Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche 9783770562084

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Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche
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Juliane Vogel

AUS DEM GRUND

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Bild und Text herausgegeben von

GOTTFRIED BOEHM GABRIELE BRANDSTETTER BERND STIEGLER

begründet von

GOTTFRIED BOEHM KARLHEINZ STIERLE

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Juliane Vogel

AU S D EM G RU N D Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche

Wilhelm Fink

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Umschlagabbildung: Sir Joshua Reynolds, Commodore August Keppel, 1752, Öl auf Leinwand 239 x 147cm, National Maritime Museum, Greenwich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2018 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6208-4

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Für meine Mutter Ilse Vogel

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Inhalt

Einleitung 1.

I

„Regardez-le marcher“. Evidenzen des Auftritts . . . . . . . . . . . . . . . . . Bild und Bewegung 13 • Raumnahme/Raumteilung 15 • Auftrittsprotokolle 16 • Auftritt und Verstrickung 20

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2. Tragischer Auftritt. Die Hybris des Schritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erstes Hervortreten 22 • Auftritt als Hybris 25 • Tragödie als anti-triumphalistische Gattung 26 • Figur und Hintergrund 29 • Zusammenfassung 34

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TRAGÖDIE IM HÖFISCHEN ERSCHEINUNGSRAUM Vorbemerkung: Entrée. Vorgaben des höfischen Auftrittsprotokolls . . Levers/Entrées 39 • Der König als erster Schauspieler 42 • Triumph 45 • Amplifikation 47 • Corneille vs. Racine 48

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Perspektive als Verkehrseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Les justesses de la perspective“ 51 • ‚Via regia‘: Die Perspektive als höfischer Ankunftsraum 55 • Götterauftritte 58 • Die Aristotelisierung der Festbühne: Auftrittséclat und tragische Progression 58 • ‚Avancer‘: Vorschreiten und Fortschreiten 60

2. Die Verdunkelung des höfischen Erscheinungsraums. Racines Theater der profondeur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chiaroscuro 64 • ‚Tenebrosi‘ 67 • Die Last des Knotens: Phèdres Auftritt 69 • Das Monster in der Kammer 72

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3. Tragische Perspektiven: Die Bühne der Galli Bibiena . . . . . . . . . . . . Magnifizenz und Verrätselung 78 • ‚Scena per angolo‘ 79 • Reggien 81 • Raummodelle der Staatsraison 83 • Racine in der Oper. Der Britannicus Friedrichs des Großen 85 • Kanzellen 88

78

4. Aus dem Takt. Auftrittsstrukturen in Schillers Don Karlos . . . . . . . . ‚Liaison des scènes‘ 94 • Das Zerbrechen der Auftrittskette 97 • Ohnmächtige Impulse 100 • Kontrollverluste 101 • Seitenwechsel. Hintergrundmächte 104

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II SCHWANKENDE GESTALTEN. GOETHES AUFTRITTSTHEATER Vorbemerkung: Die Suspendierung der Tragödie. Auftrittsprotokolle des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittelgründe 111 • Entaristokratisierung der Bühne 112 • Temporalisierung: Erscheinung und Emergenz 113 • Auftrittsprotokolle des Lebens 115 • Anti-tragisches Hervorkommen 116 • Schwankende Gestalten 117 1.

„Nebulistische Zeichnungen“. Figur und Grund in Goethes Weimarer Dramen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Grund als neue Einheit 119 • ‚Fonds vagues‘ 121 • Stockungen 124 • Schweifender Auftritt: Pudel 126 • Auftritt im Getreibe 130

111

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2. Umgeben. Auftritt und Einbettung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Symphysis 132 • Soziale und elementare Atmosphären: „Peneius, umgeben von Gewässern und Nymphen“ 134 • Glänzende Umgebung. Amplifikationen 135 • Distinktionsverluste 137 • „Heraus in eure Schatten“ 138 • Dramaturgie der ‚feuillage‘ 139 • Tragödie im Laubraum 143 3. Staffage. Auftrittsprotokolle der Landschaftsmalerei . . . . . . . . . . . . 146 Aufwertung der Staffage 149 • Amor ein Landschaftsmaler 150 • Landschaft in „Poussinischer Weise“ 153 • Goethes Pandora 155 • Landschaft mit Polyphem 157 • „Aus der Flutenmitte“: Das GalateaProtokoll 159 • Poussin vs. Raffael 162 4. „HELENA (hervortretend)“. Heimkehr aus dem tiefsten Grund . . . Antezedenzien 167 • Wahrhaftes Leben und tragisches Protokoll 168 • ‚Nostos‘ und Tragödie 169 • Diskreditierte Erscheinungswelt 173 • Mediatisierter Auftritt I: Rauch 174 • Mediatisierter Auftritt II: Wasser 177

167

5. Management of „Arrivance“. Goethes „Mummenschanz“ . . . . . . . . Höfische Maskenzüge 184 • „Force et Grace“ 187 • Weimarer Defilees 188 • Das römische Carneval 190 • Mummenschanz und Gespenstertheater 191 • Der Herold am Ende 193 • Schnelles Geld: Plutus 196

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III TRIUMPH UND REISSENDE BEWEGUNG Vorbemerkung: Im Kräftefeld des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Mit unbemerkten Schritten“ 203 • Energetische Katastrophen 205 • Triumphe im fortdauernden Krieg 206 • Dionysisches Auftrittsprotokoll 207

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Entzauberter Triumph. Kleists Guiskard-Fragment und die Pestkranken von Jaffa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Auftritt im Katastrophenbild 208 • Die Bühne von Jaffa 212 • Bildpolitik im Chaos des Krieges 215 • Vertikalisierung und ‚ranimation‘ 217 • Kraftverlust. Auftritt ohne Paukenschlag 220 • Das Fragment oder die Verweigerung des tragischen Verlaufs 223

2. „Schreckenspomp“. Antitriumphalismus in Kleists Penthesilea . . . Tragödie als anti-triumphalistische Gattung 226 • „Funkelpracht des Einzigen“ 228 • Auftritt mit Quadriga 232 • Raptus 238 3. Dionysische Regung. Von Rousseaus Pygmalion zu Nietzsches Die Geburt der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auftritt der Statue 240 • Joseph Anselm Feuerbach 245 • Auftritt Dionysos. Tragödie im Bildersturm 248 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung 1. „Regardez-le marcher“. Evidenzen des Auftritts Die vorliegende Studie lässt das Drama mit dem Auftritt beginnen. Dem In-Erscheinung-Treten der Person misst sie eine für die dramatischen Gattungen strukturbildende Bedeutung bei. Im Unterschied zu einer Lektüre, die in der Handlung nach Aristoteles die „Seele“ – „psyche“1 – des Dramas sieht, beobachtet sie ein Ineinandergreifen von dramatischer Struktur und Auftrittsakt. Am Beispiel der Tragödie des 18. und 19. Jahrhunderts erkundet sie das Verhältnis von Auftrittsvorgängen und dramatischem Ablauf. Dramatische Personen werden nicht mehr primär als Handlungsträger betrachtet und auch nicht mehr nur danach beurteilt, inwiefern sie handelnd in ein „Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten“2 eintreten. Vielmehr werden sie dort aufgesucht, wo sie im Ankommen auf der Bühne eine punktuelle Theatralität entfalten, die den dramatischen Verlauf für einen Moment lang unterbricht.3 Der Auftritt ist Schaustellung und damit jener Augenblick, in dem die Person sich zu sehen gibt und vom Gesehenwerden der anderen durchdrungen wird. ‚Auftritt‘ bedeutet Eintritt in „a space of appearance“4 – in einen Erscheinungsraum. Indem es ihn stattfinden lässt, versichert sich das Drama seiner theatralen Voraussetzungen. Er findet nicht nur im Text, sondern auch auf dem théatron – der Stätte des Sehens – statt, das in jeder Auftrittsangabe gegenwärtig ist. Diese Voraussetzungen werden in der Regel übersehen oder ignoriert. Der Auftritt ist ein purloined object5 und damit eine unterschlagene Größe. Sein Schicksal ist es, in seiner Offenkundigkeit und Allgegenwärtigkeit übersehen zu werden. Dass das Drama nur fortschreiten kann, indem es seine Figuren in das Geschehen buchstäblich eintreten lässt, dass es vor allem ein Kommen und Gehen inszeniert und Handlungen nur insofern nachahmt, als es deren Träger auf der Bühne eintreffen, innehalten und wieder abtreten lässt, hat in der Geschichte der Poetik des Dramas nur eine geringe Rolle gespielt. Die Forschungen, die sich mit 1 2 3

4 5

Aristoteles: Poetik, übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, Kap. 6 (1450a) 38, S. 23. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, S. 225. Vgl. Annemarie Matzke, Ulf Otto u. Jens Roselt (Hg.): Auftritte. Strategien des In-ErscheinungTretens in Künsten und Medien, Bielefeld 2015, S. 9 (Einleitung, S. 7-16): hier die pointierte Formulierung, dass im Akt des Auftretens ein „Interaktionssystem in ein Schausystem verwandelt“ werde. Hannah Arendt: The Human Condition, Chicago 1958, S. 199. Vgl. Juliane Vogel u. Christopher Wild (Hg.): Auftreten: Wege auf die Bühne, Berlin 2014, S. 6 (Einleitung, S. 7-21).

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der Formgeschichte des Dramas auseinandersetzen, sehen in der Regel über den Auftritt hinweg.6 Auch die Theaterwissenschaft nimmt die zentrale Operation, die im Theater Anwesenheit herstellt, erst zögernd wahr.7 Nur in gelegentlichen Einzeluntersuchungen wird der „significance“8 eines Auftritts Rechnung getragen und nur am einzelnen Beispiel werden die Bedingungen sondiert, unter denen sich das Auftreten im Drama vollzieht.9 Die Verkehrsformen der Bühne, die den Personenwechsel regeln, müssen erst wieder rekonstruiert werden. Über den Bedeutungsraum einzelner Stücke hinaus sind daher Funktionen und Formen des Auftritts generell in den Blick zu nehmen und jene ‚entwendete‘ Dramaturgie freizulegen, die das Auftreten von Personen im Drama organisiert. Unter dem Gesichtspunkt des Auftritts wird der Versuch einer neuen Strukturbeschreibung des Dramas unternommen, die die spezifische Theatralität des Auftretens im dramatischen Fortgang berücksichtigt. Sie will die Beziehung erhellen, die zwischen dem Vorschreiten der Person und dem Fortschreiten der Handlung besteht. Dabei hat sich eine gattungsbezogene Beschränkung als notwendig erwiesen. Nur in der Konzentration auf ein einziges, wenngleich zentrales Gattungsprotokoll war den Problemen auszuweichen, die sich aus der Unüberschaubarkeit der Auftrittsformen sowie aus der Überdeterminiertheit ihrer Strukturen ergeben. 6

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Ausnahmen: Oliver Taplin: The Stagecraft of Aeschylus. The Dramatic Use of Exits and Entrances in Greek Tragedy, Oxford 1977, S. 49-60. Taplin betont die strukturgebende Funktion von Auf- und Abtritten: „The particular elements in the action which may help to articulate the structural form are, of course, entrances and exits.“ (S. 53) In seiner Untersuchung steht die aktgliedernde Funktion von Auftritten im Vordergrund („act-deviding“, ebd.). Vgl. auch: ders.: Greek Tragedy in Action, Cambridge 1978, S. 31-58. Auch Peter Pütz erkennt im Auf- und Abtreten ein Grundmuster der dramatischen Form generell: Vgl. Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung, 2. Aufl., Göttingen 1977, S. 27-31. Karl Heinz Bohrer liest in: ders.: Das Tragische, München 2009, das Erscheinen in der Tragödie als „theatralischen Exzess der Emotion“. In seiner Sicht sind Auftritte Erscheinungsformen des Schreckens, Momente der Überwältigung. Dem Erscheinungscharakter des Helden wird zentrale Bedeutung beigemessen. Vgl. hier den Band von Matzke, Otto u. Roselt (Hg.): Auftritte. Vgl. auch Doris Kolesch: Auftrittsweisen. Überlegungen zur Historisierung der Kategorie des Auftritts, in: Auftreten: Wege auf die Bühne, hg. v. Juliane Vogel u. Christopher Wild, Berlin 2014, S. 38-54, hier S. 38. Eine Ausnahme sind die Arbeiten von Ulrike Haß, z.B.: Ulrike Haß: Woher kommt der Chor?, in: Maske und Kothurn 58 (2012), S. 13-30. David Maskell: Racine. A Theatrical Reading, Oxford 1991, S. 44. Vgl. Rüdiger Campe: Erscheinen und Verschwinden. Metaphysik der Bühne in Hölderlins „Empedokles“, in: Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, hg. v. Bettine Menke u. Christoph Menke, Berlin 2007, S. 53-72; Erika Greber u. Annegret Heitmann: Folgenlose Auftritte. Ankunftsszenen im Drama der frühen Moderne, in: Ankünfte. An der Epochenschwelle um 1900, hg. v. Aage Hansen-Löve, Annegret Heitmann u. Inka Mülder-Bach, München 2009, S. 189-211; Harry T. Barnwell: „They have their exits and their entrances“. Stage and Speech in Corneille’s Drama, in: Modern Language Review 82 (1986), S. 51-63; Maskell: Racine, S. 44-61.

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Die folgenden Studien beziehen sich daher auf jenen Formkomplex, der zwischen Racine und Nietzsche als Tragödie bezeichnet wird. Sie gehen davon aus, dass die Auftrittsordnung der Tragödie auch anderen Gattungsprotokollen den Boden bereitet und die Herausforderungen des Auf-die-Bühne-Vorschreitens hier in einer auch für andere Gattungen geltenden Weise deutlich werden. Eine feste generische Gestalt ist damit nicht vorausgesetzt und auch die Probleme, die sich an eine sich historisch differenzierende Gattungsbezeichnung knüpfen, sind im Blick zu behalten,10 zumal die Form der Tragödie in der gewählten Dramenepoche starken Veränderungen und Legitimationskrisen ausgesetzt ist. Zwischen Racine und Nietzsche erodieren die Fundamente der aristotelischen hofnahen Tragödie, wie sie sich in der Frühen Neuzeit herausbildet. Die Folge sind nicht nur neue und experimentelle Auftrittsformen, die die Personen der Tragödie unter neuen Bedingungen in Szene setzen und ihren Ort in der Welt in neuer Weise definieren, sondern auch eine Hinorientierung der Gattung auf den Akt des Auftritts selbst. Sowohl im Diskurs über die Tragödie wie auch in dieser selbst verlagert sich der Schwerpunkt weg von der Handlung hin zum Akt des Hervortretens. Herder leitet seine Darstellung der attischen Tragödie in der Zeitschrift Adrastea mit einer Frage nach dem Auftritt ein: Aischylus war der Erfinder der Tragödie; ihm, dem tapfern Mann, sind wir den wahren Begriff seiner Kunstgattung schuldig. Weshalb ließ er seine Personen hervortreten? Wozu stiftete er die Bühne?11

Bild und Bewegung Die Wechselwirkungen zwischen Drama und Auftritt können jedoch nur dann angemessen beschrieben werden, wenn die Strukturen des Auftritts näher bekannt und diejenigen Merkmale bezeichnet sind, die ihn zu einem theatralen Moment eigenen Rechts machen. Dabei reicht es keineswegs aus, den Auftritt als einen Moment des Gesehenwerdens zu fassen. So stark seine optische Komponente auch sein mag, sie bildet doch nur einen Teil aller Mittel, die die Person auf der Bühne gegenwärtig sein lassen. Evidenz gewinnt das Bild des Auftretenden erst durch den Schritt, der es nach vorne trägt. Erst im aktiven 10 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013, S. 150. 11 Johann Gottfried Herder: Adrastea, in: ders.: Werke, Bd. 10: Adrastea (Auswahl), hg. v. Günter Arnold, Frankfurt a.M. 2000, S. 9-961, hier 2. Band, 4. Stück 1802: Früchte aus den sogenanntgoldenen Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts, Nr. 10: Das Drama, S. 321. Vgl. auch ders.: Von deutscher Art und Kunst, in: ders.: Werke, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781, hg. v. Gunter E. Grimm, Frankfurt a.M. 1993, S. 443-562, hier S. 500: „Die griechische Tragödie entstand gleichsam aus Einem Auftritt, aus dem Impromptu des Dithyramben, des mimischen Tanzes, des Chors.“

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Hervortreten wird der Eindruck von „unwiderruflicher Präsenz“12 und lebendiger Gegenwärtigkeit erzeugt, der auf der Bühne zum Seinsnachweis taugt; und erst durch die körperliche Bewegung – den beherzten motus corporis – prägt sich das Bild des Erscheinenden der Wahrnehmung des Zuschauers zwingend ein. Überzeugungskraft gewinnt der Auftritt durch die Kraft des Vorschreitens. Exemplarisch gibt Corneille in seiner Komödie L’illusion comique zu verstehen, dass erst das bewegte Bild den Blick des Zuschauers einfängt, der es nur dann in seinem Glanz wahrnimmt, wenn es voranschreitet: „Espérez, mieux, il sort, et s’avance vers vous./ Regardez-le marcher: ce visage si grave,/ Dont le rare savoir tient la nature esclave […].“13 Seinen Aussagewert gewinnt dieses „Regardez-le marcher“ außerdem dadurch, dass es nicht über eine zufällige, sondern über eine beherrschte Bewegung Auskunft gibt. In dem mit Kunst gesetzten Schritt befreit sich der Auftretende aus der ‚Versklavung‘ durch die Natur. Im Vollzug einer kontrollierten Bewegung formt sich ein artifizieller Auftrittskörper, der die Gebrechlichkeit des Menschen zeichenhaft überwindet. Im avancement14 des Magiers, der mit diesen Worten angekündigt wird, werden Kräfte der Selbststeigerung freigesetzt, die dem natürlichen Körper eine gebieterische Form und im besten Fall göttliche Züge verleihen. Souveränität erlangt der Auftretende folglich dort, wo er der Hinfälligkeit seines der Zeit, dem Schwindel und dem Zufall ausgesetzten Körpers in einem glänzenden Bildentwurf entgegenwirkt und beim Eintritt in neues Gelände das Stolpern, das ihm an dieser Stelle droht, in einen setzungsmächtigen Schritt verwandelt. Auftrittsmacht bedeutet die Fähigkeit, einen Selbstentwurf machtvoll in einen Raum zu projizieren. Erst wenn sich der Hervortretende deutlich und mit aktualer Kraft präsentiert, kann er den gefährlichen Moment des Auftritts für sich entscheiden. Nur aus dem vollendeten und ausgewogenen Zusammenwirken von Anschaulichkeit und Bewegung, Detaillierung und Verlebendigung resultiert die Präsenz, die ins Auge fällt, die ein Publikum zugleich adressiert und beeindruckt. Rhetorisch erfordert die Herstellung von evidentia auch im Fall des Auftritts ein Zusammenspiel von enargeia und energeia: von Sichtbarkeit und

12 Hans Blumenberg: Die Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlass hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt a.M. 2006, S. 10. 13 Pierre Corneille: L’illusion comique, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, hg. v. Georges Couton, Paris 1980, S. 612-688, hier S. 619 (V. 80ff.). Übers. in: Juliane Vogel: Sinnliches Aufsteigen. Zur Vertikalität des Auftritts auf dem Theater, in: Auftritte in Raum und Zeit, hg. v. Annemarie Matzke u. Jens Roselt, Bielefeld 2015, S. 105-119, hier S. 111 (Anm. 19): „Warten Sie besser, dass er herauskommt und Ihnen entgegenkommt. Sehen Sie ihn gehen mit solch ernsthaftem Gesicht, dessen seltenes Wissen die Natur versklavt hält […].“ 14 Zum Begriff des avancement in der Dramaturgie des Ancien Régime vgl. das Kapitel I, 1 zur Perspektive als Verkehrseinheit.

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Energie.15 Auch in ihm müssen „actus, actio, actualitas, motus“16 hinzutreten, um ein statisches Personenbild zu verlebendigen. Evidenz wird auch hier erst dann erzielt, wenn es gelingt, die Simultaneität einer Beschreibung in die Sukzession einer Bewegung zu überführen. Als Resultat einer rhetorischen Operation ist der perfekte Auftrittskörper ein Kunstkörper. Der gelungene Auftritt erzeugt einen Glanz, den die menschliche Gestalt aus ihren eigenen Möglichkeiten heraus nicht hervorbringen kann. Um die Wirkung der Person zu steigern, muss ein prothetisches oder auch nur ein rhetorisches Element hinzutreten, das den Körper über seine natürliche Konstitution erhebt und durch Ausstattung sakralisiert.17 Erving Goffman wählt den treffenden Begriff der face work, der ‚Figurationsarbeit‘18, wenn er den Aufwand beschreibt, den die Herstellung auftrittsfähiger Figuren in der Öffentlichkeit erfordert. Kleidung, Schmuck und Gefolge üben vergrößernde Wirkung, indem sie blendenden Glanz und andere Effekte produzieren, die zumindest die Möglichkeit einer göttlichen Übersteigerung natürlicher Menschenausstattung andeuten. Der Begriff des éclat als die Kunst, Glanz zu erzeugen, wird in den folgenden Überlegungen daher eine zentrale Rolle spielen. Raumnahme/Raumteilung Souveränität wird man dem Auftretenden nur dort attestieren, wo er einen Raum sowohl besetzt als auch eröffnet.19 Der starke Auftritt ist ein Akt der Raumnahme.20 Er fordert die bestehende Ordnung der Szene heraus, indem er darin einen Platz beansprucht, der ihm möglicherweise nicht selbstverständlich überlassen 15 Vgl. Jan-Dirk Müller: Evidentia und Medialität. Zur Ausdifferenzierung von Evidenz in der Frühen Neuzeit, in: Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften, hg. v. Helmut Lethen, Ludwig Jäger u. Albrecht Koschorke, Frankfurt a.M./New York 2015, S. 261-290, hier S. 266ff. Vgl. auch Davide Giuriato: „klar und deutlich“. Ästhetik des Kunstlosen im 18./19. Jahrhundert, Freiburg i.Br. 2015, S. 44 zum Zusammenhang von ornatus und perspicuitas in der evidentia. 16 Müller: Evidentia und Medialität, S. 268. 17 Vgl. David Wills: Dorsality. Thinking Back through Technology and Politics, Minnesota 2008, S. 4. Den Hinweis auf Wills verdanke ich dem von Céline Kaiser geleiteten DFG-Nachwuchswissenschaftlernetzwerk ‚Szenografien des Subjekts‘. 18 Zum Begriff der face work vgl. Erving Goffman: On Face Work, in: ders.: Interaction Ritual. Essays on Face-to-Face Behaviour, London 1967, S. 5-47. 19 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 288ff. Hier ist die Rede von der Intensivierung der Erscheinungsgrade. 20 Der Begriff wird hier in Anlehnung an Carl Schmitts Begriff der ‚Landnahme‘ verwendet: die der militärischen Eroberung analoge Inbesitznahme der Bühne. Vgl. Carl Schmitt: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, 5. Aufl., Stuttgart 2001, S. 71. Zur Relation von Macht und Raum im Auftritt des Eroberers (am Beispiel von Marlowes Tamburlaine the Great) vgl.

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wird. Er erzwingt eine „Einräumung“21 – die Leerung besetzter Plätze und das Zurückweichen der Anwesenden. Gelungene Auftritte verändern die bestehende Raumlage, sie strukturieren diese neu und schaffen Auftrittsmöglichkeiten dort, wo zunächst keine vorhanden scheinen. Starke Ankünfte auf der Bühne schlagen Schneisen in unübersichtliche Situationen, sie teilen die Menge und ordnen das Verwirrte durch ihre Dazwischenkunft. Was sie auszeichnet, ist ihre Appellstruktur. Ausgesprochen oder unausgesprochen verbinden sie sich mit einer Aufforderung. Ausrufe wie ‚Platz da!‘ oder ‚Platz gemacht!‘ sollen das Ereignis des Auftritts erzwingen. Wenn es heißt: „Nur Platz! Nur Blöße“22, wird der Gewaltanteil dieser Raumnahme sichtbar. Nicht zufällig werden diese Worte den Holzfällern in Goethes „Mummenschanz“ in den Mund gelegt, die den eigenen Auftritt in Metaphern der Rodung – d.h. als Kahlschlag im unübersichtlichen Wald der Szene – veranschaulichen. Ob latent oder manifest, starke Auftritte werden als Akte der potentiell kriegerischen Okkupation und Unterwerfung eines Territoriums codiert, mit denen andere vertrieben werden, um ein raummächtiges Selbst ins Zentrum zu setzen: „Beim Eintritt des Don Cesar zerteilt sich der Chor in fliehender Bewegung vor ihm, er allein bleibt in der Mitte der Szene stehen“23, heißt es etwa in Schillers Braut von Messina, womit im Namen der Figur das Caesarische der Auftrittsgeste hervorgehoben wird. Idealtypisch ist der souveräne Auftritt, der einen idealisierten Zeichenkörper mit dem Ziel in Stellung bringt, die auf der Szene vorgefundene Welt zu ordnen und zu unterwerfen. Émile Benveniste definiert Königsherrschaft als Inaugurationsmacht – die Macht des Souveräns, ein Gelände dem eigenen souveränen Standort entsprechend auszurichten, seiner Abmessung die Kraft und Richtung des eigenen Herrscherwillens mitzuteilen und alle maßgeblichen Raumlinien aus ihm abzuleiten.24 Auftrittsprotokolle Allerdings können selbst Souveräne nicht uneingeschränkt über ihre Auftrittsform gebieten. Wirksam wird ihr Erscheinen erst dann, wenn es durch eine Empfangsgesellschaft gelesen werden kann. Auch der jubilatorische Auftritt mächtiger

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Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 2005, S. 193ff. Haß: Woher kommt der Chor?, S. 14. Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: MA 18.1, S. 103-351, hier S. 122 (V. 5199). Friedrich Schiller: Die Braut von Messina, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 5: Dramen IV, hg. v. Matthias Luserke, Frankfurt a.M. 1996, S. 279-384, hier S. 370. Vgl. Émile Benveniste: Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen, übers. v. Wolfram Bayer u.a., hg. v. Stefan Zimmer, Frankfurt a.M. 1993, S. 303ff.

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Personen – und möglicherweise gerade dieser – muss sich in vorgegebenen Formund Deutungshorizonten bewegen. Der Selbstentwurf des Ankommenden, so übersteigert er auch sein mag, kann nur glücken, wenn er sich in eine konventionelle Rahmung einfügt, die den Weg zur gesellschaftlichen Anerkennung öffnet.25 Auftritte sind geformte Ankunft: die „Versetzung-in-Form“26 ankommender Wesenheiten, wenn sie die Bühnenschwelle überschreiten. An solchen In-FormSetzungen sind sowohl die Akteure als auch die Anwesenden beteiligt, wenn auch nicht immer zu gleichen Teilen und mit gleicher mentaler und physischer Anstrengung. Nur in einem spannungsreichen Wechselspiel von persönlichem Geltungsanspruch und gesellschaftlichem oder politischem Skriptum gewinnt der Auftritt seine Kontur. Sowohl auf Seiten des Ankömmlings selbst als auch auf Seiten der Empfangsgesellschaft bedarf es daher eines Protokolls, das den Moment des Hinzutretens formalisiert und die Herstellung von Anwesenheit unter konventionell geregelten Bedingungen leistet.27 Dieses Protokoll hat dafür zu sorgen, dass eine am Rande einer Bühne auftauchende und vorerst unbestimmte Wesenheit nach bestimmten situations-, gesellschafts- und gattungsabhängigen Regeln in eine erkennbare Persona transformiert wird. Es schreibt die Regeln, nach denen das Fremde, das sich zunächst jenseits der Bühnenschwelle befindet, seine Ankunft gestaltet und seine Anerkennung sichert. Es stellt „gesicherte Routinen der Bearbeitung und des Umgangs“ zur Verfügung, um das Auftauchen „des Unerwarteten und der Überraschung“ zu bewältigen.28 Auftrittsprotokolle formalisieren Ankünfte in der Gesellschaft wie auf dem Theater und reduzieren damit das Risiko, das dem szenischen Status quo mit jeder neuen Ankunft droht. Sie erzeugen Berechenbarkeit und ermöglichen die Anerkennung auf Seiten der Empfangsgesellschaft. Gegenüber dem Geltungsbedürfnis des Einzelnen sind hier die Erwartungen niedergelegt, die ein gegebenes soziales System und seine Institutionen an den Auftretenden richten. Der Auf25 Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 9. Aufl., München 2011, S. 35ff. 26 David E. Wellbery: Form und Funktion der Tragödie nach Nietzsche, in: Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, hg. v. Bettine Menke u. Christoph Menke, Berlin 2007, S. 199-212, hier S. 204. 27 Zum Begriff des Auftrittsprotokolls vgl. Vogel u. Wild (Hg.): Auftreten: Wege auf die Bühne, S. 10ff. Vgl. auch Vogel: Sinnliches Aufsteigen, S. 108ff. 28 Vgl. Rudolf Stichweh: Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte, Frankfurt a.M. 2010, S. 75: „Von Fremden ist immer dort die Rede, wo soziale Andere auftauchen, mit denen sich das Moment des Unerwarteten und der Überraschung verknüpft, und wo für diese Überraschung zunächst keine gesicherten Routinen der Bearbeitung und des Umgangs mit ihnen zur Verfügung stehen.“ Vgl. auch Inka Mülder-Bach: Ankommende Erregungsgrößen. Zur Einführung, in: Ankünfte. An der Epochenschwelle um 1900, hg. v. ders., Aage Hansen-Löve u. Annegret Heitmann, München 2009, S. 9-18, hier S. 16.

