An den Grenzen des Rechts: Kolloquium zum 60. Geburtstag von Wolfgang Graf Vitzthum [1 ed.] 9783428513468, 9783428113460

Der Sammelband vereinigt die Vorträge, die im Rahmen des Kolloquiums "An den Grenzen des Rechts" aus Anlass de

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An den Grenzen des Rechts: Kolloquium zum 60. Geburtstag von Wolfgang Graf Vitzthum [1 ed.]
 9783428513468, 9783428113460

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Wolfgang März (Hrsg.) A n d e n G r e n z e n des Rechts

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 31

A n den Grenzen des Rechts Kolloquium zum 60. Geburtstag von Wolfgang Graf Vitzthum

Herausgegeben v o n

Wolfgang März

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Ubersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 3-428-11346-2

Vorwort

Der vorliegende Band vereinigt die Vorträge, die im Rahmen des Kolloquiums „An den Grenzen des Rechts" aus Anlass des 60. Geburtstags von Wolfgang Graf Vitzthum am 24. November 2001 in der Neuen Aula der Universität Tübingen von seinen Schülern gehalten wurden; die Beiträge wurden für die Drucklegung erweitert und aktualisiert. Den Referaten vorangestellt ist die Ansprache, die Peter Häberle dem Jubilar bei der privaten Geburtstagsfeier am 22. November 2001 gewidmet hat. Eine Zusammenfassung der Diskussion, ein Schlusswort des Geehrten sowie seine Bibliographie und ein Verzeichnis der von Wolfgang Graf Vitzthum bislang betreuten Dissertationen und Habilitationen runden den Tagungsband ab. „An den Grenzen des Rechts" - und bisweilen auch jenseits ihrer Linien, in der Nachbarschaft - bewegt sich der Jurist, seit sein neuzeitliches Denken weiche Übergänge und diffuse Randzonen des Bewusstseins, des Seins und des Sollens durch scharfe Begrifflichkeit rationalisiert und normativ objektiviert hat. Noch dem späten Mittelalter war der Begriff „Grenze", aus dem Slavischen adaptiert, kaum geläufig, noch weniger das mit ihm heute Verbundene, also sein „Gegenüber" und „Außerhalb". Indem das Recht an Grenzen stößt (und sie eventuell auch verschiebt oder einebnet), erkennt es zugleich das „andere", jenseits Liegende in seinem Eigenwert an, sei es Politik, Wirtschaft, Religion oder Ethik und Moral. Während diese duale Grundstruktur der Grenze (und ihrer Ziehung, vielleicht auch nur als metaphorischer Schnitt) seit ihrer Entdeckung zeitlos wirkt, sind ihre Erscheinungsformen zeitgebunden und ändern bzw. erneuern sich laufend. Konnte man das Problem der konkreten Verortung von Grenzen des Rechts vor 60 Jahren mit ihren geisteswissenschaftlichen Affinitäten zu Philosophie und Ökonomie

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Vorwort

umschreiben (so Ernst Forsthoff in seiner Ansprache zur KantFeier 1941), identifizierte man sie vor einer Generation mit der nachlassenden Steuerungskraft des Rechts in und gegenüber der modernen Industriegesellschaft (so in einem von Rüdiger Voigt 1987 herausgegebenen Sammelband). Heute sehen wir die Grenzen des Rechts vor allem im Blick nach außen, in den internationalen Beziehungen, wie nach innen, gegenüber dem Individuum und seinen erlaubten Grenzen des Handelns, aufscheinen. Das Thema der Veranstaltung wurde, die weit gespannten wissenschaftlichen Interessen des (seit 1981) Tübinger Staatsund Völkerrechtlers reflektierend, bewusst breit und grundsätzlich angelegt. In den vier nachstehenden Beiträgen finden sich deshalb unterschiedliche nationale wie gemeinschafts- und völkerrechtliche Akzentsetzungen, die markante Aspekte des heutigen Grenzproblems beleuchten. Wie der Beitrag Stefan Talmons zu „Grenzen der Grenzenlosen Gerechtigkeit" und ihrer militärisch global agierenden Schutzmacht zeigt, führt die Bekämpfung des internationalen Terrorismus nach dem 11. September 2001 nicht nur zu massiven Grenzverschiebungen im rechtlichen Neben- und Miteinander der Staaten; sie droht (z.B. bei der Behandlung von „Nicht-Kriegs"-Gefangenen) wichtige Grenzen des - humanitären - Völkerrechts überhaupt verblassen zu lassen, nämlich die Anerkennung einer gemeinsamen rechtlichen Grundlage des zwischenstaatlichen Agierens und der darauf beruhenden wechselseitigen Rechte und Pflichten. Nicht von einem rechtsrestriktiven „hors la loi-Stellen", sondern von der Gefahr eines Dekonstruierens menschlicher Individualität und Identität und der rechtsexpansiven Reaktion hierauf handelt Tatjana Geddert-Steinacher. Ihr Vörtrag thematisiert eine andere Seite der Grenzziehung: den von außen an das Verfassungsrecht herangetragenen Anspruch der Naturwissenschaften und der Medizin, das genetisch und biotechnologisch Mögliche und Programmierbare am Menschen in allen seinen relevanten Entwicklungsstadien auch durchführen zu dürfen, und demgegenüber seine Approbation bzw. Reprobation an-

Vorwort

hand der juristischen Grenzbegriffe Menschenwürde und Recht auf Leben. Beide Vorträge greifen Forschungen des Jubilars auf und führen sie weiter: hier das Menschenbild des Grundgesetzes anhand von Art. 1 Abs. 1 GG und seinen gentechnischen Gefährdungen, dort die völkerrechtlichen Bedingungen des Friedens in einer Welt zunehmend unversöhnlicher Grundüberzeugungen und Völkerrechtssubjekte. Auch die beiden anderen Beiträge, die auf einer mehr „nach innen", d.h. juristisch-dogmatisch ausgerichteten Ebene das Verhältnis von Recht und Politik bzw. die nur partielle Steuerungsfähigkeit des Rechts gegenüber noch nicht juristisch verfassten, „fremden" ökonomischen Rahmenbedingungen beleuchten, greifen - bereits frühe - Forschungsergebnisse des Jubilars auf. Wolfgang März befasst sich mit dem Parlamentarischen Untersuchungsausschussgesetz des Bundes, das seit Sommer 2001 dem in Art. 44 GG nur „angeregelten" Untersuchungsrecht des Deutschen Bundestages ein eigenständiges Verfahren mit genuin parlamentarischen Kontrollbefugnissen verleiht. Dass diese Reform auf kleinstem (partei-)politischen Nenner überhaupt, aus eigener Kraft, also nicht verfassungsgerichtlich erzwungen, gelungen ist, ist indes weniger ein Verdienst kraftvoller Gesetzgebung als vielmehr Indiz einer einmaligen parlamentarischen Mehrheits-Konstellation. Dass das Gesetz dabei einige berechtigte Wünsche offen gelassen hat, liegt nicht zuletzt am eigenen - genuin politischen und eben nicht rechtlichen - Regeln folgenden Gegenstand. Diese Grenzen konnte der Gesetzgeber in eigener Sache weder verschieben noch sonstwie überwinden. Gleichermaßen endogen und „vermessen" ist die Grenze, die das Europarecht für die Europäische Zentralbank als Hüterin der Gemeinschaftswährung aufrichtet, förn Axel Kämmerer zeigt, dass die Stabilitätsvorsorge zugunsten des Euro zwar auf einem umfänglichen geldpolitischen Instrumentarium ruht, das die optimale Nutzung der theoretisch möglichen Aktionsspielräume eröffnet; dieses Bündel an währungsrechtlichen Befugnissen macht jedoch vor den Regierungen der Mitgliedstaaten

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Vorwort

und ihren haushalts- und wirtschaftspolitischen Befugnissen halt und erlaubt der Gemeinschaft eben keinen umfassenden Schutz der Wahrung der Preisstabilität gegenüber nationalen, preistreibend wirkenden Akten. Da es sich auf einem Bein, langfristig gesehen, bekanntlich schlecht steht, tut eine Entgrenzung der Verträge im Hinblick auf eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik Not. Ob dabei die Souveränität - ein Grenzbegriff des Rechts - endgültig von den Mitgliedstaaten auf die Europäische Union überspringen würde, wie manche meinen, wäre indes noch zu untersuchen; an dieser Stelle scheidet sich in der Tat der Grenzübertritt von der Grenzverletzung. Der Dank des Herausgebers gilt vielen: zuvörderst dem Jubilar für die Bereitschaft, an diesem Kolloquium als kleine Form akademischen Danks teilzuhaben und zum Abschreiten der Grenzen des Rechts durch seine Schüler immer wieder mit Anregungen und Fußnoten beizutragen; sodann den Mitreferenten für Unterstützung und Hilfe bei der Vorbereitung und Durchführung des Vorhabens; ferner den zahlreich erschienenen Doktoranden des Geehrten, seinen wissenschaftlichen Weggefährten und Fakultätskollegen für den eindrucksvollen Rahmen der Veranstaltung; schließlich Norbert Simon für die spontane Bereitschaft, den vorliegenden Tagungsband - wie schon so viele Arbeiten aus den beiden blühenden Tübinger Schriftenreihen in sein Verlagsprogramm aufzunehmen. Rostock, im Sommer 2003

Wolfgang März

Inhalt Wolfgang Graf Vitzthum zum 60. Geburtstag Von Peter Hä berle

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Gentechnische Entgrenzung des Menschenbildes? Von Tatjana Geddert-Steinacher

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Das Parlamentarische Untersuchungsausschussgesetz. Reform an den Grenzen des Verfassungsrechts Von Wolfgang März

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Grenzen des Europarechts. Die Europäische Zentralbank als Hüterin der Gemeinschaftswährung Von Jörn Axel Kämmerer

79

Grenzen der „Grenzenlosen Gerechtigkeit". Die völkerrechtlichen Grenzen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus nach dem 11. September 2001 Von Stefan Talmon

101

Diskussionsbericht Von Christiane Freytag und Alexander Proelß

185

Schlusswort: Über Grenzen Von Wolf gang Graf Vitzthum

201

Bibliographie Wolfgang Graf Vitzthum 1971 - 2003

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Verzeichnis der von Wolfgang Graf Vitzthum betreuten Dissertationen und Habilitationen 1983-2003

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Wolfgang Graf Vitzthum zum 60. Geburtstag V o n Peter Häberle,

Bayreuth*

I. Wolfgang, aus mir bis heute unerklärlichen Gründen beharrlich „Nicky" genannt (statt das Gemeinsame mit Goethe und Mozart zu betonen), wird heuer 60 Jahre alt. Seiner Gattin Hildegard, zum Teil auch ihm, sieht man dies nicht an, wohl aber seinen Kindern, auch seiner langen Publikationsliste und seinem nachhaltigen Wirken. Er selbst ist als vortrefflicher Laudator, etwa zu Ehren der Herren Oppermann und Zöllner, bekannt; (wie) kann ich es also wagen, seinen Spuren zu folgen? Begonnen hat vieles, nicht alles, etwa im Jahre 1968, als er selbstbewusst, aristokratisch in mein bürgerliches Assistentenzimmer in Freiburg trat und mir sein erstes Forschungsvorhaben, das Dissertationsthema, verriet („Der Rechtsstatus des Meeresbodens", 1972). Ich war vom Gegenstand sogleich gefesselt, ja elektrisiert, da ich schon damals meinte, man müsse mindestens mit der Doktorarbeit etwas Neues wagen, zumal man später in Deutschland ja auf die hundertste Arbeit zum Rechtsstaatsprinzip einschwenkt oder sich selbst (post)glossiert, in kurzatmigen Zeitschriftenaufsätzen verschwendet oder in Festschriftenliteratur untergeht. Wolfgang wagte „sein" Thema, dem er dann später auch in, zum Glück großen, Intervallen („Zur Rechtsentwicklung bei den inneren Gewässern", VBIBW 1991, * Adresse: Universität Bayreuth, Universitätsstr. 30, 95440 Bayreuth. Ansprache von Prof. Häberle bei der Tübinger Geburtstagsfeier Im Rotbad 19 am 22. November 2001.

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Peter Häberle

S. 121 ff.; „Seerechtsdarstellung in dürftiger Zeit", AöR 119 [1994], S. 484 ff., oder „Alles fließt", 1998) treu bleibt. Zugleich aber, und das ist mindestens so wichtig gewesen, hat er seinen Lehrer, den unvergesslichen Werner von Simson gefunden. Nächst Jürgen Schwarze war diesem ein wahrer Schüler gewonnen, der ihm auf allen Ebenen die Treue hielt: wissenschaftlich, menschlich, lebensethisch, stilistisch. Wolfgang folgte seinem Mentor in nahezu allen Literaturgattungen und Lebensformen. Nur das Orgelspiel erlernte er selbst seinem Lehrer zuliebe nicht, auch gelangen ihm keine fünf Söhne wie W. von Simson, sondern „nur" zwei Kinder. Wölfgang veranstaltete zusammen mit Jürgen Schwarze (auch mir) alle fünf Jahre ein Colloquium, und zuletzt haben wir gemeinsam sogar ein Gedächtniscolloquium herausgegeben: „Der Staat als Teil und als Ganzes", 1998, eine damals wohl neue Literaturgattung. Eher bekannt ist die Beiheft-Tradition (in EuR 1, 1993) oder die Festschrift (zum 75. Geburtstag: 1983); damals war es auch das einzige Mal, dass der Jubilar seinem Lehrer W. von Simson untreu wurde: Wolfgang war physisch nicht zugegen, sondern flog nach Asien (nicht Thailand!); wir Zurückgebliebenen diskutierten in der Freiburger Gerichtslaube, brav ...! Π. Doch wir sind dem Lebensgang unziemlich vorausgeeilt. Wolfgang musste Schritt für Schritt (fast) alle Stationen eines deutschen Staatsrechtslehrerlebens durchwandern (selten: durchleiden!). In Freiburg, zusätzlich wohl behütet von K. Hesse, auch Erik Wolf, machte er sich nach erfolgreicher Promotion ans Werk der Habilitationsschrift (Parlament und Planung, 1978). Ich habe sie, es sei hier und heute erstmals bekannt, zu wenig gelesen, wohl auch deshalb, weil ich die Planungseuphorie nie so recht geteilt habe. Immerhin ist Wolfgang kein Band Planung II gelungen ... er hat ihn wohl auch nie geplant ...! Es folgte nach seiner geglückten Habilitation 1977 eine kurze Zeit an der Bundeswehrhochschule in München (1978-81). Da es

Wolfgang Graf Vitzthum zum 60. Geburtstag

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dort wohl kaum „richtige" Studenten gibt, erwiesen sich die Aufenthalte in Neubiberg für junge Wissenschaftler als ein Glücksfall: Sie können in einer „Forschernische" arbeiten und Großes vorbereiten (so etwa B.-O. Bryde oder H. Schulze-Fielitz). Großes kam dann in Gestalt eines Rufes nach Tübingen (1981), (Funktions-)Nachfolge Dürig, den er mehrfach würdigte (vgl. die Tübinger Gedenkstunde 1997, 1999 publiziert). Hier wirkt der Jubilar seitdem auf allen Ebenen des akademischen Lebens, er wurde Dekan (1986/ 87), sogar Vizepräsident (1989/ 90), hielt launige Reden, begleitete mich einmal zum HölderlinTurm (1995), ohne mich dort (allein) zu lassen, setzte sich ab und zu mit Walter Jens zusammen ... und auseinander, züchtete treue Schüler ... ja und wurde mit seiner Frau Hildegard glücklich! Man sieht es eigentlich jedem Photo an, und was gibt es Schöneres für den Freund, als das Glück eines befreundeten Ehepaars zu erkennen, und auf eine Weise gar zu teilen? Doch wiederum greifen wir im Persönlichen manchem Fachlichen vor. Da galt es noch das deutsche Staatsrechtslehrerreferat zu bestehen. Es gelang in Passau (WDStRL 46 [1988]), und zwar mit Glanz, in Sachen Föderalismus; zu diesem Thema schob dann der Jubilar noch manches nach (z.B. in AöR 115 [1990], S. 281 ff.). Ich erinnere mich noch sehr gut an unsere Diskussion in Passau (aaO, S. 148-151). Seitdem kreuzen sich unsere Wege häufiger, meist im Kontext von Werner von Simson und J. Schwarze. Unvergesslich bleibt mir die Totenrede für Werner auf dem Freiburger Friedhof (1996): mit stilistischer Souveränität, stoischer Gelassenheit gelang sie ihm, er bewahrte Fassung, wie ich mir dies nie zutrauen würde; ja die Totenrede, seit der Antike neben dem Gerichtsplädoyer oder der laudatio und später der Predigt eine klassische Literaturgattung, seine Totenrede auf Werner von Simson ist für mich das bewegendste Beispiel einer solchen bis heute geblieben (vgl. auch den Nachruf in AöR 122 [1997], S. 138 ff.). Einem „Altersthema" ähnelt schon der auf dem deutsch-französischen Colloquium im Mai 2001 gehaltene Vortrag „Die Identität Europas".

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Peter Häberle

ΙΠ. Heiteres ist heute verlangt. Hier könnte ich vieles ausplaudern: etwa die allzu regelmäßigen Zusendungen von Zeitungsausschnitten, Photographien, Miszellen, Seminarprogrammen, Übungsklausuren, Werbeprospekten zu seiner angesehenen Tübinger Reihe aus dem Verlag Duncker, mitunter Aufsätzen, ja Büchern und natürlich der jeweiligen Auflage des von ihm herausgegebenen erfolgreichen Völkerrechtslehrbuches (1. Aufl. 1997, 2. Aufl. 2001). Wolfgang ist Völkerrechtler geworden (s. etwa den Bericht zu Rechtsfragen der Rüstungskontrolle, DGVR 30 [1994], S. 95 ff.), aber auch das Europarecht pflegt er intensiv (z.B. JZ 1998, S. 161 ff.), sodann das Verfassungsrecht; das Verwaltungsrecht (vgl. früh AöR 104 [1979], S. 586 ff.) beginnt er schrittweise zu vergessen. Zuweilen verirrt er sich (etwa in der und in die Zeitschrift JURA 1996, in Sachen Umweltschutz). Im Übrigen übt er sich und uns als Leser in der vollen Breite fast aller Literaturgattungen: von dem Festschriften-Beitrag (z.B. für Bachof, Dürig, Stödter, Schlochauer, Stern, Lerche, Grewe und Heckel, zuletzt für T. Oppermann sowie den Germanisten A. von Bormann (2001) mit dem suggestiven Titel „Gehört Anatolien zu Europa?") über den Grundlagenaufsatz (z.B. Gentechnologie und Menschenwürde, ARSP 1987, S. 119 ff.), auch die Monographie „Petitionsrecht und Volksvertretung", 1985, leider wohl ein Gutachten, vom Handbuch-Artikel (HdBStR Bd. I, 1987 über das „Staatsgebiet") bis zur Rezension (z.B. zum Kreisauer Kreis: ZNR 1999, S. 527 f.) und dem Nachruf (auf O. Kimminich, Law and State 1998, S. 7 f.), auch dem Lexikon-Artikel (z.B. Stich wort „Seerecht", in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 1988, S. 1142 f., oder „Innere Gewässer" in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2000, 4/65); auch dem Symposionsbeitrag (1995: für Badura), dem Rezensionsaufsatz (DÖV 1984, S. 918 ff.), dem Sammelband-Beitrag (in K. Stern [Hg.], Deutsche Wiedervereinigung, Bd. II, 1991, S. 3 ff.) sowie der Gedächtnisschrift (für E. Grabitz, 1995, S. 819 ff.) - als „letzte" denkbare Literatur-Gattung für einen deutschen Staatsrechtslehrer.

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Regelmäßig macht Wolfgang lange Urlaubsreisen zu mir unbekannt bleibenden Zielen, oft unheimlichen (etwa New York oder Sylt): mit Hildegard und den Kindern. Auch baut er stetig die Patenschaft mit Aix aus, der Ehrendoktor von dort (1998) wurde eine berechtigte Krönung, eine Freude für uns alle. Bekannt ist auch seine Seminarkultur, gelegentlich in Gestalt von Wochenendsitzungen (z.B. mit Frau BVerfG-Richterin E. Haas, etwa in Blaubeuren). Er lädt, mehr als die Frauenquote erfordert, Referentinnen nach Tübingen ein, hatte sogar einmal keinen Geringeren als F.K. Fromme von der FAZ zu Gast (1999 hielt dieser dann seinen Vortrag: „Die abgebrochene Revolution von 1989/90", 2000). Die Schüler wissen im Übrigen über alles das viel mehr, auch über ihn, der offenkundig auch ein umsichtiger wissenschaftlicher Lehrer geworden ist, natürlicher Vater war er schon lange. Ich habe beobachtet, wie intensiv er auf dem bekanntlich „gefährlichsten" Forum Deutschlands, der Staatsrechtslehrertagung, seine Schüler, je nach ihrem Reifegrad, den wichtigsten Persönlichkeiten, je nach deren Bedeutung, vorstellt. Irgendwann einmal kam dann auch ich an die Reihe (Dresden 1996) (mit dem Zusatz: Peter, beachte bitte, dies ist mein erster Schüler [Herr Wolfgang März]). IV. Das wissenschaftliche Wirken des Jubilars spricht für sich. Da er noch sehr jung ist, sei eine Würdigung nicht einmal versucht. Verraten sei nur, dass ich Wölfgangs w o nötig raschen Zugriff auf neue Themen, etwa zu den Staatszielen in den neuen Bundesländern (freilich nur im VB1BW 1992, S. 404 ff.), ebenso bewundere wie seinen langen Atem im Blick auf die Sache bzw. die Sachen, etwa „Der Dichter und der Staat" (1991, zusammen mit W. Jens), „Stefan George und der Staat" (1999) Grundlinien, die früh typische Altersthemen vorwegnehmen! (zuletzt zu „Das Beispiel Stefan George" [2000]; sowie zu H. Broch). Die deutsche Wiedervereinigung empfand er wohl ebenso als Glücksfall unserer Generation wie wir (fast) alle, daher das Engagement in Dresden. Seine Arbeiten zum deut-

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Peter Häberle

sehen Widerstand (z.B. i n j . Mehlhausen [Hg.], Zeugen des Widerstands, 1997, S. 1 ff., zu Berthold Stauffenberg; sowie in F.J. Düwell/T. Vormbaum [Hg.], Themen juristischer Zeitgeschichte 1998, S. 48 ff.) gehören zur Pionierliteratur. Seine Schriften zur Verfassungswidrigkeit der Wiedergutmachungsregelung (z.B. in: Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1994, S. 1 ff.) sind wissenschaftliche Erkenntnis- und Bekenntnisliteratur im guten Sinne des Wortes (s. auch die mit W. März publizierte Schrift über die sog. „Berliner Liste 3", 1995). Überhaupt fällt auf, dass der Jubilar gerne seine Schüler in seine Publikationsprojekte einbezieht (z.B. „Der Zweck im Gentechnikrecht", 1990, zusammen mit T. Geddert-Steinacher). Befragte man ihn i.S. des Tübinger Genies Josef Esser auf „Vörverständnis und Methodenwahl", so käme man wohl zum Markenzeichen „liberal konservativ", eine eigentlich für Bayern typische Mischung! Hinzu kommt ein Schuss angelsächsischer Pragmatik, worum ich ihn immer beneide; auch finden sich Leuchtspuren französischer Eleganz. Nur vom richtig Schwäbischen hat unser Jubilar nichts, gar nichts ...! (Hegel freilich zitiert er, mindestens den „Schwabismus", „aufhebend" (vgl. Völkerrecht, 1. Aufl. 1997, S. 472 Anm. 316). Wie auch sonst lohnt es sich, Wölfgangs Zitierkunst nachzugehen: er bevorzugt seine Lehrer, dann die Tübinger Kollegen, oft J. Schwarze, mitunter werden aber auch D. Merten und ich - unversehens durch ein Zitat geehrt. Manche seiner Publikationen erscheinen auf französisch (z.B. in der Revue française de Droit Constitutionnel 43 [2000], S. 463 ff.). Als Herausgeber setzt er Maßstäbe für uns alle (z.B. bei den Tübinger Schriften im Staats- und Verwaltungsrecht, etwa Bd. 58 [2000] und Bd. 60 [2001]: S. Horrer zum Asylbewerberleistungsgesetz, sowie der große Wurf „Europäischer Föderalismus", Bd. 57 [2000]). Die Reihe ist vorbildlich (der gute Herausgeber ist übrigens als solcher mit sich selbst durchaus zufrieden (vgl. seine Tübinger Rede vom 8. Nov. 1999). Es lohnte einmal, Möglichkeiten und Grenzen gestaltender Kraft von Herausgebern im Öffentlichen Recht grundsätzlich zu untersuchen:

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Herausgeber von „Reihen", von Zeitschriften und Jahrbüchern etc., auch von Handbüchern. Das Pluralismus-Modell in Bezug auf Themen, Methoden und Autoren ist dabei m.E. eine wissenschaftstheoretische Maxime! Erwähnt sei Wolfgangs Kunst, inhaltsreiche Briefe zu schreiben, hier K. Hesse und K. Eichenberger, früher Peter Saladin vergleichbar. Freilich kann es hier auch zu kleinen Widersprüchen kommen: Wolfgang schrieb mir Ende 2000 einen Brief mit dem Klammerzusatz: Jürgen (Schwarze) hat sich nun auch durch den Reisbrei seines Kommentars hindurch gegessen". Einige Monate später lese ich eine zu Recht uneingeschränkt positive Rezension eben dieses Kommentars! (JZ 2001, S. 703). Wolfgangs Tischreden bringen es mitunter zu geflügelten Worten. Mindestens zitiert er solche. Vor allem aber beherrscht er die Kunst der Freundschaft, zusammen mit Frau Hildegard und mit Jürgen Schwarze. Obwohl wir sehr verschieden sind, in Herkunft, Methoden, Konzeptionen und Zukunft, war er mir gegenüber fast immer nachsichtig; ich brauchte diese Nachsicht wohl auch gelegentlich. Er wies mich selten tadelnd zurecht (nur einmal, als ich die Ungehörigkeit des Verhaltens eines Kollegen rügen wollte: Mai 1999). So soll diese kleine Rede auch Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Wolfgang und Hildegard verstehen es, sich jedem im Kreis der Freunde auf ihre - seine - Art zuzuwenden - wie Werner von Simson, der so stolz auf ihn war - und gewiss noch ist. Auf die Festschrift freilich muss der Jubilar noch lange warten, erst in 10, dann 20, dann 25 Jahren sollten seine Schüler und gewiss auch wissenschaftliche Enkel eine solche herausgeben: als „Uber amicorum". Ad multos a η nos!

