF 26), S. 167f.; Michael Dallapiazza: Frou minne wunnebaerer solt. Höfische Minne, Eheliebe und der neue Held in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur. In: JOWG 5 (1988/89), S. 351–359, hier S. 355–358; Huschenbett (Anm. 9), S. 342; Ulrich Wyss: Partonopier und die ritterliche Mythologie. In: JOWG 5 (1988/1989), S. 361–372, hier S. 365; Meyer (Anm. 1), S. 120; Anne Wawer: Tabuisierte Liebe.

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zu legitimieren20 festgeschrieben werden. Die Begegnung von Meliur und Partonopier wird vielmehr von vornherein durch ihre räumliche Verortung in der Anderwelt qualitativ hypostasiert. Die Leitfrage der folgenden Überlegungen ist daher zum einen, worin die spezifische Qualität des anderweltlichen Raums und seines Positivierungspotentials besteht (Teil 2), zum anderen, ob sich diese spezifische Qualität in den Herrschaftsraum der öffentlichen Anerkennung trotz der Rationalisierungsstrategien, die gerade die Figur Meliur betreffen, hinüberretten lässt (Teil 3 und 4).21

2. Die Anderwelt: Der Möglichkeitsraum und sein Anspruch Meliurs Anderwelt ist durch zwei räumliche Schwerpunkte markiert: die Kemenatenszene sowie die Turmschau-Episode. Zunächst muss Partonopier seine Alltagswelt in radikaler Weise hinter sich lassen, um in die ,neue‘ Welt zu gelangen. Indiziert wird das Neue und Andere dieser Welt durch die Negation der vorherigen sozialen Lebensräume. Die Negation äußert sich im Verlust der Herkunftsgesellschaft und des damit verbundenen sozialen Rahmens (Trennung von der königlichen Jagdgesellschaft), im Verlust des kulturellen Zusammenhangs (Herumirren im Wald), im Verlust der personalen Integrität (Angstszenerien). Erst diese tabula-rasa-Situation schafft die Leerfläche, um von hier Mythische Erzählschemata in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur und im Friedrich von Schwaben, Köln u. a. 2000, S. 97. 20 Vgl. hierzu: Huschenbett (Anm. 9), S. 348; Dieter Huschenbett: Ehe statt Minne? Zur Tradition des Minne-Romans in Mittelalter und Neuzeit. In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters, Bristoler Kolloquium 1993. Hrsg. von Kurt Gärtner/Ingrid Kasten/Frank Shaw, Tübingen 1996, S. 189–203, hier S. 192f., Anm. 9. 21 Übergreifend verwende ich im Folgenden den Begriff der ,Lokalität‘ oder – vor allem in standardisierten Zusammensetzungen – den Begriff des ,Raums‘: ,Repräsentationsraum‘, ,Erfahrungsraum‘, ,Wahrnehmungsraum‘ etc. Kommt es auf eine begriffliche Differenzierung dezidiert an, spreche ich in der folgenden Analyse von ,Orten‘, wenn es sich um topographische Fixpunkte handelt, d. h. in der Terminologie von Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007, um geographisch kartierte oder konkret indizierte Orte, aber auch fiktional entworfene „Merkorte“ (insbes. S. 43–63, Zitat S. 50), seien dies ,Konstantinopel‘ oder ,Schiefdeire‘, seien dies eindeutig zentrierte ,Stellen‘, ein Turm etwa, die Kemenate, der Burghof, das Kampffeld. Von ,Raum‘ im emphatischen Sinn spreche ich dagegen gemäß der Definition Michel de Certeaus: Kunst des Handelns, übers. von Ronald Vouillé, Berlin 1988, S. 218: „Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht“. Betont wird hier der performative Charakter der räumlichen Struktur, die nicht vorliegt, sondern durch die Handlung und ihre Notwendigkeiten erst entsteht, bis hin zu den „biegsamen Landschaften“ oder „Sproßräumen“, die Störmer-Caysa als Eigenart der Raumgestaltung des mittelhochdeutschen Romans beschrieben hat (insbes. S. 63–75; resümierend: S. 75f.). ,Ort‘ und ,Raum‘ sind somit im Sinn einer differenzierenden Begrifflichkeit kategorial geschieden, dennoch gibt es in der narrativen Entfaltung zahlreiche Interferenzen: Orte können Ausgangspunkt oder Bestandteil einer Raumdarstellung sein, Räume können sich in Orte verwandeln. Entscheidend ist die jeweilige narrative Konzeption und Funktion der Lokalitätsbeschreibung, die sowohl in eine Ortsbeschreibung als auch in eine Raumbeschreibung münden kann.

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aus den neuen Erfahrungsanspruch der Anderwelt konstituieren zu können.22 Dies muss hervorgehoben werden, da Meliurs Welt sich aufgrund ihrer örtlichen Markierungen keineswegs kategorial von der Alltagswelt unterscheidet: Auch in ihr gibt es einen Strand, eine Stadt mit Gassen und Häusern, eine Burg: Orte, die zwar durch Einsamkeit ebenso wie durch ihre Pracht befremden und als Befremdendes faszinieren, letztlich jedoch zum Beschreibungsrepertoire höfischen Lebensraums gehören. Dass Partonopier in einen neuen und andersartigen Erfahrungsraum gerät, wird somit primär durch Partonopiers Fort-Bewegung aus seinem vertrauten Kontext markiert, d.  h. durch eine Technik der Konturierung des Neuen qua Negation des Vorausgegangenen. Fortgesetzt und gesteigert findet sich die Technik der Raumkonstitution durch Negation in der Begegnungsszene mit Meliur. Zwar arbeitet der Text zunächst mit örtlichen Hinweisen: das Schloss, das Speisezimmer mit Tisch und Stuhl, ein Kamin, die Kemenate mit Bett, Schemel und Phönixteppich. Die lokale Verortung beginnt jedoch spätestens in dem Moment zu diffundieren, als die Kerzen aus der Kemenate verschwinden. Denn parallel zum Geschehen auf der Ebene der histoire verschwindet auch ein auktorialer Erzähler, der trotz Dunkelheit die Lokalität beschreiben könnte. Vielmehr bleiben von nun an alle visuellen Hinweise zur lokalen Konstituierung ausgespart, was zugleich die Möglichkeit höfischer Raumrepräsentation, die vorrangig über visuelle Attribute erfolgt, unterminiert; und dies schließt mit ein, dass auch – als letzter Baustein auf dem Weg der Negation höfischer Repräsentation – das Kriterium der Schönheit als Identitätsmerkmal des adligen höfischen Körpers23 auf Figurenebene ,ausgeschaltet‘ wird.24 Was entsteht, ist ein örtlich konturloser Raum, der stattdessen über die sinnliche Erfahrung des ZuHörenden und Zu-Ertastenden seine spezifische Dimension erhält. Während die visuell markierte Lokalität – insbesondere höfischer Repräsentation – sich im Gegenüber von wahrnehmendem Subjekt und wahrzunehmendem Objekt im Ansatz intentional-urteilend konstituiert, scheint es nun um ein Fluidum rein sinnlicher Wechselwahrnehmungen zu gehen, deren primäres Medium bezeichnenderweise der Gehörsinn ist, der gleichsam wahllos perzipiert, nicht – wie das Auge – selektiv fokussiert. So hört Partonopier Meliur zunächst kommen, es entwickelt sich im Folgenden als erste Kontaktaufnahme im Dunkeln ein heftiges Streitgespräch, dieses mündet in Schweigen, Seufzen und schließlich in ein neues ,Hören‘, das Sprache nicht nach dem Inhalt, sondern nach seiner Klangqualität wahrnimmt und von hier aus zur Reflexion stimuliert: 22

Dazu ausführlich Gerok-Reiter (Anm. 18), S. 256–274; zur Bedeutung der Angst für Partonopier: Annette Gerok-Reiter: Die Angst des Helden und die Angst des Hörers. Stationen einer Umbewertung in mittelhochdeutscher Literatur. In: Angst und Schrecken im Mittelalter. Ursachen, Funktionen, Bewältigungsstrategien in interdisziplinärer Sicht. Hrsg. von Annette Gerok-Reiter/Sabine Obermeier, Berlin 2007 (Zeitschrift des Mediävistenverbandes 12), S. 127–143, hier S. 139–142. 23 Zum ,höfischen Körper‘, insbes. zu dessen Ideologie in Bezug auf varwe, glanz und gebaerde vgl. Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008 (MTU 135), insbes. Kap. III.4, S. 236–254. 24 Gerok-Reiter (Anm. 18), S. 268f. Auf diese Transformation des Sichtbaren könnte eventuell auch das Detail des Teppichs, den ein Phönixmotiv ziert, verweisen. Für die Diskussion über diesen Punkt danke ich Corinna Sauter.

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swie vaste ir zürnet wider mich, sô dunket iuwer sprâche doch mîn herze unmâzen süeze noch, wan si nâch wunsche erhillet: si dœnet unde schillet durch daz ôre in den gedanc vil baz denn aller harpfen klanc, den Orfêus brâhte für.25 (V. 1598–1605) Wie sehr Ihr auch Euren Zorn gegen mich richtet, so scheint meinem Herzen doch Eure Sprache ungeheuer süß, denn sie erklingt in vollkommener Weise: Sie tönt und schallt durch das Ohr in die Gedanken hinein, weit besser als aller Harfenklang, den Orpheus hervorbrachte.

Was sich hier zeigt, ist über die Ausschaltung visueller Ortsmarkierungen, ja schließlich sogar über die Ausschaltung von rational zu erfassender Semantik ein beweglicher Raum des Spürens und Hörens, ein Raum, der sich allein über erotisch-taktile Attraktion und akustische Klangsignale unmâzen süeze aufspannt, ein Raum, der somit nur über die nicht visuellen und d. h. nicht objektivierbaren Erfahrungsreize der Protagonisten entsteht und umgekehrt die Protagonisten auf nichts als ihre personale Erfahrung jenseits höfischen Interpretaments zurückwirft.26 Dieser Raum, der kein zielgerichtetes, intentionales Sehen mehr erlaubt, ist gleichwohl ein Raum des Erkennens: mîn ouge daz erkante iuch nie noch lîhte niemer mê getuot, und weiz ich doch wol, daz ir guot und ûz erwelt nâch wunsche sît. (V. 1616–1619) Mein Auge hat Euch noch nie gesehen und wird dies vielleicht auch niemals, dennoch weiß ich genau, dass Ihr so edel und vollkommen seid, wie man es sich nur wünschen kann.

Damit aber erscheint dieser anderweltliche Begegnungsraum als der Raum einer  – in Bezug auf die bisherige höfische Minnediskussion  – neuen Möglichkeit personalen 25

Zitate nach: Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur. Aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer hrsg. von Karl Bartsch. Mit einem Nachwort von Rainer Gruenter in Verbindung mit Bruno Jöhnk/Raimund Kemper/Hans-Christian Wunderlich, Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters) [Reprint der Ausgabe Wien 1871]. 26 Vgl. Kasten (Anm. 11), S. 279: „Konrad scheint an eine von nichts Äußerem abhängige, aus dem herzen kommende Liebe zu denken, die ihren Gegenstand allein mit Worten, mit der Imagination, mit dem Gefühl und mit der Kommunikation der Körper zu erfassen vermag“.

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Wählens, Empfindens und Erkennens, so bereits Ingrid Kasten,27 der Möglichkeit eines intimen, gleichsam ,nackten‘ Bezugs jenseits der bisherigen höfisch-repräsentativen Deutungs- und Beurteilungskriterien. Dieser neue Erfahrungsraum ist mehr als eine Utopie, da ein nachvollziehbarer Initiationsweg in ihn hineinführt. Er ist weniger als eine fiktional gesetzte Realität,28 insofern sein Realitätsstatus im ,Als-ob-Bereich‘ der wilde[n] feine (V. 640) aufgehoben bleibt.29 Im Sinn dieses ,Dazwischen‘ ist der neue personale Erfahrungsraum ein imaginaire, dessen Anspruch in der Narration erst einzuholen ist. Konträr dazu erscheint auf den ersten Blick das zweite markante Raumszenarium der Anderwelt, die sogenannte ,Turmschau-Episode‘, inszeniert.30 Tagsüber verlässt Partonopier zum Zeitvertreib den palas. Er gelangt bis zum begrenzenden Tor, bei dem ein Turm emporragt. Nach und nach entdeckt Partonopier vier nah beieinander stehende Türme, die jeweils einen anderen Ausblick ins Land Meliurs gewähren. Zentral ist somit nun gerade das Sehen – und dies in intentionaler Ausrichtung: Mit wachsender Begeisterung besteigt Partonopier einen Turm nach dem anderen, um Ausschau zu halten: durch schouwen kêrte er unde gie/mit willen ûf den turn zehant (V. 2282f.; „um Ausschau zu halten, wandte er sich dorthin und bestieg sogleich entschlossen den Turm“). schouwen, sehen, kiesen, ougenweide, ougen blicke sind die Leitwörter der folgenden Szenerie:31 27

Zum Motiv der eigenwilligen Wahl vgl. Kasten (Anm. 11), S. 275–278. Kasten hebt hervor, dass „die freie Wahl des Ehepartners“ der „narrative Kern“ sei, „aus dem sich das zentrale Konfliktfeld des Romans speist“ (S. 275f.). Dabei werde „Subjektivität als Möglichkeit und als Problem“ reflektiert (S. 276). Zu Recht weist Kasten im Folgenden darauf hin, dass mit dem Tabubruch „das Modell der subjektiv begründeten Partnerwahl desavouiert“ werde, eben deshalb Partonopiers Vergehen keine bloße Normverletzung darstelle, sondern „Liebesverrat“ sei (S. 281). 28 Zu denken wäre auch an eine Heterotopie im Sinn Michel Foucaults: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais. Hrsg. von Karlheinz Barck u. a., Leipzig 21991 (Reclam-Bibliothek 1352), S. 34–46, zur Definition S. 38f.: Unter den „Räume[n], die mit allen anderen in Verbindung stehen und dennoch allen anderen Plazierungen widersprechen“, versteht Foucault zum einen Utopien, zum anderen Heterotopien. Utopien sind „Plazierungen ohne wirklichen Ort“, insofern „unwirkliche Räume“. Heterotopien sind dagegen „wirkliche Orte“, allerdings wirkliche „Orte außerhalb aller Orte“. Als „wirkliche Orte“ sind sie „in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet“, als „Orte außerhalb aller Orte“ bilden sie zugleich „Gegenplazierungen oder Widerlager […], in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“. 29 Zum Status des ,Als-ob‘: Schulz (Anm. 1), S. 90–92. 30 Zur Turmschau-Episode vgl. Rainer Gruenter: Zum Problem der Landschaftsdarstellung im höfischen Versroman. In: Euphorion 56 (1962), S. 248–278, hier S. 268–273; sowie Jan Strümpel: „der walt ist aller würme vol“. Zur Funktionalität der Darstellung von Natur- und Landschaftselementen in Partonopier und Meliur von Konrad von Würzbug. In: Wirkendes Wort 3 (1992), S. 377–388, hier S. 383–386. 31 Rüdiger Brandt: Konrad von Würzburg, Darmstadt 1987 (Erträge der Forschung 249), S. 172, sieht im Partonopier eine „selbstwerthaft-ästhetische Schau“ (S.  62) realisiert, Gruenter (Anm. 30), S. 268, in der Turmschau-Episode eine „Ausschau um des Schauens willen“. Insofern im Partonopier „dem eigentlichen Turmschau-Topos, also dem Ausschauhalten um der Orientierung willen“ nicht, wie Strümpel (Anm. 30), S. 377, hervorgehoben hat, Genüge geleistet und das Gesehene auch nicht vom Blick her fokussiert wird, sondern es eher dem Blick begegnet, ist dem zuzustimmen.

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Über den Wald hinweg sieht Partonopier vom ersten Turm aus bis nach Alexandrien am Meer, sieht Schiffe kommen, beladen mit reichen Handelsgütern, die am Strand abgeladen werden: aldâ begunde er schouwen von wegen und von ouwen ein wunder bî dem mer hin abe. (V. 2287–2289) Da sah er hinunter und erblickte neben dem Meer ein Wunder an Wegen und Auen.

Vom nächsten Turm aus sieht er einen überaus fruchtbaren Garten: von edelen wurzegarten, von boumen und von wînreben wart sînen ougen dâ gegeben rîlîchiu weide mit genuht. (V. 2316–2319) An bezaubernden Obstgärten, an Bäumen und Weinreben bot sich seinem Blick dort eine erquickende Augenweide in aller Fülle.

Vom dritten Turm aus richtet er seinen Blick auf Kornfelder, wie er sie noch nie gesehen hat: dô spürte er unde kôs ein velt, dâ daz beste korngelt lac ûfe, daz man ie gewan. (V. 2341–2343) Da nahm er – seinem Blick folgend – ein Feld wahr, das mit dem besten Kornertrag ausgestattet war, den man je gewinnen konnte.

Vom vierten Turm aus erspäht Partonopier schließlich Wälder und Wiesen, voller Hirsche, Rebhühner, Fasanen und Eber, die in Hülle und Fülle zur Jagd einladen: sô wünniclich riviere von holze noch von heide, von wazzer noch von weide Dennoch geht es insgesamt um keine Landschaftsdarstellung um ihrer selbst willen. Wie Strümpel (Anm. 30), S. 377 und S. 385, gezeigt hat, bündeln sich in der Turmschau-Episode die gesamten Landschaftsmotive der vorherigen Darstellung, jedoch – so wäre hinzuzufügen – nun in positiver Form. Genau dadurch erweisen sie sich für den künftigen Herrscher von Schiefdeire als Versprechen: Was Partonopier sieht, ist idealiter sein künftiges Herrschaftsgebiet.

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wart beschouwet noch bekant, sô die Partonopier dâ vant mit sînen ougen blicken snel. (V. 2380–2385) Solch eine wunderbare Gegend – an Wald und Heide, an Wasser und Weide – wie diejenige, die sich dort Partonopiers begierigen Blicken erschloss, wurde niemals zuvor gesehen noch bekannt.

Zugleich bleibt die Szenerie durch einzelne lokale Attribute örtlich markiert: Nicht nur die Türme, nicht zu weit vom palas entfernt (V. 2275), und die Begrenzung des Tores markieren einen umgrenzten Raum, auch der Blick verliert sich nicht im Grenzenlosen. Meer und Schiffe, kultivierte Gärten, reich tragende Felder, Jagdland voller Wild bieten sich dem Blick als ougen weide (V. 2307). Trotz der unterschiedlichen Wertigkeit des Sehens und des Raumarrangements dominiert jedoch – auf den zweiten Blick – die Analogie zur Kemenatenszene: Durch die paradiesische Überhöhung und die Symbolik der vier Perspektiven wird deutlich, dass es sich auch hier um das imaginaire einer vollendeten Möglichkeit handelt. D. h., wie die Kemenatenszene einen vollendeten personalen Erfahrungsraum wiedergibt, so öffnet sich hier ein vollendeter Kultur- und Herrschaftsraum.32 Was Partonopier erblickt, ist nichts anderes als ein irdisches Kulturparadies: wart ie kein irdisch paradîs in den rîchen anderswâ, sô wart von im ouch einez dâ beschouwet, als ich hœre jehen. (V. 2330–2333) Mag es auch in den Reichen andernorts nirgends je ein irdisches Paradies gegeben haben, so wurde von ihm doch ebendort eines geschaut, wie ich erzählen höre.

Durch das distanzierende als ich hœre jehen (V. 2333) lässt der Erzähler auch hier offen, ob dieser vollendete Kultur- und Herrschaftsraum wirklich existiert oder ob ihm nur der Status des ,Als-ob-Reiches‘ der wilden feine zukommt.33 Entscheidend ist, dass beide 32

Zu Recht hebt Strümpel (Anm. 30) hervor, dass es sich eben nicht um eine Naturdarstellung handle, sondern um einen „gegliederte[n] Kulturraum“ (S. 384), einen „vom Menschen dominierten und auf ihn ausgerichteten Ort“ (S. 386). 33 Die Erzählung legt sich nicht fest: Einerseits schildert Meliur an späterer Stelle (V. 8096ff.), dass sie vor ihrem Vater mit zoubers witzen (V. 8106; „mit Zauberkenntnissen“) ganze Landschaften mit seltenen Tieren und sogar kämpfenden Rittern habe entstehen lassen: mit listen ich in sô betrouc,/daz in des dûhte, ez wære wâr/swaz ich dâ stille und offenbâr/der lügelichen dinge treip (V. 8130–8133; „mit Zauberkünsten täuschte ich ihn so, dass er meinte, das, was ich da heimlich und öffentlich an

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Wahrnehmungsmöglichkeiten als komplementäres Pendant der Anderwelt angelegt sind: Richtet sich die eine Möglichkeit auf den personalen, so die andere auf den öffentlichen Bereich; erweist sich die erste als Raum teilnehmender Erfahrung, die das Sehen ausspart, so die andere als Schau, bei der umgekehrt die Teilnahme verwehrt bleibt. Die Anderwelt bleibt somit nicht auf den personalen Erfahrungsraum reduziert. Erst die komplementären Ergänzungen von ,intim-personalem‘ und ,öffentlichem‘ Raum, d.  h. erst beide Wahrnehmungsmöglichkeiten zusammen, ergeben die Vollendung der Anderwelt, charakterisieren das Andersartige als höchste Möglichkeit, als paradîs. Doch eben diese höchste Möglichkeit ist labil: Sie braucht die komplementäre Wahrnehmungsmöglichkeit und sie ist, situiert zwischen Utopie und Realität, Versprechen und prekäre Aufgabe in einem. Konsequent wiederholt Meliur nach der Deutung der Kulturschau als paradiesischem (Herrschafts-)Raum, der durch die Verbindung mit ihr auch Partonopier zusteht, ihr Sichttabu. Als dieses gebrochen wird, scheint denn auch nicht nur der personale Bezug aufgehoben, es scheint sich auch die kulturelle Qualität des anderweltlichen Herrschaftsraums Meliurs radikal zu ändern: Die Anderwelt geht als imaginaire eines personalen wie kulturellen Paradieses zunächst verloren. Nur Restposten lassen sich noch erkennen. Aber eben diese formieren subtil den weiteren Gang der Handlung.

3. Die höfische Welt: Rückkehr in den Repräsentationsraum Auch hier sollen zwei Szenen im Zentrum stehen, die beiden entscheidenden Wiederbegegnungsszenen. Erste Szene: Nachdem Meliur Partonopier verstoßen hat, kehrt dieser in seine Alltagswelt, seine von der Mutter dominierte Heimat, zurück, spricht nicht, isst nicht, zieht sich schließlich im Wald zurück, verkommt. Dort findet ihn Irekel, die Schwester Meliurs. Sie pflegt ihn, gibt ihm neuen Lebensmut. Schließlich schleust sie ihn incognito am Hof ihrer Schwester ein, damit er – zusammen mit 100 anderen Knappen – die Schwertleite erhält, die er nur von Meliur empfangen möchte. Gemäß des öffentlichen Repräsentationsraums der Schwertleite ist die Raumregie für den Aufzug der Knappen genau festgelegt (V. 12374ff.), die Knappen werden zudem begleitet von manic ander man (V. 12399) und sie sind prächtig ausgestattet mit Rüstung und aufgesetztem Helm. Die Funktionalität der Schwertleite, die unübersichtliche Menge sowie die Anonymität durch die Bedeckung der Rüstung unterstützen den repräsentativen Auftritt, in dem Partonopier als Person bewusst zu verschwinden versucht: Si kâmen dar gemeine für die frouwen reine mit grôzer samenunge. (V. 12521–12523) Gaukeleien trieb, wäre wahr“). Andererseits heißt es mit Bezug auf Partonopier nur, sie habe ihn vor den anderen Bewohnern ,unsichtbar‘ gemacht (V. 8139–8143). Vgl. auch Schulz (Anm. 1), S. 110f., Anm. 80.

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Sie traten alle gemeinsam vor die edle Herrin in einer großer Schar.

Auch Meliur übernimmt in diesem offiziellen Setting ihre spezifische Repräsentationsrolle: Kostbar gekleidet und geschmückt empfängt sie die Knappen. In 100 Versen detaillierter Beschreibung holt der Erzähler gleichsam nach, was er bisher ausgespart hatte: Entworfen wird Meliurs Auftritt als Fest für die Augen, als Fest der Sichtbarkeit. Erzählt wird darauf die Reaktion Partonopiers, die nun konsequent gerade durch deutliche Intentionalität und eine spezifische Zurichtung des Blicks gekennzeichnet ist: Partonopier der junge begunde durch si dringen und dar nâch balde ringen, daz er ze vorderst wære und im diu wunnebære, sîn âmîe, würde kunt, alsô daz er si bî der stunt möhte sehen deste baz. (V. 12524–12531) Der junge Partonopier begann durch sie hindurchzudringen und sich kühn darum zu bemühen, dass er ganz vorne wäre, um die Wunderbare, seine amie, wahrnehmen zu können, so dass er sie nun noch besser zu sehen vermöchte.

Konnte zuvor nur sie ihn sehen, kehrt sich dies nun um, pointiert durch Partonopiers voyeuristischen Blick aus dem Visier der Rüstung. Die Beschreibungsdetails werden topisch aufgerufen, aber nicht als allgemeine Schilderung, sondern vielmehr fokalisiert als Versatzstücke der Wahrnehmung Partonopiers, als Resultat seiner Blickbewegung: er stuont gewâpent an der stete und sach si durch die barbel. ir stirne, ir ougen unde ir kel, ir nase, ir munt, ir tinne, ir wangen unde ir kinne, ir hende, ir arme, ir brüstelîn, daz alles gap sô reinen schîn, daz er vil kûme sich enthielt, daz im daz herze niht enspielt […] (V. 12560–12568) Ebendort stand er in Waffen und erspähte sie durch sein Visier.

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Ihre Stirn, ihre Augen und ihre Kehle, ihre Nase, ihr Mund, ihre Schläfen, ihre Wangen und ihr Kinn, ihre Hände, ihre Arme, ihre kleinen Brüste, das alles zeigte sich so anmutig, dass er kaum dagegen ankam, dass ihm das Herz nicht entzwei brach […]

Entworfen ist damit ein Raum der Begegnung, der offensichtlich in genauem Kontrast zur ersten Begegnung inszeniert ist: Statt des Raums der Heimlichkeit geht es nun um einen Raum der Öffentlichkeit, statt um die Dunkelheit des Nicht-Gesehen-Werdens Meliurs um ihren glanzvollen repräsentativen Auftritt, der sich nur im Gesehen-Werden erfüllen kann, statt um die symbolische wie konkrete Nacktheit des Protagonisten um sein Verschwinden hinter der Rüstung, statt um sein Nicht-Sehen-Können um die intentional-fokussierende Ausrichtung seines Blicks. Damit beginnt Partonopiers Bewährungsweg als Weg, bei dem sich der Protagonist den standardisierten höfischen Verhaltensregeln und Zeremonien innerhalb des öffentlichen Raums der Repräsentation anpasst, sich zunächst auch die männliche Dominanz des Blicks wiederherstellt, vor allem aber der vorherige offene Möglichkeitsraum personaler Erfahrung im inszenierten Kontrast der Blickführung negiert, ja widerrufen scheint. Doch ganz geht die Inszenierung im Kontrast zur Kemenatenszene nicht auf: Denn indem nicht die Wahrnehmung aller, sondern allein die Wahrnehmung Partonopiers beschrieben wird, diese sich aber ausschließlich auf Meliur richtet, entsteht innerhalb der Öffentlichkeit gleichsam ein abgekapselter zweiter Wahrnehmungsraum, der nur für Meliur und Partonopier zugänglich ist und sich als Raum ihres intimen Wissens – gebunden an die anderweltliche Qualität ihrer ersten Erfahrung – erweist. Während es ausdrücklich von Partonopiers Verschwinden in der Menge der Knappen heißt: ein mensche wart des niht gewar,/daz er gemischet drunder was (V. 12416f.; „kein Mensch wurde dessen gewahr, dass er darunter gemischt war“), wird mit Bezug auf Meliur, die hier auffallend direkt als feine (V. 12506) bezeichnet wird, die intime Wahrnehmungsperspektive reziprok zu Partonopier eingespielt: si nam sîn tougenlichen war mêr danne ir hovediete; wan dô der süeze kniete vor dem erwelten wîbe, dô was er an dem lîbe sô rehte wunnebære, daz si des dûhte, er wære Partonopiere gar gelîch. (V. 12586–12593) Sie betrachtete ihn heimlich – mehr als ihre Hofgesellschaft es tat; denn als der Bezaubernde

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vor der auserwählten Frau kniete, da war er so ganz und gar wohlgestaltet, dass es ihr schien, er wäre Partonopier vollkommen gleich.

Unterstützt wird der Raum des intimen Wissens umeinander durch die Reminiszenzen der Erinnerung, die den gegenwärtigen Repräsentationsakt immer wieder durchsetzen, das distanzierte Sehen in ein schmerzhaftes Spüren transponieren: ir schœne durch sîn herze sneit des mâles und der stunde. sîn altiu minnewunde erniuwet unde erfrischet wart durch die keiserlichen art, die sîn ouge spürte an ir.34 (V. 12536–12541) Ihre Schönheit zerschnitt ihm diesmal sogleich das Herz. Seine alte Minnewunde wurde erneuert und aufgerissen, weil sie, wie sein Blick auf sie bestätigte, wie eine Kaiserin war.

Und dieser Schmerz nimmt Züge jener Unbedingtheit an, die die Minne im repräsentationslosen Raum der ersten Begegnung auszeichnete. So schwinden Partonopier nicht nur – topisch – die Sinne, es ,zerspringt‘ ihm fast das Herz (vgl. V. 12567f.), während es von Meliur heißt: si wart an sîner zühte rîch ermant dô sînes bildes, dar umbe ir niht sô wildes wart sô fröuden rîcher sin.35 (V. 12594–12597) Da wurde sie durch sein überaus edles Verhalten an ihn erinnert, wodurch ihr nichts so Fremdartiges wie Freude in den Sinn kam.

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Vgl. auch V. 12554ff., 12570ff.; entsprechend Meliur: V. 12594f. (siehe unten), 12614f. Die genaue Übersetzung von V. 12596f. erweist sich als schwierig: Der Genitiv wildes ist durch niht provoziert, während das sô des Vergleichs einen Nominativ erwarten lässt. Die Konstruktionen überlagern sich. Möglich wäre auch, wie Burghart Wachinger vorschlägt: „Darum wurde ihr nichts an Befremdlichem so befremdlich wie eine freudige Verfassung.“ Für die Diskussion der Übersetzung, insbesondere an dieser Stelle, danke ich Uta Störmer-Caysa und Burghart Wachinger.

35

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Dass das für den Partonopier insgesamt zentrale Wort wilde den zuvor eingespielten Begriff der feine (V. 12506) subtil komplementiert, dürfte es noch plausibler machen, dass hier jener unbegrenzte, konturlose Raum der Minne aufgerufen ist, der den ersten, den vollendeten Möglichkeitsraum der personalen Minne der wilden feine (V. 640) ausmachte. Der Raum der ersten Wiederbegegnungsszene erscheint somit durch eine gedoppelte Wahrnehmungsperspektive geprägt: Im Arrangement der öffentlichen Szenerie und der Fokalisierung der grôze[n] samenunge (V. 12523) erfolgt die Schwertleite nach den Handlungs- und Blickregeln des höfisch-visuell organisierten Zeremoniells; in der Fokalisierung der Protagonisten etabliert sich jedoch ein zweiter Wahrnehmungsraum, der die Visualität durch Erinnerungsbilder anreichert und zugleich in überwältigenden Schmerz überführt: Das Auge sieht nicht (nur), das ouge spürt (V. 12541). Trotz der kontrastiven Inszenierung bleiben somit Reminiszenzen an den intimen Raum der ersten Begegnung erhalten, auch wenn dieser nun nicht mehr als zum Greifen naher, sondern lediglich als erinnerter und an der Grenze zum endgültigen Verlust angesiedelter Raum in Erscheinung tritt. Ebendiese Reminiszenzen halten in ihrer spezifischen narrativen ,Verschaltung‘36 mit dem öffentlichen Raum – strukturell gesehen – auch die Raumkomplementarität von öffentlichem und privatem Raum der Anderwelt präsent, wenngleich nunmehr in einer deutlich asymmetrischen Konstellation. Zweite Wiederbegegnungsszene, etwa 3000 Verse später: Auf Drängen der Berater und Gefolgsleute Meliurs soll ein Turnier darüber entscheiden, wer für Meliur als Ehemann in Frage kommt. Diese Abmachung folgt dem für den höfischen Roman insgesamt gültigen Schema: Der Beste erhält die Schönste. Meliur wird damit als öffentlicher Kampfpreis ausgesetzt. Von der anfänglichen, auffallend eigenständigen Gattenwahl37 und dem mit ihr verbundenen intimen Raum scheint nichts mehr vorhanden. Gegenläufig dazu hat sich Meliur jedoch inzwischen ihre Minne zu Partonopier eingestanden. Sie erfährt im Verlauf des zweiten Kampftages zudem, dass Partonopier beim Turnier anwesend ist, kenntlich an einer weißen Rüstung mit weißem Schild. Ihren Gefolgsleuten ist die Identität des ,weißen Ritters‘ dagegen zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Durch die unterschiedliche Fokalisierung sind damit wieder zwei disparate Wahrnehmungsperspektiven anberaumt, die in ihrer Unterschiedlichkeit konsequent durchgespielt werden. Zunächst erscheint die Bühne der Repräsentation gegenüber dem szenischen Arrangement der Schwertleite deutlich erweitert: Die wichtigsten Vertreter der ritterlichen Welt 36

Zum Begriff der ,Raumverschaltung‘ vgl. ausführlich und anregend: Matthias Däumer: Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane, Bielefeld 2012 (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 9), Kapitel 4.1 („Raumverschaltung“), S. 317ff. Däumer nutzt und entfaltet den Begriff vor allem zur Beschreibung des Vorgangs, in dem die performativen Handlungen (bzw. der Raum der Aufführung) mit den Handlungen der Figur (bzw. dem Raum des fiktiven Geschehens) durch einen Rezitator in Einklang gebracht werden. Dagegen zielt der Begriff im oben genannten Kontext auf die inszenierte Verfugung von öffentlichem und privatem Raum allein auf der Ebene des fiktiven Geschehens. 37 Vgl. Kasten (Anm. 11), S. 275–278.

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des Westens sowie des Ostens sind vor Ort.38 Zugleich wird der öffentliche Beurteilungsraum als öffentlicher Schauraum ausgestellt. Das Turnierfeld ist ein klar abgesteckter plân zwischen Stadt und Meer (V. 12326ff.), die hochrangigen Berater sowie Meliur nehmen auf einer Tribüne am Rand Platz. Die Beurteilung dessen, was öffentlich zu sehen ist, definiert – in genauer Umkehr zum Anfang – das entscheidende Kriterium. Diese Eindeutigkeit des öffentlichen Schauraums wird nun jedoch wiederum durch die differenzierende Dramaturgie der Szene, direkt nachdem Meliur erfahren hat, dass Partonopier anwesend ist, unterlaufen: So versieht die Szenenregie das nun folgende zentrale Segment des zweiten, öffentlichen Turnierkampftages (V. 15036–15262) narrativ mit einem doppelten Rahmen. Einleitend erfolgt zunächst Meliurs Bekenntnis gegenüber Irekel, Partonopier immer noch und über alles zu lieben, ein Bekenntnis, das den personalen Raum der Liebenden und den mit ihm verbundenen Anspruch unmittelbar aufruft. Anschließend nimmt Meliur auf der Tribüne bei den Königen Platz. Cursanz und Clârîn, die beiden herausragenden Berater, geben dort in ihrem ausführlich geschilderten Gespräch die öffentliche Perspektive wieder. Nach dem Ende des Turniers lässt sich dieselbe narrative Abfolge im Spiegelverhältnis erkennen. Zunächst geben die beiden Könige ihr Urteil ab, dann greift Meliur, vorsichtig einlenkend, ein, argumentiert dabei offensichtlich von ihrer personalen Erfahrung her. Die Parallelisierung von ,öffentlicher‘ und ,heimlicher‘ Beurteilungsperspektive erscheint damit stringent gesetzt und bestimmt denn auch in signifikanter Weise den Beobachtungsablauf des Turniers. So nehmen die Berater im staubigen Turniergetümmel immer wieder den Besten wahr als den mit dem wîzen schilte (V. 15064). Der metonymische Ersatz dessen, der kämpft, durch den Schild folgt antiker Beschreibungstradition und ist keineswegs ungewöhnlich. Signifikant wird diese Perspektive jedoch durch dreierlei: Zum einen dominiert sie in der beständigen semantischen Wiederholung (V. 15064, 15084, 15095, 15195, 15216), eine alternative Kennzeichnung taucht nicht auf. Zum Zweiten wird durch die Betonung des weißen Schildes und die damit verbundene Licht- und Glanzmetaphorik des Turnierkampfes in besonderer Weise die leuchtende Oberfläche des Helden, d. h. wieder eben das, was von außen von ihm zu sehen ist, zum entscheidenden Kriterium. Während einerseits darauf hingewiesen wird, dass man Schilde und Helme der anderen Kämpfenden kaum erkennen könne, wan diu malîe wart sô 38

So berichtet Meliur: ,swaz künige unde fürsten sint/hie dishalp unde jenhalp mers,/die varent her‘ (V. 12286–12288; „Welche Könige und Fürsten es auch diesseits und jenseits des Meeres gibt: die kommen her“): Als höchste Vertreter werden von Persîâ der soldân (V. 12316) und anderhalp der keiser/von Rôme (V. 12319f.) genannt. Vielfach wurde auf die sich im zweiten Teil durchsetzende Tradition der Chansons de geste verwiesen: vgl. etwa Wyss (Anm. 19), S. 370; ausführlich: Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne, Würzburg 1990 (Epistema. Literaturwissenschaft 66), S. 132–137; siehe auch Eming (Anm. 11), S. 48, jedoch mit kritischem Hinweis, dass darüber nicht die Dominanz des Schemas des Minne- und Aventiureromans übersehen werden dürfe (S. 48f.). Beide Handlungsmuster – und dies ist entscheidend – verstärken jedoch den Kontrast und die Spannung zwischen öffentlichem und heimlichem Erfahrungsraum.

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grôz/und des dicken stoubes melm (V. 15180f.; „denn das Gefecht wurde so heftig und der Dunst des dichten Staubes“), heißt es von Partonopier andererseits: dâ schiet sich ûz besunder Partonopier ân itewîz. sîn niuwer schilt von silber wîz sô wol gebrûnieret was, daz er alsam ein spiegelglas durch daz gestüppe lûhte. (V. 15184–15189) Davon hob sich Partonopier als Einziger ab – ohne Tadel. Sein neuer Schild, weiß von Silber, war so gut poliert, dass er wie ein Spiegelglas durch den stiebenden Staub leuchtete.

Zum Dritten bleibt die Frage, wer hinter dem weißen Schild stecken möge, bis zuletzt vollkommen ausgespart.39 gemeine si daz dûhte, die dâ sâzen ûf der wer, daz dâ niemen in dem her sô wol gerungen hæte nâch lobe sam der stæte mit dem wîzen schilte glanz. (V. 15190–15195) Übereinstimmend erschien es denen, die da auf der Befestigung saßen, dass niemand im Heer so hervorragend um Ruhm gerungen hätte wie der Beständige mit dem weißen glänzenden Schild.

Damit wird in dreifacher Weise die Außenperspektive als gültige Perspektive betont analog zum vorrangig heldenepischen Kriterium: Ein Held „,ist‘, was seine Oberfläche zeigt.“40 Meliur dagegen schaut gleichsam hinter den Schild, nimmt Partonopier als bestimmte Person wahr. So leidet sie mit, wenn ihm Schmerzen zugefügt werden (an späterer Stelle: V. 16190–16194), vor allem aber entzieht sie sich der selbstverständlichen Kongruenz 39

Eine Ausnahme bildet nur Partonopiers Onkel, der das Rätsel um den unbekannten Kämpfer gerne lösen würde (V. 15258–15262). Erst am Ende des Kampfes sind dann plötzlich die Namen der beteiligten Ritter bekannt (V. 16630ff.) – und dies mag nicht nur dem Ablegen der Helme (V. 16522ff.) handlungslogisch zuzuschreiben sein, sondern indiziert – funktionslogisch – den Identitätsgewinn durch den Kampf. 40 Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 243.

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von Sieger und Herzerwähltem und grenzt damit das öffentliche Urteil der Eheentscheidung dezidiert von ihrem inneren Urteil des Herzens ab: ,[…]mîn herze in mîme lîbe muoz iemer trûren unde klagen, sol iemen anders hie bejagen die mîne werde minne.‘ (V. 15032–15035) ,[…] Mein Herz in meinem Leib wird immer trauern und klagen müssen, wenn jemand anders hier mich als ehrenvollen Minnepreis erjagen wird.‘

Das Beharren auf dieser Perspektive, d. h. das Beharren auf dem anfänglichen intimen Raum der Erfahrung, bleibt bei ihr somit bestehen. Von ihm aus lenkt sie denn auch in kluger Engführung der intimen und der öffentlichen Perspektive das Geschehen und dies, indem sie die semantische Schablone des Außenblicks als verbalen Deckmantel nutzt. Zwar wagt sie nicht, Partonopier unverhohlen öffentlich zu loben (V. 15204–15209): doch wizzent, daz diu guote versweic niht garwe sînen prîs, wan sich ir munt süez unde wîs ein lützel sînes lobes vleiz. si sprach ‚ir herren, ine weiz, wes ir jehent alle doch. der wîze schilt der tuot ienoch daz aller beste, dunket mich.‘ (V. 15210–15217) Doch wisst, das die Edle seinen Ruhm nicht ganz verschwieg, denn ihr süßer und weiser Mund befleißigte sich doch durchaus ein wenig seines Lobes. Sie sprach: ,Ihr Herren, ich weiß nicht, was ihr alle sagt. Mir scheint, der weiße Schild, der tut nach wie vor das Allerbeste.

So sehr im Vergleich zum vorherigen Beispiel die ,Bühne‘ der Repräsentation erweitert wird, so sehr die Erinnerungsreminiszenzen an den intimen Raum sich verringern, so sehr bleibt doch deutlich, dass auch hier nicht allein das Urteil des öffentlichen Raums zählt, sondern der personale Erfahrungsraum als solcher weiter mit thematisiert wird. Indem die beiden Wahrnehmungsperspektiven konsequent auf der Ebene des discours nebeneinander gestellt werden,41 wird die Differenz nicht – wie auf der Ebene der histoire – nivelliert, 41

Vgl. zu Konrads Techniken, in der Darstellung die personale Ebene stärker hervortreten zu lassen, auch Christoph Huber: Brüchige Figur. Zur literarischen Konstruktion der Partonopier-Gestalt bei

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sondern bleibt – im Anspruch ihres komplementären Bezugs – ausgestellt. Selbst in den Schlussszenen lässt sich – wenngleich nur noch punktuell realisiert – diese Rückkoppelung der öffentlichen Perspektive an die personale Perspektive feststellen.

4. Die Welt der Schlacht: ,Sinnfenster‘ im desolaten Repräsentationsraum Der soldân will die Entscheidung für Partonopier nicht anerkennen und rückt mit einer vil starken ritterschaft an (V. 18768). Es kommt zur Schlacht. Die örtlichen Hinweise zur Situierung bleiben sparsam. Weit mehr wird die Schlacht narrativ durch den Wechsel von Fernsicht und Nahsicht organisiert. Die Fernsicht nimmt vor allem neu anrückende Truppen in den Blick. Die im fortschreitenden Kampf dominierende Nahsicht fokussiert innerhalb des Schlachtgewoges dagegen einzelne kleinere Kampfgruppen, vor allem aber Einzelkämpfer und deren Bewegungen. Insofern die Bewegungen in der Nahsicht immer hektischer aufeinander folgen, wird eine zunehmende räumliche Unübersichtlichkeit forciert, was das Geschehen dramatisiert. Dies wird insbesondere in der Phase des Kampfes vor Abbruch des Romans deutlich. Der folgende Szenenausschnitt kann dies demonstrieren: Partonopier eilt Arnold zu Hilfe, zerschneidet dafür pfeilschnell die feindliche Menge: er kam gesiuset unde dranc aldurch die rotte bî der zît. […] der vînde schar spielt er enzwei, durch die begunde er gâhen. (V. 21468–21472) Er kam herbeigebraust und drang sogleich durch die geordnete Reihe. […] Die Schar der Feinde teilte er und begann, durch sie hindurchzueilen.