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tritt bildet somit einen „Schnittpunkt zwischen dem, was eine Person sein will und dem, was die Welt ihr zu sein gestattet“29. Das vorliegende Buch geht dabei von der These aus, dass dramatische Auftritte im Allgemeinen oder tragische Auftritte im Besonderen durch Auftrittsprotokolle geprägt sind, die nicht allein durch die Handlung und ihren Motivationszusammenhang vorgegeben werden. Ihre Formen folgen religiösen, politischen, militärischen oder gesellschaftlichen Vorbildern und sind entsprechend vielfältig. Sie zitieren adventus-Formen, Triumphalformen, Prozessionen und Einzugsformen, Empfangsprotokolle, Jahrmarktauftritte, Gesandtschaftsprotokolle, Geisterbeschwörungen oder Revuen, sie aktivieren rituelle Muster wie den dionysischen Mänadismus oder übernehmen formalisierte Routinen wie das Kommen und Gehen auf Marktplätzen und anderes mehr. Dabei können auch informelle Auftrittsvorgänge formalisiert werden. Dramen greifen so auf Auftrittsformen zurück, die die Ankunft eines Individuums zeichenhaft ausgestalten und dieser Ankunft rituelle, zeremonielle oder einfach konventionelle Züge verleihen. Andererseits folgen sie Protokollen, die sich von Gattungsnormen herschreiben. So wird die Tragödie zumindest in ihrer frühneuzeitlichen Form andere Auftrittsregelungen entwerfen als die Komödie, die die beschleunigten Verkehrsformen eines gemischten städtischen Publikums aufnimmt und auf ihrer Bühne auch den kreatürlichen Menschen auftreten lässt. Umgekehrt wird sich die Tragödie restriktiver bzw. gravitätischer Protokolle bedienen, die an den Verhaltensregeln der höfischen Gesellschaft orientiert sind und den Gesichtspunkten gesellschaftlicher Etikette besonderes Gewicht beimessen. In der nach den Regeln der bienséance – der Wohlanständigkeit – erstellten Auftrittsordnung der klassizistischen Tragödie Frankreichs im 17. und 18. Jahrhundert, die im Zusammenhang dieses Buches eine maßgebliche Rolle spielt, muss der Schritt auf die Bühne anders gesetzt werden als in der Komödie, die auch dem Betrunkenen das Recht zum Auftritt zugesteht. Dabei ist jedoch auch zu beobachten, dass sich auch Störungen protokollarischer Abläufe wiederum formelhaft verfestigen können. Gerade die Formverluste in emotionalisierten Auftritten, die sich aus starken Affektlagen ableiten, können zur Grundlage neuer Auftrittsroutinen werden. Dabei scheinen besonders die Gesellschaften mit starker hierarchischer Gliederung und starken Ausschluss- und Einschlussmechanismen in die Formalisierung des Auftretens zu investieren. In ihren Auftrittsprotokollen bilden sich gesellschaftliche Anerkennung, ständische Unterscheidungen, höfische Rangordnungen und allegorische Bedeutungsgefüge in abgestuften Formen ab, die auch für die Tragödie kennzeichnend sind. Sie erlauben die Schlussfolgerung, dass Auftritte insbesondere dort Bedeutung erlangen, wo sich eine politische oder gesellschaftliche Ordnung 29 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, 2. Aufl., Berlin 2013, S. 196.

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durch Präsenzeffekte legitimiert.30 Für Staatsformen, deren Funktionieren die Kommunikation unter Anwesenden voraussetzt, ist die emphatische Inszenierung von Gegenwart und Da-Sein von entscheidender Bedeutung. Noch deutlicher wird die Formalisierung der Auftrittsfunktion im christlichen Theater und hier insbesondere im Welttheater, das die ständisch gegliederte christliche Weltordnung im Medium des Auftrittsparcours veranschaulicht. Anders als das aristotelische Theater mit seinem obligatorischen Handlungsbezug besteht das Theater der Welt aus geregelten Auftrittsabfolgen exemplarischer Figuren. Shakespeares Welttheater gliedert sich in „Exits and entrances“31. Calderóns Gran Teatro del Mundo bietet unschätzbare Einblicke in das für diesen Theatertypus maßgebliche Auftrittsprotokoll. Es setzt den göttlichen Meister als Spielleiter ein32 und ernennt die Allegorie der Welt zum Zeremonienmeister, der die Anordnung von Auftritten im Rahmen der christlich-ständischen Rollenhierarchie vornimmt. Geschaffen zu sein, bedeutet hier, auftrittsfähig zu sein und durch eine angewiesene Tür und zu einem von den Spielleitern festgesetzten Zeitpunkt auf die Bühne zu kommen.33 Es bedeutet, nicht mehr im „Nichts verloren“ zu sein und „trüb gestaltlos [zu] zerrinnen“34, sondern in fester, kenntlicher Rollengestalt in die Sichtbarkeit eines Bühnenraums einzutreten, der durch höhere Mächte abgesteckt wird. Calderóns Regie begegnet der agitatio eines regellosen Kommens und Gehens35 mit strengen Vorkehrungen: Durch die Einrichtung zweier Türen, den Aufruf der Personen, ihre Ausstattung mit attributiven Zeichen und die Be30 Zur Kommunikation unter Anwesenden in der höfischen Gesellschaft vgl. Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014, S. 258ff. 31 William Shakespeare: As You Like It, in: The Arden Edition of the Works of Shakespeare, hg. v. Agnes Latham, London 1975, S. 55 (II/7, V. 139ff.). 32 Vgl. Hans-Christian von Herrmann: Das Theater der Souveränität, in: ders.: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München 2005, S. 68ff. 33 Vgl. Christopher Wild: They have their exists and their entrances. Überlegungen zu zwei Grundoperationen im Theatrum Mundi, in: Theatrum Mundi. Die Metapher des Welttheaters von Shakespeare bis Beckett, hg. v. Björn Quiring, Berlin 2012, S. 89-136, hier S. 93: „Auftreten heißt irdische Existenz gewinnen und Abtreten diese wieder verlieren. So fällt im theatrum mundi die Gestaltwerdung mit ihrem Auftritt zusammen. Jeder Auftritt ist eine Geburt und jede Geburt ein Auftritt.“ 34 Don Pedro Calderón de la Barca: Das große Welttheater, in: ders.: Dramen. In der Übertragung von Johann Diederich Gries und Joseph von Eichendorff, München 1963, S. 785-840. Vgl. Juliane Vogel: Kommen und Gehen. Notizen zu einer Verkehrsformel der Bühne, in: Ein starker Abgang. Inszenierungen des Abtretens in Drama und Theater, hg. v. Franziska Bergmann u. Lily Tonger-Erk, Würzburg 2016, S. 35-47, hier S. 35ff. 35 Zur Disziplinierung und Kontrolle chaotischer Bewegung im Rahmen religiöser Zeremonialordnungen im Zeichen von orden und compostura vgl. Ulrike Sprenger: Stehen und Gehen. Prozessionskultur und narrative Performanz im Sevilla des Siglo de Oro, Konstanz 2013, S. 89ff. Zur Zufälligkeit von Auftritten generell vgl. Pütz: Die Zeit im Drama, S. 28ff.

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messung einer festen Auftrittsfrist stellen sie sicher, dass der Auftritt geordnet und im Rahmen christlicher Daseinspflichten vonstattengeht. Dennoch ist das Drama mehr als die bloße Vollzugsform gesellschaftlicher Auftrittsregelungen. Was in Calderóns Welttheater gelingt: die völlige Beherrschung aller Bühnenauftritte durch ein göttlich sanktioniertes Zeremonialprotokoll, ist im handlungsorientierten aristotelischen Drama nicht selbstverständlich. Wo die Figuren in „leidenschaftliche und verwickelte Situationen“36 eintreten, wie es bei Schiller heißt, werden auch Auftritte zur prekären Herausforderung sowohl für die ankommende Person wie für die Gesellschaft, die sie empfängt. Konflikte zwischen Geltungsbedürfnis und gesellschaftlicher Norm, Performanz und Erwartung können sich bereits in der Auftrittssituation zuspitzen und zu einem Scheitern von Ankunft führen. Entsprechend lassen sich an misslingenden Auftritten gesellschaftliche Störungen ablesen, sie zeigen Statusprobleme an, sie deuten auf Wahrnehmungs- und Anerkennungskrisen hin und zeigen vielfältige Spielarten verfehlter oder unzureichender Präsenz. In vielen Fällen gerät dabei auch das ausgewogene Verhältnis von enargeia und energeia aus dem Gleichgewicht. Auftritte können bei fehlender energeia die Deutlichkeitsgrenze unterschreiten und die ankommenden Personen der Wahrnehmung entziehen. Sie können aber auch Energien entfesseln, die die ankommende Gestalt in ein unlesbares Bewegungsbild verwandeln und die Bühne verwüsten, in die sie einfallen. Auftritt und Verstrickung Nur mittelbar beschäftigt sich dieses Buch mit den Auftrittskonventionen des Theaters, auch wenn diese auf den ersten Blick die näherliegende Informationsquelle zu sein scheinen. Zweifellos sind Auftrittsformen mit allem, was sie einschließen, zunächst Teil einer Aufführungspraxis. Sie können in erster Linie an Bühnengegebenheiten und Bühnenkonventionen abgelesen werden, an der Bühnenarchitektur, an den Kulissen, die Auftrittsstellen markieren und Auftrittswege vorzeichnen. Sie betreffen die Rolle des Vorhangs,37 der sich vor den Personen hebt und senkt sowie öffnet und schließt und damit die Auftrittsaktivität des Körpers teilweise übernimmt, sie betreffen die Rolle des Stichworts, das dem Schauspieler das Zeichen zum Auftritt gibt, sie betreffen die Körperhaltungen,38 sofern sie 36 Friedrich Schiller: Vorrede zur Pitaval-Ausgabe von 1792-1795, in: Oliver Tekolf: Schillers Pitaval. Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit, verfaßt, bearbeitet und herausgegeben von Friedrich Schiller, Frankfurt a.M. 2005, S. 75-79, hier S. 75. 37 Vgl. Gabriele Brandstetter: Lever de Rideau – die Szene des Vorhangs, in: Szenen des Vorhangs – Schnittflächen der Künste, hg. v. ders. u. Sibylle Peters, Freiburg i.Br. 2008, S. 19-41. 38 Vgl. Franziskus Lang: Dissertatio de Actione Scenica/Abhandlung über die Schauspielkunst, hg. u. übers. v. Alexander Rudin, Bern/München 1975, S. 189f.; Kolesch: Auftrittsweisen, S. 45.

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durch die Regie des Theaters und nicht durch das Drama vorgegeben werden. Wo sie für die hier eröffneten Perspektiven eine Rolle spielen, werden diese Aspekte berücksichtigt. Der Weg, der hier gewählt wird, geht jedoch in erster Linie über das Drama, genauer: über die Gattung der Tragödie. Im Zentrum steht die spannungsreiche Beziehung zwischen Handlung und Auftritt, wobei mit Handlung jedoch nicht das bezeichnet ist, was die agency eines Subjekts vorführt: „die exemplarisch sichtbare Bekräftigung eines handlungsfähigen, wollenden, verantwortlichen und seiner selbst gewissen Ich“39. Diese Bekräftigung vorzunehmen, wäre die Aufgabe eines souveränen situationsmächtigen Auftritts, der in der Lage wäre, ein solches Idealbild in Szene zu setzen. Was ihm im Drama jedoch hemmend gegenübersteht, ist ein Verstrickungszusammenhang, der die Handlungsfähigkeit des dramatischen Subjekts übersteigt und in gefährlicher Weise begrenzt. Es ist das für das Subjekt undurchschaubare Geflecht der Handlungen, das das glänzende Erscheinen der Person herabsetzt und ihr Geltungsbedürfnis in oftmals drastischer Weise und bis zum Tod hin beschneidet. Dieser Verstrickungszusammenhang baut sich jedoch im Text des Dramas oder im Text der Tragödie auf. Auf dem Theater allein ist er nicht vorzufinden. Ein Schicksal zu haben, heißt in einen Text verstrickt zu sein.40 Das Verhältnis von Auftritt und tragischer Verstrickung ist das Thema des vorliegenden Buches.

39 Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, S. 304. 40 Vgl. Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt a.M. 2005, S. 52f.: „Die spezifische Weise jedoch, in der eine dramatische Person ein Schicksal hat, besteht darin, daß sie in einen Text verstrickt, daß ihr Schicksal von einem Text hervorgebracht und bestimmt ist. Für eine dramatische Person heißt ein Schicksal zu haben, die Figur in einem Text zu sein; von dessen Verwebungen sind ihr Sein, Tun und Leiden bestimmt.“

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2. Tragischer Auftritt. Die Hybris des Schritts

Erstes Hervortreten Auch die Geschichte der Tragödie beginnt mit einem Schritt. An ihrem Anfang steht das Heraustreten des Chorführers aus dem Chor.1 Die Worte „genomené apo ton exarchonton ton dithyrambon“2, die sich im vierten Kapitel der Poetik des Aristoteles finden, lassen die Geschichte des tragischen Spiels bei der Figur des Chorführers anfangen, der in enthusiastischer Erregung aus dem Chor der Dionysosbegeisterten heraus- und diesen gegenübertritt. Auch wenn diese Lesart nicht unumstritten geblieben ist, hat sie sich zu einer erfolgreichen Ursprungserzählung ausgebildet. Nach Auskunft des Philologen Karl Otfried Müller kann von einer unsicheren, jedoch berechtigten Hypothese gesprochen werden. In seiner 1841 erschienenen Geschichte der griechischen Literatur findet sich folgende Formulierung: „Zumindest berechtigen die Worte des Aristoteles, dass die Tragödie von den Vorsängern des Dithyramb ausgegangen sei, von einem besonderen Hervortreten der Chorführer auszugehen.“3 Folgt man seiner Annahme, so beginnt die Tragödie mit einer ersten und formstiftenden Absonderung. Als Gattung wird sie zuerst dort greifbar, wo sich ein Individuum mit einem Schritt aus dem Chor herauslöst und in der Öffentlichkeit exponiert. In historischer wie auch in systematischer Perspektive beginnen Tragödien mit einem Hervortritt, der zugleich einen Spielraum eröffnet, in dem ein oder mehrere Akteure miteinander 1 2

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Das einleitende Argument greift zurück auf Juliane Vogel: „Who’s there?“ Zur Krisenstruktur des Auftritts in Drama und Theater, in: Auftreten: Wege auf die Bühne, hg. v. ders. u. Christopher Wild, Berlin 2014, S. 22-37, hier S. 23ff. Aristoteles: Poetik, übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, Kap. 6 (1449a), S. 14; vgl. dazu auch Aristoteles: Poetik, übers. u. erläutert v. Arbogast Schmitt, Berlin 2008, S. 273. Zur Forschungsgeschichte vgl. Albin Lesky: Die griechische Tragödie, 5. Aufl., Stuttgart 1984, S. 17-48; Joachim Latacz: Einführung in die griechische Tragödie, 2. Aufl., Stuttgart 2003, S. 56ff. Vgl. Karl Otfried Müller: Geschichte der griechischen Literatur bis auf das Zeitalter Alexanders, hg. v. Eduard Müller, Breslau 1841, S. 29. Zur Kritik vgl. den Kommentar von Arbogast Schmitt in: Aristoteles: Poetik, S. 294. Auch in neueren Übersetzungen fallen die Auslegungen dieser Stelle durchaus unterschiedlich aus: Vgl. Stephen Halliwell: Aristotle’s Poetics, 2. Aufl., London 1998, S. 41: „Ar. probably assumes that the Athenian Thespis took the crucial step, c. 534, of adding an individual voice (the first actor) to the traditional chorus of dithyramb.“ Vgl. außerdem den Kommentar von Manfred Fuhrmann in: Aristoteles: Poetik, S. 107: „Aristoteles gibt zu verstehen, daß die improvisierten Texte, die die Chorführer in die Lieder des Chores eingefügt hatten, die Keimzelle des dramatischen Dialogs gewesen seien.“ Alle Übersetzungen gehen jedoch von der Setzung einer Differenz durch den Chorführer aus, der sich mit Schritt und Stimme von dem chorischen Kollektiv abtrennt. Wolfgang Schadewaldt: Die griechische Tragödie, Frankfurt a.M. 1991, S. 35 übersetzt exarchein mit: „Anstimmen, beginnen, Vorsänger sein“.

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in Beziehung treten. Umgekehrt erinnern sie mit jedem Auftritt an diesen Entstehungszusammenhang. Darüber hinaus lassen sich jedoch nur wenige Verbindungen zwischen Aristoteles und einem Theater des Auftritts herstellen. In den Bestimmungen der Poetik spielt der Vorgang, den man als Einen-Auftritt-Haben oder als ein In-ErscheinungTreten bezeichnen könnte, keine weitere Rolle. Im Gegenteil: Die Unartikuliertheit unseres Auftrittswissens lässt sich auch damit begründen, dass sich Aristoteles in der Fokussierung auf den Mythos weder mit der Aufführung der Tragödie beschäftigt noch mit der Dramaturgie ihrer Auftritte. Sein Interesse gilt der Nachahmung einer Handlung und nicht der Schaustellung der an ihm beteiligten Charaktere:4 In der Tat nimmt Aristoteles damit eine Weichenstellung vor, die für das aristotelische Theater der Neuzeit bestimmend blieb und eine vornehmlich handlungsorientierte Wahrnehmung der Tragödie begründete. Ausschlaggebend ist ausschließlich die Herstellung eines kohärenten Zusammenhangs. Die Kunst der Tragödie besteht darin, unterschiedliche Handlungsstränge so miteinander zu verknüpfen, dass sie das Ereignis eines tragischen Umschlags notwendig herbeiführen. Bis in die Regelpoetiken des frühen 18. Jahrhunderts hinein wurde der Rang eines Dramatikers nach dessen Fähigkeit bemessen, einen dramatischen oder tragischen Knoten zu knüpfen, der einen Glückswechsel herbeiführte. Seine Kunst bestand in der kunstvollen Verwicklung eines Geschehenszusammenhangs: „Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse“. 5 Diesem Zweck werden die tragischen Personen untergeordnet. Weder Aristoteles noch seine Nachfolger zweifeln daran, dass das Dasein des tragischen Helden nur in Hinblick auf die Handlung gerechtfertigt ist. Er ist Teil eines umfassenden Vollzugs und nur in Bezug auf diesen von Bedeutung. Aus der Sicht einer aristotelischen Dramentheorie dienen die Personen ausschließlich dazu, das dramatische Geschehen voranzutreiben. Immerhin: Ohne fortgesetzte Auftritte droht der dramatische Gang zu stocken. Sie sind es, die Neuigkeiten herbei- und neue Situationen hervorbringen.6 Sie geben Handlungsimpulse und erhalten Informationsflüsse aufrecht. Jedes ‚Da kommt …‘ oder ‚Hier kommt …‘ novelliert die Lage und verdichtet den dramatischen Knoten. Mit ihrer Hilfe kann dramatische Zeit im aristotelischen Universum rhythmisiert, strukturiert und akzentuiert werden.7 Hohe Auftrittsfrequenzen erhöhen die Spannung und werden zur Beschleunigung und Finalisierung einer Handlung eingesetzt. Umgekehrt transformiert sich dramatische Zeit in eine Zeit 4 5 6 7

Aristoteles: Poetik, Kap. 6 (1450b), S. 25: „Die Inszenierung [opsis] vermag zwar die Zuschauer zu ergreifen; sie ist jedoch das Kunstloseste und hat am wenigsten etwas mit der Dichtung zu tun.“ Ebd., Kap. 6 (1450a), S. 21. Zur ‚Meldung‘ als konstitutives Element der Tragödie vgl. Schadewaldt: Die griechische Tragödie, S. 50. Vgl. Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung, 2. Aufl., Göttingen 1977, S. 29.

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der Erwartung, wenn sich ein Auftritt und damit ein entscheidender Impuls hinauszögert oder ganz ausbleibt. Der energetische Pegel einer Handlung wird sich absenken, wenn wenige bis gar keine Auftritte stattfinden, während diese sich beschleunigt und bisweilen selbst überholt, wenn dichte Auftrittsfolgen für hohe Impulsfrequenzen sorgen. Die Sequenzierung und Frequenzierung von Auftritten ist eines der wesentlichen Gestaltungsmittel dramatischer und auch tragischer Zeit. Unter diesen Voraussetzungen, die klar den Fortschritt der Handlung betonen, bleibt der Auftritt allerdings unbetont. Aus aristotelischer Perspektive können Auftritte keine Ereignisse im Sinne betonter Schaustellung sein. Dennoch lässt sich das theatrale Potential des Moments, in dem die Person in Erscheinung tritt, auch in der aristotelischen Tragödie nicht eliminieren. Seine Unterordnung unter den Handlungsgang verhindert nicht, dass sich die unterdrückte Dramaturgie des Auftritts auch in der Handlung bemerkbar macht. Die Funktionalisierung des Auftritts kann niemals so weit gehen, dass sie das theatrale Potential des Auftrittsmoments vollständig auslöscht. Gerade seine Punktualität führt zu einer Intensivierung. Die Formeln ‚hier kommt‘ und ‚da kommt‘, die ihn ankündigen, geben nicht nur einen Informationsimpuls, sie bezeichnen auch einen energetischen Moment des Sichtbarwerdens. Wenngleich hier nur von optischen Schwundformen die Rede sein kann, die allenfalls einen kurzen Moment innerhalb des dramatischen Vorgangs ausmachen, leisten sie die personenbezogene Theatralisierung des Geschehens. In aller Kürze lenken sie den Blick der Anwesenden auf die Erscheinung des Ankömmlings. Mit zeremonieller Prägnanz annoncieren sie ein optisches Ereignis, das das Handlungskontinuum punktuell unterbricht und die Aufmerksamkeit der Zuschauer der Sichtbarkeit der Akteure zuwendet. Mit jedem Auftrittsvermerk wird der Akteur in den dramatischen Text eingezeichnet, mit jeder Auftrittsankündigung der Ankommende „vom Gesehenwerden durchdrungen“8. Dass dabei vom Kommen und nicht vom Da-Sein die Rede ist, dass in der europäischen Dramaturgie der Tragödie das ‚Il vient‘ – ‚Here comes‘ – ‚Da kommt‘ gegenüber einer bloßen Feststellung des Vorhandenseins vorherrscht, macht außerdem deutlich, dass es sich nicht notwendigerweise um ein plötzliches Ereignis handelt, sondern um einen Vorgang mit zeitlicher Erstreckung. Auftrittsannoncen betonen das Faktum der Annäherung, nicht die Gegenwart der Personen. Sie heben den Umstand hervor, dass eine Person auf dem Theater nicht gegeben ist, sondern sich erst in einer Bewegung des Herantretens formiert. Auftritte verbinden auch im Zusammenhang der Tragödie Bild und Bewegung, enargeia und energeia. Wenn Aristoteles die Handelnden der

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Hans Blumenberg: Die Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlass hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt a.M. 2006, S. 778. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 130.

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Tragödie als energountes9 und damit als Kraftträger anspricht, ist neben der Kraft zur Handlung auch jene Kraft benannt, die die Person aus der Umschließung des Chors ins Licht der Öffentlichkeit treten lässt.10 Das „Regardez-le marcher“ Corneilles – die glanzvolle Auftrittsformel des Ancien Régime – ist somit auch die für die Tragödie unentbehrliche Erscheinungsbedingung. Tragische Individuation ist demnach an einen Schritt gebunden. Auch in der Tragödie muss die Person erst nach vorne kommen, um gegenwärtig zu sein. In ihrem vollen Umfang lässt sich diese nur dann erkennen, wenn sie sich in einer Auftrittsbewegung artikuliert. Form gewinnt sie erst mithilfe einer im Vorschreiten entfalteten Kraft. Auftritt als Hybris Kennzeichen tragischer Formen ist jedoch nicht die triumphale und durchsetzungsstarke Realisierung dieses Schrittes, sondern vielmehr dessen rückwirkende Aufhebung. Auftritte in der Tragödie rufen die tragischen Gegenkräfte auf den Plan. Ihr prekärer Status ergibt sich daraus, dass sie nicht nur eine räumliche Schwelle, sondern auch ein Verbot überschreiten. Tragische Umstände treten jeweils dann ein, wenn das Vorschreiten des Subjekts zugleich eine Überschreitung darstellt, die eine potentiell tödliche Bestrafung nach sich zieht.11 Tragische Auftritte sind aktive Selbstsetzungen des tragischen Subjekts und körperlicher Ausdruck einer Anmaßung, die durch unerkennbare Mächte unmittelbar geahndet und widerrufen wird. Im tragischen Formprozess kommt ihnen daher eine zentrale Bedeutung zu. So lautet eine zentrale These dieser Untersuchung, dass es bereits das Sichtbarwerden der tragischen Person – der Triumph ihrer Erscheinung – ist, das ihre Vernichtung in Gang setzt. Vor aller Handlung ist es schon das menschliche Erscheinungsbegehren, das die Katastrophe herausfordert.12 Tragische Züge gewinnt der Auftritt dann, wenn er die Überschreitung einer Grenze 9

Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 1 (1448a), S. 8. Vgl. Rüdiger Campe: Vor-Augen-Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung, in: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, hg. v. Gerhard Neumann, Stuttgart 1997, S. 208-225, hier S. 215. 10 Hannah Arendt wird diese kraftvolle Auftrittsbewegung der energountes ins Zentrum ihrer in Vita Activa entwickelten Öffentlichkeitstheorie rücken. Vgl. Hannah Arendt: The Human Condition, Chicago 1958, S. 199. 11 Überschreitung, Überhebung und Sturz als tragische Struktur beschreibt Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013, S. 85ff. Auf S. 26 ist sehr schön von „ikarischer Grenzüberschreitung“ die Rede. Vgl. auch David Wellbery: Goethes „Faust I“. Reflexion der tragischen Form, München 2016, S. 73ff. 12 Rüdiger Campe hat diesen Gedanken am Beispiel von Hölderlins Empedokles ausgeführt. Vgl. Rüdiger Campe: Erscheinen und Verschwinden. Metaphysik der Bühne in Hölderlins „Empedokles“, in: Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, hg. v. Bettine Menke u. Christoph Menke, Berlin 2007, S. 53-72, hier S. 57.

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voraussetzt und ein Erscheinen erzwingt, das den Keim zur Selbstüberhebung in sich trägt. Das Hervortreten des Subjekts ist selbst ein Akt tragischer Hybris13, Ausdruck „vermeintlicher Selbstmächtigkeit“14 und damit tragische Verfehlung.15 Schon dadurch, dass es überhaupt stattfindet, fordert es das Schicksal heraus. So können die Merkmale, die die Hybris kennzeichnen, auch dem Schritt zugerechnet werden, der sich vorwagt. Wie andere Ausprägungen der Hybris lässt sich auch dieser – mit Nietzsche – als ein „Exceß von Muth und Übermuth“16 beschreiben, in dem sich die Geltungsansprüche des Subjekts emphatisch artikulieren. Das tragische Schicksal wirkt jedoch den Triebkräften der Besonderung entgegen, die sich im Auftritt kundtun. Es ist anti-theatral, indem es die Kraft und Freudigkeit dieses Schritts zu brechen sucht und den Leidenskern allen Auftretens freilegt. Zugespitzt formuliert wendet es sich gegen das In-Erscheinung-Treten der auf die Bühne entsandten Subjekte. Der Auftritt wird damit selbst zu einer tragischen Größe eigenen Rechts. Dient er in seiner idealen Form dazu, ein Individuum herauszustellen, es deutlich zu markieren und mit einem Glanz zu versehen, der es in den Augen der anderen auszeichnet, so strebt die Tragödie danach, diese Setzung zu widerrufen. Auftritte in der Tragödie finden stets vor einem Horizont existentieller Gefährdung statt und verweisen sowohl in semiotischer wie auch in sozialer Hinsicht auf einen zukünftigen oder bereits eingetretenen Distinktionsverlust. Seit ihren Anfängen ist die Tragödie ein Schauplatz von Erscheinungskrisen. Tragödie als anti-triumphalistische Gattung Auch aus diesem Grund setzt sich die Tragödie, welche Gestalt sie auch annimmt,17 mit Formen triumphalen Auftretens auseinander. Es mag keine Neu13 Vgl. Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 110: Demnach ist hybris „wörtlich ein ‚Übergriff‘, ein Zuviel, ein Übergreifen in einen fremden Rechtsbereich“. Zur Hybris bei Homer und bei Hesiod vgl. Kurt Latte: Der Rechtsgedanke im archaischen Griechentum, in: Zur griechischen Rechtsgeschichte, hg. v. Erich Berneker, Darmstadt 1968, S. 7798, hier S. 78f., 92f. Vgl. Uwe Herrmann: Zur Rolle der Gewalt in der griechischen Archaik im Spiegel der epischen und lyrischen Dichtung, Münster 2014, S. 53ff. Vgl. auch den Eintrag: Hybris, in: Metzler-Lexikon für Philosophie, hg. v. Peter Prechtl u. Franz-Peter Burkard, 3. Aufl., Stuttgart 2008, S. 249; Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, S. 99ff. 14 Manfred Leber: Der moderne Roman zur antiken Tragödie, Berlin 1990, S. 104. 15 Vgl. Walter F. Otto: Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 1987, S. 172. 16 Friedrich Nietzsche an Heinrich Kosternitz am 27. Oktober 1887, in: ders.: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, Bd. III.5: Briefe Januar 1887 – Januar 1889, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin/New York, Nr. 940, S. 178-180, hier S. 178. 17 Vgl. Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, S. 23ff.

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igkeit sein, dass die Tragödie die Daseinsansprüche ihrer Personen negiert, und gewiss ist es ein aristotelischer Gemeinplatz, dass Tragödien einen Glückswechsel herbeiführen, der eine vermeintliche Größe zu Fall bringt. Dennoch kann ein Blick auf die konkreten Auftrittsvollzüge, in denen sich diese Größe im Moment ihres Erscheinens aufbaut, neues Licht auf den tragischen Formprozess werfen. Tragische Auftritte nehmen auf vorgefundene höfische oder auch militärische Auftrittsprotokolle Bezug, die auf eine triumphale Überhöhung des Subjekts hin angelegt sind. Im Visier der Tragödie sind damit Auftrittsordnungen, die auf eine jubilatorische Steigerung des natürlichen Körpers abzielen. Konkret geht es um Formen des self-fashioning, die ihn über das menschliche Maß hinausheben und sein „sinnliches Aufsteigen“18 inszenieren. Wenn die solennen Protokolle der auftretenden Figur Deutlichkeit, Glanz und Kraft verleihen, dann ist die Tragödie ein Organon ihrer Kritik. So geht es in den folgenden Studien auch um die Konkretisierung dessen, was Hans-Thies Lehmann als die „gebrochene“19 Theatralität der Tragödie bezeichnet: Es ist diese Gebrochenheit, die sich am tragischen Auftritt zeigt. Tragödien bearbeiten die höfischen Zeremonien, die den Einzelnen erglänzen lassen, und zerstören die Unterschiede, die ihn von anderen abheben. Sie intervenieren in das Triumphalprotokoll, das die uneingeschränkte Auftrittsmacht hoher Personen: von Imperatoren, Souveränen und Feldherren, festlegt und richten sich gegen den triumphalen Kern, der in jeder tragischen Auftrittsanmaßung enthalten ist. Pointiert kann man die Tragödie – und das ist der Leitfaden, dem die hier vorliegende Untersuchung folgt – als anti-triumphalistische Gattung bezeichnen. Sie ist es dahingehend, dass sie den dem Menschen zugestandenen Auftrittskörper nur in beschädigter Form auftreten lässt, dass sie seinen Triumph in Pathos wendet und ihn den Wirkungen einer in der Regel Verderben bringenden Handlung aussetzt. Im splendor des Auftritts bereitet sich der Moment der Preisgabe vor. Hans-Thies Lehmanns Bemerkung: „Es [das tragische Subjekt; J.V.] macht die Erfahrung, dass die Würfel über sein Schicksal bereits gefallen sind, wenn es den ersten Schritt tut“20, wird in diesem Buch wörtlich genommen. Diese anti-triumphalistische Tendenz lässt sich schon bei Aischylos feststellen. Bereits in seiner ersten überlieferten Tragödie Die Perser erweist er sich als ein Meister der inszenierten Auftrittskritik, der dem Prunkauftritt die Zeichen des kommenden Niedergangs einschreibt. Von Beginn an relativieren seine Tragödien den großen Auftritt souveräner Personen im Licht tragischer Verläufe. Nach der verlorenen Schlacht von Salamis zeigt sich der König Xerxes als ein „Lumpen18 Eintrag: Auftritt, in: Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854, Sp. 765. 19 Vgl. Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, S. 217. 20 Lehmann: Theater und Mythos, S. 136.