Gentechnische Entgrenzung des Menschenbildes? Von Tatjana Geddert-Steinacher;

Stuttgart

I. Einleitung: Die Fackel des Prometheus - gestern u n d morgen Die Gentechnik greift über den Horizont der modernen Technikentwicklung hinaus und erfasst die physische Basis menschlicher Existenz. Die Fackel, die Prometheus den Göttern stahl, steht für die Befreiung von den Fesseln der Naturgewalten. Der Mensch baute Hütten und Städte, linderte, wie es im trotzigen Prometheus-Hymnus heißt, „die Schmerzen" der mit der Last schwerer Arbeit „Beladenen", stillte „die Tränen" der „Geängstigten". Kultur, Geschichte und Technik sind Mittel der Emanzipation des Menschen im normativen Sinne. Autonomie ist das zentrale Paradigma des modernen Menschenbildes des westlichen Kulturkreises, Immanuel Kant sein Hohepriester. Künftig aber formt nicht länger nur der Schöpfergott den Menschen aus Lehm nach seinem Bilde. Die Gentechnik erlaubt dem Menschen selbst den Zugriff auf die Grundlagen seines biologischen Seins. Nicht dem Gott, nicht der „allmächtige(n) Zeit" oder dem „ewige(n) Schicksal" sollen sich morgige Generationen verdanken, wie es bei Goethe weiter heißt, sondern der planenden Vernunft ihresgleichen, dem genetisch fixierten Programm eines Dritten. Die Identität des Einzelnen als Mitglied der Gattung Homo sapiens steht auf dem Spiel, so die Habermassche These1, wenn die Grenze zwischen dem Unverfügbaren (dem „Gewordenen") und dem Manipulier- und Verwert1

Die Zukunft der menschlichen Natur, 2001.

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Tatjana Geddert-Steinacher

baren (dem „Gemachten") durch immer neue biotechnische Eingriffe verschoben wird. Die Erkenntnis, class Menschen autopoetische, sich selbst entwerfende Wesen sind, erhält eine neue Dimension. Beginnt der mündige Mensch, sich als Ausgangsstoff für die Um- und Neuschöpfung seiner Gattung zu betrachten, „berührt" er „mit dem Scheitel die Sterne" und beginnt sich „mit Göttern" zu „messen"2. Die rekonstruierende Selbstreflexion im Rahmen vorgefundener Natur wird zum Schöpfungsakt. Der gentechnische Zugriff auf die biologische Basis des Menschen scheint die alteuropäische Überzeugung in Frage zu stellen, nach der alle Personen den gleichen normativen Status besitzen, da keiner vom anderen in existentieller Weise abhängig ist. Bedarf es einer neuen Gattungsethik, um Freiheit und Gleichheit und damit die normative Basis von Demokratie und Menschenrechten zu bewahren? Oder erweist sich das abendländische Konzept der normativen Subjektivität gerade auch dann als belastbar, wenn die Menschheit dabei ist, sich mit den Mitteln der Gentechnik „vom Subjekt zum Projekt" zu machen? Ob sich die Konturen „des Menschenbildes" des Grundgesetzes und dessen konzeptioneller Kern, der Menschenwürde, ihrer „gentechnischen Entgrenzung" im Sinne einer Destrukturierung widersetzen - mein Thema in diesem Einführungsreferat - , kann nur bezogen auf den jeweiligen Lebenssachverhalt beantwortet werden. Dabei gilt es zum einen, die normativen Maßstäbe präzise zu bestimmen, und zum anderen, die naturwissenschaftlichen und medizinischen Grundlagen ebenso wie den sozialen und ökonomischen Kontext zu erschließen, ohne die normative Perspektive aufzugeben. Der Doktorvater, Graf Vitzthum, fordert diese disziplinierte Arbeit am Lebenssachverhalt stets so geduldig wie unnachgiebig ein. Wir alle, unsere Arbeiten, die Übungen und Seminare, die wir bestritten, und zumal unser generelles Urteils- und Entscheidungsvermö-

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]. W. von Goethe, Grenzen der Menschheit. - In diesem Gedicht spricht freilich die ihrer Schwäche und Vernichtung gewisse Person, nicht - wie in „Prometheus" - das sich auflehnende, entgrenzte Ich.

Gentechnische Entgrenzung des Menschenbildes?

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g e n haben v o n dieser A u f f o r d e r u n g zur „empirischen B e f u n d nähme", w i e er es i m m e r nennt, profitiert. A u f diesem m e t h o d i s c h e n Pfad g i n g Graf V i t z t h u m selbst voran, nicht nur i n seiner Dissertation u n d seiner Habilitationsschrift 3 , sondern auch i n seinem häufig zitierten, fast schon z u m Klassiker avancierten Aufsatz „ D i e M e n s c h e n w ü r d e als Verfassungsbegriff" 4 . D i e Stafette der G r u n d - u n d Menschenrechte hatte er v o n Altmeister Günter D ü r i g ü b e r n o m m e n , dessen Tübinger Funktionsnachfolger er w u r d e . Das v o n Christentum, H u m a n i s m u s u n d A u f k l ä r u n g geprägte K o n z e p t der Menschenwürde^ als verfassungsrechtliches Zentralprinzip t a i g Graf Vitzt h u m an die gentechnisch präformierten „Grenzen des Rechts" 6 U m diesen T h e m e n k r e i s geht es n u n .

i Der Rechtsstatus des Meeresbodens, 1972 („Teil I: Der naturwissenschaftliche und wirtschaftliche Sachverhalt", „Teil II: Der Rechtsstatus des Meeresbodens"); Parlament und Planung, 1978 („Erster Teil: Die politische Planung als Aktionstechnik", Zweiter Teil: Die politische Planung zwischen Bundesregierung und Bundestag"). 4 JZ 1985, 201 ff. ^ Vgl. Graf Vitzthum, Die Spur verfolgen, wo er seinen Weg nahm, in: Lerche u.a., Zum Gedenken an Professor Dr. iur. Günter Dürig, 1999, S. 40 ff., 47 ff. 6 Vgl. Bundesminister für Forschung und Technologie (Hg.), Die Erforschung des menschlichen Genoms, 1991, S. 141 ff. („Moral und Recht"). Dieser Abschnitt des Kommissionsberichts (Vorsitzender: F. Böckle) stammt aus der Feder von Graf Vitzthum (und markiert gewissenhaft die „Grenzen des Rechts", hier: gegenüber dem „Territorium" der Moral, bezogen auf Bewertungen im Bereich der Genomanalyse). Dazu auch Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, Rechtstheorie 20 (1989), S. 190 ff. Die Unterscheidung von Recht und Ethik verdankt bekanntlich Kant (Metaphysik der Sitten; Rechtslehre) wesentliche Akzente; auf ihn geht auch das Begriffspaar (Moralität/Legalität zurück. Es impliziert nicht eine Preisgabe der Idee der (auch) ethischen Verbindlichkeit des Rechts.

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Tatjana Geddert-Steinacher

Π. Der Zugriff auf das Genom: tour d'horizont des Befundes und der Debatte 1. Diagnostische Eingriffe am Beispiel der Präimplantationsdiagnostik Die Präimplantationsdiagnostik (PID) erlaubt es, genetisch bedingte Krankheiten bereits am künstlich erzeugten Embryo in vitro, also außerhalb des Mutterleibes, zu erkennen. Bei diesem Verfahren pränataler Fehlbildungsdiagnostik mit möglicherweise sich anschließendem Schwangerschaftsabbruch werden dem weiblichen Eierstock nach hormoneller Stimulation reife Eizellen entnommen und außerhalb des Uterus befruchtet, so dass mehrere Embryonen entstehen. Diesen frühen Embryonen entnimmt man Zellen und untersucht sie kritisch im Hinblick auf etwaige Gendefekte. Während dies bis vor wenigen Jahren omnipotente Zellen sein mussten, die damit ihrerseits bereits als (Früh-)Embryonen zu qualifizieren waren, werden heute nur noch pluripotente Zellen entnommen. Im Gegensatz zur omni- oder totipotenten Zelle besitzt die pluripotente nicht die Fähigkeit sich zu einem selbständigen Individuum zu entwickeln. Die Entnahme von ein bis zwei Zellen ist für die weitere Entwicklung des Embryos unschädlich. Nur diejenigen Embryonen werden dann zum Transfer ausgewählt und in die Gebärmutter eingesetzt, die keine genetischen Defekte aufweisen; die anderen werden im Einverständnis der (erbbelasteten) Eltern vernichtet. Diagnostiziert werden Krankheiten, die mit schweren Behinderungen oder frühem Tod verbunden sind, etwa Duchensche Muskeldistrophie, Mukoviszidose oder Trisomie 21. Bislang sind lediglich Krankheiten diagnostizierbar, deren genetische Ursache nur in wenigen Genen lokalisiert ist. Genetisch multifaktorielle Krankheiten oder komplexe Eigenschaften wie Intelligenz oder motorische Begabung lassen sich nicht erkennen. Die PID soll Elternpaaren, die eine genetische Disposition zu einer der diagnostizierbaren schweren Krankheiten haben, einen Schwangerschaftsabbruch ersparen bzw. ihnen bei bestehenden genetischen Risiken die Entscheidung für ein Kind er-

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möglichen. Die Frage, inwieweit das Embryonenschutzgesetz (Esch© dieses Verfahren bereits de lege lata verbietet oder eine - zu schließende oder zu tolerierende - Schutzlücke enthält, ist Gegenstand heftiger rechts- und gesellschaftspolitischer Kontroversen. Nach § 2 EschG7 macht sich nur derjenige strafbar, der einen extrakorporal erzeugten Embryo „zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck ... verwendet". § 2 EschG enthält insoweit ein Absichtselement. Betrachtet man die Geburt eines nicht geschädigten Kindes als Ziel von Arzt und Elternpaar, fehlt es an der erforderlichen Motivlage. Die Entnahme nicht totipotenter Zellen zu Diagnosezwecken ist nach einer Gesamtbetrachtung lediglich ein notwendiger Zwischenschritt 8 . Die einschlägige Enquete-Kommission des Bundestags hielt jüngst dagegen das Unternehmensdelikt des § 1 Nr. 2 StGB für einschlägig. Überträgt der Arzt den Embryo nicht auf die Frau, sei dies als Unterlassung zu betrachten, die gem. § 13 StGB aktivem Tun entspricht. Selbst wenn man dieser Betrachtung folgt, bleiben hinsichtlich der Erfüllung des Absichtsmoments Zweifel an der Strafbarkeit. Während die Befürworter der PID auf Wertungswidersprüche im Hinblick auf die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs verweisen („stärkerer Schutz der Embryonen in vitro als derjenigen in vivo"), gilt die PID den Kritikern als unzulässige Selektion („Zeugung auf Probe"), verbunden mit der Gefahr eines bloßen Zuschreibens bzw. Gewährens von Rechten und Würde und damit der Verursachung („sehenden Auges") eines ethischen Dammbruchs 9 . Die Grenze der technischen Intervention 7

Gesetz zum Schutz von Embryonen 1990, BGBl. I S. 2746. Die (isolierte) pluripotente embryonale Zelle fällt nicht unter das Gesetz. Die entsprechende PID ist kein verbotenes Klonen. Eingehend Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, 2001. 8 Neidert, Das überschätzte Embryonenschutzgesetz - was es verbietet und nicht verbietet, ZRP 2002, 467 ff. (470). 9 Vgl. Picker, Menschenwürde und Menschenleben, in: Festschrift für Werner Flume, 2000, S. 155 ff.; Böckenförde/ Spaemann (Hg.), Menschenrechte und Menschenwürde, 1987, S. 295 ff. (Beitrag Spaemanri)\ Starck, Die künstliche Befruchtung beim Menschen. Gutachten für den 56. DJT, Bd. I, 1986; Laufs, Fortpflanzungsmedizin und Menschenwürde, NJW 2000,

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werde nur scheinbar respektiert. Der Embryo verliere seinen Status der Unverfügbarkeit, das Menschenbild werde im Hinblick auf unerwünschte „Normabweichungen" bereinigt. Das Selektieren von Embryonen verletze diese in ihrer personalen Würde. Auch menschlichem Leben in der Petrischale komme der Schutz der Garantie der Menschenwürde unci damit des Lebensrechts zu. 2. Wissenschaftliche Forschung an adulten und embryonalen Stammzellen Ein zweiter, die öffentliche Diskussion über Monate hin beschäftigender Sachverhalt ist die Forschung an Stammzellen sowie deren therapeutische Nutzung. Embryonale Stammzellen (ES), stem cells, sind totipotente Zellen 10 . Sie können sich mit Hilfe von Wachstumsfaktoren in vielfältige Gewebetypen ausdifferenzieren, seien es Blut-, Nerven- oder Muskelzellen. Sie sind aber nicht ganzheitsfähig, d.h. sie können kein komplettes Individuum ausbilden. Es bietet sich daher an, diese Zellen für Gewebeersatztherapien zu nutzen, vor allem dort, wo beim erwachsenen Menschen nur ein äußerst eingeschränktes oder gar fehlendes Regenerationsvermögen besteht. Dies trifft besonders zu für das Nervensystem sowie für Herzmuskel- und insulinbildende Zellen. Aus ES-Zellen gewonnene Gewebe führen allerdings zu immunologischen Abstoßungsreaktionen. Diese ließen sich lediglich vermeiden, wenn körpereigene adulte Stammzellen eingesetzt werden, wie sie etwa im Nabelschnurblut, im Knochenmark oder im Körperfett des Menschen zu finden sind. Diese Zellen weisen allerdings eine dramatisch niedrigere Vermehrungsfähigkeit auf als ES, so dass ihr thera2716 ff. Zum aktuellen biopolitischen Diskurs überwiegend kritisch Geyer (Hg.), Biopolitik, 2001, und Isensee, Die alten Grundrechte und die biotechnische Revolution, in: Festschrift für Hollerbach, 2001, S. 243 ff. 10 Das Embryonenschutzgesetz untersagt, Stammzellen aus in vitro erzeugten Embryonen zu gewinnen. Nicht unter das Gesetz fällt die (isolierte) pluripotente ES. Deren Einfuhr aus dem Ausland und die Forschung an ihr stünde an sich offen - wenn der Gesetzgeber nicht, wie geplant, Gegenteiliges beschließt.

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peutischer Einsatz oft nicht möglich ist oder zu spät kommen würde 1 1 . ES sind ideale Objekte für das Erforschen der Prozesse der Gewebedifferenzierung und des Zellwachstums, da sich praktisch jedes beliebige Gen entfernen, ersetzen oder modifizieren lässt. Es können therapeutisch bedeutsame Gene eingefügt, aber auch gezielt solche Gene ausgeschaltet werden, deren Produkte an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sind. Besonders die Krebsforschung setzt große Hoffnung in die Forschung an und mit ES. Therapeutische Zielrichtung ist es, die aus der ES-Forschung gewonnenen Erkenntnisse über die Faktoren, die die Vermehrungsfähigkeit der Zellen steuern, zu nutzen, um adulte Stammzellen proliferationsfähiger zu machen und so maßgeschneiderte immunverträgliche Gewebe zu erhalten. Weniger die Forschung und therapeutische Nutzung der ESZellen selbst als - natürlich - deren Gewinnung aus Embryonen im Reagenzglas wirft schwierige ethische und verfassungsrechtliche Fragen auf. Stammzellen werden aus dem Inneren der Morula gewonnen, aus etwa vier Tage alten menschlichen Embryonen also, die nach diesem Eingriff absterben. In Deutschland ist die ES-Gewinnung verboten. Im Ausland werden überwiegend „überzählige", d.h. bei der künstlichen Befruchtung nicht mehr benötigte Embryonen verwendet, die ohnehin verworfen werden müssten 12 . Das vom britischen Parlament dar11

Eine verfassungsrechtlich wie ethisch problematische Strategie zur Lösung des Problems der Gewebeverträglichkeit ist das therapeutische Klonen. Dabei wird der Kern einer Körperzelle des Patienten in ein entkerntes weibliches Ei transferiert. Dem entstehenden Embryo werden dann Stammzellen entnommen, mit deren Hilfe autologes Gewebe gewonnen werden kann. Das Embryonalstadium ist bei diesem Verfahren also notwendiges Durchgangsstadium. Vgl. auch Taupitz, Der rechtliche Rahmen des Klonens zu therapeutischen Zwecken, NJW 2001, 3433 ff. 12 Zu Rechtsfragen bzgl. der sog. Überzähligen Embryonen, d.h. solchen, die zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nicht mehr verwendet werden, bereits Graf Vitzthum, Das Verfassungsrecht vor der Herausforderung von Gentechnologie und Reproduktionsmedizin, in: Braun u.a. (Hg.), Ethische und rechtliche Fragen der Gentechnologie und der Reproduktionsmedizin, 1987, S. 263 ff. (274-284).

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über hinaus für zulässig erachtete Herstellen von Embryonen für Forschungszwecke hielt der gerichtlichen Überprüfung nicht stand. Die ES-Gewinnung ist embryonenverbrauchende Forschung, so dass sich wie schon beim therapeutischen Klonen 13 die Frage nach dem verfassungsrechtlichen und moralischen Status früher Embryonen erneut und mit größerer praktischer Dringlichkeit stellt. Wird hier der Rubikon zur Vernutzung, gar Kannibalisierung menschlichen Lebens überschritten? Oder rechtfertigen es hochrangige Forschungsziele, zumindest die Embryonen zu nutzen, die keine Chance auf individuelle Entwicklung haben? 3. Reproduktives Klonen als Individualitätsund Identitätsverlust? Das Klonen von Menschen nach dem Vorbild des Schafes „Dolly" ist der Bereich, dessen wissenschaftliche Fragwürdigkeit ebenso groß ist wie sein symbolisches Potential. Das reproduktive Klonen stand bislang nicht auf der forschungs- und medizinpolitischen Agenda, da es weder sinnvoll ist noch mit vertretbarem Aufwand und vertretbaren Verlusten betrieben werden kann. Mehr als 200 fehlgeschlagene Schwangerschaften und diverse nicht lebensfähige, missgebildete oder kranke Klone waren der Preis des wissenschaftlichen Erfolges im Fall „Dolly" 1 4 . Die ufogläubige Klonsekte der „Raelisten" will die Welt nun eines „Besseren" belehren und behauptet, im Dezember 2002 sei das erste Klonbaby geboren worden, weitere würden für 2003 erwartet. Ziel der „Raelisten" ist es, individuelles Leben 13

S.o. Fn. 10. International setzt sich Deutschland für Verhandlungen ein, die in eine Konvention gegen das reproduktive Klonen münden soll. Für alle weitergehenden Regelungen gibt es derzeit ohnehin keine Konsenschancen. 14 Das Klonschaf „Dolly" litt bereits in jungen Jahren an zahlreichen Verschleißerscheinungen und Alterskrankheiten, insbesondere Arthrose. Die Klone scheinen, so wird diskutiert, das genetische Alter der Spenderzellen zu erben. Anders als bei Keimzellen werden Zellschäden bei Spenderzellen nicht repariert.

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durch K l o n i e r u n g unsterblich zu machen u n d i n einem weiteren Schritt das Bewusstsein, die Kenntnisse u n d Erfahrungen des gealterten M e n s c h e n v o r dessen T o d auf e i n e n rechtzeitig zu schaffenden K l o n zu übertragen 1 5 . Angesichts dieses Szenarios w i r d die Gefahr der M e n s c h e n z ü c h t u n g 1 6 u n d eines gentechnisch b e d i n g t e n Verlustes v o n Individualität u n d Identität n u n m e h r i n der öffentlichen Debatte als Menetekel einer kopernikanischen Wende des Menschenbildes beschworen. W i r d der Mensch i m Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit selbst zu deren Objekt, so d r o h t i h m das gleiche Schicksal w i e d e m technisch vervielfältigten K u n s t w e r k b e i Walter Benjamin: der Verlust der historischen Einmaligkeit, der identitätsstiftenden Aura des Unikates, der „Echtheit". Träte uns das P h a n t o m des Spiegelbildes leibhaftig gegenüber, verspürten w i r e i n Gefühl existentiellen Unbehagens, w i e es Annette v o n Droste-Hülshoff s c h o n i m 19. Jahrhundert p o e t i s c h 1 7 fasste: Wo zwei Seelen wie Spione sich umschleichen, flüstert man: Phantom, du bist nicht meinesgleichen ... Ja trätest aus Kristalles Rund, Phantom, du lebend auf den Grund, Nur leise zittern würd ich, und Mich dünkt - ich würde um dich weinen.

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Bartens, Es schwingt der Gen-Code, Die Zeit vom 2.1.2003, S. 25. Dazu bereits Wagner{Hg.), Menschenzüchtung, 1969; ders., Die Wissenschaft und die gefährdete Welt, 2. Aufl. 1964, S. 225 ff. 17 Zu Graf Vitzthums literarischen, seine juristische Professionalisierung flankierenden Befundnahmen und Grenzerfahrungen (auch hinsichtlich des Verständnisses der Sprache) vgl. Jens/Graf Vitzthum, Dichter und Staat, 1991; Graf Vitzthum, Stefan George und der Staat, in: Festschrift für M. Heckel, 1999, S. 915 ff.; ders., Staatsdichtung und Staatslehre, NJW 2000, 2138 ff. - Seit 1999 ist Graf Vitzthum Stellv. Vorsitzender der Stefan-GeorgeGesellschaft - „der Höhepunkt meiner Karriere", so sein Kommentar. Für 2004 organisiert er mit Böschenstein, Egyptien und Schefold das Symposion „Wissenschaftler im George-Kreis" - eine weitere Grenzüberschreitung? Vielleicht auch ein mittelbares Anknüpfen an Frontierserlebnisse während seines Studiums in Princeton (Begegnung mit Erich Kahler) und New York (bei Wolfgang Friedmann) und der Assistenz in Kalifornien (bei Elisabeth Mann Borgese)? In Tübingen wagte er Grenzgänge als Referent im Seminar des Germanisten Paul Hofmann und als Disputant mit Walter Jens. 16

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Vermag das „akzeptierte Grundgesetz" (Dürig) mit seinen Leitsternen „Menschenbild" und „Menschenwürde" Orientieaing zu geben, oder werden diese - so ja meine Titelfrage - „gentechnisch entgrenzt"? Halten die normativen Maßstäbe, wenn Forschungseingriffe großen medizinischen, sozialen und ökonomischen Nutzen versprechen, wenn der technische Zugriff gar auf die biologische Basis von Freiheit, Gleichheit und Solidarität möglich erscheint? Machen wir im Folgenden die Probe aufs gentechnische Exempel!

III. Grundgesetzliche Grenzen der Präimplantationsdiagnostik u n d der Stammzellforschung 1. Das Recht auf Leben: Schutzpflichten und Schutzbereiche Sowohl die PID als auch die ES-Gewinnung tangieren, wie gesagt, die Belange menschlicher Embryonen in vitro. Während die PID die mit genetischen Defekten behafteten Embryonen zwar zunächst ins Leben ruft, ihnen dann aber nicht zu weiteren Entwicklungschancen verhilft, verlangt die ES-Gewinnung ein Opfer von Embryonen. Für beides bildet damit der verfassungsrechtliche Status früher menschlicher Embryonen eine Schlüsselfrage. Prüfungssystematisch stellt sie sich aus der Perspektive der Schutzpflicht des Staates. Die Verantwortung des Staates ist eine wesentliche Prämisse des juristischen, zumal staatsrechtlichen Diskurses. Mag sich die Ethik im Labyrinth der pluralistischen Werte und neuartigen Lebenssachverhalte auch nur tastend bewegen - der demokratisch legitimierte Gesetzgeber ist im Verfassungsstaat verpflichtet, Grenzziehungsentscheidungen da zu treffen, wo Grundrechte gefährdet erscheinen. Die Frage, ob sich der Gesetzgeber schützend vor das Leben früher Embryonen stellen muss, ist im Rahmen einer mehrstufigen Prüfung zu beantworten (schulmäßige Disziplin in diesen Fragen ist für alle Vitzthum-Schüler und -Schülerinnen Pflicht). Im Einzelnen geht es um folgende Schlüsselfragen:

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- Sind menschliche Embryonen in den Schutzbereich des Grundrechts auf Leben einbezogen? - Stellt die ES-Gewinnung einen Eingriff dar? Worin liegt ggf. die Eingriffsdimension der PID? - Können diese Eingriffe ggf. durch Belange gerechtfertigt werden/ die ihrerseits verfassungsrechtlichen Rang genießen, etwa durch die Forschungsfreiheit oder die Gesundheitsinteressen Dritter? Das in Art. 2 Abs. 2 GG gewährleistete Recht auf Leben ist nicht absolut geschützt. Es kann aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Anders als die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) ist sein Lebensrecht also nicht „unantastbar". Es unterliegt der Abwägung mit konkurrierenden, ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern. Die Grundrechtsdogmatik unterscheidet hinsichtlich des Schutzbereichs der Grundrechte zwischen dem personellen und sachlichen sowie dem subjektiven und objektiven Schutzbereich. Schutzgut des Art. 2 Abs. 2 GG ist das „menschliche Leben". Ob auch das vorgeburtliche Leben bzw. die frühen extrakorporal existierenden Entwicklungsstadien von diesem Verfassungsbegriff erfasst sind, ist eine Frage der Grundrechtsinterpretation 18 . Art. 2 Abs. 2 GG verweist mit dem Begriff des „Lebens" auf die Ebene des allgemeinen Begriffsverständnisses sowie der Biologie. Beginn und Ende artspezifischen menschlichen Lebens sind auch naturwissenschaftlich umstritten. Historisch sollte die Frage des Schwangerschaftsabbruchs auf der Ebene der Verfassung wohl bewusst offen gehalten werden. Regelungszweck und -Zusammenhang des Art. 2 Abs. 2 GG sprechen freilich dafür, dass dem Recht auf Leben schon auf-

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Dabei sind grammatische, historische, systematische, teleologische bzw. normfunktionale Gesichtspunkte heranzuziehen. Zudem kommt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine herausragende Rolle zu, mögen seine Judikate auch ihrerseits - und zumal die zum Schwangerschaftsabbruch - Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung (und rechtspolitischer Delegitimationsversuche) sein.