Der soldân erblickt ihn und kommt sô vaste dar gehurt (V. 21482), dass er mitsamt seinem Pferd stürzt. Daraufhin wirft sich Markabré auf Partonopier und zieht diesen mitsamt sich selbst zu Boden. Als er ihn mit einem Messer durchstechen will, wird er von Arnolds hoch schwingendem Schwert getroffen. Partonopier rettet sich in diesem Moment auf sein Pferd, das Walther im engegen […] geholt hatte (V. 21531), wird von Arnold abgedrängt, dieser wird gefangengenommen usw. Konrad von Würzburg. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift Volker Mertens. Hrsg. von Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 283–308.

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Während die Aufzählung der anrückenden Truppen in der Fernsicht den Anblick eines räumlichen Gesamtpanoramas suggeriert, erscheint eine räumliche Gesamtstruktur in der Bewegungsvielfalt der Einzelkämpfe aufgegeben. Indem die Körper und Körperteile, Hände, Füße und Kampfgegenstände zu wild durcheinander agierenden Richtungsvektoren werden, fragmentieren sie den Raum, lösen ihn in unablässig umschlagende Handlungs- und Perspektivwechsel auf. Diese Fragmentierung betrifft jedoch nicht nur den Raum, sondern auch einzelne Details: diu wâpenkleit gel unde rôt, grüene, brûn, wîz unde blâ, zeschrenzet wurden sêre dâ mit swerten und mit lanzen. (V. 21700–21703) Die Waffenkleider gelb und rot, grün, braun, weiß und blau, wurden da völlig mit Schwertern und Lanzen zerrissen.

Schließlich geht die Darstellung in eine metonymische Gemengelage von visuellen und akustischen Signalen über, in denen der Einzelne verschwindet: man schôz des mâles unde warf, man sluoc, man stach, stiez unde ranc. sich huop dâ hurteclich gedranc, grisgrammen unde schreien. man hôrte ros dâ weien unde lûte grînen. man sach dâ verre schînen des wilden viures blicke, daz dâ mit slegen dicke ûz helmen wart geswungen. diu scharpfen swert dâ klungen ûf dem gevegeten îsen. man sach dâ nider rîsen gesteine, sîden unde golt, daz durch gezierde was geholt hin ûf den angestbæren strît. dô wart von stoube ze der zît ein trüebez wolken unde ein nebel. man spielt dâ houbet unde gebel, füez unde hende sluoc man abe. […] daz velt mit stimme und al der luft erfüllet wurden beide. (V. 21718–21741)

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Man schoss da und warf, man schlug, man stach, stieß und rang. Es erhob sich da ein reißendes Kampfgedränge, Zähneknirschen und Schreien. Man hörte da Rosse wiehern und laut brüllen. Man sah da weithin wilde Feuerfunken aufleuchten, die da mit unablässigen Hieben aus den Helmen geschüttelt wurden. Die scharfen Schwerter erklangen da auf dem blankgescheuerten Eisen. Man sah da niederfallen Edelsteine, Seide und Gold, die für den furchtbaren Kampf eigens angeschafft worden waren. Da entstand aus Staub eine undurchsichtige Wolke und zugleich ein Nebel. Man spaltete da Kopf und Schädel, Füße und Hände schlug man ab. […] Beide Feld und die ganze Luft wurden mir Geschrei erfüllt.

Wie in der Kemenatenszene des Anfangs scheint auch hier der Raum konturlos zu werden. Statt jedoch einem vollendeten personalen oder kulturellen imaginaire zuzuarbeiten, wird nunmehr in der Fragmentierung eine sinnlich-visuell-akustische Überfülle an Wahrnehmungsaspekten angeboten, die der Demonstration der zerstörten Ordnung dient: beströuwet was diu heide mit tôten liuten und daz mos. dâ lâgen ritter unde ros, fürsten, grâven, dienestman. (V. 21742–21745) Übersät waren die Heide und das Moor mit Toten. Da lagen Ritter und Ross, Fürsten, Grafen, Gefolge.

Der öffentliche Raum, der der sinnvermittelnden Repräsentation dienen sollte, droht eben dadurch die ihm zugeschriebene Funktion zu verlieren. Und doch bleibt selbst hier letztlich der Schauraum der Beurteilung gewahrt. Denn das anaphorisch wiederholte man sach (V. 21724, 21730), variiert durch man hôrte (V. 21722), verweist nicht nur auf die Akteure auf dem Schlachtfeld, sondern bildet zugleich auch die Brücke zum Erzähler und Hörer/Leser, die nun statt Meliur und ihrem Gefolge auf der Zuschauertribüne der Beurteilung sitzen und denen allein im Chaos der Ereignisse noch der abschließend-resümierende Blick zuzutrauen ist:

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swaz aber iemen dâ gestreit nâch prîse lûter unde zier, sô was eht ie Partonopier der beste vor in allen. (V. 21748–21751) Was auch immer da um Ruhm gekämpft wurde, in bester Absicht und prächtig, so war doch immer Partonopier der Beste unter ihnen allen.

Damit aber wird die Handlung in der Logik der Szenenregie rückgebunden an die Turnierszene, deren Funktion darin bestand, Partonopier als den Besten in aller Öffentlichkeit in Szene zu setzen. Vor diesem Hintergrund lässt sich denn auch die doppelte Perspektive wiedererkennen, die bisher für Partonopiers Weg in die Öffentlichkeit so bezeichnend war: Eingespielt wird sie hier nicht über die personale Perspektive Meliurs oder Partonopiers, die nun ausgespart bleibt, auch nicht über Reminiszenzen der Erinnerung beider Protagonisten. Doch im Rekurs auf das noch immer ausstehende endgültige Urteil über Partonopier, in der szenischen Rückbindung der Schlacht an die Turnierszene sowie in der Regie der Schlacht, die Partonopier und den soldân als die Hauptkontrahenten herausstellt und damit an den Konflikt um Meliur beständig erinnert, erscheint gleichsam die gesamte Erzählung als Erinnerungsraum, der dem gegenwärtigen Schauraum der Narration als entscheidender Bodensatz der Wertung dient. Es sind der Erzähler und seine Erzählregie, die nunmehr  – ohne personale Vermittlung auf Figurenebene  – auf einer zweiten Ebene beharren und diese als Perspektive beanspruchen. Eben deshalb fügt der Erzähler denn auch an entscheidender Stelle den Rückverweis auf Meliur als Erinnerung an den handlungsbegründenden Ausgangspunkt ein: der soldân sînen jâmer grôz machte und sînen schaden sûr. daz im diu schœne Meliûr von sînem urteil wart genomen, daz wolte er an im überkomen mit stichen und mit biuschen. (V. 21412–21417) Der Sultan ließ seinen [Arnolds] Jammer groß und seine Verluste bitter werden. Dass ihm und seinem rechtmäßigen Anspruch die schöne Meliur genommen war, dass wollte er an ihm zurückzahlen mit Stichen und mit Schlägen.

Zwar erscheint hier dieser handlungsbegründende Ausgangspunkt gleichsam nur noch stecknadelgroß  – vier Zeilen (V. 21414–21417) im Gewoge eines haltlosen Gemetzels  –, aber eben diese vier Zeilen repetieren den immer wieder eingespiel-

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ten Grundkonflikt,42 erhalten durch die persistente Repetition ihr eigentliches Gewicht und vermögen eben dadurch, dem kruden Geschehen noch einen Sinn zu geben. Verliert sich somit die personale Perspektive Partonopiers und Meliurs als quantitativ auserzählte Interaktion fast ganz, so gewinnt sie in der beständigen Repetition des Grundkonflikts der Turnierentscheidung in eigentümlicher Verkehrung der Ausgangslage nun ein qualitatives Begründungsgewicht, dass keinen Zweifel an ihrer Gültigkeit auch für den öffentlichen Raum mehr lässt.

5. Das Erzählprinzip der paradigmatischen Raumverschaltung: Fazit in drei Schritten 1) Verfolgt man die Beispiele, lässt sich zunächst erkennen, dass bereits die Anderwelt einen intimen und einen öffentlichen Raum umfasst  – und dies in komplementärer Ausgewogenheit. Bei Partonopiers Rückkehr in die höfische Welt ist demgegenüber unschwer festzustellen, dass der personale Begegnungsraum mit Meliur zunehmend zum öffentlichen Repräsentationsraum wird. So wechselt der Begegnungsraum von der intimen, stockfinsteren Kemenate Meliurs zum palas der Schwertleite mit manic man, von hier aus zum öffentlichen Schauplatz des Turniers der Bewerber um Meliur und endet schließlich auf einem kaum mehr überschaubaren Kampffeld, auf dem sich die politischen Kräfte des Ostens und des Westens treffen. Zugleich wurde deutlich, dass der personale Erfahrungsraum des Anfangs, in umgekehrter Korrespondenz zur Ausdehnung des repräsentativen öffentlichen Raums, beständig abnimmt. Was Armin Schulz in Bezug auf die widerständige Kontingenzproblematik der Minne- und Aventiureromane gesagt hat, ließe sich somit auch in Bezug auf den ebenso anstößigen personalen Raum der anfänglichen Minneentscheidung sagen: Die Narration „hegt“ das Anstößige peu à peu „ein“,43 entschärft das provokante Potential, nivelliert die Divergenzen. Andererseits konnte die Analyse zeigen, dass neben dieser Perspektive eine zweite in Rechnung zu stellen ist. Demzufolge verschwindet der Anspruch des personalen Erfahrungsraums keineswegs völlig zugunsten des öffentlichen Repräsentationsraums und seiner Wertungskriterien, sondern er behauptet sich trotz des Übergewichtes der öffentlichen Kriterien bzw. geht korrigierend mit diesen einher. Dieser doppelte Wahrnehmungs- und Beurteilungsraum trägt in seinem Gegen-, Neben- und Ineinander zur Komplexität des Partonopier in entscheidendem Maß bei. Verantwortlich hierfür ist 42

Vgl. auch die Rekurse auf den Grundkonflikt im Kontext des Schlachtauftakts, hier unter dem Leit­ aspekt der schande: V. 18750–18761, oder in den Wiederholungen unter dem Leitaspekt der minne: V. 19225–19272, bzw. des Rechts: V. 21270f. 43 Armin Schulz: Kontingenz im mittelhochdeutschen Liebes- und Abenteuerroman. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Cornelia Herberichs/ Susanne Reichlin, Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S. 206–225, hier S. 213.

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ein Erzählprinzip nicht der syntagmatisch-diachronen Raumabfolge, sondern der paradigmatisch-synchronen Raumverschaltung. Die Lösung der anfänglichen Spannung zwischen Heimlichkeit und Öffentlichkeit heißt demnach im Partonopier nicht, dass die heimliche Minne in eine öffentliche – ohne Restposten – überführt wird, sondern dass der Erfahrungsraum der intimen Minne als konstitutiver Bestandteil auch der Entscheidungen im öffentlichen Raum durchaus weiter verhandelt wird und damit an Bedeutung gewinnt. In der prinzipiell anhaltenden Spannung beider Erfahrungsräume, evoziert durch die paradigmatische Raumverschaltung,44 liegt der entscheidende Beitrag des Partonopier gegenüber der Minnediskussion, die die vorausgegangenen Romane bieten. 2) Betrachtet man von dieser doppelten Raum- und Wahrnehmungsstruktur aus die drei vorgestellten Beschreibungsansätze zum Minne- und Aventiureroman, die den Raum­aspekt ins Zentrum stellen, so lassen sich deren Tragweite wie Grenzen genauer bestimmen. Sicherlich bleibt das hellenistische Schema von ,Begegnung‘  – ,Trennung‘  – ,Wiederbegegnung‘ konstitutiv. Für eine Binnenbeschreibung differenzierterer Raumordnungen trägt es jedoch wenig bei. Ertragreicher ist hier die bipolare Ordnung von ,Heimlichkeit‘ und ,Öffentlichkeit‘. Doch auch dieses Ordnungsschema fällt hinter die Komplexität der Narration zurück, solange beide Aspekte im Schema einer diachron-syntagmatischen Abfolge gesehen werden. Der öffentliche Anspruch löscht den heimlichen nicht aus, das anfängliche ,Ich‘ muss nicht ,getötet‘ werden, die Substitutionsgleichung geht nicht auf. Vielmehr werden beide Ansprüche durchgehend in ihrer Relation zueinander verhandelt, bleiben bis zuletzt als zwei berechtigte Wahrnehmungsformen in Spannung zueinander bestehen. Das Erzählprinzip der paradigmatischen Raumverschaltung differenziert somit die ersten beiden, vorrangig diachron-syntagmatisch orientierten Deutungsschemata aus, mehr noch, es codiert sie um. Raum als Interpretament des Partonopier erweist sich erst in dieser Erweiterung als weiterführendes Analyseinstrument. Eben deshalb reicht hier auch der Lotmann’sche Ansatz der Sujetbildung durch Grenzüberschreitung, die diachron-syntagmatisch gedacht wird, nicht aus: Verhandelt wird in der paradigmatischen Raumverschaltung vielmehr, inwiefern zwei unterschiedliche Grenzbereiche synchron miteinander auskommen können. 3) Bleibt die Frage, ob das Erzählprinzip der paradigmatischen Raumverschaltung über den Partonopier hinaus Geltung beanspruchen kann. Hier ist Vorsicht geboten. Und diese Vorsicht hängt mit dem dritten, dem Bachtin’schen Kriterium der Abenteuerzeit und damit auch mit der Abenteuerwelt zusammen, die im hellenistischen Roman der Zeit der Trennung zugeordnet werden. Denn die Anderwelt Meliurs ist nicht zu vergleichen mit der Alltagswelt, aus der Partonopier kommt und in die er zeitweilig wie44

Zu beachten bleibt, dass die Raumverschaltung auf der Ebene der histoire harmonisiert erscheint. Ihr eigentliches Spannungspotential entfaltet sie dagegen auf der Ebene des discours: So laufen die beiden Wahrnehmungsperspektiven für die Figuren in der Regel getrennt. Für den Erzähler in der Narration sowie den rezipierenden Leser/Hörer werden jedoch beide Perspektiven in ihrer Simultaneität und narrativen Spannung beständig sichtbar.

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Annette Gerok-Reiter

der zurückkehrt, sie erscheint vielmehr bereits selbst als ,Abenteuerwelt‘, als Welt des Ausgesetztseins, der Prüfung und Bewährung, indiziert durch die ,Schwellenangst‘ Partonopiers auf seinem ,Initiationsweg‘ sowie die Tabuthematik, die die Prüfung in die Begegnungssituation selbst hineinverlegt. Das aber heißt in der Konsequenz, dass die ,Abenteuerzeit und -welt‘ Partonopiers nicht erst mit der Trennung von Meliur beginnt, sondern bereits während des Beisammenseins, der ersten Begegnung. Eben deshalb gehört nicht nur die Bewährung des Helden in der Öffentlichkeit, sondern in diesem Fall auch die Bewährung der Partner dem Anspruch ihrer intim-personalen Begegnung gegenüber zum entscheidenden Bewährungsprogramm. Damit ist von vornherein ein doppelter Anspruch gesetzt, der offensichtlich bis zuletzt die doppelte Raumdramaturgie der Narration bestimmt und einfordert. Eben weil der Anfang in der Anderwelt keinen defizitären Zustand markiert, sondern in der Komplementarität von intimem und öffentlichem Raum das imaginaire einer vollendeten Möglichkeit offeriert, darf sich der damit gesetzte Anspruch nicht verflüchtigen. Ob weitere Minne- und Aventiureromane dieses Anfangspotential als causa des Erzählprinzips einer anhaltenden paradigmatischen Raumverschaltung enthalten, wäre allererst zu prüfen.

Uta Störmer-Caysa (Mainz)

Lose Enden Nichterzähltes und Unbeendetes in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur

1. Einiges wüsste ein Hörer gern Man kann nicht behaupten, dass Konrad Flecks Flore und Blanscheflur eine Geschichte ohne rechten Anfang und Schluss sei. Ganz im Gegenteil: Die Erzählung von den Müttern zeigt bereits die kulturelle Überlegenheit der französischen Sprache und des Christentums an und führt zur sternenzeitigen Bestimmung der Kinder füreinander hin; die Erzählung von der Tochter, die die Mutter Karls des Großen wird, schließt diesen Kreis und lässt die exemplarisch Liebenden gewissermaßen in der Realgeschichte ankommen. Auch die Lebensfäden der Hauptfiguren haben in der Zusammenführung der Elternvorgeschichten einen ordentlichen Anfang und danach einen die erzählte Geschichte recht zu Ende bringenden Schluss, nämlich eine Eheschließung mit anschließender Regierungsübernahme, Christianisierung und einem Schnelldurchlauf der Regierungsjahre bis zum gemeinsamen Tod. Außerdem ist der Text noch durch eine Erzählsituation gerahmt; er gibt sich als Erzählung in einer Rahmenerzählung aus.1 Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Zeitgenossen den Text als unvollendet begriffen hätten.2 Gerade deshalb fallen zwei Handlungsfäden, die dem Textgewebe in ihrem Anfang oder Ende unerklärt gegenüberstehen, besonders auf, und man kann sich die Frage stellen, wie man ihr Draußenbleiben verstehen soll: a) Einerseits fehlt jede Andeutung über Blanscheflurs Vater. b) Andererseits gibt es keinen positiven Ausblick auf das Leben der treuen Gefährtin Claris, die vielmehr nach allem, was man erfahren hat, nach einem Jahr getötet werden wird. 1

Dazu vgl. Ludger Lieb/Stephan Müller: Situationen literarischen Erzählens. Systematische Skizzen am Beispiel von Kaiserchronik und Konrad Flecks Flore und Blanscheflur. In: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Eckhart Conrad Lutz und Klaus Ridder (Wolfram-Studien XVIII), S. 33–57, bes. S. 46–56. 2 Über die damit verbundenen Vorlagen- und Überlieferungsfragen durfte ich mich mit Christine Putzo austauschen, die eine unmittelbar vor der Drucklegung befindliche Edition erarbeitet hat und mit ihrem Wissen beispielhaft freigebig umgeht, wofür ich ihr herzlich danke. Vgl. Christine Putzo: Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur. Neuedition und Untersuchungen zu Autor, Text und Überlieferung, Diss. Masch. Hamburg 2009 (künftig: MTU).

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Uta Störmer-Caysa

Es gibt die Erzählung über die beiden blühenden Kinder bekanntlich in mehreren mittelalterlichen Versionen3, unter denen die Konrad Flecks im deutschen und niederländischen Sprachgebiet nicht die erste ist. Vom französischen Florisroman, dessen Wirkungsgeschichte bereits um 1170 einsetzt4, sind zwei Versionen überliefert, von denen aus Gründen der Chronologie nur die erste, früher ,höfisch‘ genannte Version, die wiederum in zwei fassungsartig auseinandertretenden Handschriften überliefert ist, grundsätzlich als Vorlage für Konrad Fleck in Frage kommt.5 Den viel früheren, nur fragmentarisch überlieferten Trierer Floyris-Roman6 scheint er nicht gekannt zu haben.7 Wiederum liegt die im Vorlagenbezug ähnliche8 (nämlich ebenfalls auf dem durch Hs. B repräsentierten Zweig der version aristocratique fußende) niederländische Version des Diederic van Assenede9 zu spät (um 1250, ebenso wie die mittelenglische Fassung10), als dass sie für diesen Stoff einen Weg aus dem Französischen über das Niederländische ins Deutsche 3

Eine Übersicht über Bearbeitungen in verschiedenen Sprachen schon bei Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Diederic van Assenede. Floris ende Blanceflor. Hrsg. von Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Leipzig 1836, S. XI; ein umfangreicher Überblick danach bei Lorenz Ernst: Floire und Blantscheflur. Studie zur vergleichenden Literaturwissenschaft, Straßburg 1912 (Quellen und Forschungen 118), S. 1–10. Auf den Zusammenhang von Romania und niederländisch-deutschem Sprachgebiet richtet sich die Übersicht von Johan H. Winkelman: Florisromane. In: Höfischer Roman in Vers und Prosa. Hrsg. von René Pérennec, Berlin/New York 2010 (Germania Litteraria Mediaevalia Francigena 5), S. 331–368. Umfassender stoffgeschichtlich und mit synoptischer Edition der französischen Handschriften Jean-Luc Leclanche: Contribution à l’étude de la transmission des plus anciennes œuvres romanesques françaises. Un cas privilégié: Floire et Blancheflor. Bde. 1–2, Paris 1977, hier Bd. 2, S. 57–113. Die jüngste kritische Sichtung der Fassungen, die mit der des Konrad Fleck in einer Beziehung stehen, und der dazugehörigen Forschung bei Putzo (Anm. 2), S. 7–25. 4 Das betrifft vor allem den Trierer Floyris (um 1170), aber auch ein Minnelied der Beatrix de Die, vgl. Winkelman (Anm. 3), S. 333f. 5 Christine Putzo kann aber nachweisen, dass Konrads deutscher Flore-Roman auch Züge enthält, die wie eine spanische Version hinter die Trennung in Flore I und II zurückzuweisen scheinen. Vgl. Putzo (Anm. 2), S. 20 u. S. 274. 6 Winkelman vertritt die Auffassung, der Trierer Floyris-Roman führe auf eine Quelle zurück, die zeitlich noch vor die erhaltene version aristocratique zu reihen wäre, in die Nähe eines (kürzeren) ursprünglichen Floris-Romans. Vgl. Johan H. Winkelman: Die Brückenpächter- und die Turmwächterepisode im Trierer Floyris und in der Version Aristocratique des altfranzösischen Florisromans, Amsterdam 1977, S. 6. 7 Elias Steinmeyer: Trierer Bruchstücke. I Floyris. In: ZfdA 21 (N.F. 9, 1877), S.  307–331, hier S. 307, S. 319. 8 Vgl. Ernst (Anm. 3), S. 21–37; Klaus Hupfeld: Aufbau und Erzähltechnik in Konrad Flecks Floire und Blanscheflur, Diss. Hamburg 1967, S. 2; Putzo (Anm. 2), S. 9. 9 Nach Hoffmanns Ausgabe nochmals ediert: Floris ende Blancefloer van Diederic van Assenede. Hrsg. von Pieter Leendertz, Leiden 1912 (Bibliothek van middelnederlandse Letterkunde 15); Diederic van Assenede. Floris ende Blancefloer. Hrsg. von Jacobus Johannes Mak, Zwolle 1964 (Klassieken uit de Nederlandse Letterkunde). Die Datierung bei Winkelman (Anm. 6), S. 349f. geht auf 1260. 10 Auch diese Übersetzung ist bereits im 19. Jh. ediert worden: Floris and Blauncheflur. Mittelenglisches Gedicht aus dem 13. Jahrhundert nebst litterarischer Untersuchung und einem Abriß über die Verbreitung der Sage in der europäischen Litteratur. Hrsg. von Emil Hausknecht, Berlin 1885.

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bezeugen könnte. Auch ein Bezug zur ripuarischen oder zur norwegischen Fassung, die beide noch der ersten Hälfte des 13. Jh.s angehören, ist nicht nachzuweisen.11 Wo es Fassungen und Übersetzungen gibt, da gibt es auch Unterschiede in der Auffassung des Stoffes, dessen, worauf es in der Geschichte ankommt und worauf sie hinausläuft. Das liegt in der Natur der Sache. Zugleich hat aber jeder der Texte, die so entstehen, indem sie sich aus dem Traditionsstrom absondern, auch ein Eigenleben; er steht für sich, und seine Sinnbezüge sind von historischen Rezipienten erschlossen worden, denen die Stoffgeschichte gleichgültig sein konnte. Es ist wahr, dass sich auffällige Züge der Erzählung unter Umständen nicht allein dem Gestaltungswillen eines Autors verdanken, sondern auch der Quelle, ihren Lücken oder Unverständlichkeiten. Aber den Rezipienten war diese Unterscheidung unvertraut, und sie durfte ihnen auch unwichtig sein – was in der Dichtung steht, muss den Versuch der Semantisierung aushalten, wie auch immer es dorthin gekommen sein mag.

2. Zum Beispiel: Wer ist Blanscheflurs Vater? Natürlich kann ein Erzähler aussparen, was immer er will. Aber die Asymmetrie zwischen Flores und Blanscheflurs Elternvorgeschichte und damit der Versuch, ihr Sinn abzugewinnen, ist im Text vorgegeben. Zur Herrschaft im großen christlichen Frankenreich, zu dem auch Ungern, Vergalt und Kriechen zählen (V. 334f.), führt der Text einen Königssohn, dessen Erbreich Hispanje (V. 371) heißt und sich um die Erbfolge in Hongerie (V. 344) vergrößert. Ein Ausblick, der schon im Prolog eröffnet wird (V. 305–315), umfasst die geschichtlich-geographische Bewegung, in der die von Flore erworbene Landmasse innerhalb von zwei Generationen an den Rand des neuen Imperiums rücken werde. Weil das ein Frankenreich ist, gibt es einen Bogen im Text, der aus Franken nach Franken zurückführt. Er ist an die Herkunft Blanscheflurs gebunden, nicht die Flores. Der Großvater ist in den französischen Handschriften A und B einfach ein Ritter: A (V. 94), B (V. 94); dagegen wird ihr Vater explizit Graf genannt (V. 16). Konrad Fleck lässt den Großvater einen fränkischen Grafen sein: ein grâve under in was/geborn von Kerlingen (V.422f.; „unter ihnen war ein Graf, der aus dem Karolingerland stammte“).12 11

In den Datierungsansätzen folge ich Putzo (Anm. 2), S. 9. Nachweise, Zitate und Verszählung der französischen Fassungen richten sich nach der Edition von Leclanche (Anm. 3), Bd.  1. Die Übersetzungen aus dem Altfranzösischen stammen in den mit ‚Ü. Kolmerschlag‘ gekennzeichneten Fällen aus der Arbeit von Eliane Kolmerschlag: Interpretation und Übersetzung des Conte de Floire et Blancheflor. Poetische Herrschaftslegitimation im höfischen Roman, Frankfurt u a. 1992 (Werkstruktur und Hintergrund. Studien zur französischen Lite­ ratur). In der Verlegenheit, dass Christine Putzos Text von Konrad Fleck Flore noch nicht vorliegt, zitiere ich Fleck nach Golther: Flore und Blanscheflur von Konrad Fleck. In: Tristan und Isolde und Flore und Blanscheflur. Hrsg. von Wolfgang Golther. Bde. 1–2, Stuttgart o. J. (Deutsche NationalLitteratur 4), Bd. 2, S. 235–470, Text ab S. 247.

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Der Enkel wird der große König des Frankenreichs. Aber während Flores Geschichte ausführlich erzählt wird und man von Pippin annehmen kann, dass die Hörer seinen Namen kennen, gibt es keinen namentlich erwähnten Vater Blanscheflurs. Auch der Großvater hat keinen Namen (wogegen Flores Vater schon in Vers 370 Fenix genannt wird). Zum Zeitpunkt der Vorgeschichte, des Überfalls auf einen bewaffneten Pilgerzug (ein her von bilgerînen, V. 398; „ein Heer von Pilgern“) der Christen nach Santiago, ist Blanscheflurs Vater schon tot. Der Großvater hat Blanscheflurs Mutter, seine Tochter, auf den kreuzzugähnlichen Pilgerweg mitgenommendurch ir mannes liebe, der si liez/kindes grôz und er was tôt (V. 430f.;„ihres Mannes wegen, der tot war und sie schwanger zurückgelassen hatte“). Blanscheflurs Mutter soll nach dem Willen oder mit der Billigung ihres Vaters und wegen ihres verstorbenen Ehemannes, eher: weil ihr Ehemann verstorben war, in Santiago in ein Kloster eintreten – so verstehe ich jedenfalls die Stelle. Es ist die Rede davon, dass der namenlose Graf aus dem Land, das mit dem späteren Namen Kerlingen genannt wird, obgleich Karl noch nicht geboren ist, also Blanscheflurs Großvater, seine schwangere Tochter mitnimmt, die ersante Jâcobe enthiez (V.429; „die er dem heiligen Jakobus versprochen hatte“). Er, nicht sie selbst wie im französischen Text nach beiden Hss.: Qui a l’ apostle s’ert vouee A (V. 97), qui a l’apostre s’ert voee B (V. 97) (beides: „die sich dem Apostel geweiht hatte“; Ü. Kolmerschlag). Sowohl das entheizen des mhd. wie das vouer des afrz. Textes, bezogen auf das persönliche Objekt, scheinen eher auf eine dauerhaftere Verpflichtung hinzuweisen als auf eine Pilgerfahrt.13 Man muss daher an einen Klostereintritt denken, nicht an einen wie immer beschwerlichen Besuch der heiligen Stätte. Aber darauf kommt es nicht an, die Pilgerfahrt einer Schwangeren wäre auffällig genug, und die genaue Verpflichtung bleibt offen. Im deutschen Text verfügt so der Vater über die Tochter, das verstärkt diese Assoziation. Auch wenn sich der Unterschied zur französischen AB-Fassung leicht durch eine im Pronomen abweichende Vorlage erklärt, muss die Entscheidung des Vaters über die schwangere Tochter für Konrad akzeptabel und plausibel gewesen sein. Konrad denkt anscheinend eher politisch, nicht moralisch. Er nennt den Vater Blanscheflurs den Mann ihrer Mutter (durch ir mannes liebe, V. 430; „aus Liebe zu ihrem Mann“). So (nämlich pour sonmari, in B (V. 99); „um ihres Mannes willen“) heißt es auch, während A dort por sonami(„um ihres Freundes willen“) schreibt. An sich ist an der Konstellation, dass ein Ehemann eine schwangere Frau hinterlässt, nichts Anstößiges, das kann die Ursache für die ungewöhnliche Fahrt nicht sein, eher ist das entstehende Kind zu Hause heimatlos und in Sicherheit zu bringen (und man darf vielleicht auch in literarischen Traditionslinien denken, zuvörderst an die literarische Wirkung von Chrétiens Percevalfragment). Auf jeden Fall gibt es die Unentschiedenheit, ob man die Fahrt politisch oder moralisch begründet annehmen solle, schon innerhalb der Tradition der französischen AB-Version. Sobald man nämlich an den Freund denkt, nicht den Ehemann, wird aus der Reise eine Wallfahrt zur Reinigung von Sünde, ob ihrer oder seiner oder beider. Denn Santiago liegt nicht im sicheren Kerlingen, nicht nur, wenn man den Jacobsweg wirklichkeitsförmig abgebildet denkt, sondern ausdrücklich auch in 13

Zu Formeln geschworener Vorsätze vgl. Lothar Kolmer: Promissorische Eide im Mittelalter, Kallmünz 1989 (Regensburger Historische Forschungen 12), S. 225–275, bes. S. 264.

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der erzählten Welt, auf der schon auf dem Weg dorthin das Gebiet des Heidenkönigs begangen werden muss. Blanscheflurs Mutter wird von ihrem Vater auf einen Bußweg und vielleicht in ein überaus heiliges, dauerhaftes Exil gebracht. Was mit dem Kind werden soll, steht nur unter dem teleologischen Gesichtspunkt der begonnenen Erzählung fest, ist aber in der Momentaufnahme der kurzen Elternvorgeschichte nicht begründet: Könnte es, insbesondere wenn es ein Sohn ist, in das Erbe des Vaters zurückkehren, gibt es ein solches Erbe überhaupt? Oder soll das Kind im Kloster bleiben? In dieser Darstellung liegt über Blancheflor der Makel der ungeklärten und möglicherweise illegitimen Herkunft, ein Makel, den offenbar auch Diederic van Assenede im altfranzösischen Roman vorgeprägt gefunden und also in seiner niederländischen Fassung nachgebildet hat.14 Das Wegbringen aus dem eigenen Land wird zwar mit der eigenen Absicht der jungen Frau begründet, aber auch noch deutlicher betont: Das Kind dieser Tochter ist jedenfalls fern von jedem Erbe im eigenen Land. Das macht den folgenden Aufstieg durch Schönheit, rechten Glauben, Bildung und Charakterfestigkeit noch glänzender, aber auch singulärer. Konrad Fleck geht nicht ganz so weit. Er sieht (mit der französischen Handschrift B) eine immerhin legitime Geburt und alten Adel als Eingangsbedingungen für einen solchen Aufstieg an. Seine genealogische Fiktion sieht so aus: Karl, der vorbildliche Frankenkönig, von dessen Vater Pippin man wissen konnte, dass er nicht der fränkischen Königsfamilie angehörte, sei in weiblicher Linie königlicher, aber zugleich unbekannter Abstammung. Seine Mutter stamme aus der Verbindung eines spanischen Heidenkönigs, dessen Familie noch in der vorigen Generation mit den christlichen Nachbarn in Gebietsstreitigkeiten lag, mit einer enterbten Nachfahrin eines fränkischen Grafen, die sich durch Religion, Schönheit und Bildung auszeichnet. Kerlingen, das schon anfangs so heißt und von wo die Großmutter ohne Aussicht auf Erbe für ihr Kind weggebracht wird – dorthin wird der Enkel Karl als Herrscher zurückkehren, wie nicht auserzählt, aber im genealogischen Abspann implizit behauptet wird. Von Spanien ist am Ende nicht mehr die Rede, christlich geworden ist es noch in der Flore-Erzählung. Schwierige Verhältnisse zwischen Spanien und dem Frankenland, wie sie im Rolandslied bedichtet werden, kann der Rezipient unterstellen, aber sie spielen für die erzählte Geschichte keine Rolle. 14

Die Stelle über den Vater heißt nach der Edition von Mak (Anm. 9): Daer was oec een Fransoys mede/Die grave was ende van edelen gheslachte. […] Ene zijn dochter hi met hem hadde brocht,/ Die een heylichdom soude hebben besocht/Te Rome, daerse haer bisscop sinde./Haer man hadse ghelaten met kinde,/Daer was hi inden stride bleven doot. (V. 140–149; „Dabei war auch ein Franzose, der war ein Graf und von edlem Geschlecht. Er hatte seine Tochter mit sich gebracht, die eine heilige Stätte in Rom besuchen sollte, wohin sie ihr Bischof geschickt hatte. Ihr Mann hatte sie schwanger zurückgelassen, während er tot war, in einem Kampf gefallen.“) Der niederländische Text ist hier etwas anders sparsam als der französische, aber er eröffnet die selben Rätsel und die selben Vermutungsräume: Warum schickt ein Bischof eine schwangere Frau auf eine Pilgerreise, auf der sie Vergebung für besonders starke Sünden erreichen kann? Doch wohl nur, wenn die Legitimität des Kindes in Frage steht? Rom statt Santiago – das ist vielleicht eine Änderung, die sich einer Angabe zur fiktionalen Geographie verdankt, die sowohl in der französischen AB-Fassung steht (V. 121) als auch bei Konrad Fleck (V. 498), wonach der König von Hispanie in Naples/Nâpels seinen Sitz hat.

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Angesichts des steilen Aufstiegswegs wirkt es wie eine Markierung am Text, dass Blanscheflur keinen erzählten Vater hat. Sie braucht nur eine vage Abgrenzung von niedriger Herkunft, weil sie sich nicht durch Ebenbürtigkeit, sondern durch Ebennatur auszeichnet.15 Sie ist kein Königskind, aber sie sieht so aus wie Flore, sie ist am gleich Tag geboren wie er, erzogen wie er, sie verhält sich wie er usw. – die spiegelbildliche ist die ideale Ergänzung eines geborenen Königs. Eine solche Begründung von Herrschaftsfähigkeit durch Idoneität, die an der Ähnlichkeit gleichsam nachgemessen werden kann – einer ist, wie ein König sein soll, also zunächst der spiegelbildlich gleiche Gefährte eines Königs, ehe er schließlich ein solcher werden darf – begegnet auch im Engelhard Konrads von Würzburg. Idoneität legitimiert, aber sie muss auch eine Kluft überbrücken, und für diese Kluft steht als rezeptionssteuerndes Merkzeichen die Leerstelle, die sich dem Rezipienten in den Nachrichten über Blanscheflurs Herkunft auftut.16 Idoneität muss sich zudem immer wieder in der Tat beweisen: vaterlos, ohne Erbe, unfrei ist Blanscheflur, als Natur und rechte Religion (und beider Mitte, die Vorsehung) sie zu Bildung und Liebe führen; dass ihre Liebe sich nicht auch auf Wohlleben und Herrschaft richtet, ist die Bedingung dafür, dass sie mit beiden belohnt wird.17 Die Unentschiedenheit und Zweifelhaftigkeit der erzählten Herkunft Blanscheflurs dienen offenbar in der gesamten Tradition des Romans bis auf Konrad Fleck, der die Akzente gegenüber seinen Vorlagen etwas verschoben hat, zur Hervorhebung und Steigerung des singulären Aufstiegswegs.

3. Und was wird aus Claris? Andere machen es immerhin anders Das größte Skandalon des Textes von Konrad Fleck ist sein Umgang mit der Figur Claris. Die höfische Version des französischen Floreromans gibt dem Amiral die Eingebung und Einsicht, angesichts des leuchtenden Beispiels treuer und standhafter Liebe, das Flore ihm gegeben hat, auf seinen bisherigen jährlichen Frauenwechsel zu verzichten und Claris, die in A Gloris heißt, zu seiner endgültigen und letzten Ehefrau zu machen. Beide

15

Waltenberger, der das Auswahlkriterium ‚Natur‘ herausarbeitet , spricht von „Quasi-Zwillingschaft“: Michael Waltenberger: Diversität und Konversion. Kulturkonstruktionen im französischen und im deutschen Florisroman. In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Wolfgang Harms/C. Stephen Jaeger/Horst Wenzel in Verbindung mit Kathrin Stegbauer, Stuttgart 2003, S. 25–43, hier S. 28. Dass Blanscheflurs Tauglichkeit für höchste Herrschaftswürden bei Konrad Fleck über Schönheit als Zeichen für Eignung bestimmt wird, nicht über die Herkunft, notiert auch Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der höfischen Epik, Tübingen 2008 (MTU 135), S. 287. 16 Den rezeptionsästhetischen Begriff übernehme ich von Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, S. 284 (in Abgrenzung von der notwendigen Unvollständigkeit des Gesagten und Geschriebenen). 17 Eliane Kolmerschlag (Anm. 12, S. 173–175) hebt an der französischen A-Fassung hervor, dass sich im Flore-Roman das Idoneitätskonzept nur auf die weibliche Linie erstreckt.

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Handschriften erzählen, wie Blanceflor Claris empfiehlt und, als der Amiral sie nimmt, mit Flore gemeinsam um ihr Leben bittet. A hat: Aprés fait Gloris demander: Par le consel de Blanceflor l’a prise li rois a oissor; et molt humlement li pria, quant Gloris eüe avera tot l’an, por Diu que ne l’ocie, ains le tiegne tote sa vie. Et Flores ausi l’em pria; Blanceflor mout grant joie en a […] (Leclanche A, V. 3126–3134) Daraufhin läßt er Gloris rufen. Er nahm sie zur Frau auf den Rat von Blancheflor, die ihn sehr inständig bat, Gloris, wenn er sie ein Jahr lang gehabt hätte, um Gottes Willen nicht zu töten, sondern sie sein ganzes Leben lang zu behalten. Und Floris bat ihn ebenfalls darum, was für Blancheflor eine sehr große Freude war. Et puis fet Claris amener. Par le conseill de Blancheflor la prent l’amiral a oisor. Mes Blancheflor moult li proia et touz ses diex li conjura, et Floires l’en ra molt prié et de bon cuer humilié que il ja Claris n’ocirra ne autre fame ne prendra. (Leclanche B, V. 2895–2903) Und daraufhin lässt er Claris herbeischaffen. Nach Blancheflors Rat nimmt sie der Amiral zur Frau. Aber Blancheflor bat ihn sehr und beschwor ihn bei allen seinen Göttern, und Flore bat ihn seinerseits sehr aufrichtig und demütig darum, dass er Claris nicht töten solle und keine andere Frau nehmen.

Nur A hat allerdings die Bestätigungsverse: Et li amirals lor otrie/qu’il le tenra tote sa vie (Leclanche A, V. 3135f.; „Und der Amiral sichert ihnen zu, dass er sie sein ganzes Leben lang behalten werde.“)

In dieser versöhnlichsten Variante der gesamten Überlieferung ist die Symmetrie hergestellt; die treue Freundin wird selbst Königin und bleibt am Leben, womit gleichzeitig unter dem heilsamen Einfluss des hauptsächlich besprochenen Liebespaares in der erzählten Welt ein grausamer Brauch für beendet erklärt wird – das Vorbild der Guten setzt das Gute durch. Die Handschrift B scheint dagegen nicht versichern zu wollen, dass der Amiral auch tue, worum die Liebenden ihn bitten; immerhin lässt sie den Hörer oder Leser in der Hoffnung auf das höfische Regelwerk und den Zwang solcher Bitten.18 18

Auch Waltenberger (Anm. 15), S. 36 liest so und glaubt, dass ein positiver Ausgang für Claris/ Gloris unterstellt werden soll.

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Aber ganz sicher kann sich der Rezipient in dieser Erwartung nicht sein, denn es gibt einen Einschub in B (aber nicht in A), in dem Claris die Proben, die auch Konrad Fleck zusammenfassend erwähnt (und früher ausführlich berichtet), nämlich die Jungfräulichkeits- und die Erwählungsprobe, nun ausdrücklich absolvieren muss. Damit setzt B zwei widerstreitende Vorgaben für den Rezipienten: Man darf einerseits erwarten, dass der Amiral Flore und Blanscheflur eine höfisch vorgetragene Bitte nicht abschlagen kann; andererseits kann man die Anwendung der üblichen Routinen für die Jahresfrauen auf Claris auch als Anzeichen dafür verstehen, dass der Amiral auch von der dritten Gewohnheit, nämlich der, seine Königinnen nach einem Jahr zu Tode zu bringen, nicht abgehen wird. Konrad Fleck verfährt auf eine interessante Weise anders:19 Einerseits bietet er stellenweise einen ganz anderen Text als A und B, Stellen, die es weder hier noch da gibt; andererseits verstärken seine Änderungen die schon in B angelegte Ungewissheit des Hörers oder Lesers über Claris’ Zukunft, jedoch mit einer Umkehrung der Normallage, indem er Claris’ Tod als das wahrscheinlichere Ende ihrer erzählten Lebensgeschichte erwarten lässt. Der Amiral hat eben Flore und hundert Gefährten zur Schwertleite ausgerüstet (V. 7510–7513) und lässt ein großes Fest bereiten, wan des amirals muot stuont mit vlîze dar an (ouch rietenz im sîne man) daz er Clâris næm ze wîbe, diu nâch Blanscheflûr sîme lîbe aller beste dâ gezam. vor sînen fürsten er sî nam nâch der gewonheit, als iu dâ vor ist geseit, und hiez si dô krœnen. (V. 7542–7551) Denn der Amiral hatte die feste Absicht, und seine Leute rieten es ihm auch, Claris zur Frau zu nehmen, die nach Blanscheflur die beste dort für ihn war. Er nahm sie vor seinen Fürsten in dem gewohnten Ablauf, wie ihr schon wisst, und ließ sie dann krönen.

Auch Konrad spielt also auf die gewohnten Eheschließungsrituale des Amiral an. Von einer Bitte Blanscheflurs oder Flores um das Leben der Claris, erst recht von einem expliziten Zugeständnis, ist nicht die Rede. Später werden die Paare verglichen: der amiral der leite sich ze sînr âmîen Clâris und Flôre ze gelîcher wîs 19

Christine Putzo (Anm. 2), S. 29 nimmt einen bewussten, konzeptionell begründeten Widerspruch zur Vorlage an. Auf die Stelle war bereits Sundmacher gestoßen, Heinrich Sundmacher: Die altfranzösische und mittelhochdeutsche Bearbeitung der Sage von Flore und Blanscheflur, Göttingen 1872, S. 44.

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ze sîner friundinne. ach wie ungelîcher minne dô sie viere pflâgen! wan sie rehte wâgen als kupfer wider golde. Flôre hâte holde sîne âmîen âne wanc, sô was des andern gedanc ze verliesen die sîne. (V. 7618–7629) Der Amiral legte sich zu seiner Liebsten Claris und Flore ebenfalls zu seiner Freundin. Aber wie ungleich die Liebe war, die die vier da übten! Denn sie wogen einander so auf wie Kupfer das Gold. Flore hing seiner Liebsten ohne Hin und Her an; dagegen dachte der andere daran, die seine loszuwerden.