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held“21. Anstelle des erwarteten Triumphators erscheint ein zerstörter Zeichenkörper. Dasselbe gilt für den Titelträger des Agamemnon. Als dieser zu Beginn der Oresteia als Sieger über Troja nach Mykene zurückkehrt, mag er mit den Würdezeichen des Siegers versehen sein. Im Purpur des vor ihm ausgerollten Teppichs setzt sich jedoch nur das ungewisse Meer fort, das ihn schwanken lässt, bevor er ins Innere des Hauses tritt, in dem die Vorbereitungen für seine Ermordung bereits getroffen sind. In den Choephoren, dem an den Agamemnon anschließenden Teil der Oresteia, kann das eröffnende „heko […] kai katechomei“22 Orests keine raumstiftende Macht entfalten. Es markiert die Ankunft eines Unerkannten, der seine Schritte nur heimlich setzen kann.23 Auch der große Auftritt des Ödipus vor dem mit der Pest geschlagenen thebanischen Volk ist in doppelter Hinsicht gebrochen: erstens durch die Unkenntnis – agnoia24 – gegenüber der eigenen Herkunft, und zweitens durch die Verstümmelung der in der Kindheit durchbohrten Füße, die ihm den Namen Oidipous – ‚Schwellfuß‘ – eintragen und seinen Gang behindern.25 Auch in den Bacchen bleibt ein Triumph unverwirklicht. In der letzten Tragödie des Euripides ist es die Epiphanie des Gottes Dionysos, die auf der tragischen Bühne nur unter Vorbehalt stattfindet. Die Macht des Wortes heko – ‚ich komme an‘/‚ich bin angekommen‘ –, mit dem die Tragödie einsetzt,26 kann sich unter den Bedingungen eines wiederum verstohlenen Auftritts nicht entfalten. Der Gott, dessen Ankunft in den athenischen Dionysien triumphal gefeiert wird,27 erscheint als Fremdling, ohne für die Anwesenden kenntlich zu sein. Der Prolog des Stückes beschreibt die lang gedehnte und unabgeschlossene Auftrittsbewegung eines Gottes, der nicht aufhört anzukommen und nur in der unentzifferbaren Maske des xenos – des Fremden – auftritt. Die Tragödie, die ihm

21 Siegfried Melchinger: Das Theater der Tragödie. Aischylos, Sophokles, Euripides auf der Bühne ihrer Zeit, München 1974, S. 73. Vgl. auch Christopher Wild: Royal Re-entries. Zum Auftritt in der griechischen Tragödie, in: Auftritte. Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien, hg. v. Annemarie Matzke, Ulf Otto u. Jens Roselt, Bielefeld 2015, S. 33-61, hier S. 37. 22 Aischylos: Choephoren. Orestie. Weihgussträgerinnen, in: ders.: Tragödien, übers. v. Oskar Werner, hg. v. Bernhard Zimmermann, 7. Aufl., Mannheim 2011, S. 321-395, hier S. 324 (V. 3): „Komm ich doch in dies Land und kehre wieder heim.“ Vgl. Aristophanes: Die Frösche, in: ders.: Sämtliche Komödien, hg. v. Ludwig Seeger u. Otto Weinreich, Zürich 1987, S. 515-580, hier S. 565 (V. 1128.): „Ins Vaterland rückkehrend zieh’ ich heim.“ 23 Zum Verhältnis von Anagnorisis und Auftritt vgl. Vogel: „Who’s there?“, S. 202ff. 24 Zur agnoia vgl. Schadewaldt: Die griechische Tragödie, S. 27. 25 Vgl. Wild: Royal Re-entries, S. 44. Vgl. hier auch zur Depotenzierung von Herrscher- und Götterauftritten bei Aischylos und Euripides. 26 Zur Temporalität und Bedeutung des Wortes heko, das in vielen griechischen Tragödien den ersten Auftritt markiert, vgl. Susanne Gödde: Das Drama der Hikesie. Ritual und Rhetorik in Aischylos‘ „Hiketiden“, Münster 2000, S. 38. 27 Vgl. Latacz: Einführung in die griechische Tragödie, S. 43.

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und seinem Kult gewidmet ist, lässt ihn nur in verdeckter und nicht in seiner epiphanischen Gewalt zur Erscheinung kommen. Diese doppelte Sprache des Auftritts ist hier von Interesse. Gesucht wird nach dem Pathoskern, der auch im Triumph der Persona angelegt ist. Auftreten in der Tragödie ist nicht nur Raumnahme, sondern in gleicher Weise „erlittene Macht“28. Es ist eine Form des Aktivs, der tätigen Selbstsetzung als Erscheinender, Redender und Handelnder in potentiell triumphaler Vergrößerung, zugleich aber eine Form des Passivs, des Erleidens, des Schmerzes und des Verlusts, und in dieser Bedeutung tragische „Exponierung des Anwesenden“29. Triumphieren und Erleiden, Präsenz und Privation verbinden sich zu einer unauflöslichen und von Umschlägen bedrohten Einheit. Dem Auftritt ist daher sowohl in seinen triumphalen wie in seinen einschränkenden, in seinen aktiven wie in seinen passiven, in seinen formstiftenden wie in seinen formentziehenden Ausprägungen nachzugehen. Im Glanz des Erscheinens sind die Spuren bevorstehender Peripetien abzulesen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die rhetorischen und ästhetischen Ausformulierungen, die der Auftritt im tragischen Prozess erfährt. So werden die Mittel in den Blick genommen, mit denen die tragische Individuation und zugleich die Krisen inszeniert werden, die die Theatralität der Persona bedrohen. Figur und Hintergrund Wenn der Auftritt jedoch bereits in seinem eigenen Vollzug die Gegenkräfte aufruft, die ihn als Erscheinen im emphatischen Sinn ungeschehen zu machen suchen, kann er sich niemals ganz realisieren. Krisenhaft ist er auch insofern, als er sich nicht vollendet und die volle Gegenwart, die er verspricht, am Ende schuldig bleibt. Sein Schritt ist stets unvollendete Passage, so wie auch das Personenbild zuletzt undeutlich ist, das er nach vorne trägt. Angesichts der sich bei seinem Erscheinen aufbauenden Widerstände kann sich der Auftretende nur halb artikulieren. Das Ziel der völligen Ablösung des Einzelnen und die uneingeschränkte Freistellung der Person auf der Bühne scheinen weder im Drama noch in der Tragödie erreichbar. Wie Friedrich Nietzsche in einer hellsichtigen Bemerkung zu Aischylos feststellt, bleibt bei jedem Auftritt ein unrealisierter Rest: 28 Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, S. 63. 29 Walter Benjamin: Theater und Rundfunk. Zur gegenseitigen Kontrolle ihrer Erziehungsarbeit, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.2: Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1977, S. 773-776, hier S. 775. Vgl. zu Benjamins Begriff der ‚Exponiertheit‘ Samuel Weber: Scene and Screen. Electronic Media and Theatricality, in: ders.: Theatricality as Medium, New York 2004, S. 97-120, hier S. 111f.: „The term exponiert has to do with being ‚exposed,‘ but in a variety of senses: here, the term suggests risk, taking chances, uncertainties […].“

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Und hier nun war ihm begegnet, was dem in die tieferen Geheimnisse der äschyleischen Tragoedie Eingeweihten nicht unerwartet sein darf: er gewahrte etwas Incommensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine gewisse täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthselhafte Tiefe, ja Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste Figur hatte immer noch einen Kometenschweif an sich der in’s Ungewisse, Unaufhellbare zu deuten schien. Dasselbe Zwielicht lag über dem Bau des Drama’s, zumal über der Bedeutung des Chors.30

Die Auftrittskrise, die sich in dieser Beobachtung kundtut, ist eine Krise von Figur und Grund. Sie wird durch einen Mangel an Ablösung hervorgerufen. In der Tragödie bleiben die bestimmten Formen dem Unbestimmten, das Helle dem Unaufhellbaren und das Klare dem Rätselhaften verbunden. Kennzeichen der tragischen Auftrittssituation ist somit eine auf Dauer gestellte Liminalität, die den energischen Schritt auf der Schwelle und in der Schwebe hält. Diese lässt im Unklaren, ob die Person, die sich zu erscheinen anschickt, nicht wieder am Verschwinden ist und ob das, was sich verdeutlicht, nicht sogleich wieder in die Indifferenz zurücktritt. Eine definitive Unterscheidung zwischen Vortritt und Rücktritt scheint unter tragischen Bedingungen nicht möglich.31 Die Differenz zwischen Figur und Grund bleibt labil. Vor tragischem Grund lässt sich keine Form dauerhaft stabilisieren, auch im Moment des Auftretens macht er sich geltend. Um die Form des Rückbezugs theatraler Phänomene auf ein ihnen vorausliegendes Grenzenloses, Unendliches oder Offenes zu bezeichnen, wird hier der Begriff des Grundes oder Hintergrundes verwendet. Durch seine Unbestimmtheit reicht er über die konkrete, jenseits der Bühne gelegene Räumlichkeit hinaus,32 die mit dem Begriff der Backstage assoziiert ist, obwohl sich auch dieser mit dem „Ungestalte[n], Gestaltlose[n]“33 verbindet und wie der Grund niemals ganz von 30 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 9-156, hier S. 84. 31 Das Begriffsrepertoire wird diese Wahrnehmungsprozesse zu fassen versuchen. Vgl. Jan C. Bouman: The Figure-Ground Phenomenon in Experimental and Phenomenological Psychology, Stockholm 1968, S. 92. Vgl. ebd., S. 85ff., hier auch zur Indifferenz von protruding und receding. Bouman gibt eine Einführung in den Figur-und-Grund-Kontrast in der Gestalttheorie. Mit ground bezeichnet er das ‚Unbegrenzte‘, ‚Unendliche‘: „The primary distinction between figure and ground is limitedness versus unlimitedness.“ (S. 92) Demgegenüber steht die „primary distinction“ der Figuration: „The figure is finite limited, circumscribed, bounded, ending. The ground is infinite, unlimited, unbounded, endless.“ (S. 231). Vgl. auch Stefan Neuner: Eintrag: Figur und Grund, in: Lexikon Kunstwissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. v. Stefan Jordan u. Jürgen Müller, Stuttgart 2012, S. 112-116; James Elkins: On Pictures and the Words That Fail Them, Cambridge 1998, besonders das Kapitel: Figure and Ground, S. 78-129. 32 Vgl. Annette Kappeler: L’Œil du Prince. Auftrittsformen in der Oper des Ancien Régime, Paderborn 2016, S. 20ff. 33 Bettine Menke: Off/On, in: Auftreten: Wege auf die Bühne, hg. v. Juliane Vogel u. Christopher Wild, Berlin 2014, S. 180-188, hier S. 185: Das Gegenwärtige sei stets auf das Abwesende, die thea-

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der Szene abgetrennt werden kann. Der Begriff des Grundes oder Hintergrundes zielt jedoch auf eine diffusere und unbegrenztere, in Begriffen der Zweiteilung nicht fassbare Zone des Dazwischen, die es im Unklaren lässt, ob sie sich noch diesseits oder schon jenseits der Bühne befindet oder nicht vielmehr eine Art „Gleiten der Gegenden“34 ist, die den Übergang zwischen beiden herstellt. Er ist jedenfalls dann am Platz, wenn von der Konturierung einer „menschenähnlichen Gestalt“35 auf der Bühne die Rede ist. Anders als die Backstage, die eine Zweiteilung des Bühnenraums voraussetzt, auch wenn sie diese in Frage stellt, gewinnen Grund und Hintergrund ihre Bedeutung daran, dass sie sich vornehmlich auf das Gesichtsfeld des Zuschauers beziehen. Zwar transportieren auch sie Vorstellungen des Ungestalten und Unbestimmten, doch verbinden sie sich mit einem krisen- und täuschungsanfälligen Wahrnehmungsprozess, der verfolgt, wie eine Figur sich abscheidet und aus dem Unbestimmten hervortritt. In Shakespeares Dramen werden Auftritte vor allem in den Beobachtungen gespiegelt, die sie bei einem Betrachter auslösen. Spätestens seit dem Nebel von Helsingör in Hamlet berücksichtigen seine Auftrittsprotokolle das zunächst diffuse Gesichtsfeld, in dem sich eine Wahrnehmung abzeichnet. Grundlegend für das Erscheinen der Figur in seinen Tragödien ist der Blick, der den Übergang von „nothing“ zum „something“36 verfolgt und die allmähliche Verfertigung einer Figur registriert. Seit Shakespeare wird diese Aufgabe des shaping eines Ankommenden dem auf der Bühne befindlichen Zuschauer übertragen. Nur mit dessen Augen sehen wir eine Figur herankommen und nur in seiner fehlbaren Interpretation

trale Gestalt stets auf das Ungestalte bezogen, von dem sie sich durch Auftritt zu trennen versucht. Jedes theatrale Ereignis schleppe seine Backstage ein und stelle damit die Abscheidung in Frage, die die Szene als einen Ort der Figuration konstituiere: „Wenn ich damit begonnen habe, zu fragen, wie wir das On/Off, die typographische Anordnung des Titels, lesen wollen, dann hat sich nun abgezeichnet, dass der Schrägstrich nicht nur die Marke der Scheidung und Abscheidung oder auch der Beziehung zwischen Gegebenem ist. Die Ausschließung, die den Raum des theatralen Geschehens einrichtet, in dem die dramatische Handlung entfaltet wird, etabliert keine binäre Unterscheidung, vielmehr ist das On an das Off – unlösbar – gebunden. Das theatrale ‚Vor-Ort‘-Sein ist negativ bestimmt durchs Off, das nicht nur abgeschnitten, sondern durch die Figuration der Abscheidung schon vergessen gemacht werden soll.“ Vgl. auch Stefanie Diekmann: Backstage. Konstellationen von Theater und Kino, Berlin 2013, S. 17. Backstage wird hier bestimmt als ein „exklusiver, konstitutiv abgeschirmter Ort“ (S. 21). 34 Gottfried Boehm: Der Grund, oder das ikonische Kontinuum, in: Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, hg. v. dems. u. Matteo Burioni, München 2012, S. 29-95, hier S. 75. 35 Menke: Off/On, S. 186. In diesem Fall spricht auch Bettine Menke von „Hintergrund“. 36 William Shakespeare: Hamlet, in: The Arden Edition of the Works of William Shakespeare, hg. v. Harold Jenkins, London 1982, S. 166 (I/1), V. 25, S. 169 (I/1), V. 57. Zu Hamlet vgl. Vogel: „Who’s there?“, S. 33; Stefan Laqué: Hermetik und Dekonstruktion. Erfahrung von Transzendenz in Shakespeares Hamlet, Heidelberg 2002, S. 149ff.

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gewinnt sie ihre Form: „My hopes do shape him for the governor“37, heißt es, als sich Othello vor dem stürmischen Grund des Meeres abhebt und auf dem Strand von Zypern landet, der zugleich ein „Strand der sichtbaren Erscheinung“38 ist. Beschreibungen von Auftritten können demnach nur dann angemessen sein, wenn sie auch den Grund einbeziehen, von dem aus die Auftritte ihren Ausgang nehmen. An der Setzung von Hintergründen ist die Tragödie aktiv beteiligt. Tragische Auftrittsprotokolle schneiden den Grund nicht ab, sie lassen ihn stets mitspielen, wenn sie eine Figur über die Schwelle und nach vorne schicken. Auch in der Tragödie ist ein Merkmal des Grundes dessen unbegrenzte Wandelbarkeit. Gottfried Boehm sieht die Extremität des Grundes in der Kunst darin gegeben, dass er „ein reiches Spektrum von Färbungen“ durchläuft, das „von deskriptiver Anschaulichkeit bis zu äußerster Abstraktion reicht, von einem Phänomen der Welt zu einer inneren Qualität des Menschen“39. Es ist ein zentrales Anliegen dieser Studie, den spezifischen Färbungen tragischer Gründe und in ihnen sichtbar werdenden Auftrittskrisen nachzugehen. Es gilt, die unterschiedlichen räumlichen, architektonischen, atmosphärischen, psychischen und sozialen Realisierungen des Grundes zu erkunden, aus denen die Figur hervortritt, ohne diesen ganz zurückzulassen. In den Anfängen der Tragödie ist es zunächst der Chor, der den Auftritt des Schauspielers grundiert und der tragischen Person Auftrittsraum gewährt.40 Moderne Varianten sind die unbestimmte Form der Masse, der Menge oder des Gefolges. Der Grund kann auch ein unübersichtlicher Palast sein, in dessen Hinterzimmern eine monströse despotische Macht wütet, er kann in der erhabenen Form einer Landschaft, eines Meeres oder des Himmels 37 William Shakespeare: Othello, in: The Arden Edition of the Works of William Shakespeare, hg. v. Maurice R. Ridley, London 1979, S. 50 (II/1), V. 55. 38 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1993, S. 32. 39 Boehm: Der Grund, S. 29f. 40 Hans-Thies Lehmann geht noch von einer starken, individuationsbezogenen Absonderung aus: „Die materielle Realität jener ‚formgeborenen Einsamkeit‘ im Diskurs des Theaters ist aber die Isolation der physisch gegenwärtigen Stimme des Protagonisten […] in der Leere dieses Raums, der auch den Körper, sichtbar konturiert, von der umgebenden Welt unwiderruflich scheidet.“ (Lehmann: Theater und Mythos, S. 58.) Vgl. zur Gegend auch Jörn Etzold: Gegend ohne Könige. Zur Bühne in Hölderlins Empedokles, in: Bühne: Realität, Geschichte und Aktualität raumbildender Prozesse, hg. v. Norbert Otto Eke, Irina Kaldrack u. Ulrike Haß, Paderborn 2014, S. 305-328. Bereits Ulrike Haß hat die Relation zwischen chorischem Kollektiv und Individuum als ein Figur-und-Grund-Verhältnis beschrieben. Vgl. Ulrike Haß: Woher kommt der Chor?, in: Maske und Kothurn 58 (2012), S. 13-30, hier S. 13ff. Diese Rückbezogenheit auf ein Unbestimmtes ist in der Theaterwissenschaft in Bezug auf den tragischen Chor geführt worden. Bereits die Etymologie des Wortes ‚Chor‘ weist uns auf einen Grund bzw. eine arché hin, der in der Tragödie buchstäblich mit im Spiel bleibt. Sie verwendet den sehr schönen Begriff der „Gründungsenergie“: „Diese Gründungsenergie vermag sich jedoch nur als eingeräumte zu artikulieren […].“ (S. 15).

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gegeben sein und den Auftritt in die Grenzenlosigkeit der Elemente verlegen. Er kann sich in einer Wetterlage realisieren und aus Dunst oder Nebel bestehen, die den ohnehin schwachen Umriss des Menschen noch einmal gefährden. Er kann aber auch im Unwissen des tragischen Subjekts über sich selbst zu Tage treten und alles das umfassen, was dessen Kenntnis entzogen ist, nichtsdestoweniger aber bestimmend auf sein Schicksal einwirkt. Zuletzt kann es ein affektiver Grund sein, das unkontrollierbare Kräftefeld der Affekte, das dieses Subjekt aus dem Grund herausreißt, aber auch eine Vergangenheit oder ein turbulentes Nichts, in dem, was entsteht, auch wieder zu Grunde geht. In allen seinen Ausprägungen ist der Grund auch in der Tragödie das, was die Grenzen des Individuums übersteigt und seine Form bei ihrem Aufsteigen wieder ins Unbestimmte verschiebt – ein raumfüllender Nebel, der die „Unbestimmtheitsgrade forciert“41 und zersetzt, was er grundiert. Damit ist der Grund, von dem hier die Rede ist, mehr als nur eine unscharfe Metapher tragischer Verhängnisse. An dieser Stelle wird er in seiner theatralen und textuellen Phänomenalität ernst genommen. Wenn wir in der Tragödie, wie es bei Max Scheler heißt, stets „über das Vorkommnis selbst, das uns tragisch erscheint, dunkel hinaus[sehen]“42, dann ist dieses Dahinter konkret in den Blick zu nehmen. Wenn der Auftritt selbst ein solches Vorkommnis43 im Wortsinn ist, dann können wir auch durch ihn hindurch die Macht des Kontinuums wahrnehmen, das hinter und zwischen den Figuren weiterwirkt. Auf der Bühne erfährt das, was in der Philosophie der Tragödie der ‚tragische Grund‘ genannt wird, seine räumliche oder textuelle Konkretisierung. Eine Landschaft, ein Nebelfeld oder ein Palast lenken die ‚Figurationsarbeit‘44 der Tragödie in jeweils ganz unterschiedliche Richtungen, sie modifizieren den Umriss, den Deutlichkeitsgrad und den Grad der Ablösung, sie begünstigen unterschiedliche Anmarschformen und nehmen die Figur in je unterschiedlicher Weise in sich zurück. Von anderen Gattungsmilieus unterscheidet sich das Milieu der Tragödie dadurch, dass es, welche Färbung es auch annehmen mag, als dunkel und uneinsehbar gilt. Die Ko41 Boehm: Der Grund, S. 42. 42 Max Scheler: Über das Tragische, in: Die Weißen Blätter 8 (1914), S. 758-776, hier S. 761. Vgl. auch Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, S. 63. 43 Vgl. Menke: Off/On, S. 182; Martin Seel: Ereignis. Eine kleine Phänomenologie, in: Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, hg. v. Nikolaus Müller-Schöll, Bielefeld 2003, S. 37-48, hier S. 38ff. Martin Seel spricht vom „Auftreten“ und vom „Vorkommnis“ von Ereignissen. Seine Formulierungen verweisen auf einen theatralen Kern des Ereignisbegriffs, indem sie den Schritt in die Sichtbarkeit in die Begriffsbestimmung des Ereignisses einbeziehen und mit Blick auf diese Bewegung auch die Theatralität des Ereignisses einfangen. 44 Vgl. Erving Goffman: On Face Work, in: ders.: Interaction Ritual. Essays on Face-to-Face Behaviour, London 1967, S. 5-47; ders.: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 9. Aufl., München 2011.

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mödie entwirft demgegenüber andere, welthaltigere Hintergründe, die hier als Hintergrundwelten bezeichnet werden sollen, da sie die Welt in ihre Schranken einlassen, in die sich ihre Figuren einfügen, ohne dabei im doppelten Wortsinn zu Grunde zu gehen. Je höher der Anteil von Welt im Hintergrund, desto geringer der Anteil des Tragischen.45 Die folgenden Analysen widmen sich den dramatischen und tragischen Texten, die den Grund aktiv in ihre Dramaturgie einbeziehen. Sie beginnen bei Racines profondeur und enden bei Nietzsches Geburt der Tragödie. Unter wechselnden kulturellen Vorzeichen behandeln sie die Relation von Grund und Auftritt und fragen, welche Auftrittskrisen vor welchen Gründen zu beobachten sind. Historischer Angelpunkt ist jedoch nicht die antike Tragödie, so sehr deren Auftrittsprotokolle auch ihr Nachleben bestimmen mögen. Es ist die Tragödie der Klassik in ihrer doppelten zeitlichen Bedeutung: die Tragödie der französischen Klassik, die den Regeln der doctrine classique unterliegt, wie auch die Tragödie der Sattelzeit um 1800, die das Tragische in ganz unterschiedlicher Weise organisiert. Die Demontage höfischer und militärischer Prunkauftritte in der Tragödie im Zeitraum zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert und ihre Transformation stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Andererseits ist es die Tragödie selbst, die während dieser Zeit an Boden verliert. Ihre Auftrittsformen spiegeln nicht nur den Legitimationsverlust höfischer Protokolle im tragischen Universum, sondern zusehends auch den Legitimationsverlust einer aristokratischen Leitgattung, die von der bürgerlichen Gesellschaft nur mit Einschränkungen übernommen und weitergeführt werden kann. Zusammenfassung Die Studien dieses Buches werden in drei Teile gebündelt: In einem ersten Teil behandeln sie das Verhältnis der Tragödie zum höfischen Auftrittsprotokoll und Auftrittsraum. Ausgangspunkt ist die starke höfische Auftrittskultur unter Ludwig XIV., in der Glanzauftritte Existenznachweise sind. Diese dient als Folie für ihre Relativierung durch die Tragödie. Im Mittelpunkt des ersten Teils steht die Grundspannung zwischen Prunkauftritt und tragischer profondeur. Unter der Überschrift „Tragödie im höfischen Erscheinungsraum“ werden die tragische Dekonstruktion souveräner Auftrittsformen nachvollzogen und die Folgen verdeutlicht, die das Verlöschen fürstlichen splendors auf der höfischen Bühne nach sich zieht. Anhand der Tragödien Racines untersucht dieser Teil die Ver45 Ähnlich die Hintergrundkonzeption Shakespeares, vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 11. Aufl., Tübingen 2015, S. 312. Vgl. auch das Kapitel II,2 Umgeben. Auftritt und Einbettung.

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dunkelung der Bühne unter dem Eindruck entzogener Präsenz. Racines tragische Spiele finden vor arkanen Hintergründen statt, von denen eine gestaltlose, tödliche und kaum mehr personalisierbare Drohung ausgeht, die höfische Auftrittsformen zersetzt. Am Beispiel der Winkelbühne – scena per angolo – ist anschließend ein Bühnenmodell vorzustellen, das den illuminierten höfischen Perspektivraum in eine labyrinthische Rätselarchitektur transformiert und so die Rückwirkungen tragischer Tiefe auf die repräsentative Öffentlichkeit anschaulich macht. Materialgrundlage sind die Bühnenentwürfe, die die Bühneningenieure Galli Bibiena seit dem späten 17. und durch das 18. Jahrhundert hindurch für die Opernbühnen der europäischen Höfe entwarfen. Durch die Schrägstellung der zentralen Sichtachse wird die Bühne zu einem Überwachungsraum, in dem sich verunsicherte Akteure vor einem verborgenen, doch allmächtigen Auge bewegen. Das Kapitel zu Schillers Don Karlos widmet sich dem Zerbrechen der liaison des scènes, der Szenenkette, die den Bedeutungsraum der klassizistischen Tragödie lückenlos zusammenschließt. Philipp II., der zusehends die Kontrolle über das Auftrittszeremoniell verliert, kann seine Macht nur erhalten, indem er sich von der höfischen Szene zurückzieht und in den Hintergrund sowie auf die Seite der obskuren, im Dunkeln agierenden Behörde der Inquisition wechselt. Der Mittelteil „Schwankende Gestalten“ widmet sich deshalb den anti-tragischen Auftrittsprotokollen Goethes, der im Zeichen des Lebens alternative Erscheinungsformen entwickelt, die in der Tragödie gegen die Tragödie eingesetzt werden. Goethes Theater ist nicht Handlungstheater, sondern emphatisches Auftrittstheater, in dem sich der Auftritt in dynamischen Figur-und-Grund-Beziehungen realisiert. Während die Tragödie die Rückkehr der Figur in den Grund forciert, wird der Auftritt nun umgekehrt zum transitorischen Moment eines generativen, schöpferischen und unerschöpflichen Prozesses der Hervorbringung. Im Vorschreiten der Person realisiert sich das Auftrittsprotokoll des Lebens, das unentwegt neue und andere Gestalten hervorbringt und damit an den Formprozessen Teil hat, denen Goethes Texte generell verpflichtet sind. Das zeigt sich nicht nur in einer Lektüre des Pandora-Festspiels, sondern auch in einer Analyse des Helena-Aktes des zweiten Teils der Faust-Tragödie. Goethes Auftritte sind Auftritte mit Umgebung – sie erfolgen nicht aus etwas heraus, sondern in etwas hinein und bleiben stets von dem Medium umfangen, in dem sie sich realisieren. Konkrete bauliche Auftrittsräume transformieren sich immer deutlicher in Auftrittsmedien, wie am Beispiel des Helena-Aktes zu sehen ist. Den Schlüsselbegriffen der Umgebung, der Atmosphäre und der Landschaft, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, sind eigene Studien gewidmet. Seinen Abschluss findet dieser Teil in einer Analyse des Mummenschanz des Faust II, die sich noch einmal abschließend, nun aber im Rahmen der Formkonzepte Goethes mit der Transformation höfischer Auftrittsprotokolle auseinandersetzt. Hier zeigt sich die Auflösung und Mediatisierung der höfischen, auf dem Auftritt des hö-

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fischen Körpers beruhenden Gattung des Maskenzugs und die Transformation einer auf strengen allegorischen Unterscheidungen beruhenden Festgattung in ein gespenstisches Massentheater, in dem der Auftritt seine Distinktionsfunktion wie seine physische Grundlage einbüßt. Der dritte Teil des Buches verlegt sich unter dem Titel „Triumph und reißende Bewegung“ auf das militärische Auftrittsprotokoll des Triumphes und zeigt an den Kriegstragödien Kleists, dem Robert Guiscard wie der Penthesilea, das Scheitern triumphaler Auftritte auf. Leitende These dieses Abschnitts ist die Unabschließbarkeit des Krieges – das ‚Kontinuierende‘ des Kriegsgrundes, das früher oder später zum Abbruch, zur Verzögerung oder zur völligen Schwächung spektakulärer Auftrittsformen führt. Im Kriegsgrund begegnet ein Kräftefeld, in dem die Kräfte des Lebens, die sich in Goethes Auftrittstheater in regulierter Form artikulierten, nun in zerstörerischer Form in Erscheinung treten. Auftritte im Kräftefeld des Krieges erliegen ikonoklastischer Gewalt. So steht am Ende der Versuch, die anti-triumphalistische Tendenz der Tragödie im konkreten Kriegsszenarium aufzuzeigen und die zerstörerischen Aktivitäten eines Grundes sichtbar zu machen, der den Prozess der Figuration bereits im Ansatz gefährdet. Abschließend geht es um ein Auftrittsprotokoll der entfesselten Kräfte – um die Ermächtigung einer ikonoklastischen Energie, die den Grund selbst nach vorne kommen lässt und die Figur, die sie mit sich bringt, zugleich zerreißt. Das letzte Kapitel will deutlich machen, dass Kleists Dramen eine Vorgeschichte von Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik erzählen. Nietzsches Tragödienschrift stellt die Frage, wie die energeia, die zunächst der Verlebendigung der Gestalt dient, zu einer reißenden Kraft wird, die sich unter dem Namen des Dionysos der Bühne bemächtigt, wie aber umgekehrt diese ikonoklastische Auftrittsenergie wieder dem Leben zugewendet wird und neue Auftritte zeitigt. Ein Umweg über Rousseau und Joseph Anselm Feuerbach wird dafür notwendig sein.