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grund seiner Funktion als „vitale(r) Basis der Menschenwürde" 19 ein umfassender verfassungsrechtlicher Schutz zukommen soll. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch steht auch das ungeborene menschliche Leben unter dem Schutz der Garantie der Menschenwürde 20 : Wo menschliches Leben existiert, komme ihm Menschenwürde zu. Offen gelassen hat das Gericht u.a. die Frage, ob der grundrechtliche Schutz erst mit der Einnistung des befruchteten Eies in die Gebärmutter (Nidation) beginnt oder bereits mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle21. Zum Zeitpunkt der ersten Abtreibungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts war davon auszugehen, dass die Schwangere erst nach der Nidation überhaupt Kenntnis von der Schwangerschaft hat und insofern erst dann ein grundrechtliches Schutzbedürfnis des Embryo bzw. ein strafrechtliches Sanktionsbedürfnis besteht. Die modernen Problemstellungen der in-vitro-Fertilisation und der Forschung an Embryonen hatte das Gericht noch nicht im Blick. Der Gesichtspunkt des effektiven Grundrechtsschutzes spricht angesichts der ausgedehnten Gefährdungslagen heute dafür, jedenfalls vom Zeitpunkt der abgeschlossenen Konjugation der Keimzellen an 2 2 von prinzipiell schutzwürdigem individuellen menschlichen Leben im Sinne des Art. 2 Abs. 2 GG zu sprechen. Von dieser Bestimmung des objektiven Schutzbereichs des Grundrechts ist die Frage nach seinem subjektiven Schutzbereich zu unterscheiden. Ob dem Nasciturus bzw. dem vorgeburtlichen menschlichen Leben bereits Subjektivität und Grundrechtsfähigkeit zukommt, hat das Bundesverfassungsgericht 19 Vgl. BVerfGE 39, 1 (42). Als Grundlage der Würde ist Leben, kantisch formuliert, Bedingung der Möglichkeit der Rechtsträgerschaft. Vgl. auch Fink, Der Schutz des menschlichen Lebens im Grundgesetz, Jura 2000, 210 ff. 20 BVerfGE 39, 1 (41); 88, 203 (251 ff.). 21 BVerfGE 88, 203 (251). 22 Kernverschmelzung = Lebensbeginn, so bereits Graf Vitzthum, Gentechnologie und Menschenwürde, MedR 1985, 449 ff.; ders., Menschenwürde und Humangenetik, Universitas 41 (1986), 810 ff.; ders. (Fn. 12), S. 276 ff.

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bislang nicht entschieden. In der Literatur wird die Frage ganz überwiegend bejaht, zumal das subjektive Recht Voraussetzung für eine Individualklage bzw. Verfassungsbeschwerde ist und damit die Durchsetzung der staatlichen Schutzpflicht nicht auf die Normenkontrollverfahren begrenzt. Die Frage konnte aus der Sicht des Gerichts in den entschiedenen Normenkontrollfällen offen bleiben, da sie für das Bestehen einer staatlichen Schutzpflicht nicht konstitutiv ist und damit verfahrensrechtlich irrelevant war. Die Schutzpflicht wird bekanntlich aus der objektiv-rechtlichen Dimension des Grundrechts abgeleitet. Eine Koppelung mit dem subjektiven Abwehrrecht ist also nicht erforderlich, um das Rechtsgut beliebiger Verfügbarkeit durch Dritte zu entziehen und eine Abwägungspflicht des Staates zu begründen. Auf der Abwägungsebene und bezüglich der Frage des Umfangs des zu gewährleistenden Schutzes kann das Vorhandensein von Subjektqualität hingegen für die Tragfähigkeit von Differenzierungen und Schutzabstufungen bedeutsam sein. Wird die Schutzwürdigkeit des Embryo mit seinem Subjektstatus verbunden, sind diagnostischen wie forschenden Eingriffen engere, „kategorische" Grenzen gesetzt. Objektiver und subjektiver Schutzbereich der Grundrechte sind nicht zwingend deckungsgleich. Ersterer kann Rechtsgüter umfassen, die nicht individuell und konkret bestimmten Grundrechtsträgern zugewiesen werden können. Omnipotente menschliche Embryonen sind noch nicht individualisiert (anders als spätere Embryonen und entwickelte Menschen). Sie sind in ihrer Entfaltungsmöglichkeit in existentieller und situativ gefährdeter Weise abhängig von der Schwangerschaft bzw. von einem Organismus außerhalb ihrer selbst. Der Uterus der Frau stellt nicht lediglich ein die Entwicklung stützendes Nährmedium zur Verfügung; er beeinflusst vielmehr auch, wie man heute umfassender als früher weiß, die Entwicklung des Embryo in einem intensiven interaktiven Prozess. Definiert man die personale Potentialität des Embryos, etwa mit dem Vizepräsidenten der DFG, Rüdiger Wolfrum, dualistisch 23 , d.h. in doppelter Weise 23 Vgl. die aktuelle DFG-Stellungnahme zum Problemkreis „Humane embryonale Stammzellen".

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bedingt durch das genetische Entwicklungsprogramm wie auch die Schwangerschaft, fehlt dem Embryo im Reagenzglas eine dieser Komponenten. Dies stellt ihn freilich nicht schutzlos. Auch ohne Subjektqualität zu besitzen, bleibt er als artspezifisch menschliches Leben in den objektiven Schutzbereich des Rechts auf Leben einbezogen. Das Recht auf Leben steht, wie gesagt, unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Dies bedeutet einerseits, dass nicht jeder Eingriff, der ja im Fall des „Verbrauchs" des Embryos zu einem Totalentzug des Lebensrechts führt, unzulässig ist. Andererseits sagt der Gesetzesvorbehalt nichts aus über die Intensität des Grundrechtsschutzes. Die Anforderungen an die Rechtfertigung des Eingriffs ergeben sich vielmehr aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, bezogen auf die konkrete Konfliktlage. Der Eingriff in das frühe menschliche Leben in der Petrischale kann daher anders zu bewerten sein als der Schwangerschaftsabbruch oder der Eingriff in das Lebensrecht bereits geborener Menschen. Dies ist nicht Ausdruck unterschiedlicher Schutzwürdigkeit, sondern Konsequenz der konkreten Abwägung der konkurrierenden Belange. Der früh verstorbene, unvergessene Strafrechtler Rolf Keller 24 entwickelte die Dogmatik des gestuften Grundrechtsschutzes im Diskurs in einem der ersten „Doppelseminare" Graf Vitzthums, die inzwischen zum Markenzeichen geworden sind. Das Dilemma der kategorischen Einbeziehung vorgeburtlichen Lebens in den Schutzbereich von Menschenwürde und Grundrechten wird nach der Konzeption des gestuften Lebensschutzes vermieden. Die kategorische Gleichstellung von vorgeburtlichem und geborenem Leben wird aufgegeben, das vorgeburtliche Stadium aber dennoch nicht schutzlos gestellt. Die Intensität des Schutzes soll freilich abgestuft werden nach dem jeweiligen Entwicklungsstadium 25 .

Ders., Beginn und Stufungen des menschlichen Lebensschutzes, in: Günther/Keller (Hg.), Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik, 2. Aufl. 1991, S. 111 ff. 2S Dreier, Stufungen vorgeburtlichen Lebensschutzes, ZRP 2002, 377 ff.

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Auch der provokative Vorstoß des früheren Inhabers des Tübinger Lehrstuhls für Ethik in den Wissenschaften und späteren „Bundeskulturministers" will als Konzeption eines gestuften Lebensschutzes verstanden werden: Frühen Embryonen komme keine Menschenwürde zu, da sie zu Selbstachtung nicht fähig seien. Diesen frühen Stadien menschlichen Lebens komme aber dennoch ein ethischer Status zu, wenn auch nicht der, den die rechtliche Fundamentalnorm der Menschenwürde verleihe. Anders als das normative System des Rechts konkurrieren im System der Ethik mehrere Normen 26 . Wer das Paradigma der kategorialen Gleichwertigkeit aller Stadien menschlichen Lebens aufgibt, muss sich zum einen dem Problem der präzisen Definition der Entwicklungszäsuren und der jeweiligen Begründung der Intensität des gebotenen Schutzes stellen. Noch grundlegender stellt sich die Frage der normativen Anknüpfung des gebotenen rechtlichen (oder auch nur ethisch verantwortbaren) Schutzes. Soll der Status vorgeburtlichen menschlichen Lebens dem des Tierschutzes - nach oder gar nur vor seiner Aufnahme als Staatszielbestimmung - entsprechen, also allein im Rechtsstaatsprinzip und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wurzeln? Kaum einer der Autoren wagt sich zu dieser Konsequenz klar zu bekennen 27 . Nida-Rümelins interpretatorisches Abfallen von der kontrafaktischen Anerkennung der Menschenwürde gibt zugleich eine wichtige Bastion der seit langem von Karlsruhe kanonisierten transzendental-ethischen Interpretation der Menschenwürde auf: Auch und gerade dem Behinderten, dem Kranken, dem, der seine Würde verloren oder aufs Spiel gesetzt hat, kommt der Achtungs- und Anerkennungsanspruch des Art. 1 Abs. 1 GG zu.

26 Nida-Rümelin, Wo die Menschenwürde beginnt, Der Tagesspiegel v. 3.1.2001, sowie ders., Humanismus ist nicht teilbar, SZ v. 3.2.2001, abgedruckt auch in: Nida-Rümelin (Hg.), Ethische Essays, 2002, S. 405 ff. (463 ff.). 27 Dreier; Große Würde, kleine Münze, FAZ vom 5.7.2001, S. 8. Vgl. aber Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 2002, S. 112 (nur einfachgesetzlicher, kein grundrechtlicher Schutz des Embryo).

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Diese historisch bitter erfahrene Notwendigkeit und normative Gewissheit darf nicht ohne Not preisgegeben werden 28 . Dies gilt umso mehr, als sich ein differenzierter Lebensschutz auch innerhalb des kategorialen Systems des Grundrechtsschutzes und der Menschenwürde dogmatisch begründen lässt. Soll die prinzipielle Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens nicht aufgegeben werden, genügt es, frühe Entwicklungsstadien lediglich als artspezifisch menschliches Leben in den objektiven Schutzbereich der Grundrechte einzubeziehen, ohne ihnen zugleich den Status eines Rechtssubjekts zuzuordnen. Dies erlaubt Differenzierungen, die Abwägungsprozesse behalten aber zugleich ihre grundrechtsgeprägte Struktur und normative Anknüpfung. 2. Eingriffscharakter

der PID und der ES-Gewinnung?

Während die ES-Gewinnung den Embryo bekanntlich „verbraucht", führt die PID bei den aufgrund der Elternentscheidung und ärztlicher Intervention entstandenen Embryonen zum Verzicht auf den Transfer, wenn die Prognose „Schwerstbehinderung" lautet. Die nicht transferierten Embryonen sterben ab, sofern sie nicht konserviert werden. Die Zellentnahme als solche ist für den Embryo unschädlich, also kein Eingriff in sein Recht auf Leben. Wollte man das Absterbenlassen als Eingriff qualifizieren, setzte dies voraus, dass das Lebensrecht auch ein Recht auf Entwicklung umfasst. Die Entwicklungschance des Embryo ist freilich, wie beschrieben, existentiell und situativ fragil, bedingt u.a. durch den Organismus der Schwangeren. Die Chance des Embryo, sich zu entwickeln, könnte nur dann zu einem Recht erstarken, wenn ihr zugleich eine korrespondierende Pflicht der Schwangeren, dem Transfer zuzustimmen und das Kind auszutragen, zur Seite gestellt wird. Eine derartige Verpflichtung würde indes - nimmt man nur die vollstreckungs-

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Zur Diskussion die Beiträge von Nida-Rümelin, Spaemann, Gerhard, Merkel, Mittelstraß, Fey/Gothmann, Kuhlmannunâ Hesse, in: Nida-Rümelin (Hg.), Ethische Essays, 2002, S. 405 ff.

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rechtliche Dimension in den Blick - die Persönlichkeitsrechte der Frau sowie ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzen 29 . Besteht demnach kein Recht auf Transfer, fehlt es insoweit bereits an einem rechtfertigungsbedürftigen Eingriff. Nur wer etwa über den Gedanken einer durch vorangegangenes Tun begründeten Garantenstellung einen Anspruch auf Transfer der Embryonen konstruierte, käme zu dem Ergebnis, es liege ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff vor. Dies hätte dann auch systematische Konsequenzen für die Behandlung gesunder überzähliger Embryonen sowie für die Zulässigkeit von Nidationshemmern. Rechtspolitisch ist die Frage der verfassungsrechtlichen Bewertung der PID aber im umgekehrten Sinne aufzuwerfen. Sollte das Embryonenschutzgesetz die PID in Zukunft eindeutig verbieten, stellt sich die Verfassungsfrage aus der Perspektive des Abwehrrechts der Eltern als Anspruch auf informierte Elternschaft. Dogmatisch umstritten ist in jenem Kontext die Frage, ob die PID wegen der mit ihr verbundenen Selektionsentscheidung als Eingriff in die Würde des Menschen zu qualifizieren ist, obwohl wie erläutert, ein Eingriff in ein spezielles Grundrecht nicht vorliegt. Die Tübinger Tradition Günter Dürig/Graf Vitzthum lehnt dies ab: Die Würde des Menschen ist ein Rechtsprinzip, das nicht über eine gegenüber den Grundrechten überschießende Tendenz verfügt 30 . Ein staatlicher Angriff auf die Menschenwürde, der nicht bereits durch ein spezielles Grundrecht aufgefangen wird, ist in der Tat nicht denkbar.

29 Vgl. das in der Abtreibungsdebatte klassische Geiger-Beispiel von Thomson. 30 Vgl. Graf Vitzthum (Fn. 4), S. 203, z.B. für Art. 17 GG: Die spezielle Freiheitsgarantie verdrängt die Gewährleistung der Menschenwürde in die Subsidiarität; so etwa auch Höfling, Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, JuS 1995, 857 ff. (861 ff.). Vgl. auch Herdegen, Die Menschenwürde im Fluss des bioethischen Diskurses, JZ 2001, 773 ff.

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3- Forschungsfreiheit, Embryonenschutz und Menschenwürdegarantie Die ES-Gewinnung führt, wie gesagt, zum Absterben der verwendeten embryonalen Zellen. Anders als bei der PID wird der Embryo durch die ES-Entnahme also „verbraucht". Dieser Zugriff auf den frühen menschlichen Embryo bedarf nicht nur, soweit er in das Recht auf Leben eingreift, der Rechtfertigung; er kann vielmehr auch seinerseits den Schutz der Verfassung beanspruchen. Wissenschaftliche Forschung wird ausschließlich methodisch definiert, als gezielte, planmäßige Suche nach Wahrheit. Graf Vitzthum focht auf Seiten der sich entwickelnden („grünen" wie „roten") Gentechnik gegen ein ethisches Limitieren der Forschungsfreiheit und gewann zumindest nach (Literatur- und Kommentar-)Punkten. Ein stolzer Sieg, zumal auf der anderen Seite u.a. kein geringerer als Peter Lerche 31 stand. Wissenschaft und Forschung weisen in der Tat eine besondere Nähe zur Würde des Menschen auf. Auch und gerade sie sind Ausdruck seiner Vernunftbestimmung und der Offenheit der Zukunft. Art. 5 Abs. 3 GG sanktioniert diesen besonderen Status durch den Verzicht auf formelle Schranken. Die Forschungsfreiheit findet ihre verfassungsimmanenten Schranken bekanntlich besonders in den Rechtsgütern Dritter. Mit diesen ist sie im Kollisionsfall abzuwägen. Verfassungsrechtliche Abwägungen sind durch mehrere Elemente strukturiert. Zum einen werden die kollidierenden Rechtsgüter miteinander ins Verhältnis gesetzt - im Fall der Stammzellforschung das Lebensrecht früher Embryonen einer31 Ders., Verfassungsrechtliche Aspekte der Gentechnologie, in: Lukes/ Scholz (Hg.), Rechtsfragen der Gentechnologie, 1986, S. 88 ff. (93: „Was rechtfertigt es denn, das Forschungsprivileg als eine Art automatisches Einbruchswerkzeug zu verwenden?"). Dürig, Lerche und Graf Vitzthum stimmen hinsichtlich der (u.a. vor dem Horizont von Art. 79 Abs. 3 GG gebotenen) normativen Minimalisierung des Gehaltes des Art. 1 Abs. 1 GG überein (keine „kleine Münze!" [Dürig]) und natürlich auch darin, dass die Menschenwürde wegen ihrer Unantastbarkeit der Schrankenregelung bzw. Abwägung gänzlich entzogen ist. In letzterem Sinne (keinerlei Beschränkungsmöglichkeiten) etwa auch BVerfGE 75, 369 (380).

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seits und die Belange der Forschung sowie die therapeutischen Chancen von Patienten andererseits. Da es sich auf Seiten der „vernutzten" Embryonen um einen Totalentzug ihrer vitalen Basis handelt, konkret: um nichts weniger als ihre Vernichtung, kommt ein „Konkordieren" von Rechtsgütern im Sinne einer optimalen Grundrechtsverwirklichung für beide Seiten nicht in Frage, jedenfalls nicht bei individueller Betrachtung. Werden frühe Stadien menschlichen Lebens als gruppenspezifisch typisiertes Rechtsgut betrachtet, verlangt der Grundsatz praktischer Konkordanz jedenfalls, die Zahl der Eingriffe möglichst gering zu halten. Auch hochrangige Forschungsziele könnten den „Verbrauch" früher menschlicher Embryonen nicht rechtfertigen, wenn der Forschungseingriff weder geeignet noch erforderlich wäre. Hier trifft den Forscher eine Darlegungslast, die der Gesetzgeber in Gestalt rechtlicher Vorgaben einfordern muss. Das Ausschöpfen alternativer Erkenntnismethoden muss plausibel gemacht werden und durch Sachverstand kontrollierbar sein. Im Falle der Stammzellforschung ist das Vorliegen dieser Voraussetzungen im Hinblick auf das Potential der Arbeit mit adulten Zellen umstritten. Deshalb müsste zumindest im Einzelfall dargetan werden, welche konkreten Fragestellungen etwa der Embryonalentwicklung oder der Proliferationsfähigkeit von Zellen den Einsatz von ES erfordern. Dies gilt ebenso für die therapeutischen Ziele. Auch die ggf. fehlende weitergehende Aussagekraft von Tiermodellen ist detailliert für die konkrete Forschungsfrage darzulegen. Die Mittel-Zweck-Relation verlangt für die Zulässigkeit von Forschungseingriffen an Embryonen aufgrund der abstrakten Wertigkeit des Rechtsgutes Leben höchstrangige Zielsetzungen. Die Entwicklung von Kosmetika oder Wellnesspräparaten hätte deshalb keine rechtfertigende Wirkung. Die therapeutischen Ziele der Stammzellforschung sind demgegenüber in aller Regel auf die Linderung oder Heilung schwerster, bislang nicht therapierbarer Krankheiten gerichtet.

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4. Die Würde des Individuums und der Gattung als Abwägungsmaßstab? Bereits der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit führt zu einer Reduktion der letztlich am Maßstab der Menschenwürde zu messenden Konfliktfälle. Menschenwürde im Sinne des Grundgesetzes ist seinerseits ein unbestimmter, auslegungsbedürftiger Rechtsbegriff. In Literatur und Rechtsprechung werden unterschiedliche Würdekonzepte und Definitionsstrategien verfolgt. Bei evidenten Verletzungen eines elementaren Kernbereichs menschlicher Existenz verweist das Bundesverfassungsgericht auf einen unstreitig bestehenden Konsens, etwa beim Verbot grausamer Strafen oder im Hinblick auf die menschenverachtenden Verbrechen des Nationalsozialismus32. Die von Dürig schon im Jahr 1952 kartierte Strategie der Negativdefinition über den (konkreten) Verletzungstatbestand greift jedoch dann nicht, wenn eine solche Konsensbasis fehlt. Das Bundesverfassungsgericht verwendet in diesem Fall die Objektformel. Ihre Formulierung ist letztlich eine Adaption des (auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit begründeten) praktischen Imperativs Kants. Demzufolge widerspricht es der Würde des Menschen, den „konkretein) Menschen zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe" zu machen (Dürig). Der Mensch muss immer „Zweck an sich selbst" (Kant) bleiben. Er darf nicht einer Behandlung ausgesetzt werden, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt; andernfalls greifen die staatlichen Schutzpflichten - fällt etwas unter die Würdegarantie, ist es ja nicht einschränkbar, sondern muss vollumfänglich geschützt werden. Die Vitzthumsche JZ-Intervention des Jahres 198533 entdeckte bereits das Logo der jüngsten Debatte, die nunmehr von Haber-

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Nachweise bei Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990; Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997; Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1996. Vgl. bereits BVerfGE 1, 332 (347 f.); 30, 1 (25 f.); BayVerfGH, BayVBl. 1982, 47 (50). 33 S.o. Fn. 4.

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mas eingeforderte „Gattungsethik" 34 in ihrer normativen Konnotation als „Gattungsbegriff der Menschenwürde". Menschenwürde kommt nicht nur dem Einzelnen, sondern auch der Gattung Mensch zu, ist es doch die gemeinsame Spezieszugehörigkeit, welche die individuelle Würde im Sinne einer gegenseitigen Anerkennungsbeziehung begründet 35 . Kantisch gewendet: Wer den anderen verachtet, verachtet sich selbst, weil er die Gattungsgemeinschaft mit ihm nicht leugnen kann. „Kein vernünftiges Subjekt kann in seiner Weltorientierung umhin, einer solchen Gliederung zuzustimmen. Sie konvergiert in der Selbstachtung, in der alle Subjekte gleich sind ... - ein besonders starker Punkt der praktischen Philosophie Kants" 36 . Doch wie verhalten sich Würde des Individuums und Würde der Gattung zueinander? Ist es zulässig, den Gattungsbegriff der Menschenwürde gegen die individuelle Würde abzuwügen? Bereits die Benda-Kommission 37 leuchtete dieses Problemfeld aus. Auf die ES-Gewinnung gewendet: Die bei diesem Gewinnungsvorgang verwendeten spare embryos sind ursprünglich zu Zwecken der Implantation entstanden (seinerzeit, vor fast zwei 34 S.o. Fn. 1. Habermas fordert eine gattungsmäßige Einbettung von Moral und Menschenwürde. In Anlehnung an Kant beschreibt er die jeder Person zugestandene Autonomie als „Selbst-sein-Können", mit der „natürlichen Verfügbarkeit" als Voraussetzung. 35 Vgl. Graf Vitzthum (Fn. 5), S. 50: „Zur Anerkennung bedarf es keines Schöpfergottes oder Weltregenten, keiner Intersubjektivität (wie dies bei den Vertragsmodellen der Fall ist bis hin zur Hegeischen Dialektik von Herr und Knecht), keiner doppelten Anthropologie. Jeder Person, jedem Menschen muss ich die schlechthinnige Anerkennung der Würde zuteil werden lassen, weil ich sie für mich selber in Anspruch nehme." 36 Graf Vitzthum, ebd., S. 51. - Mit den Philosophen Rüdiger Bubner bzw. Otfried Höffe und dem Theologen Eberhard Jiingel veranstaltet Graf Vitzthum seit den späten 80er Jahren Oberseminare „an den Grenzen des Rechts", etwa zu Klassikern wie Hobbes, Rousseau, den Federalists und - mehrfach - Kant. 37 In-vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie. Bericht der gemeinsamen Arbeitsgruppen des Bundesministers für Forschung und Technologie und des Bundesministers der Justiz, 1985 (Vorsitzender: E. Benda); vgl. auch Benda, Erprobung der Menschenwürde am Beispiel der Humangenetik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1985, Β 3/85; Spiekerkötter, Verfassungsfragen der Humangenetik, 1989.

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Jahrzehnten, ging es - auch Graf Vitzthum - um die „überzähligen" Embryos in vitro, entstanden zwecks künstlicher Befruchtung); diese Embryos haben nunmehr keine individuelle Entwicklungschance. Ihr Würdestatus beruht im Kern jetzt auf ihrer Spezieszugehörigkeit. Von daher erscheint der Gedanke vertretbar, sie im Prozess des Absterbens hochwertigen Forschungszwecken zu opfern, die der Gattung Mensch zugute kommen. Ein Herstellen von Embryonen zu Forschungszwecken verstößt hingegen gegen die Menschenwürde. Menschliches Leben würde von Anfang an, schon in der Entstehung fremdnützigen Zwecken unterworfen. Anders als die potentielle Sinnstiftung eines ausweglosen Absterbensprozesses ist dies als unzulässiges Verfügen über fremdes menschliches Leben zu betrachten 38 , als Negation des mit der Natur des menschlichen Lebewesens verbundenen Vermögens des Subjektseins („Entwicklungsform als Subjekt" [Graf Vitzthum]).

IV. Schluss: Faktizität, Geltungsanspruch u n d Gestaltungsauftrag Angesichts gentechnischer Gefährdungslagen bewährt sich die Garantie der Menschenwürde aufgrund ihrer kontrafaktischen Konstruktion als Rechtsprinzip. Als Verfassungsbegriff formuliert die Würde des Menschen handlungs- und kommunikations38

Wäre es nicht auch ein völkerrechtlich fragwürdiger Grundrechtskolonialismus, würden die Wertungen des deutschen Verfassungsrechts durch ein Importverbot für ES durchgesetzt, die im Ausland mit Hilfe von in Deutschland verbotenen Methoden erzeugt worden sind? Der Grundsatz, die Wertentscheidungen anderer Rechtsordnungen zu respektieren, verweist zugleich auf adäquate institutionelle Wege internationaler Normbildung und -durchsetzung: völkerrechtliche Verträge und internationale Gerichte. - In diesem Zusammenhang wäre es lohnend, auch auf das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates von 1997 und den Entwurf eines - modifizierungsbedürftigen - Zusatzprotokolls über biomedizinische Forschung von 2001 einzugehen. Dazu Honnefelder u.a. (Hg.). Das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des Europarats, 1999; Taupitz, Die Menschenrechtskonvention zur Biomedizin, VersR 1998, 542 ff. ; Kamp, Die Europäische Bioethik-Konvention, 2000.

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theoretische Prämissen a priori. Die Normativität des Rechts ist alternativenlos, auch und gerade für das Projekt der Moderne. Bereits Dürig demonstrierte die schlichte und zugleich überlegene Funktion des kontrafaktischen Geltungsanspruchs der Menschenwürde. Gerade derjenige, der seiner Würde verlustig zu gehen droht, steht unter ihrem Schutz - der Behinderte, der Straftäter, der alte Mensch und eben auch der frühe (als „Zellhaufen" denunzierte) menschliche Embryo. Der „designte" Mensch des Habermasschen Szenarios mag in seiner Identitätsbildung noch so stark „gehandikapt" sein - die Verfassung erkennt auch ihm Würde und Personalität zu, um seiner Zugehörigkeit zur Gattung Mensch willen. In der einen oder anderen Form sind wir alle Objekt der historischen oder sozialen Verhältnisse, sehen uns Zwecken außerhalb unserer selbst unterworfen. Determination des Menschen („... und würd' er in Ketten geboren ...") hindert nicht die Geltung seiner Würde. Freiheit ist ein notwendiges Konstrukt menschlichen Handelns, selbst wenn sie sich als Fiktion erweist. Der Geltungsanspruch der Menschenwürde hindert freilich alles, was die kontrafaktische Aufrechterhaltung dieses Schemas prinzipiell in Frage stellt. Das genetische Programmieren von Menschen, bezogen auf außerhalb ihrer Person liegende Zwekke, gehört dazu, widerspricht es doch seiner Selbstzweckhaftigkeit. Ob gezielte Eingriffe ins Genom, soweit sie, zu welchen Zwecken auch immer, eines Tages möglich wären, mit der Menschenwürde vereinbar sind, bedürfte deshalb gesonderter, kritischer Erörterung. In der „oratio de hominis dignitate" Pico della Mirandolas 39 erhält die Menschenwürde ihr spezifisch neuzeitliches Profil. Sie wird als Fähigkeit gefasst, sich selbst zu formieren, als Entwurfsvermögen. Da sich der Einzelne faktisch nur in Auseinandersetzung mit vorhandenen Lebensentwürfen zur Person ausformen 39 Vgl. Baruzzi, Europäisches „Menschenbild" und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1979, S. 11, 95 ff., 100 ff.; vgl. weiterhin Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur.