Der Erzähler weiß, was die Figur will, und er macht keine entgegengesetzte Vorausdeutung. Wo bleibt die Symmetrie der Dankbarkeit, die Flore seinen Helfer, den Türhüter, retten lässt? Der Wille des Amirals bleibt im Hinblick auf Claris ohne Widerspruch. Denn bei Konrad Fleck ist es nicht  – wie in den französischen Handschriften A und B – Blanscheflur, die dem Amiral zur Ehe mit Claris rät. Damit wäre sie zur Hilfe verpflichtet, denn sonst würde sie ihre Freundin zum schnellen Tod verurteilen. Nein, der Amiral wählt selbst, vielmehr: Er lässt die magischen Prozeduren wählen, die seine Jahresfrauen erkoren haben; danach lässt er die Wahl durch seinen Rat bestätigen. Die magischen Prozeduren gehören zu den Regeln der Heidenwelt, die eben so sind, weil Heidenregeln ungerecht sein dürfen und sollen. Claris ist keine Christin und wird nicht verschont. Floris, dem Protochristen, wie die Erzählung von ihrem Ausgang her weiß, ergeht es besser, weil er alsbald zum Heidenfeind werden wird. Ist das so gedacht, hat die Chanson de geste Konrad Flecks Erzählweise so stark getönt? Mit der Figur Claris steht viel auf der Waage. Lässt ein Autor sie sterben, dann nimmt er es in Kauf, dass die Idealität der Liebe zwischen Flore und Blanscheflur nur die später christliche, gewissermaßen die eigene, Welt erhellt, wogegen der andere Teil durch Grausamkeit verfinstert bleiben darf und allenfalls punktuell aufgehellt werden kann.20 Rettet ein Autor seine Nebenfigur, dann macht er es dem Helden oder der Vorbildlichkeit der idealen Liebe oder doch dem Erzählen zur Aufgabe, ideale Ordnung in der ganzen erzählten Welt herzustellen. Lässt er ihr Schicksal ungewiss, so setzt er ein Rätsel, das 20

Hupfeld (Anm. 8) billigt der Claris-Erzählung S. 144 „ein besonderes Eigengewicht“ zu. Er fährt fort: „ihr [der Figur Claris, U. StC.] Name wird identifizierbar mit der tragischen Verflechtung von Umständen, die jenseits der Geltung der stæten triuwe stehen“ (S. 144). Der Geltungsbereich der triuwe ist danach das Vorbildliche, aber Begrenzte. Dann wäre allerdings zu bedenken, ob es nicht einen Unterschied gibt zwischen vertraglicher triuwe (die Flore auch dem heidnischen Türhüter hält) und moralischer triuwe-Verpflichtung, die zu halten eine Frau wohl zu schwach sein kann. Nicht ganz konsequent gedacht und am Text schwer beweisbar erscheint mir, eine „tragische Verflechtung von Umständen“ anzunehmen (ebd.), die für den Tod der Claris verantwortlich sei.

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der Rezipient sich unterschiedlich auflösen kann, wobei er etwa an die Rennewartfigur in Wolframs Willehalm denken kann oder an Brangäne, die bei Eilhart erlischt, ehe sie stirbt, und bei Gottfried nicht einmal stirbt. Das durch Offenlassen und Nichtsagen entstehende Rätsel lässt sich auf der Ebene des Erzählens selbst auflösen – es gibt noch etwas zu erzählen, ein anderes Mal – oder auf der Ebene des Dargestellten – das Ideale ist eine Ausnahme in der erzählten Welt, nicht ihr angestrebter Gesamtzustand.

4. Der Ausgang für Claris und die Selbstverpflichtung auf Kohärenz Konrad Fleck hat sich entschieden, wie er erzählt: Er hat einen Abschluss der ClarisHandlung umrissen, aber an die Intention einer Figur gebunden. Dennoch hält der aufmerksame Rezipient die Rettung der Freundin unter Umständen für möglich. Diese das Angedrohte unterlaufende Erwartung wird durch eine innertextliche Parallele genährt: weil Claris sich nämlich durch die Frist nun in einer ähnlichen Lage befindet, in der der Hörer zuvor Blanscheflur erlebte, als der Erzähler den Amiral eine Heirat mit Blanscheflur erwägen ließ (und das ist sehr früh in der Erzählung, schon beim Kauf des Mädchens). Die Analogie bezieht sich, wenn man einräumen will, dass eine fremde Verheiratung für Blanscheflur ebenfalls eine Katastrophe darstellt, auch auf die Frist. Der Autor lässt den Amiral der erworbenen Sklavin seine Absichten erklären und ihr, in der Vermutung, sie habe einen Freund, um dessentwillen sie traurig sei, genau dieses eine Jahr Frist einräumen: iedoch sô hânt ein jâr frist, durch daz ir iuch berâtent, ob ir einen friunt hâtent, den ir noch lîhte lebende hânt, daz ir den ûz dem muote lânt und ir iuwer minne, iuwer herze und iuwer sinne gar gewendet an mich […] (V. 1712–1719) Aber Ihr sollt nun ein Jahr Zeit haben, damit Ihr mit Euch ins Reine kommt, falls Ihr einen Freund hattet, von dem Ihr glaubt, dass er noch lebt; damit Ihr den aus Euren Lebensplänen entlasst und Eure Liebe, Euer Herz und Eure Absichten ganz auf mich richtet.

Die Sympathielenkung des Textes lässt den Amiral hier durchaus in freundlichem Licht erscheinen; seine wenige Verse zuvor erklärte Absicht, Blanscheflur und er werden sament alten (V. 1707; „zusammen alt werden“), steht in einem spannungsreichen Verhältnis zu der Einschätzung, die der Rezipient zugleich mit Flore später hört: dâ muoz si danne swære leben(V. 3108;„dort wird sie es dann schwer haben“).

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Der freundliche Umgang mit Blanscheflur und die ihr gegenüber geäußerte Absicht, sie bis ins gemeinsame Alter zu behalten, widerspricht auch der Erklärung des Daries über die Gewohnheit des Amirals, seine Frauen nach einem Jahr verbrennen oder sonst zu Tode kommen zu lassen: swelch frouwen er ze âmîen nimt, der pfliget er schône: sî treit mit ime diu crône ein jâr und niht mêre; sô muoz si leider die êre koufen harte tiure: er heizet sî in eime fiure oder sus verliesen. (V. 4370–4377) Wenn er eine Dame zur Liebsten erwählt, dann bemüht er sich sehr um sie. Ein Jahr und nicht länger trägt sie mit ihm die Krone; dann muss sie leider die Ehre teuer bezahlen. Er lässt sie im Feuer oder auf andere Weise zu Tode bringen.

Diese Sichtweisen auf die Figur des Amiral lassen sich in einem erstaunlichen Maß zu einem kohärenten Bild ergänzen: Der Mächtige erwählt die Schöne zunächst nur, wie er die anderen Frauen erwählt hat, auf Zeit, aber er zeigt sich von ihr so beeindruckt, dass er in der Rede zu ihr mit dem Gedanken spielt, die Gewohnheit des Wechsels aufzugeben. Gleichzeitig erlaubt es der Text, die Rationalisierung des Erzählten so weit zu treiben, dass man die erste Versprechung des Amiral an Blanscheflur – das gemeinsame Alter – für eine bewusste Täuschung halten kann. Denn wenn die Regelhaftigkeit so zu denken wäre, wie die Figur Daries es darstellt, müsste der Amiral etwa zu jener Zeit, als er Blanscheflur kaufte und ihr mitfühlend ein Jahr Frist anbot, um ihren Gesellen zu vergessen, eine andere Frau geheiratet haben. Die Frau wird als Figur nicht aktiviert, aber sie ist denknotwendig (wie ihr Tod vor Claris’ und Blanscheflors Hochzeit). Wenn man sie nach den Angaben der tatsächlich auftretenden Figuren in die erzählte Welt hineindenkt, passt sie genau in die unbesprochenen Lücken der Erzählung. Das unterstellt Kohärenz nicht nur des Zeitgerüstes, sondern auch der inneren Verfassung der Figur des Amiral. Wie Hupfeld zutreffend feststellt, unterscheiden sich Flecks Nebenfiguren von den Hauptfiguren durch ihre Wahlfreiheit gegenüber zukünftigen Handlungen und durch die Notwendigkeit (und Möglichkeit, das steht nicht bei Hupfeld), falsche Entscheidungen zu revidieren.21 Der Amiral hatte die Absicht, Flore und Blanscheflur töten zu lassen, und er lässt sich im Laufe der erzählten Handlung umstimmen. Diese Parallele ist die einzige Aussicht auf Rettung, die der Erzähler seinem Hörer oder Leser für Claris mitgibt, und es ist eine Aussicht, die ausdrücklich auf der Kohärenz der Figur des Amiral und des ganzen Textes aufruht. So, wie Flores Weg in den Turm auf der Figurenebene die Verlässlichkeit des Daries, auf der Rezipientenebene die der bisherigen Erzählung 21

Hupfeld (Anm. 8), S. 140.

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zeigte, so weist der Text nun auf eine Zukunft voraus, die sich als Schnittpunkt zweier gedanklicher Linien ergibt: der Sicherheit über die zerstörerischen Absichten des Amiral und der Texterfahrung, nach der solche Absichten des Amiral unter Einfluss geeigneter Ratgeber unter Umständen als abwendbare zu denken sein sollen. Eine solche Verständnisoption unterläuft die eindeutige Verteilung von Gut und Böse auf religiöse Lager, wie die Chanson de geste sie vorgibt. Konrad Fleck scheint sich vielmehr in einen intertextuellen Diskurs über die Reichweite von Idealisierung einzulassen, einen Diskurs, der vornehmlich im Roman geführt wird und auch nur dort geführt werden kann, weil das kunstvolle Spiel mit Nichtgesagtem nur unter der Voraussetzung hoher Kohärenzstandards möglich ist.

Annegret Oehme (Chapel Hill/Durham)

es wil mein namen nirgez nenen. Identitätskonstruktionen in der jiddischen Paris un Viene-Adaption1

Texte mit einem potentiell ‚jüdischen‘ Entstehungshintergrund stehen grundsätzlich in der Gefahr, über Themen wie Ausgrenzung und Vertreibung oder Religion erschlossen und interpretiert zu werden.2 So wird mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Werken, verfasst in Jiddisch und gedruckt in hebräischen Buchstaben,3 oft eine inhaltlich ‚jüdische‘ Kohärenz unterstellt, die sich scheinbar über die Schrift konstituieren lässt. Doch viele der nicht-religiösen Texte sind kaum bis gar nicht an spezifisch jüdischen Dingen interessiert und zeigen oftmals eine große Offenheit, gar Inkohärenz im Hinblick auf kulturelle Zuschreibungen, wenn sie z. B. zwischen christlicher und jüdischer Zeitrechnung hin und her springen. Dies ist auch bei Paris un Viene, einem jiddischen Liebes- und Abenteuerroman, der einen europäischen Erzählstoff aufgreift und in Anlehnung an den Duktus eines Ariosto oder Boiardo neu erzählt, der Fall. In diesem Aufsatz möchte ich zeigen, wie der Text auf verschiedenen Ebenen Identität verhandelt und dadurch am zeitgenössischen Identitätsdiskurs innerhalb der jüdischen Gemeinschaft partizipiert. Dabei gilt es grundsätzlich drei verschiedene Ebenen zu bedenken, die im Text interagieren: die historisch-soziale Wirklichkeit innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die Inszenierung der narrativen auctoritas und die textinterne Figurengestaltung. Über die Hauptfigur wird zunächst ein personales Identitätskonzept propagiert, das von narrativen Konventionen gekennzeichnet ist, und unter Rückgriff auf bekannte Strukturen des Liebes- und Abenteuerromans ein rite de passage, an dessen Ende das Erlangen einer Identität steht, durchgespielt. Die Ausgangssituation bildet dabei die unterschiedliche soziale Position 1

Je nach Transkription auch Paris un Wiene oder Paris un Vienna. Ein prominentes Beispiel sind die Sangsprüche des Süßkind von Trimberg, die oft gar nicht in Gänze wahrgenommen und aus literaturwissenschaftlicher Sicht erschlossen werden, sondern hinter die Diskussion um die potentielle ‚Jüdischkeit‘ des Verfassers zurücktreten. 3 Die Zitate erfolgen nach Erika Timms transkribierter Edition, die sich an das Transkriptionssystem des Trierer Lehrstuhls für Jiddistik anlehnt (Paris un Wiene. Ein jiddischer Stanzenroman des 16. Jahrhunderts von [oder aus dem Umkreis von] Elia Levita. Eingeleitet, in Transkription hrsg. und übers. von Erika Timm, Tübingen 1996). Da der eigentliche Text im hebräischen Alphabet verfasst ist, bedeutet eine Transkription immer eine Interpretation, die nur als Hilfsmaßnahme gesehen werden kann, aber im Rahmen dieses Aufsatzes den praktikabelsten Weg darstellt, zumal deutlich wird, wie nah diese Stufe des Jiddischen dem Frühneuhochdeutschen steht. Die Übersetzungen stammen von mir. 2

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der Liebenden, die es im Laufe des Romans anzugleichen gilt, um die abschließende Vereinigung des Paares zu ermöglichen. Doch im Rahmen der Inszenierung der narrativen Autorität wird das so gestaltete Konzept von Identität wieder in Frage gestellt und durch Verschiebungen und Brüche der Erzählebenen problematisiert. Im Folgenden werde ich deshalb zunächst die Identitätskonstruktion am Beispiel der Hauptfigur Paris untersuchen und nachzeichnen, wie diese für Paris vor allem über seine soziale Stellung und Rolle als Liebender im Rahmen der Handlung zu einem vorläufigen Abschluss kommt. In einem zweiten Schritt werde ich diese Ergebnisse mit Blick auf das Sprecher-Ich überprüfen und zeigen, wie dieses eine solche Identitätskonzeption in Frage stellt und durch Bezugnahme auf die historische Figur des Elia Levita und das permanente Konstruieren und Dekonstruieren der eigenen Autorität ins Leere laufen lässt. Dadurch wird im Text mit Blick auf Identität eine permanente Spannung erzeugt, die vor allem unter der Bezugnahme auf den Entstehungs- und Rezeptionshintergrund Bedeutung gewinnt. Die enge Verknüpfung von Figuren-, Erzähler- und Rezeptionsebene wurde bisher in der Forschungsdiskussion wenig beachtet, obwohl Fragen nach dem Verfasser und dem historischen Entstehungskontext durchaus behandelt wurden. Dabei galt das bisherige Interesse vor allem der jiddischen Literaturproduktion in den norditalienischen Städten zwischen 1450/75 und 1600, einer Zeit, die von Erika Timm als „goldenes Zeitalter“ der jiddischen Literatur bezeichnet wurde.4 Generell wird Paris un Viene als ‚traditioneller‘ Liebes- und Abenteuerroman verstanden, der sich nicht in der groben Struktur, wohl aber in der Ausgestaltung von anderen Texten derselben Tradition unterscheidet.5 Dies hat vor allem Armin Schulz in der einzigen zu Paris un Viene erschienenen Monographie hervorgehoben, die durch die Fülle der darin behandelten Themen die Rolle einer grundsätzlichen Einführung zum Text einnimmt.6 Stärker historisch orientiert arbeitet Erika Timm, die in ihrer umfangreichen Einleitung zur von ihr transkribierten und herausgegebenen Paris un Viene-Edition vor allem den linguistischen Hintergrund des Textes beleuchtet.7 Obwohl Timm und Schulz sich mit Fragen der Autorschaft auseinandersetzen, stellen sie doch keine Zusammenhänge zwischen Figuren, narrativer Instanz und außerliterarischer Realität im Blick auf Identität her. Gezielter haben sich Silke Winst und Jean Baumgarten mit dieser Frage auseinandergesetzt. Dabei weist Winst an der niederdeutschen Fassung ein Interesse an geschlechterspezifischen Räumen nach, das sich so nicht für die jiddische Fassung erkennen lässt, wie später noch zu sehen sein wird.8 Baumgarten hin4

Erika Timm: Wie Elia Levita sein Bovobuch für den Druck überarbeitete. Ein Kapitel aus der italojiddischen Literatur der Renaissancezeit. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 72 (1991), S. 61–81, hier S. 61. 5 Der Begriff Liebes- und Abenteuerroman wurde dabei bisher nicht problematisiert. 6 Armin Schulz: Die Zeichen des Körpers und der Liebe. ‚Paris und Vienna‘ in der jiddischen Fassung des Elia Levita, Hamburg 2000 (Poetica 50). 7 Timm (Anm. 3). 8 Silke Winst: Die Topographie des Selbst. Zur Ausdifferenzierung von Außen- und Innenräumen in spätmittelalterlichen Liebes- und Reiseromanen. In: Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter. 11. Symposium des Mediävistenverbandes vom 14.–17. März 2005 in Frankfurt an der Oder. Hrsg. von Ulrich Knefelkamp/Kristian Bosselmann-Cyrian, Berlin 2007, S. 152–165.

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gegen liest Paris un Viene als „allegory of exile and redemption of the Jewish people“, in der Viene die Shekhina, Gottes Präsenz auf Erden, verkörpert.9 Obwohl ich mich ebenso wie Baumgarten der Frage nach der Verortung des Textes im Judentum über das Identitätsmotiv nähere, komme ich doch zu einem anderen Ergebnis und werde zeigen, dass Paris un Viene nicht Antworten liefert und die außerliterarische Realität abbildet, sondern deren Identitätskonzepte problematisiert und Heterogenität thematisiert. Auch der Entstehungs- und Rezeptionshintergrund der jiddischen Paris un VieneFassung ist aufgrund des heterogenen Publikums, das ganz verschiedene Traditionen und Herkunftsländer umfasste, und des durch einen italienischen Christen erfolgten Druckes, durch Vielfalt und Brüche markiert. Zunächst handelte es sich bei den Rezipienten primär um Jiddischsprecher im Norditalien des 16. Jahrhunderts.10 Zwar war ein großer Teil dieser Juden vor allem im 15. und 16. Jahrhundert aus den deutschsprachigen Gebieten emigriert, zugleich gab es aber auch einen bereits bestehenden, festen Kern jüdischer Gemeinden in Norditalien. Dadurch entstand eine heterogene und anhaltend fluktuierende Gemeinschaft, deren Zusammenleben durch die Bewahrung von Tradition, aber auch durch Anpassung an ihre christliche Umwelt geprägt war. Dabei spielt die Frage nach Identität eine besondere Rolle, galt es doch für diese jüdische Minorität immer wieder, sich mit dem Umfeld auseinanderzusetzen, die eigene soziale, religiöse und kulturelle Identität zu reflektieren, Nähe und Distanz zur umgebenden christlichen Majorität stets neu zu bestimmen. Gerade dieses heterogene Publikum vermochten zwei Liebes- und Abenteuerromane in den Bann zu ziehen, nämlich das Bove-Bukh und Paris un Viene.11 Damit standen bei der Lektüre nichtreligiöser Texte zwei Romane hoch im Kurs, zu deren Gattungsmerkmalen lange Reisen, das Aufeinandertreffen von Eigenem und Fremdem, Erkennen und Verkennen gehören.12 Und mehr noch, sie ermöglichen eine Reflexion der 9

Jean Baumgarten: Introduction to Old Yiddish Literature, Oxford/New York 2005, S. 202. Auch die Sprache des Textes ist das Produkt eines permanenten Austauschs mit anderen Sprachen und Kulturen, geht man doch heute davon aus, dass sich eine Zahl französisch- und italienischsprachiger Juden im 9. bzw. 10. Jahrhundert am Moselbecken und linken Rheinufer ansiedelten und die lokale Sprache übernahmen. Zugleich reicherten sie diese mit Romanismen, Hebraismen und Resten von Aramäisch an. Der genaue Terminus ist jedoch ebenso umstritten wie die Frage, ob es sich dabei um eine dialektale Ausprägung oder eine eigene Sprache handelt, wobei jeder Begriff – unvermeidlich – ideologisch aufgeladen ist und eine andere Emphase trägt. Vgl. hierzu u. a. Baumgarten (Anm. 9), S. 1–25; Jacob Allerhand: Jiddisch. Ein Lehr- und Lesebuch, Wien 2001; Paul Wexler: Three Heirs to a Judeo-Latin Legacy: Judeo-Ibero-Romance, Yiddish and Rotwelsch, Wiesbaden 1988 (Mediterranean culture and literature monograph series 3). 11 Doch nicht nur Liebes- und Abenteuerromane fanden Anklang. Adaptionen verschiedenster Erzählstoffe, die nicht aus spezifisch jüdischer Tradition stammen, erfreuten sich großer Beliebtheit. Von Texten aus dem Stoffkreis um König Artus finden sich ebenso jiddische Bearbeitungen (Widuwilt) wie aus dem Bereich der Heldendichtung (Dietrich von Bern, Meister Hildebrand, Siegenot) und von frühneuhochdeutschen Prosaromanen (Fortunatus). Doch vor allem die jiddischen Adaptionen von Liebes- und Abenteuerromanen wurden zu Publikumslieblingen, wie beispielsweise Floris und Blanscheflor, Die schöne Magelone und eben Paris un Viene. 12 Erkennen und Verkennen, Nähe und Ferne, aber auch ‚Privatheit‘ und Öffentlichkeit sind nach Michail Bachtin Themen des Chronotopos der Abenteuerzeit. Bachtin definiert Chronotopoi all10

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Frage, wie sich Identität im Verhältnis zu Anderen, in Trennung und Verbundenheit beim Einzelnen oder in einer Gemeinschaft konstituiert. Bei Paris un Viene handelt sich um die Bearbeitung eines weitverbreiteten europäischen Erzählstoffes katalanischen oder provenzalischen Ursprungs.13 Bis 1528 liegen 63 Drucke in 9 Sprachen vor, unter anderem in Englisch, Französisch, Italienisch und Mittelniederdeutsch.14 Eine jiddische Fassung, wohl zwischen 1532 und 1553 entstanden, war in der Forschung bekannt und in Fragmenten erhalten. Aufgrund der Nähe zum zweiten populären jiddischen Liebes- und Abenteuerroman der Zeit, dem Bove-Bukh, war man sich einig, dass es sich um ein weiteres Werk des Elia Levita15 handeln musste. Damit schrieb man das Werk einem bekannten Hebraisten und Jiddisten des 16. Jahrhunderts zu, der aus Franken nach Norditalien emigriert war und dort vor allem in Humanistenkreisen als Sprachgelehrter großes Ansehen genoss. Doch Levitas Autorschaft wird seit 1986 in Frage gestellt, seit die Romanistin Anna Maria Babbi durch Zufall einen auf 1594 datierten vollständigen Druck, der den bisher unbekannten Prolog enthielt, gefunden hatte.16 Der Inhalt dieses Prologes führte dazu, dass an Elia Levita als Autor des Werkes Zweifel aufkamen. Die Frage der direkten Vorlage ist hingegen weniger problematisch. So geht man generell davon aus, dass die jiddische Paris un Viene-Adaption auf einer italienischen Prosavorlage basiert17 und nach dem Schema der ottava rima in Stanzen (rück-) transferiert wurde.18 Der Text ist zudem in zehn Canti untergliedert, die jeweils mit einer sentenzhaften Reflexion beginnen, welche im Anschluss auf Handlung und Figuren bezogen wird. Die Canto-Enden verweisen meist auf eine fingierte Performanzsituation, in der beispielsweise die Müdigkeit oder der Durst des Sprecher-Ichs eine Unterbrechung notwendig machen. Bevor ich mich nun genauer mit den verschiedenen Ebenen der Identitätskonstruktion in Paris un Viene auseinandersetze, muss der Begriff Identität selbst geklärt werden. Obwohl dieser etwas beschreibt, das in so vielen Texten des Mittelalters und der

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gemein als Form-Inhalt-Kategorien des Romans, bei denen räumliche und zeitliche Merkmale verschmelzen. Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos, Berlin 2008, S. 7–9 u. 9–28. Vgl. Timm (Anm. 3), S. XXII. Eine mittelniederdeutsche Fassung wurde 1488 von Gerhard Leu in Antwerpen gedruckt, gelangte aber nie zu großer Popularität. Vgl. Paris und Vienna: eine niederdeutsche Fassung vom Jahre 1488. Hrsg. von Axel Mante, Gleerup 1965. Auch: Elye Bokher, Elia(s)/Elijah Levita oder Elye ben Asher Halevi Ashkenazi. Daraufhin erfolgten 1988 die Publikation einer Faksimileausgabe (Elia Levita: Paris un Viene. Hrsg. von Francesco Dalla Donne, Verona 1594. Faksimile-Edition 1988) und 1995 eine Edition in moderner hebräischer Schrift (Paris un’ Wiene. Hrsg. von Chone Shmeruk, Jerusalem 1995). Zudem existiert seit 1996 eine von Erika Timm besorgte transkribierte Edition in lateinischen Buchstaben, die den Text einem breiteren Publikum zugänglich macht. Vgl. Timm (Anm. 3). Erika Timm argumentiert, dass es sich bei der in špróch der krištén (10,6; „Sprache der Christen“) verfassten Quelle wohl um Italienisch gehandelt haben muss, da der Begriff auf latinum vulgare und damit Italienisch rekurriere. Vgl. Timm (Anm. 3), S. XXIIIf. Der Verfasser bedient sich zwar der Stanze, gestaltet diese aber mitunter – gerade im Blick auf das Reimschema – in einer freieren Form, was nicht zuletzt durch die Hebraismen und deutschstämmigen Reimwörter bedingt ist. Vgl. Timm (Anm. 3), S. XXXIV–LIV.

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Frühen Neuzeit reflektiert wird,19 kann eine vielfältige und ungenaue Verwendung des Begriffs dem Erkenntnisgewinn hinderlich sein. Daher wird in der Literaturwissenschaft mitunter Kritik an der scheinbaren Selbstverständlichkeit, mit welcher der Identitätsbegriff verwendet wird, geäußert.20 In diesem Zusammenhang sieht Odo Marquard auch einen inflationären Gebrauch des Begriffs, bei dem zunehmend auf Definition verzichtet wird, und fasst in seiner Kritik treffend zusammen: „Das Thema ‚Identität‘ hat Identitätsschwierigkeiten: die gegenwärtige inflationäre Entwicklung seiner Diskussion bringt nicht nur Ergebnisse, sondern auch Verwirrungen. In wachsendem Maße gilt gerade bei der Identität: alles fließt.“21 Grundsätzlich setzt Identität die Beziehung von etwas mit etwas im Sinne von Übereinstimmung voraus, rekurriert aber zugleich auch auf Differenzund Unterscheidungsmerkmale. Dabei stellt sich zunächst die Frage, an welche Traditionen und Diskurse man den verwendeten Identitätsbegriff anschließt. Da es sich hier um eine literaturwissenschaftliche Arbeit mit Fokus auf einen fiktionalen Text handelt und nicht um Versuche ontologischer Bestimmung,22 verwende ich Identität im Folgenden als Arbeitsbegriff und verstehe darunter sowohl Fremd- und Selbstzuschreibungen, also ‚personale‘ Identität, als auch kollektive Identität in Form von Gruppenzugehörigkeit. Identität ist dabei letztlich immer im Spannungsfeld von Gleichheit und Differenz als Konstruktion eines Selbst zu verstehen, die sich situativ manifestiert und performativ realisiert. Im Liebes- und Abenteuerroman spielen dabei nicht nur Identitätszuschreibungen und -konstruktionen eine Rolle, sondern auch Erkennen und Identifizieren durch andere, vor allem als finale Anagnoresis der Liebespartner.23 19

So in höfischen Romanen (Parzival, Iwein, Lanzelot, Wigalois) oder Prosaromanen (Die schöne Magelona oder Melusine), in denen es um das Verbergen oder Entdecken von Identität geht. 20 Vgl. Aleida Assmann/Heidrun Friese: Einleitung. In: Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität. Bd. 3. Hrsg. von dens., Frankfurt a. M. 1998, S. 11–23, hier S. 11. 21 Odo Marquard: Identität. Schwundtelos und Mini-Essenz. Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion. In: Identität. Hrsg. von Odo Marquard/Karlheinz Stierle, München 1979 (Poetik und Hermeneutik VIII), S. 347–369, hier S. 347. In ähnlicher Richtung argumentiert auch Luckman: „Während der Identitätsbegriff sich einerseits weiterhin großer Beliebtheit erfreut, gerät er andererseits zunehmend in die Kritik. Vertreter postmoderner Optionen plädieren […] für dessen Verabschiedung. Kritisiert werden vor allen die mit dem modernen Identitätskonzept verbundenen Konzeptionen von Kohärenz und Kontinuität.“ Vgl. Thomas Luckmann: Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz. In: Marquard/Stierle (Anm. 21), S. 293–313, hier S. 303. 22 Ähnlich argumentiert auch Andreas Krass: „Identität wird also nicht als essentielle Gegebenheit aufgefaßt, die in den Texten beschrieben würde, sondern als Produkt und Effekt eines narrativen Prozesses.“ Vgl. Andreas Krass: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen 2006, S. 23. 23 Dabei sind unter Identifikation jene „semiotische[n] Operationen zu verstehen, die ‚qualitative Individualität‘ zuschreiben, festlegen, ausweisen, erkennen und wieder erkennbar machen.“ Vgl. Peter von Moos: Epilog zum Band. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der Vormoderne. Hrsg. von dems., Köln 2004 (Norm und Struktur 23), S.  439–448, hier S.  441. Vgl. hierzu auch die Studie von Armin Schulz, der Versuche der Identifizierung in mittelalterlichen Texten analysiert: Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008. Hier kommt im Mittelalter und der frühen Neuzeit vor allem der Kleidung eine große Bedeutung zu, die stärker mit sozialen Ordnungsmustern verbunden war und auf Grund ihrer Kostbarkeit weniger den Wechseln der Mode unterlag. Zur Sonderrolle der Kleider

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Die Suche nach Identität ist entscheidend für den Fortgang der Paris un Viene-Handlung und führt an zentralen Positionen Konflikte herbei bzw. löst diese. Dabei finden sich die Figuren im permanenten Spannungsfeld zwischen Maskerade und völliger Transformation, das erst am Ende des Textes durch den Erwerb einer im Rahmen der Texttradition konventionellen Identität aufgelöst wird.24 Die Narration stellt den Weg der Figuren hin zu dieser finalen Identität dar, was hier vor allem am Beispiel der männlichen Hauptfigur gezeigt werden soll. Für diese besteht eine solche vor allem aus sozialer Zuschreibung und der Rolle als Liebender, die es gilt, in Einklang zu bringen. Für die Figuren in Paris un Viene geht es vor allem darum, eine möglichst stabile Identität zu erreichen, die im Falle von Paris zuvor noch einer sozialen Transformation bedarf. Eine solche ist notwendig, da die soziale Stellung Paris’ der erfolgreichen Vereinigung des Liebespaars im Wege steht, die den Abschluss der Handlung bildet. Um zu einem erfolgreichen Ende des Romans und der Partnerschaft von Paris und Viene zu gelangen, muss also auf sozialer Stufe eine Veränderung eintreten. Zugleich gilt es für beide, ihre Identität als Liebende zu bewahren. In der grundlegenden Struktur folgt Paris un Viene dabei dem typischen Modell der Liebes- und Abenteuerromane von Verlieben, Trennung und anschießender Wiedervereinigung der Liebenden, das durch Motive wie Schiffsfahrten, Treueproben und Anagnoresis-Szenen angereichert wird. Die Struktur gibt die zentralen Linien des Textes vor, und mittels der verschiedenen bekannten Motive erringen die Figuren ihre Identität.25 Paris, Sohn eines Grafen verliebt sich in Viene, die Tochter des Königs Dolfin.26 Da Paris sich seiner ständischen Unterlegenheit bewusst ist, seine Zuneigung aber zum Ausdruck bringen möchte, beschließt er, inkognito in Vienes Dienst zu treten. Er bringt ihr nächtliche Ständchen unter dem Fenster dar und tritt bei Turnieren, deren Trophäen er sorgfältig in einer kleinen Kammer am elterlichen Hof verstaut, für Viene an. Durch Zufall erhält Viene jedoch Zugang zu dieser Kammer, entdeckt die Turnierpreise und enttarnt Paris, woraufhin sie ein geheimes Treffen arrangiert, bei dem sich beide ihre gegenseitige Liebe gestehen. Daraufhin lässt Paris seinen Vater beim Dolfin um Vienes Hand bitten, erregt aber nur dessen Zorn, weshalb das Paar beschließt, gemeinsam heimlich zu vgl. Roland Barthes: Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M. 1985, der zwischen der semiotischen, der symbolischen und der indizienhaften Funktion des Kleides unterscheidet; ferner Peter von Moos: Das mittelalterliche Kleid als Identitätssymbol. In: von Moos (Anm. 23), S. 123–146, und die Monographie von Andreas Krass (Anm. 22). 24 Auch Valentin Groebner betont in seiner Definition die Prozesshaftigkeit: „Identität ist nichts, was man ‚hat‘, sondern der Versuch, die Definition anderer, wer man sei, zu kontrollieren […]. Identität ist deshalb kein beschaulicher kulturwissenschaftlicher Topos, sondern ein Kampffeld.“ Vgl. Valentin Groebner: Identität womit? Die Erzählung vom dicken Holzschnitzer und die Genese des Personalausweises. In: von Moos (Anm. 23), S. 85–97, hier S. 96. 25 Auch in Paris un Viene finden wir eine intensive Darstellung der Gefühlswelt, wie man sie aus den Liebes- und Abenteuerromanen in der Regel kennt. Vgl. die umfassende Studie Jutta Emings zu Emotionen im Liebes- und Abenteuerroman: Emotion und Expression:  Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts, Berlin 2006 (Q & F 39). 26 Im Jiddischen ist Dolfin tatsächlich der Name des Vaters und nicht sein Titel.

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fliehen. Das Unterfangen scheitert jedoch, und es kommt zur Trennung der beiden, die für Paris die Abenteuerzeit einleitet, während Viene von ihrem Vater in einem Turm gefangen gesetzt wird. Zudem bittet König Dolfin potentielle Schwiegersöhne an seinen Hof. Viene hält zwar an ihrer Treue zu Paris fest, kann sich aber eines hartnäckigen Freiers nur durch eine recht ‚anrüchige‘ List entledigen. Sie täuscht eine Krankheit vor, indem sie für drei Tage und Nächte jeweils einen gebratenen Hühnerschenkel unter ihren Armen trägt. Der daraus resultierende Geruch erweckt den Eindruck einer derart schweren Krankheit, dass schließlich auch der hartnäckigste Werber die Flucht ergreift. Währendessen irrt Paris nach der obligatorischen Schifffahrt ziellos durch die Welt und gelangt von Genua über Ägypten und Indien zum Sultan, dessen Gunst er durch seine Fertigkeiten in der Falknerei zu gewinnen vermag. Inzwischen ist Paris durch seine Kleidung und seine Sprache nicht mehr von einem Sarazenen zu unterscheiden. Als solcher getarnt kommt er auch nach Alexandria, wo er den König Dolfin – gleich seiner Tochter – in einem Turm gefangen vorfindet. Dolfin hatte als Spion des französischen Königs Informationen über die Kriegspläne des Sultans gewinnen sollen, wurde jedoch enttarnt und gefangen gesetzt. Paris befreit ihn und erwirbt so seine Gunst. Gemeinsam kehren König Dolfin und der vermeintliche Sarazene zurück in die Heimat, wo es Paris gelingt, die Versöhnung zwischen Viene und ihrem Vater zu erwirken. Mit Hilfe eines Rings gibt er schließlich seine Identität preis, heiratet Viene und wird vom König zum Erben eingesetzt.27 Mit der Krönung erreicht Paris eine konventionelle Identität, die sich aus verschiedenen Teilen zusammensetzt und die es im Folgenden am Text zu erläutern gilt. Wie bereits erwähnt, bringen Paris und Odoardo Viene nächtliche Ständchen dar, wodurch sich ihr Dienst zunächst auf die auditive Vermittlung und Wahrnehmung beschränkt. Die Musik dringt in Vienes Herz ein, und sie entbrennt, so der Text, in Liebe, die sich zunächst auf kein konkretes Objekt richtet. Doch auch der König Dolfin hört die Musik und sendet eines Nachts Wachen aus, welche die Musiker zu ihm bringen sollen. Von den Wachen Dolfins überrascht, ziehen sich Paris und Odoardo zunächst in eine dunkle Ecke zurück, die kurzfristig Schutz bietet, und beratschlagen, was nun zu tun sei. Um der Schmach, die Paris von einer Enthüllung erwartet, zu entgehen, bleibt ihnen schließlich nur die Flucht. Ihre Identität, die hier vor allem aus ständischer Sicht problematisch ist, bleibt damit im wahrsten Sinne im Dunkeln und wird es – außer für Viene – für den Rest der Figuren bleiben. Auch bei seinen Diensten für Viene auf dem Turnierplatz will Paris seine Identität verbergen. Der Sieger des ersten Turniers soll ein Kristallschild mit Rubinen und Perlen erhalten und einen goldenen Kranz, den Viene selbst angefertigt hat. Um nicht erkannt zu werden, nimmt Paris in weißer Kleidung mit einem weißen Schild am Turnier Teil, ist damit sichtbar und doch nicht zu erkennen. Aber mehr noch, das blanke Schild lässt ihn nicht nur anonym, sondern geradezu identitätslos erscheinen, was sich erst mit dem Sieg 27

Besondere Bedeutung kommt im Roman Odoardo, dem Vertrauten des Paris, und Isabella, der Zofe Vienes zu. Sie beraten die Hauptfiguren, üben Botendienste aus und übernehmen an manchen Stellen auch die Rollen der beiden Liebenden. Parallel zum Hauptpaar werden Isabella und Odoardo am Ende des Textes vermählt.

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und Gewinn des kristallinen Schildes und Vienes Kranz ändert. Paris nimmt als weißer Ritter mit einer ‚Nicht-Identität‘ am Turnier teil, die schließlich über den Frauendienst Form gewinnt.28 Nicht die soziale Identität, sondern die des Liebenden steht damit beim ersten Turnier im Vordergrund und manifestiert sich zugleich in Form einer Investitur, wenn Paris auch im Anschluss noch die Kleider vor der Öffentlichkeit verbergen wird. Denn erst am Ende des Textes, wenn auch die soziale Problematik in Form des Standesunterschiedes aufgehoben wurde, ist der Weg zu einer im Rahmen der Texttradition konventionellen Identität für Paris abgeschlossen. Der Frauendienst steht auch bei einem zweiten Turnier im Vordergrund, bei dem unter drei Damen die Schönste gekürt werden soll. Alle drei Kandidatinnen steuern Preise bei: eine Krone, eine Satteldecke und einen Hut. Es vermag kaum zu überraschen, dass der bereits namentlich Prädestinierte den Sieg im Schönheitsstreit erringt. In welcher Rüstung Paris diesmal gekämpft hat, erfahren wir nicht, lediglich, dass er wieder unerkannt teilnahm (148). Das Publikum und selbst der König Dolfin lassen jedoch verlauten, dass er wie ein König gewonnen habe. Und wie ein König reitet er nun auch fort, mit einer Krone und einer kostbaren Satteldecke, die zum kristallinen Schild aus dem ersten Turnier kommen und die Präfiguration seines künftigen Königtums deutlich hervortreten lassen, welche schließlich den Endpunkt für Paris in Form einer stabilen sozialen und öffentlichen Identität darstellen wird. Damit steht beim zweiten Turnier die soziale Identität im Vordergrund. Doch erst am Ende des Textes, wenn Paris als Liebender Vienes sozialen Rang erlangt hat, wird eine konventionelle Identität erreicht und kommt die Handlung in Form der festlichen Hochzeit zum Abschluss. Die somit doppelt identitätsstiftenden Errungenschaften der Turniere hütet Paris in einer verborgenen Kammer in seinem Schlafgemach, zu der man nur über eine Stiege in die Tiefe gelangt und deren Tür verhängt und damit nicht sichtbar ist. Als Paris eine Reise mit Odoardo unternimmt, schließt er nicht nur die Tür zu seinen persönlichen Räumlichkeiten ab, sondern verdunkelt auch die Fenster, sodass nicht einmal das Licht hineindringen kann. Den Schlüssel zu dem völlig verriegelten Raum vertraut Paris vor der Abreise seiner Mutter an, der er zugleich das Versprechen abnimmt, niemanden hineinzulassen. Während seiner Abwesenheit besucht jedoch Viene mit einigen anderen Frauen den Palast. Weil sie eine Führung durch das gesamte Gebäude erhalten soll, schließt Paris’ Mutter sämtliche Türen auf. Viene entdeckt so die verborgene Kammer und erhält anhand der weißen Kleidung und der Turnierpreise nun das Wissen über die Identität des Ritters, der für sie gestritten hat. Da Viene einige dieser Identifikationsdispositive an sich nimmt, wird das Geheimnis der Identität Paris’ zwar noch nicht in den öffentlichen Raum getragen, wohl aber in Vienes Machtbereich verlagert. Durch exklusives Wissen entsteht hier ein Raum von Intimität, der nur Paris und Viene zugänglich ist und als diskursives Konstrukt zum virtuellen Raum wird, der das Ergebnis sozialer Beziehungen und Prakti28

Vgl. Winst (Anm.  8), hier S.  154. Der verweigerte Name in Zusammenhang mit einer ‚MinneIdentität‘ findet sich bereits im Lancelot. Jan-Dirk Müller hebt jedoch besonders die Instabilität derselben hervor. Vgl. Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 205–215.

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ken ist.29 Zugleich manifestiert sich dieser in Form eines Kellers aber auch als physischer Gebäude-Raum im Text, da weitere Treffen an einem Gitter in der Tiefe eines Kellers arrangiert werden. Auch hier markiert die Tiefe nahezu überdeutlich das Verborgene und zugleich den intimen Raum, der zwischen Paris und Viene entsteht. Unter der Oberfläche, jenseits des offen Sichtbaren, finden die Treffen statt, wird ein „locus intimus“30 entwickelt, in dem sich beide einander als Liebende offenbaren können. Außerdem geht Intimität, die sich ja grundsätzlich über die Dualität von Inklusion und Exklusion konstituiert, mit dem vorenthaltenen Wissen einher, das Viene sich durch das Eindringen in Paris geheime Kammer erworben hat.31 Die noch bestehende soziale Problematik macht die Verborgenheit notwendig und leitet zur Abenteuerzeit über, in deren Verlauf die Auflösung dieses Konflikts stattfindet. Zugleich deutet die nicht-öffentliche Situierung der Liebe wenn nicht auf deren Defizienz, so doch auf ihre Instabilität hin, wie Jan-Dirk Müller an Texten wie dem Partonopier und Tristan verdeutlicht hat.32 Noch steht die Paaridentität dem sozial-ständischen Konflikt gegenüber, den es zu lösen gilt. Die Heimlichkeit kann nur über drei Monate aufrecht erhalten werden, denn allmählich dringen die Gerüchte über die Hochzeitspläne Dolfins für seine Tochter zu den Lie29

Der Begriff des virtuellen Raums wurde vor allem im Rahmen des spatial oder topographical turn bekannt als Raum, der sich durch Handlungen formiert und gleichzeitig auf diese zurückwirkt. Ralf Schlechtweg-Jahn erachtet das Konzept des virtuellen Raumes im Rahmen der Literaturanalyse für sinnvoll, um Begriffe wie ‚real‘ oder ‚fiktiv‘ zu vermeiden. Zudem hebe es hervor, dass menschliche Handlungsräume soziale Konstrukte sind: „Virtuell könnte man dann einen Handlungsraum nennen, der nur durch die Interaktion von Menschen entsteht, nur für die Dauer dieser Interaktion existiert, und während der Interaktion aufgrund einer virtuellen Verdoppelung von Identität eine gewisse Distanz zu Identitätsbildungen außerhalb dieses Raumes ermöglicht bzw. erfordert. So ein virtueller Raum ist ‚real‘, weil er vergesellschaftende Effekte auf die in ihm agierenden Menschen ausübt, und zugleich imaginär, weil er nicht institutionalisiert ist, also nicht über die ihn schaffenden Interaktionen hinaus fortdauern kann.“ Vgl. Ralf Schlechtweg-Jahn: Virtueller Raum und höfische Literatur am Beispiel des ‚Tristan‘. In: Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposions des Mediävistenverbandes. Hrsg. von Elisabeth Vavra, Berlin 2005, S. 69–86, hier S. 73. Der Raum entsteht mitunter erst durch Körper, bekommt durch diese bestimmte Qualitäten zugewiesen. 30 Sebastian Baier: Heimliche Bettgeschichten. Intime Räume in Gottfrieds ‚Tristan‘. In: Vavra (Anm. 29), S. 189–202, hier S. 202. Ich verstehe Inklusion hier nicht im Zusammenhang mit der sogenannten ‚Inklusionsidentität‘, einem Konzept, mit dem Jan-Dirk Müller sich in Anlehnung an Alois Hahn und Niklas Luhmann Identitätskonstruktionen in höfischen Romanen nähert. Danach besagt ‚Inklusionsidentität‘, „daß die Besonderheit des einzelnen nicht durch ‚Ausschluß‘ (‚ich im Unterschied zu…‘), sondern durch Einschluß (‚ich als Mitglied von…‘) bestimmt wird. Der einzelne wird als Mitglied einer Gruppe […] aufgefaßt.“ Vgl. Müller (Anm. 28), S. 227f. Mir geht es vielmehr darum, den Zusammenhang von Identität und Raum zu illustrieren, denn erst durch Inklusion und Exklusion entsteht hier ein Raum, in dem eine bestimmte Identität für die Teilhabenden eröffnet und sichtbar wird. 31 Anhand einer Interpretation des Tristan versucht Sebastian Baier, eine „Grammatik der Intimität“ zu entwickeln, für die er Intimität als intensive, auch körperliche Bindung zweier Menschen definiert, die einen Dritten kategorisch ausschließt. Dabei fragt er sowohl nach räumlichen Bedingungen für Intimität als auch danach, wie ein bestimmter Raum Intimität erzeugen kann. Eine weitere Bedingung sieht er in vorenthaltenem Wissen. Vgl. Baier (Anm. 30), S. 190f. 32 Vgl. Müller (Anm. 28), v. a. S. 272–289.