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Vorbemerkung: Entrée. Vorgaben des höfischen Auftrittsprotokolls

Levers/Entrées Wie Norbert Elias in seiner Schrift Die höfische Gesellschaft darlegt, stellt die Zeremonialform des Entrées das maßgebliche Gliederungsschema der höfischen Repräsentationskultur dar. Am viel zitierten Beispiel des grand lever Ludwigs XIV. konnte er eindrucksvoll zeigen, dass der Tag des Souveräns mit einer Abfolge von Entrées begonnen wurde, in der sich die höfische Gesellschaft ihrer hierarchischen Abstufung nach vor den Augen des Königs präsentierte.1 Bereits das Wort ‚Lever‘ selbst verweist dabei auf eine Auftrittsbewegung: Es umschreibt sowohl das sinnliche Aufsteigen des Monarchen wie auch die Auftritte seiner Subjekte und Trabanten, die durch diesen Sonnenaufgang möglich werden. Die Mitglieder der höfischen Gesellschaft, der König eingerechnet, existieren nur insofern, als sie aufgetreten sind.2 Erst wenn sie die Schwelle zur Sichtbarkeit überschritten haben, sind sie in der Welt. Das Auftrittsprotokoll beherrscht den höfischen Tag, es entscheidet darüber, wer wann und wo vorgelassen wird und welche Ankündigungen dabei gefordert sind. Das Entrée integriert die Person in den Rahmen 1

2

Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a.M. 2002, S. 135ff. Zur Funktion von Sichtbarkeit und Augenfälligkeit am Hof vgl. die Arbeiten von Barbara Stollberg-Rilinger: Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum, in: Forschungen zur brandenburgischen und preussischen Geschichte. Neue Folge, hg. v. Johannes Kunisch, 7. Bd., Berlin 1997, S. 145-176; dies.: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des alten Reiches, 2. Aufl., München 2013. Zu Voraussetzungen und Formen höfischer Vergesellschaftungsform vgl. Rainer A. Müller: Der Fürstenhof in der frühen Neuzeit, München 1995, S. 41: zum Vorbildcharakter des französischen Hofes; Markus Hengerer: Hofzeremoniell, Organisation und Grundmuster sozialer Differenzierung am Wiener Hof im 17. Jahrhundert, in: Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit (15.-18. Jh.), hg. v. Klaus Malettke und Chantal Grell, Münster u. a. 2001, S. 337-368; Rudolf Schlögl: Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum. Interaktionstheoretische Perspektiven auf die Forschung, in: Geschichtswissenschaft und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien, hg. v. Frank Becker, Frankfurt a.M. 2004, S. 185-226. Vgl. Annette Kappeler: L’Œil du Prince. Auftrittsformen in der Oper des Ancien Régime, Paderborn 2016, S. 32. Am Hof gilt es, zur richtigen Zeit und am richtigen Ort aufzutreten: „Ein Garten von Versailles ist – wie das Parkett des Schlosses – eine Bühne, in der man nicht unbestimmt geht oder herumsteht, sondern auf- und abtritt.“ Vgl. auch Doris Kolesch: Das Theater der Emotionen. Ästhetik und Politik im Zeitalter Ludwigs XIV., Frankfurt a.M./New York 2006, S. 113.

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des höfischen Zeichenkosmos und sichert die Macht der höfisch sanktionierten Rolle über den Selbstdarstellungsdrang des Einzelnen. Louis Marin gliedert seine berühmte Studie zur Repräsentationspolitik des Ancien Régime, Le Portrait du Roi, in „Entrées“3. Er wählt damit die erste, elementare und alles beherrschende Repräsentationseinheit des Hofes zum Leitbegriff seiner Analyse. Entrées gliedern jedoch auch die Darbietungen auf der höfischen Bühne.4 Die höfischen Festgattungen, die auf ihr zuhause sind, werden gleichfalls in Entrées unterteilt und als Zeremonialformen kenntlich gemacht. Wie der höfische Tag und das höfische Fest gestalten sich auch die Ballette, Opern und Komödien, die diesen Festen zugeordnet sind, als Abfolgen von festlichen Einzügen der Person oder der Gruppe. Sarah Cohen spricht treffend von einem „stream of entrées“5, der die höfischen Festformen kennzeichnet. Auch auf dem Theater wird der spektakuläre Eintritt der Person in den Lichtkreis des Hofes zum formstiftenden Prinzip. Sei es im königlichen Schlafzimmer, in der Tragédie en musique oder im Ballet de cour: Entrées betonen das dynamisch-energetische Moment der Ankunft, sie entbieten die Informationen, die zur Erkennung einer Person notwendig sind, und garantieren zugleich ihre Anerkennung. In Bild und Bewegung verleihen sie dem Auftretenden Nachdruck und verorten ihn in der höfischen Hierarchie. Zugleich setzen sie eine rigorose Kontrolle durch das höfische Schleusensystem voraus, das weder Überraschungen noch Unbekannte in Hofnähe duldet und strikte Zulassungsbegrenzungen für die Szene ausgibt. Der höfische Tag, der Kosmos von Versailles, die politische Realität des Ancien Régime einerseits, das Ballet de cour, die Hofoper der Tragédie en musique, die Fest- und Maskenzüge andererseits folgen ein und demselben, der Darstellung von Rangordnung verpflichteten Auftrittsprotokoll. Den mit der Einlassregelung verbundenen Auflagen ist, wenngleich mit Einschränkungen, auch die gesprochene Tragödie verpflichtet. Den höfischen Regeln ist sie darin unterworfen, dass sie den Auftretenden zuallererst Kenntlichkeit abverlangt. Im höfischen Universum sind keine Unbekannten zugelassen.6 Vielmehr ist durch den Auftritt sicherzustellen, dass die Identität der sich der Bühne annähernden Person eindeutig erkennbar ist. Von der griechischen Tragödie unterscheidet sich die französische dadurch, dass sie weder maskierte Auftritte noch eine Anagnorisis gestattet. Das unbestimmte Wesen des Fremdlings transformiert sich spätestens im Moment seiner Ankunft in na3 4 5 6

Dementsprechend „Entrances“ in der englischen Übersetzung, vgl. Louis Marin: The Portrait of the King, übers. v. Martha M. Houle, Basingstoke 1988, S. v. Zur Nähe theatraler und zeremonieller Darstellungsformen vgl. Kappeler: L’Œil du Prince, S. 38. Sarah R. Cohen: Art, Dance and the Body in French Culture of the Ancien Régime, Cambridge 2000, S. 18. Vgl. Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 199ff.

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mentliche Identität. In der 1657 erschienenen Schrift Pratique du théâtre des Abbé d’Aubignac, in der wesentliche Regeln der doctrine classique formuliert werden und die Hofnähe der Tragödie stets betont wird, findet sich folgende Auftrittsanweisung: La seconde [observation nécessaire dans la pratique; J.V.] est, Que le Poëte ne doit mettre aucun Acteur sur son Theatre qui ne soit aussi-tôt connu des Spectateurs, non seulement en son nom & en la qualité; mais encore au sentiment qu’il apporte sur la Scène: autrement le Spectateur est en peine, & tous les beaux discours qui se font lors au Theatre, sont perdus; parce que ceux qui les écoutent, ne sçavent à qui les appliquer. Et de là souvent est-il arrivé que vingt & trente vers excellens ont passé pour inutiles & froids, & parce que le Spectateur ne connoissoit point celui qui les proferoit, ni quel motif il avoit de parler ainsi. […] Or on ne verra point que les Anciens manquent jamais à cette regle, à quoi les Chœurs, qui ne sortoient point du Theatre, leur étoient fort utiles pour les Personnages qui leur pouvoient être connus; car si-tôt qu’il en parroissoit un nouveau sur le Theatre, le Chœur le nommoit avec quelques paroles d’un sentiment de crainte, d’étonnement, ou de joie […].7

Im Kontext einer höfischen Aufführungspraxis schreibt d’Aubignac auch dem Chor der griechischen Tragödie eine zeremonielle Funktion zu. Diesem wird rückwirkend das wichtige Amt der Ankündigung übertragen, das die zweifelsfreie Identität des Ankömmlings bei seinem Auftritt feststellt. In dieser Anordnung stimmen die Regeln der Tragödie mit den Vorschriften des Hofes überein. Hier wie dort ist es das Ziel aller zeremoniellen Anstrengung, Kenntlichkeit und Unterscheidbarkeit der Einzelperson von allen anderen zu garantieren und zugleich in die affektive Lage einzustimmen, die mit ihrem Auftritt verbunden ist. Auch in Julius von Rohrs Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der Großen Herren wird für den höfischen Auftritt Folgendes festgelegt: „Die Zuschauer müssen es denen Personen aus einigen wenigen Schritten oder Geberden gleich ansehen können, ohne daß sie ein Wort reden, was sie vor eine Person vorstellen […].“8 7

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Abbé d’Aubignac: La Pratique du Théâtre, Bd. 1, Amsterdam 1715, S. 251: „Das zweite ist, dass der Dichter nicht irgendeinen Akteur auf die Bühne schicken darf, der dem Zuschauer nicht ganz und gar bekannt ist, nicht nur seinem Namen und seiner Eigenschaften nach, sondern auch den Leidenschaften nach, die ihn auf die Szene bringen. Sonst ist der Zuschauer ratlos und alle schönen Reden, die auf dem Theater vernommen werden, sind verloren, denn diejenigen, die sie hören, wissen nicht, auf wen sie sie zurückführen sollen. So ist es oft passiert, dass zwanzig oder dreißig ausgezeichnete Verse unnütz vorübergegangen sind, weil die Zuschauer nicht genau wussten, wer es war, der sie vorbrachte, und welches Motiv ihn so sprechen machte. […] Man wird sehen, dass die Alten niemals gegen diese Regel verstießen, denen die Chöre, die die Bühne niemals verließen, sehr nützlich waren, für die Personen, die ihnen bekannt sein konnten. Denn sobald jemand erneut auf die Bühne kam, konnte der Chor sie mit Ausdrücken der Furcht oder des Erstaunens nennen […].“ Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der Großen Herren, Berlin 1733, S. 802.

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Der König als erster Schauspieler Diese Klarheit kann jedoch nur erreicht werden, wenn der Raum bereits erhellt ist, in dem der Auftritt stattfindet. Nur im Licht lässt sich an Schritten und Gebärden ablesen, wer auf der Bühne erscheint. Dieses Licht zu spenden ist die Aufgabe des Fürsten, den das Zeremoniell als zentrale lichtbringende und raumschaffende Instanz einsetzt. Dem Entrée der Trabanten muss das Entrée des Herrschers vorangegangen sein. Mit seinem Erscheinen erstrahlt der Raum, in dem jene sichtbar werden. Das lumen des Höflings, aber auch aller anderen Subjekte, kann nur dann leuchten, wenn ihm der fürstliche splendor vorausgeleuchtet hat. Louis Marin erklärt den König zum „archactor“9, dessen Auftritt andere Auftritte ermöglicht: „As source producing all light the king’s portrait is not only the sun in the central place of the narrative […] but also the light that spreads everywhere and that lands in bursts on all and on everyone and makes them be seen.“10 Kraft seines Lichts überführt dieser die schattenhaften Umrisse seiner Trabanten in die Deutlichkeit und transformiert die unlesbare Welt der Nacht in ein vollständig lesbares und konzentrisch um das Zentralgestirn geordnetes Zeichenuniversum.11 Diese Vereinigung von Schauspieler und Fürst, Zeremoniell und Theater ist bereits den ersten Texten abzulesen, die den Auftritt Ludwigs XIV. in der repräsentativen Öffentlichkeit des Hofes begleiten. Isaac Benserades Libretto zum Ballet Royal de la Nuit von 1653, in dem Ludwig XIV. seinen ersten großen Tanzauftritt absolviert,12 gipfelt im Entrée des „Roy representant le Soleil“13 und bringt den Herrscher im Aufführungskontext eines Ballet de cour in der Rolle der Sonne vor die Augen der höfischen Gesellschaft. (Abb. 1, TAFEL 1) Im Genre des Ballet de cour mischen sich Zeremoniell und Theater, es ist tänzerische Schaustellung und zugleich zeremonielle Selbstbeschreibung der höfischen Gesellschaft, die sich an ihm zuschauend und tanzend beteiligt.14 In den Auftrittsversen des Königs wird die Anordnung eines lichtbringenden Herrscherauftritts exemplarisch entfaltet. Alle rhetorischen Merkmale, die der Sicherung von Auftrittsmacht dienen, finden sich hier aufgeführt. Das aus einzelnen Episoden zusammengesetzte Ballett vollzieht

9 10 11 12

Marin: Portrait of the King, S. 66. Ebd., S. 67 (Hervorhebung i. Orig.). Vgl. Kappeler: L’Œil du Prince, S. 42ff. Vgl. Peter Burke: Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Frankfurt a.M. 1995, S. 68ff.; Albrecht Koschorke u.a.: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M. 2007, S. 197ff.; Robert M. Isherwood: Music in the Service of the King. France in the Seventeenth Century, Ithaca 1973, S. 134ff. 13 Isaac de Benserade: Ballet Royal de la Nuit. Divisé en quatre Parties, ou quatre Veilles. Et dansé par sa Majesté le 23 février 1653, Paris 1653, S. 66. 14 Vgl. Cohen: Art, Dance and the Body, S. 18.

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Abb. 1 (Tafel 1): Henri Gissey, Ludwig XIV. als aufgehende Sonne in Benserade: Ballet Royal de la Nuit (1653).

einen Übergang aus den „foibles clartéz“15 der Nacht über die Dämmerung hin zum spektakulären Sonnenaufgang am Morgen. Die königliche Sonne macht die Nacht zum Tag und bewirkt eine Trennung von Licht und Finsternis. Ihr erster Schritt auf die Bühne lässt die unbestimmte Sphäre des Halblichts in die Bereiche von Licht und Finsternis auseinander- und scharf gegenübertreten, er ist als ein weltenschaffender Trennungsakt angelegt: Die Verse, die ihn begleiten, stiften eine Analogie zwischen entrée royale und Schöpfungsakt. Gemäß ihrem „caractère particulier d’éclatante Majesté, qui en marquoit la différence“16, führt die entrée royale einen alles entscheidenden Unterschied in die von Dämmerung beherrschte Vorwelt ein. Die dem König aufgegebenen Verse verkünden unmissverständlich, dass der mit seinem Erscheinen angebrochene ‚größte Tag‘17 neue und klar zentrierte Raum- und 15 Benserade: Ballet Royal de la Nuit, S. 65. 16 Anonym: De Paris, le 1 Mars 1653, in: Gazette 28 (1653), S. 222-224, hier S. 223. Vgl. auch Kappeler: L’Œil du Prince, S. 43ff. 17 Vgl. das récit der Aurore in Benserade: Ballet Royal de la Nuit, S. 65: „Depuis que i’ouvre l’Orient/ Iamais si pompeuse & si fiere/ Et iamais d’un air si riant/ Ie n’ay brillé dans ma carriere/ Ny precedé tant de lumiere.“

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Zeitstrukturen schafft. Auftretend definiert, begrenzt und beherrscht der solare Souverän den Lichtraum der Repräsentation und ordnet die Stunden, die den höfischen Tag strukturieren: „C’est à moy de regler mon temps & mes saisons[.]“18 Die Entrée versteht sich damit als ein commencement – als eine anfangssetzende Bewegungsform: „Sur la cime des monts commençant d’éclairer/ Ie commence déja de me faire admirer[.]“19 Ihre performative Wirkung gewinnt sie dadurch, dass sie den Raum, in den sie eintritt, erst hervorbringt. Die entrée royale ist raumschaffend, lebenspendend und formstiftend, sodass auch alle anderen Spieler erst durch sie ihr Dasein empfangen.20 Klar wird auch bei Benserade gesagt, dass diese erst im Widerschein des herrschaftlichen Lichts Form und Farbe erhalten: „Ie vien rendre aux objets la forme, & la couleur,/ Et qui ne voudroit pas avoüer ma lumiere/ Sentira ma chaleur.“21 Die im königlichen Auftritt angelegte Machtbehauptung kann hier in einem Moment uneingeschränkten Gelingens wahrgenommen werden. Entsprechend gewichtig ist die Form der Schritte, die ihr zugeordnet werden: Im Diskurs über den höfischen Tanz besitzt der feierliche Schritt des Königs Setzungs- und Prägekraft. Auftritte des solaren Monarchen erfolgen als entrée grave – im Andante – und im Gegensatz zu schnelleren Bewegungsformen.22 Seine Präsenz entfaltet sich nicht in der bloßen Sichtbarkeit, sondern im gravitätischen und kraftvollen Schreiten, das einen Raum ausmisst und in Besitz nimmt: Königliche Auftrittsmacht konstituiert sich über den Schritt, wie noch am großen Staatsporträt Hyacinthe Rigauds von 1701 zu erkennen ist, der Ludwig XIV. nicht nur in großer Krönungsrobe, sondern mit ausgestellten Füßen, nach der Fasson eines Tanzmeisterschritts vorstellt, mit dem er sich bereits seit seiner Jugend, wie im Ballet Royal de la Nuit, in Szene

18 Ebd., S. 67. „Es ist an mir, meine Zeit und meine Jahreszeiten zu regeln.“ 19 Ebd., S. 66. „Indem ich mich strahlend über den Berggipfel anzunähern beginne, beginne ich bereits damit, mich bewundern zu lassen.“ 20 Vgl. Marin: Portrait of the King, S. 68: „[H]e envelops them in the unity of his field, in the brilliance of his light. […] [H]e is that stage itself, the luminous space of their [the others of the history; J.V.] representation.“ 21 Benserade: Ballet Royal de la Nuit, S. 66. „Ich komme, um den Gegenständen Form und Farbe zu verleihen/ Und wer mein Licht nicht anerkennen will/ Wird meine Wärme spüren.“ 22 Vgl. Fiona Garlick: Dances to Evoke the King. The Majestic Genre Chez Louis XIV, in: Dance Research. The Journal of the Society for Dance Research 15 (1997), S. 10-34, hier S. 23. Dem Entrée des Monarchen eignet besondere Gravität, sein schwerer und musikalisch getakteter Schritt gibt das Metrum des höfischen Raumes wie der höfischen Zeit vor. Sein Takt kann an den Schreitfiguren und Schreittempi der Ouvertüren abgelesen werden, die den Schritt des auftretenden Fürsten regeln. Robert North (1651-1734) konstatiert hier einen Gegensatz von gravitätischer und „jerky“ Gangart: „What is more relevant than a solemn dancer’s entry, with his lofty cutts and no trifling steps, which soon follow fast enough?“ Zit. nach Garlick: Dances to Evoke the King, S. 16. Zur entrée grave vgl. ebd., S. 14.

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setzt.23 Das „Regardez-le marcher“24 gehört unabdingbar zur Herstellung fürstlicher Evidenz im höfischen Raum. Triumph Die triumphalen Züge dieses Auftrittsprotokolls sind unverkennbar. Im Eroberungsgestus der entrée royale setzen sich die Triumphaltraditionen fort, die den Herrschereinzug seit der Antike prägen.25 Die höfischen Repräsentationsformen und insbesondere die Form des Herrscherentrées, die sich an den Höfen der Frühen Neuzeit entwickelte, leiten sich aus den römischen Triumphalformen her, die durch die Humanisten im 15. Jahrhundert wiederentdeckt wurden und aus den lateinischen Quellen in das Zeichenrepertoire der europäischen Fürstenrepräsentation eingingen.26 Die römischen Triumphalzeichen wurden zu Ressourcen einer Herrscherrepräsentation, die die Majestät höfischer Festlichkeiten inszenierte.27 Die europäischen Fürsten sahen sich dabei weniger in der Nachfolge römischer Feldherren, die nach siegreicher Schlacht triumphal in Rom einzogen, als in der Nachfolge des römischen Kaisers Augustus (63 v.Chr.-14 n.Chr.), der den Triumph zum festen Bestandteil imperialer Repräsentation machte, während das Ereignis des militärischen Einzelsiegs an Bedeutung verlor. Auch der Einzug des „Roy representant le Soleil“ im Ballet Royal de la Nuit folgt dem Vorbild des festlichen ingressus (Einzug) römischer Triumphatoren, der als ein symbolischer Überwältigungsakt angelegt war und alle rhetorischen und theatralen Möglichkeiten ausschöpfte, um durch den Einzug uneingeschränkte Raummacht zu demonstrieren. Auftreten bedeutet demnach, im Gepränge eines Siegers zu erscheinen, der alle seine Feinde überwunden hat.28 Der Triumphalauftritt, zumal in seiner solaren Form, ist ungehemmtes Eindringen in unterworfenes Terrain und zügiges avancement, dem sich keine Widerstände entgegenstellen. Mit dem Einzug verbindet sich der Anspruch auf triumphale Raumnahme, die Zubilligung unbeschränkten 23 Vgl. Rainer Schoch: Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1975, S. 20. 24 Pierre Corneille: L’illusion comique, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, hg. v. Georges Couton, Paris 1980, S. 612-688, hier S. 619 (V. 80). 25 Vgl. George Kernodle: From Art to Theater. Form and Convention in the Renaissance, 4.  Aufl., Chicago 1964, S. 70ff.; Kappeler: L’Œil du Prince, S. 32-37. 26 Vgl. Jörg Jochen Berns: Höfische Festkultur in Braunschweig-Wolfenbüttel, 1590-1666, Amsterdam 1982, S. 702ff. 27 Anthony Miller: Roman Triumphs and Early Modern English Culture, Basingstoke/New York 2001, S. 13: „‚Triumphalism‘ transforms the military triumph from a celebration and a site of contestation into a mystifying instrument of absolutism.“ 28 Vgl. Benserade: Ballet Royal de la Nuit, S. 66: „En montant sur mon Char i’ay pris soin d’écarter/ Beaucoup de Phaëtons qui vouloient y monter[.]“ Das Ballett feiert den Sieg über die Fronde, vgl. Isherwood: Music in the Service of the King, S. 136.

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Imperiums im Moment des Erscheinens und die Anerkennung uneingeschränkter Durchsetzungsmacht.29 Gleichzeitig ist, wenn es um die Privilegierung der Einzugsform in den Zeremonialordnungen der Frühen Neuzeit geht, auch der Einfluss der christlichen adventus-Tradition zu berücksichtigen, die das Ereignis der Ankunft mit heilsgeschichtlichen Erwartungen verknüpfte. Der Einzug des als Stellvertreter Gottes auf Erden eingesetzten Fürsten gab immer auch ein heilsgeschichtliches Versprechen. Er vollzog sich innerhalb eines metaphysischen Ordnungsschemas, das die antiken Triumphalformeln christlich interpretierte. Vor diesem Hintergrund gesehen war der Triumphator ein kommender Gott, dessen Ankunft sich vor einem religiösen Bedeutungshorizont ereignete, potentiell war er aber auch der dornengekrönte Christus in der Passion oder der Christus, der im genus humile zu Palmsonntag auf einem Esel in Jerusalem einzog.30 Wie Ernst Kantorowicz zeigt, transponiert das Christentum das römische Triumphalritual in die Stillage des genus humile. Um seiner weltlichen Selbstüberhebung vorzubeugen, lässt es den Herrscher in Knechtsgestalt erscheinen. Ob dieser splendor des Fürsten Leben oder Tod, Form oder Zerstörung schafft, lässt sich dabei nicht mit Sicherheit entscheiden. Das Licht des Souveräns kann Blendung oder Wärme bringen, das eine leicht in das andere umschlagen, der Erwärmte zum Geblendeten werden. Festzuhalten ist jedenfalls die Verbindung von Licht und Macht, die sich im Triumphalauftritt realisiert. Diese kristallisiert sich im Begriff des éclat,31 den der Auftritt sowohl als höchsten Glanz wie auch als potentiell tödliche Lichtaggression hervorbringt. Die Lichtstärken des Louis Quatorze beschreibt Louis Marin als das Bersten einer unvorstellbaren Helligkeit,32 die auch die Gefahr der Blendung und damit der blitzartigen Auslöschung seiner Betrachter mit sich bringt. Die lebenspendenden Gaben, die der Souverän mit seinem Eintritt bringt, können sich tödlich wenden. 29 Vgl. Miller: Roman Triumphs, S. 13. Auch im Ballet Royal de la Nuit kommt es zum Einsatz eines Triumphwagens, der den Souverän zugleich als „Maistre“ (Benserade: Ballet Royal de la Nuit, S. 20) wie als „Cocher“ (Kutscher) zu erkennen gibt (ebd., S. 13). Der von den Horen besetzte Sonnenwagen, auf dem er einzieht und der der Phaeton-Episode in Ovids Metamorphosen entlehnt ist, zeigt ihn in der Rolle des Triumphators nach römischem Vorbild. Zugleich erfährt das römische Vorbild in seiner Interpretation durch die absolutistischen Höfe eine Steigerung, die über den militärischen Triumphalismus hinausgehend zur Festform uneingeschränkter Herrschaft wird. 30 Vgl. Ernst Kantorowicz: Des „Königs Ankunft“ und die rätselhaften Bildtafeln in den Türen von Santa Sabina, in: ders.: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums, übers. v. Walter Brumm, hg. v. Eckhart Grünewald u. Ulrich Raulff, Stuttgart 1998, S. 91-147. 31 Vgl. Koschorke u.a.: Der fiktive Staat, S. 199; Marin: Portrait of the King, S. 66. 32 Vgl. Marin: Portrait of the King, S. 66f.: „From among all these characters, that of His Majesty must burst forth [éclater]. […] [T]he king’s portrait must ‚strike, with the intensity of its light, the eyes and minds‘ (Zit. Paul Pellisson, 1624-1693).“

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Amplifikation Die Merkmale dieses seit der Renaissance gültigen und im absolutistischen Frankreich zur Blüte gelangenden solaren Auftrittsprotokolls finden sich in allen Prunkauftritten wieder, welche die Autorität des Souveräns symbolisch konsolidieren. Entscheidend für ihr Gelingen ist die Amplifikation der Person, die Intensivierung ihrer Auftrittskraft und die Steigerung ihrer Raumverdrängung. Diese Vergrößerung, die das Ziel des flectere verfolgt und der Überwältigung des Zuschauers dient, wird durch die Auszierung des Auftrittskörpers durch glanzsteigernde Attribute erreicht.33 Durch den Glanz sollen die Anwesenden unter ein Joch gebeugt werden.34 Die Attribute lassen am natürlichen Körper des Königs den politischen Zeichenkörper erscheinen. Sie umfassen die metallische Einkleidung der Person, ihre Erhöhung durch Kothurne, Kränze oder Wagen, ihre Einfassung durch ein Gefolge sowie die Errichtung von Vestibülen und Portalen und damit all das, was den Umfang und Erscheinungsradius des Auftretenden in einer die natürlichen Ausmaße des Menschen übersteigenden Weise erweitert. Amplifikation erfolgt jedoch auch in zeitlicher Hinsicht. So lässt sich die Wirkung des Auftritts steigern, wenn die Zuschauer auf ihn warten müssen. Das Zögern des Souveräns intensiviert die Phase der Antizipation, sie dehnt die Anmarschzeit und verlängert die Auftrittsbahn. Amplifikation ist zuletzt auch daran zu erkennen, dass der große Auftritt einer Vor- und einer Nachhut bedarf. Zeit- und Raumvolumen des Auftritts werden dadurch gesteigert, dass diesem etwas vorangeht und ihm etwas nachfolgt. Im Fall des römischen Triumphzugs sind es die aus dem Kriegszug zurückgebrachten Beutestücke und die Gefangenen, die das Erscheinen des Triumphators ankündigen,35 im Fall des mittelalterlichen Herrscheradventus sind es Herolde oder cursores, die dem Herrscher Raum schaffen und seine Ankunft annoncieren,36 im Fall des Ballet Royal de la Nuit ist es der Morgenstern Aurore, der den Aufgang der Sonne in Huldigungsversen ankündigt. Diese Anordnungen sind nicht nur ornement oder schmückende Beigabe, sie stellen vielmehr einen 33 Vgl. Mary Beard: The Roman Triumph, Cambridge (Mass.)/London 2007, hier das Kapitel: The Art of Representation, S. 143-187; Ernst Künzl: Der römische Triumph. Siegesfeiern im antiken Rom, München 1988, hier das Kapitel: Triumphator und Gott, S. 85-108. Vgl. auch Miller: Roman Triumphs, S. 6, hier in Bezug auf die Stücke William Shakespeares: „Monarchs […] sought to interpret triumph according to their political priorities.“ Zur Überbietung Roms (auch des Papsttums) vgl. ebd., S. 9. 34 Vgl. den Eintrag: Triumph, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 45, Leipzig/Halle 1745, Sp. 948-958. 35 In seinen Res gestae prahlt Augustus damit, dass er in seinen Triumphen neun Monarchen oder Kinder von Monarchen vor seinem Wagen, ante currum, mitgeführt habe. Vgl. Beard: The Roman Triumph, S. 120. 36 Vgl. Kantorowicz: Des „Königs Ankunft“, S. 116.