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kann, muss er, um überhaupt irgendeine Entwurfsleistung erbringen zu können, gewisse Lebensentwürfe im Sinne kultureller Konzepte bereits vorfinden. Ein elementarer Funktionsmodus der Menschenwürde ist damit der Kulturstaat. Dessen prominentester semantischer Verwalter, Peter Häberle 40 , erweitert die Perspektive der vertragstheoretisch und transzendentalphilosophisch begründeten Menschenwürde daher auf ein kulturstaatlich gefasstes „Menschenbild" der Verfassung. Die Definition des Menschenbildes ist auf konkrete historische, politische, soziale und kulturelle Herausforderungen bezogen. Es ist offen für den gesellschaftlichen Wandel, darf aber die normative Verbindlichkeit der ihm zugrunde liegenden Prinzipien nicht zur Disposition stellen. Selbst im Sloterdijkschen „Menschenzoo" bleibt der Gestaltungsauftrag des kulturstaatlich geprägten Menschenbildes an den normativen Auftrag gebunden, die historisch angemessenen Bedingungen für die Entfaltung individueller Freiheit und Gleichheit zu schaffen. Ich danke Ihnen und freue mich auf den offenen Diskurs der Verfassungsinterpreten 41 - unter der Leitung seines Präzeptors, der aus dem gleichen Freiburger Schul- und Freundeskreis kommt wie Jürgen Schwarze und unser heutiger Jubilar.

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Oers. (Hg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982; ders., Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 2. Aufl. 2001; ders., Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1995, S. 815 ff. 41 Vgl. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297 ff.

Das Parlamentarische Untersuchungsausschussgesetz Reform an den Grenzen des Verfassungsrechts Von Wolfgang März, Rostock

I. Neben Hoher See und Meeresboden, Menschenwürde und Gentechnik oder Dichter und Staat hat auch das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes seit jeher Hausrecht im Forscherleben des Jubilars. Hiervon zeugen nicht nur die frühe Habilitationsschrift über Parlament und Planung in ihrer verfassungsgerechten Zuordnung zwischen Erster und Zweiter Gewalt (1978), sondern auch Untersuchungen zu Inhalt und Schranken des Petitionsbehandlungsrechts der Volksvertretung (1985) oder zum parlamentarischen Gesetzesvorbehalt bei der Einführung neuer Technologien (1990, 1992). In all diesen Arbeiten verbindet sich aufs Glücklichste juristisches Feinhandwerk am jeweiligen Werkstück mit dem profunden Weitblick auf die normübergreifenden rechtspolitischen Hintergründe und Folgen dogmatischer Lösungen, auch und gerade auf die Legitimationsleistung der gefundenen Ergebnisse im parlamentarischpolitischen System Deutschlands. Zu den großen und kleinen Fragen des Regierungssystems der Bonner und nunmehr Berliner Republik, die in den über 50 Jahren unserer Verfassungsordnung aufgeworfen und - nicht selten unter Mithilfe der Karlsruher Dritten Gewalt 1 - mehr oder 1 Dazu H.-P. Schneider; Das Parlamentsrecht im Spannungsfeld von Mehrheitsentscheidung und Minderheitsschutz, in: Badura / Dreier (Hg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Bd. II, S. 627 ff.

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weniger zeitnah beantwortet wurden, zählt unter anderem das parlamentarische Untersuchungsrecht, das in Art. 44 GG seit 1949 unverändert eine sparsame und zudem hoch traditionelle Kompetenzgrundlage gefunden hat. Die ersten Versuche, das die Verfassungsvorgaben im parlamentarischen Alltag ad hoc entfaltende Konglomerat aus Grundgesetz, Strafprozess-, Geschäftsordnungs-, Richter- und Gewohnheitsrecht durch ein besonderes Befugnis- und Verfahrensgesetz abzulösen, konnte Graf Vitzthum bereits während seiner Tätigkeit als Mitarbeiter eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages Anfang der 70er Jahre vor Ort beobachten. Sie sind bekanntlich bis 2001 auf Bundesebene allesamt (anders als die seinerzeit in Art. 45a-c GG erfolgreich eingeführten parlamentarischen Kontrollrechte) gescheitert 2. Man behalf sich mit der im Einsetzungsbeschluss aller Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages nach 1969 routinemäßig angeordneten Adaption der sog. IPA-Regeln, die dem ersten - erfolglosen - einschlägigen interfraktionellen Gesetzgebungsverfahren der 5. Wahlperiode zugrunde gelegen hatten. Jedenfalls Organisation und Verfahren der Ausschussarbeit konnten so notdürftig standardisiert und für die wechselnde Besetzung der Untersuchungsausschüsse einigermaßen handhabbar ausgestaltet werden 3 . Das grundlegende 2 Vgl. bis zur 13. WP die Dokumentation in: Schindler (Bearb.), Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, Bd. II, 1999, S. 2242 ff. - In den Ländern sah die Reformbilanz besser aus, wenngleich es auch hier über ein Jahrzehnt dauerte, bis nach den Empfehlungen der Konferenz der Präsidenten der deutschen Länderparlamente vom 4.5.I96I (Text und Erläuterungen in: Burhenne [Hg.], Recht und Organisation der Parlamente, Lbl. Stand 1981, S. 097143 ff., S. 231005 ff.; zu ihnen Becker; Ein Beitrag zum Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, DÖV 1964, S. 505 ff.) zunächst in Bayern und Berlin (1970), sodann im Saarland (1973) und in Baden-Württemberg (1976) die ersten Untersuchungsausschussgesetze erlassen wurden, letztere auf der Grundlage eines Mustergesetzentwurfs der Präsidenten der deutschen Länderparlamente von 1972 (Text bei Burhenne, ebd., S. 231021 ff.). Zu dieser parlamentarisch-föderalen Selbstkoordinierung Böhringer; Die Konferenz der Präsidenten der deutschen Landesparlamente, in: Busch (Hg.), Parlamentarische Demokratie - Bewährung und Verteidigung, 1984, S. 153 ff. (155 ff.). 3 Notdürftig vor allem deshalb, weil die Einsetzungbeschlüsse des Bundestages regelmäßig das kanonisierte Caveat enthielten, wonach die IPA-

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Manko dieser parlamentarischen „Verwaltungs"vorschrift jedoch: ihre Qualifikation als Binnenrecht, die einer Subjektivierung zugunsten betroffener Zeugen und Auskunftspersonen entgegenstand, war ebenso unüberwindlich wie die damit einhergehende Unmöglichkeit, aus den Binnenvorschriften außenwirksame Kompetenzen des Ausschusses abzuleiten. Für die Untersuchungsbefugnisse gegenüber staatlichen wie privaten Stellen, sei es die Vorlage von Beweismitteln oder die Vernehmung von Zeugen, war in jedem Fall entweder direkt auf Art. 44 GG oder aber (sinngemäß) auf die Vorschriften des Strafprozesses zurückzugreifen. Beides ließ wichtige Fragen offen, nicht nur solche des Minderheitenschutzes bei Einsetzung, Beweiserhebung und -durchfiihrung, sondern auch die der Rechtsstellung der von einer Untersuchung öffentlichkeits- und medienwirksam Betroffenen und ihres effektiven Rechtsschutzes gegen Untersuchungsmaßnahmen. Was in über 30 Verfahren im Laufe der Jahrzehnte parlamentarisch-politisch nicht einvernehmlich geklärt werden konnte, musste im äußersten Fall auf Antrag des politisch Unterlegenen oder Betroffenen verfassungsgerichtlich entschieden werden - ein für alle Beteiligten unbefriedigender Notweg, der (auch unter Berücksichtigung einstweiligen Rechtsschutzes) regelmäßig mit einem zumindest partiellen Leerlaufen der Minderheitenrechte im Untersuchungsverfahren verbunden war.

Regeln nur zugrunde gelegt werden sollten, „soweit sie geltendem Recht nicht widersprechen und wenn nach übereinstimmender Auffassung der Mitglieder des Untersuchungsausschusses keine sonstigen Bedenken dagegen bestehen". Da die Verfahrensgestaltung im Ausschuss, von kaum konsentierten Minderheitsrechten abgesehen, grundsätzlich dem Mehrheitsprinzip folgte und auch Konflikte mit vorrangigem Verfassungs- und Gesetzesrecht nicht ausgeschlossen werden konnten - man denke nur an das umstrittene Vereidigungsrecht des Untersuchungsausschusses (§ 16 Abs. 2 IPA-Regeln) - , konnte (und sollte) jedenfalls gesetzesäquivalente Rechtssicherheit nicht erreicht werden. Dabei auftauchende Unsicherheiten über die Verfassungsmäßigkeit des Einsetzungsbeschlusses selbst konnten im Extremfall dazu führen, dass der Ausschuss sogar selbst seine eigene Tätigkeit verfassungsrechtlich überprüfen und absichern ließ (so etwa beim „Transnuklear"-UA; vgl. das Rechtsgutachten von Steinberger, BT-Drs. 11 / 7800, S. 1181 ff.).

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Angesichts dieser jahrzehntealten Misserfolgsgeschichte kann die Erleichterung über das überraschende Gelingen der Reform des Untersuchungsausschussrechts im Sommer 2001 nicht verwundern. Sie ist in der Tat zumindest deshalb berechtigt, weil sich die für das Vorhaben förderlichen besonderen politischen Umstände - das Gesetzgebungsverfahren fand im Windschatten des Parteispenden-Untersuchungsausschusses statt, der mehrheitlich für Vorgänge im Bereich der früheren Bundesregierung und der sie tragenden (nunmehr in der Opposition stehenden) politischen Parteien und deren Finanzierung eingesetzt worden war 4 - in dieser Konstellation so kaum wiederholen werden. Zudem waren beim Bundesverfassungsgericht mehrere Verfahren anhängig, die sich mit bekannten alten Streitfragen des Untersuchungsverfahrens beschäftigten und deren Ausgang für keine der parteipolitischen Kräfte absehbar war 5 . Verständlich daher, dass man sich in den Plenar- und Ausschussdebatten des Gesetzgebungsverfahrens über die Grenzen politischer Unterschiede hinweg 6 wechselseitig lobte. Sogar im öffentlich bekundeten Selbstverständnis der Abgeordneten konnte sich das Ergebnis sehen lassen (so die einen); der Gesetzentwurf liefere eine gelungene und vernünftige, wenn nicht gar unverzichtbare 1

Zur ungewöhnlichen Ausgangslage der Gesetzgebung Wiefelspütz, Das Untersuchungsausschussgesetz des Bundes, ZParl 33 (2002), 551 ff. (553 f.). s Nicht von ungefähr schloss der Fragenkatalog, den der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages den Sachverständigen für die Öffentliche Anhörung am 10.5.2000 übersandt hatte (vgl. das Wortprotokoll, Prot. G 14/32), u.a. mit der Frage, ob die drei anhängigen Verfassungsstreitigkeiten mittels des vorgeschlagenen Gesetzentwurfs hätten vermieden werden können. - Während das BVerfG über die Reichweite der Minderheitenrechte bei der Beweiserhebung inzwischen entschieden hat (BVerfGE 105, 197 ff.), ist das Organstreitverfahren über die Nichtherausgabe der Verwaltungsratsprotokolle der Treuhandanstalt (vgl. BT-Drs. 12/8404, S. 31 ff.) noch anhängig (2 BvE 2/94). Das Organstreitverfahren über Minderheitenrechte bei der Zeugenvernehmung (vgl. BT-Drs. 13/10800, S. 52 ff.) wurde nach Zurücknahme des Antrags am 25.10.2001 vom Gericht eingestellt (2 BvE 1/97; s.a. BVerfGE 96, 223 ff.); die hierin aufgeworfenen Verfassungsfragen wurden in der Sache überwiegend von BVerfGE 105, 197 ff. beantwortet. 6 S. einerseits BT-Drs. 14/2363 vom 15.12.999 (F.D.P.-Entwurf), andererseits BT-Drs. 14/2518 vom 18.1.2000 (Entwurf von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen).

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Grundlage für künftige Untersuchungen des Deutschen Bundestages (so die anderen). Kurzum: Man habe es hier mit einem Glücksfall parlamentarischer Binnenordnung und Selbstdisziplinierung zu tun 7 . Soviel parlamentarisches Eigenlob, mit rechtsgrundsätzlicher Übereinstimmung und mit parteiübergreifendem Konsens sogar in den einzelnen Verfahrensvorschriften gepaart, muss den kundigen Beobachter bei aller Erleichterung darüber, dass das Vorhaben nunmehr, im siebenten Anlauf seit 1969, erfolgreich abgeschlossen werden konnte, gleichwohl erstaunen und Nachfragen auslösen. An der mangelnden wissenschaftlichen Durchdringung und Reife des Themas kann diese fast schon unendliche Geschichte gewiss nicht gekrankt haben - im Gegenteil. Immerhin hatte sich des Gegenstandes im Wechsel der Generationen nicht nur zwei Juristentage (1964 und 1988) angenommen; auch zwei Verfassungskommissionen (1976 und 1993) hatten hierzu Vorschläge erarbeitet; die Zahl der Aufsätze und Doktorarbeiten ist Legion; über ein halbes Dutzend zentrale Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts klärte nach und nach wichtige Streitfragen (fast immer unter Zugrundelegen der überwiegenden Meinung im Schrifttum) und brachte in den parteipolitischen Prozess ebenso Rechtssicherheit, wie es die parlamentspraktische Bedeutung des Untersuchungsrechts unterstrich. „Steiner/Wienand", „Flick", „Neue Heimat", „Transnuklear" oder „Parteispenden" - vielleicht auch einmal „Wahlkampf-Wahrheit" - sind inzwischen geflügelte Worte des parlamentarisch-politischen Lebens, nicht nur des Staats- und Verfassungsrechts. Es drängt sich daher die Frage auf, ob und inwieweit es dem (recht sperrig titulierten) „Gesetz zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages (Untersuchungsausschussgesetz - PUAG)" 8 - und damit dem Gesetz7 Vgl. die Aussprachen im Plenum, VerhBT 14/82/21.1.2000/7617 ff.; 14/165/6.4.2001/16144 ff.; s.a. Beschlussempfehlung und Bericht des GO-Ausschusses, BT-Drs. 14/5790. 8 Vom 19.6.2001, BGBl. I S. 1142. Das Artikelgesetz enthält neben dem PUAG eine Änderung des § 153 StGB. Austrahlungswirkungen der Reform

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geber in eigener Sache - gelungen ist, die durch die langjährige praktische Erfahrung aufgeworfenen, durch die Dritte Gewalt zum Teil vorentschiedenen und wissenschaftlich gründlich aufbereiteten Probleme zu erfassen und einer verfassungsgerechten und dauerhaften Normierung zuzuführen - einer Normierung, welche die strukturellen Besonderheiten des parlamentarischpolitischen Prozesses ebenso aufnimmt wie die schutzwürdigen Interessen der von einer Untersuchung betroffenen Amtsträger und Bürger. Im Folgenden soll daher zunächst (II.) der Inhalt des PUAG vorgestellt und an den verfassungsrechtlichen und -politischen Vorgaben gemessen werden, freilich nicht in allen rechtstechnischen Details 9 , sondern nur in seinen Grundzügen. Es geht also zunächst, um eine rechtstheoretische Typisierung zu gebrauchen, um die neuen Rechtsregeln. In einem zweiten Schritt (III.) sollen die verfassungsrechtlichen Grenzen erläutert werden, die hinter der gesetzlichen Regelung stehen und in erster Linie die sinngemäße Anwendung der Vorschriften über den Strafprozess (Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG) zum Gegenstand haben. Ihm schließen sich (IV.) einige Überlegungen zu Aufgabe und Funktion des parlamentarischen Untersuchungsrechts an, wie der Gesetzgeber sie anlässlich der Reform gesehen hat. Es geht dann also um das Rechtsgrundsätzliche des Themas.

II. Das aus 36 Paragraphen bestehende Regelwerk unternimmt ein Mehrfaches: Es normiert vier herkömmlich neuralgische Problemkreise des parlamentarischen Untersuchungsausschuss-

enthält auch das Sechste Gesetz zur Ändemng des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vom 22.8.2002 (BGBl. I S. 3386) sowie die Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 30.5.2001 (BGBl. I S. 1203). 9 Sie finden sich in nuce nunmehr bei H.-H. Klein, in: Maunz/Dürig (Begr.), Grundgesetz. Kommentar, Lbl. Stand Okt. 2002, Art. 44. Zu den Einzelheiten des PUAG Wiefelspütz, Das Untersuchungsausschussgesetz, 2003 (Verf. war als MdB an der Entstehung des Gesetzes federführend beteiligt).

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rechts; es formalisiert und ordnet dabei vor allem das Verfahren im Untersuchungsausschuss und versucht auf diesem Weg, den im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes immer vorhandenen parteipolitisch aufgeladenen Antagonismus zwischen Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit beim Gang der parlamentarischen Untersuchung zu neutralisieren und zu entpolitisieren. Formalität, Berechenbarkeit und Transparenz lauten die übergreifenden Leitbilder der gesetzlichen Regelung, oder - systemtheoretisch gesprochen - Legitimation der parlamentarischen Enquete durch vorstrukturiertes, den politischen Prozess durch Reduktion von (politischer) Komplexität entlastendes Verfahren 10. 1. Das PUAG regelt zunächst einmal die Beziehungen des Untersuchungsausschusses im Verhältnis zu seinem Mutterorgan, dem Deutschen Bundestag, dem die investigative Tätigkeit im Außenverhältnis zugerechnet wird und der hierfür und für den Fortgang und Abschluss des Verfahrens die parlamentarische Verantwortung übernimmt. Die Einsetzung des Ausschusses kann künftig allein durch förmlichen Beschluss des Plenums erfolgen und nicht mehr, wie häufig geschehen, mittels Feststellung einer stillschweigenden, weil ja bei verfassungsmäßiger Antragstellung ohnehin gebotenen Einsetzung durch den Bundestagspräsidenten stattfinden 11 . Dass das Parlament dabei ei10 Interessanterweise behandelt Luhmann (Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. 1978, S. 42 ff., 139 ff.) in diesem Zusammenhang zwar die allgemeine Funktion von Rechtsetzung, geht aber für die Erste Gewalt allein auf den Wahlakt und die Gesetzgebung ein; politische Kontrolle gerät demgegenüber - vielleicht mangels seinerzeit noch fehlender entsprechender rechtlicher Vorstrukturierung - nicht in seinen Blick. Zur demokratischrechtsstaatlichen Legitimationsleistung des parlamentarischen Verfahrens (und seiner funktionellen Grenzen) anhand der politischen Planung Graf Vitzthum, Parlament und Planung, 1978, S. 219 ff., 236 ff. 11 Vgl. dazu den Stand der Diskussion bei Umbach, in: Umbach/ Clemens (Hg.), Grundgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 2002, Art. 44 Rn. 24; Klein (o. Fn. 9), Art. 44 Rn. 86 ff. Diese Frage des „Wie" stellte sich gleichermaßen für Mehrheits- wie für Minderheitsenqueten. Sie war in der - gewohnheitsrechtlich abgesicherten und eine Abstimmung der Abgeordneten entgegen ihrer inneren Überzeugung vermeidenden - Parlamentspraxis ohnehin nur in den (zuletzt immer selteneren) Fällen relevant, in

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nem qualifizierten Minderheitsantrag zu folgen hat (§§1,2 PUAG), versteht sich wegen Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG von selbst; gleichermaßen von selbst versteht sich auch die Festschreibung des Rechts einer qualifizierten Minderheit, den Untersuchungsgegenstand nach Thema und Umfang autonom und (in den Grenzen der Verfassung) endgültig festzulegen. Dieses Recht erkennt § 2 Abs. 2 PUAG mit dem anderweitigen Zustimmungserfordernis nunmehr ausdrücklich an und positiviert so die frühe Verfassungsrechtsprechung 12. Die dort genannte Ausnahme - Korrekturrecht der Mehrheit in Gestalt von Zusatzfragen nach allgemeinen Grundsätzen (Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG), wenn nur dies ein umfassenderes und wirklichkeitsgetreueres Bild des angeblichen Missstandes vermitteln kann - hat das PUAG jedoch nicht ausdrücklich rezipiert, aber auch nicht klar ausschließen wollen, was im Dezember 2002 beim 1. Untersuchungsausschuss der 15. Wahlperiode („Wahlkampf-Wahrheit") bereits zu Rechtsunsicherheit und parteipolitischem Streit geführt hat 13 . Das Gesetz hat hingegen die nicht seltene (und von Karlsruhe nur „angedachte" 14 ) Konstellation berücksichtigt, dass denen der Einsetzungsbeschluss der Minderheit nicht mehrheitlich „nachgebessert" wurde. 12 So schon BVerfGE 49, 70 (87 f.), wo freilich von einer „Begrenzung" - und nicht einem grundsätzlichen Verbot - der Befugnis der Mehrheit gesprochen wird, „den Untersuchungsgegenstand gegen den Willen der Minderheit durch Zusatzfragen zu erweitern". 13 Auf § 2 Abs. 2 und 3 PUAG kann sich der Beschluss der Parlamentsmehrheit, das gegen Mitglieder der Bundesregierung gerichtete Untersuchungsthema (BT-Drs. 15/125, VerhBT 15/14/5.12.2002/1063 ff.) auf bestimmte Repräsentanten der Oppositionsparteien im Wahlkampf 2002 zu erweitern (BT-Drs. 15/256, Nr. 2 des Einsetzungsbeschlusses; VerhBT 15/ 17/20.12.2002/1330 ff.), jedenfalls nicht stützen. Er ist mit dem Gesetz nur vereinbar, wenn man die Festlegung der Minderheitenrechte und damit die einfachrechtliche Begrenzung der Mehrheitsbefugnisse nicht als abschließend ansehen, sondern den Rückgriff auf Art. 44 Abs. 1 GG weiterhin zulassen will; für diese unbefriedigende Auslegung Wiefelspütz, Die Änderung des Untersuchungsauftrags von Untersuchungsausschüssen, DÖV 2002, 803 ff. (806 f.). - Der Einsetzungsbeschluss mag darüber hinaus u.U. sogar mit den bundesstaatlichen Grenzen des Untersuchungsrechts in Konflikt geraten. 14 Vgl. die Anregung des Gerichts an die Beteiligten in BVerfGE 83, 175 (180 f.).

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der Einsetzungsantrag ganz oder teilweise verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen kann. In diesen Fällen soll - einer nicht unumstrittenen Auffassung folgend 15 - ein Teilen des Themas und ein Ausscheiden der verfassungswidrigen Inhalte bei im Übrigen erfolgender Einsetzung des Ausschusses zulässig sein (§ 2 Abs. 3 PUAG), ebenso wohl eine im Regelfall (Abs. 1) nicht erlaubte Ausschussbehandlung dieses Antrags 16 . Dass das Plenum auch Herr späterer Änderungen des Untersuchungsthemas bleibt und insoweit eine Garantenstellung für das Gelingen seines Vorhabens übernimmt, legt zudem § 3 PUAG fest. 2. Das PUAG regelt sodann die Binnenstruktur des Untersuchungsausschusses, d.h. die Stellung seiner Mitglieder vor dem Hintergrund ihrer parteipolitischen Affinität, m.a.W. die Rechte und Pflichten von „Mehrheit" und „Minderheit". Die Zahl der Mitglieder des Ausschusses wird nicht abstrakt festgelegt, sondern an der jeweiligen Aufgabe, den Mehrheitsverhältnissen und der voraussichtlichen Arbeitsbelastung orientiert (§ 4 PUAG); sie hat sich sowohl an der Fraktionsstärke im Deutschen Bundestag als auch an der Arbeitsfähigkeit des Gremiums zu orientieren und dürfte im Regelfall etwa ein Dutzend Mitglieder (und ebenso viele Stellvertreter) betragen, die wie auch sonst (§ 57 Abs. 2 GOBT) von den Fraktionen benannt und abberufen werden (§ 5 PUAG). Die Bestimmung des Vorsitzenden und seines Stellvertreters wird - ohne auf die immer wieder aufkommende, aber nur durch Verfassungsänderung zu realisierende Forderung nach seiner juristischen Qualifikation einzugehen - aufgrund von Vereinbarungen im Ältestenrat des Bundestages angeordnet (§§ 6, 7 PUAG); dabei sind die Fraktionen im Verhältnis ihrer 15 BayVerfGH, BayVBl. 1977, 597 ff. und DVB1. 1986, 233 ff·; zu Recht kritisch Achterberg/Schulte, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hg.), Das Bonner Grundgesetz. Kommentar, 4. Aufl. 2000, Art. 44 Rn. 92; Umbach (o. Fn. 11), Art. 44 Rn. 27 m.w.N. 16 Auch diese Regelung fand erstmals Anwendung, als beim 1. IJA der 15. WP (BT-Drs. 15/256, Nr. 1 des Einsetzungsbeschlusses a.E.) der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung aus dem Untersuchungsgegenstand herausgenommen wurde - aus verfassungsrechtlicher Sicht zumindest überflüssig.

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Stärke zu berücksichtigen, ein rollierender Wechsel im Vorsitz wurde indes nicht vorgesehen, ebensowenig ein „neutraler Vorsitzender". Einberufung und Beschlussfähigkeit des Ausschusses werden ebenfalls geregelt (§§ 8, 9 PUAG), eine grundsätzliche Anwesenheitspflicht der Mitglieder u n d / o d e r ihrer Stellvertreter wurde dabei weder für die Beweisaufnahme noch für die nachfolgende Beratung in Betracht gezogen 17 . Als wichtige, wenngleich schon verfassungsgebotene 18, aber in der Untersuchungspraxis immer wieder ignorierte Verfahrensneuerung ordnet das PUAG (§ 17) das Beweisantragsrecht bereits einer (nicht notwendig mit der Einsetzungsminderheit identischen) qualifizierten Minderheit ( 1 / 4 ) zu. Dieses Recht erstarkt dann zur grundsätzlichen Pflicht der Beweiserhebung durch den Ausschuss, es sei denn, der Antrag wäre nachgewiesen unzulässig oder ungeeignet. Diese überfällige Regelung einer klassischen Streitfrage wird mit einem konfliktexportierenden Klagerecht der unterlegenen Minderheit im Ausschuss verbunden; ja sogar die Reihenfolge bei der Beweiserhebung selbst (d.h. der Ablauf der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen) wird minutiös vorgegeben, verbunden mit einer formalisierten Konfliktlösung für den Fall der Nichteinigung - ein Reißverschlussverfahren vor Engstellen auf der parlamentarisch-politischen Fahrbahn. Schließlich sieht das Gesetz ein minderheitschützendes Recht auf ein oder mehrere Sondervoten im Abschlussbericht vor (§ 33 PUAG) 19 . 3. Das PUAG regelt weiterhin - und hierin liegt neben dem Minderheitenschutz ein Hauptschwerpunkt der Reform - die 17 Dies führt im Regelfall dazu, dass (anders als im gerichtlichen Verfahren) die Durchführung sowie Würdigung der Beweiserhebung und die Berichterstattung nicht auf der unmittelbaren persönlichen Kenntnis der Ausschussmitglieder beruhen muss. 18 So nunmehr BVerfGE 105, 197 (221 ff.) und die ganz herrschende Meinung im Schrifttum; vgl. nur § 12 Abs. 2 IPA-Regeln (BT-Drs. V/4209); Klein (o. Fn. 9), Art. 44 Rn. 197; Morlok, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. II, 1998, Art. 44 Rn. 43. 19 Zu diesen Rechten zusammenfassend Wiefelspütz, Die qualifizierte Minderheit im Untersuchungsausschuss, NJ 2002, 398 ff. (401 ff.).