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benden vor, denen schließlich nur die Flucht bleibt, um sich der väterlichen Macht zu entziehen. Die Flucht scheitert jedoch: Paris wird von Viene durch die Überquerung eines Flusses getrennt, und Viene kehrt zu ihrem Vater zurück, der sie zur Strafe in einem Turm gefangen setzt. Diese Grenzziehung leitet die Abenteuerzeit ein und besitzt hier nicht nur chronotopische,33 sondern auch identitätsrelevante Komponenten, da sie zum einen die Trennung der Liebenden mit sich bringt,34 zum anderen für Paris mit einer neuen temporär fingierten Identität einhergeht, der eines Sarazenen. Dabei spielt die Sprache eine zentrale Rolle, die Paris beherrscht, als sei sie seine Muttersprache. Nach dem Verbergen im ersten Teil des Romans geht Paris nun im zweiten Teil dazu über, aktiv eine andere Identität zu erschaffen, die ihn die gesamte Abenteuerzeit hindurch begleiten wird. Vermittels Kleidung, Bart und Sprache konstruiert Paris einen Sarazenen, den selbst die Einheimischen nicht mehr als Fremden erkennen können. Interessanterweise spielt Religion dabei keine Rolle. Ganz im Gegenteil: Der vermeintliche Sarazene, der am Ende des Textes eine jüdische Hochzeit feiern wird, freut sich über die Begegnung mit einem Mönch, da beide den gleichen Glauben teilen. Doch dieser dreifache Bruch innerhalb religiöser Zuschreibungen wird nicht thematisiert, geschweige denn problematisiert. Religion liegt nicht im Interesse des Textes.35 Vielmehr geht es bei Paris’ Sarazenen-Abenteuer darum, die Konstruktion einer Identität vor Augen zu führen, die jedoch nur temporär und nicht langfristig erfolgreich sein kann. Die bereits erlangte Identität als Liebender hält ihn vor einer vollständigen Transformation zum Sarazenen ab. Was nun für Paris folgt, ist die Abenteuerzeit, das Dazwischen, das Umherirren in der Fremde bis zum glücklichen Wiedersehen mit Viene. Dass ein Zwischenraum kein Ort des Bleibens, sondern des Unterwegsseins ist, wird auch in Paris un Viene durch 33

Auch die Schwelle ist nach Bachtin ein Chronotopos. Vgl. Bachtin (Anm. 12), S. 186. Während der Abenteuerzeit, so Silke Winst, festigen die Frauen ihre weibliche Identität in ‚weiblichen‘ Räumen, während z. B. Paris und Peter die männliche erst erwerben. Vgl. Winst (Anm. 8), S. 161. Doch gerade die jiddische Paris un Viene-Fassung stellt solche gender-Zuschreibungen in Frage, denn wo in anderen Fassungen der Dolfin in ein Gefängnis gesperrt wird, handelt es sich hier explizit um einen Turm. Damit wird das Schicksal des Dolfins zu dem seiner Tochter parallel gestaltet und der Turm als ‚weiblicher‘ Raum dekonstruiert. So werden in Paris un Viene geschlechtsspezifische Handlungsräume in Frage gestellt und ambiguisiert. 35 Diese Brüche machen deutlich, dass religiöse Zuschreibungen nicht im Interesse des Verfassers liegen und dass nicht einmal ansatzweise der Versuch unternommen wird, die christliche deutlich von der jüdischen Sphäre abzusetzen oder Paris zu einem ‚jüdischen Ritter‘ zu machen. Dennoch, so wird in der Forschung mehrheitlich argumentiert, lassen sich in der jiddischen Paris un VieneAdaption leichte Tendenzen einer ‚Judaisierung‘ ausmachen. Dem widerspricht Edith Wenzel, indem sie darauf hinweist, dass die Darstellung von Paris im höfischen Ambiente verbleibt und damit einhergehend zwar eine ‚Entchristlichung‘, aber keine direkte ‚Judaisierung‘ stattfände. Zur Debatte über die ‚Judaisierung‘ vgl. Robert Singerman: Jewish Translation History. A Bibliography of Bibliographies and Studies. Amsterdam/Philadelphia 2002, v.  a. S.  XIX; Edith Wenzel: Bovo d’Antona (Bovo-bukh) und Paris un Wiene. Ein Beitrag zur jiddischen Literaturgeschichte des 16. Jahrhunderts. In: Integration und Ausgrenzung: Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hrsg. von Mark H. Gelber/Jakob Hessing/Robert Jütte, Tübingen 2009, S. 19–34, hier S. 29; und Erika Timm (Anm. 3), S. CXIC– CXXXV. 34

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die zahlreichen Schiffsfahrten und Karawanenzüge deutlich.36 Der Erzähler verzichtet darauf, den fremden Raum auszugestalten, und nennt nur wenige Namen fremder Orte, da die meisten dem Publikum sowieso nicht vertraut seien. Damit wird vor allem die Ziellosigkeit Paris markiert. Es gibt für Paris keinen Ort des Bleibens. Völlig verloren irrt Paris von einem Ort zum anderen, denn er sei, so der Text, wie ein Kranker, der keine Ruhe findet. Die Krankheitsmetaphorik verweist hier zugleich auf die Ursache von Paris’ Unruhe, denn ihn treibt die Liebe, genauer: die Flucht vor seiner Geliebten und den mit ihr verbundenen Emotionen. So heißt es im Text: Nimez waiś, derś nit versucht, wi vrawen-libschaft is ain schmerzen. etlichė šprechen, es sei ain vlucht: weit vun agen, weit vūn herzen. (196,1–4) Keiner kann es verstehen, der es nicht erlebt hat,/dass Frauenliebe Schmerz bedeutet./Viele raten zur Flucht:/Aus den Augen, aus dem Sinn.

Paris wird zum Getriebenen, der nicht mehr seiner Geliebten zustrebt, sondern ob der Unmöglichkeit einer Verbindung und der Übermacht der Emotionen vor ihr zu fliehen sucht. Das Dilemma aber, wie uns der Erzähler wissen lässt, liegt darin, dass Paris nicht vor Viene fliehen kann, denn: ain rechten huld gėdenkt man alė zeiten/noch vor-gist si nit bei nohet noch vun weiten (196, 7f.; „Der wahren Liebe gedenkt man immer/und vergisst sie nicht, sei sie nahe oder fern.“). Und an andere Stelle heißt es: wi-wol er in dem land lang war gėseśen denocht hat er Wieneś ni vor-geśen. Di’ kunt er ni’ lośen hinter ruk, in seinem herz war si’ al zeiten. (489,7–8, u. 490,1–2) Obwohl er sich bereits lange in diesem Land aufhielt,/hatte er Viene doch nicht vergessen./Er konnte sie nicht hinter sich zurücklassen/[denn] sie war alle Zeit in seinem Herzen.

Paris trägt sie stets in seinem Herzen bei sich. Der Topos markiert damit einen zentralen Teil seiner Identität als Liebender. Diese Tatsache steht einer völligen Transformation entgegen. Und schließlich bricht der ursprüngliche Konflikt in die Welt der Abenteuerzeit ein und führt durch den im Turm eingekerkerten Dolfin zu ihrem Ende.37 Das Turmmotiv 36

Zwischenräume, so Claudia Brinker-von der Heyde, benötigen ein Davor und Danach, einen Weg von und hin zu. Sie sind keine Orte des Bleibens. Unterwegssein wird markiert als ein DazwischenSein von Ort zu Ort, und der Zwischenraum als liminale Zone schlechthin. Vgl. Claudia Brinkervon der Heyde: Zwischenräume. Zur Konstruktion und Funktion des handlungslosen Raumes. In: Vavra (Anm. 29), S. 203–214, hier S. 211 u. 212. 37 Erst am Ziel, so Brinker-von der Heyde, ereignet sich die Tat, mit der die Linearität des Weges beendet und der Protagonist wieder ins Geschehen eingegliedert wird. Vgl. Brinker-von der Heyde (Anm.  36), S.  206. Doch in Paris un Viene ist es anders: Die heimatliche Welt bricht in die der Abenteuerzeit ein und wird nicht zuletzt durch das doppelte Turmmotiv verschränkt. Zudem findet im fremden Raum die Lösung des eigentlichen Konfliktes statt, der zur Flucht Anlass gegeben hatte.

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Annegret Oehme

wird in gespiegelter Form zum Fixpunkt des Geschehens, da es sowohl in der Welt der Abenteuerzeit als auch im Königreich Dolfins angesiedelt ist. Die Befreiung von Vienes Vater aus dem Turm ermöglicht schließlich auch die Lösung des Ausgangskonflikts, denn das zentrale Problem der Heirat war die ständische Differenz zwischen Paris und Viene. Es findet sich eine Lösung in Form einer Kompromissbildung;38 Paris befreit Dolfin und setzt ihn wieder ein, wofür dieser ihn zum Erben macht, ihn somit auf eine höhere soziale Stufe hebt. Diese Identitätstransformation führt zu Paris’ (Re-)Integration und eröffnet zugleich den Weg zur öffentlichen Vereinigung mit Viene. Paris’ Weg wird damit als rite de passage dargestellt. Bekannte Motive, wie das Erringen von Frau und Land, illustrieren dabei den Erwerb einer konventionellen Identität. Selbst in der Abenteuerzeit wird nur nach außen der Weg zum vorgezeichneten Königtum in Frage gestellt. Vielmehr dient sie zur Lösung des sozial-ständischen Konflikts. Scheint auf Figurenebene Identität auf Stabilität und Finalität hinauszulaufen, so wird durch die Inszenierung des Sprecher-Ichs ein solches Konzept wieder in Frage gestellt. Dessen Identität wird zwar nicht über die Rolle als Liebender oder die soziale Ordnung thematisiert, wohl aber im Verhältnis zu einer anderen Person: dem historischen Elia Levita. Bereits in den ersten Versen, noch vor Beginn der eigentlichen Romanhandlung, wird diese Problematik im Rahmen der Frage nach dem Verfasser des Textes antizipiert. Wie bereits erwähnt, waren bis 1986 nur Fragmente der jiddischen Paris un Viene-Adaption bekannt. Der Zufallsfund der Romanistin Anna Maria Babbi erwies sich nicht nur als Glücksfall für die altjiddische Forschung, sondern ermöglicht durch den Prolog auch einen Einblick in die jüdische Kultur der Zeit. Zugleich stellte er die Überzeugung, dass Elia Levita der Verfasser sei, in Frage, denn im Prolog, der in keinem der bisher bekannten Fragmente enthalten war, heißt es: Um disen man is mir wol and, as wer er mein fater oder schweher, un do er zoch ous disem land, do liś ich um im menchė treher. sein namen tut im nit ouf schand: ich man den alten rabi Elje Beher. sein namen lebt al zeit un’ tut nit šterben; das sein di bücher, di er hot tun derwerben. (3,1–8) Um diesen Mann trauere ich/als sei er mein Onkel oder Schwager gewesen./Seit er aus diesem Land zog,/habe ich um ihn viele Tränen geweint./Sein Name gereicht ihm nicht zur Schande./ Ich spreche vom ehrwürdigen Elia Bocher./Sein Name lebt ewig und wird nie sterben/aufgrund der Bücher, die er verfasst hat.

38

Vgl. Hans-Jürgen Bachorskis Analyse der niederdeutschen Fassung: Posen der Liebe. Zur Entstehung von Individualität aus dem Gefühl in Paris un Vienna (1488). In: Mündlichkeit – Schriftlichkeit  – Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Ursula Schaefer/Werner Röcke, Tübingen 1996, S. 109–146.

Identitätskonstruktionen in der jiddischen Paris un Viene-Adaption

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Das Sprecher-Ich konstatiert also den Tod des Elje Bocher bzw. Elia Levita und damit jenes Mannes, den die Forschung für den Verfasser von Paris un Viene hielt. Nur über die Texte, die er zu Lebzeiten verfasst hatte, sei er noch gegenwärtig. Es stellt sich damit aber die Frage, wer denn der wirkliche Verfasser dieses Textes sei. Dazu heißt es in der 8. Stanze auf den Preis des Elia Levita folgend: Drum sagt das buch ouf disem štand/es wil mein namen nirgez nenen/kumt es ainem menschen nöu’ert zu hant,/so halt ich wol, es wert mich kenen (8,1–4; „Darum sagt das Buch hier,/dass es meinen Namen nirgends nennen wird./Doch nimmt es ein Mensch zur Hand/so glaube ich, dass dieser mich erkennen wird.“). Hier thematisiert also das Sprecher-Ich konkret die Frage nach der Person des Verfassers, allerdings mit überraschender Pointe: Elia Levita ist tot und das Buch werde den anderen Namen verschweigen. Dennoch werde jeder, der es liest, ihn erkennen. Dies hat in der Forschung zu insgesamt drei Thesen geführt. So wird angenommen, dass der Text entweder von einem Schüler Elia Levitas in Anlehnung an dessen Stil des Bove-Bukhs geschrieben wurde oder dass der Text von Elia Levita stammt und auch zu seinen Lebzeiten noch gedruckt wurde, allerdings bei einer Neuauflage nach seinem Tod einen Nekrolog durch einen Schüler bekommen hat, oder aber dass der Text von Elia Levita selbst ist, der ein Spiel mit dem Verhüllen und Enthüllen der eigenen Identität treibt.39 In jedem Fall treten Verfasser und Sprecher-Ich deutlich auseinander. Doch das Verbergen der Identität des Verfassers hindert das Sprecher-Ich von Paris un Viene nicht daran, als selbstbewusste Erzählinstanz seine Bearbeitung des Stoffes zu präsentieren. Dabei schlüpft es immer wieder in verschiedene Rollen. So stilisiert sich der Erzähler zunächst als allmächtiger Schöpfer dieser speziellen, narrativ entfalteten Welt, der ins Geschehen eingreifen oder auch darauf verzichten kann. In den ersten Versen des Romans wird zunächst Gott gepriesen, ohne den nichts möglich ist: Kain mensch kunt štėn noc gėn fun štat noch adelėr noch okś noch lėben, noch kunt sich riren kain blat, kain ding het end noch kent sich an-hėben – es sei’ den gpt, der es gėštat, un` is sein hailiklichen namen eben. er bėschaf di’ welt ous nischt aso klüglich; drum is ach nischt wider sein namen müglich. (1,1–8) Kein Mensch kann stehen oder sich von der Stelle bewegen,/weder Adler noch Ochse noch irgendein lebendiges Wesen./Kein Blatt kann sich rühren./Nichts hätte ein Ende oder könnte beginnen,/wenn nicht Gott es erlaubte/und es seinem heiligen Namen anstünde./Er schuf die Welt aus Nichts so wunderbar./Deshalb kann auch nichts entgegen seinem Willen geschehen.

Doch an vielen Stellen wird deutlich, dass hier vor allem einer Schöpfer ist, nämlich der Schöpfer des Textes, ohne den nichts möglich ist. Wird in den ersten Zeilen Gehen und Stehen eines jeglichen irdischen Wesens noch Gottes Willen unterstellt, so ändert 39

Zur Debatte um Autorschaft und Prolog vgl. Timm (Anm. 3), S. CXXXVI–CXLV und Baumgarten (Anm. 9), S. 188f.

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Annegret Oehme

sich dies bereits beim ersten Turnier, wenn die Ankunft der Ritter und des Publikums beschrieben wird, die kaum zu halten sind und auf den Turnierplatz stürmen wollen. Daraufhin heißt es am Ende der 90. Stanze: aber si’ solen warten, hab ich bėvolen,/bis ich Odoardo un’ Paris gė’ holen (90,7–8; „Aber ich habe ihnen befohlen zu warten/bis ich Odoardo und Paris [herbei] geholt habe.“). Doch das Sprecher-Ich hat nicht nur äußerliche Verfügungsgewalt über die Figuren. Über Viene, die im Turm gefangen ist, und Paris’ Eltern, die um ihren Sohn trauern, heißt es an einer Stelle im letzten Drittel des Textes: Di’ loś ich al ain weil do štėn/[…]un’ wil vun in nischt sagen mėn,/bis ich si’ mach vrölichen lachen (525, 1 u. 2–3; „Die lasse ich nun eine Weile dort stehen/[…] und will von ihnen nichts mehr sagen,/bis ich sie wieder fröhlich lachen mache“). Damit wird das Sprecher-Ich zu der Instanz, die den Figuren die Trauer nimmt und Freude zurückgibt. Doch dem Erzähler obliegt es nicht nur, am Ende die Freude wiederherzustellen, sondern auch alle Fäden fertig zu spannen und die Figuren wieder nach Hause zu bringen, von wo aus er sie in die Welt zerstreut hat. So heißt es zu Beginn des letzten Cantos: ich sich mein löut vor-šprait in alen eken; mich dücht ich tu’ sünd, loś ich si’ šteken. […] ich sich si in ain štand oufś aler-böśten – nu wil ich ain un` ain sehen zu tröśten. (603,7f u. 604, 7f) Ich sehe meine Figuren in alle Richtungen verstreut./Es scheint mir eine Sünde zu sein, wenn ich sie dort belasse. […]/Ich sehe sie im allerschlimmsten Zustand./Nun will ich einen um den anderen trösten.

Auch hier drängen sich biblische Parallelen auf, kommt doch Gott die Aufgabe zu, das verstreute Volk Israel wieder ‚einzusammeln‘, also einen zentralen Aspekt messianischer Erwartung im Judentum zu erfüllen. In Paris un Viene ist der Erzähler derjenige, der die Menschen wieder versammelt, zuvor aber auch verstreut hat. So wird die erzählte Welt zum Spielfeld, auf dem der Erzähler seine Figuren positioniert. Er ist es, der den Raum gestaltet, Figuren herbei holt, im Turm festsetzt oder ziehen lässt und dies zugleich reflektiert und mitunter als narratives Mittel offenlegt. Baumgarten bezeichnet ihn daher auch als „Master of the game“.40 Aber mehr noch, die Räume entfalten sich um den Erzähler herum und sind von ihm und seiner Bewegung im Raum abhängig. Sie werden damit zu Sprossräumen, wie sie Uta Störmer-Caysa für die höfischen Romane beschrieben hat. Störmer-Caysa weist zwar darauf hin, dass die Neuzeit ein anderes Raumdenken hatte als das Mittelalter, dennoch gilt: „Der Raum breitet sich wie ein Teppich unter der Aventiure aus und rollt sich mit ihr wieder ein.“41 Das Phänomen, „daß Raumkontinuität nur temporär entsteht, im Moment der erzählten Bewegung“,42 erstreckt sich hier auf den Erzähler, der zugleich zu der Instanz wird, die 40

Baumgarten (Anm. 9), S. 205. Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin/New York 2007, S. 75. 42 Störmer-Caysa (Anm. 41), S. 70. 41

Identitätskonstruktionen in der jiddischen Paris un Viene-Adaption

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dieses Vorgehen enthüllt. Er ist derjenige, der durch den Text führt und so die einzelnen Räume durch die Bewegung im Roman entstehen lässt. Dabei gilt es nicht nur die Figuren zu führen, sondern auch die Rezipienten, wie das Sprecher-Ich im Prolog ankündigt: Wen ich ain tail an-hėb un` reim un` das ich ging krunp’ ous der štrośen, so wundert es nit kainer noch kaim, lai’et fort un` seit öuch nit an-štośen ich wer wol wider kumen haim un` wer öuch drum nit šteken lośen. (12,1–6) Wenn ich anfange einen Teil zu erzählen/und dabei vom geraden Weg abkomme,/so soll dies keinen und keine verwundern./Lest weiter und seid nicht verärgert./Ich werde sicher wieder nach Hause kommen/und werde euch nicht zurücklassen.

Die Narration wird hier mittels eines Bildes als Weg entworfen, das an Wolframs Erzählprogramm im Parzival erinnert. Die Rezipienten sollen durch verschlungene Pfade oder ihr Verlassen nicht verunsichert werden, denn der Erzähler kommt sicher wieder zurück und wird sie nicht verwirrt sich selbst überlassen. Hier sind es nun die Rezipienten, die dem Erzähler folgen, und zwar in räumlicher Metaphorik. Auch um sie wird er sich kümmern und sie geleiten. Doch das Sprecher-Ich stellt sich nur auf den ersten Blick im Rahmen eines greifbaren und stabilen Identitätskonzepts als Spielleiter und Schöpfer dar. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass es selbstständig die eigene Instanz demontiert und durch den begrifflichen Wechsel von Sprechen, Singen und Schreiben zugleich die Fiktionalität des Textes herausstellt. Auch in der temporalen Verortung finden sich Brüche, wird doch an manchen Stellen behauptet, das Buch werde gerade geschrieben, während es an anderen Stellen bereits vollendet ist. Der Text fingiert damit eine gewisse Simultanität von Produktions- und Aufführungssituation, die an der Instanz des Sprecher-Ichs manifest wird, das durch seine Omnipräsenz alles zusammenhält.43 Zugleich entzieht es sich und wird weder räumlich noch zeitlich greifbar.44 Am Ende des Textes gibt das Sprecher-Ich seine Führungsposition scheinbar wieder auf. Doch auch die letzten Zeilen von Paris un Viene 43

Hier findet sich die narrative Instanz von Paris un Viene in bester Gesellschaft. Es kann für diese in Anspruch genommen werden, was Rainer Warning bereits am Chrétienschen Erzähler der ‚klassischen‘ Artusromane entdeckt: „So treibt der Erzähler mittels ironischer Wahrheitsbeteuerungen, häufig in Form rhetorischer Bezweifelung der Quellenauskünfte, ein auktoriales Spiel mit der reklamierten auctoritas selbst. Dieses Spiel kann aber auch, subtiler, darin bestehen, die Erzählerauctoritas an eine erzählte Figur abzutreten und beides, das Erzählte wie das Erzählen in eins, zu fiktivieren.“ Vgl. Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Marquard/Stierle (Anm. 21), S. 553–589, hier S. 583f. 44 Auch Schulz stellt die gleichzeitige Omnipräsenz und Abwesenheit der Erzählerfigur heraus: „In diesem paradoxen Spiel zwischen Präsenz und Absenz gewinnt es den Anschein, als reflektierte der Autor Levita seine reale Abwesenheit im vollendeten Werk durch die mystifizierende Anonymisierung der Erzählinstanz, als hinterlasse der Autor nach Fertigstellung des Werks dem späteren Rezipienten seine textinterne Vermittlungsinstanz, den Erzähler, wie einen unkörperlichen und namenlosen Sohn.“ Vgl. Schulz (Anm. 6), S. 40.

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sind vielschichtiger und offenbaren auf den zweiten Blick in Form der Demutsgeste die Ironie des Erzählers. Denn der Messias: sol uns brengen in di štat, di gpt vor langśt hot tun der-wėlen, do-mit das do sol sein bėštat als unser leib un` unser sėlen. dort welen mir sich rėden sat, un` gpteś hülf wolen mir der-zėlen, un` nit fun Paris un` Wiene noch Isabele. das sei’ wor in gpteś namen – omen, sele. (717, 1–8) soll uns in die Stadt bringen,/die Gott vorzeiten erwählt hat,/damit dort unsere Leiber und Seelen verweilen./Dort werden wir viel erzählen/und von Gottes Hilfe sprechen/und nicht von Paris oder Viene oder Isabelle./Dies geschehe in Gottes Namen – Amen. Sela.45

Der Messias selbst soll nun nicht mehr nur Figuren und Rezipienten, sondern auch das Sprecher-Ich geleiten, das sich im uns der ersten Zeile mit ihnen eins macht. Mit der vorletzten Zeile des Textes stellt das Sprecher-Ich letztlich sogar die Existenz seiner Hauptfiguren in Frage, da diese ganz entschieden an die Vermittlung und Verbreitung ihrer Geschichte gebunden ist. Zugleich könnte der bekannte Topos jüdischer Literatur, der den Text abschließt, leicht dafür in Anspruch genommen werden, Paris un Viene als ‚typisch jüdischen‘ Roman zu interpretieren. Dieser Topos wird jedoch als ein Erzählelement unter anderen geschickt mit dem Text verwoben. Der Text stellt damit die auf Figurenebene gegebenen Lösungen und mühevoll errungene Identität durch die Konstruktion des Sprecher-Ichs wieder in Frage und bezieht widerstrebende Konzepte und Ebenen von Identität ein. Kann auf der Figurenebene unter Bezugnahme auf bekannte Topoi des Liebes- und Abenteuerromans und eines rite de passage Identität noch als etwas Stabiles und Fassbares, das sich erschaffen und verbergen lässt, konzipiert werden, wird dies durch die Selbstkonstruktion des Sprecher-Ichs und seine lokale und temporale Verortung aufgebrochen und problematisiert. Diese Problematik ist nicht nur im Verlauf der Handlung dominant und immer wieder in Reflexionen des Sprecher-Ichs präsent, sondern rahmt den Text durch Pro- und Monolog ein. So sträubt sich die jiddische Paris un Viene-Adaption bis in die letzten Zeilen gegen eine vereinfachende Lesart und kann damit einen wichtigen Beitrag zur Frage nach ‚jüdischer Identität‘ leisten. Immer wieder sind in den Literatur- und Geschichtswissenschaften Versuche unternommen worden, eine solche in den Texten zu finden. Dabei wurde ‚jüdische Identität‘ vor allem durch die Abgrenzung von einem jeweils unterschiedlich definierten Anderen verstanden. So schreibt Dorothea Gelhard: „Die Frage der jüdischen Literatur ist […] nicht nur das Problem einer endogen jüdischen Verortung, son-

45

Sela ist ein Ausdruck, der in der hebräischen Bibel, vor allem in den Psalmen, auftaucht und dessen Ursprung und Bedeutung umstritten sind. In der nachbiblischen Zeit hat er sich zur Bekräftigung des Amen entwickelt, die dieses auch ersetzen kann.

Identitätskonstruktionen in der jiddischen Paris un Viene-Adaption

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dern bezieht immer auch das Verhältnis zur nicht-jüdischen Literatur ein.“46 Ähnlich argumentiert auch Klaus Hödl: Identitätsgenerierung ist ein Vorgang, der das soziale Miteinander wie auch Gegenüber benötigt: Ersteres zur Identifizierung und Letzteres zur Abgrenzung. Die beiden Prozesse bedingen einander und sind engstens miteinander verbunden. Jeglicher Form von Identitätsgenerierung durch Juden ist eine Bezugnahme zu Nichtjuden, ob identifizierend oder ablehnend, inhärent. Das Nichtjüdische ist somit aus dem Jüdischen nicht wegzudenken – und das gilt natürlich auch umgekehrt.47

Der Historiker Moshe Rosman stellt hingegen die Frage nach jüdischer Identität aus dem Blickwinkel der Postmoderne: „If nothing can be defined objectively, how can we identify a unitary, continuous, coherent Jewish People with a distinct culture and history?“ Sein Lösungsvorschlag ist, diese Definitionen jeweils immer wieder situativ neu zu erfassen und zu hinterfragen.48 Gerade die Frühe Neuzeit beschreibt David B. Rudermann aus jüdischer Perspektive – auch in Hinsicht auf Identität – als durch Hybridität und Mobilität markiert.49 Aus dieser Perspektive lässt sich auch die jiddische Paris un Viene-Adaption besser verstehen, die Probleme der Identitätsbildung reflektiert und damit auf die außerliterarische Realität des Publikums verweist. Denn sie führt vor Augen, wie brüchig jede Identitätskonstruktion ist, und entzieht sich damit ebenso wie die Geschichte der Juden einer homogenen Lesart.50 Dem Text kann keine feste ‚jüdische Identität‘ zugeschrieben werden. Paris un Viene spiegelt letztlich beide Konzepte sowie die Spannung zwischen dem Versuch, z. B. über soziale Rollen eine feste, konventionelle Identität zu konstruieren und dem Anerkennen, dass eine solche doch stets instabil und nur temporär sein kann, sich im ständigen Wandel befindet. Damit greift der Verfasser von Paris un Viene den außerliterarischen Identitätsdiskurs des zeitgenössischen Judentums auf, bereitet ihn narrativ auf verschiedenen Ebenen auf und macht damit letztlich selbst auf Grenzen und Möglichkeiten desselben aufmerksam.

46

Dorothee Gelhard: Mit dem Gesicht nach vorn gewandt. Erzählte Tradition in der deutsch-jüdischen Literatur, Wiesbaden 2008, S. 14. 47 Klaus Hödl: Der ‚virtuelle Jude‘ – ein essentialistisches Konzept? In: Der ‚virtuelle Jude‘. Konstruktionen des Jüdischen. Hrsg. von Klaus Hödl, Innsbruck/Wien/Bozen 2005 (Schriften des Centrums für Jüdische Studien, Bd. 7), S. 53–20, hier S. 54. 48 Moshe Rosman: How Jewish Is Jewish History?, Oxford/Portland/Oregon 2007, S. 1 u. S. 97. 49 David B. Rudermann: Early Modern Jewry: A New Cultural History, Princeton 2010, v. a. S. 102– 105. 50 Dabei gibt es in letzter Zeit verstärkt Bemühungen, auf Kulturaustausch und -transfers hinzuweisen. Einen wichtigen Beitrag zu dieser Diskussion stellt Martin Przybislkys 2010 erschienene Studie dar, in der er nicht nur religiöse und nicht-religiöse Texte untersucht, sondern auch verschiedene Stufen und Grade des Austauschs nachzeichnet. Vgl. Martin Przybislky: Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin/New York 2010 (Q & F 61).

Der Liebes- und Abenteuerroman im Spätmittelalter

Brigitte Burrichter (Würzburg)

Hybridität und Gattungsmischung in Pierre de Provence et la Belle Maguelonne

Pierre de Provence et la Belle Maguelonne wurde 1453 erstmals gedruckt, ist aber wohl einige Jahre älter. Ein Verfasser ist nicht bekannt, der Text ist in verschiedenen Versionen überliefert. In der Literatur wurde eine Entstehung am Burgundischen Hof diskutiert, belegen lässt sich diese These nicht.1 Denkbar ist auch das Umfeld von René d’Anjou, Graf der Provence, der 1434 König von Neapel wurde. Möglicherweise wurde in diesem Kontext die Gründung einer der bedeutendsten Kirchen der Provence mit dem neapolitanischen Hof verbunden.2 Die Erzählung war recht erfolgreich, wie nicht zuletzt die frühe Übertragung ins Deutsche belegt. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde sie immer wieder gedruckt und bearbeitet. Der Text ist zudem früh in der Bibliothèque Bleue3 und ähnlichen Reihen erschienen und damit, wie im Deutschen, einem breiteren Publikum zugänglich gewesen. In der aktuellen romanistischen Forschung findet er allerdings nicht viel Interesse, die Bibliographie, die François Roudaut seiner Neuedition von 20094 beigibt, verzeichnet nur ein knappes Duzend aktueller Beiträge (und damit ungefähr so viele, wie er für die deutsche Magelone angibt). Die Erzählmuster, auf die der Text zurückgreift, sind, soweit ich sehe, bisher im französischen Kontext nicht untersucht worden. Die Protagonisten der Erzählung sind Pierre, der Sohn des Grafen der Provence, und Maguelonne, die Tochter des Königs von Neapel. Die Personen sind nicht historisch, die politischen Verhältnisse, wie sie im Text aufscheinen, lassen vermuten, dass die Hand1

Die These wurde von Werner Söderhjelm vorgebracht (Pierre de Provence et la Belle Maguelonne. In: Mémoires de la société néo-phiolologique de Helsingfors, Bd. 7, Helsinki 1924, S. 5–49, bes. S. 36). 2 So die Vermutung von Adolphe Biedermann (Pierre de Provence et la Belle Maguelonne, Paris 1913). Vgl. die ausführliche Diskussion der verschiedenen Hypothesen bei Angela Birner: Magelone. In: Romanische Volksbücher. Querschnitte zur Stoffgeschichte und zur Funktion ausgewählter Texte: Barlaam und Josaphat, Magelone, Genovefa, Bertoldo. Hrsg. von Felix Karlinger und Irmgard Lackner, Darmstadt 1978, S. 98–157, bes. S. 98–102. 3 Die Bibliothèque Bleue war eine Reihe, in der vom 17. bis ins 19. Jahrhundert preiswerte Ausgaben verschiedenster Texte erschienen. 4 Pierre de Provence et la Belle Maguelonne. Hrsg. von François Roudaut, Paris 2009; zur Verbreitung siehe die „Introduction“, S. 7–50, bes. S. 12–22. Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe, die Übersetzungen sind von Vf. Roudaut gibt die Version des ersten überlieferten Drucks (Lyon 1477–1479) wieder.

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lung im 12. Jahrhundert spielt. Der Text greift auf ganz unterschiedliche Erzählmuster zurück und montiert sie zu einer Erzählung, deren Kennzeichen aus moderner Sicht die Hybridität ist. Die wichtigsten dieser Muster sind die Gründungslegende, der Liebes- und Abenteuerroman sowie die Heiligenlegende, sie seien einleitend kurz skizziert.

a. Gründungslegende Südlich von Montpellier liegt die kleine Insel Maguelone, auf der sich eine den Hl. Petrus und Paulus geweihte Kirche befindet. Der Roman erzählt, wie die schöne Maguelonne auf der Insel, die im Text stets nur ‚Port Sarrasin‘ heißt (so der Name der Insel zur Zeit der sarazenischen Herrschaft im 8. Jahrhundert), ein Hospital gründet und eine Kirche zu Ehren des Namenspatrons ihres verschollenen Freundes Pierre errichten lässt. Der Text verweist zwar nicht explizit darauf, dass die Insel den Namen der Protagonistin bekommt, der Handlungsverlauf lässt dies aber plausibel erscheinen.

b. Ritterroman (roman de chevalerie)5 Pierre hört von der schönen Tochter des Königs von Neapel und beschließt, sie zu sehen und um ihretwillen Rittertaten zu vollbringen. Er ist in allen Turnieren der beste Ritter. In Neapel verliebt er sich in die schöne Maguelonne, die sich ebenfalls in den tapferen und schönen Ritter verliebt, dessen Identität sie aber zunächst nicht kennt. Als Maguelonne verheiratet werden soll, fliehen die beiden vom Hof. Es folgt der Abenteuerroman:

c. erbaulicher Liebes- und Abenteuerroman (roman hellénistique) Auf der Flucht raubt ein Vogel den Beutel, in dem Maguelonne die Ringe aufbewahrt, die Pierre ihr geschenkt hat. Pierre verfolgt den Vogel und verliert dadurch Maguelonne, erst nach langen Jahren der Trennung finden sich die beiden schließlich wieder. Es handelt sich also bis ins Motiv hinein um eine verbreitete Variante des Abenteuerromans ‚orientalischer‘ Prägung. Pierre verbringt diese Jahre  – wie zahlreiche andere Romanhelden 5

Ich verwende im Folgenden die deutschen Entsprechungen der französischen Gattungsbezeichnungen, obwohl sie nicht immer bedeutungsgleich sind. Roman de chevalerie bezieht sich eher auf das Setting und das Personal (eine Liebes- und Abenteuergeschichte im ritterlichen Milieu) als auf ein bestimmtes Strukturmuster, der roman hellénistique rekurriert dagegen auf die Struktur und die Motive. Für das deutsche Minne- und Brautwerbungsepos, auf das Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens  – Partonopier und Melior  – Wilhelm von Österreich  – Die schöne Magelone, Berlin 2000, immer wieder als Vergleichstext rekurriert, gibt es im Französischen keine genaue Entsprechung.

Hybridität und Gattungsmischung in Pierre de Provence et la Belle Maguelonne

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auch – auf dem Meer und bei einem Sultan. In Pierre de Provence et la Belle Maguelonne werden die Trennung und das lange Warten mit Gottes Willen erklärt, der Roman bekommt so eine ausgeprägt erbauliche Note.

d. Heiligenlegende Maguelonne ergibt sich nach einer kurzen Zeit der Verzweiflung in ihr Schicksal und vertraut sich Gott an. Sie will in Pierres Heimat gehen, in die Provence. Dort ergreift sie die Gelegenheit, in Port Sarrasin ein kleines Hospital zu gründen. Sie pflegt die Kranken aufopferungsvoll und wird von der Bevölkerung regelrecht verehrt. Auch Pierres Eltern, die Gräfin und der Graf der Provence, finden bei ihr Trost. Sie scheint prädestiniert zu sein, ihr Leben als Heilige zu beschließen.

1. Gattungsmischung Eine genauere Lektüre des Textes erlaubt es, diese – und einige weitere – Erzählmuster zu analysieren und dabei besonders auf die Frage einzugehen, wie sie im Text zusammenspielen. Die jeweiligen Gattungsmuster sind in einzelnen Handlungseinheiten dominant, wenn auch immer bereits andere Erzählmuster in die Geschichte einfließen. Die Analyse folgt daher zunächst den Gattungsmustern.

a. Gründungslegende Der Text wird mit einem ganz kurzen Prolog eröffnet, der die folgende Erzählung in einen christlichen Kontext stellt: Au nom de nostre Seigneur Jesu Crist cy commence l’ystoire du vaillant chevalier Pierre filz du conte de Provence et de la belle Maguelonne fille du roy de Naples ordonné en cestuy langaige à l’onneur de Dieu et de la Vierge Marie et de mon seingeur saint Pierre de Maguelonne du quel lesditz Pierre et Maguelonne ont esté premiers fondateurs et fut mis en cestuy langaige l’an mil iiiic l. trois en la maniere qui s’ensuit. (S. 59) Im Namen unseres Herren Jesus Christus beginnt hier die Geschichte des tapferen Ritters Pierre, Sohn des Grafen der Provence, und Maguelonnes, der Tochter des Königs von Neapel. [Die Geschichte] wurde in diese Sprache [das Französische] gesetzt zu Ehren Gottes und der Jungfrau Maria und meines Herren Petrus von Maguelonne, [dessen Kirche] die beiden genannten, Pierre und Maguelonne, gegründet haben, und sie wurde im Jahr 1453 folgendermaßen in diese Sprache gesetzt:

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Brigitte Burrichter

Hier wird bereits die aitiologische Legende angekündigt, der christliche Kontext lässt eine erbauliche Geschichte erwarten. Die Forschung hat bisher keinen Prätext in der anderen Sprache, wohl dem Provenzalischen, gefunden, es mag aber durchaus eine vielleicht nur mündlich tradierte oder jedenfalls nicht schriftlich erhaltene Legende gegeben haben. Der Erzählung liegt aber deutlich das Erzählmuster einer Gründungslegende zugrunde, insbesondere die Zeichnung der Personen wird durch die Pragmatik der Gründungslegende bestimmt. Die Kirche und das Hospiz gibt es wirklich, beide wurden im 11. Jahrhundert vom Bischof von Maguelone zu Ehren der Hl. Petrus und Paulus errichtet. Ein Adeliger namens Pierre (allerdings kein Graf der Provence) überschrieb am Ende des Jahrhunderts die ganze Insel der Kirche.6 Der Name des Protagonisten geht damit möglicherweise auf den tatsächlichen Stifter zurück. Die Texteröffnung bleibt im christlichen Kontext und datiert die Handlung mit Bezug auf die Heilsgeschichte und die Christianisierung Frankreichs: „Après l’ascencion de nostre Seigneur Jhesu Crist quant la sainte foy catholique commença de regner es parties de Gaule qui maintenant est appelée France“ (S. 59; „Nach der Himmelfahrt unsres Herrn Jesus Christus, als der heilige katholische Glauben in den Teilen Galliens zu herrschen begann, die man heute Frankreich nennt“. Wir befinden uns also nicht am Beginn eines Romans, sondern eines historisierenden Textes: Es folgt die Genealogie des Protagonisten. Dies verweist auf die aitiologisch Funktion: Die Stifter einer Kirche müssen genealogisch beglaubigt sein, um der Legende Gewicht und Beglaubigung zu verleihen. Es scheint aber – über den in diesem Fall pragmatisch motivierten Anlass hinaus – eine Üblichkeit der Entstehungszeit zu sein, Romane in dieser Weise zu datieren. Die älteren Artusromane verzichten auf eine explizite historische und genealogische Einordnung ihrer Protagonisten, erst die Prosa-Graalsromane des 13. Jahrhunderts unterstreichen ihre heilsgeschichtliche Dimension durch die Datierung (etwa die Queste del Saint Graal, deren Handlung im Jahr 453 nach Christi Geburt beginnt). Der Amadis de Gaula7 beginnt ganz ähnlich wie Pierre de Provence et la Belle Maguelonne, obwohl er keinerlei aitiologische, genealogische oder heilsgeschichtliche Dimension hat. Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass die Romane des 12. Jahrhunderts eng an die zeitgenössische Artushistoriographie angelehnt und damit historisch hinreichend verortet waren, dies aber bei anderen Protagonisten – und in der zeitlichen Entfernung zu den historiographischen Texten – nicht mehr gleichermaßen gilt. Die Angaben können, wie eben im Amadis, reine zeitliche Einordnung sein, in unserem Fall akzentuieren der Prolog und die Betonung des heiligen katholischen Glaubens den christlichen Kontext.

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Roudaut (Anm. 4), S. 35. Der spanische Amadis wurde erstmals in der Version von Garci Rodríguez de Montalvo 1508 gedruckt, die Forschung geht aber von einem Prätext des 14. Jahrhunderts aus. Die Analogien zur Belle Maguelonne implizieren nicht, dass die Texte in einer direkten Beziehung standen, sondern deuten darauf hin, dass sie sich aus demselben Motivrepertoire bedienen.

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b. Ritterroman Unmittelbar nach Datierung und Genealogie wird der Protagonist eingeführt: Pierre ist ein junger Ritter, der in jeder erdenklichen Hinsicht herausragend und bei seinem Volk deswegen äußerst beliebt ist. Mit dem Lob seines Protagonisten leitet der Text zu einem anderen Register über, dem des höfischen Textes. Pierres Vater veranstaltet aus Liebe zu seinem Sohn ein Turnier, bei dem Pierre über die Ritter aus Nah und Fern triumphiert. Am Rande des Turniers wird geredet und erzählt, und so kommt auch die schöne Maguelonne zur Sprache, um derentwillen sich viele Ritter in Turnieren bemühen. Einer der Ritter gibt Pierre ausdrücklich den Rat, den elterlichen Hof zu verlassen und als Ritter Ehre zu suchen. Pierre nimmt sich dies zu Herzen, und auch die schöne Maguelonne hat Eindruck hinterlassen: Er beschließt, sich auf den Weg zu ihr zu machen und als fahrender Ritter die Welt zu erkunden: Pierre oyt ainsi parler le chevalier et avoit ouye la merveilleuse beaulté de Maguelonne il ala dispouser en son noble couraige que s’il pouvoit avoir congié de son pere et de sa mere qu’il yroit veoir secretement comme chevalier errant le monde. (S. 62) Pierre hörte den Ritter so reden und als er von der Schönheit von Maguelonne gehört hatte, überlegte er sich in seiner edlen Gesinnung, dass er, wenn er von seinem Vater und seiner Mutter Urlaub bekommen könnte, heimlich [incognito] als fahrender Ritter die Welt sehen wollte.