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Rahmen zur Verfügung, der dem Auftritt seine Form gibt.37 Aus Shakespeare ist die höfische und militärische Ankündigungsform des flourish geläufig. Henry Fielding empfiehlt in diesem Zusammenhang „Method[s]“, welche den Zuschauer oder Leser auf einen Auftritt einstimmen, „to prepare the Mind [...] for [the] Reception“38, und diesem zugleich eine Fassung geben. Das höfische Entrée und die triumphale Auftrittsform bilden den Maßstab wie den Richtwert der anschließenden Überlegungen, auch wenn von Anfang an darauf hinzuweisen ist, dass hier zunächst ein idealtypisches Auftrittsmodell nachgezeichnet wurde, das in der Realität der höfischen Gesellschaft vielfältigen Bedingungen und Einschränkungen unterlag. Die Sonne des Ballet Royal de la Nuit war wie der König selbst in politische und protokollarische Abhängigkeiten eingebettet, die die eklatante Auftrittsmacht, die ihm das Ballet de cour und das Zeremoniell insgesamt zugestand, einschränkte.39 Auch wenn Ludwig XIV. die Etikette zu seinem persönlichen Machtinstrument ausbaute und seine Souveränität vor allem in der Handhabung ihrer Formen zum Ausdruck brachte, ist auch er in die höfische Gesellschaft eingeflochten und auch in seinen Sonnenauftritten Teil einer komplexen höfischen „Figuration“40. Corneille vs. Racine Die Auftrittsordnung des französischen Hofs wurde nicht nur deswegen eingehender dargestellt, weil sie als prototypisch für eine starke neuzeitliche Auftrittskultur gelten kann, sondern auch deshalb, weil sie für die Tragödie maßgeblich ist, die in ihrem Umfeld entsteht. Der tragische Erscheinungsraum, wie er durch das absolutistische 17. Jahrhundert konstruiert und im Umkreis der doctrine classique ausgeformt wird, wird in Hinblick auf den höfischen Erscheinungsraum 37 Vgl. die Kapitel zur Perspektivbühne (I,1) und zu Don Karlos (I,4). 38 Henry Fielding: The History of Tom Jones. A Foundling, Bd. 1, hg. v. Fredson Bowers, Oxford 1974, S. 152: „Here, therefore, we have thought proper to prepare the Mind of the Reader for her Reception, by filling it with every pleasing Image, which we can draw from the Face of Nature. And for this Method we plead many Precedents. First, this is an Art well known to, and much practised by, our Tragic Poets; who seldom fail to prepare their Audience for the Reception of their principal Characters./ Thus the Heroe is always introduced with a Flourish of Drums and Trumpets, in order to rouse a martial Spirit in the Audience, and to accommodate their Ears to Bombast and Fustian, which Mr. Locke’s blind Man would not have grossly erred in likening to the Sound of a Trumpet.“ 39 So die These von Norbert Elias. Vgl. auch Isherwood: Music in the Service of the King, S. 136. Isherwood zitiert Madelaine de Scudery, die den tanzenden Sonnenkönig im Ballet Royal de la Nuit mit einem Vogel im Käfig vergleicht: „[He] makes me remember those little birds who sing so well and who are enjoyed while imprisoned in their cages“. 40 Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 34.

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entworfen. Es ist die vom Souverän erfüllte und geordnete Bühne samt ihren spektakulären Auftrittsprotokollen, auf die auch die Tragödie bezogen bleibt. Zugleich liegen in den Dramen Corneilles und Racines zwei Bezugnahmen vor, die diese Verpflichtung jeweils unterschiedlich auslegen. Für Corneille ist das höfische Auftrittsprotokoll in seiner emphatisch-triumphalen Form maßgeblich. Wie Jean Starobinski in seinem Corneille-Essay dargelegt hat, ist seine Dramaturgie auch in der Tragödie eine Dramaturgie des éclat. In seinen regulären Tragödien, Komödien und Maschinentragödien dominiert ein Modell heroischer Auftrittsmacht, das auf Bewunderung, Blendung und Unterwerfung ausgerichtet ist.41 Der episch-heroische Charakter seiner Helden prägt sich auch den Auftrittsformen seiner Tragödien ein, die den Glanz ihrer jenseits der Bühne verübten Heldentaten auf die Bühne mitbringen: Was ist Allmacht, wenn nicht das Privileg, sich nur zu zeigen zu brauchen, um Gehorsam zu erlangen? Das Wort Éclat (plötzliches Erstrahlen), das bei Corneille so häufig vorkommt, drückt jenen aktiven Glanz vollkommen aus: siegreiche Überraschung, blitzhafte Eroberung, Triumph ohne Kampf. So waren die Siege von Louis XIV. beschaffen: ‚Louis braucht nur zu erscheinen‘, und schon fallen die Mauern, die Schwadrone fliehen, die Völker unterwerfen sich.42

Bei Racine liegen die Dinge anders. Zwar ist auch seine Tragödie den Auftrittsbedingungen des höfischen Zeremoniells verpflichtet, jedoch in negativer Form. Die Möglichkeit des Prunkauftritts und seiner Derivate muss für deren Geltungssphäre verneint werden. In seinem Fall ist vielmehr von der tragischen Inversion höfischer Auftrittsprotokolle zu sprechen. Er geht davon aus, dass die Tragödie der spektakulären Mise en Scène höfischer Personen prekäre und krisenhafte Auftrittsformen entgegenhält und zugleich eine Machtkritik formuliert, die die arkane Kehrseite höfischer Auftrittsspektakel in den Blick nimmt. Die in der voranstehenden Einleitung beschriebenen gebrochenen Auftrittsformen der Tragödie werden damit in einem konkreten historischen Kontext aufgesucht. Ausgehend von der Form der Perspektivbühne, die als idealtypische visuelle Artikulation des höfischen Erscheinungsraums gelten kann, da sie die raumstiftende Macht des Fürsten sowohl aus der Zuschauerperspektive wie aus der Auftrittsperspektive abbildet, befasst sich der darauffolgende Teil mit der Spannung von höfischem Auftrittssplendor und tragischem Verlauf. Am Beispiel der Tragödien Racines behandelt er die Verdunkelung des höfischen Auftrittsraums, die dann eintritt, wenn sich das souveräne Licht von der Bühne zurück41 Vgl. auch Wolfgang Matzat: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. Theater in der französischen Klassik, München 1982, S. 81: Matzat konstatiert die Unvereinbarkeit von dramatischer und theatraler Perspektive bei Corneille. Er sieht eine Rivalität zwischen „admiration“ und „Handlung“. 42 Jean Starobinski: Das Leben der Augen, Berlin 1984, S. 21.

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zieht. Bei Racine wird der Hintergrund zu einem bedrohlichen Arkanum. Die tragischen Personen erscheinen vor einem dunklen und uneinsichtigen Fond und bleiben durchgängig auf die profondeur bezogen, aus der sie hervorgetreten sind. Infolgedessen wird auch die Zentralperspektive, die den vollkommenen Rahmen für höfische Auftritte darbot, in einen labyrinthischen Rätselraum transformiert. Ein Kapitel über die Bühnenprospekte der Familie Galli Bibiena zeigt, wie tragische Konzepte auf die höfische Perspektive zurückwirken und sich der zentralperspektivische Raum der ‚Durchsehung‘ in ein Labyrinth transformiert. Das abschließende Kapitel zu Schillers Don Karlos behandelt den Zerfall der liaison des scènes. Es zeigt die Auflösung der geschlossenen regelhaften Auftrittskette, die die Dekomposition höfischen Raums und höfischer Zeit nach sich zieht und den Herrscher aus dem Vordergrund in den Hintergrund abdrängt. Die Fürsten herrschen nicht mehr durch spektakuläre Prunkauftritte. Sie werden zu Hintergrundmächten, die einen verwaisten Raum zurücklassen, in dem sich die Akteure im Ungewissen bewegen.

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1. Perspektive als Verkehrseinheit

„Les justesses de la perspective“ Die perspektivische Konstruktion der barocken Festbühne setzt einen idealen Auftrittsrahmen.1 Höfische Festvorstellungen gehen in einer transparenten, auf mathematische Prinzipien gegründeten Raumordnung vonstatten. Bei ihrem Auftritt finden die Tänzer und Akteure, die Sterblichen und Götter Bedingungen vor, die ihnen Glanz, Sichtbarkeit und Distinktion garantieren. Treffend bezeichnet Heinrich Wölfflin den perspektivischen Raum der Barockbühne als „Verkehrseinheit“2. Ihm stellt sie sich nicht nur als ein Liniengefüge, sondern als eine Anordnung von Wegen dar, die die Bewegung der Figuren in Bahnen lenkt und ihre Aufnahme gewährleistet. Auch auf der Bühne schafft die Perspektive einen „plausible[n] und vereinheitlichte[n] Bildraum […], in dem sich die Figuren mit Eleganz und gemäß den harmonischen Rhythmen der Geometrie bewegen konnten“3. Bewegung und Position der Auftretenden können innerhalb eines begrenzten Bühnenausschnitts eindeutig bestimmt werden, Auftrittsereignisse in festen protokollarischen Formen stattfinden.4 Der Zufall des Kommens und Gehens auf der Bühne wird durch die Geschlossenheit der perspektivischen Struktur eingeschränkt und beherrschbar gemacht. Innerhalb derselben empfängt die Figur eine klare Positionsanweisung und einen präzisen Bewegungsbefehl.5 Dieses Ordnungsversprechen wirkt sich auch auf die dramatischen Texte aus, die auf solche Raumverhältnisse zugeschnitten sind. In Corneilles 1660 verfasster Maschinentragödie Andromède, die in Zusammenarbeit mit dem italienischen Bühneningenieur Giacomo Torelli entstand, dem die Perspektivbühne neue technische und konzeptuelle Impulse verdankte, werden Fassungskraft und Ordnungsleistung des perspektivischen Raummodells eigens thematisiert. 1

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Vgl. Richard Alewyn: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste, Nachdr. d. 2., erw. Aufl. d. Orig., München 1989. Vgl. auch Hans-Christian von Herrmann: Das Theater der Souveränität, in: ders.: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München 2005, S. 35-90. Heinrich Wölfflin: Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, 4. Aufl., München 1926, S. 178. Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, übers. v. Heinz Jatho, München 2002, S. 33. Vgl. Erwin Panofsky: Perspektive als symbolische Form, in: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. v. Hariolf Oberer u. Egon Verheyen, Berlin 1992, S. 99-167, hier S. 114ff. Vgl. auch George Kernodle: From Art to Theatre. Form and Convention in the Renaissance, Chicago 1944, S. 179: „Scenery was no longer a nucleus but began to enclose the actor.“ Vgl. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, S. 143.

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In präzisen Bühnenanweisungen nimmt die Tragödie ausdrücklich auf den perspektivischen Rahmen Bezug. Der Vorgang des paraître, des Erscheinens, erfolgt mit stetem Bezug auf die strukturgebenden Raumachsen der Bühne. Der Auftritt der Königin Cassiope zu Beginn der Tragödie fügt sich explizit in den perspektivischen Rahmen ein: Les deux côtés et le fond du théâtre sont des palais magnifiques, tous différents de structure, mais qui gardent admirablement l’égalité et les justesses de la perspective […]. La reine Cassiope paraît comme passant par cette place pour aller au temple.6

Auch Andromèdes Auftrittsposition leitet sich unmittelbar aus der perspektivischen Bühnenanlage ab: De chaque côté se détache un rang d’orangers dans de pareils vases, qui viennent former un admirable berceau jusqu’au milieu du théâtre, et le séparent ainsi en trois allées, que l’artifice ingénieux de la perspective fait paraître longue de plus mille pas. C’est là qu’on voit Andromède avec ces Nymphes qui cueillent des fleurs […].7

Diese Entrées können jedoch nur insofern wahrgenommen werden, als sie sich in einem durch den Blick des Fürsten geschaffenen, gegliederten und begrenzten Wahrnehmungsfeld vollziehen.8 „[J]ustesses“ und „égalité“ der Perspektive werden durch fürstliche Blickmacht gestiftet,9 Auftrittslizenzen durch die übergeordnete Autorität des Herrschers verliehen, die in der Fürstenloge im Zuschauerraum positioniert ist und von hier aus die Konstruktionslinien des Bühnenraums auslegt.10 6

Pierre Corneille: Andromède, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 2, hg. v. Georges Couton, Paris 1989, S. 441-525, hier S. 463. „Die zwei Seiten und der Hintergrund des Theaters bestehen aus prächtigen Palästen, alle unterschiedlich in ihrer Struktur, die aber die Gleichheit und Richtigkeit der Perspektive in bewundernswerter Weise wahren. […] Die Königin Cassiope erscheint wie im Begriff über diesen Platz in den Tempel zu gehen.“ 7 Ebd., S. 475. „Von jeder Seite löst sich eine Reihe von Orangenbäumen in ähnlichen Vasen ab, die einen bewundernswerten Bogen bis zur Mitte des Theaters formen, wo sie sich in drei Alleen aufteilen, die das Kunstwerk der Perspektive so lang wie tausend Schritte erscheinen lässt. Es ist dort, wo man Andromède mit ihren Nymphen Blumen pflücken sieht.“ 8 Vgl. Jean-Marie Apostolidès: Le Roi-machine. Spectacle et politique au temps de Louis XIV, Paris 1981, S. 51: „Le courtisan est une créature monarchique; il parle du roi seulement parce que le roi l’a créé son image et lui accorde une pseudo-existence. L’homme de cour ne peut pas dire le spectacle avant que le spectacle ne soit dit en lui.“ 9 Vgl. Kernodle: From Art to Theatre, S. 179; Herrmann: Das Archiv der Bühne, S. 55. Vgl. auch Günter Schöne: Die Entwicklung der Perspektivbühne von Serlio bis Galli-Bibiena nach den Perspektivbüchern, Leipzig 1933, S. 40. 10 Vgl. Kernodle: From Art to Theatre, S. 179: „An exact relation […] was established between audience, actor and setting, when the eyepoint from which the stage picture was viewed was fixed at a definite point (the duke’s box). The vanishing point for all lines of depth was fixed opposite that eyepoint, at the center of the picture.“

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Kennzeichnend für die Macht dieses Blicks, der hier in der generalisierenden Formulierung „on voit“ angesprochen wird, ist die Projektion einer virtuellen Raumtiefe.11 In Corneilles Anweisung wird diese mit tausend Schritten – „longue de plus mille pas“ – angegeben. Entlang der perspektivischen Blickachsen scheint sich die beschränkte und begehbare Bühne bis hin zu einem in der Ferne gelegenen Fluchtpunkt zu verlängern, der seinerseits den Machtbereich des Fürsten bis ins Unendliche erweitert. Diese Tiefe – man sollte besser von einem Tiefeneffekt sprechen – kann auf zweierlei Weise suggeriert werden: erstens durch eine Staffelung von Seitenkulissen, die das Auge nach hinten leiten,12 zweitens durch den gemalten Bühnenprospekt an der Rückwand des Theaters, der das Auge durch die Fluchtung der Raumlinien ebenfalls auf seinen Fluchtpunkt hinlenkt.13 An der Stelle, an der das Auge „den Abschluss des Raums erwartet, [wird es] von einer Vision überrascht“14, die ihn ins Unendliche verlängert. Im Prospekt geht der Spielraum in einen Bildraum über, in dem die raumbestimmenden Achsen der Perspektive ihre visuell strukturierende Kraft entfalten. Zugleich wird durch die Fluchtung der Orthogonalen im Bildzentrum des Prospekts die Illusion uneingeschränkter perspicuitas erzeugt. Bühne, Theater und Drama öffnen sich einer ‚Durchsehung‘, die bis in die Unendlichkeit vordringt. Für den Schauplatz der Maschinentragödie wie für diese selbst leiten sich daraus klare Rahmenbedingungen ab. Was auch immer sich auf der Bühne abspielt: Menschliche Verwirrungen und Unglücksfälle, aber auch die Wunder, die das höfische Theater zu bieten hat, ereignen sich in einer mathematisch geordneten Sphäre.15 Souverän ordnend bewegt sich der „principe dei razzi“16, der fürstliche Sehstrahl, durch die ungeordnete Welt, die, wie es im Ballet Royal de la Nuit heißt, nur von „foibles clartéz“17 erhellt ist.18 Energisch durchdringt er nicht nur den Spiel-

11 Vgl. Alewyn: Das große Welttheater, S. 75; Ulrike Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 351. 12 Vgl. Herrmann: Das Archiv der Bühne, S. 53ff. 13 Vgl. ebd., S. 51: „Im virtuellen Raum des im Bühnenhintergrund angebrachten Bühnenprospekts setzt sich die fürstliche Blickbahn bis ins Unendliche fort.“ 14 Alewyn: Das große Welttheater, S. 77. 15 Vgl. Claudia Müller: Ferdinando Galli Bibienas „Scene di nuova invenzione“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49 (1986), S. 356-375, hier S. 363. 16 Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, S. 78. Die Mitte der Sehpyramide war von dem von Alberti „Fürst der Sehstrahlen“ genannten Zentralstrahl dominiert, der Rest von den „mittleren Strahlen“ (ebd., S. 80). 17 Isaac de Benserade: Ballet Royal de la Nuit. Divisé en quatre parties, ou quatre Veilles. Et dansé par sa Majesté le 23 février 1653, Paris 1653, S. 65. 18 Zur Welt als gewalttätige Materialität vgl. Lucien Goldmann: Der verborgene Gott. Studie über die tragische Weltanschauung in den Pensées Pascals und im Theater Racines, übers. v. Hermann Baum, Frankfurt a.M. 1985, S. 496.

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Abb. 2: Guido Ubaldo Del Monte, Konstruktion einer perspektivischen Szene, ausgehend vom Augpunkt A (1600).

raum, sondern auch die dunkle Sphäre der „obstacles“ und „situations“19, in die sich die Akteure verstricken. Auch im Theater herrscht der „impérialisme oculaire“ des Monarchen: „Comme l’astre solaire, le regard du roi met en lumière et ordonne: il dissipe le chaos en faisant émerger la vérité.“20 Auf allen Ebenen der Darstellung 19 Jacques Scherer: La Dramaturgie classique en France, Paris 1959, S. 62ff. 20 Apostolidès: Le Roi-machine, S. 47. „Wie das Sonnengestirn erleuchtet und ordnet der Blick des Königs: Er zerstreut das Chaos und lässt die Wahrheit hervortreten.“ Und weiter: „[L]es individus sont mis en perspective par le regard monarchique; aucun obstacle ne résiste à l’œuil qui éclaire en même temps qu’il dévoile.“

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und bis in die Tiefe der perspektivischen Raumkonstruktion hinein zielt das Fürstentheater auf dissipation und Zerstreuung von Dunkelheit ab. Indem sich Andromède auch in tragischen Momenten im „artifice ingénieux de la perspective“ aufhält, wird auch ihr Schicksal vom klärenden Blick des Fürsten durchquert.21 ‚Via regia‘: Die Perspektive als höfischer Ankunftsraum Die Auftrittsaffinität der Perspektive kommt aber auch darin zum Ausdruck, dass die zentralen Sichtachsen der höfischen Festbühne in die Form von Triumphalstraßen eingekleidet werden.22 Die zentralperspektivische Bühne ist im Wesentlichen Ankunftsraum. In den Prospekten, die Torelli für Corneilles Andromède entwarf, manifestieren sich die bildbeherrschenden Fluchtlinien als prächtige Korsos. Seine Entwürfe übersetzen perspektivische Bildstrukturen in triumphale Straßenanlagen und lassen dabei Blickführung und Straßenführung konvergieren. Den principe dei razzi, der die Einheit des theatralen Raums gewährleistet und vom fürstlichen Augenpunkt her in die Raumtiefe vordringt, interpretieren sie als via regia, die nicht nur durch den Prospekt hindurch und hinaus ins Unendliche führt, sondern umgekehrt auch aus dem Unendlichen wieder auf die Bühne zurückkehrt. Diese Prachtstraßen werden so demonstrativ ins Bild gesetzt, dass sie beim Zuschauer während des Spiels gesteigerte Auftrittserwartungen erzeugen. In der künstlichen Tiefe des Prospekts – genauer gesagt: im perspektivischen Fluchtpunkt selbst – scheint sich während der Aufführung ein spektakuläres Ankunftsereignis vorzubereiten. So gewendet liegt die Bühne nicht nur im Blickfeld des im Publikum befindlichen Monarchen, sie präsentiert sich zugleich als Einzugsbereich einer großen königlichen Entrée. Die Paradoxie der hier zu beobachtenden Rauminszenierung besteht darin, dass der in der Fürstenloge positionierte Souverän im Blick auf den Fluchtpunkt der eigenen Ankunft auf der Szene antizipierend entgegensieht. In der virtuellen Tiefe des Prospekts und über die prächtige Straße, die sich seinen Augen darbietet, kommt er sich selbst entgegen. Der Bühnenraum öffnet sich im Oszillationsfeld zwischen Augenpunkt und Fluchtpunkt, Blickmacht und Auftrittsmacht, sodass sowohl der Anfang wie 21 Vgl. Sebastiano Serlio: Von der Architectur, Basel 1609, II. Buch, 3. Kapitel, Blatt XXVr zit. in: Herrmann: Das Archiv der Bühne, S. 63. Im Zusammenwirken von Epiphanie und perspektivischem Tiefenraum konstituiert sich ein theatraler Raum des Wunderbaren, in dem die Regeln der Wahrscheinlichkeit durchbrochen werden und zugleich rationale Prinzipien der Raumgestaltung gelten. 22 Die Nähe der perspektivischen Imagination zur Straßenanlage bzw. Straßenszene wird auch von Kernodle gesehen: Vgl. Kernodle: From Art to Theatre, S. 47. Vgl. auch Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive, S. 81.

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das Ende der Blickachse durch den Souverän besetzt und befahren wird. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man berücksichtigt, dass Torellis Prospekte reale Auftrittsarchitekturen in die Bildgestaltung einbeziehen. Wie Thomas Lawrenson in seiner Studie zum Bühnenraum des Ancien Régime nachweist, greift er Bildmotive realer Stadt- und Palastanlagen auf, die durch die Hintereinanderschaltung von Toren und Durchgängen tatsächlich für Einzüge eingerichtet waren.23 Wenn Triumphalstraßen aus Versailles und Paris in die Bühnenprospekte Torellis eingehen, wird die fiktive Handlung auf ein reales zeitgenössisches Triumphalszenarium bezogen. Sie spielt in einer durch den Souverän vereinnahmten und geordneten Welt. Dass es auch dabei um die Inszenierung von Auftritten geht, wird dadurch unterstrichen, dass die Straßen von Triumphtoren überbaut sind. Auf der barocken Festbühne weist das Tor dem fürstlichen „image solaire“24 eine privilegierte Stelle an. Torelli führt die via regia durch einen oder mehrere Triumphbögen hindurch, die dem ankommenden Herrscher einen virtuellen Rahmen setzen und zugleich die Schwellen multiplizieren,25 die er bei seiner Ankunft überschreitet.26 Triumphbögen auf der zentralen Fluchtlinie der Bühne markieren eine oder mehrere königliche Auftrittsstellen,27 die den energetischepiphanischen Impuls der Ankunft stetig erneuern und über ihre konstruktive Funktion hinaus prachtsteigernde Bedeutung erlangen. Baulich antizipieren sie einen großen Auftritt en face, eine souveräne Bühnenbewegung durch die Mitte, nach vorn und in der Direttissima, der die Macht zugesprochen wird, die Sphäre der obstacles, in der sich das Bühnengeschehen abspielt, zu durchschneiden und zu überwinden.

23 Vgl. Thomas E. Lawrenson: The French Stage and Playhouse in the XVIIth Century. A Study in the Advent of the Italian Order, 2. Aufl., New York 1986, S. 188. 24 Apostolidès: Le Roi-machine, S. 59. 25 Vgl. Ulrich Schütte: Stadttor und Hausschwelle. Zur rituellen Bedeutung architektonischer Grenzen in der Frühen Neuzeit, in: Die Grenze. Begriff und Inszenierung, hg. v. Markus Bauer u. Thomas Rahn, Berlin 1997, S. 159-176, hier S. 165ff. (auch in: Zeremoniell und Raum, hg. v. Werner Paravicini, Sigmaringen 1997, S. 305-324). Hier auch zur Hintereinanderschaltung von Triumphtoren auf gerader Linie. 26 Zur Bedeutung von Bogenstrukturen im adventus-Ritual und ihrer Übertragung auf die Bühne vgl. Kernodle: From Art to Theatre, S. 180ff. Hier allerdings liegt die Betonung auf der durch eine Staffelung von Triumphtoren erreichten Tiefenwirkung. 27 Zur Rolle der Arkade in der Geschichte der Perspektivbühne vgl. Kernodle: From Art to Theatre, S. 193ff. Zum Bildmotiv: „King seen through the arch“ vgl. auch Lawrenson: The French Stage, S. 186. Die Bogen- oder Arkadenstruktur, die zunächst als Mittel der Bildvertiefung eingesetzt wurde, erfährt in den Prospekten des höfischen Theaters eine Steigerung.

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Abb. 3: Giacomo Torelli, Bühnenentwurf für Andromède, Akt I (1650).

Abb. 4: Giacomo Torelli, Bühnenentwurf für Andromède, Akt II (1650).

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Götterauftritte In erster Linie ist der Perspektivraum der Bühne jedoch der Einfallsort des Wunderbaren.28 Er ist der Auftrittsraum nicht nur der menschlichen Akteure, sondern auch der Maschinengötter, die mit hohem technischem Aufwand fliegend, steigend oder sich herabsenkend auf die Szene gelangen.29 Wie die Geschichte der Perspektivbühne zeigt, dient diese nicht nur der Regelung des irdischen Bühnenverkehrs, sondern auch des Götterverkehrs. Der geschlossene perspektivische Raumausschnitt bietet den idealen Anflugs- und Auftrittsort für die überirdischen Mächte, die als Dei ex Machina in den Fortgang des Geschehens eingreifen. Wie schon der römische Architekturtheoretiker Vitruv bemerkt, der im zweiten Buch seiner Baukunst die Fundamente der frühneuzeitlichen Perspektivbühne legt, muss die Bühne vorbereitet sein, „wenn ein Gott plötzlich unter Donnerwettern erscheinen soll“30. Sebastiano Serlio, dem die Verwissenschaftlichung bzw. Mathematisierung des frühneuzeitlichen Bühnenraums zu danken ist, rühmt in seinem Trattato sopra le scene die „perspectivische[ ] Aufreissung einer Scenen oder Schawplatzes“ vor allem deshalb, weil sie einen Rahmen für Göttererscheinungen bietet: „[D]a sihet man durch Kunstreiche Instrument ein Gott herunder fahren.“31 Demnach bildet es keinen Widerspruch, wenn in einem nach mathematisch-geometrischen Prinzipien konstruierten Raum zugleich die Regeln der Wahrscheinlichkeit durchbrochen werden. Charakteristisch für das Theater der Souveränität32 ist damit ein fortgesetztes, ja epidemisches Auftrittsgeschehen. Es öffnet den Bühnenraum für das Wunderbare und bereitet ihn für göttliche Interventionen vor. Die Aristotelisierung der Festbühne: Auftrittséclat und tragische Progression Corneilles Andromède stellt den Versuch dar, die Tragödie und das höfische Spektakel der Götterankünfte miteinander zu verbinden. Die hochrangige Gattung der 28 Vgl. Nicola Gess: Oper des Monströsen – Monströse Oper. Zur Metapher des Monströsen in der französischen Opernästhetik des 18. Jahrhunderts, in: Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Abnormalen, hg. v. Achim Geisenhanslücke u. Georg Mein, Bielefeld 2009, S. 655-667. 29 Vgl. Christian Quaeitzsch: „Une société de plaisirs“. Festkultur und Bühnenbilder am Hofe Ludwigs XIV. und ihr Publikum, Berlin/München 2010, S. 265. Vgl. auch die Beiträge in: Nicola Gess, Tina Hartmann u. Dominika Hens (Hg.): Barocktheater als Spektakel. Maschine, Blick und Bewegung auf der Opernbühne des Ancien Régime, München 2015. 30 Marcus Vitruvius Pollio: Baukunst, übers. v. August Rode, Bd. 1, Nachdr. d. Ausg. v. 1796, Zürich 1987, S. 244f. 31 Serlio: Von der Architectur, Blatt XXVr. Vgl. auch Herrmann: Das Archiv der Bühne, S. 63. 32 Vgl. Herrmann: Das Archiv der Bühne, S. 35.

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Tragödie, die nach Aristoteles auf einen tragischen Glückswechsel zuläuft, soll in die zeremonielle Festsphäre des Hofes eingelassen werden, die ganz durch das Spektakel der Entrées bestimmt ist. Die Aufgabe des für seine Sprechtragödien berühmten Dichters bestand darin, die aristotelische Form mit einem Theater der Maschinengötter in Einklang zu setzen.33 Éclat und tragischer Verlauf, splendor des Auftritts und tragischer cours du soleil waren in der neuen Mischgattung bei gleichen Rechten in Balance zu halten, dem einen wie dem anderen Rechnung zu tragen. In der Vorrede zu Andromède scheint sich Corneille zunächst darum zu bemühen, den Einsatz von Maschinen innerhalb der aristotelischen Doktrin zu legitimieren. Seine Begründung lautet, dass er die Bühnentechnik ausschließlich in den Dienst der Handlung gestellt habe. Das Spektakel werde nur dort eingesetzt, wo es die dramatische Notwendigkeit erfordere.34 Andererseits aber ist die Andromède so konstruiert, dass Auftrittsereignisse klar im Vordergrund stehen. Alle Aufmerksamkeit gilt den Entrées, die den jeweils nächsten Gott in spektakulärer Weise herankommen lassen. Die Vorrede spricht deutlich aus, dass die Maschinentragödie vor allem die Augen, nicht aber den Verstand oder die Leidenschaften seiner Zuschauer ansprechen sollte: „[P]arce que mon principal but ici a été de satisfaire la vue par l’éclat et la diversité du spectacle, et non pas de toucher l’esprit par la force du raisonnement, ou le cœur par la délicatesse des passions.“35 Diese Akzentverschiebung von der Handlung auf das Spektakel zeigt sich daran, dass der festliche Prolog der Andromède ausgerechnet Melpomène, die Muse der Tragödie, zur Festordnerin, Zeremonienmeisterin und Sachwalterin des éclat erklärt. Er leistet deswegen nicht weniger als eine Selbstsuspendierung der aristotelischen Tragödie im Namen der Gloire du Roi.36 Das Amt der Muse besteht 33 Vgl. Alison Calhoun: Corneille’s Andromède and Opera: Practice Before Theory, Bloomington 2015; Perry Gethner: Andromède. From Tragic to Operatic Discourse, in: Papers on Seventeenth Century French Literature 12 (1979), S. 53-65; außerdem Étienne Gros: Les Origines de la tragédie lyrique et la place des tragédies en machines dans l’évolution du théâtre vers l’opéra, in: Revue d’Histoire littéraire da la France 35 (1928), S. 161-193. 34 Vgl. Bettine Menke: Was das Spektakel möglich macht: Theater-Maschinen, in: Archäologie der Spezialeffekte, hg. v. Nicola Gess u.a., München 2017 (Druck in Vorbereitung). 35 Corneille: Andromède, S. 448. „Denn mein hauptsächliches Ziel ist es hier gewesen, das Auge durch den Glanz und die Vielfalt des Spektakels zu befriedigen und nicht den Geist durch die Kraft des Verstandes oder die Delikatesse der Leidenschaften zu rühren.“ Und weiter: „Il n’en va pas de même des machines, qui ne sont pas dans cette tragédie comme des agréments détachés, elles en sont le nœud et le dénouement, et y sont si nécessaires que vous n’en sauriez retrancher aucune, que vous ne fassiez tomber tout l’édifice.“ (Ebd.) „Dasselbe kann nicht von den Maschinen gesagt werden, die nicht als losgelöstes Vergnügen Teil dieser Tragödie sind, sie sind deren Knoten und Lösung und sind in ihr so notwendig, dass Sie keine zu streichen wüssten, ohne das ganze Gebäude einstürzen zu lassen.“ 36 Vgl. Wolfgang Matzat: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. Theater in der französischen Klassik, München 1982, S. 99.