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Kompetenzen des Ausschusses nach außen, gegenüber Behörden, Amtsträgern und Privaten, d.h. die einzelnen Befugnisse zur Untersuchung von für den Bundestag „fremden" Sachverhalten. Im Vordergrund steht zunächst die Verpflichtung der Bundesregierung und aller Behörden des Bundes (gleich ob unmittelbare oder mittelbare Bundesverwaltung), dem Ausschuss sämtliche Beweismittel, vor allem also die Akten, vollständig vorzulegen (§18 PUAG). Dieses Beweiserhebungsrecht des Ausschusses, das auch in anderen parlamentarischen Kontrollfunktionen eine wichtige Rolle spielt 20 , findet seine Grundlage schon in Art. 44 Abs. 1 GG (bzw. seine Grenzen in Abs. 2 der Vorschrift) 21 ; es wird im einfachen Recht hinsichtlich der verpflichteten Organisationseinheiten des Bundes und des Umfangs der von ihnen vorzulegenden Beweismittel spezifiziert. Nicht inhaltlich spezifizierend, sondern nur deklaratorisch wiederholend unternimmt das Gesetz Gleiches für die verfassungskräftige (Art. 44 Abs. 3 GG) Amtshilfeverpflichtung von Gerichten und Verwaltungsbehörden (§ 18 Abs. 4 Satz 1 PUAG). Dass es dem Gesetzgeber in dieser Norm gelungen wäre, die der parlamentarischen Kontrolle unterfallende Zweite Gewalt in allen ihren Organisationsformen und -fällen vollständig zu erfassen, muss man bezweifeln - es ist wohl nicht einmal versucht worden. Anders ist es nicht zu erklären, dass weder die immer weitere Kreise ziehende organisationsprivatisierte Bundesverwaltung noch ihre verwaltungsprivatrechtlichen Einheiten vom staatsbezogenen Aktenvorlagerecht erfasst werden, ebenso wenig die privatrechtlichen Trabanten der Beschaffungsverwaltung,

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Dazu Graf Vitzthum, Petitionsrecht und Volksvertretung, 1985, S. 56 ff., 102 ff. 21 So BVerfGE 67, 100 (133 ff.), wo die in der Parlamentspraxis vorherrschende (vgl. § 15 IPA-Regeln) Rechtsauffassung korrigiert wurde, Art. 44 GG enthalte in Abs. 1 nur eine Aufgabenbestimmung des Untersuchungsausschusses, seine Beweiserhebungsbefugnisse gegenüber Regierung und Verwaltung seien hingegen in Abs. 3 der Vorschrift enthalten; ebenso Maunz, in: Maunz/Dürig (o. Fn. 9), Erstkommentierung zu Art. 44 Rn. 47, wo die Kompetenzgrundlage für die persönlichen Beweismittel in Art. 44 Abs. 2 GG (i.V.m. StPO), für die Aktenvorlage in Abs. 3 der Norm lokalisiert wurde.

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etwa im Verteidigungsbereich (z.B. die GEBB) 22 . Die Herausgabe der bei ihnen vorhandenen sächlichen Beweismittel kann der Untersuchungsausschuss demzufolge nur über die privatgerichtete Jedermann"-Pflicht des § 29 PUAG verlangen (mit der Nebenfolge, dass gegenüber diesen Einrichtungen im Weigerungsfall Ordnungsmittel zur Verfügung stehen, während gegen die Ablehnung einer Vorlage von Beweismitteln durch Regierung und öffentlich-rechtlich organisierte Verwaltung das Bundesverfassungsgericht angerufen werden muss). Besondere Sorgfalt verwendet das PUAG auf die Regelung der Inanspruchnahme von Zeugen und Sachverständigen. Nicht nur ihre Verpflichtung, auf Ladung des Untersuchungsausschusses zu erscheinen und (jenseits etwaiger Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte) wahrheitsgemäß und vollständig auszusagen, sondern auch die Folgen ihres Ausbleibens, ihre Belehrung, ihre Vernehmung und die möglichst unparteiische Verfahrensführung durch den Vorsitzenden werden detailliert festgelegt, um bei aller parteipolitischen Aufladung der Beweisaufnahme und -bewertung die rechtlich geschützten Interessen von Zeugen gegen Voreingenommenheit, Unterstellungen oder Unverschämtheiten der Ausschussmitglieder abzusichern. Einen erheblichen Fortschritt gegenüber der bisherigen restriktiven parlamentarischen Praxis stellt dabei § 20 Abs. 2 PUAG dar, wonach alle Zeugen einen rechtlichen Beistand ihres Vertrauens zur Vernehmung hinzuziehen dürfen; dieses Recht wird also nicht nur Privaten, sondern auch - mit Medienöffentlichkeit vertrauten und sie sogar häufig suchenden - Politikern und Amtsträgern zugestanden. Letztere benötigen zwar (§§ 39 BRRG, 22

Nach § 34 PUAG findet das Gesetz auch auf den Verteidigungsausschuss in seiner Funktion als Untersuchungsauschuss Anwendung; dies ist unter Beachtung der besonderen Restriktionen (vor allem Ausschluß der Öffentlichkeit) verfassungsrechtlich unbedenklich, s. Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig (o. Fn. 9), Art. 45a Rn. 44. - Der Aktenvorlageanspruch ist also nicht, wie Mager (Das neue Untersuchungsausschussgesetz des Bundes, Der Staat 41 [2002], 597 ff. [609D meint, „fast unbegrenzt", sondern bleibt unmotiviert hinter den parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten zurück. Ähnliches lässt sich z.B. auch beim Petitionsinformationsrecht des Bundestages nach Art. 45 Abs. 2 GG i.V.m. §§ 1, 2 G 45c-Gesetz beobachten; vgl. dazu Graf Vitzthum (o. Fn. 12), S. 61 ff., 77.

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61 ff. BBG) eine Aussagegenehmigung ihres Dienstherrn; dieser ist aber zu ihrer Erteilung grundsätzlich verpflichtet (§ 23 Abs. 2 PUAG, der als lex specialis den allgemeinen beamtenrechtlichen Vorschriften vorgeht). Jenseits des staatsorganisatorischen Bereichs enthält das Gesetz, wie gesagt, die Verpflichtung von „jedermann", d.h. von Privaten aus Wirtschaft und Gesellschaft, dem Ausschuss für die Untersuchung bedeutsame Beweismitttel vorzulegen (§ 29 PUAG), was indirekt auch eine bejahende Antwort auf die vom Gesetzgeber bewusst nicht gestellte Frage enthält, ob denn privatgerichtete Enqueten überhaupt der Kontrollfunktion der Volksvertretung im parlamentarischen Regierungssystem unterfallen. Wird hiergegen der Schutz von Berufsund Geschäftsgeheimnissen eingewandt, ist nunmehr jedenfalls die Geheimhaltung durch den Ausschuss - nicht aber gegenüber dem Ausschuss - formal sichergestellt (§§ 29, 30 PUAG) 23 . Entsprechendes gilt nach der Reform ebenso für Beweismittel mit geheim zu haltendem Inhalt aus dem Bereich der Zweiten Gewalt; § 30 PUAG nimmt auch hier umfassend Abschied von einer richterlichen Vorprüfung der Beweismittel auf ihren geheim zu haltenden Inhalt, wie sie das Bundesverfassungsgericht anlässlich des ersten privatgerichteten Untersuchungsausschusses „Neue Heimat" als eine mögliche Sicherung der verfassungsgebotenen Vertraulichkeit entwickelt hat 24 . Der Untersuchungsausschuss ist nunmehr (wieder) Herr über die Beurteilung der Erheblichkeit angeforderter Beweismittel. Über die Aufhebung der privat- oder regierungsseitig festgelegten Geheimhaltungsbedürftigkeit - und damit über die Verwendung im Rahmen der Berichterstattung an das Plenum - kann er allerdings letztlich nur unter Zustimmung des Ermittlungsrichters des BGH entscheiden. Solange die Geheimhaltung im Bereich seiner Mitglieder auch praktisch sichergestellt ist, ist gegen die Wiedererlangung der beweisrechtlichen „Lufthoheit" des Untersuchungsausschusses nichts einzuwenden. 23 Dieser (auch grundrechtsgebotenen) Geheimhaltung dient nicht nur das PUAG, sondern auch die Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages (§ 2a) sowie das Strafgesetzbuch (§ 203 Abs. 2 Nr. 4). 24 BVerfGE 77, 1 (54 ff.); zu den guten Gründen für diese Neuordnung Mager {o. Fn. 22), S. 610 f.

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4. Das PUAG definiert sodann die Schutz- und Abwehrrechte der vom Untersuchungsthema und der Beweisaufnahme erfassten Amtsträger und Bürger; und zwar strikt einheitlich. Es differenziert weder danach, ob sie für die Untersuchung als (gegenwärtige oder frühere) Amtsträger oder als Private herangezogen werden, noch hinsichtlich ihrer Nähe zum untersuchten Gegenstand, ob sich also das Untersuchungsthema gegen sie und ihre Beteiligung daran in der Vergangenheit richtet oder ihre Aussagen nur die parlamentarische Aufklärung eines für sie „fremden" Sachverhalts ermöglichen sollen. Die im Strafprozess selbstverständliche und dort verfahrensrechtlich ebenso notwendige wie mögliche Rollenverteilung nach Betroffenen - gegen die sich die staatlichen Verdachtsmomente und Maßnahmen richten - und nach Zeugen - deren Kenntnis vom Untersuchungsgegenstand „nur" anlässlich eines nicht ihre Verantwortlichkeit geltend machenden Verfahrens in Anspruch genommen wird - hat der die parlamentarische Praxis damit kontinuierende Gesetzgeber nicht übernommen, sondern allen persönlichen Beweismitteln einen einheitlichen Status zugewiesen. Dabei wurden die Integrität- und interessenschützenden Vorkehrungen, die bisher formal „Betroffenen" zur Verfügung standen, aber mangels entsprechender Qualifizierung durch den Untersuchungsausschuss seit den 50er Jahren von ihnen nicht in Anspruch genommen werden konnten, größtenteils auf alle (nunmehr einheitlich so klassifizierten) „Zeugen" erstreckt. Sie haben nun Gelegenheit, vor ihrer Vernehmung zu dem ihnen vorab bekannt gegebenen Beweisthema eine zusammenhängende Sachdarstellung aus ihrer Sicht zu geben (§ 24 Abs. 4 Satz 2 PUAG); sie können einen Rechtsbeistand hinzuziehen (§ 20 Abs. 2 PUAG); sie können den Vorsitzenden auffordern, ungeeignete oder nicht zur Sache gehörende Fragen der Ausschussmitglieder zurückzuweisen (§ 25 Abs. 1 Satz 2 PUAG), selbst aber keine Beweisanträge oder Fragen an den Ausschuss oder andere Zeugen stellen. Der Abschluss der Vernehmung wird förmlich festgesetzt, wobei den Zeugen zuvor das Protokoll über ihre Vernehmung zuzustellen ist, verbunden mit einer zweiwöchigen Frist, um etwaige Fehler oder drohende „Falschaussagen" korrigieren zu können (§ 26 Abs. 1 und 2 PUAG).

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Ihre Vereidigung - ein klassischer Streitpunkt „sinngemäßer Anwendung" der „Vorschriften über den Strafprozess" (Art. 44 Abs. 2 GG), auch und gerade in der 14. Wahlperiode, ist nunmehr ausgeschlossen. Die gleichwohl fortbestehende Wahrheitspflicht (S 24 Abs. 3 PUAG) wird abgeschwächt über § 153 StGB sanktioniert. Vor allem aber können die Zeugen ein ausgreifendes Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrecht in Anspruch nehmen (§ 22 PUAG) - hierauf wird noch (III.) zurückzukommen sein - . Den Interessen- und Ehrenschutz der Zeugen abrundend, sieht das PUAG schließlich die Gewähr rechtlichen Gehörs für Personen vor, die durch den späteren Abschlussbericht und seine Veröffentlichung, die ja keiner gerichtlichen Kontrolle zugänglich sind (Art. 44 Abs. 4 S. 1 GG), in ihren Rechten erheblich beeinträchtigt werden können (§ 32 PUAG). Ihnen ist Gelegenheit zu geben, zu den sie betreffenden Ausführungen Stellung zu nehmen, deren wesentlicher Inhalt dann im Abschlussbericht wiedergegeben werden muss. All dies stellt gegenüber dem bisherigen Rechtszustand - vor allem insoweit er sich nicht auf die entsprechende Anwendung der StPO, sondern nur auf die binnenwirksamen IPA-Regeln stützen konnte - eine erhebliche, Rechtssicherheit und vielleicht auch parlamentarische Transparenz gewährleistende Verbesserung der Stellung von Zeugen dar. 5. Das PUAG leistet schließlich einen wesentlichen, allerdings nicht rundweg überzeugenden Beitrag zur Rechtskontrolle parlamentarischer Untersuchungen, der nicht nur die bislang zersplitterten und langwierigen Rechtswege vereinheitlicht und der Bedeutung des Instituts anzupassen sucht, sondern auch alte Rechtsschutzlücken, die zu Lasten der parlamentarischen Tätigkeit bestanden, schließt. Vor allem die immer wieder beklagte „Asymmetrie des Rechtsschutzes" bei der Versagung von Beweiserhebungsmaßnahmen durch die zuständigen Amts- und Landgerichte ist nunmehr beseitigt. § 36 PUAG enthält zu diesem Zweck als Grundsatznorm eine - gegenüber Verfassungs(organ)streitigkeiten nach Art. 93 GG notgedrungen subsidiäre - Generalzuständigkeit des Bundesgerichtshofs „für Streitigkeiten nach diesem Gesetz". Folgt man den Motiven des Ge-

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setzgebers, sollen hiervon alle Streitigkeiten erfasst werden, an denen der Deutsche Bundestag, einer seiner Untersuchungsausschüsse oder Teile dieser Unterorgane an einer gerichtlich ausgetragenen Auseinandersetzung im Zusammenhang mit einem Untersuchungsverfahren beteiligt sind2^. Diese besondere Zuständigkeit soll aber nicht nur die Streitigkeiten erfassen, in denen eine sinngemäße Anwendung der Vorschriften über den Strafprozess stattfindet - und der Bundesgerichtshof wegen seiner strafprozessualen Fach- und Sachkunde (auch instanziell) das „richtige" Gericht zu sein scheint 26 - , sondern auch Annexverfahren der Beweiserhebung einschließen 27 . Nimmt man die Vorschrift wörtlich, so soll darüber hinaus beim obersten Strafgericht sogar der Rechtsschutz Privater gegen alle hoheitlichen Maßnahmen des Untersuchungsausschusses konzentriert werden, deren öffentlich-rechtlicher Streitgegenstand grundsätzlich den Rechtsweg zu den allgemeinen (§ 40 Abs. 1 VwGO) oder besonderen Verwaltungsgerichten (z.B. S 33 FGO) eröffnen würde 2 8 . § 36 Abs. 1 PUAG will also als eine ausdrückliche Sonderzuweisung gegenüber dem (damit gesperrten) Verwaltungsrechtsweg verstanden werden. An der ^ So die Gesetzesbegründung der Beschlussempfehlung zu § 36, BT-Drs. 14/5790, S. 21; zu diesem alten Reformanliegen auch Wiefelspütz, Das Untersuchungsausschussgesetz des Bundes, ZParl 33 (2002), 550 (571). 26 Diese Streitgegenstände zählt das PUAG enumerativ auf: Erhebung bestimmter Beweise oder Anwendung beantragter Zwangsmittel (§ 17 Abs. 4), Einstufung sächlicher Beweismittel als Verschlusssache (§ 18 Abs. 3), Anordnung von Haft bei grundloser Zeugnisverweigerung (§ 27 Abs. 2), Beschlagnahme oder Herausgabe von sächlichen Beweismitteln durch Private (§ 29 Abs. 3) sowie deren Einstufung als geheim (§ 30 Abs. 4). Schon dieser Katalog enthält Unklarheiten, etwa die Einbeziehung von Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit der Auferlegung von Kosten und der Verhängung von Ordnungsgeld (§§ 21 Abs. 1, 27 Abs. 1). 27 Etwa der Streit um die Verpflichtung von Gerichten und Verwaltungsbehörden zu Rechts- und Amtshilfe (§ 18 Abs. 4 PUAG). 28 Etwa der Streit über die Zulässigkeit einer parlamentarischen Untersuchung gegen Private, die Gewährung rechtlichen Gehörs im Abschlussbericht (§ 32 PUAG) oder überhaupt die Darstellung privaten Verhaltens dort, soweit hiergegen überhaupt Rechtsschutz eröffnet ist (Art. 44 Abs. 4 GG). Zum Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Untersuchungsausschüsse nach bisherigem Recht Umbach, in: Umbach / Clemens (o. Fn. 11), Art. 44 Rn. 105 f. m.w.N.

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Sachgerechtigkeit dieser erst- und letztinstanzlich „ganz oben" angesiedelten Rechtsschutzkonzentration mag man umso mehr zweifeln, je spezialgesetzlicher und damit „sinngemäßer" der Rekurs auf die strafprozessualen Vorschriften verstanden werden muss und im PUAG ja auch ausgestaltet wOrden ist, je weiter der Streitgegenstand materiell vom Strafverfahrensrecht entfernt ist (etwa bei einem Streit über die Herausgabe von Steuerakten oder über die Zulässigkeit einer parlamentarischen Untersuchung überhaupt) und je zahlreicher und aufwendiger diese Verfahren sind 29 . Die parallel hierzu beschlossene Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes 30, die den Rechtsweg gegen das Parlament belastende Entscheidungen des Bundesgerichtshofs eröffnet, stellt in Verbindung mit Organstreit und Verfassungsbeschwerde jedenfalls sicher, dass künftig keine Asymmetrien des Rechtsschutzes zwischen den von einer Untersuchung Betroffenen und dem Untersuchungsausschuss (bzw. seinem Mutterorgan) auftauchen werden. Ob sich die damit erreichte, im Instanzenzug hochgezonte Rundumjuridifizierung des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens bewähren wird, lässt sich heute noch nicht beurteilen.

m. 1. Darin erschöpft sich jedoch die „Positivliste" des PUAG, und man kommt nicht umhin, auch einige Schattenseiten der Reform zu sehen. Das Gesetz unterläßt es vor allem, seinen Ausgangspunkt: den zulässigen Untersuchungsgegenstand, nach Inhalt und Adressaten näher zu umschreiben und die verfassungsrechtlichen Grenzen für den parlamentarischen Alltag und die Handhabung des Instituts durch Parteipolitiker (und regelmäßig nicht Verfassungsjuristen) nachzuzeichnen, sowohl im 29

Für das Fortbestehen eines gespaltenen Rechtswegs de lege lata deshalb (freilich wenig überzeugend) H.-P. Schneider; Spielregeln für den investigativen Parlamentarismus, NJW 2001, 2604 (2607); a.A. Mager (o. Fn. 22), S. 614. 30 Sechstes Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vom 22.8.2002, BGBl. I S. 3386; dazu BT-Drs. 14/9220, 14/9462.

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staatlichen Innenverhältnis als auch nach außen, gegenüber dem privaten, d.h. wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich. Das Erfordernis eines „öffentlichen Interesses", wie es als legitimierende Eintrittskarte für eine parlamentarische Untersuchung (weniger in der Rechtsprechung 31 als im Schrifttum 32 ) gefordert wird, findet sich im PUAG nicht mehr. Dieses gegenüber allen früheren Gesetzentwürfen augenfällige Defizit dürfte bei genauerer Betrachtung indes zu vernachlässigen zu sein, denn überzeugende Kriterien für ein normativ verstandenes und als verfassungsgerichtlicher Kontrollmaßstab zu handhabendes „öffentliches Interesse", will man es im politisch-parlamentarischen Kontext jenseits einer faktischen Ad-hoc-Publizität des inkriminierten Sachverhalts suchen und finden, sind bislang nicht erkennbar 33 . Vor diesem Grenzziehungsdilemma, das dem Begriff selbst anhaftet, hat der PUAG-Gesetzgeber mit guten Gründen kapitulieren können. Einen untauglichen Versuch, der nur als symbolische Rechtsetzung verständlich ist, stellt hingegen das Unterfangen dar, die Grenzen des Regelungsgegenstandes: m.a.W. die konkrete Zulässigkeit eines Untersuchungsthemas, mit dem lapidaren Verweis auf die „verfassungsmäßige Zuständigkeit des Bundestages" erfassen zu wollen. Das PUAG signalisiert damit nur die normhierarchische Selbstverständlichkeit, dass sich das Parlament als Verfassungsorgan im Rahmen seiner Aufgaben und 31

Als generelle Voraussetzung für die Inanspruchnahme des parlamentarischen Untersuchungsrechts erstmalig in BVerfGE 77, 1 (44) - „Lappas" thematisiert; E 49, 70 [85] verwendete den Topos noch als Teil der allgemeinen Aufgabenstellung des Instituts („Aufklärung von Sachverhalten im öffentlichen Interesse"). BVerfGE 105, 197 (225) spricht dann von der „Untersuchung einer öffentlichen Angelegenheit", ohne dies als zwingende Zulassungsvoraussetzung für Art. 44 Abs. 1 GG qualifizieren zu wollen. 32 Zur dadurch bezweckten Grenzziehung Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 6. Aufl. 2002, Art. 44 Rn. 4; Ächterberg/Schulte, in: von Mangoldt/ Klein /Starck (o. En. 15), Art. 44 Rn. 24 m.w.N. 33 Zum rein funktional-deskriptiven Charakter des öffentlichen Interesses H.-P. Schneider; in: Denninger u.a. (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz (AK-GG), 3. Aufl. Lbl. Stand 2002, Art. 44 Rn. 11; Mager {o. Fn. 22), S. 605: „begriffliche Hülse für die einer jeden Zuständigkeit innewohnende Mißbrauchsgrenze".

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Befugnisse zu halten hat, auch und gerade bei der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses und seiner Tätigkeit. Über einen unterschwelligen rechtshistorischen Fingerzeig auf die - das Problem traditionell (und unglücklich) markierende Korollartheorie des frühen 20. Jahrhunderts hinaus trägt diese Formel zur Domestizierung des Instituts „Untersuchungsausschuss" nichts bei, ja der Rekurs auf einen lieb gewonnenen Topos mag sogar eher Verwirrung stiften. Der Bundestag des Grundgesetzes ist den Eierschalen des monarchischen Konstitutionalismus, dem diese Lehre adaptiert wurde, längst entwachsen 34 . Die seinerzeit stark limitierte, eine Kompetenz für politische Angelegenheiten und parlamentarische Kontrolle der Exekutive im Einzelfall immer wieder beweispflichtig machende Zuständigkeit des Parlaments ist einer umfassenden, allenfalls durch den Gewaltenteilungsgrundsatz (gegenüber der Judikative) und das Bundesstaatsprinzip beschränkten allgemeinpolitischen Zuständigkeit der Volksvertretung und ihrer Vertreter gewichen 35 , die unter bestimmten Voraussetzungen auch bundesstaatliche Grenzen überwinden kann (man denke nur an Art. 79 GG als eine die vorbereitende Untersuchung stützende parlamentarische Kompetenz). Dem Rechtsstaatsprinzip wiederum, das in der Literatur z.T. mit der Korollartheorie in Verbindung gebracht wird, wird durch das den Einsetzungsantrag treffende Bestimmtheitserfordernis und die mit ihm verbundene Bindung des Ausschusses an den Untersuchungsauftrag (§ 3 PUAG) weitaus griffiger genügt. Eine brauchbare Konkretisierung der bestehenden Verfassungsrechtslage und ihrer Grenzen kann § 1 Abs. 3 PUAG somit nicht leisten.

34 Zu ihren unsicheren Konsequenzen zusammenfassend Masing, Parlamentarische Untersuchungen privater Sachverhalte, 1998, S. 18 ff. Die Krisengeschichte dieser Lehre beginnt bereits 1919; vgl. Schröder, Das parlamentarische Untersuchungsrecht der Weimarer Reichsverfassung im Spiegel der zeitgenössischen Staatsrechtslehre und Rechtsprechung, ZParl 30 (1999), 715 (724 ff. ). 35 Vgl. dazu Boewe, Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz, 2001, S. 76 ff.; in dieser Richtung auch BVerfGE 105, 252 (268 ff.); 105, 279 (306 ff.), wo zumindest für informales Staatshandeln die verbandskompetenziellen Grenzen durchlässig interpretiert werden.