Der Ritter, der sich in eine ihm unbekannte Dame verliebt und sich auf die Suche nach ihr macht, ist ein verbreitetes Motiv, das sich in Erzählungen ganz unterschiedlicher Provenienz findet. Der Abenteuerroman orientalischer Prägung verwendet es ebenso wie die provenzalische Literatur in der Inszenierung der amor de lonh. Der Rat des Ritters, sich in der Welt zu erproben, folgt der Logik der Enfances, eines Genre des Ritterromans, das die Kindheit und Jugend der berühmten Protagonisten des höfischen Romans erzählt: Ein junger Ritter muss sich in der Welt bewähren, um seinen Wert öffentlich unter Beweis zu stellen. Hier aber wird dieses Motiv sofort abgeschwächt, Pierres Entschluss als kaum motiviert dargestellt: Er ist ja bereits der beste Ritter, der alle besiegt hat. Zudem zeichnen ihn seine Qualitäten vor allen anderen aus, es bedarf keiner weiteren Demonstrationen. Die Verantwortung, die er als einziger Sohn seinen Eltern gegenüber hat, verbieten die Queste geradezu. Dennoch will er ausziehen, „comme font les aultres nobles princes“ (S. 62; „wie dies die anderen edlen Prinzen tun“). Die Queste des jungen Ritters, die in den älteren Artusromanen ihren Platz hatte, ist zum leeren Ritual geworden, das in der Biographie des Protagonisten keine Funktion mehr hat. Auch dieses Verfahren findet sich in anderen Texten der Zeit, z. B. im Chevalier au Papegau. Pierres Entschluss, als chevalier errant auszuziehen (dies ist seine Formulierung), weckt im Leser die Erwartung, mit Abenteuern aller Art konfrontiert zu werden. Der Text wird diese Erwartungen nicht erfüllen: Pierre reitet ohne jegliches Abenteuer nach Neapel, und dort erwartet ihn ein Turnier nach den Regeln der höfischen Gepflogenheiten.

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Die Formulierungen rufen die literarische Überlieferung der Ritterschaft auf, die Ausgestaltung der Fahrt entspricht der extradiegetischen Realität des Rittertums im 15. Jahrhunderts, das sich in Turnieren inszeniert.8 Auch die Abschiedsszene von den Eltern und am Beginn der Ritterfahrt relativiert den Aufbruch zur ritterlichen Queste: Der Text ist sichtlich bemüht, seinen Protagonisten als guten Sohn und Christen zu präsentieren. Er verhält sich seinen Eltern gegenüber humblement, demütig, bekommt von ihnen gute Ratschläge und reist auch erst ab, als er die Erlaubnis der Eltern hat. Der Aufbruch des jungen Ritters erscheint so lebensweltlich realistisch. Der Abschluss dieser Eingangssequenz betont nochmals die historische Glaubhaftigkeit des Geschehens: Der Text gibt an, wo Pierre in Neapel Quartier nimmt und nennt einen Platz, „der heute noch so heißt“ (S. 64). Die Eingangssequenz zeigt bereits, wie der Text verschiedene Erzählmuster verbindet und verschränkt, aber auch, dass Bezugstexte aufgerufen werden, die mangels Motivation und erzählerischer Realisation ins Leere laufen: Hier ist dies der Ritterroman. Inwieweit dies eine bewusste Strategie des Erzählers – etwa, um das Interesse der Rezipienten zu wecken – ist, lässt sich nicht belegen (s. u.). Die Handlung in Neapel greift aber zunächst noch einmal auf den Ritterroman zurück. Pierre nimmt an einem Turnier zu Ehren Maguelonnes teil, bei dem er sich als der Beste auszeichnet. Die Frage des Königs nach seiner Identität beantwortet er abschlägig: Er habe einen Eid abgelegt, seine Identität zu verbergen und sei als chevalier errant aus Frankreich unterwegs, später nennt er sich einen „armen Ritter aus Frankreich, der sein Glück in der Welt sucht“ („ung pouvre chevalier du païs de France qui alloit serchant sont adventure par le monde“, S. 69) – in der französischen Formulierung chercher son adventure klingt das ritterliche Abenteuer an. Ganz dem Ritterroman entsprechend verliebt sich Maguelonne in den schönen Sieger und lässt weitere Turniere veranstalten, um ihn zu sehen. Schließlich lädt der König den fremden Ritter in den Palast ein, und Pierre kann nun Maguelonne nahe sein. Beim Abschied bittet sie ihn, wiederzukommen. Hier und bei den folgenden Begegnungen greift die Erzählung auf ein typisch südfranzösisches Muster zurück, das in der Troubadourlyrik verbreitet ist. Pierre stellt sich als armen Ritter von niedrigem Stand dar, Maguelonne apostrophiert er dagegen als „haulte et puissante dame“ (S. 68), deren hoher Stand ihm nur die Rolle des Dieners lässt. Seine Liebe gilt damit einer Herrin, die er nie wird gewinnen können, seine Liebe wird sich nie erfüllen. Wenn sich Pierre dann aber im selben Gespräch zu ihrem „humble chevalier et serviteur“ (S. 68) erklärt und sie seinen Dienst akzeptiert und ihn als ihren Ritter annimmt (S. 69), klingt das verbreitete Motiv des Ritters an, der sich ganz in den Dienst seiner Herrin stellt, auch wenn dies der Standesunterschied nicht verlangen würde.

8

Berühmt ist in der Mitte des 15. Jahrhunderts der Adlige Jacques Lalaing, der als fahrender Ritter durch Burgund und Frankreich zog und wichtige Turniere gewann; vgl. seine ‚Biographie‘ in Danielle Régnier-Bohler: Splendeurs de la cour de Bourgogne, Paris 1995, S. 1193–1409.

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c. erbaulicher Liebes- und Abenteuerroman Die weitere Geschichte der Liebe zwischen Pierre und Maguelonne wird im Stil des Liebes- und Abenteuerromans hellenistischer Prägung gestaltet. Pierre kann vor Liebe nicht schlafen, und Maguelonne geht es nicht besser. Sie vertraut sich ihrer Amme an, die im Stil des orientalischen Liebesromans zur Vermittlerin zwischen den beiden wird. Zunächst aber überzeugt sich die Amme davon, dass die Liebe zwischen den beiden mit Maguelonnes Stand vereinbar ist. Sie warnt Maguelonne davor, sich in einen armen Ritter zu verlieben, als sie von dessen Qualitäten überzeugt ist, warnt sie vor dem fremden Ritter: Maguelonnes Stellung als Tochter des Königs verlangt einen adäquaten Partner, Maguelonne darf sich insbesondere nicht auf eine unehrenhafte Beziehung einlassen: Maguelonnes Ehre ist das stärkste Argument, das die Amme anführt. Nachdem Mague­ lonne ihr versichert hat, dass sie sich stets auf den Rat der Amme verlassen werde, ist diese beruhigt. Auch Pierres Intentionen gilt ihre Sorge, sie fragt ihn nach der Art seiner Liebe: Eine „folle amour“ und „deshonneste“ (S. 76) würde sie nicht akzeptieren. Nachdem ihr Pierre die Ehrenhaftigkeit seiner Absichten versichert hat, unterstützt sie die beiden Liebenden nach Kräften. So kommt es schließlich zu einem Treffen mit Maguelonne, bei dem Pierre seine Identität preisgibt. Er ist nicht nur der Sohn des Grafen der Provence, sondern auch Neffe des Königs von Frankreich. Im Eingang dieser ersten heimlichen Begegnung klärt der Erzähler die Verfassung der Protagonistin: Sie möchte ihren Freund küssen und ist dabei von „amour loial“ (S. 81) bewegt, nicht etwa von erotischem Begehren. Aber sie weiß sich zu beherrschen, denn ihr ‚edles Herz‘ wird von der Vernunft geleitet: Touteffoiz raison qui doit seignorier en tout noble cueur luy remonstroit son honneur et la dignité où elle estoit dont reffraignist ung peu sa contenence. (S. 81) Aber die Vernunft, die in jedem edlen Herzen vorherrschen muss, erinnerte sie an ihre Ehre und an die Würde [wohl: den hohen Stand], in der sie war, und daher beherrschte sie ihr Verhalten etwas.

Die Affektkontrolle, die in der deutschen Übersetzung als Ausdruck der „protestantischen Gefühlsnormierung“9 lesbar ist, wird im französischen Text mit dem Adels- und Standesethos erklärt, das auch die Diskussion um Pierres Herkunft bestimmt. Ganz gelingt es Maguelonne indes nicht, ihre Gefühle zu unterdrücken, wie der Erzähler in einer zweiten sentenzenhaften Bemerkung erklärt: „Ainsi a coustume amours blessier ses beaulx subgiectz.“ (S.  81; „So pflegt die Liebe ihre schönen Unterworfenen zu verletzen.“) Raison und amour bestimmen den französischen Roman seit seinen Anfängen bei Chrétien de Troyes. Hier allerdings scheinen sie nicht im Widerstreit zu

9

Vgl. Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 291.

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stehen, die folgende Unterhaltung steht ganz im Zeichen der Ehre.10 Maguelonne kann Pierre, nachdem sie über seine Herkunft informiert ist, ihre Liebe offen gestehen. Die beiden versprechen sich die Ehe und bekräftigen das Versprechen mit Geschenken (Ring und Kette). Nun, nach dem gegenseitigen Eheversprechen, küssen sie sich. Sie beschließen, ihre Liebe weiter geheim zu halten. Den Abschluss dieses ersten Teils der Liebe bildet ein großes Turnier, in dem verschiedene Ritter kämpfen, um Maguelonnes Liebe zu gewinnen. Wir kehren in die Welt der Rittergeschichten zurück, denn es werden mehrere Kämpfe beschrieben, unter anderem auch einer, in dem sich Pierre und sein Onkel gegenüberstehen. Pierre will seine Identität nicht preisgeben, aber auch seinen Onkel nicht besiegen: Er hält einfach still, kann aber nicht besiegt werden. Nach dieser kleinen variatio erringt Pierre den Sieg des Turniers und ist wieder einmal der beste aller Ritter. Um Maguelonne auf die Probe zu stellen, gibt er an, zu seinen Eltern zurückzukehren. Maguelonne ist entsetzt und schwört, ihn zu begleiten. Da sie zudem befürchtet, von ihrem Vater verheiratet zu werden, ergreifen die beiden schließlich die Flucht. Das Motiv der Liebesprobe ist ebenfalls seit Chrétiens Romanen bekannt, hier allerdings ist es signifikant verschoben. Im arturischen Roman ist es die Dame, die ihren Ritter auf die Probe stellt, um das Ausmaß seiner Liebe auszuloten. Gemeinsam ist der traditionellen und der hier inszenierten Variante, dass sie jeweils nur schwach motiviert sind. In Pierre de Provence et la Belle Maguelonne scheint die Liebesprobe allein narrativ begründet, um die Erzählung weiterzutreiben. Mit den beiden Motiven des unbekannten Ritters und des unüberwindlichen Standesunterschiedes, die den ersten Teil der Liebesgeschichte prägen, inszeniert Pierre ein Spiel, um „andere Ritter“, wie es am Anfang hieß, zu imitieren. Beide Motive dienen zwar dem Erzählverlauf, sind aber kaum motiviert. Pierre könnte, nachdem er sich als der beste Ritter erwiesen hat, seine Identität bekanntgeben, ohne befürchten zu müssen, allein auf Grund seines Standes geehrt zu werden (wenn wir diese Angst als Ursache annehmen wollen). Auch der Standesunterschied ist in der ‚Realität‘ nicht gegeben: Mague­ lonne bescheinigt ihm, von sehr hoher Herkunft zu sein, er selbst stellt sich ihr als Neffe des französischen Königs vor. Eine Ehe scheint nicht ausgeschlossen, mehrfach sprechen sowohl die Amme als auch Maguelonne davon, dass sie damit rechnen. Immer wieder signalisiert der Text, dass der König selbst von der hohen Herkunft des Ritters überzeugt ist und nach seiner Herkunft forscht. Beim letzten Turnier hätte Pierre mit seinem Onkel sogar einen Zeugen, um seine Herkunft zu legitimieren. Das Verhalten des Königs legt es nahe, dass er seine Tochter mit dem provenzalischen Prinzen verheiraten würde, wenn ihm dessen Identität bekannt wäre. Es gibt keinen Grund, das Spiel nach dem letzten Turnier aufrecht zu erhalten: Maguelonnes Liebe ist sicher, Pierre der beste Ritter, alle warten darauf, seine Identität zu erfahren. Die Sorge der Amme, der Kö10

Die Affektkontrolle erscheint so im Text von vorn herein als selbstverständliche Leistung des adligen Liebenden, die die Liebe nicht unterdrückt, wohl aber deren Ausdruck kontrolliert. Ich sehe den Konflikt zwischen Affekt und Kontrolle im Text weniger problematisch dargestellt als z. B. Schulz (Anm. 5), S. 161ff. (Vgl. dazu unten).

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nig könnte Maguelonne verstoßen oder Pierre umbringen lassen (S. 84), betrifft nur die heimliche Liebe. Aber Pierre schweigt, die beiden Liebenden warten auf Gottes Gnade (S. 85) und auf das, was sie ihnen bringen wird. Man kann erzähllogisch damit argumentieren, dass Pierre zu lange wartet und nicht weiß, wie er sein Inkognito beenden soll,11 überzeugender scheint mir ein erzählökonomischer Grund: Die Liebesgeschichte wäre zu Ende erzählt, wenn Pierre sich erklären würde. Das Motiv der grundlos verheimlichten Identität findet sich in anderen Romanen der Zeit wieder, ganz besonders im Amadis de Gaula, in dem der in jeder Hinsicht standesgemäße und auch akzeptierte Liebhaber der Königstochter diese Liebe über Jahre hinweg im Geheimen führt. Die Logik spielt auch hier keine Rolle, das Inkognito fungiert aber als wesentlicher Motor der Erzählung. Ein dritter Grund wäre im Kontext der aitiologischen Legende der Plan Gottes, der den Lebensweg der Stifter bestimmt – da die Liebenden ausdrücklich auf Gottes Gnade hoffen, ist diese Erklärung durchaus denkbar. Es gibt ein weiteres Detail, das in diese Kategorie der wenig logischen Motive gehört. Im letzten Gespräch nach dem Turnier, in dem Pierre davon spricht, zu seinen Eltern zurückkehren zu wollen, bescheinigt ihm Maguelonne die Ehrenhaftigkeit seines Plans: Es sei nur vernünftig, dass sich der Sohn seinen Eltern unterwerfe und ihnen nicht missfalle (S. 93). Sie schlägt daher vor, zu Pierres Eltern zu gehen – unterschlägt dabei aber, dass sie sich damit ihren eigenen Eltern gegenüber ungebührlich benimmt. Der Text verschweigt diesen Widerspruch, die Erinnerung an die Kindespflicht bereitet aber die spätere Erklärung der Trennung vor. In diesem ersten Teil gibt es also mehrere Handlungsmuster und Register, die anzitiert und handlungsrelevant werden, die aber nur schwach motiviert sind: der Ritterroman, die Troubadourliebe zu einer hochgestellten Dame, die geheime Liebe. Der christliche Ton des Textanfangs kommt im ersten Handlungsteil kaum zum Tragen. Auf der Flucht der beiden Liebenden kommt es dann bald zur Trennung durch den Vogel, der Maguelonnes Ringe stiehlt – das Motiv ist weit verbreitet. In Pierre et Maguelonne ist es mit einem Wechsel des Erzähltons verbunden: Von jetzt an werden die Ursachen aller Ereignisse Gottes Willen zugeschrieben, und sie sind gleichzeitig Strafe und Prüfung. Der Liebes- und Abenteuerroman bekommt dadurch Züge des Erbauungsromans. Pierre hatte Maguelonne gelobt, sie bis zur richtigen Eheschließung zu respektieren. Als sie aber nun auf der Flucht den Kopf in seinen Schoß legt und schläft, ist er so überwältigt, dass er sie nicht nur anschaut, sondern ihr Mieder öffnet und sie streichelt. Gott zeigt ihm in dieser Situation höchster Ekstase (er ist „tout yvre d’amours“, S. 99; „ganz trunken vor Liebe“), dass es kein perfektes Glück und kein Vergnügen ohne Schmerz gibt: Er schickt, so der Erzähler, den Vogel, der die Ringe stiehlt. Die Erzählung interpretiert Gottes Eingreifen hier nicht als Strafe für ein etwaiges Fehlverhalten, sondern eher als Lauf der Welt. Als Pierre auf der Jagd nach den Ringen Maguelonne verloren hat, greift Gott ein weiteres Mal ein: Es ist der Gott Hiobs, der prüft und Geduld verlangt, aber der Seele nicht schaden will: 11

Vgl. Eming (Anm. 9), S. 293–298.

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Touteffoiz cellui qui essaie les personnes par maulx et par tribucations en cestuy monde et les veult gaigner par pacience ne vouloit pas qu’il perdist ainsi le corps et l’ame. (S. 100) Aber derjenige, der die Menschen in dieser Welt mit Übeln und Sorgen prüft und sie durch ihre Geduld gewinnen will, wollte nicht, dass er in dieser Weise den Körper und die Seele verlor.

Da Pierre wahrer Katholik ist, so fährt der Text fort, greift er zu den ‚Waffen des Gottvertrauens‘. In seinem folgenden Gebet interpretiert Pierre die Trennung (anders als zuvor der Erzähler) dann weniger als Prüfung, denn als Strafe. Er ist schuldig geworden, weil er Maguelonne von ihren Eltern getrennt und in eine gefährliche Situation gebracht hat. Hiob und die verdiente Strafe werden bis zum Ende als Erklärungsmuster nebeneinanderstehen, ohne dass der Text einen Widerspruch darin sähe. Pierre wird von arabischen Seeleuten aufgegriffen und muss dem Sultan dienen, die Erzählung wendet sich Mague­ lonne zu. Als sie allein im Wald wach wird und sich allmählich ihrer Lage bewusst wird, gestaltet der Erzähler ihre Klage sehr sorgfältig. Zunächst folgt er antiken Vorbildern: Die wiederholte Anrufung des verschwundenen Geliebten folgt Ariadnes Klage auf Naxos (nach den Heroides), Maguelonne selber vergleicht sich mit Medea (die zu dieser Zeit als perfekte Geliebte gilt), die von Jason verlassen wurde. Ihre Erklärung führt einen bösen Geist an, der ihr und ihrem Ehemann (mari, S. 105) ihr unschuldiges Glück neidet. Im ersten Schreck ist Maguelonne verzweifelt und allein auf ihr Schicksal konzentriert, dies gibt der Erzähler effektvoll mit dem Rekurs auf antike Vorbilder wieder. Erst als Mague­ lonne die Pferde findet und dadurch erkennt, dass Pierre wohl nicht freiwillig gegangen ist, beginnt sie zu überlegen. Zunächst klagt sie Fortuna an, dann aber, nachdem sie sich ihrer Situation ganz bewusst geworden ist, stellt sie sich unter den Schutz der Gottesmutter. Von der nackten Verzweiflung zum Gottvertrauen – auch Maguelonne findet damit den ‚rechten Weg‘ aus der schlimmen Situation. Später dann, in Rom, greift auch sie auf die Schuld als Erklärungsmuster zurück, wenn sie auch auf die allgemeine Schuldhaftigkeit des Menschen verweist und nicht auf ein konkretes Vergehen.12 Im Gewand einer Pilgerin beschließt sie, in die Provence zu reisen. Dort erfährt sie vom Leid des Grafens und der Gräfin, die ihren Sohn tot glauben. Damit steht für Maguelonne fest, dass Pierre sie nicht verlassen hat, sondern dass sie ein böses Geschick (S. 110) getrennt hat. Sie beschließt, auf ihn zu warten und sich in den Dienst Gottes zu stellen. In Port Sarrasin baut sie ein Hospital und eine Kirche und widmet sich so sehr dem Dienst an den Armen, dass sie allenthalben für eine Heilige gehalten wird.

12

„Et maintenant la vostre incomparable puissance vous a pleu que soions separez l’un d’avecques l’autre par aventure Seigneur Dieu par nostre coulpe et par nostre pechié car nous sommes pecheurs.“ (S.  108; „Und nun hat es Eurer unvergleichlichen Macht gefallen, dass wir einer vom anderen durch [das Eingreifen] des Herrgotts getrennt wurden wegen unserer Schuld und unserer Sünden, denn wir sind Sünder“).

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Maguelonne se mist en grand devotion à servir les povres et les malades et faisoyt tres aspre vie tant que toutes les gens de l’isle et de l’environ la tenoient saincte et la nommoient la sainte pelerine (S. 111) Maguelonne diente in großer Frömmigkeit den Armen und den Kranken und führte ein so hartes Leben, dass alle Bewohner der Insel und der Umgebung sie für heilig hielten und sie die heilige Pilgerin nannten.

Der erbauliche Roman steigert sich so bis zur Heiligenlegende, und wenn auch nicht von richtigen Wundern zu berichten ist, so ereignen sich doch wundersame Zufälle, etwa wenn Maguelonne viel Geld bekommt, um eine neue Kirche zu bauen. Ihr Ruf verbreitet sich, bis schließlich auch Pierres Eltern zu ihr kommen. Sie wird zur Vertrauten der Gräfin. Maguelonne, so der Text, übt sich in Buße und betet unablässig, damit Gott ihr Pierre zurückgebe. Die Erzählung nimmt eine neue Richtung, als die Gräfin die Ringe, die im Magen eines Fisches gefunden werden, als die Pierres erkennt. Sie zeigt Maguelonne die Ringe, die sie ihrerseits erkennt, und beide sind untröstlich, weil sie das Schlimmste befürchten. Der Leser muss sich dagegen nicht sorgen, er erfährt, dass Pierre am Hof des Sultans alle durch seine Liebenswürdigkeit gewonnen hat. Schließlich gewährt ihm der Sultan Urlaub, damit er nach seinen Eltern sehen könnte. Er gibt ihm zudem viel Geld, das Pierre in Salzfässern versteckt. Die Rückfahrt scheint problemlos, aber auch hier gibt es einen merkwürdigen Zwischenfall. Als sein Schiff auf einer einsamen Insel anlegt, um frisches Wasser zu fassen, verschläft Pierre die Abfahrt. Der Kapitän stiftet die nun herrenlosen Salzfässer dem Hospiz von Maguelonne, die irgendwann das Gold in den Fässern findet und damit eine große Kirche bauen lässt. Die Kirche und das Hospital heißen in dieser Szene erstmals ‚Kirche und Hospital von Maguelonne‘, ab jetzt ist nicht mehr von ‚Port Sarrasin‘ die Rede. Pierre befindet sich derweil allein auf der Insel in einer ähnlich verzweifelten Situation wie Maguelonne nach der Flucht. Nun aber ist er sich keiner Schuld bewusst sondern vertraut sich Gott an, wie Hiob. Und Gott, so versichert der Erzähler, prüft zwar die Seinen, hilft aber auch, wenn sie sich als fest im Glauben erweisen:13 Er schickt Fischer zur Insel, die den völlig entkräfteten Pierre mitnehmen. Krank liegt er nun in einer fremden Stadt, bis ihn ein Schiff mit in die Provence nimmt. Die Seeleute erzählen von der Kirche und dem Hospital von Maguelonne, und Pierre ist erstaunt, als er den Namen hört. Er erfährt dann allerdings nur, dass Kirche und Hospital neu erbaut worden seien und er in dieses Hospital gehen solle. Dort angekommen legt Pierre in der Kirche ein Gelübde ab, das an den Anfang der Handlung erinnert: Er will einen Monat lang seine Identität verheimlichen, bevor er sich seinen Eltern offenbart. 13

„Mais [Dieu] qui estoyt tant misericordieux qui espreuve et essaie ses amiz en adversitez et diverses peines et tribulations en cestuy monde et puis eslieve quant il les a fermes en luy et entiers.“ (S. 122f.; „Aber Gott, der so gnädig ist, dass er seine Freunde auf die Probe stellt, mit Widerwärtigkeiten und verschiedenen Übeln und Sorgen in dieser Welt, erwählt sie dann, wenn er sie fest und vollständig auf seiner Seite hat.“).

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Das gegenseitige Erkennen der Liebenden wird dann einige Zeit auf sich warten lassen. Erst als Pierre der aufopferungsvollen Pflegerin seine Geschichte anvertraut, erkennt ihn Maguelonne. Aber sie gibt sich  – man möchte sagen, natürlich  – nicht gleich zu erkennen, sie inszeniert das Wiederfinden regelrecht. Sie lässt sich reiche Kleider machen und empfängt ihn schließlich als Königstochter. Dabei präsentiert sie sich als seine „lo­yalle femme […] a laquelle vous promistes honnesteté jusques à noustre mariage“ (S. 127; „treue Ehefrau […] der ihr Ehrenhaftigkeit bis zu unserer Hochzeit versprochen habt“). Auch hier beschränkt sich der Körperkontakt, wie beim ersten heimlichen Gespräch, auf Umarmungen und Küsse, die Verlobten offensichtlich erlaubt sind. Da Pierre sein Gelübde abgelegt hat, müssen die Eltern noch warten, aber nach Ablauf der von ihm gesetzten Frist kommt es zum glücklichen Ende und zur Eheschließung. Im kurzen Schlusskapitel greift der Text die Gründungs- und die Heiligenlegende wieder auf: Pierre und Maguelonne führen ein so vorbildliches Leben, dass sie als Heilige sterben und in der Kirche beerdigt werden, die Maguelonne gegründet hatte. Der Text schließt mit einem Amen.

2. Gewichtung der Gattungen In diesem Zusammenspiel der verschiedenen Gattungsmuster dominiert letztlich die Gründungslegende. Anfang und Ende deuten explizit darauf hin, dass eine aitiologische Legende den Erzählanlass bildet, möglicherweise ging es dabei nur um die Figur des Stifters Pierre. Der Name der Insel ergibt den Namen der Protagonistin. Im Text ist letzteres wohl daran zu sehen, dass am Anfang der Inselhandlung stets von ‚Port Sarrasin‘ die Rede ist, erst als Maguelonne bereits berühmt ist, reden die Seeleute von Saint Pierre de Maguelonne. Diese Bezeichnung bietet zwei Lesarten: Maguelonnes Sankt Peter, also die Spezifizierung der Kirche durch ihre Stifterin, oder Sankt Peter von Maguelonne, also die Spezifizierung mittels eines Ortsnamens. Ohne dass der Text dies explizit sagen würde – aber dieser Text ist selten explizit – , wird aus dem Stiftername ein Ortsname. Der adelige mutmaßliche Stifter Pierre de Provence und die aus dem Namen der Insel abgeleitete Maguelonne legen eine Liebesgeschichte nahe, und hier greift der Verfasser auf alle Erzählmuster zurück, die im 15.  Jahrhundert zur Verfügung stehen: Reste des Ritterromans, provenzalische Liebeskonzeption, Vogelraub mit Trennung der Liebenden und Aufenthalt bei den Sarazenen aus dem Abenteuerroman. Dazu kommen phasenweise antike Reminiszenzen, erbauliche Reflexionen und biblische Muster. Diese Versatzstücke sind ohne Brüche und zum Teil äußerst kunstvoll kombiniert, etwa wenn in der Klage Maguelonnes die Phase der absoluten Verzweiflung mit antiken Anspielungen gestaltet wird, ihre zunehmende Reflexion über die Situation dann mit christlichen. Dabei geht es dem Verfasser wohl nicht darum (wie anderen seiner Zeit) eine intertextuelle Erzählung zu schaffen, die den Leser zur Enträtselung der Prätexte einladen würde. Er nutzt seine Versatzstücke, um eine erbauliche und sentimentale Erzählung zu schaffen. Wenn

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er sich aus heutiger Sicht dabei gelegentlich nicht immer um Stringenz oder Erzähllogik kümmert, so muss das sicher mit Blick auf die Erzählkonventionen der Zeit relativiert werden. Die aitiologische Funktion des Textes hat dabei  – über die Anfangs- und Schlusssequenz hinaus – einen entscheidenden Einfluss auf die Konzeption der Handlung wie der Protagonisten. Der Erzähler gestaltet den Lebensweg seiner Protagonisten nach dem Vorbild Hiobs. Sie lassen sich wenig zu Schulden kommen, werden aber hart geprüft. Insbesondere Maguelonnes Selbstbeherrschung passt in die Konzeption der Weltheiligen. Ihre Natur (ihr Herz, wie es im Text heißt) garantiert ihre Reinheit, sie befolgt die Ratschläge ihrer Amme und folgt ihrer Vernunft. Selbst als Pierre die Grenzen des Anstands zu übertreten droht, ist sie unbeteiligt, schläft sie doch tief und fest, als er ihr Mieder öffnet. Ihre einzige Schuld, der Verstoß gegen die Achtung der Eltern, wird vom Text nahezu verschwiegen, die Verantwortung dafür übernimmt Pierre. Die Protagonistin ist damit untadelig und besteht auch die Prüfung ihres Gottvertrauens. Pierre scheint zwar einen Moment die Kontrolle zu verlieren und das seiner Frau gegebene Versprechen, ihre Ehre zu wahren, zu brechen, aber auch hier entschärft der Text seine Schuld, um den Aspekt der Prüfung in den Vordergrund zu stellen. Die Stifter der Kirche von Maguelone werden als untadelig dargestellt, ihre Prüfungen sind Zeichen von Gottes Gnade.14 Die Möglichkeiten des Abenteuerromans, die Liebenden zu trennen und ihr Gottvertrauen zu prüfen, passen zum Konzept der langen Prüfung.

3. Gattungsmischung und Hybridität Die Mischung verschiedener Gattungen und die Verwendung von Motiven (wie dem Vogelraub) oder Handlungsmustern (wie dem eigentlich unnötigen Verschweigen der Identität oder der Liebe) findet sich im 15. Jahrhundert immer wieder. Paris et Vienne wäre ein weiteres Beispiel,15 der erfolgreichste Roman dieser Art ist der Amadis de Gaula. Pierre de Provence et la Belle Maguelonne fügt sich in diese Tradition ein und nutzt die Vorteile eines Liebesabenteuers, das durch die Betonung des Katholischen und die erbaulichen Elemente sozusagen eine unschuldige Unterhaltung ergibt, die Liebeshandlung und sogar das erotische Abenteuer Pierres sofort seelsorgerlich ‚entschärft‘, ohne dadurch das Vergnügen an der Lektüre zu schmälern. Es fällt schwer zu entscheiden, ob hier Pragmatik und Erzählgewohnheiten dominieren oder ob eine ästhetische Absicht hinter der Komposition verschiedener Versatzstücke steht, da der Kontext des Werks nicht bekannt ist. Folgt man der These von der Entstehung im Umfeld des burgundischen Hofes, wäre ein Spiel mit intertextuellen Anspielungen denkbar, hier waren die alten Romane zumindest teilweise bekannt. Die bricolage traditioneller Erzählmuster als bewusstes ästhetisches Verfahren ist an anderen Texten, 14

Pierre und Maguelonne hatten sich schon am Hof von Neapel in Gottes Gnade ergeben (S. 85). Siehe dazu den Beitrag von Friedrich Wolfzettel in diesem Band.

15

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die im 15. Jahrhundert am Hof von Burgund entstanden sind, durchaus zu beobachten.16 Ob für ein breiteres Publikum die Übernahmen – noch dazu auf struktureller, nicht auf inhaltlicher Ebene  – aus verschiedenen Gattungen (deren prominente Texte aus dem 12. Jahrhundert stammen17) erkennbar waren, scheint mir zweifelhaft, hier sind allenfalls zeitgenössische Texte und die späten Prosaromane als bekannt anzunehmen. Zudem sind die Struktur- und Motivzitate sehr allgemein gehalten (lediglich das Vogelraubmotiv ist eindeutig identifizierbar), ihre Komposition geht nicht über das vergleichbarer Texte hinaus.18 Selbst dem Erzähler muss man daher nicht unbedingt eine bewusste Komposition ursprünglich heterogener Elemente unterstellen. Der hybride Charakter von Pierre de Provence et la Belle Maguelonne erschließt sich nur aus der Geschichte der Bestandteile, die einem französischen Erzähler des 15. Jahrhunderts nicht bewusst gewesen sein muss. Aus der Sicht des 15. Jahrhunderts kann man Pierre de Provence et la Belle Maguelonne auch als erbauliche Gründungslegende ‚aus einem Guss‘ lesen, in der die weltliche Liebes- und Abenteuererzählung christlich überformt und der hellenistische Abenteuerroman dasjenige weltliche Narrativ ist, das einer Aktualisierung der Hiob-Erzählung am besten entspricht.

16

Vgl. Brigitte Burrichter: Das Spiel mit der Fiktionalität im Chevalier au Papegau. In: Fiktionalität im nachklassischen Artusroman des 13.  bis 15. Jahrhunderts. Romanistische und germanistische Perspektiven. Hrsg. von Martin Przybilski und Nikolaus Ruge, Wiesbaden 2013, S. 175–183. 17 Der für die deutsche Maguelone als Vergleich herangezogene Partonopeus de Blois datiert aus dem 12.  Jahrhundert, die jüngsten französischen Manuskripte aus dem 14.  Jahrhundert, für Floire et Blancheflore gilt entsprechendes. Die umfangreichen Editionen alter Texte setzen erst in den 1480er Jahren ein (vgl. Roudaut [Anm. 4], S. 7). 18 Vgl. die entsprechenden Bemerkungen Roudauts in seiner Einleitung, der die Erzählstruktur „banal“ nennt (Roudaut [Anm. 4], S. 36).

Peter Baltes (Berlin)

Verblasste Wunder Zum Umgang mit dem Wunderbaren in Warbecks Magelona

1. Einleitung: Das Wunderbare in den Liebes- und Abenteuerromanen Eine junge Frau und ein junger Mann verlieben sich ineinander, wollen heiraten, werden aber getrennt, oftmals für viele Jahre, begegnen sich wieder und setzen ihre Beziehung an der Stelle fort, an der sie einst getrennt wurden, und heiraten schließlich. Dies ist das typische Erzählschema der Liebes- und Abenteuerromane,1 welches sich seit dem spätantiken hellenistischen Roman bis weit in die Neuzeit finden lässt. Die Trennung der Liebenden, die mal durch einen Eingriff höherer Instanzen, mal durch eine Intrige der Familien oder die Verfehlung eines der Protagonisten verursacht wird, markiert den Beginn einer Zeit der Prüfungen, Entbehrungen und Gefahren, die Michail M. Bachtin als „Abenteuerzeit“2 bezeichnet hat. In dieser Phase werden die Heldinnen und Helden häufig mit außergewöhnlichen Wesen, Monstern oder Zauberern konfrontiert; sie werden in den Orient verschlagen, wo sie Wundervölkern begegnen, technische Wunderwerke und unbeschreibliche Kostbarkeiten bestaunen. Zaubersalben und magische Ringe schützen sie vor Gefahren oder statten sie mit übermenschlichen Fähigkeiten und Kräften aus. Solche magischen Ringe finden sich zum Beispiel im anonymen Friedrich von Schwaben3 aus dem frühen 14. Jahrhundert: Nachdem er ein Sichttabu gebrochen hat, muss sich Friedrich von seiner Geliebten Angelburg trennen. Bevor dies geschieht, erhält er von ihr und ihren beiden Hofdamen drei magische Ringe: Der eine beschützt ihn vor Feuer, der 1

Jutta Eming folgend, verwende ich hier die Bezeichnung ‚Liebes- und Abenteuerroman‘, die zum einen die anders gelagerte Verknüpfung von minne und âventiure verglichen mit dem höfischen Roman hervorhebt, zum anderen das Abenteuer als Erfahrungsmodus in diesen Texten betont. Vgl. Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebesund Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts, Berlin/New York 2006 (Q & F 39), S. 13. 2 Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Franke und Kirsten Mahlke, Frankfurt a. M. 2008, S. 10 und passim. 3 Friedrich von Schwaben. Hrsg. und kommentiert von Sandra Linden, Konstanz/Eggingen 2005 (Bibliotheca Suevica 14).

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andere verleiht ihm die Kraft dreier Männer, der dritte Ring schützt seinen Träger vor Vergiftungen.4 Bereits in Heliodors Aithiopika5 aus dem dritten Jahrhundert gibt es einen Ring, der vor den Gefahren des Feuers schützt. Am Beispiel der Aithiopika, die als Prototyp für das Erzählschema des Liebes- und Abenteuerromans gelten, erläutert Bachtin den Chronotopos der Abenteuerzeit, welche sich durch die Darstellung von „Wunderdingen und Raritäten“6 auszeichnet. In der Auseinandersetzung mit dem Wunderbaren und Fremden müssen sich die Heldinnen und Helden immer aufs Neue bewähren: Da für alle diese beschriebenen Dinge und Erscheinungen keine Vergleichswerte vorliegen und es für deren Wahrnehmung […] keinen in irgendeiner Hinsicht präzisen Hintergrund einer gewohnten, eigenen Welt gibt, nehmen diese ungewohnten Dinge zwangsläufig den Charakter von Kuriosa, Wunderdingen und Raritäten an. Auf diese Weise sind im griechischen Roman also die Räume der ‚fremden Welt‘ mit isolierten, untereinander nicht verbundenen Kuriosa und Raritäten angefüllt. Diese selbstzweckhaft interessanten, absonderlichen und erstaunlichen Dinge haben ebenso zufälligen und überraschenden Charakter wie die Abenteuer selbst.7

Die Idee der Prüfung der Protagonisten durch das Bestehen der Abenteuer und Begegnungen mit dem Wunderbaren, die Bachtin hervorhebt, findet sich auch in den mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerromanen.8 So stellt Werner Röcke im Hinblick auf Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland fest:9 Mithin werden die Wunder des Orients nicht mehr nur bestaunt oder gefürchtet, sondern zu Bewährungssituationen des Helden, in denen er seinen Schrecken gerade überwinden muß. […] Apollonius hingegen erlebt die Wunder als problematisch, das heißt, er läßt sich auf sie ein, kämpft mit Dämonen und Teufeln, erkennt ihre Schwächen und vermag sie zu überwinden.10

In dieser Darstellung und Funktionalisierung der Wunder im Apollonius sieht Röcke einen deutlichen Unterschied zur Darstellung von Wundern in legendarischen Erzählungen, zum Beispiel dem Sente Brandan,11 mit welchem Röcke den Apollonius vergleicht: 4

Vgl. Friedrich von Schwaben (Anm. 3), V. 1337–1373. Heliodor: Die Abenteuer der schönen Chariklea. Übersetzt von Rudolf Reymer. Mit einer Einleitung und Erläuterungen von Bernhard Kytzler, München 1990 (Bibliothek der Antike). 6 Bachtin (Anm. 2), S. 11. 7 Bachtin (Anm. 2), S. 26. Vgl. dazu auch den Beitrag von Jutta Eming im vorliegenden Band. 8 Zum Zusammenhang zwischen spätantiken und mittelalterlichen Liebes- und Abenteuerromanen siehe Werner Röcke: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens/Ulrich Müller, Stuttgart 1984, S. 395–423. 9 Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland nach der Gothaer Handschrift, Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach der Heidelberger Handschrift. Hrsg. von Samuel Singer, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1906, Dublin/Zürich 1967 (DTM 7). 10 Werner Röcke: Die Wahrheit der Wunder. Abenteuer der Erfahrung und des Erzählens im Brandanund im Apollonius-Roman. In: Wege in die Neuzeit. Hrsg. von Thomas Cramer, München 1988 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 8), S. 252–269, hier S. 261. 11 Röcke bezieht sich auf die mittelhochdeutsche Verserzählung Von Sente Brandan in der Ausgabe von Carl Schröder: Sanct Brandan. Ein lateinischer und drei deutsche Texte, Erlangen 1871. Vgl. Röcke, Die Wahrheit der Wunder (Anm. 10), S. 254, dort Anm. 6. 5

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„Brandan erfährt die Wunder des Orients als überwältigenden Beweis für Gottes Allmacht. Er ist ihnen ausgesetzt, zur Passivität verurteilt und zu ihrer gläubigen Anerkennung genötigt.“12 Während die Wunder im Sente Brandan die bestaunenswerte Allmacht Gottes zeigen, fordern die Wunder im Apollonius den Helden heraus. Er ist ihnen ausgesetzt, muss sich auf sie einlassen, ihnen neugierig begegnen und seine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht Veit Warbecks Die Schöne Magelona,13 welche er 1527 aus dem Französischen übersetzt hat. Die Schöne Magelona stellt einen recht späten Vertreter der Liebes- und Abenteuerromane dar. Neben dem erwähnten Erzählschema finden sich auch die bereits benannten Motive, die in Liebes- und Abenteuerromanen mit Erzählelementen des Wunderbaren verbunden sind, wie etwa kostbare Ringe, eine Reise in den Orient oder das direkte Eingreifen Gottes in den Handlungsverlauf. Doch weist die Verwendung dieser Motive deutliche Unterschiede zu ihrem Vorkommen in anderen Romanen der Gattung auf. Der Beitrag geht der Frage nach, welche Formen und Funktionen des Wunderbaren sich in der Magelona finden.

2. Zum Wunderbaren in der Literatur des Mittelalters Für die wunderbaren Elemente in der mittelalterlichen Literatur wird häufig die Unterscheidung in göttliche Wunder (miracula) und das Wunderbare (mirabilia) vorgenommen: Die theologische und epistemologische Gegenüberstellung von ‚miracula‘ und ‚mirabilia‘ prägt auch die mittelalterliche poetologisch-ästhetische Diskussion, in der  – ohne terminologische Schärfe  – dem christlich wahren und darum zurecht erbaulichen W[underbaren] das falsche, erfundene W. gegenübergestellt wird. […] Beide Begriffspaare erscheinen relevant für die Diskussion über die Legitimität des W. und der Fiktion zwischen den Polen des religiös-sakralen W. in der Mirakelliteratur und des magisch-profanen W. in der höfischen Literatur.14

Eine so klare Scheidung in religiös-sakrale miracula und magisch-profane mirabilia funktioniert in der höfischen Literatur des Mittelalters nicht ohne Weiteres. Für legendarische Erzählungen wie den Sente Brandan mag es zutreffen, dass ausschließlich ein religiöses Wunderbares vorkommt, doch im Fall des Apollonius ist dies schon nicht mehr so eindeutig. Zwar werden auch hier die Wunder meist mit einem Gottesbezug geschildert, manchmal aber erst nachträglich, wodurch die Bedeutung Gottes für dieses Wunder 12

Röcke, Die Wahrheit der Wunder (Anm. 10), S. 260. Veit Warbeck: Magelone. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek der frühen Neuzeit 1), S. 587–677. 14 T. Hoffmann, C. Sittig: Artikel ‚Wunderbare, das‘. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, Tübingen 2009, Bd. 9, Sp. 1444–1459, hier Sp. 1447. 13

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zurückgenommen wird. So spricht Röcke denn auch von einer Emanzipation der Wunderdarstellung vom alleinigen Zweck der Demonstration der Macht des Schöpfers.15 Im Vordergrund steht etwas anderes: „Apollonius […] nimmt die Wunder nicht nur gläubig hin, sondern nutzt sie zur individuellen Bewährung.“16 Die höfische Literatur, darauf hat Jutta Eming hingewiesen, zeichnet sich gerade durch ein Nebeneinander verschiedener Formen des religiösen und nichtreligiösen Wunderbaren aus: In weltlicher Dichtung dürfte es nach der Ansicht einiger Vertreter der Forschung eigentlich kein religiöses Wunder geben. Aber dies ist offensichtlich nicht der Fall: Auch im höfischen Roman wird vom Wirken Gottes durch Wunder erzählt. Um nun diesen Hiatus zu überwinden, hat sich eine bestimmte Formel etabliert: ‚Das Wunder wird zum Wunderbaren‘.17

Doch mit der auf Max Wehrli zurückgehenden Vorstellung, dass im höfischen Roman alles zu einem diffusen Wunderbaren geworden ist, wird, so Jutta Eming, eine Erkenntnismöglichkeit verschenkt, sei es doch fraglich, ob es einen qualitativen Unterschied zwischen den religiösen Wundern im höfischen Roman und dem Wunder in der Legende gebe. Darüber hinaus kommt es für eine Untersuchung des Wunderbaren gerade darauf an, einerseits zu zeigen, welche verschiedenen religiösen und nicht-religiösen Formen des Wunderbaren in einen Roman eingegangen sind, andererseits zu untersuchen, wie sie ineinanderwirken – oder gegeneinander wirken – im Sinnhorizont des Romans.18

Gerade bei der Untersuchung eines Romans wie der Magelona, der, wie es für die Liebesund Abenteuerromane die Regel ist, einen hybriden Text bildet, in welchem sich auch legendarische Komponenten ausmachen lassen,19 ist eine differenzierte Betrachtung der wunderbaren Elemente wichtig, ist doch davon auszugehen, dass wunderbare Motive aus verschiedenen Gattungszusammenhängen begegnen. Im Folgenden sollen daher, im Anschluss an Eming, alle „Dinge, Gestalten, Anderswelten und auch religiöse Wunder“,20 die der Text als außergewöhnlich darstellt, als Elemente des Wunderbaren verstanden werden. Dies ermöglicht es, die verschiedenen Formen und Funktionen der wunderbaren Elemente, die eventuell nebeneinander im Roman vorkommen, zu differenzieren und ihr mögliches Zusammenwirken zu analysieren.