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nicht darin, auf der Festbühne die Einhaltung des tragischen cours zu fordern, sondern vielmehr darin, Glanz zu erzeugen und Helden erstrahlen zu lassen: „Et tout ce haut éclat où je les faits paraître.“37 Melpomène steht für den Pomp, nicht für die tragische Präzipitation, ihre Aufgabe ist es, den cours du soleil zu unterbrechen, der nach Aristoteles das unerbittliche tragische Zeitmaß vorgibt.38 Auf ihr Bitten hin hält die Sonne inne, die auf ihrem Wagen herannaht, um mit ihr gemeinsam ein Preislied zu Ehren des Königs anzustimmen. Tragische Zeit wird in festliche Auftrittszeit transformiert. Der Sonnenlauf wandelt sich einen Moment lang in ein jubilatorisches Jetzt, das sich aus der Zeit der tragischen Verstrickung heraushebt und alle Welt an der Gegenwart des Souveräns teilhaben lässt. Dasselbe gilt auch für alle spektakulären Auftritte, die ihm im Lauf der Tragödie nachfolgen. Wenn es heißt: „le Ciel s’ouvre“39 und die Maschine erscheint, wird der tragische Kurs für den Moment des Auftritts unterbrochen und das paraître zum vorherrschenden Prinzip.40 ‚Avancer‘: Vorschreiten und Fortschreiten Damit sind die Bedingungen für eine Gattung geschaffen, die Tragödie und Fest in einer eigenen höfischen Gattung zusammenführt. In den Jahren nach 1670 entwickelt der Komponist Jean Baptiste Lully auf Wunsch des Königs die musikdramatische Form der Tragédie en musique, die die gegensätzlichen Elemente zu einer spezifisch französischen Form der Hofoper vereinigt.41 In ihr wird das Widerspiel von Auftrittsglanz und tragischer Progression zum zentralen formstiftenden Ele37 Corneille: Andromède, S. 461 (V. 55). 38 Vgl. Juliane Vogel: Solare Orientierung. Heliotropismus in Tragödie und Tragédie en musique, in: Barocktheater als Spektakel. Maschine, Blick und Bewegung auf der Opernbühne des Ancien Régime, hg. v. Nicola Gess, Tina Hartmann u. Dominika Hens, Paderborn 2015, S. 71-88, hier S. 80. Vgl. auch Menke: Was das Spektakel möglich macht: „Als einen anderen Zeit-Raum, in dem Götter und andere fiktive Wesen wie Allegorien durch Maschinen erscheinen, inszeniert sich die festliche Eröffnung im Prolog von Andromède durch den expliziten Aufenthalt, zu dem Melpomène den Lauf von le Soleil für die große Huldigungsszene anhält.“ Vgl. Ulf Otto: Auftritt der Sonne. Zur Genealogie des Scheinwerfens und Stimmungsmachens, in: Auftritte. Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien, hg. v. Annemarie Matzke, Ulf Otto u. Jens Roselt, Bielefeld 2014, S. 85-104. 39 Corneille: Andromède, S. 470. 40 Bettine Menke spricht hinsichtlich der Andromède vom Einbruch einer „anderen artifiziellen Zeit“ des Spektakels: Menke: Was das Spektakel möglich macht. 41 Zur Geschichte der Tragédie en musique vgl. Annette Kappeler: L’Œil du Prince. Auftrittsformen in der Oper des Ancien Régime, Paderborn 2016, S. 15-20; Silke Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert, Laaber 2006, S. 193-238; Catherine Kintzler: Poétique de l’Opéra français de Corneille à Rousseau, Paris 1991; Robert M. Isherwood: Music in the Service of the King. France in the Seventeenth Century, Ithaca 1973, S. 204-248.

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ment. Die Attraktion der Tragédie en musique ist hauptsächlich darin zu sehen, dass sie den Fortschritt der tragischen Zeit durch den éclat spektakulärer Ankünfte punktiert, die ganz unberührt von den katastrophalen Entwicklungen der jeweiligen Tragödie vonstattengehen. Auch bei fortschreitender Katastrophe bleibt die Bühne Ankunfts- und Interventionsraum fliegender Götter. Étienne Gros spricht treffend von den „interventions celestes“ bzw. den „interventions continuelles des dieux“42, die die Struktur und den Rhythmus der Tragédie bestimmen. Entrée und finalisierte Handlung werden in ihr systematisch verschränkt. Dieses Spannungsverhältnis spiegelt sich nicht zuletzt in der doppelten Bedeutung der Worte avancer bzw. avancement wieder, die in der Oper oder hinsichtlich der Oper für zwei unterschiedliche Bewegungsrichtungen eingesetzt werden. Ihrer Häufigkeit in den livrets und ihres Doppelsinns wegen können sie als die zentralen Bewegungsbegriffe im Diskurs über die Tragédie en musique gelten. Einerseits bezeichnen sie den Fortschritt der Handlung, die als avancierend gedacht wird, andererseits das Hervortreten einer Figur, das diese Handlung festlich unterbricht. Exemplarisch lässt sich diese Spannung an einer Oper ablesen, die ihres schnellen Fortschritts wegen in Versailles besonderes Interesse erregte. Die Rede ist von der 1676 entstandenen Tragédie en musique Atys, die aus der Zusammenarbeit des Dichters Philippe Quinault und des Komponisten Jean-Baptiste Lully hervorging und vom tragischen Schicksal eines Sonnenpriesters handelt, in den sich die Sonnengöttin Cybèle unsterblich verliebt.43 Auch in ihrem strengen Zeitregime mag der Grund liegen, dass die Oper die besondere Gunst Ludwigs XIV. erlangte, der grundsätzlich den gesteigerten Zeitaufwand höfischer Theaterformen zu begrenzen versuchte. Zweifellos ist Atys stärker als andere Bühnenwerke finalisiert. Weit mehr als in anderen Tragédies en musique kommt es in dieser Tragödie zu einer Intensivierung dramatischer Qualitäten.44 Deren Ablaufgestaltung wird in einer für die Maschinenbühne untypischen Weise von dem beherrscht, was Frank Kermode als „a sense of an ending“45 bezeichnet hat. Eine anonyme Quelle hebt diesen Vorzug heraus: „Tout est fait, compté, mesuré, pour que le drame avance sans jamais s’affaiblir.“46 Im Zuge dessen kommt es zu einem regelrechten Macht42 43 44 45 46

Gros: Les Origines de la tragédie lyrique, S. 166, 175. Vgl. Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert, S. 211-216. Vgl. Isherwood: Music in the Service of the King, S. 207. Frank Kermode: The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction, New York 1967, S. 30. Anonyme Quelle aus dem Umkreis Lullys, recherchiert v. Jean Duron, veröffentlicht im Beiheft zu einer Aufzeichnung von Atys unter der Leitung von William Christie (Dirigent), hg. v. harmonia mundi, Arles 1987, S.12 (elektronische Ausgabe: http://www.arts-florissants.com/ media/livrets-cds-pdfs/livret_hmc-901257-59.pdf, Stand 07.03.2017). Hervorhebung J.V. „Alles ist erdacht, berechnet, gemessen, damit das Drama sich abrollt, ohne sich dabei jemals abzuschwächen.“

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kampf zwischen Erscheinung und Finalisierung. Allen jenen, die erscheinen und glänzen wollten, machte Lully mittels neuer gekürzter Arienformen einen Strich durch die Rechnung: „Chacun veut briller dans Atys, et il n’y a rien pour briller, dans cette œuvre de Lully.“47 Umgekehrt protestieren die Sänger, die sich dem neuen dramatischen Zeitregime zu unterwerfen hatten, mit sängerischen Mitteln: Um ihre Auftrittszeit zu verlängern („pour paraître plus longtemps“), fügen sie ihren Arien Ornamente hinzu und verlangsamen den Taktschlag („ralentit la battue“48). Auf der anderen Seite ist festzuhalten, dass das avancement der Handlung in der Tragédie, insbesondere auch in Atys zugleich durch das festliche avancement der Figuren überlagert und überformt wird. Im Text der Oper bezeichnet das Verb avancer auch und mit gleichem Recht die Auftrittsbewegung der Figuren, die eine festliche Unterbrechung veranlasst: Das ‚Vorschreiten‘ der Figur und das ‚Fortschreiten‘ der Handlung treten in ein stückübergreifendes Spannungsverhältnis.49 Diese konstitutive Spannung teilt sich gleich zu Beginn der Oper mit. Einerseits mehren sich gleich anfangs die Anzeichen für einen göttlichen Sonnenauftritt: „Allons, allons, accourez tous, Cybèle va descendre“50, lauten die ersten Worte der Tragédie, gefolgt von Angaben wie: „On voit, dans ces campagnes/ Tous nos Phrygiens s’avancer“51. Andererseits spinnt sich eine tragische Intrige an, die sich mit allen Anzeichen der Präzipitation katastrophisch finalisiert und zügig auf ihr blutiges Ende zusteuert. Handlungsvorbereitung und Auftrittsankündigung, Progression und sinnliches Aufsteigen, Akzeleration und zeremonielles Erscheinen greifen in Atys unmittelbar ineinander. Auch auf dem Weg in die tragische Katastrophe behauptet die gloire des Prunkauftritts ihr Recht. Denn auch wenn die tragische Verstrickung sämtliche Akteure und nicht zuletzt auch die Göttin selbst erfasst, die sich von menschlichen Leidenschaften affizieren lässt, bleibt der festliche Akt des In-Erscheinung-Tretens durch die Tragödie unberührt. Die Rufe: „Venez, Reine des Dieux, venez;/ Venez, favorable Cybèle“52, werden in der Oper stets erhört. „In fact, they [the gods; J.V.] seem ready to intervene any time someone mentions their name.“53 Trotz der un47 Ebd. „Jeder will in Atys erglänzen, doch hier in diesem Werk von Lully gibt es nichts zu glänzen.“ 48 Ebd. 49 Die Begriffe Fort-, Vor- und Einherschreiten verwendet Goethe bei der Beschreibung dramatischer und theatraler Strukturen. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Zu Phaeton des Euripides, in: MA 13.1, S. 313-316, hier S. 315; ders.: Die tragischen Tetralogien der Griechen. Programm von Ritter Hermann 1819, in: ebd., S. 317-323, hier S. 318f. 50 Philippe Quinault: Atys. Tragédie en musique, in: ders.: Théatre de Quinault, contenant ses tragédies, comédies et opéras. Nouvelle édition, Bd. 4, Paris 1778, S. 271-342, hier S. 282. „Kommen wir, kommen wir, eilen wir alle herbei, Cybèle wird herabsteigen.“ 51 Ebd., S. 288. Hervorhebung J.V. „Auf diesen Feldern sieht man all unsere Phrygier vorschreiten.“ 52 Ebd., S. 292. „Komm, Königin der Götter, komm; komm, wohlgesinnte Cybèle“. 53 Gethner: Andromède, S. 59.

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glücklichen Vorgänge, die sie behandelt, behauptet sich der spektakuläre Erscheinungsraum, in dem die Götter ungehindert und glanzvoll ein- und ausfliegen. Die Ankündigung: „La Déesse Cybèle paroit“54 wird durch die tragischen Entwicklungen nicht berührt. Wie in Corneilles Maschinentragödie bleiben die höfischen Auftrittsformen der Tragédie en musique vor tragischen Eintrübungen gefeit. Das Spektakel der Entrées, der Sonnenaufgänge und der großen Prunkauftritte setzt sich auch dann fort, wenn die Verstrickung fortschreitet und die Katastrophe ihren Lauf nimmt. Auf der Ebene der Bühnenmaschinen, die der Handlung übergeordnet ist und die Möglichkeit der festlichen Intervention in jedem dramatischen Moment offenhält, bleibt das Auftrittsprinzip als tragendes Strukturmoment unangetastet. Erst im Lauf des 18. Jahrhunderts werden die Entrées von der Bühne verschwinden und andere Formen ihren Platz einnehmen, die die epiphanische Gewalt des Prunkauftritts in Frage stellen.55 Der euphorisch von allen Seiten befahrene Auftrittsraum wird dann zu einem Labyrinth.

54 Quinault: Atys, S. 292f. „Die Göttin Cybèle erscheint“. 55 Vgl. Kappeler: L’Œil du Prince, S. 141ff.

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2. Die Verdunkelung des höfischen Erscheinungsraums. Racines Theater der profondeur

Chiaroscuro Der strahlend illuminierten Auftrittssphäre des Hofes stellen die Tragödien Racines die dunkle und mit Blicken nicht zu durchdringende Tiefe ihrer Schauplätze entgegen. Sein Theater ist ein Theater der profondeur. Den imperialen Fluchtungen der höfischen Zentralperspektive begegnet es mit einer Dämmerung, welche die Formen und Farben zum Verschwinden bringt, die den Subjekten im Theater des Souveräns verliehen wurden. Tragische Auftritte vollziehen sich in einer Sphäre des Chiaroscuro, in der Licht und Schatten widerstreiten und der Schatten dominiert: „Nothing is closer to the Racinian hallucination than a painting by Rembrandt […].“1 Während die höfischen Akteure in einer transparenten und maximal geordneten Erscheinungswelt auftreten, bewegen sich jene Racines an der Grenze zur Dunkelheit.2 Damit ist eine vollständige Inversion höfischer Bühnenverhältnisse eingeleitet, die alle Darstellungsebenen der Tragödie affiziert. Ihren Anordnungen nach ist sie als eine Negation jener repräsentativen Öffentlichkeit angelegt, die von den großen und kleinen Entrées des Hofes bestimmt wurde. Wenn es richtig ist, dass Racines Tragödie eine Zeremonie ist, wie Jacques Scherer behauptet,3 so ist sie zugleich eine Anti-Zeremonie, die die große Formanstrengung der höfischen Kultur auf ihrer Bühne widerruft und die Menschenfassungen, die diese verordnet, ungewiss werden lässt. Bereits an der Behandlung des Lichts kann das abgelesen werden: Anders als im solaren Regime von Versailles, das den Herrscher als einen wohltätigen Lichtbringer inszenierte, zeigt sich das Licht hier als eine feindliche und potentiell gewalttätige Kraft, die die dramatischen Figuren aus der Verborgenheit des Hintergrunds nach vorne und auf die Bühne zwingt.4 Kennzeichnend für Racines Bühne ist die Verkehrung solarer Darstellungsformen, insofern auf ihr nicht das Licht, sondern der Schatten auftrittsgestaltend wirksam wird.5 1 2

3 4 5

Roland Barthes: On Racine, übers. v. Richard Howard, Berkeley 1992, S. 18. Vgl. Roland Racevskis: Tragic Passages. Jean Racine’s Art of the Threshold, Lewisburg 2008, S. 171. Racevskis macht auf die Dominanz der Dämmerung in Phèdre aufmerksam, die auch im vollen Sonnenlicht vorherrscht. Vgl. auch Pascale-Anne Brault: Thresholds of the Tragic. A Study of Space in Sophocles and Racine, in: Theatre Research International 14 (1989), S. 229241. Vgl. Jacques Scherer: Racine et/ou la cérémonie, Paris 1982, S. 13. Vgl. Barthes: On Racine, S. 20. Vgl. ebd., S. 21.

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Theatergeschichtlich lässt sich dieser Eindruck dadurch erhärten, dass die Bühne des Hôtel de Bourgogne, auf der Racines Tragödien aufgeführt wurden, über keine Perspektivbühne verfügt.6 Den dortigen Räumlichkeiten fehlen die spektakulären Fluchtungen der höfischen Prospekte. „The irruption of perspective was halted“7, lautet die Formulierung von Thomas Lawrenson, der in seiner Studie zur Bühneneinrichtung des Ancien Régime die Abwesenheit perspektivischer Illusionsbildung im Theater Racines festhält: „no space extending backwards“8. Das Spiel beschränkt sich folglich auf einen schmalen Streifen, ohne dass die perspektivische Tiefenillusion raumerweiternd in die Darstellung eingreift. Die Bühne, auf der Racines Tragödien aufgeführt wurden, wird nach hinten durch eine Türenreihe abgeschlossen, die den Blick des Zuschauers in die Breite, nicht in die Bühnentiefe lenkt. Hauptsächlich ist es daher die raumstiftende Macht der dramatischen Rede, die den Hintergrund entwirft, in dem sich die Figuren der Tragödie abzeichnen. Bei Racine stiften die Worte profondeur. Sie erzeugen das Zwielicht, in dem das tragische Geschehen stattfindet. Profond und profondeur gehören zum Kernbestand des notorisch kleinen Wortschatzes des Verfassers und stiften im Fortschreiten der Tragödie einen unklaren Tiefenbezug, der die Möglichkeiten distinkten Hervortretens auf die Bühne grundsätzlich einschränkt.9 Wo sie fallen, setzen sie den brillanten perspektivischen Raumprojektionen der höfischen Repräsentationssphäre eine Sphäre der Undurchdringlichkeit entgegen. Der Raum- wie der im Text erkennbaren Lichtregie nach verdanken sie sich einem anti-perspektivischen Impuls und erinnern daran, dass die Paläste der Tragödie nicht nur prächtige Architekturen, sondern gleichzeitig arkane, von geheimen Zonen durchsetzte Anlagen sind. Auf die Intimität und Abgeschlossenheit der Schauplätze Racines ist vielfach hingewiesen worden. Seine Tragödien spielen nicht in Schauräumen, sondern in Innenräumen oder Kabinetten, die sich nur ausnahmsweise den Blicken des Publikums öffnen – und nicht oder nur in gebrochener Form als Orte betonten In-Erscheinung-Tretens entworfen sind.10 6 7

Vgl. Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013, S. 329. Thomas E. Lawrenson: The French Stage and Playhouse in the XVIIth Century. A Study in the Advent of the Italian Order, 2. Aufl., New York 1986, S. 188. 8 Ebd. 9 Zu Fundstellen zum Wortfeld profondeur vgl. Robert W. Hartle: Index du vocabulaire du Théâtre classique, Paris 1964, S. 1003. Vgl. außerdem Charles Joseph Marty-Laveaux: Lexique de la langue de J. Racine. Avec une introduction, Paris 1888. 10 Ethel Matala de Mazza macht darauf aufmerksam, dass das Kabinett in Bérénice, das Züge eines Geheimraums trägt, zugleich Zeichen eines Prunkgemachs aufweist und somit beiden Bereichen zugleich zugehört. Vgl. Ethel Matala de Mazza: Die leere Kammer. Zur Exposition in Racines Bérénice, in: Der Anfang des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik, hg. v. Claude Haas u. Andrea Polaschegg, Freiburg i.Br. 2012, S. 277-297, hier S. 278ff.

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Darüber hinaus ist Racines Bühne von verdeckten Räumen mit unklarer architektonischer oder landschaftlicher Struktur umgeben. Seine Schauplätze werden von einer Art dunklem Kordon umfasst, den die Akteure nur mit Mühe durchqueren. Im Unterschied zu den höfischen Ankunftsräumen, die Ankünfte spektakulär und mit großem Zeichenaufwand in Szene setzen, stoßen die dramatischen Personen Racines bei ihrem Auftritt auf Widerstände. „Mille obstacles divers m’ont même traversé“11, berichtet der Bote Osmin bei seiner Ankunft zu Beginn der Tragödie Bajazet: „Tausend verschiedene Widerstände haben sogar mich durchquert.“ Während Corneille die Bühnentiefe der Andromède mit „mille pas“12 bezifferte und damit, wie im vorigen Kapitel beschrieben, die starke Gliederungskraft der zentralperspektivischen Fluchtlinie betont, findet sich hier die genaue Gegenangabe: „mille obstacles“. Der perspektivischen Durchsicht des höfischen Achsentheaters steht eine verstellte Tiefe gegenüber. Dabei ist anzumerken, dass Racine durchaus konkrete räumliche Vorstellungen mit dem Wort profondeur verbindet. In Bajazet ist es das Serail, das die Handlung der Tragödie grundiert, ein Bau, dessen Grenzen und Verläufe unbestimmt bleiben und dessen Inneres von „détours“, „endroîtes écartés“13 und einem „chemin obscur“14 durchzogen ist.15 Das Serail ist ein Ort der Verwahrung von Personen, die zum Heraustreten entweder nicht fähig oder nicht willig sind – „Peuple que dans ses murs renferme ce palais“16 –, eine Schattenwelt: „à l’ombre de ces murs“17, die die Eingeschlossenen nicht freiwillig hergibt und diese auch dann noch umfangen hält, wenn sie auf 11 Jean Racine: Bajazet. Tragédie, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1: Théâtre – Poésie, hg. v. Georges Forestier, Paris 1999, S. 557-622, hier S. 562 (V. 27). „Osmin: […] So bleibt, so vielen Fleiß ich auch darauf verwandt/ Von dem, was dort geschehen, doch viel mir unbekannt.“ (Racine: Bajazet. Ein Trauerspiel, in: ders.: Racines Sämtliche dramatische Werke in vier Bänden, übers. v. Heinrich Welti, Bd. 3: Bajazet – Mithridate – Iphigenia, Stuttgart 1886, S. 3-68, hier S. 9.) 12 Pierre Corneille: Andromède, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 2, hg. v. Georges Couton, Paris 1989, S. 441-525, hier S. 475. 13 Racine: Bajazet. Tragédie, S. 609 (V. 1424f.). Vgl. Racine: Bajazet. Ein Trauerspiel, S. 54: „Acomat: Im Eingang des Palasts erwarten uns die Schaaren,/ Bewaffnet, kühn, getreu, wie sie uns immer waren./ Im übrigen vertraut Roxane meinem Wort./ Erzogen im Serail, kenn’ ich hier jeden Ort,/ Auch wo man Bajazet hat sich verweilen lassen./ Auf, zögern wir nicht mehr! und müssen wir erblassen,/ Wohlan, so sterben wir! Ich, wie ein Vezier fällt,/ Du Liebling Acomats, stirbt gleich mir als ein Held.“ 14 Ebd., S. 567 (V. 209). Vgl. Racine: Bajazet. Ein Trauerspiel, S. 14: „Acomat: […] durch einen dunklen Gang muss mich ein Sclave leiten.“ 15 Vgl. Wolfgang Matzat: Dramenstruktur und Zuschauerrolle. Theater in der französischen Klassik, München 1982, S. 164. 16 Racine: Bajazet. Tragédie, S. 574 (V. 436). Vgl. Racine: Bajazet. Ein Trauerspiel, S. 20f.: „Roxane: […] Die Häupter des Serails, der Stummen grosse Zahl,/ Das ganze Sklavenvolk schlägt sich zu meiner Wahl.“ 17 Ebd., S. 609 (V. 1420). Vgl. Racine: Bajazet. Ein Trauerspiel, S. 54: „Acomat: Ach, laß die Sclaven gehen,/ Die man hier aufzog, die nie den Krieg gesehen!“

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die Bühne treten. In der Iphigénie en Aulide ist das tenebrum Racines durch einen Waldgürtel realisiert, in dem sich die Ankömmlinge vor ihrem Auftritt verlieren: „Elle approche. Elle s’est quelque temps égarée/ Dans ces bois qui du camp semblent cacher l’entrée./ À peine nous avons, dans leur obscurité/ Retrouvé le chemin que nous avions quitté.“18 Deutlich wird hier gesagt, dass der Bühneneingang im Schatten der in der Tiefe gelegenen Wälder nicht zu finden ist: Er ist caché, verborgen. Auch die Eröffnungsszene der Phèdre evoziert einen dunklen Fond – neben den Wäldern Hippolytes sind es hier einerseits die Unterwelt, in der Theseus vermutet wird, andererseits das Labyrinth des Minotaurus, die in der Tiefe der Bühne liegen und in den Worten Gustav René Hockes den „Gegenpol alles Durchschaubaren“19 darstellen. Das cachement, die Verwahrung und das Versteck, ist der eigentliche Aufenthalt der dramatischen Figuren. Roland Barthes hat sie dieser Affinität zur Dunkelheit wegen als tenebrosi bezeichnet,20 als Geschöpfe der Finsternis, die sich dem Dunkel, das sie umfängt, nur widerwillig entreißen. ‚Tenebrosi‘ Damit ist der Abstand der Tragödie Racines zur Auftrittssphäre der repräsentativen Öffentlichkeit des Hofes ausgemessen.21 Anders als in der höfischen Festsphäre, die den Auftritt als einen Moment des splendor und der Distinktion begreift, werden nun Trübung und Schatten modulierend tätig. Racines tenebrosi widersetzen sich dem Auftritt und treten daher nur zögernd und verzögert in Erscheinung. Auf der Ebene der dramatischen Rede werden Auftritte inszeniert, in denen die artikulatorischen Funktionen der höfischen Entrées nur in höchst abgeschwächter Form zum Zuge kommen. Die performative Kraft des Auftritts verliert sich, wo der Grund der Figur vorangeht und szenische Gegenwart durchweg auf die profondeur bezogen bleibt. Mindestens auf der Mitteilungsebene verliert ihr Erscheinen unaufhörlich an Prägnanz. Dem triumphalen „Regardez-le mar18 Jean Racine: Iphigénie. Tragédie, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1: Théâtre – Poésie, hg. v. Georges Forestier, Paris 1999, S. 695-813, hier S. 713 (V. 342ff.). „Eurybate: […] Sie hat in jenem Wald den Weg etwas verfehlet,/ Da dessen Dunkelheit das Lager uns verhehlet,/ Und da ein finstres Schwarz den ganzen Hain bedeckt,/ So haben wir mit Müh’ den rechten Weg entdeckt.“ (Racine: Iphigenia. Ein Trauerspiel, in: ders.: Racines Sämtliche dramatische Werke in vier Bänden, übers. v. Heinrich Welti, Bd. 3: Bajazet – Mithridate – Iphigenia, Stuttgart 1886, S. 133-240, hier S. 151.) 19 Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst, Hamburg 1961, S. 7. 20 Vgl. Barthes: On Racine, S. 21. 21 Zur Auftrittsgestaltung bei Racine vgl. generell: David Maskell: Racine. A Theatrical Reading, Oxford 1991, S. 44-60.

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cher“22, das den Figuren Corneilles Auftrittsmacht bescheinigte, treten Racines Figuren beschädigt gegenüber. David Maskell spricht treffend von einer „inversion of majestic entrances“23. Den festlichen Ankündigungen des héros bei Corneille begegnet Racine mit Schwächemeldungen: „Elle porte au hasard ses pas irrésolus.“24 Auftritt in seinen Tragödien ist Pathos, unfreiwilliges Erscheinen in einer Welt, mit deren Gesetzen man sich nicht abfindet, auch wenn es keine Möglichkeit gibt, ihnen zu entgehen.25 Hans-Thies Lehmann verwendet den Begriff der „Décompletude“26, um diese Unvollständigkeit zu bezeichnen. In der Summe lassen sich somit bei Racine die Regeln eines anti-theatralen Auftrittsprotokolls erkennen, dessen Leitfrage nicht lautet: ‚Wie kann ich erstrahlen?‘, sondern: ‚Wo verberge ich mich?‘. Demgemäß hat man Racines Tragödien als Schwellendramen beschrieben, die ihre Figuren am Bühneneingang stocken und zögern und den Schritt ins Licht nur unfreiwillig setzen lassen.27 Zumeist ist bei ihrem Auftreten eine Form der Ergriffenheit zu beobachten, die deutlich macht, dass sie in unfreiwilliger, ihnen durch feindliche Kräfte zugemuteter Bewegung sind. Diese Auftritte sind in vielfältiger Weise mit Entführungen und Überwältigungen verbunden, mit äußerer Gewalt oder zerstörerischen Leidenschaften, die die Akteure gewissermaßen im Zustand des Raptus, d.h. der inneren oder äußeren Ergriffenheit, vor Augen stellen. Racine lässt die Trojanerin Andromaque in der gleichnamigen Tragödie erst im zweiten Akt in Erscheinung treten, mit dem Zögern und den inneren Verwundungen einer Entführten. Junie, die tenebrosa des Britannicus, ist ebenfalls geraubt und in den Palast Neros verbracht, wo sie nur mit großem Widerwillen ins Licht tritt. Monime in Mithridate wurde unter dem Zwang einer verhassten Allianzpolitik von der Heimat entfernt und gelangt unfreiwillig auf die Szene.28 Bérénice muss sich die Frage gefallen lassen: „Und

22 Pierre Corneille: L’illusion comique, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, hg. v. Georges Couton, Paris 1980, S. 612-688, hier S. 619 (V. 80). 23 Maskell: Racine, S. 48. 24 Jean Racine: Phèdre et Hippolyte. Tragédie, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1: Théâtre – Poésie, hg. v. Georges Forestier, Paris 1999, S. 814-904, hier S. 871 (V. 1475). „Panope: […] Sie schweift umher mit ungewissem Schritt,/ Ihr irrer Blick scheint uns nicht mehr zu kennen;/ Dreimal hat sie geschrieben, dreimal wieder/ Den Brief zerrissen, ihre Meinung ändernd.“ (Racine: Phädra. Trauerspiel, übers. v. Friedrich Schiller, in: Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 9: Übersetzungen und Bearbeitungen, hg. v. Heinz Gerd Ingenkamp, S. 613-673, hier S. 667 (V. 1595ff.).) 25 So das Argument in Lucien Goldmann: Der verborgene Gott. Studie über die tragische Weltanschauung in den Pensées Pascals und im Theater Racines, übers. v. Hermann Baum, Frankfurt a.M. 1985, hier das Kapitel: Die tragische Weltanschauung, S. 15-126. 26 Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, S. 334. 27 Vgl. die Einleitung zu Racevskis: Tragic Passages, S. 15-37. 28 Vgl. Matzat: Dramenstruktur und Zuschauerrolle, S. 141.