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Diffus bleibt deshalb auch künftig die Grenzziehung der parlamentarischen Untersuchungskompetenz gegenüber nicht-staatlichen Einrichtungen, also für „Missstände" in der „Gesellschaft" und ihrer privaten, grundrechtsgeschützten Akteure. Ausdrücklich angesprochen wird das Thema im Gesetz an keiner Stelle. Dass sich Untersuchungen indes grundsätzlich auch gegen Private richten können - ob allein und primär oder nur als dienender Annex zu staatlichen Agenden, wird offen gelassen - , zieht sich aber wie ein roter Faden durch das Regelwerk. So kann z.B. die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn bei der Vernehmung privater Zeugen Wirtschaftsgeheimnisse zur Sprache kommen (§ 14 PUAG); die Zeugen können für die Vernehmung einen rechtlichen Beistand ihres Vertrauens hinzuziehen, der aber keine eigenen Mitwirkungs- oder Antragsrechte hat (§ 20 PUAG); spiegelbildlich zur Aktenvorlage- und Auskunftspflicht von exekutiven Amtsträgern sieht das Gesetz eine weit gefasste Herausgabepflicht für Beweismittel in der Hand Privater vor, die hier wie dort durch eindrückliche Zwangsmittel abgesichert wird. Die im Schrifttum überzeugend benannten Gründe gegen eine zumindest direkt gegen Private gerichtete, etwa auf spätere Gesetzgebungsakte oder nur auf informative Kontrolle (Plenaraussprache) zielende Missstandsenquete (Stichwort: Neue Heimat) 36 haben sich im PUAG-Verfahrensregime nicht niedergeschlagen. Nur unverbesserliche Optimisten durften freilich eine solche Selbstvergewisserung oder gar eine Selbstbeschränkung des Parlaments, das in eigener Kontrollund Publizitätsfunktion angesprochen war 3 7 , erhoffen. 2. Nicht alle diese Schwächen können der mangelnden (parteipolitischen Courage eines „befangenen" Gesetzgebers angelastet werden. Zahlreiche rechtsgestalterische Probleme und Unwägbarkeiten des PUAG - vor allem bei der Ausgestaltung des Untersuchungsverfahrens sowie den Einzelheiten der Beweiserhebung - resultieren aus dem nicht endgültig geklärten 36

Zu ihnen umfassend Masing (o. Fn. 34), S. 228 ff., 315 ff. Vgl. allgemein hierzu Isensee, Nemo iudex in causa sua - auch nicht das Parlament?, in: Dörr u.a. (Hg.), Die Macht des Geistes. Festschrift für Hartmut Schiedermair, 2002, S. 181 ff. 37

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Verhältnis zwischen dem nun erlassenen einfachen Gesetz und seinen verfassungsrechtlichen Vorgaben und Schranken. Dass diese vom hierfür in Art. 44 GG nicht ausdrücklich autorisierten Gesetzgeber auf das genaueste beachtet werden sollten, hat die beiden Entwürfe wie auch den parlamentarischen Entscheidungsgang insgesamt nachhaltig geprägt. Grenzen der Regelungsbefugnis schienen dabei in zweifacher Richtung auf: zunächst (und nachrangig) hinsichtlich der parlamentarischen Kompetenz zur Normierung des Gegenstandes „Untersuchungsausschuss" durch Gesetz überhaupt, sodann (und vorrangig) hinsichtlich der Kompetenz zur - u.U. von den Vorschriften über den Strafprozess auch abweichenden - Detailregelung des Untersuchungs- und Beweisverfahrens. Die bislang durchgängig als Geschäftsgrundlage der Untersuchungstätigkeit herangezogenen IPA-Regeln hatten als Normersatz auf der Ebene des parlamentarischen Binnenrechts fungiert, vornehmlich der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, die sich jedenfalls seit 1980 über diesen Gegenstand ausschwieg 38 . Diese Zurückhaltung konnte nicht verwundern: Man war überwiegend (auch in den zahlreichen Gesetzentwürfen seit 1959) davon ausgegangen, dass Art. 44 GG ein beredtes Schweigen dahingehend auszeichnete, dass eine Ermächtigung zur ausführenden Gesetzgebung (anders als etwa in Art. 41 GG) fehlte und schon deshalb eine legislative Verfassungskonkretisierung mangels geschriebener Rechtsgrundlage ausscheiden musste 39 . Dass die IPA-Regeln dabei einige außenwirksame, ja 38 Bis zur Reform der GOBT - in der seit 1.10.1980 geltenden Fassung - hatte § 63 GOBT 1952 „die Bestimmungen dieser Geschäftsordnung sowie etwaige besondere Bestimmungen für das Verfahren von Untersuchungsausschüssen" für anwendbar erklärt, also von den Besonderheiten des Untersuchungsrechts zumindest Kennntis genommen. Die Reform hatte diese Vorschrift ersatzlos gestrichen, ohne damit parlamentsinterne Regelungsverluste befürchten zu müssen. Vgl. zur Altfassung Trossmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977, S. 432 ff.; zur Reform Trossmann/Roll, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages. Ergänzungsband, 1981, S. 91 ff. 39 So (für viele) Trossmann (o. Fn. 38), S. 452, wonach der die IPA-Regeln enthaltende Gesetzentwurf (BT-Drs. V/4209) ohne Rücksicht auf seinen Inhalt schon mangels Ermächtigungsgrundlage kein „Ausführungs-

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sogar verfassungstranszendente Gehalte aufwiesen - etwa die Befugnis, entgegen Art. 43 Abs. 2 GG Mitglieder der Bundesregierung von nichtöffentlicher Sitzung des Untersuchungsausschusses auszuschließen - , hatte man zur Kenntnis nehmen müssen und diese Vorschriften dann auch in die parlamentarische Praxis nicht übernommen. Stattdessen griff man direkt bzw. analog auf das Strafprozessrecht zurück, ohne dass der Umfang dieses Rekurses in allen Einzelheiten immer konsentiert gewesen wäre. An der grundsätzlichen Kompetenz des Parlaments, diesen Gegenstand im Allgemeinen und Organisation wie Verfahren des Ausschusses im Besonderen überhaupt durch Gesetz - und nicht „nur" durch Geschäftsordnung - zu regeln, hatte man hingegen von Anfang an nicht gezweifelt. Alle Entwürfe enthielten genuines Binnenrecht, das genauso gut in der Geschäftsordnung Platz gefunden hätte, verknüpft mit außenwirksamen Vorschriften, die in der GOBT ohnehin kein Hausrecht haben konnten. Zweifel hinsichtlich einer legislativ ausgeformten Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages kamen erst im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste auf 40 . Folgte man dem Sondervotum der Richter Böckenförde und Mahrenholz, so schien die verfassungsrechtlich verankerte Geschäftsordnungsautonomie zur Regelung der parlamentarischen Binnenorganisation (auch von Untersuchungsausschüssen) ausschließlich in den Formen der Geschäftsordnung zu zwingen, solange und soweit (wie bei Art. 44 GG der Fall) keine gesetzliche Ermächtigung bereitstand. Nur auf diesem Weg ließen sich, so das Sondervotum, die Minderheitenrechte der Abgeordneten ebenso wirksam schützen wie dadurch eine funktionswidrige Beteiligung und Einflussnahme anderer Verfassungsorgane auf den innerparlamentarischen Prozess ausgeschlossen werden konnte 41 . gesetz" sein konnte, solange nicht die Verfassungsnorm selbst geändert und hierfür geöffnet würde. Über diese Voraussetzung schwieg sich BTDrs. V/4209 allerdings aus. 10 BVerfGE 70, 324 ff.

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Die die Entscheidung des BVerfG tragende Mehrheit schloss sich dieser Meinung indes nicht an, sie räumte aber auch nicht (wie z.T. von der parlamentarischen Praxis vertreten) eine umfassende parlamentarische Wahlfreiheit zwischen Gesetz und Geschäftsordnung ein. Nur soweit das Gesetz nicht der Zustimmung des Bundes rates bedurfte, der Kern der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages nicht berührt wurde und gewichtige sachliche Gründe vorlagen, sollte eine binnenorganisatorische Regelung durch außenwirksames Gesetzesrecht möglich sein 42 . Das PUAG hat diese Grenzen, die im Übrigen nur die Binnenorganisation im Ausschuss (vor allem Zusammensetzung, Vorsitz, Einberufung, Beschlussfähigkeit, Ermittlungsbeauftragter, Sitzungsführung) und nicht die Beweiserhebungsrechte zu erfassen vermag, nicht berührt. Für die Zulässigkeit als gesetzliche Regelung insgesamt spricht neben der vorrangigen Verfassungsrechtslage (die vom Gesetz an verschiedenen Stellen nur wiederholt und anwendungsnäher ausgeformt wird) der überwiegend außenwirksame Charakter der Vorschriften, mit dem die Binnenorganisation und das Ausschussverfahren im engsten und untrennbaren (weil dienenden und die Untersuchung erst ermöglichenden) Sachzusammenhang steht 43 . Dass aber außenwirksames Parlamentsrecht, zumal wenn es mit möglichen Eingriffen in Grundrechte Privater verbunden ist, auch in diesem Zusammenhang einer gesetzlichen Grundlage bedarf, ist zumindest heute noch die ganz überwiegende Meinung, der sich das PUAG ausdrücklich angeschlossen hat 44 . 11

Vgl. dazu Schröder; Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Parlaments bei der Festlegung des Beratungsmodus, Jura 1987, 469 ff.; aus parlamentarischer Sicht (ablehnend) Bücker; Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZParl 17 (1986), 324 ff.; Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZParl 17 (1986), 334 ff. 12 So die Mehrheit in BVerfGE 70, 324 (360 ff.); zum Meinungsstand seither Pietzcker, Schichten des Parlamentsrechts, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 10 Rn. 13 ff.; Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, 1992, S. 139 ff. 43 Zu diesem, eigentlich verbandskompetenziellen Argument Bollmann (o. Fn. 42), S. 140.

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3. D a m i t ist j e d o c h nicht die zweite Frage beantwortet, die d e n Gesetzgeber u m g e t r i e b e n hat: i n w e l c h e m Rahmen die Regelung der B e w e i s e r h e b u n g i m Untersuchungsausschuss spezialgesetzlich u n d a b w e i c h e n d v o n d e n „Vorschriften über d e n Strafprozeß" (Art. 44 Abs. 2 G G ) ü b e r h a u p t zulässig war. Da m a n aus hier nicht w e i t e r zu hinterfragenden, aber keineswegs z w i n g e n d e n G r ü n d e n eine Verfassungsänderung für nicht m ö g l i c h ( u n d - deshalb? - nicht für erforderlich 4 5 ) hielt, glaubte man, d e n unveränderten Vorgaben des Grundgesetzes a m besten d a d u r c h gerecht zu w e r d e n , dass m a n die bislang - auch i m Parteispenden-Untersuchungsausschuss - A n w e n d u n g find e n d e n strafprozessualen Vorschriften entweder fast wortgetreu i n das P U A G ü b e r n a h m oder ( n o c h zurückhaltender) auf sie i m E i n z e l n e n v e r w i e s b z w . ihre A n w e n d b a r k e i t e x p l i z i t ausschloss 4 6 . Für diese Z u r ü c k h a l t u n g k o n n t e der PUAG-Gesetz-

14 Unbestritten ist dies indes nicht; a.A. etwa Schwerin, Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber, 1998, S. 77 ff. (88), wonach der Deutsche Bundestag - soweit es für die Wahrnehmung seiner Aufgaben erforderlich ist - auch zum Erlass solcher Geschäftsordnungsbestimmungen ermächtigt ist, die für Privatpersonen Rechsverbindlichkeit erzeugen und über „Außenwirkung" verfügen. Ähnlich im Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis, wenngleich zurückhaltender Haug. Bindungsprobleme und Rechsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1994, S. 110 ff., der indes den Bürger als Zeugen vor Untersuchungsausschüssen (anders als Auskunftsperson bei Anhörungen) nicht dem parlamentarischen Innenbereich zuordnet und deshalb eine gesetzliche Grundlage hierfür fordert (ebd., S. 115 f.). Allgemein hierzu Bieber; Das Verfahrensrecht von Verfassungsorganen, 1992, S. 115 ff., der die Funktionsbedürfnisse eines Organs nach außen generell durch in der Geschäftsordnungsautonomie mitgeschriebene implied powers-Befugnisse befriedigen will. Das (einseitig) europarechtliche - und nicht verallgemeinerungsfähige - Vorbild dieser Überlegung ist unverkennbar. ^ Erforderlich wäre sie nach überwiegender Meinung (vgl. Versteyl, in: von Münch/Kunig [Flg.], Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 5. Aufl. 2001, Art. 43 Rn. 32) jedenfalls für einen Ausschluss der Mitglieder der Bundesregierung von nicht-öffentlichen Sitzungen des Untersuchungsausschusses, der sich mit Missständen innerhalb der Exekutive beschäftigt. 16 Vergleicht man etwa die Kommentierung zu Art. 44 GG vor und nach dem PUAG bei Magiern (in: Sachs [Hg.], Grundgesetz. Kommentar, 4. Aufl. 1999 und 5. Aufl. 2003), finden sich dort sachlich keine Unterschiede in den früheren (StPO) und jetzigen (PUAG) Befugnissen zur Beweiserhebung; differenzierender Klein (o. Fn. 9), Art. 44 Rn. 206 ff.

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geber nicht nur seinen politischen Gestaltungs(un)willen, sondern auch und vor allem die engen Grenzen der Vorgaben des Grundgesetzes ins Feld führen, wie sie ihm nicht zuletzt im Gesetzgebungsverfahren sachverständlich vorgestellt wurden: Ganz überwiegend sah man seinen Beruf als stark verfassungslimitiert an, und zwar auf eine die herkömmlichen strafprozessualen Befugnisse klärende, weil Übersicht und Transparenz schaffende Kompilation und höchst behutsame Adaption - nicht mehr 47 . Diese verbreitete Sichtweise kann sich auf eine gefestigte doppelte Grundlage in Art. 44 GG stützen: auf das Fehlen einer speziellen Ermächtigung zum Erlass eines Ausführungsgesetzes in der gesamten Vorschrift einerseits, auf die gegenständliche Festlegung in Abs. 2 Satz 1 der Norm andererseits. Dass der Verfassunggeber, nicht nur darin dem unausgereiften Vorbild des Art. 34 WeimRV folgend, von einer expliziten Ermächtigung des Gesetzgebers zur Normkonkretisierung keinen Gebrauch machte, dürfte vor allem auf die Vorstellung zurückzuführen sein, das parlamentarische Verfassungsleben funktioniere - auch und gerade in seiner Gegenüberstellung und Austarierung von regierungstragender Abgeordnetenmehrheit und oppositioneller Minderheit - umso besser, je weniger verrechtlicht der Prozess politischer Auseinandersetzung in der Volksvertretung stattfinden könne; nicht von ungefähr waren (und sind) auch die Informations· und Kontrollrechte des einzelnen Abgeordneten (z.B. in Art. 43 Abs. 1 GG) und die des Parlaments insgesamt (z.B. in Art. 45c GG) nur punktuell und rudimentär ausgestaltet und im Übrigen der Selbststeuerung des parlamentarischen Regierungssystems überlassen 48 . 17

Vgl. etwa die Stellungnahmen in der Öffentlichen Anhörung zu den Gesetzentwürfen vor dem Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung am 10.5.2000, Prot. G 32, S. 27 (Löwer), S. 38 ( Rogali λ S. 52, 65 (Schröder)·, weitergehend allein Sälzer, ebd. S. 67 f. 48 Die Entstehungsgeschichte (z.B. bei Rechenberg, in: Bonner Kommentar, Lbl. Stand 2002, Art. 44, unter I.) zeigt, dass man im Parlamentarischen Rat, damaliger Überzeugung folgend, keinen Bedarf für eine gesetzliche Detailregelung des Untersuchungsverfahrens - diesseits oder jenseits der StPO-Befugnisse - gesehen hat, ebensowenig wie die Landesverfassungen

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Aus dem Fehlen einer besonderen Ermächtigung darf indes nicht der (Umkehr-)Schluss gezogen werden, die Verfassung verbiete eine legislative Normkonkretisierung, gleichgültig ob sie eine Regelung von in Art. 44 GG offen gehaltenen Rechtsfragen oder eine Interpretation der „sinngemäßen Anwendung" der „Vorschriften über den Strafprozess" beinhaltete. Wie das lehrreiche Beispiel der gliedstaatlichen Verfassungen zeigt 49 , steht dem Gesetzgeber die auch sonst selbstverständlich eröffnete Befugnis zu, unter Beachtung des Vorrangs der Verfassung und der bundesstaatlichen Kompetenzordnung dort vorrangig Geregeltes „nachzunormieren", es zu konkretisieren und für den Rechtsanwender besser handhabbar auszugestalten: Obgleich weder in Bayern noch in Bremen, Rheinland-Pfalz oder im Saarland die Verfassung den Gesetzgeber explizit ermächtigt hat, hat sich dieser - zu Recht - nicht daran gehindert gesehen, in einem Untersuchungsausschussgesetz das Verfassungsgebotene „feinzuregeln" und Vorschriften über Organisation, Zusammensetzung und Verfahren parlamentarischer Untersuchungen zu erlassen, die sich nicht direkt dem Wortlaut der Verfassung entnehmen lassen50. 4. Das PUAG steht demnach schon insoweit im Einklang mit Art. 44 GG, als es überhaupt diesen Sachbereich auf Bundes(tags)ebene näher normiert und über das hinausgeht, was das Grundgesetz hierfür direkt bestimmt bzw. zulässt. Die hierfür unentbehrliche - ausschließliche - Verbandskompetenz konnte der Gesetzgeber allerdings nur der ungeschriebenen

der Zeit. Diese gemeindeutsche Vorstellung verlor sich erst mit Beginn der 70er Jahre, als in Bayern und Berlin (1970), im Saarland (1973) und in Baden-Württemberg (1976) besondere Untersuchungsausschussgesetze erlassen wurden. 19 Zu ihrer Vorreiter- und Ergänzungsfunktion gegenüber dem Grundgesetz Graf Vitzthum, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, WDStRL 46 (1988), S. 7 ff. (19 f.). 50 Zur Rechtslage in Bayern BayVerfGHE n.F. 30, 48 (60); zu Bremen Preuß, in: Kröning u.a. (Hg.), Handbuch der Bremischen Verfassung, 1991, S. 326 ff.; zu Rheinland-Pfalz Brocker; in: Grimm/Caesar (Hg.), Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2001, Art. 91 Rn. 7.

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Befugnis zur Rechtsetzung kraft Natur der Sache e n t n e h m e n 5 1 . Etwas schwieriger erweist sich die B e a n t w o r t u n g der ( z w e i t e n ) Frage, i n w i e w e i t sich das P U A G v o n der h e r k ö m m l i c h e n A d a p t i o n der strafprozessualen Beweiserhebungsregeln ( u n d der mitgeschriebenen Rechte der Betroffenen u n d Zeugen) entfern e n k a n n b z w . hätte entfernen k ö n n e n , o h n e die Ermächtigung zur „sinngemäßen A n w e n d u n g " der „Vorschriften über d e n Strafprozess" zu verlassen. Da d e m Gesetzgeber des demokratischen Rechtsstaates keine Befugnis zur „authentischen Interpretation" der Verfassung d u r c h (Ausführungs-)Gesetz zuk o m m t 5 2 , lässt sich die verfassunggewollte A n b i n d u n g der Bew e i s e r h e b u n g an e i n e n definierten R e g e l k o m p l e x n i c h t d u r c h (u.U. extensive) A u s l e g u n g letztlich verfassungsgerichtsfest bestimmen, n o c h w e n i g e r diese B i n d u n g abschütteln. Allerdings eröffnet das Grundgesetz d e m Gesetzgeber bei Art. 44 G G erhebliche Regelungsspielräume, die z u m e i n e n i n der Festlegung der „Vorschriften über d e n Strafprozess" liegen, z u m anderen i n ihrer „sinngemäßen A n w e n d u n g " ; beides lässt ^1 Dass die dahinter stehende Sachaufgabe: Ausstattung eines Verfassungsorgans des Bundes mit den für die Wahrnehmung einer existenziellen Zuständigkeit erforderlichen Befugnissen, ausschließlich einheitlich und nur auf gesamtstaatlicher Ebene wahrgenommen werden kann (dazu allg. März, in: von Mangoldt / Klein / Starck [o. Fn. 151, Art. 30 Rn. 64), leuchtet unmittelbar ein und bedarf keiner weiteren Begründung. Für die Untersuchungsausschussgesetze der Länder folgt die Zuständigkeit aus Art. 70 GG. 1,2 Das gewählte Bild ist unscharf - soll aber gleichwohl, da common sense, hier verwendet werden - , da die damit umschriebene Rechtsfigur nach Herkunft und Telos die authentische Auslegung der zu interpretierenden Norm auf derselben Normstufe meint, nicht die verbindliche Festlegung eines Normgehalts auf nachrangiger Ebene (was häufig übersehen wird); vgl. Droste-Lehnen, Die authentische Interpretation, 1990, S. 282 ff. - Wenn darunter heute ganz selbstverständlich (auch und vor allem) die allgemein verbindliche und daher maßgebliche Interpretation des Grundgesetzes durch das BVerfG verstanden wird (so für viele H. Schneider; Zur authentischen Interpretation von Gesetzen, in: Bernhardt u.a. [Hg.], Völkerrecht als Rechtsordnung - Internationale Gerichtsbarkeit - Menschenrechte. Festschrift für Hermann Mosler, 1983, S. 849 ff. [854]), so kann dies immer nur in einem weiteren, rechtsanalogen Sinn gemeint sein. Gegen diese (gedankenlose) Identifizierung bereits Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 288 f.; grundlegend nunmehr Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 363 ff. m.w.N.

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sich nicht trennen, da es aufeinander aufbaut und nur in seiner dualen Festlegung Sinn macht. Derselbe Gesetzgeber, der schon nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG über den Inhalt des Strafverfahrensrechts und der Gerichtsverfassung im Rahmen der Grundrechte und der Verfassungsgrundsätze ungebunden entscheidet und damit auch erst die Institute und Instrumente ausprägt, die dem Untersuchungsausschuss zur Beweiserhebung überhaupt zur Verfügung stehen können, hat (zumindest gedanklich daran anschließend) über die sinngemäße Anwendung dieser Befugnisse und ihrer Grenzen im parlamentarischen Kontrollkontext zu entscheiden. Das Grundgesetz hat klar zu erkennen gegeben, dass mangels Identität oder Deckungsgleichheit von Strafverfolgung und politischer Kontrolle eine direkte Übernahme der Strafprozessbefugnisse ohnehin nur ganz ausnahmsweise in Betracht kommen kann. Die einzelnen Beweiserhebungskompetenzen müssen daher notwendig teleologisch interpretiert, demzufolge reduziert oder auch erweitert, also umgebaut und auf den anders gearteten Kontext einer - allenfalls gerichtsförmig „verpackten", aber ohne rechtsförmlich ermittelnden Staatsanwalt und unparteiisches, an strikt auszulegende Strafnormen gebundenes Gericht geführten - parlamentarischen Untersuchung zugeschnitten werden. Die Grenzen der verfassungsgebotenen Rückbindung der Beweiserhebung nach dem PUAG an die Beweiserhebung nach StPO (und GVG) sind erst dann überschritten, wenn sich die strafprozessualen Handiungs- und Verfahrensgrundsätze - nicht schon die einzelnen Normen - im parlamentarischen Untersuchungsrecht bei gegebener Funktionskongruenz nicht mehr wiederfinden lassen. Im PUAG erscheinen diese Grenzen allenfalls am Horizont erkennbar; eine Gefahr ihrer Verletzung besteht nicht einmal abstrakt. Wie bei den Grundrechten - ja hier noch mehr als dort - ist die Verfassung als staatsorganisatorische Rahmenordnung des parlamentarisch-politischen Prozesses gefordert und zu ihrer wirksamen Entfaltung auf die konkretisierende Mithilfe des Gesetzgebers angewiesen 53 . Bei Art. 44 GG gilt dies sogar auf ">3 Zu dieser Konkretisierungsaufgabe allgemein Badura, in: Isensee/ Kirchhof (Hg.), HStR VII, 1992, § 163 Rn. 7 ff.; P. Kirchhof Verfassungs-

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zwei Stufen rechtsstaatlicher Arbeitsteilung: Erst müssen die Vorschriften über den Strafprozess entwickelt werden, bevor diese dann funktional gefiltert auf die Beweiserhebung in und durch Untersuchungsausschüsse übertragen werden können. Auf beiden Ebenen des in Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG ausdifferenzierten Rechtsetzungsprozesses - auf der zweiten Stufe weitergehend als auf der ersten - stehen dem Strafprozessgesetzgeber 54 wie dem PUAG-Gesetzgeber ein weiter Entschließungsund Gestaltungsspielraum zu. Dieser Spielraum erfährt auf der zweiten Ebene eine zusätzliche „Freisetzung" in Gestalt besonderer Nähe zum parlamentarisch-politischen Entscheidungsgang, also zum Demokratieprinzip, während auf der ersten Stufe, im isoliert strafverfahrensrechtlichen Kontext, das Rechtsstaatsprinzip im Vordergrund steht. Beides zusammen führt dazu, dass der PUAG-Gesetzgeber nicht die Verfassung wie eine legislative Gebrauchsanleitung nachvollziehen kann, sondern sie erst entfalten muss. Er hat die parlamentarische Untersuchungsaufgabe mit einem wirkungsvollen Instrumentarium auszustatten, damit der in Art. 44 GG festgelegte Verfassungsauftrag von seinem Untersuchungsausschuss wahrgenommen werden kann 55 . Dieser rechtsschöpferische Aspekt stand im Gesetzgebungsverfahren freilich nicht im Vordergrund: Innovativ ist das PUAG vornehmlich dort, w o es darauf gerade nicht wesentlich ankommt, etwa beim Ermittlungsbeauftragten; im Übrigen wurde weniger novelliert als die jahrzehntealte parlamentarische Praxis und Anregungen aus der Wissenschaft legiferiert, nunmehr indes unter Beachtung früher gerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Badura / Scholz (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 5 (14 ff.). Der nicht nur hier - sondern etwa auch beim Begriff der „Beweiserhebung" - insofern weit, d.h. untechnisch zu verstehen ist, als z.B. auch Vorschriften des Gerichtsverfassungsrechts einbezogen sind. Vgl. dazu Achterberg/Schulte, in: von Mangoldt/Klein/Starck (o. Fn. 15), Art. 44 Rn. 117 ff., 122. " Hierzu - im Kontext der Gentechnologiedebatte - Graf Vitzthum, Rechtspolitik als Verfassungsvollzug? Zum Verhältnis von Verfassungsauslegung und Gesetzgebung am Beispiel der Humangenetik-Diskussion, in: Günther/Keller (Hg.), Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik - Strafrechtliche Schranken?, 2. Aufl. 1991, S. 61 ff.

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gerne ignorierter Verfassungsgrundsätze (Minderheitenschutz im Ausschuss). Zumindest pro forma sind Lücken, die vordem zu parteipolitischer „Obstruktion" gefunden und instrumentalisiert werden konnten, geschlossen worden 5 6 ; interpretationsfähige Verfassungsvorgaben wurden praxisgerecht konkretisiert; die Normenkaskade (von der Verfassung bis hin zu den parlamentarischen Usancen) wurde systematisiert und kodifiziert 57 . Dass das Ergebnis insgesamt eine zulässige Verfassungskonkretisierung darstellt, kann man nicht bezweifeln; der Gesetzgeber hätte sich sogar guten Gewissens weiter vom strafprozessualen Instrumentarium entfernen können, ohne mit Art. 44 GG in Konflikt zu geraten. Verfassungsrechtliche Fallstricke zeigt das PUAG auch auf den zweiten Blick dort jedenfalls nicht, wo (wie etwa beim Betroffenenstatus) strafverfahrensrechtliche Strukturen nicht nahtlos adaptiert oder (wie z.B. beim Vorsitzendenverfahren zur Sicherung privater Geheimnisse) verfassungsgerichtlich entwickelte Schutzregeln nicht unbesehen fortgeschrieben wurden. Ungeklärte Probleme scheinen im Gegenteil dort auf, wo der Gesetzgeber sich zu eng an das strafverfahrensrechtliche Muster angelehnt und Besonderheiten im parlamentarisch-politischen Prozess hintangestellt hat, etwa bei der nur gerichtsöffentlichen Beweiserhebung (§§ 13 f. PUAG) 58 ; der Ausschluss der Medien ist zumindest dort kaum gerechtfertigt, wo es sich um die Untersuchung des Verhaltens staatlicher Amtsträger mit besonderer parlamentarischer Verantwortung - und nicht um „Verfehlungen" Privater - handelt. Dass aus der Reform zwar eine solide 56 Vgl. jedoch die Einsetzung des 1. Untersuchungsausschusses der 15. Wahlperiode (o. Fn. 13). 57 Ob das PUAG für die Beweiserhebung eine abschließende Regelung darstellt, die den Rückgriff auf nicht rezipierte StPO-Vorschriften ausschließt, ist damit noch nicht gesagt; eine Beantwortung dieser Frage bedürfte noch näherer Untersuchung. 58 Kritisch dazu Morlok, Prot G 32 (o. Fn. 47), S. 33 f.; a.A. Schröder, Altes und Neues zum Recht der Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse aus Anlass der CDU-Parteispendenaffäre, NJW 2000, 1455 (1458); s.a. Umbach, in: Umbach / Clemens (o. Fn. 11), Art. 44 Rn. 65. - BVerfGE 103, 44 (63 ff.) lässt sich weder zu Art. 44 Abs. 1 Satz 1 noch zu Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG etwas entnehmen.