15

Vgl. Röcke, Die Wahrheit der Wunder (Anm. 10), S. 266. Röcke, Die Wahrheit der Wunder (Anm. 10), S. 261. 17 Jutta Eming: Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum Bel Inconnu, zum Wigalois und zum Wigoleis vom Rade, Trier 1999 (LIR 19). 18 Eming, Funktionswandel (Anm. 17), S. 14. 19 Vgl. zum Aspekt der Hybridität den Beitrag von Brigitte Burrichter in diesem Band. 20 Eming, Funktionswandel (Anm. 17), S. 36. 16

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3. Motive des Wunderbaren in der Magelona In der Forschung zur Magelona finden sich hin und wieder Anmerkungen zum Wunderbaren. Vor allem wird behauptet, dass es keine große Rolle spielt. So stellt Ruth Westermann fest: „Die Liebesgeschichte ist klar und fast frei von verwirrender Wunder- und Abenteuer-Fülle durchgeführt. Diese relative Einfachheit läßt eine liebevolle Kleinmalerei zu.“21 Winfried Theiss spricht von einer „zunehmende[n] Verweltlichung“,22 wo­ runter er vor allem die weitgehende Tilgung der Spuren katholischer Heiligenverehrung und des Wunderglaubens versteht. Diese weitgehende Reduktion wunderbarer Elemente in der Magelona ist kein Ergebnis des Überlieferungsprozesses oder gar der protestantisch gefärbten Bearbeitung Warbecks. Auch in der älteren französischen MaguelonneTradition finden sich keine Erzählungen von Begegnungen mit wunderbaren Wesen oder Ähnlichem. Dies hebt Günter Berger hervor: Blutige Auseinandersetzungen mit feindlichen Rittern, ungeschlachten Riesen, Wesen, die über Zauberkräfte verfügen, wie in der Tradition des Ritterromans üblich, braucht Pierre nicht zu bestehen. […] Zwar sind diese Abenteuer Pierres und Maguelonnes nach der Trennung des Paars deutlich nach dem Muster des hellenistischen Liebesromans gestaltet worden, folgen diesem Modell jedoch schon in den frühesten Fassungen nicht nur quantitativ in höchst reduzierter Form. Denn zum einen beschränkt sich das Wunderbare auf den Raub der Ringe durch den Vogel und ihr Wiederauftauchen im Magen eines gefangenen Fischs; zum anderen bleibt Maguelonne durch ihre Verkleidung als Pilgerin vor jeglicher Verfolgung verschont.23

Diese im Vergleich zu anderen Liebes- und Abenteuerromanen deutliche Reduktion des Wunderbaren, von welcher Berger in Bezug auf die französische Tradition spricht, trifft auch auf die älteste bekannte Übersetzung ins Deutsche zu, die noch vor der Warbecks vermutlich im 15. Jahrhundert entstanden ist.24 Es handelt sich also nicht um eine Besonderheit der Bearbeitung Warbecks. Im Roman finden sich vielmehr bekannte Motive, die vor allem in den Liebes- und Abenteuerromanen mit Erzählelementen des Wunderbaren verbunden sind, die in der Magelona aber anders verwendet werden. Zu den angesprochenen Motiven im Roman gehören a) drei außergewöhnliche und kostbare Ringe, b) die Neugier des Helden, c) der als göttlicher Eingriff dargestellte Raub 21

Ruth Westermann: Die niederdeutschen und dänischen Übertragungen von Veit Warbecks Schöner Magelona. In: ZfdPh 57 (1932), S. 261–313, hier S. 264. 22 Winfried Theiss: Die Schöne Magelona und ihre Leser. Erzählstrategie und Publikumswechsel im 16. Jahrhundert. In: Euphorion 73 (1979), S. 132–148, hier S. 135. 23 Günter Berger: Pierre de Provence et la Belle Maguelonne. Vom Liebes- und Abenteuerroman zum Bildungsroman. In: Weltbildwandel: Selbstdeutung und Fremderfahrung im Epochenübergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hans-Jürgen Bachorski/Werner Röcke, Trier 1995 (LIR 10), S. 269–287, hier S. 273. 24 Vgl. Die schöne Magelone. Hystoria von den edeln ritter Peter von Provenz und der schönsten Magelona, des königs von Naples tochter. Älteste deutsche Bearbeitung nach der Handschrift der Preußischen Staatsbibliothek Germ. 4˚ 1579; mit Anmerkungen und überlieferungsgeschichtlichen, literarischen und kunsthistorischen Exkursen. Hrsg. von Hermann Degering, Berlin 1922.

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dieser Ringe durch einen Vogel, d) die Verschleppung des Helden in den Orient, e) das Stranden des Helden auf einer einsamen Insel und f) das Wiederfinden der Ringe im Bauch eines Fisches. Diese Motive sollen nun im Einzelnen betrachtet werden.

a. Die drei Ringe Vor seinem Aufbruch nach Neapel, wo er um die Gunst der Tochter des Königs von Neapel, genannt ‚Die schöne Magelona‘, werben möchte, erhält der Ritter Peter, einziger Sohn des Grafen der Provence, von seiner Mutter drey kostlich vnd hüpsche ringe wlche eins grossen geldts geschatzt waren,25 die im weiteren Verlauf der Handlung eine wichtige Rolle spielen werden. In Neapel angekommen, nimmt Peter inkognito an den Turnieren teil, die der König zu Ehren seiner Tochter ausrichtet. Peter siegt mehrfach und zieht die Aufmerksamkeit des Hofes, vor allem die der schönen Magelona auf sich. Er wird zu einem Mahl bei Hofe geladen, bei welchem alle Anwesenden sogleich erkennen, dass Peter aus edlem Geschlecht stammt. Seine Identität gibt er aber nicht preis. Während des Mahls kommt es zu einer ersten Begegnung zwischen Peter und Magelona, in deren Verlauf die beiderseitige Sympathie deutlich wird. Bald darauf entbrennen die beiden in Liebe zueinander. Um miteinander in Kontakt treten zu können, weiht Magelona ihre Amme in ihr Geheimnis ein. Diese warnt Magelona vor den Gefahren der Liebe, findet sich aber schließlich bereit, Magelona zu helfen. Es kommt zu einem Treffen zwischen Peter und der Amme, bei welchem Peter seine Identität weiter verheimlicht. Er übergibt der Amme dafür aber einen der drei Ringe, die er von seiner Mutter erhalten hatte. Auch den zweiten Ring lässt Peter am nächsten Tag über die Amme Magelona zukommen. Erst den dritten überreicht er ihr persönlich. Wenn in der Magelona von den drei Ringen die Rede ist, wird bis zur Übergabe des ersten Rings lediglich ihr großer materieller Wert hervorgehoben, andere Eigenschaften, z. B. magische, werden nicht erwähnt. Nach der Übergabe des ersten Rings an Magelona geschieht aber Folgendes: Die selbenn nacht schlyeff die schn Magelona gantz wol/mit ihrem ring/wlchenn sie zům offtermal küsset/auß grosser liebe mit hertzlichenn seüfftzenn an den Ritter gedenckennd/jhren liebstenn freünt/biß nahent dem tage/darunder entschlieff sie/vnnd da sie entschlaffen was/kam jhr für eyn sollicher traum (S. 613f.).

Sie träumt, sie würde ihren Ritter treffen und ihn nach seiner Identität fragen. Er sagt ihr daraufhin, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen sei und sie sich noch etwas gedulden müsse. Dann heißt es weiter: vnnd da gedauchte sie/der Ritter gebe jhr eyn ring/der was noch kstlicher dann der erste/den ehr jhr bey der ammenn geschickt hette (S. 614). Das, was Magelona träumt, wird ziemlich genau so eintreten. 25

Warbeck (Anm. 13), S. 599. Im Folgenden erscheint die Seitenangabe im Fließtext in Klammern nach dem Zitat.

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Bald darauf kommt es zu einer weiteren Begegnung zwischen Peter und der Amme. Sie bedrängt ihn, seine Identität preiszugeben und spricht ganz offen von einer möglichen Heirat, denn Magelona liebet euch auß gantzem hertzenn (S. 616). Über diese Nachricht ist Peter sehr erfreut, er beharrt aber darauf, seinen Namen und sein Herkommen nur Magelona persönlich zu sagen. Peter übergibt der Amme den zweiten Ring mit den Worten: jhr wolt mich auch jhr vunderthenigklich beuelhenn (S. 617). Die Amme erkennt Peters gute Absichten und sagt ihm zu, den Ring an Magelona zu übergeben, ihn Magelona zu empfehlen und darauf hinzuwirken, dass es zu einem Gespräch zwischen den beiden Liebenden kommt. Nach dem Treffen mit Peter geht die Amme sogleich zu Magelona, wlche sehr kranck war/vonn grosser liebe die sie hette z dem Ritter (S. 618). Magelona leidet an der Liebeskrankheit, welche durch die bisher unerfüllte Liebe zu dem fremden Ritter verursacht wird. Die Amme berichtet Magelona von ihrer Begegnung mit Peter und überreicht ihr den zweiten Ring, was nicht ohne Wirkung auf Magelona bleibt: Da die schne Magelona solch gtte vnd frliche nee gezeytung horte/auch den ring sahe der also schn vnd kostlicher was dann der erste/Da verwandlet sich ihre farb/vor freuden vnd ward rot/vnnd sagt z der ammen/das ist dieser ring/dauon mir getraumet hatt die fodern nacht/dann meyn hertz saget mir nichts das nicht geschehe/vnd glaub sicherlich on allen zweyffel/das dieser Ritter ist/der mein gemahel vnnd man sol werden (S. 619).

Mit der Übergabe des Rings ist Magelona von der Liebeskrankheit geheilt. Ist diese Heilung auf eine besondere Wirkung des Rings zurückzuführen? Ebenso ließe sich fragen, ob es sich bei dem Traum, den Magelona nach Empfang des ersten Rings träumt, um eine Prophezeiung handelt, die durch eine magische Wirkung des Rings verursacht wurde? Ringe mit magischen Kräften sind, wie gezeigt wurde, keine Seltenheit in Liebes- und Abenteuerromanen. Doch eine solche Interpretation legt der Text nicht nahe, sondern bietet eine andere an, welche zunächst in der Deutung des Traums durch die Amme aufscheint: Magelona erzählt der Amme ihren Traum auß wlchem ansagenn die amme vermerckt/das sie all jhr hertz vnnd gedanckenn auff den Ritter geworffen hett (S.  614). Nicht der Ring, sondern derjenige, auf den er verweist, ist die Ursache für den Traum. Wenn Magelona den Ring vor dem Einschlafen offtermal küsset (S. 613), so deshalb, weil er für Peter steht. So gesehen ist es denn auch folgerichtig, dass die an der Liebeskrankheit leidende Magelona durch die im zweiten Ring symbolisierte ‚Anwesenheit‘ Peters und die damit verbundene Gewissheit, dass er ihr Ehemann werden wird, geheilt wird. Die Stellvertreter-Funktion der Ringe wird bei der Übergabe des dritten Rings noch einmal deutlich hervorgehoben. Den letzten und kostbarsten Ring übergibt Peter persönlich und gibt sich zugleich zu erkennen, verbunden mit dem Versprechen, dass er sie zur Frau nehmen wird: ich verheyß auch euch hiemit er gebot vnd beuelh treülich z erfüllen so es Got gefelt/Widerumb so es euch geliebt were/von erm gemahel z entpfahen disen ring mein da bey z gedencken/diser was der dritte ring […]/der dann kostlicher was denn die zwen andere (S. 625f.).

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Armin Schulz merkt zu der Übergabe des dritten Rings, die deutliche Anklänge an eine Trauungszeremonie enthält, an, dass der dritte Ring „von Peter als Zeichen semantisiert [wird], das an ihn erinnern soll. Damit wird der Ring als metonymischer Stellvertreter definiert – genau so, wie Magelona die anderen beiden Ringe begriffen hatte, die sie stellvertretend statt ihres Geliebten geküsst hatte.“26 Das gattungstypische Motiv der magischen Ringe, welche die Funktion haben, den Heldinnen und Helden bei ihren Bewährungsproben zu helfen, erfährt in der Magelona eine Verschiebung: Aus dem magischen Gegenstand wird der Stellvertreter des Geliebten. Die Ringe sind hier also keine Elemente des Wunderbaren, doch ihre Außergewöhnlichkeit lenkt den Blick auf die Liebe zwischen Peter und Magelona.

b. Die Neugier des Helden Nachdem die beiden sich einander versprochen haben, leben sie noch eine Zeit lang am Hof in Neapel, wobei sie ihre Beziehung geheim halten. Während einer weiteren Begegnung zwischen Magelona und Peter eröffnet sie ihm, dass ihr Vater sie in Kürze verheiraten möchte. Magelona bittet Peter, mit ihr zu fliehen, was nach kurzer Zeit auch geschieht. Auf der Flucht geraten die beiden in einen Wald, wo sich die wohl bekannteste Szene der Schönen Magelona zuträgt. Erschöpft von den Strapazen der Flucht schläft Magelona in Peters Schoß ein: da hett der Peter kein grssern lust dann im anschaen seiner aller liebsten (S. 642). Seine Lust steigert sich und er kann der Versuchung nicht widerstehen, Magelona das Kleid aufzuschnüren und ihre nackten Brüste zu beschauen und zu berühren. Als er nun solchs thet/ward er inn der liebe gantz entzindet/redt vnd gedaucht jn/er were imm hymel/gedacht auch vnglück mcht jhm nit schaden (S. 642). Seine Neugier ist aber noch nicht befriedigt: Als er einen Stoffbeutel zwischen Magelonas Brüsten erblickt, da vberkam er grossen lust z erfarn was es were (S. 642). Er findet die drei Ringe darin, die Magelona dicht bei ihrem Herzen getragen hat. Er wickelt die Ringe wieder ein und legt sie beiseite, um sich wieder ganz der Betrachtung seiner Geliebten hinzugeben. Peter verfällt der Schaulust, und es scheint ihm, als wäre er im Himmel, doch nicht, weil er Gott geschaut hätte, sondern es ist der Anblick seiner Geliebten, der dies bewirkt. Er ist der Welt verfallen, ganz so wie Augustinus in seiner curiositas-Kritik die Neugierigen beschreibt.27 Entscheidend ist, daß sich der Mensch in der Neugierde seiner Geschöpflichkeit überhebt und ein begehrliches Interesse an der Äußerlichkeit der Welt unter Absehung von ihrer genuinen Bestimmung zeigt: daß sie nämlich, von Gott geschaffen, dessen Offenbarung und nicht des Menschen Vergnügen ist.28 26

Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161), S. 181. 27 Zum Begriff der curiositas siehe: Barbara Vinken: Artikel ‚Curiositas/Neugierde‘ In: Historisches Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe. Hrsg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 794–813. 28 Vinken (Anm. 27), S. 799.

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Doch der Anblick Magelonas, seine neugierige Betrachtung bereitet Peter großes Vergnügen, es versetzt ihn geradezu in einen Zustand der Glückseligkeit, welcher, und das ist das Problem, ohne Bezug zu Gott erreicht wird. In der Forschung wurde sogar die Position vertreten, dass Peter hier blasphemisch handelt.29 Dem Neugierigen geht es nach Augustinus nicht darum, quantitativ mehr Wissen zu erlangen, sondern er verfolgt ein qualitativ anderes Erkenntnisinteresse, das in sich attraktiv genug ist, Gott aus dem Feld zu schlagen. Die Neugierde ist Versuch und Versuchung, in der Welt anderes als Gott zu lesen. Neugierig ist eine solche Betrachtung, sofern sie die Dinge nicht als Zeichen des Schöpfer-Autors liest und auf ihn transzendiert, sondern sie vielmehr um ihrer selbst willen betrachtet.30

Als neugieriger Held steht Peter durchaus in der Tradition der Gattung der Liebes- und Abenteuerromane, insbesondere der Apollonius von Tyrland und der Reinfried von Braunschweig31 wären hier zu nennen. Auffällig ist allerdings, dass sich seine Neugier nicht auf die Wunder der Welt richtet, sondern auf den Körper seiner Geliebten. Das Thema der curiositas wird anzitiert, dann aber auf den Nahbereich und die Liebe umgelenkt. Doch während Apollonius und Reinfried in den Wundern, die ihre Neugierde wecken, letztlich doch den Schöpfer erkennen, führt Peters Neugier dazu, dass er Gott vergisst.

c. Der Raub der Ringe In einem weiteren Punkt unterscheidet sich Peters Schaulust von der anderer literarischer Helden: Sie wird bestraft. Aber Gott der allmechtig erzeigt jm/wie das inn diser welt kein freud were on traurigkeit/vnd kam ein vogel der lebt von dem raub/der selb ersach den zendel [Stoffbeutel, P. B.] vnnd vermaint es were flaisch/er erwüschet den zendel vnd flog daruon (S. 643). Peter verfolgt den Vogel, um die Ringe wieder zu erhalten. Mit einem Boot setzt er zu einem Felsen über, auf welchem sich der Vogel niedergelassen hat, und von wo er die Ringe schließlich ins Meer fallen lässt. Doch Peter erreicht den Felsen nicht: Aber Got der allmechtig der alle ding macht nach seinem gtlichen willen/schicket es also das ein grosser wind auff stndt/der nam den Peter mit gewalt vnd frt jn auff das hoch mr vber seinen willen (S. 644). Sowohl der Raub der Ringe durch den Vogel als auch ein aufkommender Sturm werden vom Erzähler eindeutig als Eingriffe Gottes benannt, es handelt sich also um göttliche Wunder und nicht etwa um Zufälle, deren Ursachen ungenannt bleiben. Peter, der sein Ende nahen sieht, erkennt seine Schuld und bittet Gott, ihm seine Sünden zu vergeben: 29

Theiss (Anm. 22), S. 138: „Daß die Liebenden ihre Gefühle letzten Endes nicht völlig unter Kontrolle haben, daß sie flüchten und Peter über der Schönheit Magelonas in blasphemische Verzückung gerät, weil er Erfahrungen vorwegnimmt, die eigentlich dem Anschauen des Göttlichen am jüngsten Tag vorbehalten sind, nämlich eine Zeit und Raum vergessende Glückseligkeit, das führt zur Katastrophe, die eine Strafe Gottes ist.“ 30 Vinken (Anm. 27), S. 799. 31 Reinfrid von Braunschweig. Hrsg. von Karl Bartsch, Tübingen 1871 (BLV 109) (Nachdruck: Hildesheim/Zürich/New York 1997).

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O allmchtiger ewiger gtiger Got/ich bitte dich/du wllest mir vergeben all mein sünd vnd was ich ye wider dich gehandlet habe/O allmechtiger Got hab ich gesündiget das ich wol eins ergern tods schuldig were dann dises gegenwertigen/O Gott erbarm dich mein/ich will jn auch gern leiden (S. 645).

Er begibt sich ganz in die Hände Gottes. Peter stirbt aber nicht, sondern er wird von maurischen Seeräubern gefunden, die an seiner Gestalt und Kleidung seine edle Herkunft erkennen und beschließen, ihn dem Sultan von Alexandrien zu schenken.

d. Der Held im Orient Der Sultan findet Gefallen an Peter, so dass dieser schnell in der Hierarchie des Hofes aufsteigt und schließlich erster Höfling wird. Die außergewöhnliche Karriere des Christen Peter am Hof des muslimischen Sultans wird mit einem Eingriff Gottes, also einem Wunder, erklärt: Auch gab got der allmechtige dem Soldan die gnad das er den Peter lieb gewan/vnd also seer/als wer er sein einiger geborner sun gewesen (S. 646). Peter führt ein privilegiertes Leben in der Fremde, wenn auch kein glückliches, da er immer an Magelona denken muss: Also gedacht der Peter an sein traurigs leben/Doch ließ er sich nichts mercken/wiewol sein hertz allwegen betrbt war/vnd thet offt Got bitten weil er jm geholffen hette auß der grossen ferligkait des mrs/das er jm auch hulff vnnd gnade gebe/damit er das heylige Sacrament der ehe mchte entpfahen ee er sturbe/Er gab auch vil almsen den armen Christen von wegen seiner aller liebsten Magelona/verhoffend Gott wurde sie nit verlassen (S. 647).

An dieser Stelle endet die Darstellung von Peters Leben im Orient. Anders als Apollonius, Reinfried und andere literarische Helden wie Alexander der Große, Herzog Ernst oder Fortunatus begegnet Peter nicht den Wundern des Orients, den fremden Völkern, technischen Wunderwerken oder außergewöhnlichen Naturphänomenen.32 Der Orient als „Symbol des Wunderbaren“33 kommt nicht vor; eine Orientfahrt, wie sie die genannten Helden unternehmen, findet nicht statt, sondern Peter lebt ein gottgefälliges Leben in der Fremde, und gottgefällig heißt auch, dass er nicht neugierig ist. Seine Neugier, die ihn in diese Situation geführt hat, ist unter Kontrolle,34 und dies im Orient, dem Ort, an dem 32

Vgl. zu den Wundern des Orients: Rudolf Wittkower: Marvels of the East. A Study in the History of Monsters. In: Ders.: Allegory and the Migration of Symbols, London 1977, S. 46–74; Lorraine Daston/Katherine Park: Wonders and the Order of Nature. 1150–1750, New York 1998. 33 Franz Fromholzer: Artikel ‚Orient‘. In: Metzler-Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer u. a., Stuttgart/Weimar 2008, S. 260–263, hier S. 261. 34 Werner Röcke spricht im Zusammenhang mit der Magelona von einer „Schule des Verzichts“: Werner Röcke: Minne, Weltflucht und Herrschaftslegitimation. Wandlungen des späthöfischen Romans am Beispiel der Guten Frau und Veit Warbecks Magelone. In: Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur/Neuere Deutsche Literatur. Hrsg. von Georg Stötzel, Berlin/New York 1985, S. 144–159, hier S. 158.

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sonst in der Literatur die Neugier, die Lust am Beschauen der Wunder das Handeln der Helden leitet.35 Dort, wo andere Helden Abenteuer in der Begegnung mit dem Wunderbaren suchen, sucht Peter Gottes Gnade. Er erfährt sie schließlich, denn seine Bitte, Gott möge ihn einst das heilige Sakrament der Ehe empfangen lassen, wird erhört werden. Als der Sultan nach vielen Jahren Peter die Erfüllung eines Wunsches gewährt, bittet dieser um Erlaubnis, für eine Zeit lang in seine Heimat zurückkehren zu dürfen, um seine Eltern aufzusuchen. Der Sultan stimmt diesem Anliegen schließlich widerwillig zu, und Peter macht sich auf die Heimreise. In der Magelona wird der Orient zu einem Ort der Hinwendung zu Gott und schließlich der Gotteserfahrung, aber nicht dadurch, dass Peter durch die Begegnung mit Wundern Gottes Größe erkennt, sondern dadurch, dass er sich demütig in sein Schicksal fügt. Damit weicht der Roman deutlich von der literarischen Tradition ab. Doch auch für Peter wird der Aufenthalt im Orient zu einer Bewährungsprobe, jedoch nicht zu einer Probe seiner ritterlichen und höfischen Fähigkeiten, sondern zu einer Probe seines Vertrauens auf Gott.

e. Der Held auf der einsamen Insel Peters Rückkehr verläuft allerdings nicht reibungslos: Als das Schiff, auf dem er sich befindet, in die Nähe einer einsamen Insel kommt, beschließt der Kapitän, dort anzulanden, um die Wasservorräte aufzufüllen. Peter geht an Land und durchstreift die Insel. Beim Anblick einer Blume, die schöner als alle anderen ist, muss er an Magelona denken: Wie diese schne blm vbertrifft alle andere blmen/also auch vbertrifft die schne Magelona alle andere junckfrawen/vnnd frawen mit schne/vnd fieng also an hertzlich z weinen vnd z entpfinden grossen schmertzen inn seinem hertzen vnd gedachte wa sie hin wer kommen/in disem gedancke ward er schlfferig vnd legt sich schlaffen (S. 663).

Während er schläft, kommt ein günstiger Wind auf, und der Kapitän des Schiffes möchte aufbrechen. Peter wird gesucht, aber die Besatzung kann ihn nicht finden, so dass sie ohne ihn lossegeln. Erst in der Nacht erwacht Peter und erkennt, in welcher Lage er ist, woraufhin er einen langen Klagemonolog beginnt, der darin gipfelt, dass er Gott um einen raschen Tod bittet, damit sein erbärmliches Schicksal ein Ende findet. In großer Verzweiflung läuft er über die Insel, um zu schauen, ob nicht doch ein Schiff zu finden ist. Seine Suche aber bleibt ergebnislos. Peter empfiehlt sich der Gnade Gottes, da er glaubt, sein Ende sei nahe. [D]a schicket Gott der allmechtige der die seinen nit verlast die sach also/das ein fischer schifflein kam darauff man wolte ssses wasser holen/Als die fischer kamenn inn dise jnsel/fundenn sie den Peter gestrackt ligenn als ob er todt were (S. 666). 35

Vgl. dazu Jutta Eming: Neugier als Emotion. Beobachtungen an literarischen Texten des Mittelalters. In: Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens. Hrsg. von Martin Baisch/Elke Koch, Freiburg 2010, S. 107–130.

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Diese Textstelle ist insofern interessant, als im Apollonius von Tyrland eine ganz ähnliche Begebenheit erzählt wird.36 Vergleicht man die beiden Episoden miteinander, so lassen sich zunächst einige Parallelen feststellen: Beide Helden ergehen sich alleine auf einer einsamen Insel; durch einen plötzlichen Wetterwechsel müssen die Schiffe losfahren; die Helden bleiben alleine auf der Insel zurück und beklagen, sobald sie sich ihrer Situation bewusst sind, ihr Schicksal und erbitten Gottes Hilfe. Doch während Peter diese Hilfe rasch gewährt wird (Gottes Eingriff wird explizit genannt), muss Apollonius noch länger auf der Insel ausharren und sich in der Wildnis zurechtfinden. Er überlebt schließlich durch die Begegnung mit einem wunderbaren Wesen, welches der König der Tiere auf dieser Insel ist. Zwar erwähnt der Erzähler auch im Apollonius, dass dies alles auf göttliches Eingreifen zurückzuführen sei, doch zunächst wird ausführlich dargestellt, wie sich der neugierige Held auf der Insel umschaut und durch angemessenes Verhalten die Gunst des Königs der Tiere erlangt. Wo also Apollonius’ Aktivität zu seiner Rettung durch die Begegnung mit dem Wunderbaren führt, zeigt Peter Festigkeit im Glauben und begibt sich ganz in die Hände Gottes. Ähnlich wie der Orient wird die einsame Insel in der Magelona nicht zu einem Ort der Begegnung mit außergewöhnlichen Geschöpfen und anderen Wundern, an denen sich die Helden bewähren müssen, sondern zu einem Ort, an welchem die Macht Gottes demonstriert wird: Er greift ein, um die Seinen zu erretten. Nach dieser Rettung kann Peter seine Reise in die Heimat fortsetzen. Da er aber sehr geschwächt ist, raten ihm die Seeleute, er solle sich in das Spital bei der Kirche Sant Peters z Magelon begeben, um wieder gesund zu werden. Dieses Spital hatte Magelona, nachdem sie nach der Trennung von Peter die Reise in seine Heimat alleine fortgesetzt hatte, gegründet, um dort Arme und Kranke versorgen zu können.37 Auch sie führt also ein gottgefälliges Leben, welches sie ganz in den Dienst anderer Menschen gestellt hat. Doch noch bevor Peter in Magelonas Spital gelangt, tauchen die drei Ringe wieder auf.

f. Das Wiederfinden der Ringe Im Bauch eines Fisches, den Fischer dem Grafenpaar, also Peters Eltern, geschenkt hatten, findet sich der Beutel mit den drei Ringen, die der Vogel geraubt und ins Meer hatte fallen lassen. Auch wenn der Text nicht explizit von einem Eingreifen Gottes spricht, liegt es nahe, hierin ein Wunder zu sehen, welches analog zum Raub der Ringe von Gott bewirkt wurde, oder, wie Jutta Eming es ausdrückt: „Auch dieser Vorfall wird zum göttlichen Wunder stilisiert.“38 36

Siehe auch Röcke, Die Wahrheit der Wunder (Anm. 10), S. 264f. In der Forschung wurde darauf hingewiesen, dass Magelona die aktivere Figur darstellt. Vgl. dazu Eming, Emotion und Expression (Anm. 1), S. 315. Im Zusammenhang mit der hier behandelten Frage nach dem Wunderbaren in der Magelona fällt auf, dass Magelonas Weg zu einem gottgefälligen Leben ohne Eingriffe Gottes geschildert wird. 38 Eming, Emotion und Expression (Anm. 1), S. 318. 37

Verblasste Wunder

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Es lässt sich an dieser Stelle bereits festhalten, dass es sich in der Magelona bei den Elementen des Wunderbaren ausschließlich um göttliche Wunder handelt. Die Konzeption des Wunderbaren erinnert somit stark an legendarische Erzählungen, in denen es einzig ein göttliches Wunderbares gibt. Peters Mutter erkennt sogleich die drei Ringe und deutet sie – fälschlich – als untrügliches Zeichen für den Tod Peters. Im ganzen Land wird daraufhin um den Erben der Grafschaft getrauert. Bald darauf besucht die Gräfin die Spitalerin Magelona, mit der sie seit einiger Zeit in engem Kontakt steht. Sie berichtet vom vermeintlichen Tod ihres Sohnes, und auf Magelonas Bitten zeigt sie ihr die Ringe: da sie solche ring ersahe/erkannt sie die selben bald/vnd were nit wunder gewest das jr hertz vor leyde were zerbrochen inn jrem leib/Yedoch wie ein tugentreiche vnd weise tochter die jr hoff nung in got allein setzt/sagt sie also/Gnedige fraw jr solt euch nit bekümmeren/dann die ding so nit gewiß sein sollen verhofft werden […] Darumb kert euch gegen Got den allmechtigen vnd danckt jm vmb alles das er euch erzeigt hat/also trstet die spittalerin die Greffin auff das best so sie vermochte (S. 659).

Nachdem die Gräfin Magelona wieder verlassen hat, heißt es: vnd die spittalerin belib also vast traurig vnd fiel auff jhre knye vor dem altar bittend vnd bat Gott so er lebendig were/jn z fren inn aller sicherhait z seinen freünden/wa er aber todt were/ wolt sich Got seiner armen seel erbarmen vnnd der selbigen gnedig sein/vnnd blib lang also in jrem gebeth (S. 659f.).

Im Gegensatz zur Gräfin, die vom Tod ihres Sohns überzeugt ist, sieht Magelona in dem Wiederfinden der Ringe kein eindeutiges Zeichen. Die Ringe, die metonymisch auf Peter verweisen, sind zurückgekehrt, somit besteht die Hoffnung, dass auch er zurückkehren wird. Allein Gott weiß dies, und deshalb ist die einzig richtige Reaktion, das macht der Text deutlich, sich an Gott zu wenden und auf ihn zu vertrauen. Auch Magelonas Vertrauen auf Gott wird schließlich belohnt: Peter kehrt zurück, und nachdem sich die beiden wieder erkannt haben, findet die Hochzeit statt.

4. Zusammenfassung Am Beginn dieses Beitrags stand die Frage, welche Funktion bestimmte Motive, die in der Tradition mittelalterlicher Liebes- und Abenteuerromane sowie mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Reiseromane vielfach mit Erzählelementen des Wunderbaren verbunden sind, in der Schönen Magelona haben. Wird die Magelona mit anderen Liebes- und Abenteuerromanen verglichen, fällt nämlich auf, dass viele solcher Motive sich auch in der Magelona finden, aber einer traditionellen Besetzung mit Konnotationen aus dem Bereich des Wunderbaren entledigt sind: Das Besondere der Ringe liegt nicht in magischen Kräften, über die sie verfügen, sondern in ihrer metonymischen Verweisfunktion auf Pe-

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Peter Baltes

ter und somit in ihrer Funktion als Symbol der Liebe zwischen Peter und Magelona; der Orient wird nicht zu einem Ort, an dem sich der Held von seiner Neugier leiten lässt und an dem er sich in der Begegnung mit den Wundern bewähren kann, wie eine lange literarische Tradition es erwarten ließe, sondern zu einem Ort, an dem Peters Vertrauen auf Gott erprobt wird. Gleiches gilt für Peters unfreiwilligen Aufenthalt auf der einsamen Insel, wo er sich, sein nahendes Ende vor Augen, in Gottes Hand begibt und gerettet wird. Die Topik des Wunderbaren wird mithin aufgerufen, aber nicht in der gewohnten Weise gefüllt, sondern umbesetzt. Der Roman ist aber nicht völlig der wunderbaren Elemente entledigt: Göttliche Wunder, wie der Raub und das Wiederfinden der Ringe, aber auch die diversen Errettungen Peters aus Gefahren bestimmen maßgeblich den Handlungsablauf der Magelona. Es ist eine Besonderheit des Romans, dass diese Ereignisse explizit auf Gott zurückgeführt werden: „Die Zufälle des Schicksals, die sich in den älteren Texten entweder einfach ereignen oder […] an Fortuna und andere Götterinstanzen delegiert sind, werden vom extra­ diegetischen Erzähler – ebenso wie von den Figuren – als Wirken Gottes interpretiert.“39 Religiöse Wunder wurden im Rahmen dieser Untersuchung zu den Formen des Wunderbaren gezählt, um ein eventuelles Nebeneinander verschiedener Formen des religiösen und nicht-religiösen Wunderbaren gleichzeitig betrachten und ein mögliches Zusammenwirken analysieren zu können. Es hat sich gezeigt, dass es in der Magelona ausschließlich ein religiöses Wunderbares gibt, die Konzeption des Wunderbaren somit stark an die legendarischer Erzählungen erinnert, was aber nicht bedeutet, dass es sich um eine Legende handelt. Röckes Feststellung, „[i]m Brandan werden die unterschiedlichsten literarischen Traditionen dem einen Zweck amalgamiert, Gottes Allmacht zu bestätigen“,40 trifft auch auf die Magelona zu. Doch während im Brandan eben gerade in der Begegnung mit dem Wunderbaren die Macht des Schöpfers demonstriert wird, enthält sich die Magelona der erwartbaren Erzählung von solchen Begegnungen und erzählt stattdessen von der Erfahrung der Gnade, die den Figuren durch ihre Hinwendung zu Gott zuteil wird. Die verblassten mirabilia unterstreichen somit die Wirkung der miracula, in welchen sich Gottes Allmacht zeigt.

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Eming, Emotion und Expression (Anm. 1), S. 318. Röcke, Die Wahrheit der Wunder (Anm. 10), S. 261.

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John Greenfield (Porto)

Echoes of the Romance in the Galician-Portuguese Prose Narrative: the Lenda de Gaia

In the literature of the Portuguese Middle Ages narrative texts are few and far between. This is particularly surprising when contrasted with the production of lyric poetry in the Galician-Portuguese language. Some 1,700 lyric texts of secular content (with love poetry and satirical songs) have been transmitted in the Portuguese cancioneiros; there are also over 400 examples of religious verse compositions. These profane and sacred lyric songs were produced from the end of the 12th to the second half of the 14th century by some 160 poets, among whom we find kings, princes, nobles, clerics and, of course, the so-called jograis; these poets were not only of Galician-Portuguese origin, but also hailed from other Iberian language areas and some of them even came from outside the Peninsula, from Italy or Provence. This indicates that the idiom spoken in the North-West of the Peninsula represented a unified norm for Iberian lyric poetry until the late 14th century, a linguistic convention which was adopted as a classical literary language by peninsular poets: this literary language was considered valid for lyric poetry, however not apparently for the narrative. Initially, certainly until the late 13th century, there seems to have been a single romance literature in the centre and west of the Iberian Peninsula which was composed in different genres, according to dialect or language: epic literature in Leonese or Castilian, lyric texts in Galician-Portuguese. As Giuseppi Tavani has suggested, the multilingual nature of the West and Central Iberian poetic convention was made possible because of the relatively small differences that existed between the languages spoken in the region.1 It would be unfair to state, as has been suggested by some literary historians, that there is no narrative literature in Galician-Portuguese.2 To be true, however, when measured against the wealth of compositions in lyric poetry, it is impossible not to be struck by the absence of works in narrative verse and by the dearth of prose fiction. There was clearly interest in Portuguese courtly circles for the tales of love and chivalrous adventure which circulated in many parts of Europe in the form of the courtly romance: in the Galician1

Giuseppi Tavani: A poesia lírica na literatura hispânica do século XIII. In: Ensaios Portugueses. Filologia e Linguística. Ed. by G. T., Lisbon 1988, pp. 11–39. 2 Cf. G. Baist: Die spanische Literatur. In: Grundriss der romanischen Philologie. Ed. by Gustav Gröber. Vol. II, 2, III. Strasbourg, 1897, pp. 383–466; Baist doubts the existence of Galician-Portuguese narrative literature in prose (cf. pp. 407ff.).

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John Greenfield

Portuguese love lyric the poets allude with a certain frequency to characters from the courtly, epic tradition, such as Tristan and Isolde, Merlin and Flore and Blanchefleur. It is clear, therefore, that the narrative genre was well-known in the west of the Peninsula. Yet in the Galician-Portuguese literature of the 13th and 14th centuries it is difficult to find texts which could be included in the generic category of romances of love, adventure and chivalry. One important exception could be the peninsular romance Amadis de Gaula; we have proof that this tradition circulated in medieval Portugal,3 but the earliest extant versions are to be found in 15th century Castilian manuscript fragments and a Castilian edition published in 1508 in Zaragoza.4 The protagonist of Amadis is certainly considered the most important hero of the romance in Iberia; the story of the faithful love service of this young, timid knight to the Princess Oriana and of the amorous consummation of their affair was also to be the subject of an intense receptional process outside Iberia, in France, Italy and Germany. It should be remembered, however, that there are no medieval Portuguese versions of this tale, although there have been some lusitanists – most notably among them Manuel Rodrigues Lapa – who have included a conjectured version of Amadis as an important part of Portuguese literary history.5 There are, of course, a few examples of narrative literature, in prose, which have survived to modern times; this is most notably the case with a Portuguese translation of the French Arthurian Prose Cycle from the end of the 13th century; 15th century manuscripts have conserved an adaptation of the third part of this cycle, the Demanda do Santo Graal; a 16th century manuscript has preserved a re-elaborated version of the first part of the cycle, José de Arimateia.6 These grail translations provide clear proof that by the end of the 13th century the linguistic instruments had been created in Galician-Portuguese to support the development of literature in prose; however, one of the most significant aspects of the Galician-Portuguese Grail tradition is its markedly religious objective and its quasi-ha3

Gomes Eanes Zurara, in his Crónica de D. Pedro de Meneses (dated about 1460), makes reference to Amadis de Gaula, citing Vasco Lobeira as the author of this work at the time of D. Fernando (who reigned from 1367–83): cf. Gomes Eanes Zurara: Crónica de D. Pedro Meneses. Ed. by Abade Correia da Silva, Lisbon 1792; facsimile ed. with introduction and notes by José Adriano de Carvalho, Porto 1988, Book I, Chapter LXIII, p. 191. 4 The 15th century fragments of the Amadis de Gaula in the Bancroft Library, University of California, Berkley, have been published by José Manuel Lucía Megías (coord.): Antología de libros de caballerías castellanos. Apendice 2. Fragmentos conservados del Amadís de Gaula medieval (siglo XV), Alcalá de Henares 2001, pp. 488–96. The 1508 edition of Amadis de Gaula to have been published most recently: Garcí Rodríguez de Montalvo, Amadís de Gaula. Ed. by Juan Manuel Cacho Blecua, 2 vols. Madrid 2001. 5 Manuel Rodrigues Lapa: A Questão do Amadis de Gaula no Contexto Peninsular. In: Grial, XXVII (1970), pp.  14–28; cf. also M.R.L.: Lições de Literatura Portuguesa. Época Medieval, Coimbra 9 1977, pp. 274–285. 6 The most recent edition of the Portuguese Demanda: A Demanda do Santo Graal. Ed. by Irene Freire Nunes, Lisboa 2005 (2nd ed.); cf. also the critical review of the first and second editions by Ivo Castro: A Demanda do Santo Graal e as suas edições. In: Revista Portuguesa de Filologia (Miscelânea Herculano de Carvalho), XXV, I (2003–2006), pp. 125–144. For an overview of Portuguese Arthurian material, cf. José Carlos Miranda: A Demanda do Santo Graal e o Ciclo Arturiano da Vulgata, Porto 1998.

Echoes of the Romance in the Galician-Portuguese Prose Narrative

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giographic character which represent a clear realignment of values when compared with the secular courtly literature which circulated in Portugal in the 13th and 14th centuries.7 Despite this development in prose literature, the narrative never gained the same dynamic force as the lyric, nor was it ever as well represented either in quality or in quantity of compositions. Interestingly, even in lyric poetry it is notable that the narrative sub-genres are either virtually non-existent (in the case of the alba), or generally underrepresented (as is the case of the pastorela) when compared with other literatures of the Middle Ages. There are probably a number of reasons to explain the narrow scope of possibilities for epic literature in Galician-Portuguese; it is certainly due, in part (as already mentioned), to literary convention, but also to the religious, social and political circumstances which surrounded the evolution of Galician-Portuguese literature and of the centres of culture in Portugal until the 16th century. Doubtless, the most significant developments in prose narrative are not to be found in the romance but above all in numerous hagiographical texts, as well as in the chronicles (crónicas) and the books of noble genealogy (nobiliários or livros de linhagens) (i.e. texts of a purportedly historiographical nature). In this article I would like to turn my attention to the process whereby these ‘historiographical’ texts have been modified through an admixture of fictional elements from other narrative genres. Although it is difficult to find examples of prose in Portuguese which are professedly fictional in nature, there are historiographical texts which include a significant number of extensive passages based on narrative traditions. Indeed, it is only in some of this quasi-historiographical prose that we can find echoes in Galician-Portuguese literature of the European Liebes- und Abenteuerroman. Of particular interest in this context are those epic interludes which have been integrated in the Portuguese Books of Noble Genealogy and I now intend to examine an episode which is described in two of these books and has become known as the Lenda de Gaia (Legend of Gaia). My intention is to examine how elements from narrative genres have been assimilated into these Portuguese books of lineage, how very different text types have been merged in order to produce these hybrid genealogies which the Portuguese historian José Mattoso considers as mais amplas do mesmo género literário, em toda a Europa medieval (“the broadest of this literary genre in the whole of medieval Europe”).8 In my discussion of this exceptional amalgamation of genres, I will also refer briefly to the theoretical framework provided by Johannes Kabatek in his recent study of medieval language and discursive traditions on the Iberian Peninsula, as it offers a valid explanation for the appearance of this type of literature.9 The three existing Portuguese livros de linhagens were composed and, in part, reformulated between1280 and 1380/90 and they explain the genealogy of the noble families 7

Cf. António José Saraiva/Óscar Lopes: História da Literatura Portuguesa, Porto 172005, pp. 95f. José Mattoso: A literatura genealógica e a cultura da nobreza em Portugal (s. XIII–XIV). In: Portugal medieval, novas interpretações. Ed. By J.M, Lisbon 1985, pp. 309–28, here: p. 312. 9 Johannes Kabatek, Introdución. In: Sintaxis histórica del español y cambio lingüistico. Nuevas perspectivas desde las Tradiciones Discursivas. Ed. by J. K., Frankfurt/Madrid 2008 (Serie Lingüística Iberoamericana 31), pp. 1–17. 8

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of Portugal (mainly in the form of extensive name lists);10 these lists in the three works are, from a literary and stylistic standpoint, rather uninspiring.11 Two of these three nobiliários have embellished these lists with episode(s) from narrative traditions, one of the most interesting of which is that of the account of the abduction, by a Moorish prince, of a Christian queen, the wife of the Christian King Ramiro; this narrative goes on to describe the queen’s love for her Moorish abductor, her desertion and betrayal of her Christian husband and her subsequent murder, as revenge for her unfaithfulness. Portuguese literary history refers to this narrative episode of abduction, love, adultery and murder (animated by a hero – Ramiro – whose life ethic is dominated by cunning, recklessness and ruthlessness) as the Lenda de Gaia: this is because much of the action is situated in Gaia, on the southern bank of the River Douro (opposite Porto). Since Gaston Paris scholarship has agreed – it would appear unanimously – that the Lenda de Gaia (also, but less commonly called Lenda do Rei Ramiro) is part of the wider Solomon and Marcolf tradition, one of a number of adaptations of this material which circulated in Iberia.12 Two different versions of the Lenda de Gaia are featured in the livros de linhagens: one version in the oldest of the nobiliários, the Livro Velho de Linhagens (which is dated about 1290, but which only survives in manuscript copies of the 17th century);13 the other version in the Livro de Linhagens do Conde D. Pedro, which is the most representative of the three livros de linhagens. The latter was first commissioned in 1340 by D. Pedro (1287–1354), the Count of Barcelos, the illegitimate poet son of the Portuguese poet King D. Dinis (1261–1325); this book was subsequently twice reformulated, once in the 1360s and again in the 1380s; the original text of Count D. Pedro’s commission has 10

The most recent editions of the livros de linhagens (and those quoted in the present article) are: Livros velhos de Linhagens. Ed. by Joseph Piel/José Mattoso, Lisbon 1980 (Portugaliae Monumenta Historica. Nova Série. Vol. I) [pp. 23–60: Livro Velho de Linhagens; pp. 61–214: Livro de Linhagens do Deão]; Livro de Linhagens do Conde D. Pedro. Ed. by José Mattoso, Lisbon 1980 (Portugaliae Monumenta Historica. Nova Série. Vol. II/1; II/2). 11 For example, the first part of the Livro de Linhagens do Deão begins: A. 1. Dom Egas Gomes de Sousa foi casado com dona Gontinha Gonçalves, filha de dom Gonçalo Trastamires e de dona Mecia Godins, e fez em ela/2. dom Mem Veegas, que casou com dona Tareja Fernandes, filha de dom Fernão Gonçalves de Marnel, e fez em ela/dom Gonçalo de Sousa/e dom Soeiro Mendes, o Gordo,/e dona Châmoa Mendes, que foi molher de dom Gomes Guedeão,/e dona Oroana Mendes, que foi molher de dom Mem Moniz de Riba do Douro,/e dona Urraca Mendes, que foi molher de dom Egas Fafes de Lanhoso (Livro de Linhagens do Deão, Piel/Mattoso [annot. 10], p. 64; “A. 1. Dom Egas Gomes de Sousa was married to dona Gontinha Gonçalves, daughter of dom Gonçalo Trastamires and of dona Mecia Godins, and had with her/2. dom Mem Veegas, who married dona Tareja Fernandes, daughter of dom Fernão Gonçalves de Marnel, and had with her/dom Gonçalo de Sousa/and dom Soeiro Mendes, the fat one,/and dona Châmoa Mendes, who was wife of dom Gomes Guedeão,/and dona Oroana Mendes, who was wife of dom Mem Moniz de Riba do Douro,/ and dona Urraca Mendes, who was wife of dom Egas Fafes de Lanhoso”). 12 Gaston Paris: La femme de Salomon. In: Romania, IX (1880), pp. 436–43. For an overview of the theories regarding the narrative tradition to which the Lenda de Gaia belongs, cf. José Carlos Miranda: A lenda de Gaia dos livros de linhagens. Uma questão de literatura? In: Revista da Faculdade de Letras do Porto. Série Línguas e Literaturas, V (1988), pp. 483–516, here: pp. 486–94. 13 Cf. José Mattoso: Introdução. In: Piel/Mattoso (annot. 10), pp. 9–20, here pp. 10–14.