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ihr wollt ihm in solcher Verwirrung erscheinen?“29 Phèdre verstößt im Raptus einer frevelhaften Passion gegen das Dekorum einer auch auf der Bühne geltenden höfischen Ordnung.30 Unter diesen Vorzeichen wird dem Auftreten in dieser Sphäre eine große Bedeutung zugemessen: Gerade unter diesen ungünstigen Voraussetzungen wendet Racine der beschädigten Theatralität des Vorschreitens der Person besondere Aufmerksamkeit zu. Seine Tragödien belegen, dass auch im aristotelisch-dramatischen Handlungsuniversum Auftritten significance zukommt.31 An ihnen wird deutlich, in welchem Ausmaß tragisches Auftreten krisenhaft ist und wie prekär sich der Status der Sichtbarkeit in der tragischen Erscheinungswelt der Tragödie ausnimmt. Die Last des Knotens: Phèdres Auftritt Die Theatralität der Beschädigung zeigt sich besonders an Phèdre. An ihrer Person wird deutlich, dass tragische Krisen auch Krisen des Hervortretens im Fortschritt ihrer Bewegung mit sich bringen, in denen über Erscheinen oder Verschwinden einer Person erst entschieden wird. Bei ihrem Auftritt ist sie alles andere als da. Hin- und hergerissen zwischen Rückzugswunsch und Erscheinungszwang zögert sie an der Schwelle zur Bühne.32 Wie ihre Amme Œnone bemerkt, ist ihr éclat von vornherein durch profondeur verdunkelt. Phèdre bietet den Anblick einer lichtscheuen Tiefenbewohnerin, nicht der Königin von Athen, deren Anrechte auf eine große Entrée unbestreitbar sind. Bereits die Ankündigung erweitert das konventionelle „Elle vient“33 um ein Krisenbild: Zwar will sie das Licht sehen, doch hält sie der Schmerz in der Dunkelheit fest. Die Tiefe, aus der sie hervortritt, ist die Tiefe des Schmerzes, der „douleur profonde“: „Elle veut voir le jour. Et sa dou29 Jean Racine: Bérénice. Tragédie, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1: Théâtre – Poésie, hg. v. Georges Forestier, Paris 1999, S. 447-509, hier S. 489 (V. 957): „Mais voulez-vous paraître en ce désordre extrême?“ 30 Vgl. Erich Auerbach: Racine und die Leidenschaften, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, hg. v. Gustav Konrad, Bern 1967, S. 196-204, hier S. 200ff. Zur Rolle der Leidenschaften beim Auftritt vgl. Maskell: Racine, S. 48ff. 31 Treffend spricht Maskell: Racine, S. 44 von „significant entrances“. 32 Vgl. Racevskis: Tragic Passages, S. 15: „Time and again, Racine places his characters in positions of limbo, between the self and the other, between what is onstange and what is offstage, between existence and oblivion […]. Racine’s tragedies play out on thresholds.“ Racevskis betont allerdings das Moment des ‚becoming‘, während hier der Vorgang des ‚unshaping‘ im Vordergrund steht. Vgl. zur Entstrukturierung des Raums ebd., S. 165: Racevskis spricht dort von „intermediary spaces“. Vgl. auch Joseph Vogl: Die Kunst des Zauderns, 2. Aufl., Zürich 2008, S. 76ff. Hier wird eine Verbindung zwischen dem Akt des Zauderns und einer labyrinthischen Raumordnung hergestellt. 33 Racine: Phèdre et Hippolyte, S. 825 (V. 151).

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leur profonde/ M’ordonne toutefois d’écarter tout le monde …/ Elle vient.“34 Unentschieden zwischen Kommen und Gehen, Licht und Dunkelheit bleibt Phèdre hinter der Rampe zurück. PHEDRE: N’allons point plus avant. Demeurons, chère Œnone. Je ne soutiens plus. Ma force m’abandonne. Mes yeux sont éblouis du jour que je revois, Et mes genoux tremblants se dérobent sous moi. Hélas! Elle s’assied.35

Phèdres Auftrittsbewegung kommt damit an einer Stelle zum Stillstand, die ihr durch körperliche, aus ihrer Leidenschaft erwachsene Erschöpfung und nicht durch das höfische Auftrittsprotokoll zugewiesen wird. Ihre volle Realisierung scheitert an einem Mangel an Kraft – „Ma force m’abandonne“. Ihr Monolog beklagt die Abwesenheit aller Merkmale, die einen Auftritt als ein emphatisches Vorschreiten definieren. Zwischen In-Form-Setzung und Formentzug schwankend endet Phèdres Annäherung auf halber Strecke. Eine Regieanweisung, die mit den Forderungen des höfischen Anstands unvereinbar ist, lässt den Kraftverlust Phèdres anschaulich werden: „Elle s’assied“ – sie setzt sich. Protokollarisch bedeutet ihr Sich-Niedersetzen auf der Bühne den Kontrollverlust über den Körper und den Verstoß gegen die Regeln der Wohlanständigkeit (bienséance). Aus der energischen actio des Schwellenübertritts wird ein Akt der Selbstpreisgabe. Am Anfang der Tragödie steht der beschädigte Zeichenkörper einer Königin. An die Stelle der zeremoniellen Fassung treten tragische Exponierung und Bloßstellung. Die sprachliche Mitteilung unterstreicht das stumme Spiel des Körpers und die Defizite seines Erscheinens. Phèdres Auftrittsverse knüpfen eine mehrgliedrige Kette semantischer und grammatikalischer, in jedem Fall aber auftrittschwächender Verneinungen: Sie kann nicht weiter, sie muss verweilen, sie kann sich nicht halten, ihre Augen sind geblendet, ihre zitternden Knie sinken ein. Bereits Roland Barthes verweist auf die besondere Bedeutung des Wortes dérober36 im Wortschatz Racines, das den Auftritt, der im Idealfall ein Akt der symbolischen Einkleidung (Investitur) sein sollte, bei Phèdre zu einem Akt der Entblößung macht. Zuletzt lassen sich an diesem Auftritt die Vorzeichen eines tragischen Verlaufs ablesen, der die Figur endgültig in der profondeur verschwinden lässt. Er besitzt 34 Ebd. (V. 149ff.). „Sie will ins Freie, will die Sonne schauen,/ Doch keinem Zeugen will ihr Schmerz begegnen. – Sie kommt!“ (Racine: Phädra, S. 619 [V. 163ff.].) 35 Ebd., S. 826 (V. 153ff.). „Gehn wir nicht weiter, ruhn wir hier, Oenone,/ Ich halte mich nicht mehr, die Kräfte schwinden,/ Mich schmerzt des Tages ungewohnter Glanz,/ Und meine Knie zittern unter mir./ Ach! Sie setzt sich.“ (Racine: Phädra, S. 620 [V. 167ff.].) 36 Vgl. Barthes: On Racine, S. 15. Vgl. auch den Auftrittsvers der Bérénice, die sich selbst im Moment ihres Erscheinens als eine derobée bezeichnet: „Enfin je me dérobe à la joie importune/ De tant d’Amis nouveaux, que me fait la Fortune[.]“ Racine: Bérénice, S. 460 (V. 135f.).

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nicht zuletzt eine emblematische Dimension. Seine Paradoxie besteht darin, dass bereits die Ornamente, die Phèdre schmücken, auf das tragische Ende vorausweisen. PHEDRE: Que ces vains ornements, que ces voiles me pèsent! Quelle importune main, en formant tous ces nœuds, A pris soin sur mon front d’assembler mes cheveux? Tout m’afflige, et me nuit, et conspire à me nuire.37

Zeichenhaft deutet sich gleich in Phèdres Knotenfrisur die ausweglose Lage an, die sich mit ihrem Auftreten aufbaut.38 In der kunstvollen Flechtung ihrer Haare knüpft sich auch der dramatische Knoten, der sie in eine unauflösbare und undurchschaubare Situation verwickelt. Nœud, einer der poetologischen Schlüsselbegriffe der doctrine classique, bezeichnet den planvollen Aufbau von Hindernissen auf dem Weg zur Erfüllung menschlicher Wünsche wie zugleich die kunstvolle Verstrickung einer Person in ein ihrer Durchsicht entzogenes Handlungsgeflecht.39 Im Auftritt Phèdres wird der tragische Verlauf in einer komplexen Schmuckmetapher vorweggenommen und die niederziehende Schwere des Knotens gegen die Souveränität der Erscheinung aufgeboten. Mit der Beugung ihres Rückgrats schwindet die überzeugende theatrale Form, die an die Aufrichtung des Körpers gebunden ist. Bereits an dieser Stelle zeigt sich das tragische Potential, das dem menschlichen Erscheinungsbegehren innewohnt, und bereitet sich die Verstrickung vor, die die Tragödie für Phèdre bereit hält. Ihr Auftritt ist sowohl Glanz wie „erlittene“ und künftig zu erleidende „Macht“40. Bereits im Auftritt kündigen sich Zustände der „incertitude, la curiosité, l’impatience, l’inquiétude“41 an, die auch in der französischen Doktrin mit dem tragischen Knoten verbunden werden und Unglück vorhersagen.

37 Racine: Phèdre et Hippolyte, S. 826 (V. 158ff.). „PHÄDRA: Wie diese schweren Hüllen auf mir lasten,/ Der eitle Prunk! Welch ungebetne Hand/ Hat diese Zöpfe künstlich mir geflochten,/ Mit undankbarer Mühe mir das Haar/ Um meine Stirn geordnet? Muß sich alles/ Verschwören, mich zu kränken, mich zu quälen?“ (Racine: Phädra, S. 620 (V. 173ff.)) 38 Vgl. Juliane Vogel: Verstrickungskünste. Lösungskünste. Zur Geschichte des dramatischen Knotens, in: Poetica 40 (2008), S. 269-288; Timothy M. Scanlan: Racine‘s „Bajazet“. „Noeuds“ and „Denouement“, in: South Atlantic Bulletin 42/4 (1977), S. 13-20. 39 Vgl. Jacques Scherer: La Dramaturgie classique en France, Paris 1959, S. 62-91. 40 Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, S. 63. 41 Jean-François Marmontel: Elements de littérature, Paris 1892, Bd. 2, Kap. Intrigue. S. 298ff. Zit. nach Scherer: La Dramaturgie classique en France, S. 62, Anm. 2.

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Das Monster in der Kammer Die Dunkelheit der Szene und die Unschärfe der Auftrittsbilder hängen auch damit zusammen, dass sich die Sonne des Fürsten von der Bühne der Tragödie zurückgezogen hat. Die zentrale Inversion der solaren höfischen Bühnenanordnung besteht darin, die Präsenz des Fürsten, der durch sein Entrée den Auftrittsrahmen auch für alle anderen Subjekte festgelegt hatte, in Abwesenheit zu verwandeln. Dem lichtspendenden Prunkauftritt des Souveräns steht der Rückzug des Lichts in der Tragödie entgegen.42 Diese Abwesenheit ist in der Forschung viel kommentiert worden. Sie ist theologisch-soziologisch von Lucien Goldmann und politisch von Roland Barthes gelesen worden, dessen Beobachtungen es rechtfertigen, dem dieu caché der jansenistischen Tragödie den roi caché43 der politischen Tragödie an die Seite zu stellen.44 Beide Lektüren erlauben jedoch die Schlussfolgerung, dass das Arkane gegenüber dem Spektakulären die Überhand gewinnt und die Bühne unter dem wachsenden Druck der Geheimbereiche ihre Funktion als Sphäre der Sichtbarkeit einzubüßen beginnt. Anstatt mit solaren Lichtstärken im höfischen Erscheinungsraum wirkt Herrschaft nun aus dem Hintergrund, aus einem außerrechtlichen, den Augen der Zuschauer entzogenen Bereich heraus, von dem aus das, was auf der Bühne vor sich geht, überwacht und bestraft werden kann. Ihr Ort ist erneut die profondeur – mit Roland Barthes nun aber die Tiefe einer chambre, in der ein monströses Wesen mit despotischen Zügen sein Unwesen treibt und mit allen Kräften darauf hinwirkt, die Akteure, die sich ans Licht wagen, in seinen Bannkreis hineinzuziehen. Ins Licht zu treten, bedeutet nicht, im Glanz zu erscheinen, sondern ausgesetzt, in der Falle zu sein.45 Die Bühne Racines ist kein Schauraum, sondern eine „blind alley“46 – ein fensterloser Korridor, in dem sich die Akteure vergeblich zu behaupten versuchen, bevor sie vom Schrecken der Kammer eingeholt werden. Der Nero des Britannicus, 42 Nur kurz kann an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass Thesée, der eigentliche König von Athen, gegenüber den übermächtigen Hintergrundgöttern keine Auftrittsmacht besitzt. Der König, der auftritt, ist keiner. Vgl. Leo Spitzer: The ‚Récit de Théramène‘, in: ders.: Linguistics and Literary History. Essays in Stylistics, New York 1962, S. 87-134, hier S. 93. 43 Vgl. Annette Kappeler: L’Œil du Prince. Auftrittsformen in der Oper des Ancien Régime, Paderborn 2016, S. 94ff. 44 Scherer: Racine, S. 138 macht darauf aufmerksam, dass Neron und Neptune dieselbe monströse Struktur besitzen: „Le Dieu de Phèdre se conduit comme Néron. Comme Néron, il est un monstre […].“ Er verweist hier auf Michel Butor: Racine et les Dieux, in: ders.: Répertoire I: Études et conférences, 1948-1959, Paris 1960, S. 28-60, hier S. 29. Für beide gilt: „un chaos qui se prétend ordre“ (Scherer: Racine, S. 138). Auch Spitzer: The ‚Récit de Théramène‘, S. 90 konstatiert das Chaospotential der in Neptun bezeichneten Hintergrundgewalt. 45 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1994, S. 279. 46 Barthes: On Racine, S. 4.

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der Neptun der Phèdre, der Amurat in Bajazet, aber auch Mithridate, der Tite in Bérénice und Athalie tragen solche, von den politischen Denkern dem Despotismus zugeschriebene Züge eines aus unsichtbarer Tiefe zugreifenden roi caché. Für Montesquieu wird es zu den Merkmalen des Despoten gehören, dass er sich seinen Untertanen nicht zeigt.47 So tritt in Racines Tragödie der bühnenmächtige Souverän in die Gestaltlosigkeit zurück und lässt gleichzeitig den Schauplatz verwaisen, dem er Licht und Leben geben sollte. Die Backstage der chambre wird damit zu einem Ort mörderischer Aktivität. In den Geheimbereichen der hinteren Bühne, der Kabinette, der Meere oder der Unterwelt entfesselt Racine eine depersonalisierte und unkenntlich gewordene Gewalt, die, selber ohne Gestalt, auch dem Erscheinungsbegehren der dramatischen Personen tödliche Grenzen zieht. Phèdres Auftritt kann als stellvertretend für die generelle Gefährung der Figur vor despotischem Hintergrund angesehen werden. Demnach ist Racines profondeur nicht passives Hinterland, sondern ein aktives Kräftefeld, das die gewalttätige Kehrseite der höfischen Repräsentationsformen offenlegt. Der zum éclat gesteigerten Präsenz der entrée royale stehen die in Auftrittsformen nicht mehr symbolisierbaren Ausbrüche despotischer Gewalt gegenüber. Ihre allegorische Zuspitzung erfährt die Macht der chambre in der Figur des Sklaven Orcan, der in der Backstage der Tragödie Bajazet mörderisch tätig ist. Als Abgesandter, Handlanger und Sklave des Sultans Amurat dringt er ebenso wenig wie sein Auftraggeber, dessen Abspaltung er ist, zum Proszenium vor. Das Massaker, das er im Serail anrichtet, findet im Unsichtbaren statt: „[He] kills by being invisible“48. Sein Name ist dabei in doppelter Weise sprechend. Einerseits enthält er den Begriff des Arkanums, der ihn der verborgenen Sphäre der Staatsraison zuschlägt, in der der Herrscher legibus solutus – d.h. ohne gesetzliche Bindung – handelt, andererseits verweist er auf eine elementare zerstörerische Energie, die dieses arkane Handeln kennzeichnet. In seiner zweiten Bedeutung signalisiert der Name Orcan Sturm: die stürmische Vernichtung aller Gegner des Sultans in den Tiefen des Serails – und ebenso die stürmische Wiederherstellung der pouvoir absolu, die der Sultan durch die Machenschaften der Serailbewohner gefährdet sieht. Orcan ist sowohl die gesichtslose Personifikation arkaner Gewalt als auch Träger einer ikonoklastischen Kraft. Endgültig seine schwarze Haut verschlägt ihn auf die Seite der Backstage und macht ihn von der Dunkelheit ununterscheidbar, in der er mordet. Die Gewalt der Backstage, die in Bajazet auf das hintere Serail beschränkt bleibt, rückt jedoch in Phèdre ein Stück weit auf die Szene vor. Die in der Tragö47 Vgl. Charles Luis de Secondat de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. In neuer Übertragung eingeleitet von Ernst Fortshoff, Bd. 1, Tübingen 1951, S. 86. 48 Barthes: On Racine, S. 4.

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die aufgestaute Hintergrundgewalt entlädt sich hier in einem Auftrittsereignis, das die Trennung der Sphären von on- und offstage zwar nicht einreißt, aber doch so weit gefährdet, dass seine Gewalt die gesamte Bühnenanordnung bedroht. Während der Sklave Orcan gestaltlos bleibt und nur in den Grenzen des Serails wütet, zeigt sich die despotische Gewalt, die in der chambre des späteren Stückes herrscht, in spektakulärer Gestalt. Ihren Höhepunkt erreicht die Tragödie im Auftritt eines Monsters. Von Hippolytes Vertrautem Théramène erfahren wir von der spektakulären Strandung eines Ungeheuers, das auf Befehl Neptuns aus der Tiefe des Meeres an Land kommt, um den von Phèdre vor seinem Vater Thesée verleumdeten Hippolyte zu töten, genauer: seine Pferde so zu entfesseln, dass sie ihren Lenker zu Tode schleifen. In ihm werden die Kräfte eines Hintergrundgottes sichtbar, der in der römischen wie in der griechischen Mythologie für Zügelung und Entzügelung von Pferden zuständig war und nun aus der Verborgenheit der chambre heraus auf den Strand der Erscheinungen vorrückt: Neptun.49 Théramène berichtet vom Hervorbrechen eines aus dem „fond des flots“ – aus dem Grund des Meeres – aufsteigenden stierartigen Wesens. In mythologischer Verdichtung tritt ein Ungeheuerliches zutage, das sich zuvor in der Tiefe der Tragödie und im Herzen der Akteure versteckt hielt. Dem Zeremoniell des höfischen Entrées antwortet ein brutalisiertes und regelloses Geschehen, das die Fundamente des höfischen Zeichenraums erschüttert und dem spektakulären Auftritt des Fürsten einen Einbruch elementarer Gewalt entgegensetzt. Schwall, Erbrechen und gewaltsame Geburt lassen den Hintergrund in einer monströsen Figur nach vorne fluten: „L’onde approche, se brise, et vomit à nos yeux.“ Un effroyable cri sorti du fond des flots Des airs en ce moment a troublé le repos. Et du sein de la terre une voix formidable Répond en gémissant à ce cri redoutable. Jusqu’au fond de nos cœurs notre sang s’est glacé. Des coursiers attentifs le crin s’est hérissé. Cependant sur le dos de la plaine liquide S’élève à gros bouillions une montagne humide. L’onde approche, se brise, et vomit à nos yeux Parmi des flots d’écume un Monstre furieux. Son front large est armé de cornes menaçantes. Tout son corps est couvert d’écailles jaunissantes. Indomptable Taureau, Dragon impétueux, Sa croupe se recourbe en replis tortueux. Ses longs mugissements font trembler le rivage. Le ciel avec horreur voit ce Monstre sauvage, La terre s’en émeut, l’air en est infecté, Le flot, qui l’apporta, recule épouvanté. 49 Vgl. Spitzer: The ‚Récit de Théramène‘, S. 95ff. Vgl. auch das folgende Kapitel.

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Tout fuit, et sans s’armer d’un courage inutile Dans le temple voisin chacun cherche un asile.50

Seine paradoxe Form gewinnt das Monster dadurch, dass es seiner Ungestalt zum Trotz gleichwohl mit éclat in Erscheinung tritt. Auch in ihrer Verkehrung und Entgrenzung bleiben Racines Auftritte auf höfische Auftrittsformen bezogen.51 Noch das Hervorbrechen nackter Gewalt aus dem Meer zeugt von einer Majestät, die – wenngleich in pervertierter Form – alle Merkmale eines Herrscherentrées aufruft. Am Ende kehrt der Prunkauftritt, dem sich Racines Tragödie entgegensetzte, in drastisch entstellter Form zurück. Den schwachen Personenbildern einer sich auflösenden Hofgesellschaft hält er die luxuriösen Details des Ungeheuerlichen entgegen. Auftrittskraft und Gestalt, Bild und Bewegung finden in einem spektakulären Auftrittsentwurf zusammen, dessen Wucht nun alles übersteigt, was andere Szenen der Tragödie in dieser Hinsicht zu bieten haben. Die Formlosigkeit des Monströsen wird dabei in so überzeugende Form gebracht, dass demgegenüber die ‚Menschenfassungen‘ der höfischen Welt verblassen. Während diese stets im Schatten einer profondeur verbleiben, die sie auch im Hervortreten gefangen hält, tritt einzig das Monster ganz heraus: Triumphale Gegenwart erlangt es, weil sich ausschließlich hier der Grund von der Figur zurückzieht. Der Vers: „le flot, qui l’apporta, recule épouvanté“52, zeichnet nicht nur ein Bild gesteigerten Schreckens, er macht auch deutlich, dass im tragischen Raum nur das Ungeheuerliche volle Plastizität und Deutlichkeit des Auftritts für sich beanspruchen kann. Die force, die Phèdre bei ihrem Auftritt verlassen hatte („la force m’abandonne“), kehrt nur an dieser Stelle mit voller Wucht zurück. Zuletzt verkehren sich auch die leben- und formspendenden Wirkungen des Herrscherauftritts. Denn während die triumphierende Sonne des Souveräns ihren Trabanten Form und Farbe verlieh, wie es in Benserades Ballet Royal de la Nuit von 1653 hieß,53 50 Racine: Phèdre et Hippolyte, S. 872f. (V. 1507ff.). Hervorhebung J.V. Vgl. Schiller: Phädra, S. 668 (V. 1633ff.): „Theramen: […] Plötzlich zerriß ein schreckenvoller Schrei,/ Der aus dem Meer aufstieg, der Lüfte Stille,/ Und schwer aufseufzend aus der Erde Schoß/ Antwortet eine fürchterliche Stimme/ Dem grausenvollen Schrei. Es trat uns allen/ Eiskalt bis an das Herz hinan, aufhorchten/ Die Rosse, und es sträubt‘ sich ihre Mähne./ Indem erhebt sich aus der flüßgen Ebne/ Mit großem Wallen hoch ein Wasserberg,/ Die Woge naht sich, öffnet sich und speit/ Vor unsren Augen, unter Fluten Schaums,/ Ein wütend Untier aus. Furchtbare Hörner/ Bewaffnet seine breite Stirne, ganz/ Bedeckt mit gelben Schuppen ist sein Leib,/ Ein grimmger Stier, ein wilder Drache ists,/ In Schlangenwindungen krümmt sich sein Rücken./ Sein hohles Brüllen macht das Ufer zittern,/ Das Scheusal sieht der Himmel mit Entsetzen,/ Auf bebt die Erde, weit verpestet ist/ Von seinem Hauch die Luft, die Woge selbst,/ Die es heran trug, springt zurück mit Grausen./ Alles entflieht, und sucht, weil Gegenwehr/ Umsonst, im nächsten Tempel sich zu retten.“ 51 Vgl. Maskell: Racine, S. 170ff. 52 Zur Diskussion um die Rhetorizität dieses Verses vgl. Spitzer: The ‚Récit de Théramène‘, S. 115. 53 Vgl. Isaac de Benserade: Ballet Royal de la Nuit. Divisé en quatre Parties, ou quatre Veilles. Et dansé par sa Majesté le 23 février 1653, Paris 1653, S. 66. Vgl. dazu das Einleitungskapitel zu diesem Teil der Arbeit (I).

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werden diese nun durch das Monster entzogen: „Hippolyte étendu, sans forme et sans couleur“54, lautet die Antwort Neptuns auf das Sonnentheater des Hofes, das beanspruchte, die Menschen durch die Gabe des Lichts in Form zu setzen. Zugleich bleibt erkennbar, dass diesem Auftritt seine Stärke nur im Medium eines Botenberichts verliehen wird, der uns hinter die Kulissen blicken lässt, die Szene selbst aber verweigert. Die Strandung des Monsters vollzieht sich in den Raumschranken der Backstage. Die Evidenz, die sein Auftritt in der Darstellung des Théramène erlangt, verdankt sich der anschaulichen Rede, die uns ein abwesendes Auftrittsereignis als gegenwärtig vorstellt, seine Gewalt der Gedankenfigur der energeia, die die Darstellung des Abwesenden mit Kraft ausstattet.55 Vordergründig mag hier die durch Horaz kanonisierte Gräuelregel greifen, die es verbietet, das Grässliche in der Tragödie ad oculos zu zeigen.56 Andererseits aber ist es die artikulierte Sprache des Botenberichts selbst, die die force des Hervorkommens überhaupt erst mobilisiert. Nur die sprachliche Evokation ermöglicht sowohl die Einhegung wie die Entfesselung des Schrecklichen. Nur ihr gelingt es, den entfernten Schrecken zu vergegenwärtigen, das Vergegenwärtigte zu mildern, eine wilde Energie freizusetzen und zugleich den Bericht einer Atrozität zu einem rhetorischen Prachtobjekt zu stilisieren, das mit den Forderungen der bienséance vereinbar ist. Die Auftrittsenergien kommen demnach zur Sprache, zeigen können sie sich allerdings nur im Rahmen eines strengen sprachlichen Regelwerks. Der Verfall höfischer Auftrittsformen vollzieht sich innerhalb der Grenzen der klassischen Doktrin.57 Nur die hohe Stabilität der klassisch ausgeprägten dramatischen Form erlaubt es, die Ungestalten der profondeur heraufzubeschwören und zugleich zu kontrollieren. Den Formverlust zu zeigen, den die höfische Person erleidet, wie die monströs hypertrophe Form unsichtbarer Gewalt zu evozieren – beides setzt die mustergültige Befolgung der poetischen Regeln voraus. Das Gesetz der drei Einheiten und die Szenenfolge sind beispielhaft gewahrt. Die Exklusions- und Kennzeichnungsmechanismen der höfischen Welt greifen auf alle Personen gleichermaßen zu. Racines Tragödien zeigen, dass die höfische Szene nicht der symbolisch durchkonstruierte Raum ist, den das Zeremoniell vorgibt und mit jeder Handlung aufrechtzuerhalten versucht. Und auch wenn sie sich als eine trübe Sphäre ungehemmter Leidenschaften und undurchdringlicher obstacles darstellt, so bleibt doch ihr formales Gerüst bestehen. Gehalten vom sprachlichen Käfig der doctrine classique kann das Chaos entbunden werden und zugleich selbst zum Auftritt kommen.

54 Racine: Phèdre et Hippolyte, S. 874 (V. 1579). „Hippolyt/ […] Dahin gestreckt, gestaltlos, ohne Leben“ (Racine: Phädra, S. 670 [V. 1715ff.]). 55 Spitzer: The ‚Récit de Théramène‘, S. 107 spricht von einer „secondary visualization“. 56 Vgl. Scherer: La Dramaturgie classique, S. 418. 57 Vgl. Spitzer: The ‚Récit de Théramène‘, S. 88.

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Abb. 5: Charles Le Brun, Tod des Hippolyte, Phèdre, Akt V, Frontispiz (1678).

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3. Tragische Perspektiven: Die Bühne der Galli Bibiena

Magnifizenz und Verrätselung Das tragische Schema Racines, das den Souverän nicht mehr auftreten ließ, sondern in die Tiefe einer chambre einschloss, wirkt langfristig auch auf die Konstruktion der höfischen Perspektivbühne zurück. Als die gesprochene Tragödie Racine’scher Prägung weiter in die Oper vordringt und die tragischen Gegenkräfte den Vorrang des Maschinenspektakels gefährden, verrätselt sich auch der höfische Erscheinungsraum, der auf perspicuitas angelegt war. Im Anschluss daran lassen sich Kompromissbildungen beobachten, die sowohl dem Pomp majestätischer wie auch der profondeur despotischer Machtarchitekturen Rechnung tragen. Die Bühnenprospekte des späten 17. wie des 18. Jahrhunderts kommen der ambivalenten Struktur tragischer Erscheinungen insofern entgegen, als sie Räume des Erscheinens wie des Verschwindens zugleich eröffnen. Sie zeigen Veränderungen, die den ehemals transparenten perspektivischen Raum in einen intransparenten transformieren und das tragische Prädikat der Undurchschaubarkeit auf die virtuelle Architektur des Bühnenprospekts übertragen. Der Wandel, von dem die Rede ist, soll hier am Beispiel der italienischen Künstlerfamilie Galli Bibiena dargestellt werden, deren Mitglieder seit dem späten 17. und bis weit ins 18. Jahrhundert hinein an den europäischen Höfen – darunter Wien, Innsbruck, Berlin, Dresden und Paris – erfolgreich waren. Ihre Bedeutung liegt dabei weniger in der Originalität1 als vielmehr in der Durchsetzungsfähigkeit der mit ihrem Namen verbundenen Raummodelle. Sie gründet sich insbesondere auf die Standardisierung weniger, doch markanter szenografischer Typen, die bereits von den großen Bühneningenieuren des 17. Jahrhunderts vorgeprägt worden waren, doch erst im Folgejahrhundert zu voller Wirksamkeit gelangten. Jüngere Forschungen weisen darauf hin, dass sich bereits die Prospekte Torellis, Berains u.a. zu verzerren, zu dehnen, zu verengen und zu entstellen begannen, sodass von der „justesse“2 der Perspektive auch hier immer nur eingeschränkt die Rede sein kann. Insbesondere der Stammvater der Dynastie, der Theateringenieur Ferdinando Galli Bibiena (1656-1743), und sein Sohn, der in Preußen und Sachsen tätige 1 2

Vgl. Norbert Miller: Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi, München 1994, S. 39. Ulrike Haß: Vom Wahnsinn des Sehens in geschlossenen Räumen. Raumdebatten und Szenografie im 17. Jahrhundert, in: Barocktheater als Spektakel, hg. v. Nicola Gess, Tina Hartmann u. Dominika Hens, Basel 2015, S. 139-163, hier S. 145ff.; Bettine Menke: Was das Spektakel möglich macht: Theater-Maschinen, in: Archäologie der Spezialeffekte, hg. v. Nicola Gess u.a., München 2017 (Druck in Vorbereitung).