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Arbeitsgrundlage, aber kein großer parlamentsrechtlicher Wurf geworden ist, liegt also gewiß nicht an den - gar nicht so engen - Grenzen des Verfassungsrechts, sondern an den (partei-) politisch begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers. Wie so oft in eigener Sache musste man auch hier - wenn das Bild erlaubt ist - den parlamentarischen Hund fast zum Jagen tragen. IV. Ein abschließender Blick auf das im laufenden Untersuchungsausschuss seiner ersten Bewährungsprobe ausgesetzte Regelwerk des PUAG zeigt, dass der Gesetzgeber die Schwächen der alten Rechtslage mehr im organisatorischen und verfahrensrechtlichen Umkreis gesehen hat als in den Grundsatzfragen dieses parlamentarischen Kontrollinstituts, vor allem in den Voraussetzungen seiner Anwendbarkeit. Sein Ziel war es nicht, das Untersuchungsrecht neu zu vermessen (oder gar zu erfinden) und für alle damit zusammenhängenden Streitfragen einen eindeutigen rechtlichen Maßstab zur Verfügung zu stellen; in den Untiefen des parlamentarisch-politischen Prozesses wäre dies ohnehin nicht möglich und auch nicht wünschenswert gewesen. Die Rechtlichkeit und Akzeptanz von Untersuchungen durch das Parlament sollte vielmehr durch ein übersichtlich strukturiertes, leicht zu handhabendes und parteiliche Inanspruchnahme zumindest kanalisierendes Verfahrensregime abgesichert und - auch rechtsschutztechnisch - verbessert werden: Legitimität durch Verfahrensgerechtigkeit war das Ziel, nicht Verrechtlichung der (flüssigen und flüchtigen) Inhalte des Untersuchungsrechts. Das PUAG ermöglicht allen Beteiligten (Mehrheit wie Minderheit der Abgeordneten, aber auch den Zeugen und von der Untersuchung Betroffenen) die Teilhabe am Untersuchungsgegenstand und die effektive Einflussnahme bzw. Gegenwehr bei der Beweiserhebung und sogar bei der Beweiswürdigung; die Interessen der vordem zumindest de iure als „beteiligungsschwaches Auskunftsmaterial" angesehenen Zeugen werden nun ernst genommen und sind außenwirksam

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durchsetzungsfähig ausgestaltet worden^ 9 . Insofern verdient das PUAG unter rechtsstaatlichen Aspekten Lob und Anerkennung. Eher in den Hintergrund getreten ist dabei allerdings das Demokratieprinzip, genauer: der parlamentarische Kontroll- und Verantwortungszusammenhang, der hinter dem Untersuchungsrecht steht und es überhaupt erst rechtfertigt, dass sich die Volksvertretung inquisitorisch und zwangsbewehrt mit Vorgängen befassen kann, die ihr sonst nur im Weg der schlichten Information und parlamentarischen Debatte oder äußerstenfalls der sanktionierenden Kontrolle - von der (auch Haushalts-) Gesetzgebung bis zum Misstrauensvotum - zugänglich sind. Dass die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und die Beweiserhebung durch Volksvertreter über echte oder vermeintliche Missstände aus dem Umkreis der Zweiten Gewalt nur als Instrument der Kontrolle im parlamentarischen Regierungssystem gerechtfertigt ist, ist ein Gemeinplatz unseres Verfassungsrechts, ebenso, dass die Funktion des Instituts allein in der Geltendmachung politischer Verantwortlichkeit liegt 60 . Diese (notgedrungen „persönliche") Verantwortlichkeit setzt indes eine verfassungskräftige Beziehung voraus, in der das Parlament von Dritten ein bestimmtes Verhalten einfordern und diese beim Verfehlen des damit verbundenen Maßstabs mit dem Verlust politischen Vertrauens oder gar eines politischen Amts bestrafen kann 61 . Während eine solche responsable Beziehung im Verhält^ Vgl. dazu allgemein Bottke, Materielle und formelle Verfahrensgerechtigkeit im demokratischen Rechtsstaat, 1991, S. 33 ff.; zum rechtsethischen Gehalt Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, 1992, S. 53 ff., 103 ff. Ein verwandter Anwendungsfall findet sich bei Graf Vitzthum, Verfahrensgerechtigkeit im Völkerrecht. Zu Erfolgsbedingungen internationaler Rechtschöpfungskonferenzen, in: von Münch (Hg.), Völkerrecht - Staatsrecht - Europarecht. Festschrift für H.-J. Schlochauer, 1981, S. 739 ff. 60 S. nur BVerfGE 67, 100 (130): „Das parlamentarische Regierungssystem wird grundlegend auch durch die Kontrollfunktion des Parlaments geprägt"; E 49, 70 (85): „Das Schwergewicht der Untersuchungen liegt naturgemäß in der parlamentarischen Kontrolle von Regierung und Verwaltung 61

Zu den verschiedenen Kategorien von Verantwortung Jakob, Die „neue" Verantwortung - psychosoziologische Anmerkungen zu Recht, Politik und Wirtschaft, in: Becker u.a. (Hg.), Recht im Wandel seines sozialen und technologischen Umfelds. Festschrift für Manfred Rehbinder, 2002,

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nis Staat - Gesellschaft grundsätzlich nicht besteht 62 , sind die Mitglieder der Bundesregierung dem Parlament im Bereich ihrer Amtstätigkeit uneingeschränkt verantwortlich. Diese parlamentarische Verantwortung geltend zu machen, ist seit Max Weber die Kernfunktion des Untersuchungsrechts, wobei hier weniger auf den formalen Schlusspunkt: den Abschlussbericht an das Plenum, abzustellen ist als auf das Einsetzen des Ausschusses und das Vorantreiben der Untersuchung selbst: Schon die Beweiserhebung unci -bewertung fordert die politische Verantwortlichkeit ein, bereitet sie also nicht nur vor. Die diesem Instrument eigene Publizitäts- und Kontrollfunktion führt in Verbindung mit dem Minderheitenschutz des Art. 44 Abs. 1 und 2 GG dazu, dass sich die Mittel-Zweck-Relation jedenfalls bei Missstandsenqueten umgekehrt hat: Das Untersuchungsrecht ist verantwortungsbezogener Selbstzweck, nicht Mittel zu einem (späteren) externen Kontrollzweck; seine Inanspruchnahme soll den politischen Gegner im Parteienwettbewerb einen Legitimationsvorsprung verschaffen, ihm ein politisch-propagandistisches Kampfmittel an die Hand geben 63 . Zu diesem nicht bemessenen und letztlich auch nicht begrenzten Zweck werden dem Untersuchungsausschuss die Beweiserhebungsbefugnisse eingeräumt. Damit ist zwischen dem rechtlich ungebundenen politischen, auf Öffentlichkeit und Wähler„werbung" zielenden Agieren (und Agitieren) der Abgeordneten, Fraktionen und Parteien und dem detektivischen Aufdecken von gubernativen oder administrativen Vorgängen S. 525 ff.; zur politischen Form Ellwein, Über politische Verantwortung, 1978; Scheuner; Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 379 ff.; zur verfassungsrechtlichen Ausprägung unter dem Grundgesetz Badura, Die parlamentarische Verantwortung der Minister, ZParl 11 (1980), 573 ff. 62 Schon dieser - vielleicht zu schlichte - Zusammenhang von demokratischer Verantwortlichkeit und parlamentarischer Untersuchung verbietet es, die Beweiserhebungsbefugnisse des Art. 44 GG zur Aufklärung von Missständen genuin im wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Bereich heranzuziehen; vgl. Masing (o. Fn. 34), S. 316 ff. m.w.N. 63 Treffend zu dieser Funktion Morlok (o. Fn. 18), Art. 44 Rn. 9 ff.; s.a. Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 2000, S. 367 ff.

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durch tatsachengestützte Ermittlung der „Wahrheit", durch Heranziehen persönlicher und sächlicher Beweismittel (§§ 17 ff. PUAG) auch gegen den Willen der Akteure - deren offengelegtes Verhalten u.U. auch eine straf- oder disziplinarrechtliche Verantwortung auslösen kann - , ein verfassungsrechtlich nur schwer zu aufzulösender Zielkonflikt programmiert 64 . Ihn hat das PUAG abgeschwächt, indem die Befugnis zur Tatsachenermittlung einerseits zwar weiträumig und einheitlich ausgestaltet wurde - eine Unterscheidung von Zeugen und (privilegierten) Betroffenen fehlt wie gesagt - , andererseits die dem Strafverfahren eigenen Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte für Zeugen ebenso weiträumig übernommen wurden: Sie können jede Auskunft auf Fragen verweigern, deren Beantwortung sie (bzw. ihre Angehörigen) der Gefahr aussetzt, „einer Untersuchung nach einem gesetzlichen geordneten Verfahren" ausgesetzt zu werden 6 ^. Die der rechtlichen, im Kern privaten Verantwortlichkeit eigenen und dort legitimen Schutzrechte finden also - Stichwort: „Folgenberücksichtigung" - auch im Kontext parlamentarisch-politischer, d.h. aber demokratischer öffentlicher Verantwortlichkeit Anwendung, der nemo teneturse ipsum accusare-Gmndsatz soll hier wie dort unvermittelt gelten 66 . Die vom Gesetzgeber gewählte extensive Gleichschaltung von politischer und juristischer Rechenschaftspflicht und Selbstbelastungsfreiheit ist im Gegenüber von grundrechtlich gebotenem, eingriffsbezogenem Abwehranspruch des persönlich Betroffe61 Hierzu plastisch die Vorträge von Depenheuer und Schneider bei der Veranstaltung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen am 16.5.2001 („Wahrheitssuche zwischen Recht und Politik - Was leistet das neue Untersuchungsausschussgesetz?"), Prot. S. 3 ff., 11 ff. Schon die allgemeine Drohung der Einleitung eines straf-, ordnungswidrigkeits- oder disziplinarrechtlichen Verfahrens soll ausreichen, so Wiefelspütz (o. Fn. 4), S. 569. In letzterer Hinsicht übertrifft das PUAG sogar das Schutzniveau der StPO, s. Mager {o. Fn. 22), S. 611. 66 Vgl. dazu im Strafprozessrecht Rogali , Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 170 ff.; Bosch, Aspekte des nemo-teneturPrinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht, 1998, S. 128 ff.; Verrei , Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001; zur Ausstrahlungswirkung auf das Verwaltungsrecht Wolff Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, 1997, S. 99 ff.

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nen und öffentlicher demokratischer Verantwortlichkeit gubernativer und exekutiver Amtsträger weder verfassungsrechtlich geboten noch uneingeschränkt verständlich. Das PUAG missversteht das legitime Schutzinteresse von Mitgliedern der Regierung vor politischer Selbstbelastung, wenn es an ihr Agieren im öffentlichen Auftrag die gleichen Selbstentlastungsmaßstäbe anlegt wie an ihr persönliches, eventuell strafrechtlich relevantes Verhalten 67 . Hierin zeigt sich wieder einmal ein auch verfassungshistorisch 68 durchlaufender, schlicht zu konstatierender „typisch deutscher" Gedanke: das Übergewicht rechtsstaatlichen vor demokratischem Denken. Auch insoweit rührt man an die Grenzen des Rechts.

67 Zu den gravierenden Unterschieden Masing, Politische Verantwortlichkeit und rechtliche Verantwortlichkeit, ZRP 2001, 36 ff.; s.a. Nicolaus, Politische Verantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, ZParl 31 (2000), 391 ff. 68 Ein Beispiel bei Graf Vitzthum, Eher Rechtsstaat als Demokratie. Zu Zielvorstellungen im deutschen Widerstand, in: Burmeister (Hg.), Verfassungstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 97 ff.

Grenzen des Europarechts Die Europäische Zentralbank als Hüterin der Gemeinschaftswährung Von Jörn Axel Kämmerer; Hamburg* Am 1. Januar 2002 wurden die DM-Banknoten und Münzen als gesetzliches Zahlungsmittel durch die neuen auf Euro lautenden ersetzt. Von einem historischen Moment wird man schon deshalb nicht sprechen können, weil der Euro bereits seit Anfang 1999 als Gemeinschaftswährung fungiert, die DM seitdem nur mehr als Fassade fortbestand. Mit der Sichtbarmachung des Euro verbindet sich vor allem die Hoffnung, der Gemeinschaftswährung möge künftig die gleiche Wertschätzung entgegengebracht werden wie der Mark. Die Sorge, der Euro werde sich als „nicht so stark" erweisen wie diese, scheint angesichts der auf gemeinschaftsrechtlicher wie mitgliedstaatlicher Ebene getroffenen Vorkehrungen auf den ersten Blick unbegründet. Der Stabilität des Euro dient eine Trias von Sicherungsinstrumenten: Unabhängigkeit der Zentralbanken (Art. 108 EG), Vorrang der Preisstabilität bei ihrer Aufgabenerfüllung (Art. 105 EG, Art. 2 S. 1 ESZB-Satzung) sowie in Deutschland Art. 88 S. 2 GG, der den Bestand der anderen beiden Sicherungsinstrumente verfassungsrechtlich abstützt. I. Rechtliche Stabilitätsvorsorge zugunsten der Gemeinschaftswährung Die Europäische Zentralbank, kurz EZB, wurde am 1. Juni 1998 begründet. Auf sie ging am 1. Januar 1999, als für die mei* Für wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrags danke ich Herrn Wiss. Mitarb. Ole Andresen.

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sten Mitgliedstaaten die „dritte Stufe" der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) erreicht war, ein Großteil der währungsund notenpolitischen Befugnisse ihrer nationalen Zentralbanken, auch die der Bundesbank, über 1 . Gemeinsam bilden EZB und nationale Zentralbanken das Europäische System der Zentralbanken - ESZB - , innerhalb dessen Letztere hauptsächlich auf Ausführungsfunktionen für die EZB beschränkt sind 2 . Die ESZB-Satzung räumt den nationalen Zentralbanken immerhin das Recht ein, neben der EZB Offenmarktgeschäfte zu betreiben und gemäß ihren Vorgaben Mindestreservekonten zu unterhalten 3 ; auch die Wahrnehmung sogenannter „akzidentieller", nicht unmittelbar auf die Währungssicherung bezogener Aufgaben wie der Aufsicht über das Kreditwesen 4 ist nicht ausgeschlossen. Vorrangige Aufgabe einer Zentralbank ist das Bemühen um Erhaltung der Kaufkraft einer Währung; konsequenterweise hebt der EG-Vertrag in Art. 105 I 1 den Vorrang der Preisstabilität bei der Aufgabenerfüllung der EZB hervor. Das zweite Sicherungsinstrument ist die gegenüber den Gliedern des ESZB ausgesprochene Unabhängigkeitsgewährleistung, die über jene, die der Bundesbank durch einfaches Gesetz ursprünglich eingeräumt worden war, deutlich hinaus reicht. Ratio dieser Unabhängigkeit ist, die Erfüllung der umrissenen Kernaufgabe einer Zentralbank - Sicherung von Preisstabilität - zu optimieren 5 . Die Erteilung von Weisungen durch Regierungen, Gemeinschaftsinstitutionen und andere Stellen (auch Private) 6 ist nach 1

Art. 121 IV 1, 123 I 3, i.V.m. Art. 105 ff. EG. Art. 9.2, 12.1. Uabs. 3 ESZB-Satzung; Europäische Zentralbank, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3, Allgemeine Regelungen für die geldpolitischen Instrumente und Verfahren des ESZB, S. 2; M. Weber; Die Kompetenzverteilung im Europäischen System der Zentralbanken bei der Festlegung und Durchführung der Geldpolitik, 1995, S. 126 ff. (175); kritisch Selmayr; Die Wirtschafts- und Währungsunion als Rechtsgemeinschaft, AöR 124 (1999), S. 357 (377). 'Art. 18.1., 19.1. ESZB-Satzung. 1 Art. 14.4. ESZB-Satzung; hierzu Herdegen, Bundesbank und Bankenaufsicht: Verfassungsrechtliche Fragen, WM 2000, S. 2121 (2121) m.w.N. 5 Roth, Der rechtliche Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion, EuR Beiheft 1/1994, S. 45 (65 f.). 6 Louis , A Legal and Institutional Approach for Building a Monetary Union, CM LR 35 (1998), S. 33 (43). 2

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Art. 108 EGV ebenso verboten wie ihre Entgegennahme durch Organe des ESZB. Graf Vitzthum setzte sich schon in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre mit der Vision einer Europäischen Zentralbank auseinander und gab dabei der (begründeten) Befürchtung Ausdruck, der damals nur in Deutschland und den Niederlanden hochgehaltene Grundsatz der Zentralbankautonomie würde sich gegen die der „Ministerialfreiheit" abholden Modelle anderer Mitgliedstaaten nicht behaupten können 7 . Dass der EZB das Schicksal des Weisungsabhängigkeit erspart blieb, ist maßgeblich dem politischen Einsatz Deutschlands zu verdanken. Das dritte Sicherungselement ist verfassungsrechtlicher Natur und in seiner unmittelbaren Wirkung damit auf Deutschland beschränkt: Art. 88 S. 2 GG erhob die beiden vorgenannten Sicherungselemente - Unabhängigkeit der EZB und vorrangige Verpflichtung auf Preisstabilität - zur materiellen Voraussetzung für die Übertragung von Aufgaben und Befugnissen der Bundesbank auf die EZB. Diese Übertragung wurde bereits durch den Maastricht-Vertrag bewilligt und entfaltete am 1.1.1999 ihre Rechtswirkungen. Damit indes ist Art. 88 S. 2 nicht obsolet geworden, sondern er entfaltet als spezielle verfassungsrechtliche „Struktursicherungsklausel" auch noch nach dem Übertragungsakt Rechtswirkungen 8 .

Π. Grenzen gemeinschafts- u n d verfassungsrechtlicher Stabilitätsvorsorge Die WWU scheint dem Modell einer „Stabilitätsgemeinschaft", wie es das BVerfG in der „Maastricht-Entscheidung" umriss 9 , geradezu mustergültig zu entsprechen. Die Preisstabilität ist Graf Vitzthum, Zum Aufbau der Verwaltung im Bundesstaat, in: B. Becker/ Graf Vitzthum, Grundfragen der Verwaltungsorganisation (Arbeitshefte Staat und Wirtschaft), Hochschule der Bundeswehr München, 1980, S. 119 (166 f.) m.w.N. 8 Kämmerer in: von Münch/Kunig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 5. Aufl. 2003, Art. 88 Rn. 30; außerdem Pernice , in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd. III, 2000, Art. 88 Rn. 23, 39. C) BVerfGE 89, 155 (205).

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dem EG-Vertrag ein so wichtiges Anliegen, dass sie in immerhin fünf Artikeln Erwähnung gefunden hat 10 . Die bloße Bestandsaufnahme gemeinschaftsvertraglicher Stabilitätsvorgaben ist allerdings keine hinreichende Basis für die Evaluation der tatsächlichen Stabilitätsperspektiven. Auch der Blick auf die Rechtspraxis kann nicht mehr als einen empirischen Befund vermitteln. Immerhin enthüllt er, dass sich die EZB so strikt an den Vorrang der Preisstabilität hält, dass sich der Ökonom James Tobin gar zu beklagten bemüßigt fühlte, sie werde zu einer „Art Religion" hochstilisiert 11 . Der Preisauftrieb in der Euro-Zone hat sich verlangsamt, so dass die EZB kürzlich ihren Leitzinssatz auf fast 3 Punkte senken konnte. Nicht geklärt ist, ob in der WWU die Möglichkeit institutioneller Steuerung währungspolitischer Belange schrankenlos gewährleistet ist. Wie weit reicht im Ernstfall die steuernde Wirkung des ESZB? Wenn sie der Unterstützung der Mitgliedstaaten bedarf, sind deren Wirtschaftspolitiken und die Währungspolitik der EZB dann hinreichend aufeinander abgestimmt, um auch in Zukunft stabile Preise zu sichern? Wie ist dabei der Kursverfall des Euro im Verhältnis zum US-Dollar einzuordnen? Welchen Wert hat Preisstabilität überdies, wenn sie (wie zur Zeit) mit wirtschaftlicher Depression einhergeht? Damit ist die Frage nach den Grenzen des Rechts bei der Währungssicherung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft angerissen. 1. Eine Typologie rechtlicher Grenzen ,,[E]s gibt" - erklärt Horaz - „bestimmte Grenzen, jenseits und diesseits derer das Rechte nicht bestehen kann" („sunt certi [...] fines, quos intra citraque nequit consistere rectum"). 12 Wo das Deutsche von „Grenze" spricht, bietet die lateinische Sprache mindestens zwei Äquivalente. „Finis" bezeichnet - wie in diesem Zitat - Grenze im Sinne von Schranke oder Ende. Wer das 10

Art. 4 II, III, 105 I 1, 2 (beständiges, nichtinflationäres Wachstum), 121, 101 EG. 11 Interview in: Der Spiegel 36/2001, S. 122 (125). 12 Quintus Horatius Flaccus, Satiren, 1.1.

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Rechte tun will, muss - wie Horaz wohl sagen will - diese Schranke respektieren. Die Äußerung bietet jedoch Anlass zu weiter gehenden Überlegungen: Er deutet an, dass es einen (Makro- oder Mikro-)Kosmos gebe, der sich dem Zugriff des Rechts entziehe, den das Recht aber vielleicht auch nicht sinnvoll regeln könne. (Nicht zufällig bedeutet „finis" auch Zweck oder Absicht.) Im freiheitlichen Verfassungsstaat sind absolute Grenzen des Rechts allerdings gar nicht denkbar, denn wo der Staat nicht regeln kann oder regeln will, herrscht grundrechtlich geschützte Freiheit. Das Recht kennt hier nur relative Grenzen. Die Frage nach den finis-Grenzen des Rechts zielt deswegen darauf ab, ob und inwieweit der Telos - im vorliegenden Fall die Gewährleistung einer stabilen Währung - mit den bestehenden oder möglicherweise auch anderen Institutionen und Instrumenten überhaupt erreicht werden kann. Von besonderem Interesse wird sein, ob die Vergemeinschaftung der Währungspolitik der EZB weitere Aktionsräume erschlossen und höhere Effizienz gesichert hat, als sich ihrer bisher die nationalen Zentralbanken erfreuten. Neben „finis" steht das Wort „limes", Grenze als „Begrenzung" und „Abgrenzung", als Grenzlinie, mit nicht von ungefähr der weiteren Bedeutung „Weg" oder „Straße". So gesehen, können Grenzen auch ordnende Funktionen wahrnehmen, sie grenzen dann Rechtssphären von anderen Rechtssphären ab und ordnen die Rechtsregime zugleich einander als benachbarte zu, französisch gesprochen: „limitrophes". „Grenzen sind hier besondere Organe des Systems, Membranen von Zellen, Haut von Organismen, die spezifische Funktionen der Abschirmung und der selektiven Vermittlung von Austauschprozessen erfüllen" 13 . Solche Grenzen ordnen, konturieren und umhegen, doch vermögen sie auch die Rechtsordnungen zu verbinden, die sich in ihnen treffen; erst die Gemeinsamkeit einer Grenze macht sie penetrabel (und u.U. effizient). Auf die Herstellung grenzüberschreitender Verbindungen zwischen den staatlichen Ordnungen ist die gesamte Internationalisierung und Europäisierung des Rechts ge13

Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1998, Bd. I, S. 76.

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richtet. Das ESZB verfügt darüber hinaus über institutionelle Besonderheiten, die ihm Züge einer gemeinschaftlich-mitgliedstaatlichen und damit im Sinne der Rechtsordnungen gleichsam grenznachbarschaftlichen „Mischverwaltung" verleihen. Daher sollen zunächst die „limes"-Grenzen betrachtet werden. 2. Ordnende und konturierende Grenzen (limes-Grenzen) im Europarecht Die Europäische Union ist kein Bundesstaat, wohl aber kraft ihrer Struktur - Zuordnung untergeordneter Einheiten zu einer übergeordneten unter Verteilung der jeweiligen Kompetenzen - ein föderales System14. Der Wortlaut des Art. 88 S. 2 GG, der die Übertragung von Bundesbank-Kompetenzen auf die EZB gestattet, scheint ein eher zentral istisches Währungssicherungsmodell anzupeilen, wie es in Deutschland mit dem 1957 erfolgten Wandel der Bank deutscher Länder (einer „Bank der Landeszentralbanken") zur Deutschen Bundesbank, die als Bundesbehörde ohne Länderbeteiligung agiert 1^, etabliert wurde. Tatsächlich ist das institutionelle Geflecht der WWU differenzierter und vor allen Dingen föderalistischer, ohne hierdurch in Widerspruch zu Art. 88 S. 2 GG zu treten. Dieser bezieht sich nicht auf „eine", sondern auf „die Europäische Zentralbank", womit nur die durch den Maastricht-Vertrag eingeführte gemeint sein konnte 16 . Dies gilt umso mehr, als Ratio der Art. 23 und 88 S. 2 GG die Herstellung der Ratifikationsgrundlage für eben diesen Vertrag war; mit Bedacht macht Art. 88 S. 2 Anleihen bei der in Art. 108 EGV vorgefundenen Terminologie. Die Befugnis zur Währungssicherung, zum Ausdruck kommend in der vorrangigen Verpflichtung auf Erhaltung der Preisstabilität, und die dieser Aufgabe dienliche Unabhängigkeit weist der Vertrag nun aber nicht allein der EZB zu, sondern allen Teilen des ESZB, 11 Vgl. dazu die Beiträge in: Graf Vitzthum (Hg.), Europäischer Föderalismus, 2000. 15 § 29 I 2 BBankG; Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 468. 16 Hahn/ Häde, in: Kommentar zum Bonner Grundgesetz (BK), Lbl. Stand Mai 2001, Art. 88 Rn. 301; Blanke, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. III. 4. Aufl. 2001, Art. 88 Rn. 62, 68.