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not, however, survived; the reformulated versions have been transmitted through some 60 manuscripts, dating from the 14th to the 17th centuries.14 This large number of manuscripts, some ten of which are in Castilian translation, confirms the importance which was attached to this work in the whole of Iberia from the 14th century onwards: according to some historians, for centuries, it was, after the Bible, the most frequently consulted book on the Peninsula. The two different versions of the Lenda de Gaia, the oldest in the Livro Velho das Linhagens and the most recent, in the Livro de Linhagens do Conde D. Pedro, are clearly related to each other, the latter probably having been directly derived from the former (although it is possible – as Mattoso has suggested – that they were both based on another independent source, which has not survived).15 The two Galician-Portuguese portrayals of this narrative material are significantly different from each other: scholarship has been unable to decide to what extent, if at all, these differences are due to contamination of the lenda by other (orally transmitted) versions of this epic material which circulated in Iberia. In any case, it is probable that factors other than contamination contributed decidedly to the development of this epic material from the first to the second extant versions, factors which have to do with the dynamics of the text itself, its function within the Book of Lineages and its place within the Galician-Portuguese literary system as a whole. Of importance is the fact that two books of the same genre (which describe an action located in Gaia, featuring the same characters) should present this action in such different ways. However, before turning my attention to these dissimilarities, and what may have led to them, I would first like to discuss briefly the original objective for the composition of these genealogies. Scholars agree that these genealogical lists were written with the interests of the aristocracy at heart, since, by registering the lines of descendants, it was possible to safeguard the patrimonial rights of the members of noble families, particularly the right of patronage over monasteries or churches; there was also the problem of matrimonial alliances, which canonic law forbade between relatives related up to the sixth degree and which, given the limited choice within the Portuguese aristocracy, often led to marriages which were dubious and later had to be annulled.16 Furthermore, the nobilários were doubtless written in order to honour the ancestors of the noble families, thereby contributing to the prestige and unity of the aristocracy as a whole.17 However, after the dynastic crisis in 1383/5 the context in which the nobiliários appeared changed dramatically: among other reasons, because the old aristocracy, with its origins in the reconquista, lost much of its importance. As a consequence, the livros de linhagens stagnated as a genre and were no longer the object of dynamic reformulation. 14

On the manuscript tradition and the background of the Livro de Linhagens do Conde D. Pedro, cf. Piel/Mattoso (annot. 10), I, pp. 7–54, here: pp. 9–41. 15 Piel/Mattoso (annot. 10), pp. 7–54, here pp. 41–50. 16 Cf. Rodrigues Lapa: Lições de Literatura Portuguesa (annot. 5), pp. 300–4. 17 Cf. Saraiva/Lopes (annot. 8), pp. 85f.

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The oldest surviving book of genealogy, the Livro Velho de Linhagens, is also the shortest: after a prologue, its two relatively succinct chapters give account of the five lineages which founded the kingdom of Portugal. After the first chapter has concentrated on providing extensive lists of the forefathers and offspring of the Sousão and Barganção families, the beginning of the second chapter departs from the simple discursive structure used in the first and presents a much more complex form of textualization: instead of a catalogue of names in the form of a list, a diegesis is presented which tells the story of the ascendants of the Maia family. Of the five lineages described in the Book, the Maias have been singled out for special treatment: the Prologue notes that: A terceira geraçom foram os da Maia, que foram os mais nobres e mais filhos d’algo de toda Espanha, e […] eles vierom directamente do mui nobre e muito alto senhor dom Ramiro (Livro de Linhagens do Deão, Piel/ Mattoso [annot. 10], p. 64; “the third generation was that of the Maias who were the most noble and most important sons of all Spain, and […] they are descended directly from the very noble and very high Lord Ramiro”). It would appear then that the prominent position of this family within Portuguese nobility was to be emphasized by the integration, within the Book, of a narrative episode which had become connected with King Ramiro. The beginning of the second chapter of the Livro Velho das Linhagens explains how King Ramiro’s wife, the Queen (who in this version is nameless), is abducted by the Moorish King Abencadão and taken to his castle in Gaia:18 King Ramiro and his son Ordonho (with their vassals) sail to Gaia and, on arrival, camouflage their boats at the river mouth. While his men are hiding on the river bank, awaiting a signal to attack, Ramiro disguises himself, steals into the castle and speaks to the Queen, telling her of his love for her. She has deserted him, however, and has her husband locked away in an adjoining room; after an interlude of sexual passion with her Moorish lover Abencadão, she hands her husband over to him. Abencadão decides to have Ramiro killed, but asks his prisoner how he would be treated, if the tables were turned (i.e. if Abencadão were Ramiro’s prisoner). Ramiro tells Abencadão that he would execute his prisoner publicly by making him blow on his horn so hard until he dies of the strain. Abencadão takes his prisoner’s advice and makes Ramiro blow on his horn in public; when the Christian soldiers hear the sound of the horn, they attack the castle and kill all the Moors, including Abencadão; they destroy the castle. The Queen and her Moorish servant girl Ortiga are taken aboard Ramiro’s ship in order to return to his court; on the way back, Ramiro’s party puts into a river mouth to rest; Ramiro is asleep in his wife’s arms and is awoken by her tears. On learning that she is lamenting the death of her Moorish lover, he takes his son’s advice, has a millstone tied round her neck and she is thrown into the sea. She becomes an anchor and, henceforth, the river mouth will be called ‘Foz d’Âncora’ [= Mouth of the River Anchor]. Ramiro returns to his court and the servant girl Ortiga is baptized, taking the name Aldara; she marries Ramiro and gives birth to a son Alboazar: both of Ramiro’s sons Ordonho and Alboazar (who will be known as Cid Alboazar) are to play important roles in conquering the lands of the Moors.

The integration of this story in the oldest of the Portuguese Books of Nobility (and the strategic involvement which thereby takes place of a legendary tale of love and adventure in what is otherwise a list of family names) represents, without doubt, an important step 18

Piel/Mattoso (annot. 10), pp. 47–50.

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in the development of a secular, fictional narrative tradition in Galician-Portuguese literature (indeed, according to our knowledge of the texts of the time, it is, in many respects, only the first step). It is, however, a narrative tradition that can only survive within the context – or with the support – of another genre. In other words: the Galician-Portuguese literary system does not foresee an autonomous romance of adventure and love, as it is only possible to feature an account of abduction, adulterous love, cunning and vengeful murder within the confines of the historiographical genre of genealogies. Johannes Kabatek has noted, in regard to medieval discursive traditions in the Iberian Peninsula, that the existence of given historical-normative models (which are socially established for the production of discourse) is a necessary precondition for the appearance of different forms, so that these new or developing forms can be integrated into them;19 in the present case, the absence of the literary model of the Liebes- und Abenteuerroman in the Galician-Portuguese convention has led to its development within an already existing textual practice: in order to be able to establish the narrative model of the romance within this literary system, it is necessary for it to be fused with the one of the paradigms already foreseen in the written tradition (in this case, the livros de linhagens). The extent to which this amalgamated historiographical-fictional genre was to be of particular – if ephemeral – success in Galician-Portuguese becomes apparent in the second version of the Lenda de Gaia, which is included in the Livro de Linhagens do Conde D. Pedro. As noted above, this highly successful work was, after its original composition in 1340, reformulated twice during the following fifty years. It is, nevertheless, evident that in the last of the three livros de linhagens, the tendency of integrating narrative elements in the lists of noble lineages was further developed, but on a much wider scale; here the catalogue of aristocratic family names – which has itself been expanded substantially – is now accompanied by ‘catalogues’ of a different type, since the work also provides a detailed account of some of the most important literary traditions which circulated in Europe in the 13th and 14th centuries, including those of Troy, Rome and Britain (with reference to both Arthur and Lear);20 it links these traditions, on the one hand, to universal history and biblical characters and, on the other, to battle narratives from the first twohundred years of Portuguese history. This unique historical, genealogical and literary undertaking occupies 42 chapters: these chapters (which are chiefly made up of family lists) are called Títulos (Titles), a classification which has perhaps been used in order to draw a parallel with legal texts (which are also divided into Títulos), thereby affording this livro de linhagens greater verisimilitude and legitimacy. In addition to this extraordinary admixture of genres, the work is introduced by a Prologue which establishes the programmatic lines of the Book of Lineage, tracing them back to Aristotle. The exceptional nature of this ambitious, aesthetic experiment is also to be found in the reformulated Lenda de Gaia, since in this second version, the material has been expanded significantly, occupying – in D. Pedro’s work – more than double the space when 19

Kabatek (annot. 9), pp. 9ff. Livro de Linhagens do Conde D. Pedro (Piel/Mattoso [annot. 10)], Título II, pp. 72–94).

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John Greenfield

compared to the earlier Book; in addition, the action and the mode of representation have been modified, thereby, in part at least, bringing them into tune with other literary models of a more contemporary nature. The 21st Título of the Livro de Linhagens do Conde D. Pedro begins with reference to Ramiro’s ancestors and that he is directly descended from King Alfonso I (o Católico), who reigned in Asturias in the eighth century. In this version, the narrative is dominated not by one, but by two abductions:21 King Ramiro hears of the beauty of the sister of the Moorish King Alboazar Alboçadam and decides to marry her, agreeing, to this end, to a truce with his Moorish opponent. While visiting Alboçadam in his castle in Gaia, Ramiro asks for his sister’s hand; the request is refused as Ramiro is already married and has a Christian wife, Queen Aldora. Ramiro explains that his marriage to Aldora has been annulled by the Church (since she is his kinswoman); Alboçadam still refuses Ramiro’s request, as his sister has been promised to the King of Morocco. With the help of the magic arts of his astrologer, Ramiro abducts the Moorish princess, takes her back to his court in Leon, has her baptized and she is given the name Artiga. In revenge, Alboçadam abducts Ramiro’s (first) wife Aldora and brings her to Gaia; Ramiro – accompanied by his son Ordonho and nobles – makes his way to Gaia, in order to regain his wife; he camouflages his boat, has his son and nobles hide in the trees; Ramiro steals into the castle in disguise and talks to his wife. He explains to Aldora that he has come for her because he loves her; Aldora rejects this claim and reminds him of his affair with Artiga. Aldora has Ramiro locked into an adjoining room and turns him over to Alboçadam. Ramiro understands that his wife has betrayed him and tells Alboçadam that he has made a mistake in abducting the Moor’s sister, that he has confessed his sin to his abbot and that, in penance, he has been told to give himself up to Alboçadam; the Moor should avenge the wrong done by executing Ramiro; he should make Ramiro blow his horn in public until his soul has left his body; he should do this to help Ramiro save his soul. Alboçadam takes pity on Ramiro and decides to spare him, but Aldora reminds her lover of the harm Ramiro has caused in the past and advises him to have him executed. Reluctantly, Alboçadam follows Aldora’s recommendation. Ramiro is taken to a public place and ordered to blow his horn. On hearing the sound of the horn, the Christians attack the castle; Ramiro escapes and tells his son to take his mother and ladies prisoner. He then kills Alboçadam, his four sons and three daughters and all the Moors in the castle; the castle in Gaia is destroyed. Ramiro tells his son and nobles of his wife’s betrayal: Ordonho cries when he hears of his mother’s evil. They board their ships and arrive at the mouth of a river: Ramiro is told that Aldora is crying and he asks her the reason for her tears. She tells him that she is lamenting the death of Alboçadam (“who was better than you”). Ordonho advises his father to have Aldora killed: Ramiro orders that she be tied to a millstone and cast into the sea; she becomes an anchor. Since that time the place has been called ‘Foz d’Âncora’[=Mouth of the River Anchor]. Because of his sin of speaking out against his mother, Ordonho is later disinherited by the people of Castile. Ramiro goes to Leon and holds court; Ramiro and Artiga have a son whom they call Aboazer Ramirez; he will later be known as Cide Aboazar and will fight against the Moors and capture their lands.

There are evident differences in the action of this second version when compared with the first: the start of the plot is now to be found in Ramiro’s passion for the Moorish princess, as this leads to the first abduction; this, in turn, leads to the second abduction and also to the reaction of Queen Aldora in Gaia, when she repudiates her (former) husband’s offer 21

Livro de Linhagens do Conde D. Pedro (Piel/Mattoso [annot. 10)], Título XXI. pp. 204–11).

Echoes of the Romance in the Galician-Portuguese Prose Narrative

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of love. Thus, much of the action is now motivated by feelings of passion and revenge; Ramiro is no longer simply an offended husband, but has become a more reckless hero and a cruel adulterer; Aldora is no longer just a disloyal wife, but is now a spurned lover. Yet not just the action and the character make-up of the figures of Ramiro and Aldora are different; the Moorish King is no longer driven by lust, duplicity and brutality, but is now dominated by what appears to be a higher moral code, he feels pity for his prisoner and finds it difficult to understand Aldora’s insistence in condemning Ramiro to death. The feelings of characters are expressed more openly through, on the one hand, more elaborated dialogical scenes and, on the other, through a more expressive gestural language: through these changes the author(s) of the Lenda de Gaia in the Livro de Linhagens do Conde D. Pedro clearly attempted to provide the characters with a more complex psychological makeup, thereby motivating the action more convincingly than was the case in the primitive version. In addition, erotic scenes are now avoided (Queen Aldora no longer makes love to her Moorish lover while her husband is in the adjoining room) and social problems are clarified (Ramiro no longer has a child by a Moorish servant girl, but  – through his liason with Princess Artiga – is assured that his second son will come from the very highest lineage). All in all, despite the recklessness, the callousness, the revenge and the violence which still characterises the later Lenda de Gaia, this is a much neater, much more understandable – in many ways, more credible – narrative. In relative terms, there have not been many literary analyses of this work, but I think all of them concur (or would concur) with the Italian literary historian, Luciano Rossi, when he states that the Lenda de Gaia in Count D. Pedro’s Livro de Linhagens is na verdade […] uma pequena obra-prima (“in truth […] a little masterpiece”).22 In conclusion, through this brief analysis of two versions of a legendary tale of love and adventure which have been integrated into books with a list of family names, I hope to have demonstrated the extent to which, in this case, the Galician-Portuguese literary system required a mixture of models in order to be able to produce a particular narrative genre. Only through such a mixture was it possible for elements of the European tradition of the Liebes- und Abenteuerroman to be part of the West-Iberian convention. Through a dynamic process of discursive heterogeneity in the north-west of the Peninsula it became possible to materialize a literary convention which was dominant in many parts of Europe, but for which there was no model in Galician-Portuguese. Although literary production in this idiom was almost exclusively the domain of the lyric genre, as we have seen through the analysis of the inclusion of the narrative material of the Lenda de Gaia in the livros de linhagens, other hybrid aesthetic models were possible: this examination demonstrates the extent to which literary forms always seem to find a way to express themselves.

22

Luciano Rossi: A literatura novelística na Idade Média portuguesa. Lisbon, 1979, p. 26.

Werner Röcke (Berlin)

Konversion und problematische Gewissheit Transformationen des antiken Liebesromans und der frühchristlichen acta-Literatur in legendarischen Liebes- und Abenteuerromanen des Mittelalters

Konversionen werden in der Regel als Formen der Bekehrung, und d.  h. als religiös codierte Abkehr von einem ‚alten‘ und Hinwendung zu einem ‚neuen‘ Leben verstanden. Dabei liegt der Akzent auf der Ganzheitlichkeit dieser Umorientierung. Als Konversionen bezeichnen wir nicht die bloße Änderung einer Meinung, Überzeugung oder Weltanschauung, sondern den radikalen Wandel des Glaubens, des Selbstverständnisses, der Wertorientierungen und Beurteilungsmuster von Alltag und Gesellschaft, sozialer Rolle und Handlungsmöglichkeiten eines Menschen. Diese „Umorientierung des ganzen Lebensvollzugs“1 betrifft also den Menschen in seinen religiösen Überzeugungen und moralischen Haltungen, seinen sozialen Bezügen und Kommunikationsformen, seinem gesellschaftlichen Status und seinem „Generalschlüssel“ zum Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der eigenen Person.2 Dabei sind zwei Punkte für eine Konversion charakteristisch: 1. Konversionen zielen auf Eindeutigkeit. Sie verändern den ganzen Menschen und dessen ganzes Leben. Sie gestatten keine Ungewissheit und keinen Zweifel, sondern führen zu einem „displacement of one universe of discourse by another“3, das keine Fragen offen lässt. Trotz dieser absoluten Gewissheit aber bleibt jede Konversion insofern widersprüchlich, als das ‚neue‘ Leben seine Neuartigkeit erst vor dem Hintergrund des ‚alten‘ erweist, die Radikalität der Bekehrung also erst im Vergleich des neuen mit dem alten Glauben sichtbar wird. Insbesondere eigene Erzählungen von Konvertiten über ihre Konversionen sind von dieser Paradoxie geprägt: „Was der Bekehrte als seine Vergangenheit erzählt, ist eine Vergangenheit des Bekehrten – dies nicht, weil sie abgeschlossen hinter ihm läge oder weil sie gar die ‚Ursache‘ der Bekehrung wäre, sondern weil sie der Hintergrund ist, vor welchem die Gegenwart: der 1

Otto Bischofsberger: Bekehrung/Konversion  – Religionswissenschaftlich. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 1 (1998), Sp. 1228. 2 Thomas Luckmann: Kanon und Konversion. In: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. Hrsg. von Aleida Assmann/Jan Assmann, München 1987, S. 38–46, hier S. 40. 3 David A. Snow/Richard Machalek: The Convert as a Social Type. In: Sociological Theory. Hrsg. von Randall Collins, London 1983, S. 259–289, hier S. 265. Ich zitiere den Aufsatz von Snow und Machalek nach Luckmann (Anm. 2), S. 40.

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Werner Röcke

Status des Bekehrten, überhaupt erst ins Profil tritt.“4 Doch gilt dies ebenfalls, wenn auch abgeschwächt, für den Fall, dass nicht der Konvertit selbst, sondern ein Erzähler von der Konversion berichtet? Denn auch in diesem Fall ist die Vergangenheit Teil der Gegenwart und antithetisch an sie gebunden. Oder theologisch formuliert: Auch der ‚neue Mensch‘ muss sich den ‚alten Adam‘ je neu vor Augen führen,5 da er nur auf diese Weise die Konversion ganz zu vollziehen vermag. 2. Zwar ist – zumindest nach christlicher Auffassung – die Konversion nicht Menschenwerk, sondern „Tat Gottes“,6 die souverän in das Leben des Konvertiten eingreift und ihn verändert. Zugleich aber bedarf jede Konversion des praktischen Vollzugs im und durch das Handeln des Konvertiten. Insofern soll die neue Glaubenslehre nicht nur „‚gewußt‘“, sondern „in Akten des Glaubens persönlich angeeignet und ‚bekannt‘ werden.“7 Diese performative Dimension der Konversion ist für ihr historisches und literarisches Verständnis außerordentlich wichtig; sie soll deshalb auch im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen stehen. Was aber hat der mittelalterliche Minne- und Abenteuerroman mit der Konversionsproblematik zu tun? Und bieten die Bilder intensivsten Liebesbegehrens, des Liebesglücks und Liebesleids, die in diesen Romanen entworfen werden, überhaupt Anhaltspunkte für Fragen der Bekehrung, des radikalen Wandels des Lebens zu einer Existenz für und mit Gott? In der mediävistischen Forschung werden die Minne- und Abenteuerromane zwar – in Abgrenzung z. B. zum Antiken-, Artus- oder Tristanroman – als eigenständige Erzählgattung verstanden, die aber nach verschiedenen Untergruppen ausdifferenziert wird. Dabei hat sich die Unterscheidung von abenteuerlichen, legendenhaften und empfindsamen Minne- und Abenteuerromanen weitgehend durchgesetzt.8 Für meine Ausgangsfrage nach Status und Logik der Konversion im mittelalterlichen Minne- und Abenteuerroman besonders aufschlussreich sind die legendarischen Romane, insbesondere Die gute Frau, die um 1230, wohl im Auftrag Hermanns V. von Baden geschrieben wurde, und Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden  – offensichtlich ein Huldigungstext für den böhmischen König Wenzel II. (1283–1305) und seine Frau Guta von Habsburg – die einem vergleichbaren Erzählaufbau folgen und in deren Mittelpunkt ein radikaler Wandel von 4

Hartman Leitner: Wie man ein neuer Mensch wird, oder: Die Logik der Bekehrung. In: Biographische Sozialisation. Hrsg. von Erika M. Hoerning, Stuttgart 2000 (Der Mensch als soziales und personales Wesen 17), S. 61–86, hier S. 65f. 5 Im Anschluss an Leitner (Anm. 4), S. 66. 6 Jean Zumstein: Bekehrung/Konversion – Neues Testament. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 1 (1998), Sp. 1231. 7 Leitner (Anm. 4), S. 72. 8 Vgl. dazu Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: ‚Reinfried von Braunschweig‘, ‚Wilhelm von Österreich‘, ‚Friedrich von Schwaben‘, Berlin/New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 12), S. 6; Joachim Heinzle: Vom hohen zum späten Mittelalter. Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30–1280/90), Königstein/Ts. 1984 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hrsg. von Joachim Heinzle), S. 145–150 und Werner Röcke: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens/Ulrich Müller, Stuttgart 1984, S. 395–423.

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Glauben, Selbstverständnis und Selbstlegitimation der fürstlichen Protagonisten steht. In beiden Fällen erfolgt dieser Wandel von außen, nicht durch die Protagonisten selbst, und in beiden Fällen führt er zu einer prinzipiellen Verkehrung ihres gesellschaftlichen Status und ihrer Lebensform, ihrer religiösen Überzeugungen und moralischen Haltungen. Meine These dazu lautet, dass im Mittelpunkt beider Romane die Konversion der fürstlichen Protagonisten steht: sei es – wie in der Guten Frau – zu Gott und zu einem Leben in Armut, sei es – wie in Ulrichs Wilhelm von Wenden – zum christlichen Glauben. Fraglich ist dabei nur, wie und mit welchen Konsequenzen die Konversion jeweils vollzogen wird. Zwar gilt auch in diesen Texten der Vorbehalt des Performativen, dass eine Konversion erst in dem Maße realisiert ist, wie sie praktisch vollzogen wird. Dabei ist aber zu prüfen, ob und inwieweit mit der religiösen Bekehrung, also der radikalen Hinwendung zu Gott oder zum christlichen Glauben, auch ein ebenso radikaler Wandel des sozialen Status, d. h. vor allem der Fürstenrolle und der Bereitschaft zu Herrschaft und Gewalt, erfolgt. Bereits ein kurzer Blick auf die Schlusssequenzen beider Romane macht deutlich, dass dies nicht der Fall ist. Zwar vollziehen sowohl die ‚gute‘ Gräfin und ihr, allerdings ständisch ihr nicht vollkommen adäquater Mann, als auch Fürst Wilhelm von Wenden und seine Frau Guta die conversio zum christlichen Glauben und zu einem Leben in Armut. Zugleich aber bewahren sie alle Optionen auf fürstliche Herrschaft, auf Reichtum und Macht, so dass ihre Konversion nur im Widerspruch von Hinwendung zu Gott und zum christlichen Armutsideal einerseits, der Orientierung auf Herrschaft und Fürstenpracht andererseits realisiert wird. Dieser Widerspruch ist das Hauptmerkmal der conversio in der Guten Frau und im Wilhelm von Wenden. Er erklärt sich aus dem Umstand, dass er das Ergebnis eines seinerseits höchst widersprüchlichen Transformationsprozesses spätantiker Erzählmuster darstellt. Dass die mittelalterlichen Minne- und Abenteuerromane deutliche Bezüge zum antiken Liebes- und Reiseroman aufweisen, ist inzwischen opinio communis der Forschung. Das betrifft vor allem ihre Handlungsstruktur, an deren Beginn Werbung und Gewinn einer Geliebten oder Ehefrau stehen, anschließend der Antritt einer Reise, die zur Trennung der Liebenden führt, zu ihrem erneuten Zusammentreffen und ihrer erneuten Trennung, bis beide Liebende schließlich nach vielen Jahren in einem wundersamen Anagnorismos (Wiedererkennen) endgültig zusammenfinden. Diese Handlungsstruktur ist in zahlreichen antiken Romanen mit den unterschiedlichsten Akzenten ausgebildet worden und war wohl vom 2./1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3./4. Jahrhundert n. Chr. außerordentlich populär. Fraglich ist nur, wie der antike Liebes- und Reiseroman ins Mittelalter überliefert worden ist und ob wir es dabei mit einem bloßen Rezeptionsphänomen zu tun haben. Meine zweite These dazu lautet, dass die Kenntnis des Mittelalters vom antiken Liebesund Reiseroman über verschiedene Transformationen dieses Romantyps erfolgt, die man kennen muss, wenn man Aufbau und Intention z. B. der Guten Frau oder des Wilhelm von Wenden verstehen will.

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1. Der antike Liebes- und Reiseroman und die frühchristliche acta-Literatur Apostelakten, d. h. Erzählungen von Leben und Verkündigung einzelner Apostel, waren in der frühen Christenheit weit verbreitet und offensichtlich sehr beliebt. Sie sind biographisch angelegt, konzentrieren sich also vor allem auf erstaunliche Begebenheiten, einschneidende Erlebnisse, gefahrvolle Reisen und Wundertaten der Apostel, wohingegen ihre Lehren demgegenüber deutlich zurücktreten: Der ‚Akt‘ der Verkündigung, sein sozialer Kontext, seine Voraussetzungen und Konsequenzen stehen im Mittelpunkt, nicht der Inhalt der Verkündigung. Dementsprechend uneinheitlich waren Beurteilung und Akzeptanz der Apostelakten: Sie bedienten den Wunsch, mehr über die Apostel zu erfahren und an ihren Festtagen von ihnen zu erzählen, sie wurden aber auch abgelehnt und verurteilt.9 Damit sind sie deutliche Indikatoren einer Zeit der Ungewissheit, welche Schriften dem Kanon des Neuen Testaments zuzurechnen sind und welche als apokryph zu gelten haben. Im Zuge der Kanonisierung des Neuen Testaments sind sie den apokryphen Schriften zugeschlagen worden, sind aber für die Frage, in welchen literarischen, religiösen und kulturellen Bezügen sich die Literatur des frühen Christentums herausgebildet hat, außerordentlich interessant. Das betrifft insbesondere mögliche Berührungen mit dem antiken Liebes- und Reiseroman, also dem populärsten Literaturtyp der Zeit, der trotz entschiedenster Gegensätze in Gegenstand, Erzählhaltung und Intention mit einzelnen Acta deutliche Übereinstimmungen zeigt. Unklar ist nur, wie dieser Widerspruch zu verstehen ist. Am klarsten tritt er in den Acta Pauli zu Tage, die – wohl noch im zweiten Jahrhundert entstanden und in der frühen Kirche gut bezeugt – verschiedene Reise- und Verkündigungsstationen des Paulus im Anschluss an seine Konversion vor Damaskus zusammenfassen und dabei in einem Einzelstück, den Acta Pauli et Theklae, das Liebes- und Reisethema aufgreifen, das für den antiken Liebes- und Reiseroman so charakteristisch ist.10 Dabei fällt allerdings auf, dass die Liebe der Thekla zu Paulus, die an Intensität nichts zu wünschen übrig lässt und sich durchaus an dem Liebesbegehren der Chariklea in Heliodors Äthiopischer Geschichte, der Leukippe in Achilles Tatios’ Leukippe und Kleitophon oder anderen zeitgenössischen Romanen messen lässt, asketisch gewendet erscheint. Zwar kann sie sich drei Tage und drei Nächte, die Paulus im Nachbarhaus den Glauben an den auferstandenen Christus predigt, nicht von seinen Lippen lösen, folgt ihm nach seiner Verhaftung heimlich ins Gefängnis, küsst seine Fesseln und wälzt sich, nachdem er verschwunden ist, auf der Stelle, wo er gesessen hatte: all dies körperliche 9

Ausführlicher dazu die Einleitung Wilhelm Schneemelchers zu den Paulusakten in: Neutestamentliche Apokryphen. In deutscher Übersetzung hrsg. von Wilhelm Schneemelcher, 6. Aufl. der von Edgar Hennecke begründeten Sammlung, Bd. II (Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes), Tübingen 1997, S. 195f. und Francois Bovon: Apostelakten. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 1 (1998), Sp. 640–641. 10 Taten des Paulus und der Thekla. In: Die Taten des Paulus, Teil 3. In: Schneemelcher (Anm. 9), S. 216–224.

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Ausdrucksmuster einer Liebessehnsucht, die sich auch im antiken Liebes- und Reiseroman immer wieder finden.11 Gleichwohl sind diese Zeichen körperlicher Liebe hier transformiert oder verschoben zu einer entsexualisierten Liebe zum gekreuzigten und auferstandenen Heiland. Zwar verfügt Thekla über sie, doch werden sie gewissermaßen entkörperlicht zu Indikatoren eines Glaubens, der den Körper und körperliches Begehren überwindet. Denn Paulus predigt vor allem Keuschheit und den Verzicht auf körperliche Liebe, Sexualität und Ehe. Dementsprechend ist es gerade diese Keuschheitspredigt, die Theklas Konversion zum christlichen Glauben hervorruft, die sie dazu bringt, sich drei Tage und Nächte „im Glauben in unaussprechlicher Freude herzuzudrängen“,12 sich auf diese Weise aber aus ihrem alten Leben und der sozio-kulturellen Ordnung ihrer Stadt Ikonium zu verabschieden. Konversionen verändern, so sagte ich, den ganzen Menschen und sein ganzes Leben, somit auch seine sozialen Bezüge und kulturellen Verbindlichkeiten. Thekla ist mit Thamyris verlobt, einem angesehenen Bürger der Stadt; ein geordnetes Leben als Gattin und Bürgerin Ikoniums ist ihr so gut wie sicher. Die Predigt des Paulus und die Konversion Theklas zerstören diese Gewissheit. Im Vollzug ihrer Konversion löst sich Thekla von Thamyris und wendet sich ausschließlich Paulus zu. Sie verkehrt die Heiratsregeln und die Geschlechterordnung ihrer Stadt, ist dafür sogar zum Tod auf dem Scheiterhaufen bereit und kennt als einziges Lebensziel nur ihre Liebe zu Paulus und ihren Glauben an den gekreuzigten Gottessohn. Dabei ist der Vollzug von Theklas Konversion als Reise gestaltet. Im Verlauf ihrer Reise werden auch Thekla und Paulus – ebenso wie die Liebes- und Ehepaare des antiken Liebes- und Reiseromans – je neu voneinander getrennt, finden aber auch immer wieder zusammen, bis Paulus Thekla endgültig zur Predigt nach Ikonium schickt, während er selbst sich auf den Weg nach Rom, und d. h. zum Märtyrertod, macht. Ein weiteres Beispiel für die Transformation des antiken Liebes- und Reiseromans im früh-christlichen Erzählen bieten die sog. Pseudoklementinen: eine Sammlung pseudo­ nymer Schriften, die – ca. 320–330 in Syrien verfasst – in einer Rahmenerzählung zu einer fiktiven Autobiographie des Bischofs Clemens I. von Rom, des Nachfolgers Petri, stilisiert werden. Die beiden wichtigsten Textteile sind die sog. Homilie, die vor allem auf die Auseinandersetzung zwischen Petrus und dem – schon aus der kanonischen Apostelgeschichte des Lukas bekannten – Zauberer Simon Magus (Apg. 8,9–25) konzentriert sind, und die Rekognitionen, die in ganz offensichtlicher Anlehnung an die Erzählstruktur des antiken Liebes- und Reiseromans gestaltet sind. Sie berichten davon, dass Klemens’ Vater seine Frau und seine beiden Söhne Faustinus und Faustinian per 11

Als ein Beispiel intensivsten Liebesbegehrens vgl. Charikleas „Anfall bacchischer Raserei“ aus Enttäuschung über die Abwesenheit ihres Geliebten Theagenes und die Hochzeit eines anderen Paares in Heliodors Abenteuer der schönen Chariklea. (Heliodor: Aithiopika. Die Abenteuer der schönen Chariklea. Ein griechischer Liebesroman. Übertragen von Rudolf Reymer. Mit einem Essay ‚Zum Verständnis des Werkes‘ und einer Bibliographie von Otto Weinreich, Reinbek bei Hamburg 1962, S. 118–119. Vgl. dazu auch die Ausgabe dieser Übersetzung in dem Sammelband: Im Reiche des Eros. Sämtliche Liebes- und Abenteuerromane der Antike. Hrsg. von Bernhard Kytzler, Bd. 1, München 1983, S. 226–512). 12 Taten des Paulus und der Thekla (Anm. 10), S. 217.

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Schiff nach Athen geschickt, dann aber nichts mehr von ihnen gehört habe, selbst auf die Suche nach ihnen gegangen, aber ebenfalls verloren gegangen sei, schließlich aber der inzwischen erwachsen gewordene Klemens Mutter, Brüder und Vater wiedergefunden habe, so dass die Rekognitionen, bevor Klemens von Petrus zum Bischof der Gemeinde in Rom eingesetzt werden kann, in einen für jeden antiken Liebes- und Reiseroman obligaten Anagnorismos, eine Auflösung aller Trennungen der einzelnen Familienmitglieder in eine glückliche Wiedervereinigung, münden können. Auch in diesem Fall also haben wir es mit dem Referenztypus ‚antiker Liebes- und Reiseroman‘ zu tun, der in eine Geschichte christlicher Verkündigung und christlichen Glaubens transformiert wird.13 Und auch in diesem Fall beginnt die Theologisierung des Referenzmodells mit der Konversion des Klemens, der – wie später Augustin in seinen Confessiones – als Suchender nach Antworten auf die Grundfragen seiner Existenz präsentiert wird, der deshalb die Nähe zu Philosophen sucht, bei ihnen aber keine Antwort findet. Erst die Predigt eines einfachen Mannes, eines Hebräers mit Namen Barnabas, der vom Leben und Sterben des Gottessohns sowie dem Anbruch des Reiches Gottes kündet und von den scheinbar Gebildeten gerade wegen der Einfachheit seiner Rede verspottet und verhöhnt wird, eröffnet Klemens die Konversion zum christlichen Glauben, die in diesem Fall in Gestalt eines Zornesausbruchs erfolgt: Da ich das alles [die Beschimpfungen des Barnabas und das „hemmungslose Gelächter“ über ihn, W. R.] mit ansehen musste, ergriff es mich plötzlich – ich weiß nicht, wie –, heiliger Zorn entbrannte in mir, ich konnte nicht mehr an mich halten, sondern erklärte mit allem Freimut: […] Hört […] sofort auf, zu eurem eignen Verderben über ihn zu lachen, und einer von euch er­ kläre uns, warum ihr durch euer Geblök auch die Ohren derer zu überschreien sucht, die gerettet sein wollen […]. Wie soll euch je verziehen werden, wenn ihr den Abgesandten der Gottheit, der euch die Erkenntnis Gottes verheißt, verspottet und mißhandelt?14

Während Thekla in den Acta Pauli et Theklae ihre Konversion in der Abkehr von allen sozialen und kulturellen Konventionen ihrer Heimatstadt, in stillem Leiden und fester Gewissheit ihrer Liebe zu Christus und Paulus vollzieht, realisiert sie der Klemens der Pseudoklementinen im Furor der Empörung über jene, welche die Botschaft vom Gottessohn verhöhnen. Zwar fehlt im Klemensroman – so auch schon die Bezeichnung Wilhelm Schneemelchers – das Liebesmotiv, das in den Acta Pauli et Theklae so entschieden zur Geltung kommt. Auch dieser Text aber erweist sich als Auseinandersetzung mit dem antiken Liebes- und Reiseroman, der – gewissermaßen christlich geläutert – auf 13

Zur literarischen Form des frühchristlichen Klemens-Romans (diese Formulierung im Anschluss an Niklas Holzberg: Der antike Roman. Eine Einführung, München/Zürich 1986, S. 30) vgl. vor allem Meinolf Vielberg: Klemens in den pseudoklementinischen Rekognitionen. Studien zur literarischen Form des spätantiken Romans, Berlin 2000 (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 145), Kap. V und VI. 14 Klemensroman, in: Die Pseudoklementinen, Teil 2. In: Neutestamentliche Apokryphen. In deutscher Übersetzung hrsg. von Wilhelm Schneemelcher, 6. Aufl. der von Edgar Hennecke begründeten Sammlung, Bd. II (Apostolisches. Apokalypsen und Verwandtes), Tübingen 1997, S. 447–479, hier S. 459.

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diese Weise in die Literaturgeschichte des Mittelalters eintreten konnte. Konversionstheoretisch besonders bemerkenswert ist dabei der Umstand, dass beide frühchristliche Apokryphen: die Acta Pauli et Thekla und die Pseudoklementinen, die Konversion ihrer Helden in aller Radikalität und ohne Abstriche oder Kompromisse vollziehen. Sie realisieren die Bekehrung zu Christus, widmen ihm ihr ganzes Leben und kennen keinerlei andere Lebensform als Seelsorge und Verkündigung, sei es nun als Predigerin in Ikonium (Thekla) oder als Bischof von Rom (Klemens). Es ist eine kompromisslose Eindeutigkeit im Vollzug der Konversion, die sie auszeichnet, eine absolute Gewissheit, welche die Konvertiten keine Sekunde zweifeln oder schwanken lässt, die sie aber auch – und das ist literatur- und mentalitätsgeschichtlich höchst bedeutsam – von den mittelalterlichen Adaptationen dieses Erzähltyps unterscheidet. „Daß die Legende das wichtigste Vehikel ist, welches das Gut des antiken Romans dem […] christlichen Mittelalter und damit seiner Erzähldichtung überhaupt zuführt“,15 ist in der mediävistischen Forschung weitgehend anerkannt. Max Wehrli hat in diesem Zusammenhang vor allem auf die Filiationen der Creszentia-Legende hingewiesen.16 Zu ergänzen wären sie durch die verschiedenen Bearbeitungen der Eustachius-Legende,17 die insbesondere für die legendarischen Minne- und Abenteuerromane, vor allem die Gute Frau und Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden, relevant sind. Die Überlieferungs- und Transformationsgeschichte der Eustachius- oder Placidas-Legende bis zur Guten Frau und dem Wilhelm von Wenden ist hier nicht mein Thema. Vielmehr konzentriere ich mich auf die Frage, welcher Typus von Konversion beiden Romanen zugrunde liegt, auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen sie vollzogen wird und wie insbesondere das Verhältnis von geistlichem und weltlichem Leben, Armut und Reichtum, Weltflucht und Herrschaft in Szene gesetzt wird.

2. Konversion und Arrangement. Der Ausgleich der Gegensätze in der Guten Frau Konversionen können doppelt gedacht werden: entweder als plötzliches Ereignis, das blitzartig in das Leben und Denken eines Menschen einbricht, ihn sofort und ohne weite-

15

Max Wehrli: Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter. In: Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze. Hrsg. von dems., Zürich/Freiburg im Br. 1969, S.  161 (Zuerst: Max Wehrli: Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter. In: Worte und Werte. Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Gustav Erdmann, Berlin 1961, S. 428–443). 16 Wehrli (Anm. 15), S. 161, 163 u. ö. 17 Zuletzt dazu Werner Röcke: Das Alte im Neuen. Paradoxe Entwürfe von Konversion und Askese in Legende und Roman des Mittelalters (Eustachius-Typus). In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke/Julia Weitbrecht, Berlin/New York 2010 (Transformationen der Antike 14), S. 157–173.