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also auch den Zentralbanken der Mitgliedstaaten als dessen integralen Bestandteilen (Art. 14.3 ESZB-Satzung). Die nationalen Zentralbanken sind der EZB zwar weisungsunterworfen, gestalten im Gegenzug über die Mitwirkung ihrer Zentralbankpräsidenten im EZB-Rat - formal gesehen ein Fall der Organleihe - und über die EZB-Ausschüsse (Art. 9.4 ESZB-Geschäftsordnung) die europäische Währungspolitik mit. Insofern überbrückt die WWU nicht nur die Grenzen zwischen mitgliedstaatlichem und europäischem Recht, sondern die auf die gesamte Euro-Zone bezogene Wirkung der getroffenen Entscheidungen lässt diese gerade auch als Akt komplementärer, gemeinsam und mit wechselseitiger Wirkung ausgeübter Souveränität erscheinen 17 . Diese mitgliedstaatlichen Systemvorgaben wirken auf die Auslegung des Art. 88 S. 2 GG zurück: Wo hier von „EZB" die Rede ist, muss dies als „ESZB" gelesen werden. Solange die föderale Struktur des ESZB aufrecht erhalten bleibt, ist eine Übertragung auch noch der letzten Kompetenzen der Bundesbank auf die EZB von Europarechts wegen ausgeschlossen. Art. 88 S. 2 GG stünde einer entsprechenden Änderung der gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen nicht entgegen, solange nur die Strukturvorgaben der Unabhängigkeit und des Vorrangs der Preisstabilität weiterhin Beachtung finden. Auch der Wortlaut der Norm („Ihre Aufgaben und Befugnisse können [...] übertragen werden") lässt erkennen, dass die Übertragung sämtlicher Aufgaben der Bundesbank - und damit entgegen der durch Art. 88 S. 1 ausgesprochenen Bestandsgarantie die Abschaffung dieser Institution - nicht ausgeschlossen sein soll 18 . Um die Rechtsgrenzen zwischen nationalem und Gemeinschaftsrecht im Rahmen des umrissenen föderalen Konzepts zu überschreiten, musste zwischen dem nationalen und dem gemeinschaftlichen Währungsschutz ein „Gleichklang" 19 hergestellt werden. In einem ersten Schritt wurden - vor allem auf Drän1 Schwarze/von Simson, Europäische Integration und Grundgesetz, 1992, S. 4; Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 558 ff. 18 Hahn/Häde (Fn. 16), Art. 88 Rn. 116, 293; Blanke {Υη . 16), Art. 88 Rn. 54; Kämmerer (o. Fn. 8), Art. 88 Rn. 3, 20. 19 Vgl. Herdegen, in: Maunz /Dürig, Grundgesetz, Lbl. Stand 2002, Art. 88 Rn. 55.

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gen Deutschlands - dienigen Prinzipien, von denen man sich die größtmögliche Effizienz und damit auch den weitesten Wirkungskreis für die Zentralbank versprach (und die deswegen auch das Handeln der Bundesbank bestimmten), auch für die EZB im Gemeinschaftsvertragsrecht verbindlich festgeschrieben: Unabhängigkeit (Art. 108 EG) und vorrangige Verpflichtung auf Preisstabilität (Art. 105 I 1 EG). Anders als die prioritäre Sorge um Preisstabilität, die auch schon vor 1992 aus dem Begriff der „Währungsbank" in Art. 88 GG abgeleitet werden konnte 20 , ist Unabhängigkeit für eine Zentralbank keine Selbstverständlichkeit. Diejenige der Bundesbank war nach 1957 nur einfachgesetzlich durch § 12 BBankG gesichert. Der logisch gesehen zweite Schritt bestand in der Rückanbindung der mitgliedstaatlichen Akteure, die von zwei Richtungen her erfolgte: erstens über den EGV selbst, der die nationalen Zentralbanken in ihrer Eigenschaft als ESZB-Bestandteile mit „in die Pflicht nimmt", und zweitens, allerdings mit auf Deutschland beschränkter Wirkung, über die spezielle „Struktursicherungsklausel" 21 des Art. 88 S. 2 GG. Kraft ihrer ist der Bund verfassungsrechtlich verpflichtet, sich der Mitwirkung an Rechtsakten zu enthalten, ja sie nach Möglichkeit zu unterbinden, durch welche die Unabhängigkeit der EZB beeinträchtigt oder gar beseitigt würde 2 2 . Dieser Pflicht könnte Deutschland sich nur durch Aufhebung der Strukturgewährleistungsklausel im Zuge einer Änderung des Art. 88 S. 2 GG entziehen. Ein Teil der Lehre hält insoweit, wenn die von Art. 23 I 3 GG für „materielle Verfassungsänderungen" geforderte doppelte Zweidrittelmehrheit vorliegt, die Anpassung des Verfassungswortlauts sogar für entbehrlich 23 . Hält Deutschland an den verfassungsrechtlichen 20

BVerwGE 41, 334 (349); Janzen, Der neue Artikel 88 Satz 2 des Grundgesetzes, 1996, S. 177; Stern (Fn. 15), S. 475 f. 21 Pernice (Fn. 8), Art. 88 Rn. 23, 39. 22 Hahn/Häde (Fn. 16), Art. 88 Rn. 314; Kämmerer (o. Fn. 8), Art. 88 Rn. 30. Nach Tettinger, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 88 Rn. 10a ist die Missachtung des einschlägigen vertraglichen Rahmens zugleich ein Verstoß gegen Art. 88 S. 2 GG; ein so weit reichender Konnex ist jedoch in der Norm nicht angelegt. 23 Pernice , in: Sachs (Fn. 22), Art. 23 Rn. 23; Thieme, Das Grundgesetz und die öffentliche Gewalt internationaler Staatengemeinschaften, WDStRL

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Strukturgarantien fest, könnte es Änderungen der Art. 105 ff. EG schon deswegen unterbinden, weil Art. 48 Abs. 3 EU die Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten zur Voraussetzung für das Wirksamwerden von Vertragsänderungen erklärt. Gegenüber Sekundärrechtsakten, die faktisch zur Aushöhlung der darin ausgesprochenen Garantien führen, fehlt eine solche einfache Handhabe. Ob Deutschland sich auch aus der dritten Stufe der WWU zurückziehen könnte, erscheint fraglich: Weder räumt der EG-Vertrag den teilnehmenden Mitgliedstaaten eine Austrittsoption ein, noch berechtigt die Berufung auf den völkerrechtlichen Grundsatz der clausula rebus sie stantibus grundsätzlich zur Teilsuspendierung eines völkerrechtlichen Vertrages. Auch wenn die „Unumkehrbarkeit" der WWU 2 4 gemeinschaftsvertraglich nicht ausdrücklich festgeschrieben ist, scheint auch für den EG-Vertrag mit Blick auf die gemeinsame Währungspolitik nichts anderes zu gelten. Zwar nehmen nicht alle Mitgliedstaaten an der dritten Stufe der WWU teil, so dass ein Rückzug Deutschlands als actus contrarius zum Eintritt denkbar erschiene. Dagegen spricht, dass die Teilnahme an der dritten Stufe bei der Erfüllung der erforderlichen Konvergenzvoraussetzungen (Art. 121 I 3 Hs. 2, S. 4 EG i.V.m. dem Protokoll über die Konvergenzkriterien nach Art. 121 EG) automatisch und nicht kraft gewillkürter Entscheidung des Mitgliedstaats erfolgt und es damit schon an einem Ausgangsakt für den anvisierten actus contrarius fehlt. Die nicht an der dritten Stufe teilnehmenden Mitgliedstaaten Dänemark und Vereinigtes Königreich haben sich im Wege protokollarischer Vereinbarungen Ausnahmeregimes ausbedungen2^; Deutschland stünde wohl nur ein ähnlicher Weg zu Gebote. 18 (I960), S. 50 (55 f.). Dagegen ist einzuwenden, dass er Sinn und Zweck des Art. 23 I 3 GG - verfassungsrelevante Kompetenzübertragungen Art. 79, II, III GG zu unterwerfen, auch wenn und gerade weil mangels einer Einwirkung auf die grundgesetzliche Kompetenzverteilung eine förmliche Verfassungsänderung nicht in Frage kommt (vgl. BT-Drs. 12/6000, 21; ferner BVerfGE 58, 1 [36] für Art. 24 I GG) - verfehlt würde, wenn er als Freibrief für die Unterlassung formell möglicher Verfassungsänderungen verstanden würde. Dazu Abs. 1 Prot. (Nr. 24) über den Übergang zur 3. Stufe der WWU. Prot. Nr. 25 über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland (1992); Prot. Nr. 26 über einige

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Solange das ESZB Bestand hat, erzeugt die verfassungsrechtliche Rückanbindung der gemeinschaftsrechtlichen Zentralbankgarantien einen beachtlichen Nebeneffekt: Anders als nach alter Rechtslage genießt auch die Unabhängigkeit der Bundesbank nunmehr verfassungsrechtlichen Schutz. Da „EZB" in Art. 88 S. 2 GG als „ESZB" zu lesen ist und Art. 108 EGV der Bundesbank als dessen Bestandteil Unabhängigkeit verheißt, muss Art. 88 S. 2 GG in dem Sinne gedeutet werden, dass er nunmehr - dem erwähnten Gleichklang verpflichtet - auch die Unabhängigkeit der Bundesbank verfassungsrechtlich festschreibt und ihr auf diese Weise ein verfassungsgeschütztes Recht einräumt (gemeinschaftsrechtlich vermittelte verfassungsrechtliche Unabhängigkeitsgarantie) 26 . Die Bank könnte sich daher beispielsweise gegen eine ihr (bzw. ihrem Präsidenten) durch die Bundesregierung erteilte Weisung im Wege des Organstreits vor dem Bundesverfassungsgericht wehren 27 . Dies gilt im Grundsatz auch dann, wenn dem Präsidenten Vorgaben für die Stimmabgabe im EZB-Rat gemacht werden, obgleich er innerhalb dieses Gremiums nicht nationale, sondern gemeinschaftliche Hoheitsgewalt ausübt 28 . Bei alledem war und ist die Unabhängigkeit von Zentralbanken verfassungsrechtlich keineswegs unumstritten. Das Unabhängigkeitspostulat geht selbst mit einer Grenzziehung einher: der zwischen Währungssicherung einerseits und der Allgemeinpolitik andererseits, deren Prätentionen - Stichwort: Betätigung der Notenpresse - durch eine Art rechtlicher Brandmauer abgeBestimmungen betreffend Dänemark (1992). Eine de-facto-Ausnahme besteht auch für Schweden, das sich nicht an der dritten Stufe beteiligen wollte und daher seiner Zentralbank nicht das für die Beteiligung erforderliche Maß an Unabhängigkeit einräumte. 26 U.a. Badura, Das Staatsziel „Europäische Integration" im Grundgesetz, in: Für Staat und Recht. FS für Herbert Schambeck, 1994, S. 887 (904); Stern, Die Notenbank im Staatsgefüge, in: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark, 1998, S. 141 (181); Hahn/Häde{Fn. 16), Art. 88 Rn. 309, 314; Herdegen (Fn. 19), Art. 88 Rn. 2, 55, 65; Kämmerer (o. Fn. 8), Art. 88 Rn. 30. 27 Pernice (Fn. 8), Art. 88 Rn. 20. 28 von Borries, Die Europäische Zentralbank als Gemeinschaftsinstitution, ZEuS 1999, S. 281 (298); vgl. auch BVerfGE 92, 203 (227).

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schirmt werden 29 . Das wenig schmeichelhafte Bild der Politik als verantwortungslos, „machtversessen und machtvergessen" (Richard von Weizsäcker) stand schon dem BBankG von 1957 offensichtlich Pate30. Der währungspolitische Erfolg der Bundesbank schien dieses Bild posthum noch zu bestätigen. Auch die juristischen Gegner der Unabhängigkeit argumentierten nicht etwa rechtspolitisch, sondern rechtsdogmatisch: „Ministerialfreiheit" von Zentralbanken sei mit dem Grundsatz parlamentarisch-demokratischer Kontrolle nicht in Einklang zu bringen 31 . Ihnen wurde entgegnet, dass erst die Abkoppelung der Zentralbank vom politischen Tagesgeschäft die effiziente Erfüllung ihrer Aufgabe, Preisstabilität zu wahren, gewährleiste und so den Gebrauch anderer grundrechtlicher Freiheiten pekuniär absichere - „Geld ist geprägte Freiheit" (Dostojewskij). Die Frage nach der Verfassungskonformität wird durch die Übertragung von Aufgaben und Befugnissen der Bundesbank auf die EZB nicht erledigt. Die Unabhängigkeit von EZB und ESZB hat den verfassungsrechtlichen Maßstäben des Art. 79 III i.V.m. Art. 20 I, II zu genügen 32 ; anderenfalls liegt verfassungswidriges Verfassungsrecht vor. Das Bundesverfassungsgericht indes erteilte der Vorschrift als um der Freiheitssicherung willen gebotener Abweichung vom Demokratieprinzip mit dem Prädikat „vertretbar" die Absolution 33 . So ist die Grenzziehung zwischen Währungssicherung auf der einen und Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik auf der anderen Seite auf maßgebliches Drängen Deutschlands hin und mit dem Placet seines höchsten Ge-

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Graf Vitzthum, Zum Aufhau der Verwaltung (Fn. 14), S. 119 (167 f.). Vgl. BT-Drs. 2/2781, S. 49. 31 von Bonin, Zentralbanken zwischen funktioneller Unabhängigkeit und politischer Autonomie 1978, S. 169 ff., 235 ff.; kritisch auch E. Klein, Die verfassungsrechtliche Problematik des ministerialfreien Raumes, 1974, S. 130, 215. 32 Auf die Zustimmung zum eigentlichen Übertragungsakt als „materielle Verfassungsänderung" findet Art. 79 III GG über Art. 23 I 3 GG ebenfalls Anwendung. Art. 88 S. 2 GG ist lex specialis zu Art. 23 GG, dessen materielle Anforderungen an die Kompetenzübertragung jedoch unberührt bleiben. Vgl. nur BT-Drs. 12/6000, S. 6; PierotK in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 6. Aufl. 2002, Art. 88 Rn. 4. 33 BVerfGE, 89, 155 (208 f.). 30

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richts mit vergemeinschaftet worden - mit ihr aber auch der diagnostizierte „antiparlamentarische Affekt" 34 .

3. Grenzen der Leistungsfähigkeit des europäischen Währungsrechts („finis ''-Grenzen) Der auf neue Horizonte durch normative Verknüpfung währungsrechtlicher (Teil-)Systeme gelenkte Blick erfährt eine merkliche Trübung beim Blick auf die „finis"-Grenzen, also die Grenzen der Leistungsfähigkeit einer (Teil-)Rechtsordnung. Dass solche Grenzen bestehen, räumt der EG-Vertrag indirekt selbst ein. So wird die EZB nicht zur Wahrung von Preisstabilität verpflichtet, sondern lediglich zur vorrangigen Verfolgung dieses Gemeinschaftszieles. Das Format der Zielsetzung - finis - resultiert aus dem Wissen um die Grenze - wiederum finis - des Rechts. Das umfängliche geldpolitische Instrumentarium, das der EZB unter dem Schutzmantel der Unabhängigkeit zur Verfügung steht, scheint optimale Voraussetzungen für die optimale Nutzung der theoretisch möglichen Aktionsspielräume zu bieten. Dabei spielt die Offenmarktpolitik eine herausragende Rolle. Notenbanken beteiligen sich am Marktgeschehen, indem sie am offenen Markt Geschäfte betreiben, also beispielsweise Forderungen, Wertpapiere und Edelmetalle an- und verkaufen. Im Zusammenhang mit der Kreditvergabe setzen die Zentralbanken Leitzinssätze fest, an deren Höhe sich wiederum die Zinssätze der Geschäftsbanken orientieren, die ihrerseits das Spar- oder Investiwerhalten der Marktteilnehmer beeinflussen. Die EZB z.B. legt drei für die Kreditinstitute maßgebliche Zinssätze fest: ein Hauptrefinanzierungsinstrument mit variablem Zinstender (der auf eine Art Versteigerung der jeweiligen Geldmengenanteile zu gestaffelten Zinskonditionen an die nachsuchenden Kreditinstitute hinausläuft) für mittelfristige Anleihen sowie zwei sog. Fazilitäten, die Spitzenrefinanzierungsfazilität - als Ersatz 31 Zum Begriff Hettlage, Die Finanzverfassung im Rahmen der Staatsverfassung, VVDStRL 14 (1955), S. 2 (13).

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für den Lombardsatz - für kurzfristige Kredite und die Einlagefazilität für kurzfristige Einlagen (,,Übernachtgeld") 3 \ Wirtschaftliche Bedeutung gewinnen diese Zinssätze nicht nur für die bankmäßige Kreditvergabe, sondern auch als Berechnungsgrundlage für andere für den rechtsgeschäftlichen Verkehr geltende Zinssätze. Auf der Grundlage des Diskontsatz-Überleitungs-Gesetzes vom 9.6.199836 wurde der Diskontsatz als rechnerische Bezugsgröße durch einen an der Entwicklung des EZB-Hauptrefinanziemngsinstruments ausgerichteten 37 Basiszinssatz abgelöst 38 . Für das Bürgerliche Recht wird dieser mit Wirkung zum 1.1.2002 durch einen neuen Basiszinssatz abbedungen (§ 247 BGB), so dass in der Praxis künftig zwei Basiszinssätze nebeneinander bestehen. Notenbanken können auch anordnen, dass Geschäftsbanken Währungs-Mindestreserven unterhalten, Gelddepots also, die dem freien Markt damit entzogen sind. Auf diese Weise wirken sie auf die Stabilisierung des Zentralbankgeldbedarfs der Kreditinstitute hin 3 9 . Dieses geldpolitische Instrument steht der Bundesbank nach wie vor zu Gebote, die anders als vor der Vergemeinschaftung nur noch als ausführendes Organ für die EZB tätig wird, welche zwar die Anlage von Mindestreservekonten den nationalen Zentralbanken überlässt, die materiellen Anforderungen jedoch selbst definiert 40 .

Europäische Zentralbank, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3, S. 4, 19, 20. 36 BGBl. 1998 I S. 1242. 37 Vgl. Basiszinssatz-Bezugsgrößen-VO vom 10.2.1999, BGBl. I S. 139. 3K Der Diskontsatz war der von der Bundesbank festgelegte Zinssatz, zu welchem dem Einreicher von Wechseln und wechselähnlichen Forderungen Kredit gewährt. Die Rediskontpolitik ging nicht auf die EZB über, sondern fiel am 1.1.1999 ersatzlos fort; § 19 I Nr. 1 BBankG wurde damit insoweit obsolet, als die Diskontierung von Wechseln dort noch als Aufgabe der BBank definiert war. Der Streichung des einschlägigen Passus ist erst im Entwurf für das 7. BBankÄndG (2002) vorgesehen. 39 Vgl.Jarchow, Von der Deutschen Bundesbank zur Europäischen Zentralbank,' in: Festschrift für Helmut Kuhn, 1998, S. 23 (26). 40 Vgl. Art. 19.1. ESZB-Satzung sowie auch Art. 14.3. i.V.m. 12.1., 18.2. ESZB-Satzung.

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Unter den Schranken, die dem Zugriff der Zentralbank auf die Preisentwicklung gesteckt sind, ist die erste - Existenz eines Vorbehaltsbereichs privatautonom-marktwirtschaftlichen Handelns - unvermeidliche Konsequenz einer freiheitlichen Ordnung. Die Bundesbank war ihr ebenso unterworfen wie jetzt die EZB. Geldentwertung beruht mehr auf Marktprozessen als auf staatlichen Entscheidungen. Die Erhöhung von Preisen resultiert vielfach aus einem der menschlichen Natur eigenen Wunsch nach Steigerung des individuellen Reichtums. Staaten bzw. ihre Notenbanken können auf diesen Marktprozess lediglich Einfluss nehmen, beispielsweise indem sie die Geldmenge regulieren. Konsequenterweise ist die Sicherung der Währung der EZB nur als Ziel anheim gegeben; in der Verfehlung des angestrebten „Zielkorridors" (in der Praxis der EZB zwischen 0 und 2% Inflation) 41 liegt für sich genommen noch keine Verletzung vertraglicher Vorgaben. Eine andere Beschränkung des geldpolitischen Einflusses der EZB ist hingegen hausgemacht. Die Wirtschafts- und Währungsunion leidet unter einem Systemmangel, der das Bemühen um Preisstabilität konterkarieren kann und der durch die Übersteigerung des Grundsatzes der Zentralbank-Unabhängigkeit (allerdings nur notdürftig) camoufliert wird. Zwar ist die Unabhängigkeit einer Zentralbank keine notwendige Bedingung für die Wahrung der Preisstabilität, wie historische Gegenbeispiele belegen 42 , doch ist sie für die Währungsstabilität zumindest förderlich. An der Ausschöpfung des geldpolitischen Potenzials durch die Zentralbank hat jedoch auch die Unterstützung der Bank durch eine verantwortungsvoll handelnde demokratisch legitimierte Regierung, die Maßnahmen zur Eindämmung der Inflation ergreift, sich zumindest aber aller preistreibend wirkenden Akte enthält. Ein solcher haushalts- und wirtschaftspolitischer Gegenpart aber fehlt derzeit noch auf Gemeinschaftsebe11

Europäische Zentralbank, Monatsbericht Januar 1999, S. 50 ff. Vgl. auch Studt, Rechtsfragen einer europäischen Zentralbank, 1993, S. 110 ff.; Weinbörner; Die Stellung der Europäischen Zentralbank (EZB) und der nationalen Zentralbanken in der Wirtschafts- und Währungsunion nach dem Vertrag von Maastricht, 1998, S. 161 f., 170 ff. 12

Die EZB als Hüterin der Gemeinschaftswährung

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ne, und mit der anspruchsvollen Aufgabe der Währungssicherung wird die EZB praktisch allein gelassen. Die Vorstellung, dass nur eine von der Politik unabhängige Zentralbank stabile Preise gewährleisten könne, beflügelt die irrige Vorstellung, eine unabhängige Zentralbank sei ausreichende Gewähr für Preisstabilität und bedürfe politischer Rückendeckung nicht. Im deutschen Schrifttum wird gelegentlich wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass die deutschen Bundesregierungen seit Adenauer trotz mancher Dissenzen kaum jemals Versuche unternommen haben, die Bundesbank zu majorisieren 43 ; übersehen wird hierbei, dass die Regierungen durch ihre Wirtschaftsund Finanzpolitik eigene Beiträge zur Preisstabilität nicht nur tatsächlich geleistet haben, sondern hierzu verfassungsrechtlich gemäß Art. 109 II GG (was die Haushaltspolitik betrifft) und im Übrigen - wie die Bundesbank auch 44 - einfachgesetzlich durch § 1 StabG verpflichtet waren. Die Bezeichnung „Wirtschafts- und Währungsunion" geht an den Realitäten derzeit noch vorbei; tatsächlich führte der Maastricht-Vertrag „zu einer Asymmetrie 45 , da die Währungspolitik fast ganz, die Wirtschaftspolitik nur in Ansätzen vergemeinschaftet wurde. Im Kern sind die Mitgliedstaaten lediglich zur Koordination ihrer Wirtschaftspolitik (Art. 98, 99 I EG) verpflichtet, Art. 101 EGV verbietet ihnen monetäre Haushaltsfinanzierung und Art. 104 I übermäßige öffentliche Defizite. Das hier angelegte Sanktionsverfahren - selbst Geldbußen sind zulässig - ist zu komplex und beugt der Staatsverschuldung in der Praxis nicht hinreichend vor 4 6 . Überdies ist umstritten, ob die Haushaltspolitik überhaupt maßgeblichen Einfluss auf die Preisentwicklung entfaltet 47 . Der 43 Dazu Faber; in: Denninger u.a. (Bearb.), Kommentar zum Grundgesetz (Reihe Alternativkommentare), 2. Aufl. 1989, Art. 88 Rn. 6. 44 Str.; vgl. etwa Kämmerer (o. Fn. 8), Art. 88 Rn. 34 f. m.w.N.; BrosiusGersdorf, Deutsche Bundesbank und Demokratieprinzip, 1997, S. 149 ff. n Tietmeyer; Europa auf dem Weg zur monetären Integration, 1994, S. 20. 46 So auch Palm, Preisstabilität in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, 2000, S. 183 ff. 47 Vgl. zum einen Heun, Die Europäische Zentralbank in der Europäischen Währungsunion, JZ 1998, S. 866 (873); zum anderen M. Seidel, Probleme der Verfassung der Europäischen Gemeinschaft als Wirtschafts- und

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Jörn Axel Kämmerer

Rest der „Wirtschaftsunion" besteht lediglich aus Informationspflichten und vagen Koordinationsvorgaben (Art. 99 EG). Solange die Vergemeinschaftung im Bereich der Wirtschaftspolitik aber nicht den Grad erreicht, der ihr auf dem Währungssektor zukommt, beschränkt dies nicht nur den Einfluss der EZB auf die Preisentwicklung, sondern die EZB würde als scheinbar allein für die Währung verantwortliche Institution der Gemeinschaft auch, wie Jacques Delors bereits 1996 befürchtete, „zum Sündenbock für alle Übel" 48 , mithin politisch delegitimiert. Werde die Währungsunion isoliert verwirklicht, ohne Ergänzung durch eine Wirtschaftsunion, leiste dies der Gefahr der Destabilisierung des Systems Vorschub 49 . So könnte sich, solange ein Inflationsgefälle zwischen den Mitgliedstaaten besteht, die zur Festlegung einheitlicher Leitzinssätze für alle Staaten der „EuroZone" verpflichtete Bank von den einen als Konjunkturbremse und von anderen zugleich als Preistreiber gescholten sehen und sich damit zwischen allen Stühlen wiederfinden. Eine auf ökonomische Konvergenz ausgerichtete „europäische Wirtschaftsregierung", wie sie vor allem von Frankreich gefordert wurde, ist jedoch nicht in Sicht 50 . Die institutionelle Gewährleistung der Preisstabilität in der Euro-Zone steht im Endeffekt auf einem Bein. Das Fehlen des ergänzenden Preissicherungsbeitrags solcher Organe, denen die politische Einwirkung auf die EZB verboten ist, könnte die Manövrierfähigkeit von EZB und ESZB auf mittlere Sicht beeinträchtigen. Diese Feststellung lässt sich auch nicht mit dem Einwand entkräften, die beschränkte demokratische Legitimation der Gemeinschaftsorgane verbiete die Erweiterung ihres Aktionsrahmens in wirtschaftsund finanzpolitischer Hinsicht 1 . Währungsunion, in: Festschrift für Bodo Börner, 1992, S. 417 (422); Nicolaysen, Rechtsfragen der Währungsunion, 1993, S. 31. 48 Delors , in: Die Zeit, Nr. 6 vom 2.2.1996, S. 3, zit, nach: Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, 1997, S. 32 Fn. 42. 49 Dazu Kirchhof Die Mitwirkung Deutschlands an der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 6l (79). Vgl. auch Delors , a.a.O. (Fn. 48): „Wenn wir die Einheitswährung ohne eine Wirtschaftsunion verwirklichen, hält das System das nicht aus." ">