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ren Aufschub vom Saulus zum Paulus macht,18 sein Leben also von einem Moment zum anderen grundsätzlich verändert. Oder aber ihnen wird die ‚lange Dauer‘ einer höchst widersprüchlichen Entwicklung zugeschrieben, die je neu zwischen Gewissheit und Ungewissheit des richtigen Glaubens, Zweifel und Hoffnung, altem und neuem Leben hin- und hergerissen wird. Den Prototext für diesen zweiten Typ Konversion sehe ich in Augustins Confessiones, der seine Konversion zum christlichen Glauben als langen und höchst widersprüchlichen Prozess der Introspektion und der Suche nach Gott beschreibt, der Umkehr und der Rückschläge, der Verzweiflung und der erneuten Hoffnung, der mit dem Konversionserlebnis selbst keineswegs beendet ist, sondern ihn auch weiterhin nötigt, sich je neu darum zu bemühen, das alte Leben aufzugeben und das neue zu gewinnen. Alt und Neu also sind in diesem Konversionstypus nicht strikt getrennt. Zwar ist der Wunsch nach dem neuen Leben ganz eindeutig, doch ist er ohne Rekurs auf das alte nicht zu realisieren. Alt und Neu sind nicht  – im Sinne Kosellecks  – „asymmetrische Gegenbegriffe“,19 die sich notwendigerweise wechselseitig ausschließen, sondern ganz im Gegenteil aufeinander bezogen. Meine These dazu lautet, dass gerade Konversionen zum christlichen Glauben  – wobei für diese Ausrichtung Augustins Confessiones zweifellos eine maßgebliche Rolle gespielt haben – von dieser Verschränkung von altem und neuem Leben geprägt sind und dass dieser Umstand auch für die Literatur des Mittelalters, so auch für einen Minne- und Abenteuerroman, wie z. B. die Gute Frau, Konsequenzen hatte. Konversionserzählungen folgen in der Regel einer triadischen Struktur der erzählten Zeit.20 Dabei wird eine Vorgeschichte des falschen Glaubens, des Irrtums und der verfehlten Lebensführung vom neuen Glauben und neuen Leben ‚danach‘ unterschieden, wohingegen die Bekehrung den Wendepunkt vom alten zum neuen Leben, und d. h. den radikalen Wandel der Selbstverständigungsmuster, prinzipiellen Orientierungen, Werthaltungen und Lebensformen des Konvertiten markiert. In der Guten Frau21 ist dieser triadische Aufbau gut erkennbar, zugleich aber auch an einem entscheidenden Punkt: dem Vollzug des Lebens ‚danach‘, verändert. Demgegenüber ist das Leben ‚davor‘ zwar nicht religiös, also nicht als Zeit des falschen Glaubens oder der Glaubenssuche, wohl aber als feudal-höfische Lebensform und dementsprechender Habitus, und dies in aller Eindeutigkeit, codiert. Der erste Teil der Guten Frau ist als eher konventioneller Roman von Herrschaft und Vasallität, Liebe und âventiure, Liebesdienst und glücklichem Adelsleben angelegt. Er bedient die wichtigsten Topoi feudaler Mentalität und Bauformen höfischen Erzählens, die schließlich in eine perfekte Ehe und perfekte Herrschaft münden. Dabei scheint es zunächst so, als ob ein soziales Problem verhandelt werden soll: Die Kinder eines Grafen und seines Vasallen verlieben sich in18

Im Anschluss an Apostelgeschichte 9, 1–9. Reinhart Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Hrsg. von dems., Frankfurt a.  M. 1989, S. 211–259. 20 Luckmann (Anm. 2), S. 42. 21 Zu Entstehungszeit, Überlieferung und möglichem Auftraggeber der Guten Frau vgl. Denis J. B. Mackinder-Savage: Die gute Frau. In: Verfasserlexikon, Bd. 3 (1981), Sp. 327–330. 19

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einander, wobei vor allem der Sohn des Vasallen die ständische Differenz betont und sie durch besondere Dienstleistungen zu kompensieren sucht. In diesem Zusammenhang ist es die Personifikation der Minne selbst, die ihn dazu auffordert, sich ûf ritterschaft zu bewähren,22 dadurch Ehre und Anerkennung (lop) zu gewinnen23 und sich auf diese Weise als ihrer würdig zu erweisen. Eben dazu ist der Sohn des Vasallen auch bereit: um seiner geliebten Herrin willen möchte er […] mînen lîp arbeiten unde twingen. ze etelîchen dingen, ez sî mîn schade oder mîn vrume, daz ez ir ze dienste kume. (V. 398–402)24

Um nicht zu verligen (V. 469)  – der Rückgriff auf den Leitbegriff in Hartmanns von Aue Erec dürfte keineswegs zufällig sein25 –, will er in fremde Länder (unkundig lant, V. 461) aufbrechen, wo man ihn noch nicht kenne, sich dort militärisch engagieren und auf diese Weise Saelde und Êre (V. 546) erlangen. Liebe und Ehre sind hier noch nicht getrennt, sondern bedingen einander. Potenziert wird dieser Zusammenhang noch durch den Umstand, dass die Grafentochter selbst und ihr Land durch einen benachbarten Feudalherren, Graf Wide von Averne, bedroht werden, der durch eine Heirat mit ihr seinen Herrschaftsbereich auszudehnen sucht, doch dient auch dieser Konflikt ausschließlich der Bewährung von Liebe, triuwe und Herrschaftskompetenz des Vasallensohns. Entworfen wird ein Bild feudaler Konflikte und Kriege, von drohendem Ehrverlust und erneutem Ehrgewinn, von Minne und Herrschaft, das dann aber in ein weiteres Bild von Ehe, politischer Ordnung und Freude aufgeht. Dabei ist die Freude der Liebenden, die sich endlich gefunden haben und ihre Ehe schließen können, Indikator für Frieden und Ordnung ihres Herrschaftsbereichs: er was vrô und si was vrô: ir vreude schuof sich alsô alle stunde und alle vart daz in ande niene wart. daz bekumberte lant den aller besten vride vant der dâ vor ie drinne wart. (V. 1449–1455)26 22

Ich zitiere nach der Ausgabe von Emil Sommer: Die gute Frau. Gedicht des dreizehnten Jahrhunderts. In: ZfdA 2 (1842), S. 392–481, V. 388. 23 Die gute Frau (Anm. 23), V. 394, 428 u. ö. 24 […] mich/abmühen und bezwingen,/um allerhand zu leisten,/egal ob zu meinem Schaden oder Vorteil,/das ihr zu Diensten sei. 25 Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung von Thomas Cramer, Frankfurt a. M. 1972, V. 2971. 26 Er war froh und sie war froh:/Ihre Freude entwickelte sich so,/dass sie Schmerz nicht mehr kannten./ In dem notleidenden Land/entfaltete sich die schönste Friedenszeit,/die es jemals erlebt hatte.

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Trotz der ständischen Differenz zwischen Grafentochter und Vasallensohn münden dessen Minnedienst und arebeit in eine ideale adlige Lebensform, in der ritterschaft (V. 1469) und Liebe, welche die Liebenden sich aber nicht verligen (V. 1467) lässt; die Bereitschaft zu gâbe und anderen Formen feudaler Verschwendung (milte, V. 1471, 27)27 und feudaladlige Vergnügungen wie die Jagd einander ergänzen. In dieser Adelswelt gibt es keine Konflikte und keine Fragen. Sie folgt eindeutigen und selbstverständlichen Regeln, die nicht hinterfragbar scheinen, sondern je neu reproduziert werden. Umso schärfer ist dann allerdings auch der Bruch mit ihnen. Im Verlauf einer seiner Vogeljagden stößt der zur Grafenwürde aufgestiegene Vasallensohn auf zwölf arme Leute, deren bloßer Anblick ihn zu einer radikalen Wendung in seinem Selbstverständnis und seiner adligen Lebensform bringt. Besonders interessant scheint mir dabei die Art und Weise, wie dieser Wandel erfolgt. Denn der Graf wird – anders als Saulus, den ein Blitz vom Pferd reißt und der von einem Moment zu einem anderen: zu Paulus, wird (Apg. 9, 1–9) – mit dem Anblick der Armen nicht blitzartig seiner Adelsexistenz und Herrscherrolle entrissen, sondern beginnt nachzudenken. Er geht in sich, bemerkt, dass er Gott für seine zahllosen Ehren bislang nicht gedankt und auch Grund und Ursprung seines sozialen Aufstiegs nie bedacht habe. Erst diese Selbstreflexion führt ihn zu dem Bekenntnis, daz niht sô grôzen schaden tuot als êre unde guot. daz ist ein mortgalle zem êwigen valle. (V. 1531–1534)28

Und erst die Einsicht, dass Herrscherpracht und Herrscherehre nicht zuletzt auf Gewalt fußen, bringt ihn zu dem Entschluss, zusammen mit seiner Frau Herrschaft und Land zu verlassen und in der Fremde ein Leben in Armut und Demut zu beginnen. Die Konversion von Fürst und Fürstin ist also doppelt bestimmt. Sie erfolgt zunächst in der ‚langen Dauer‘ von Nachdenken und allmählicher Einsicht und wird dann im Weg in die Fremde auch praktisch vollzogen: Sie wechseln Aussehen und Kleidung, die äußeren Zeichen ihrer sozialen Identität, verlassen lant unde liute, nehmen Bettel und Demütigungen in Kauf und verzichten schließlich – zumindest gilt das für die ‚gute Frau‘ – auf das wichtigste Privileg des Adels, ihre persönliche Freiheit. Zwar ist es die blanke Not, die Fürst und Fürstin zu diesem Schritt nötigt – die beiden Kinder, die unterwegs geboren wurden, müssen essen, die ‚gute Frau‘ ist den Strapazen von Reise und Armut immer weniger gewachsen –; dennoch ist mit dem Verkauf der Fürstin und mit dem Umstand, dass ihr Mann die edelen vrîen einer mitleidigen Frau vür eigen gap (V. 1764f), die tiefste 27

Zur sozialen Funktion feudaler Gabementalität vgl. Georges Duby: Krieger und Bauern. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft im Frühen Mittelalter, Frankfurt a. M. 1977, S. 53–60 (Kap. III. Die Geisteshaltungen: Nehmen, Geben, Opfern), im Anschluss an Marcel Mauss: Die Gabe-Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. In: Soziologie und Anthropologie Bd. II. Hrsg. von dems., Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978, S. 9–144. 28 … dass nichts so schädlich ist/wie Ehre und Besitz./Sie sind tödliche Gifte,/die zur ewigen Verdammnis führen.

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Stufe ihrer Verkehrung von Adel in Knechtschaft, persönlicher Freiheit in persönliche Unfreiheit, Ehre in Demütigung erreicht, was nur noch Jammer und Klage übrig lässt: dô wart michel schrîen, dô er die edelen frîen der vrouwen vür eigen gap. (VV. 1763–65)29

Zugleich aber – und das scheint mir für die Frage nach dem Modus der Konversion in der Guten Frau besonders wichtig zu sein – ist mit dieser tiefsten Not auch die Möglichkeit des erneuten sozialen Aufstiegs, der Restitution von Herrschaft und sogar die soziale Überhöhung des ursprünglichen Status von Graf und Gräfin verbunden. Das ‚neue Leben‘ nach und im Vollzug der Konversion meint also nicht nur die prinzipielle Verkehrung von Status, Selbstverständnis und Lebensform, sondern auch die Integration von ‚neuem‘ und ‚altem‘ Leben. Denn obwohl der entwürdigende Verkauf der ‚guten Frau‘ noch einmal wiederholt wird  – nun ist der Käufer schon der Graf von Blois  – ist genau damit die Restitution ihres adligen Status eingeleitet. Das soziale Paradox von Verlust adliger Freiheit und Übergang in den Status persönlicher Unfreiheit einerseits, der Rückkehr in den Status zunächst einer Gräfin, schließlich sogar der Königin von Frankreich andererseits, ist schärfer wohl nicht zu fassen. Es ist Darstellungsmodus eines Typs Konversion, die zwar zur Abkehr vom gewohnten feudalen Status und der dementsprechenden sozialen Rolle führt, dann aber auch die Abkehr von der Abkehr ermöglicht. Dabei erfolgt die erneute Vereinigung der ‚guten Frau‘ mit ihrem bettelnden Mann nach dem Erzählmuster des antiken Liebes- und Reiseroman: Bei der Beschenkung von Armen erkennt die ‚gute Frau‘ ihren Mann an einem verwachsenen Finger, lässt ihn neu einkleiden und von den Fürsten des Landes zum König ausrufen. Dabei ist der Anagnorismos des antiken Romans Schlusspunkt und Indikator einer Konversion, die nicht auf den Gegensatz von Herrschaft und Knechtschaft, Reichtum und Armut, Ehre und Selbsterniedrigung setzt, sondern auf den „Kompromiss“ zwischen der „Sicherung feudaler Herrschaft und der Forderung eines ‚reinen Lebens‘“.30 Wir wissen nicht, ob und inwieweit dieses Kompromissangebot auf zeitgenössische Bestrebungen verweist, die Faszination von paupertas Christi, Verzicht auf Reichtum und Herrschaft und praktischer Nachfolge Christi einerseits, der notwendigen Sicherung feudaler Herrschaft und gesellschaftlicher Ordnung andererseits miteinander zu verbinden.31 Der Umstand allerdings, dass Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden einer vergleichbaren Kompromisslinie folgt, könnte durchaus darauf verweisen, dass in diesem Typus von Konversion widersprüchliche Interessen, vielleicht sogar Bruchlinien einer feudaladligen Mentalität durchgespielt werden, die die 29

Da gab es viel Wehgeschrei,/als er seine freiadlige Gattin der Frau als Leibeigene überließ. Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse  – Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 135. 31 Vgl. Werner Röcke: Minne, Weltflucht und Herrschaftslegitimation. Wandlungen des späthöfischen Romans am Beispiel der ‚Guten Frau‘ und Veit Warbecks ‚Magelone‘. In: Germanistik-Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, 2. Teil, Hrsg. von Georg Stötzel, Berlin/New York 1985, S. 144–159, hier S. 152ff. 30

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Zeitgenossen faszinieren. Insbesondere die deutlich politische Disposition des Wilhelm von Wenden könnte in diese Richtung weisen.

3. Sinnenförmigkeit der Konversion und politische Notwendigkeit. Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden Konversionen, so sahen wir, werden von außen angestoßen, bedürfen aber des praktischen Vollzugs durch den Konvertiten. Dabei unterscheiden sie sich darin, welche Anstöße von außen erfolgen; wie sie auf den Menschen wirken und wie er sie in der Folgezeit aktiv umsetzt. Ein relativ einfaches Modell bietet die Saulus-Paulus-Bekehrung der lukanischen Apostelgeschichte: „Saulus […] schnaubte noch mit Drohen und Morden gegen die Jünger des Herrn“, als er auf dem Weg nach Damaskus war. Da trifft ihn ein Licht vom Himmel, er stürzt vom Pferd und hört Jesus selbst ihn fragen, warum er ihn verfolge. Drei Tage lang ist er erblindet, isst und trinkt nichts, folgt aber schon dem Gebot Jesu (Apg. 9, 1–9). Ich verstehe diese Erzählung dahingehend, dass die Konversion durch massivste und – im Wortsinn – umwerfende Einwirkung auf Saulus’ Sehsinn angestoßen wird, die Konversion selbst – erkennbar an der dreitägigen Blindheit – ebenfalls visuell erfolgt und schließlich das Ende seiner Blindheit zeitgleich mit seiner Taufe und Bereitschaft zur Nachfolge Jesu, einhergeht. Im Wilhelm von Wenden wird die visuelle durch akustische Wirkungen ersetzt, darüber hinaus aber auch die Plötzlichkeit des Geschehens in eine ‚lange Dauer‘ der Konversion verschoben.32 Der heidnische Fürst Wilhelm von Wenden hat nach dem Tod seines Vaters und nach der Übergabe der Herrschergewalt auf ihn sein Reich und seine Herrschaft geordnet. Er hat die Lehnsbeziehungen der Vasallen erneuert, die Amtsträger des Landes auf ihre Aufgaben eingeschworen, die Zinsabgaben in Stadt und Land festgeschrieben und mit der Heirat mit seiner Braut Bene ein sichtbares Zeichen für Ordnung, Recht und Frieden seines Reiches gegeben: Die Pracht des Festes ist Sinnbild und praktische Vergegenwärtigung einer idealen Herrschaft. Trotz der Perfektion der Selbstinszenierung von Herrscher und Reich genügt im Folgenden aber ein Wort, um beide in höchstem Maße zu gefährden. Eine Gruppe Pilger ist an Wilhelms Hof gekommen, die sich auf Christus (krist, V. 500) berufen und seine Lehre bekennen, allein mit der Aussprache des Wortes Christus aber bei Wilhelm einen radikalen Wandel seines Denkens, seiner Empfindungen und Wünsche anstoßen:

32

Ich zitiere den Text nach der Ausgabe Ulrich von Etzenbach: Wilhelm von Wenden. Kritisch hrsg. von Hans-Friedrich Rosenfeld, Berlin 1957 (Deutsche Texte des Mittelalters Bd. IL). Zu Autor, Auftraggeber und Überlieferung vgl. Hans-Joachim Behr: Ulrich von Etzenbach. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 9 (1995), Sp. 1256–1262.

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Dô Willehalm daz süeze wort krist von den getouften hôrt, alsô wol in des gezam; in dûhte daz er nie vernam wort daz im süezer waere und senfter vür alle swaere. krist er sô in sîn herz beslôz; der süeze name in sô begôz daz sîn heidensch herze hart geviuhtet und geneiget wart daz er dem wort sich undertete unt ez in hôhem werde hete. (V. 503–514)33

Wird die Konversion des Saulus zum Paulus visuell, so die des Heidenfürsten Wilhelm akustisch in Szene gesetzt. Darüber hinaus aber erwächst das Faszinosum dieser Stelle wohl auch noch aus der Genauigkeit, mit der Ulrich von Etzenbach die Wirkungen des ‚süßen Namens‘ Christus auf Wilhelms Gemüt beschreibt. Bedient er sich dazu – vielleicht in Anlehnung an mystische Sprache – zunächst der Bildebene einer Verflüssigung des Namens, der sich in seinem Inneren ergießt und sein hartes heidnisches Herz durchfeuchtet und erweicht, so erweitert er schließlich den Hörsinn, der sich am süeze(n) seitenspil und der kleinen vogelîne gesang (V. 538f) des Namen krist ergötzt, noch auf den Geschmacksinn: er rouch im als ein edel wurz/staete in sînem munde (V. 542f).34 Es ist ein Fest der Sinne, das der Name krist hervorruft und auf diese Weise die Konversion Wilhelms vom Heiden zum Christen anstößt. Auch in diesem Falle ist es aber so, dass sie damit lediglich initiiert ist, vom Konvertiten selbst aber noch praktisch vollzogen werden muss. Im Wilhelm von Wenden erfolgt das zunächst in einer Art Einübung in Askese, Bettel und Pilgerleben, sodann in der tatsächlichen Trennung von Herrschaft und Reich, mit dem Weg in die Fremde, in Armut und Entbehrungen. Von seinem Kammerdiener lässt sich Wilhelm einen grauen Pilgerrock, einen Pilgerstab und Pilgerhut beschaffen, die er in seinem Schlafzimmer versteckt, sich aber immer wieder heimlich daran erfreut, sie anzulegen und sich vorzustellen alz ob daz keiserlîche leben/im in wirden waere gegeben (V. 735f).35 Wilhelm also inszeniert sich als Pilger, ohne es bereits zu sein. Er spielt die Pilgerrolle und übt sich auf diese Weise in den Wechsel in ein Leben in Armut und Elend ein, den er bald darauf auch tatsächlich beginnt. Höchst bemerkenswert daran scheint mir allerdings der Umstand, dass dieses neue Leben der Armut und der 33

Als Willehalm das süße Wort/krist von den Getauften hörte,/war ihm das sehr angenehm;/ihm schien es so, als ob er gegen alle Beschwernis nie ein süßeres und sanfteres Wort vernommen hätte./Auf diese Art schloss er krist in sein Herz;/der süße Name benetzte ihn so sehr,/dass sein verhärtetes heidnisches Herz/durchfeuchtet und erweicht wurde,/sich dem Wort unterwarf/und es in hohem Ansehen hielt. 34 Es war ihm, als schmeckte er/ständig ein feines Gewürzkraut in seinem Mund. 35 Als ob ihm das kaiserliche Leben in Würde gegeben wäre.

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Entbehrungen keineswegs mit dem alten Leben des Reichtums und der Herrscherpracht bricht: Hatte Wilhelm sich schon vor Aufbruch in Fremde und Armut vorsorglich mit genügend Lebensmitteln ausstatten lassen, so ist er im Verlauf der Reise – entsprechend dem Strukturmodell des antiken Liebes- und Reiseromans – auch zur Trennung von Frau und Kindern bereit; dies allerdings erst, nachdem er sie standesgemäß untergebracht hat.36 Wilhelm also, so verstehe ich diesen Widerspruch, vollzieht die conversio zu Christus in der tatsächlichen Übernahme der paupertas Christi, unterläuft sie zugleich aber auch. Er realisiert das ‚neue Leben‘, indem er es mit dem ‚alten Leben‘ verbindet und auf diese Weise beide Lebensformen zu einem neuen, hybriden Konstrukt vereint. In der weiteren Geschehensabfolge des Romans wird dieses hybride Konstrukt von ‚Alt‘ und ‚Neu‘ vor allem politisch realisiert. Wilhelms Frau Bene war schon bald nach der Trennung von ihrem Mann in ihrer neuen Heimat per compromissum37 zur Fürstin gewählt worden. Wilhelm seinerseits kommt als Pilger in Benes Land, bewährt sich hier in einer schwierigen politischen Aufgabe, indem er zwei Räuber und Feinde des Landfriedens, die sich dann als seine beiden Söhne entpuppen, in den Staatsverband zurückholt, und wird schließlich von Bene als ihr Gatte erkannt und erneut mit der Herrschaft betraut. Ulrich bedient sich des Anagnorismos im antiken Liebes- und Reiseroman, codiert ihn aber weitgehend politisch. Er bietet damit eine Transformation des antiken Romans, die in der Guten Frau auch schon ausgelegt war, im Wilhelm von Wenden aber noch konsequenter ausgeführt wird. Darüber hinaus zeichnen sich beide Romane dadurch aus, dass sie das Strukturmodell des antiken Romans von Trennung und Vereinigung mit einem Typus von Konversion verbinden, der die strikte Trennung von ‚altem‘ und ‚neuem‘ Leben aufhebt und beide aufeinander bezieht, im Vergleich mit dem Konversionstypus der frühchristlichen Literatur aber ebenfalls ganz entschieden verändert worden ist. Die Transformation beider Referenztexte der legendarischen Minne- und Abenteuerromane: der antike Liebes- und Reiseroman und seine frühchristlich-apokryphen Adaptationen, sind für das Verständnis der Guten Frau und Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden konstitutiv. Zwar stehen beide in ganz unterschiedlichen Überlieferungszusammenhängen.38 Strukturell aber bieten sie einen bestimmten Modus der Verschränkung von Konversionserzählung und antikem Roman, der sie von anderen Erzählformen des mittelalterlichen Minneund Abenteuerromans abhebt. Besonders charakteristisch scheint mir für beide, dass sie die Gewissheit der Notwendigkeit eines ‚neuen Lebens‘ und den daraus resultierenden radikalen Wandel von Glauben, sozialem Selbstverständnis und Lebensform übernehmen und zugleich unterlaufen. Die gute Frau und Wilhelm von Wenden sind sich ihres neuen Status als Konvertiten ganz sicher, realisieren ihn aber gleichwohl im Rückgriff auf ihren früheren Status. Damit wird ihre neue Gewissheit nicht in Frage gestellt, sie ver36

Zu diesem Erzählzusammenhang vgl. auch Röcke (Anm. 18), S. 165ff. Im Anschluss an Jan-Dirk Müller: Landesherrin per compromissum. Zum Wahlmodus in Ulrich von Etzenbach ‚Wilhelm von Wenden‘. In: Sprache und Recht. Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Karl Hauck u. a., Berlin/New York 1986, S. 490–514. 38 Vgl. dazu die Hinweise bei Mackinder-Savage (Anm. 22) und Behr (Anm. 29). 37

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liert aber ihre Eindeutigkeit und wird problematisch. Dieses Paradox von Gewissheit und Problematisierung ist – so meine abschließende These – ein deutlicher Indikator für eine Verschiebung der Konversionsproblematik, wie sie im Neuen Testament mit der SaulusPaulus-Geschichte (Apg. 9,1–9) und in frühchristlichen Apokryphen, wie den Acta Pauli et Theklae oder den Pseudoklementinen, entworfen wird. Offensichtlich bedarf es erst veränderter literarischer und politischer Kontexte im 13. Jahrhundert, um auch Konversionen neu zu denken.

Autoren- und Werkregister

Ablancourt, Nicolas Perrot de (,Perrot d’Ablancourt‘) 248 Abor und das Meerweib 46 Acta Pauli et Theklae (,Acta Pauli‘, ,Paulusakten‘) 23, 400, 402f., 411 Adenet le Roi, Cléomadès 67 Albrecht, Der Jüngere Titurel 49f., 114 Alexander and Semiramis 228 Amadas et Ydoine 29, 67 Amis et Amiles 67 Amis et Amilun siehe Amis et Amiles Amyot, Jacques 247, 257 Andreas Capellanus, 211 Anne de Bretagne ou l’amour sans foiblesse 292 Antoine de La Sale, Jehan de Saintré 30 Apollonius-Stoff (,Apollonius‘, ,Apollonius of Tyre‘, ,Apollonius-novel‘, ,Apolloniusmaterial‘, ,Apollonius-Bearbeitungen‘, ,Apollonius-Reihe‘) 18, 66, 135, 137, 141, 145–147, 149, 151, 154f., 160f., 164–167, 169–171, 255, 294 Apostelgeschichte 9,1–9 (,Saulus-Paulus‘) 23, 406, 408, 411 Apuleius (von Madaura), Metamorphosen 61 Ariosto, Ludovico 339 Aristoteles (,Aristotle‘) 235, 267, 393 – Nikomachische Ethik (,Nicomachean Ethics‘) 235, 393 Aucassin et Nicolette 28, 30, 33f., 44 Augustijn, Herzog von Braunschweig dt. 47 Augustinus (von Hippo) 271, 380f. – Bekenntnisse (,Confessiones‘) 271, 402, 404 Bartsch, Karl Friedrich Adolf Konrad (,Karl Bartsch‘) 17, 71–80, 83f., 88–92 – Edition der Kudrun 72

– Edition von Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur 17, 71–92 Beatrix de Die (Beatriz de Dia) 328 Beda Venerabilis (,Bede‘), Historia ecclesiastica gentis Anglorum (,Ecclestical History‘) 170 Benoît de Saint-Maure, Roman de Troie 228 Berthold von Holle, – Crane 45, 52f. – Darifant 45, 52f. – Demantin 43, 45, 52f., 128 Béroul, Roman de Tristan (,Tristan-Roman‘) 34, 208 Bibliothèque Bleue 359 Bibliothèque des romans grecs 246 Bibliothèque universelle de dames, Romans 246 Blancandin et l’Orgueilleuse d’amour (,Blancandin‘) 45, 67 Blanschandin 45 Boccaccio, Giovanni 10, 20, 39, 280, 284, 293f. – Decamerone/,Alathiel-Geschichte‘ (,siebte Novelle des zweiten Tages‘) 21, 280, 293 Il Filocolo (,Filocolo‘) 10, 27 Boethius, Consolatio philosophiae 31, 35 Boiardo, Matteo Maria 339 Bretel, Jacques, Le Tournoi de Chauvency 67 Brituon book 169 Caumont-la Force, Charlotte-Rose de (,de la Force‘) 20, 275 – Histoire de Marguerite de Valois, reine de Navarre (,Reine de Navarre‘) 275, 287–292, 294–297 Cervantes, Miguel de, Persiles y Sigismunda 257 Chariton von Aphrodisias (,Chariton‘) 167, 243–253

414 – Chaireas und Kallirrhoë (,Kallirhoe‘) 20, 60, 207, 243–253 Chaucer, Geoffrey – Canterbury Tales 18, 164f., 170 – Man of Law’s Tale 18, 163–173 – Romayn geestes 170f. – The Squire’s Tale 163 – The Wife of Bath’s Tale 163 – Troilus and Criseyde 171 Chevalier au Papegau 363 Creszentia-Legende 403 Chrétien de Troyes (,Chrétien‘) 16, 45, 353, 365f. – Erec et Enide 29 – Guillaume d’Angleterre 45 – Perceval-Fragment (Li Contes del Graal ou Le roman de Perceval) 330 Clemens I. von Rom – Homilie 401 – Pseudoklementinen (,Klemensroman‘) 401–403, 411 – Rekognitionen (,The Recognitions of Clement‘, ,Clementine Recognitions‘) 167, 401 Constance-Legende 95, 170 Constantine Manasses siehe Manasses, Konstantin Cristal et Clarie 67 Crusius, Martin, Heliodor-Epitome 257 D. Lenda da Dinis (,D. Dinis‘) 390 D. Pedro – Livro de Linhagens do Conde D. Pedro 390f., 393–395 Defoe, Daniel 257 Demanda do Santo Graal 388 Der Bussard 46 Der Graf von Savoyen 47 Diederic van Assenede, Floris ende Blancefloer 328, 331 Die gute Frau 22, 45, 50, 52f., 57, 62, 131, 207, 398f., 403–408, 410 Die Königin vom Brennenden See 47 Die schöne Magelone (jiddische Bearbeitung) 341 Dietrich von Bern (jiddische Bearbeitung) 341 Diogenes, Antonios, Ta hyper thoulen apista 61 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch (,Dostoyevsky‘) 167 Duden, Konrad Alexander Friedrich 78f. – Buchdruckduden 78

Autoren- und Werkregister – Versuch einer deutschen Interpunktionslehre zum Schulgebrauch 78 Dumas, Alexandre 247 Dymphna-Legende 95 Egenolf von Staufenberg, Peter von Staufenberg 46 Eilhart von Oberg, Tristrant und Isalde (,TristanDichtungen‘) 208, 336 Estienne, Henri (Henricus Stephanus) 245 Eugenianos, Niketas, Drosilla und Chariklest (,Drossilla and Chariklest‘) 229f. Eustachios-Legende 167, 403 Eustathios Makrembolites 229f. – Hysmine and Hysminias (,Hysmine‘) 230, 236 Fallet, Nicolas 246 Feyerabend, Sigmund – Buch der Liebe (Aithiopika) 256–257 Flaccus, Aulus Persius (,Persius‘), 1. Satire 245 Fleck, Konrad, Flore und Blanscheflur (,Florisroman‘, ,Flore-Roman, ,Flore-Romane‘, ,Flore‘) 10, 12, 20f., 41, 44, 46, 50, 56f., 64, 68–70, 71–92, 213, 220f., 327–338 Flore-Stoff (,Floire-romances‘, ,Floire-version‘, ,Floire-legend‘) 227–230, 233f., 237, 242 Floire et Blancheflor (,Floire et Blancheflore‘, ,Floire and Blancheflor‘, ,Floire et Blanchefleur‘) 10, 27f., 30, 34, 37, 41, 44, 66, 167, 227f., 234, 332f., 372 Florence de Rome 67 Floriant et Florete 29 Florimont 66 Florio und Bianceffora 10 Florios and Platziaflore (,Florios‘) 228–242 Floris und Blanscheflor (jiddische Bearbeitung) 341 Flors inde Blanzeflors (,Flore-Romane‘) 42, 44, 46, 50, 56, 68f. Flos vnde Blankeflos (,Flore-Romane‘) 42, 46, 50, 56, 68f. Fortunatus (jiddische Bearbeitung) 341 Fréron, Nicolas, Journal Étranger. Ouvrage périodique 246, 252 Friedrich von Schwaben 18, 47, 50, 53, 57, 59, 64, 69, 113, 125–129, 207, 213, 222, 373f. Garci Rodríguez de Montalvo, Amadis de Gaula 362, 367, 371, 388

415

Autoren- und Werkregister Gautier d‘Arras – Eracle 44, 66 – Ille et Galeron 66 Gautier de Coinci, La Vie de Sainte Cristine 35 Gerbert de Montrueil, Roman de la Violette 67 Gesta Romanorum (Romaym geestes) 163, 170f. Giacomelli, Michelangiolo, – Dei racconti amorosi di Cherea e di Calliroe libri otto tradotti dal greco 246 Girard d’Amiens, Méliacin 67 Gliglois 31 Goethe, Johann Wolfgang von 116, 283 – Wilhelm Meisters Lehrjahre 279 Gottfried von Straßburg 204 – Tristan (,Tristan und Isolt‘, ,TristanDichtungen‘, ,Tristan-Roman‘) 110, 117, 130, 132, 208, 210f., 347 Gower, John 166, 170, 172 – Confessio Amantis 18, 164–166, 169f. Grimm, Jacob Ludwig Karl (,Jacob Grimm‘) 79 Guillaume de Palerne 27, 67 Guy de Warewic 67 Göttweiger Trojanerkrieg 52f. Hans von Bühel, – Die Königstochter von Frankreich 18, 135, 147f., 156–161 Hartmann von Aue – Der arme Heinrich (,Armer Heinrich‘) 210 – Erec 41, 69, 115, 211, 405 – Gregorius 159 – Iwein 82, 91, 100, 113, 115, 211, 343 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 278 – Ästhetik 277, 279, 283 Heinrich von Neustadt 49f., 141, 146, 150 – Apollonius von Tyrland (,Apollonius‘, ,Apollonius-Roman‘, ,ApolloniusBearbeitungen‘) 18f., 41f., 46, 50, 52f., 58, 63, 69, 135, 137, 141–146, 150, 161, 169, 177–192, 222, 374f., 381, 384 Heinrich von dem Türlin, Diu crône 114 Heinrich von Veldeke 211 – Eneas (,Eneasroman‘) 95, 197 Heldris de Cornuälle, Le Roman de Silence 67 Heliodorus Emesus (,Heliodor‘) 20, 37, 167, 247, 256–258, 260f., 263–265, 268 – Aithiopika (Aethiopica Historia, ,Äthiopische Geschichten‘, ,Geschichten von Theagenes

und Charikleia‘) 20f., 61f., 62, 251, 255–273, 280, 302, 374, 400f. Herder, Johann Gottfried, Kalligone 61 Hermokrates 244, 247 Herodot von Halikarnassos (,Herodot‘) 247 Herpyllis 61 Herzog Ernst 19, 44, 57, 207f., 213, 217, 223, 272 Herzog Friedrich von der Normandie 45 Heyne, Christian Gottlob (,Heyne‘) 243, 246, 252f. – Charitons Liebesgeschichte des Chäreas und der Callirrhoe. Aus dem Griechischen übersetzt 243 Heyse, Paul Johann Ludwig von 284 Historia Apollonii regis Tyri (,Historia Apollonii‘, ,Historia‘) 58, 63, 138, 171, 178 Homer 245, 250, 260f. – Ilias 248, 250 – Odyssee 248, 250 Huet, Pierre-Daniel 246 Hugo, Victor-Marie (,Victor Hugo‘) 247 Hugo von Montfort 79, 91 Humboldt, Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand von 292 Iamblichos, Babyloniaka 61 Il Cantare di Fiorio e Biancifiore (,Cantare‘) 228f., 233 Imperios und Margarona (,Imperios and Margarona‘) 228 Iolaos 61 Jans der Enikel (,Jans Enikel‘) – Weltchronik (König von Reussen) 151 Johann aus dem Virgiere 47 Johann von Würzburg – Wilhelm von Österreich 18f., 46, 50, 53, 56f., 69, 113, 129–131, 197–199, 203–207, 209f., 213, 221 José de Arimateia 388 Joufroi de Poitiers 67 Juan Alfonso de Baena, Cancionero de Baena 29 Karlmeinet 44f. Karl und Elegast (I) 45, 53 Karl und Elegast (II) 46, 53 Karl und Galie 44, 53

416 Keller, Heinrich Adelbert von (,Adelbert von Keller‘) 72f. Kleist, Bernd Heinrich Wilhelm von (,Heinrich von Kleist‘), Das Erdbeben in Chili 284 König Rother 44, 57, 207, 213, 216 Konrad von Stoffel, Gauriel von Muntabel 113 Konrad von Winterstetten 222 Konrad von Würzburg (,Konrad‘) – Der Trojanische Krieg (,Trojanerkrieg‘) 46, 73 – Engelhard 45, 52f., 56, 132, 332 – Partonopier und Meliur (,Partonopier‘) 17, 21, 46, 52f., 56f., 71–92, 207, 221f., 301–326, 347 Kornaros, Vitsentzos (,Vincenzo Cornaro‘), Erotokritos und Aretusa 29 Kudrun 71f. La Belle Hélène de Constantinople (,HeleneRoman‘) 67, 97 Lachmann, Karl Konrad Friedrich Wilhelm (,Karl Lachmann‘) 79–82, 91 – Wolfram-Edition 81–83 – Iwein-Edition 82, 91 Lafayette (,Madame de Lafayette‘) siehe Pioche de la Vergne, comtesse de La Fayette, MarieMadeleine Lami, Giovanni 246 Lanzelot-Stoff (,Lancelot‘) 343, 346 Larcher, Pierre-Henri 20, 244, 246, 248–252 – Extrait in Journal Etranger 246, 252 – Les Amours de Chéréas et Callirrhoë. Traduites du Grec de Chariton (,LarcherÜbersetzung‘) 20, 244, 246, 248–253 Le Comte de Poitiers 67 Lenda de Gaia (,Legend of Gaia‘, ,Lenda do Rei Ramiro‘) 22, 387–395 Levita, Elia (,Levita‘, ,Eljie Bocher‘, ,Elia Bocher‘) 340, 342, 350f., 353 – Bove-Bukh 341f., 351 Livistros and Rodamne (,Livistros‘) 230, 236, 241 Livros de linhagens (,nobiliários‘) 22, 389–393 Livro de linhagens do Deão 390, 392 Livro Velho de Linhagens 390–392 Lohengrin 50, 69 Lollianus – Chione 61 – Herpyllis 61

Autoren- und Werkregister – Kalligone 61 – Phoinikika 61 Longos von Lesbos (,Longos‘) 20, 167, 247 – Daphnis und Chloë 27, 60 Lukian von Samosata (,Pseudo-Lukian‘), Lukios oder der Esel 61 Macchiavelli, Nicolò di Bernado di (,Macchiavelli‘), Il Principe 115 Mai und Beaflor 17f., 46, 50, 53, 57, 93–111, 113, 118–126, 128, 135, 147–161, 207 Magelone-Romane (,Magelonen-Stoff‘) 22, 294 Maillart, Jehan, Roman du Comte d’Anjou 67 Manasses, Konstantin (,Constantine Manasses‘), Aristandros and Kallithea 229f. Manuel und Amande 46 Manzoni, Alessandro, Promessi Sposi 28 Marguerite de Navarre 21, 275f., 280, 283, 292f. – L’Heptaméron des nouvelles (,Heptaméron‘) 21, 275f., 280, 292–294 – Amours d’Amadour et de Florinde (,zehnte Novelle‘) 21, 276, 280, 293f. – L’Histoire des satyres et nymphes de Dyane (La Fable du faux cuyder) 283 Marguerite Porete 36 Marie de France 211 Mädchen-ohne-Hände-Erzählung (,Mädchenohne-Hände-Schema‘, ,Manekine-Erzählung‘) 18, 94f., 97, 147f., 160f. Meister Hildebrand (jiddische Bearbeitung) 341 Menander siehe Menandros Menandros 245 Messerschmidt, Paul 257 Morant und Galie 45, 53 Naso, Publius Ovidius (,Ovid‘) 171, 194f., 234 – Ars Amatoria 234 – Epistulae Herodium (,Heroides‘) 194, 368 Nibelungenlied 210 Ninos 60 Novelle letterarie 246 Orendel 44, 57, 207, 209, 216, 223 Orville, Jacques Philippe de, De Chaerea et Callirhoe amatoriae narrationes 246 Oswald 44, 57 Otte, Eraclius 44–46, 68, 95 Otto II. von Freising, Laubacher Barlaam 59 Ovid siehe Naso, Publius Ovidius

Autoren- und Werkregister Paris und Vienna-Stoff 21 Paris un Viene (,Paris un Wiene‘, ,Paris un Vienna‘) 339–355 Partonopeus de Blois 46, 66, 303, 372 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum 33 Pedro Alfonso (Moses Sephardi) siehe D. Pedro Penninc/Pieter Vostaert, Walewein 186 Persius siehe Flaccus, Aulus Persius Petronius, Titus, Satyrica 61 Pfeiffer, Franz 72f., 75 Philippe de Rémi sire de Beaumanoir (,Philippe de Beaumanoir’) – Jehan et Blonde 29, 45, 67 – La Manekine (,Manekine‘) 67, 97, 147, 151 Philostratus, Lucius Flavius (‚Philostratus‘) 245 Photios I. der Große 245 Pierre de la Cépède (Cypède) 29 – Paris et Vienne 17, 27–40, 371 Pierre de Provence et la belle Maguelonne (,Belle Maguelonne‘, ,Pierre et Maguelonne‘ ,Maguelonne-Geschichte‘) 22, 28, 30, 33, 35f., 38, 228, 359–372, 377 Pioche de la Vergne, comtesse de La Fayette, Marie-Madeleine (,Madame de Lafayette‘) 280, 290 – Comtesse de Tende 280 – La Princesse de Clève 280, 290 – Princesse de Montpensier 280, 290, 292 – Zaïde. Histoire Espagnol 280, 290 Planoudes, Maximos 234 Platon, Protagoras 61 Pleier, der 115 Poliziano, Angelo (,Polizian‘) 245 Prodromos, Theodoros (,Theodore Prodromos‘), Rhodanthe and Dosikles 229 Publius Ovidius Naso siehe Ovid Püterich von Reichertshausen, Ehrenbrief 94 Queste del Saint Graal 362 Rabelais, François 167 Reinbot von Durne, Georg 59 Reinfried von Braunschweig (,Reinfried‘) 19, 46, 50f., 53, 56, 69, 193–198, 204, 207, 213, 215–220, 223, 381 Renard, Jean – Galeran de Bretagne 28, 30f., 33, 67 – Guillaume de Dole (Roman de la Rose) 67 – L’Escoufle 28, 30f., 33, 45f., 67

417 Richard le Beau 67 Riedegger Manuskript (,Riedegger manuscript‘) 72f., 84 Robert de Blois, Floris et Liriopé 67 Rolandslied (Chanson de Roland) 38, 331 Rolandslied-Bearbeitung mit Ospinal-Einschub 45, 53 Rudolf von Ems 50, 200, 202f. – Alexander 45 – Barlaam und Josaphat 59, 359 – Der gute Gerhard 45 – Eustachius 45 – Willehalm von Orlens (,Wilhelm von Orlens‘) 12, 19, 45, 50, 56, 197f., 200–203, 206f., 213, 221–223 Sakesep, Jakemon, Roman du Castelain de Couci et de la Dame de Fayel 67 Salman und Morolf 44, 57 Salvini, Antonio Maria (,Anton Maria Salvini‘) 246 Sánchez de Verical, Libro de los exemplos 33 Sarrasin, Le Roman du Hem 67 Schiller, Charlotte Luise Antoinette von (geb. von Lengefeld, ,Lengefeld-Schwestern‘, ,Lolo‘) 20, 275f., 280, 287, 290–297 – Briefe von Schiller’s Gattin an einen vertrauten Freund 295 – Die Königinn von Navarra. Nach dem Französischen 275–297 Schiller, Johann Christoph Friedrich von 296f. – Kabale und Liebe 116 Sesonchosis Romance (,Sesonchosis‘) 60 Shakespeare, William, Pericles 167 Siegenot (jiddische Bearbeitung) 341 Sone de Nansav 67 Spaneas 237 Steinhöwel, Heinrich, Apollonius von Tyrus 18, 135, 138–141, 143, 145f., 152, 161 Stricker, der – Daniel von dem blühenden Tal (,Daniel‘) 115, 117 – Karl 45, 53 Süßkind von Trimberg, Sangsprüche 339 Tatios, Achilleus, Leukippe und Kleitophon (,Kleitophon‘, ,Leukippe‘) 60, 400 Thukydides 245, 247 Thüring von Ringoltingen, Melusine 57, 222, 343

418 Tieck, Johann Ludwig 283 Trierer Floyris (,Floyris-Roman‘, ,FloreRomane‘) 10, 41f., 44, 50, 56f., 64, 68f., 328 Trivet, Nicholas (,Nicholas Tribet‘, ,Trivet‘) 95, 166, 169f., 172 Ulrich von Etzenbach, Wilhelm von Wenden 22, 41f., 46, 50, 52f., 57, 62, 69, 207, 213, 222, 398f., 403, 407–411 Vasco de Lobeira (,Vasco Lobeira‘) 388 Varillas, Antoine, Histoire de François Premier 292 Verdi, Giuseppe Fortunino Francesco (,Verdi’) Aida 257 Vita Offae primi 95f. Von Sente Brandan (,Sente Brandan‘, ,Brandan‘) 374f., 386 Warbeck, Veit, Die schöne Magelone (,Die Schöne Magelona‘, ,Magelona‘, ,Magelone‘, ,Schöne Magelone‘) 12, 22, 57, 207, 223, 341, 343, 359, 373–386 Warschewiczki, Stanislaus 257, 265

Autoren- und Werkregister – lateinische Übersetzung der Aithiopika 257, 265 Wickram, Jörg, Gabriotto und Reinhart 205 Widuwilt 341 Wirnt von Grafenberg, Wigalois 198, 343 Wolfram von Eschenbach 82, 114f., 353 – Parzival 75, 83f., 114f., 122, 198, 343, 353 – Titurel 56 – Willehalm 80, 94, 336 Wolzogen, Caroline von (zuvor verheiratete ‚von Beulwitz‘, geb. von Lengefeld, ‚Lengefeld Schwestern‘) 292, 295f. – Schiller’s Leben 296 Xenophon von Ephesos (,Xenophon‘) 60, 245, 264 – Ephesiaka 60, 245 Zschorn von Westhofen, Johannes (,Johannes Zschorn‘) 20, 257f., 263, 265–268, 270 – Theagenes und Charikleia 256, 260f., 263, 265–268, 270–272 Zurara, Gomes Eanes, Chrónica de D. Pedro de Meneses 388