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Giuseppe Galli Bibiena (1696-1757), trugen zu einer nachhaltigen Umstrukturierung der höfischen Perspektivbühne und damit auch der auf ihr geltenden Auftrittsprotokolle bei. In seiner 1711 erschienenen Schrift  L’architettura civile: preparata sú la geometria, e ridotta alle prospettive: considerazioni pratiche entwickelte Ferdinando Galli Bibiena eine Anzahl sogenannter ‚Operationen‘, die das Prinzip der perspektivischen perspicuitas verabschiedeten und auf eine Schließung der finestra aperta abzielten, die sich auf der regulären Perspektivbühne geöffnet hatte. Auch wenn sich seine Erfindungen weiterhin streng innerhalb der perspektivischen Rahmenordnung bewegten, deren mathematische Prämissen sie nicht in Frage stellten, verwandeln sie den vormals durchschaubaren Raum in einen undurchschaubaren. An die Stelle der klar gefluchteten Erscheinungswelt der Perspektivbühne lassen sie architektonische Rätselstrukturen treten, die die Illusion der Raumöffnung und damit die Möglichkeit des Auftritts auch in der Virtualität des Prospekts einschränken. Ergebnis ist eine „räumliche Uneindeutigkeit“3, die auch den Bühnenverkehr erschwerte. Klar bezeichnete Auftrittsstellen verschwinden, während sich vormals offenliegende Raumachsen in labyrinthischen Bauwelten verlieren. ‚Scena per angolo‘ Schematisch zugespitzt können in Galli Bibienas Zugriff zwei komplementäre Operationen unterschieden werden, die Ankunft und Auftritt zumindest vom Prospekt her unwahrscheinlich werden lassen. Die erste besteht in der Überdehnung der Blickachse.4 Hier wird der Fluchtpunkt so weit in die virtuelle Tiefe des Prospekts zurückverlegt, dass Öffnung von Schließung nicht mehr exakt zu unterscheiden ist und der Auftritt, der in der Raumfluchtung der Zentralperspektive nahe bevorzustehen schien, kaum noch wahrscheinlich ist (siehe Abb. 6). Die festliche Raumouvertüre des perspektivischen Prospekts als möglicher Auftrittsort solarer Souveränität rückt in eine unkenntliche Ferne. In den Entwürfen der Galli Bibienas mystifiziert sich die Raumtiefe und wird zu einer verdeckten Räumlichkeit. Die zweite und bekanntere Operation ist die Abwinkelung der Bühnenfront, die unter dem Namen der scena per angolo zum Erkennungszeichen der BibienaBühne wird. „Galli-Bibienas Diagonal- bzw. Winkelperspektive stellt die Hauptachse des Bühnenbildes in einen Winkel von 45 Grad quer zur Sichtachse des 3 4

Claudia Müller: Ferdinando Galli Bibienas „Scene di nuova invenzione“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 49 (1986), S. 356-375, hier S. 369. Dieser Kunstgriff wurde bereits von Torelli verwendet. Vgl. Ulrike Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 350 zur Struktur der Unaufhörlichkeit seiner Bühnenentwürfe. Vgl. außerdem dies.: Vom Wahnsinn des Sehens, S. 146.

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Abb. 6: Giuseppe Galli Bibiena, Scena Della Festa Teatrale, o.D.

Zuschauerraums.“5 Sie verlangt eine Drehung der Bühnenfront und eine Verdoppelung des Fluchtpunkts. Ihr verwirrender Effekt resultiert aus einer Spaltung der zentralen Sichtachse und der seitlichen Ablenkung des Blicks.6 Die scena per angolo weist den Blick des Betrachters zurück. Der geordnete Aufriss der höfischen Welt verwandelt sich in ein System von Raumfluchten, das vom Augen5 6

Annette Kappeler: L’Œil du Prince. Auftrittsformen in der Oper des Ancien Régime, Paderborn 2016, S. 105; vgl. hier generell zur scena per angolo, S. 104-108. Vgl. Eckhard Pabst: Eintrag: Scena per angolo, in: Lexikon der Filmbegriffe (elektronische Ausgabe der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel: „Dabei handelt es sich um eine schräg einzusehende Raumkomposition, die ausgehend von einer vorgezogenen Gebäudeecke über zwei Fluchtpunkte entwickelt wurde und sich in diagonaler Richtung scheinbar zu weitesten Raumfolgen hin öffnete. […] Die doppelte perspektivische Ausrichtung gestattete es dem Betrachter nicht, den Raum abzuschließen, er schien sich endlos fortzusetzen. URL: http://filmlexikon. uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=5577, Stand 17.01.2017). Vgl. auch Müller: Ferdinando Galli Bibienas „Scene di nuova invenzione“, hier S. 358: Die Bibiena-Entwürfe als „polyfokale, aber noch frontalansichtige und symmetrische Raumbilder (mit mehreren Tiefenachsen) und asymmetrische Axialräume (mit exzentrischem Augenpunkt) stellen eine durchgängige Blick- und Tiefenachse beider Realitätsbereiche zunehmend infrage“. Vgl. ferner Miller: Archäologie des Traums, S. 36: Miller bezeichnet die scena per angolo als den „Trick einer Eckstellung, um durch die von rechts und links diagonal zu einem Schnittpunkt nach hinten verlaufenden Mauern oder Säulenanordnungen einen kleineren Raum aus dem PalastGanzen auszuschneiden“.

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punkt her weder zu überblicken noch zu beherrschen ist. Geschaffen wird eine undurchdringliche Bühnensituation, die den principe dei razzi – den fürstlichen Sehstrahl – zur Seite und ins Unbestimmte lenkt.7 Wenn die Zentralperspektive dem Betrachter das uneingeschränkte Recht der ‚Durchsehung‘ verlieh, blockiert die Winkelbühne jede Durchsicht. Norbert Miller, der eine direkte Verbindung zwischen den Galli Bibiena und den Raumkonstruktionen Piranesis herstellt, spricht von einer „gewalttätige[n] Aufhebung der Souveränität des Betrachters“8. Was wir zu sehen bekommen, sind keine Ankunftsräume, deren Akteure sich das Publikum adressierend nach vorne wenden, sondern „zufällige, fragmentarische Ausschnitte einer eigengesetzlichen Welt“9. Ohne erkennbares Ziel verwirren sie den Betrachter ebenso wie jene, die vor diesen Prospekten in Erscheinung traten.10 Die Diagonalstellung der Grundlinie lässt einen autonomen Bildbereich entstehen, der dem Blick keinen Einlass gewährt und die Einheit vernichtet, die den Zuschauerraum und die Bühne zusammengeschlossen hatte.11 Die scena per angolo bedeutet den Verlust des Augenpunkts. Diese Anordnung der scena per angolo zielt darauf ab, den großen Auftritt zu suspendieren, auf den sich das Theater der Souveränität hin ausrichtet. Sie verbirgt die Stelle des Sonnenaufgangs, die mit der virtuellen Auftrittsstelle des Fürsten identisch ist. An die Stelle des solaren tritt auch hier ein negatives Auftrittsprotokoll, das sein Ausbleiben oder seine Verborgenheit vorschreibt und die triumphale Erwartung des Fürsten in die Angst vor einer unbestimmten Bedrohung verwandelt. Die Bibiena-Bühne setzt die minotaurische Entzogenheit des Fürstenkörpers voraus. Durch die Schließung der via regia und die Schrägstellung des Grundrisses löst sie die Verbindung zwischen Macht und Sichtbarkeit auf, die die symbolpolitische Grundlage absolutistischer Repräsentation bildet. Reggien Das Vordringen tragischer profondeur auf die Festbühne zeigt sich in der Bevorzugung bestimmter Raumtypen. Auf der Bibiena-Bühne herrschen prächtige Innenräume hermetischen Charakters gegenüber offenen Schauplätzen vor. 7 8

Vgl. Kapitel I,1 zur Perspektive als Verkehrseinheit. Miller: Archäologie des Traums, S. 39. Vgl. auch Müller: Ferdinando Galli Bibienas „Scene di nuova invenzione“, S. 367. 9 Miller: Archäologie des Traums, S. 359. 10 Vgl. ebd., S. 39. 11 Vgl. ebd., S. 367. Zur Vorgeschichte der scena per angolo bei Servanoni vgl. Thomas E. Lawrenson: The French Stage and the Playhouse in the XVIIth Century. A Study in the Advent of the Italian Order, 2. Aufl, New York 1986, S. 200.

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Wenngleich sich auch weiterhin Garten-, Kriegs- und Seelandschaften unter ihren Prospekten finden, dominieren doch die Interieurs, die auf die gesprochene Tragödie zurückverweisen. Die scena per angolo begünstigt die Konstruktion von Palastarchitekturen, die sich den Raummodellen Racines annähern. Die Typen der Reggia,12 der Salle magnifique und des Atriums variieren und steigern die konventionelle Schauplatzanweisung ‚palace à volonté‘, die der gesprochenen Tragödie entstammt, und übernehmen ihre Konnotationen.13 Als Reggia wird eine Palastanlage bezeichnet, die trotz der Großartigkeit ihrer Anlage von denselben Paradoxien des Zeigens und Verbergens bestimmt ist, die auch bei Racine beobachtet werden können.14 Dient sie vordergründig der Steigerung absolutistischer Magnifizenz,15 erscheint sie doch zugleich als ein dunkler und unzugänglicher Schauplatz. Ungeachtet ihrer Pracht werden die Paläste der Galli Bibiena zu luoghi lugubri – düsteren Orten16 – und damit als Räumlichkeiten vorgestellt, die strukturelle Ähnlichkeiten mit Gefängnisund Kerkerräumen aufweisen.17 Der Eindruck der Unbestimmtheit lässt sich auch darauf zurückführen, dass eine Unterscheidung zwischen den Repräsentationsräumen spektakulärer Macht und geheimen Vollzugsräumen despotischer Gewalt nicht mit Sicherheit zu treffen ist. Figuren werden hier wie schon bei Racine zu Gefangenen, die sich vor einem furchterregenden Fond bewegen.18 In der BibienaBühne realisiert sich damit ein Raumprogramm, das nach Edmund Burkes 1757 erschienener Schrift A Philosophical Enquiry into our Ideas of the Sublime and the Beautiful durch den Präsenzentzug des Machthabers Furcht erregen wollte. „Those despotic governments, which are founded on the passions of men, and principally 12 Zur steigenden Bedeutung der Reggia in der Bühnenproduktion der Galli Bibiena vgl. Oswald Georg Bauer: „Ihre Ideen waren der Würde der Herrscher ebenbürtig, und nur die Macht der Herrscher konnte ihren Ideen Gestalt geben.“ Zur Typologie des Bühnenbildes der Galli Bibiena, in: Paradies des Rokoko II. Galli Bibiena und der Musenhof der Wilhelmine von Bayreuth, hg. v. Peter O. Krückmann, München/New York 1998, S. 104-115, hier S. 105. 13 Vgl. David Maskell: Racine. A Theatrical Reading, Oxford 1991, S. 12ff. 14 Vgl. Laurent Mahelot: Le Mémoire de Mahelot, Laurent, et d’autres décorateurs de l’Hôtel de Bourgogne et de la Comédie Française au XVIIe siècle, hg. v. Henry Carrington, Paris 1920, S. 26ff. Ethel Matala de Mazza zeigt die Zweideutigkeit repräsentativer und arkaner Architektur anhand von Racines Bérénice auf. Vgl. Ethel Matala de Mazza: Die leere Kammer. Zur Exposition in Racines Bérenice, in: Der Anfang des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik, hg. v. Claude Haas u. Andrea Polaschegg, Freiburg i.Br. 2012, S. 277-297, hier S. 279ff. Hier ist die Rede von einem „offenen Arcanum“, in dem sich Intimität des Kabinetts und der reiche Schmuck eines Repräsentationsraums überlagern. 15 Vgl. Bauer: „Ihre Ideen waren der Würde der Herrscher ebenbürtig“, S. 106. 16 Vgl. Adelheid Rasche: „Decoratore di sua Majestà“ – Giuseppe Galli Bibiena als Bühnenbildner an der Berliner Hofoper Friedrichs II. von Preußen, in: Jahrbuch der Berliner Museen 41 (1999), S. 99-131, hier S. 110. 17 Vgl. Miller: Archäologie des Traums, S. 76ff. 18 Vgl. ebd., S. 80ff.

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Abb. 7 (Tafel 2): Ferdinando Galli Bibiena, Prospettiva con scena di convito (1721).

upon the passion of fear, keep their chief as much as may be from the public eye“19. Das Angstkalkül despotischer Architektur besteht in der planmäßigen Erzeugung einer „artificial infinity“20, die Burke als „dark, uncertain, confused, terrible and sublime to the last degree“21 beschreibt. Es ist eine Sphäre der Einschüchterung und nicht der Auftrittsemphase. (Abb. 7, TAFEL 2) Raummodelle der Staatsraison Diese Vorstellung eines den Blicken entzogenen, durch verwirrende Raumfluchten verstellten Hauptraums konnte auch noch im 18. Jahrhundert mit der Idee der Staatsraison verbunden werden. Die künstliche Unendlichkeit der Bibiena-Prospekte, die gleichzeitig einen verborgenen Raum in die Bühne hineinragen ließ, 19 Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, hg. v. J. T. Boulton, London 1958, S. 59. 20 Ebd., S. 75. 21 Ebd., S. 59.

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Abb. 8: Giuseppe Galli Bibiena, Entwurf zum fünften Bild in Britannico (1751).

stand stellvertretend für eine Politik des Machterhalts, die auf frühneuzeitliche Souveränitätsvorstellungen zurückging. Die scena per angolo und ihre Varianten lieferten bauliche Visualisierungen einer Arkanpolitik, die es den Fürsten der Frühen Neuzeit erlaubte, für die Durchsetzung von Staatsinteressen das durch sie selbst verbürgte Recht zu brechen. Die sich in den Bühnenraum vorschiebenden Mauerwinkel der Bibiena-Bühne erzeugen die Vorstellung eines Arkanbereichs, der als eine „Grauzone des Außerrechtlichen und ethisch Unzulässigen, aber auch […] [als ein] Feld politischer Operation, in dem geschriebene und ungeschriebene Gesetze überhaupt fehlen“22, begriffen werden kann. In der Formel: „Politica est ars tuendi et conservandi statum suum“23 ist diese Lehre gewaltsam zugespitzt. Staatsraison, in ihrem frühen und durch Machiavelli geprägten Sinn 22 Albrecht Koschorke u.a.: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M. 2007, S. 179. 23 Nicolaus Hieronymous Gundling: Die Politic, Frankfurt a.M./Leipzig 1733, S. 8. Zitiert nach: Horst Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz, Bd. 2: Theorie der Monarchie, Köln/Weimar/Wien 1991, S. 587.

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verstanden, implizierte den skrupellosen Einsatz machtdienlicher Mittel, die jedoch, da im Geheimen geplant, dem Herrscher selbst nicht zugeschrieben werden konnten. Die im Namen des conservandi statum suum begangenen Verbrechen sollten als Aktivität einer unbestimmbaren Täterinstanz wahrgenommen werden.24 Bereits in der politischen Literatur der Frühen Neuzeit knüpfen sich daran räumliche Vorstellungen:25 Oft steht zwischen Palazzo und Piazza eine so dichte Nebelwand, eine so hohe Mauer, daß das Volk, dessen Auge nicht hindurchdringen kann, von dem, was der Herrscher tut, oder von den Beweggründen seiner Taten genausoviel weiß wie von den Ereignissen in Indien.26

Racine in der Oper. Der Britannicus Friedrichs des Großen Am preußischen Hof wurde die Bühnenkunst der Bibiena gezielt mit der Tragödie Racines zusammengeführt. 1751 beauftragt Friedrich der Große den am Dresdner Hof beschäftigten Giuseppe Galli Bibiena,27 die Bühnenprospekte für die Oper Britannicus zu entwerfen, zu der der König selbst das Libretto verfasst hatte. Es geht um eine Bearbeitung von Racines Britannicus, der von der Sprechbühne auf die Opernbühne übertragen werden sollte. Nach dem Ende des Zweiten Schlesischen Krieges im Jahr 1745 werden Bemühungen erkennbar, die Oper des preußischen Hofes auf Kosten der italienischen Opera seria der gesprochenen franzözischen Tragödie anzunähern.28 Auf die Initiative des Königs hin wurde der Spielplan an den kanonischen Werken der französischen Klassik und insbesondere an Racine ausgerichtet.29 Der Gattungszwang zum lieto fine, d.h. zum glück24 Zur Depersonalisierung von Macht vgl. Herfried Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1987, S. 168. 25 Vgl. Haß: Das Drama des Sehens, S. 232; vgl. Münkler: Im Namen des Staates, S. 179 mit Hinweis auf Aph. 220 von Graciáns Handorakel: „Wer sich der Löwenhaut nicht bekleiden kann, nehme den Fuchspelz.“ (Balthasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, übers. v. Arthur Schopenhauer, Stuttgart 2013, S. 110.) 26 Francesco Guicciardini: Dialogo e Discorsi del Reggimento di Firenze, Bd. 2, Bari 1932, S. 141. Zitiert nach: Münkler: Im Namen des Staates, S. 183. 27 Vgl. Rasche: „Decoratore di sua Majestà“, S. 109. Zu diesem Zeitpunkt hatte Galli Bibiena noch keine Festanstellung am preußischen Hof. (Vgl. ebd., S. 101.) 28 Zur Ablösung der Opera seria metastasianischen Stils durch das Modell der gesprochenen Tragödie und daraus folgend die „Ausrichtung an einer Haupthandlung“ vgl. Sabine Henze-Döhring: Friedrich der Große. Musiker und Monarch, München 2012, S. 77. 29 Vgl. Claudia Terne: Friedrich II. von Preußen und die Hofoper, in: Friedrich der Große und der Hof. Beiträge des zweiten Colloquiums in der Reihe „Friedrich 300“ vom 10./11. Oktober 2008, hg. v. Michael Kaiser u. Jürgen Luh, Potsdam 2009, (elektronische Ausgabe: http://www. perspectivia.net/publikationen/friedrich300-colloquien/friedrich-hof/Terne_Hofoper, Stand 26.02.2017), S. 28.

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lichen Ende, war damit ausgesetzt, aber auch den Wundern und Maschinen des französischen Opernmodells Einhalt geboten. Eine Verbindung von Racine und Galli Bibiena lag auch deshalb nahe, weil sie dem König Gelegenheit gab, im Medium des Librettos wie im Medium des Bühnenprospektes die Despotenkritik an die Öffentlichkeit zu tragen, die er in seinen politischen Schriften formuliert hatte. Der aufgeklärte Herrscher und Verfasser eines Anti-Machiavel (1740) nutzte die Opernbühne auch, um die Politik der schrankenlosen machiavellistischen Willkür anzuprangern, die mit dem Gedanken der Staatsraison assoziiert wurde. Wie in seinen anderen Despotenopern Lucio Silla (1753) und Montezuma (1754) formulierte Friedrich auch in seinem Britannicus die Grundsätze der eigenen aufgeklärten Staatslehre, die vom Herrscher vollständige Rechenschaft über sein Regierungshandeln forderte und in Nero das abschreckende Beispiel eines Ungeheuers bereithielt. Die Handlung der Oper wie die der gesprochenen Tragödie galt der Transformation Neros in einen Despoten30 – in den Worten der Vorrede Racines: „Mais c’est ici un monstre naissant.“31 Zugleich fiel die Wahl auf eine Tragödie, in der der fürstliche Palast von der ersten Szene an als ein despotischer Arkanraum entworfen war, in dem sich ein Monster verbarg, das alle Bewegungen seiner Trabanten kontrollierte. Friedrich adaptierte eine Tragödie, in der der höfische Repräsentationsraum in einen Überwachungsraum transformiert wurde: „Vous êtes en des lieux tout pleins de sa puissance/ Ces mûres mêmes, seigneur, peuvent avoir des yeux/ Et jamais l’empereur n’est absent des ces lieux.“32 Auch Friedrichs Nero ist ein Praktiker des Arkanen, der durch kalkulierten Selbstentzug zum Kontrollschatten aller Protagonisten wird: „Ich will mich dort verstecken, und alles beobachten und hören.“33 Höfische Auftrittsformen müssen sich vor diesem Hintergrund zwangsläufig in Protokolle der Furcht verwandeln, die den Ankömmling als einen Zitternden ex30 Vgl. Friedrich der Große: Epistel über die Menschlichkeit, in: ders.: Die Werke Friedrichs des Großen, Bd. 10: Dichtungen. Zweiter Teil, hg. v. Georg Enders, Berlin 1914, S. 39-47, hier S. 42: „Errötet, Sterbliche: das Tigertier/ Ist menschlicher als Menschen so wie ihr,/ Menschen wie Kaiser Nero, wie Tiber,/ Wie Sulla, jener fürchterliche Würger,/ Der sich am Blut berauscht der röm’schen Bürger!/ Fürwahr, ein Schrecken der Natur war er/ Und eine Geißel Roms.“ 31 Jean Racine: Britannicus, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1: Théâtre – Poésie, hg. v. Georges Forestier, Paris 1999, S. 369-445, hier S. 372. „Es ist ein Ungeheuer, das sich zu zeigen anfängt.“ (Racine: Britannicus. Ein Trauerspiel, in: ders.: Racines Sämtliche dramatische Werke in vier Bänden, übers. v. Heinrich Welti, Bd. 2: Andromache – Britannicus – Berenice, Stuttgart 1886, S. 67-134, hier S. 70.) 32 Ebd., S. 400 (V. 712ff.). „Du kannst seine Macht allhier erkennen lernen./ Die Mauern können das, was wir verüben, lauschen,/ Cäsars Allgegenwart hör’ ich uns hier umrauschen.“ (Racine: Britannicus, übers. v. Welti, S. 96) 33 Friedrich der Große: Britannicus. Ein Musicalisches Trauerspiel, welches aus Sr. Königl. Majest. In Preussen allergnädigsten Befehl im Jahr 1751 auf dem Berlinischen Schauplatze aufgeführet werden soll, Berlin 1751, S. 35.

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ponieren. Neros Frage an die von ihm in den Palast entführte Prinzessin Junia formuliert nichts weniger als das Auftrittsprotokoll despotischer Systeme: „Liebenswürdige Prinzeßin,/ Warum erscheinest du denn so furchtsam vor mir?“34 Die Sichtbarkeit, die ihm zuvor Glanz und Kenntlichkeit garantiert hatte, wird nun zu einer Falle.35 Jeder, der auftritt, rückt – gleichgültig, was er tut oder spricht – in die Position des ängstlichen Antichambristen ein, der nur in Bezug auf die Tür, den Vorhang oder die Wand definiert ist, die ihn vom verborgenen Zentrum der chambre trennt.36 Auch wenn die Repräsentationsfunktion der spektakulären Bühne weiterhin aufrecht bleibt und die eigentümliche Doppelung des Bibiena-Typus, nämlich Prachtraum und Angstraum gleichzeitig zu sein, auch in der Ausstattung des preußischen Britannicus wirksam wird, dominiert doch auch hier der tragische Raumcharakter, dessen zentrales Merkmal die Undurchdringlichkeit ist. In den Skizzen, die Giuseppe Galli Bibiena für die Oper anfertigte, lässt sich eine Arbeitsweise erkennen, die bei architektonischen Knotenpunkten ansetzt und sich in erster Linie auf räumliche Verdichtung ausrichtet (siehe Abb. 9 und 10). Die erhaltenen Skizzen legen die Vermutung nahe, dass Giuseppe Galli Bibiena von komplexen Raumkernen ausging, die, auch wenn deren völlige Ausführung nur vermutet werden kann, Ansätze zu einer scena per angolo zeigen. Die Entwürfe entwickeln sich aus mehrsträngigen Säulenansätzen, aus denen sich arkane Raumstrukturen ableiten. Der tragische Handlungszusammenhang, der die Schürzung eines tragischen Knotens verlangt, setzt sich unmittelbar in architektonische Knotenbildung um. Giuseppe Galli Bibiena entwickelt seine Räume von jenen undurchschaubaren Stellen aus, an denen sich mehrere Raum- und Bogenstränge bündeln und dadurch eine architektonische Komplexität ausbilden, die in ihrer Struktur dem nœud, dem Knoten als dem bestimmenden Strukturelement der Tragödie, entspricht.

34 Ebd., S. 33. Vgl. auch S. 31: „Weinend, aber bey ihren Thränen noch viel angenehmer,/ Habe ich sie bey mir ankommen sehen.“ 35 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1994, S. 265. 36 Vgl. Friedrich der Große: Britannicus: Die zweite und dritte „Handlung“ der Oper spielen explizit in Vorhöfen und Vorzimmern. Zur Architektur des Vorzimmers vgl. Niels Werber: Antichambrieren bei Schiller und Schmitt. Zum Zusammenhang von Macht und Raum, in: Konfigurationen. Gebrauchsweisen des Raums, hg. v. Anna Echterhölter u. Iris Därmann, Zürich/ Berlin 2013, S. 63-81.

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Abb. 9: Giuseppe Galli Bibiena, Entwurf zum ersten Bild in Semiramide (1754).

Abb. 10: Giuseppe Galli Bibiena, Detailstudien (1754).

Kanzellen Diese Unübersichtlichkeit der höfischen Raumverhältnisse lässt sich jedoch langfristig nicht mehr ausschließlich unter dem Titel der Despotenkritik verhandeln. In der erratischen Struktur der Bibiena-Bühne, die Repräsentationsräume und Kabinettbereiche ununterscheidbar werden ließ, spiegelt sich zugleich eine Entwicklung wider, die den Herrscher depersonalisiert und andere Formen der Arkanpolitik aufkommen lässt, die das Monster in der Kammer in anonyme Nachfolgeformen transformieren. Mit der Entstehung des Verwaltungsstaates wird ein neuer Typus des Geheimen hervorgebracht, der sich auf administrative Vorgänge bezieht und damit auch der scena per angolo eine moderne, verwaltungsbezogene Wendung gibt. Die neuen Raumlabyrinthe korrespondieren mit einem modernen Konzept von Staatsraison, das die machiavellistischen Arkana des 16. und 17. Jahrhunderts durch Geheimnisse vom Typus der arcana cameralia oder arcana de aerario ersetzt und letztlich auch der Gattung der Tragödie den Boden entzieht.37 Mit der Herausbildung des Verwaltungsstaates und der funktionalen Ausdifferenzierung von Macht im Staatswesen des 18. Jahrhunderts werden neue unsichtbare Zonen geschaffen, in denen staatliche Angelegenheiten von anony37 Vgl. Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft, S. 576.

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men Staatsdienern bearbeitet werden.38 Der Arkanbetrieb der chambre de terreur geht in den Behörden-, Verwaltungs- und Überwachungsbetrieb moderner Staatsapparate über.39 Auch die Bibiena-Bühne lässt es daher als ungewiss erscheinen, ob hinter ihrer Fassade ein despotisches Wesen oder nicht vielmehr längst das Corps der Staatsdiener tätig ist, dem große Teile des Regierungshandelns übertragen werden.40 Nach der neueren Ordnung liegt die Aufgabe des conservandi statum suum bei den Beamten, die Geheimkabinette in Behörden transformieren. Auftrittslogisch ist der Beamte eine unsichtbare oder wenigstens unscheinbare, vornehmlich an das Medium Schrift gebundene Gestalt, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit ihren Verwaltungstätigkeiten nachgeht. Die Bewegung des Hervorund In-Erscheinung-Tretens steht ihm nicht mehr an.41 Architektonisch lässt sich diese Neucodierung der scena per angolo daran ablesen, dass die geschlossenen Baufassaden der Reggien in vielen Fällen durch Gitterstrukturen aufgebrochen werden, ohne deswegen durchsichtig zu sein. In den Palastarchitekturen der Galli Bibiena kommen die semiarkanen Bauprinzipien der Kanzlei zur Geltung, die sich von der Öffentlichkeit nicht durch Mauern, sondern durch Kanzellen abscheidet. Das Wort „Kanzlei“ leitet sich aus dem Wort cancellum ab: dem Gitter, das den Behördenraum von der Öffentlichkeit abtrennt. In diesem Kanzellenraum, der in barocker Steigerung nun auch auf der europäischen Hofbühne Einzug hält, wird die Geschlossenheit der Geheimkabinette von einer durch das Gitter geschaffenen Halbdurchsichtigkeit ersetzt und der Ort der Macht als Kanzlei erkennbar.42 Unter diesen Bedingungen wird der Säulengang oder die Kolonnade nun auch in der imaginären Architektur der Bühnenkonzepte zum tragenden architektonischen Element, das sich weniger in die Tiefe als in die Horizontale erstreckt und ältere Vorstellungen verdeckter Tiefenräumlichkeit zugunsten serieller Anordnungen zum Verschwinden bringt. Die Galli Bibiena entwerfen Kolonnadensysteme, 38 Vgl. Wolfgang Reinhard: Geheimnis und Fiktion als politische Realität, in: Krumme Touren. Anthropologie kommunikativer Umwege, hg. v. dems., Wien/Köln/Weimar 2007, S. 221-250, hier S. 225ff. 39 Vgl. Münkler: Im Namen des Staates, S. 242. „Der fürstliche Anspruch auf Souveränität wurde ergänzt durch die Entwicklung eines staatlichen Apparates, der schließlich zum Inbegriff der Staatlichkeit wurde. Souveränität und Apparat sind einander komplementär: Die Souveränität braucht den Apparat, wenn sie ihre Entscheidungen durchsetzen will, doch sie wird zugleich durch eben diesen Apparat in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt.“ 40 Vgl. ebd., S. 168. 41 Zum Spannungsverhältnis von Zeremoniell und kameralistischer Geschäftsmäßigkeit vgl. Volker Bauer: Hofökonomie. Der Diskurs über den Fürstenhof in Zeremonialwissenschaft, Hausväterliteratur und Kameralismus, Wien 1997, S. 228. 42 Vgl. Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2011, S. 34. „Kanzlei und Tor sind Schranken: Sie erstellen und beschränken einen arkanen Raum, schließen aus, stellen Verbindungen her. Kanzleien sind etymologisch und funktional sogar aus Schranken hervorgegangen. Sie haben ihren Namen von den ‚gitterförmigen und daher durchsichtigen Schranken‘ der römischen Antike, den sogenannten cancelli.“

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Abb. 11 (Tafel 3): Giuseppe Galli Bibiena, Atrium mit großer Treppe, o.D.

Abb. 12: Giuseppe Galli Bibiena, Kolonnade, o.D.

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die sich ohne zentrale Fluchtung nach allen Seiten ins Grenzenlose fortzusetzen scheinen und die Vorstellung eines geschlossenen arkanen Hauptraumes nicht mehr aufkommen lassen (Abb. 11, TAFEL 3, Abb. 12). Dabei bleibt auch in den Kanzellenräumen eine bauliche und politische Kontinuität zwischen den alten und neuen Arkanräumen erkennbar. Auch die Organisationsformen des modernen Staates, so Niklas Luhmann, vertragen das „Offenlegen ihres Funktionierens“43 nicht. Auch wenn die Behördentätigkeit nun auf gesetzliche Grundlage gestellt ist und der Willkür des Fürsten durch die Institution Einhalt geboten wird, bleibt der Arkanbereich im modernen Verwaltungsstaat bestehen. Die Kolonnadensysteme der Galli Bibiena visualisieren die exekutive Intransparenz der neuen Regierungsapparate, an der zuletzt auch die ‚Durchsehung‘ des Fürsten scheitert. Aus den alten Labyrinthen gehen neue Labyrinthe hervor, die in gleicher Weise zur Desorientierung derjenigen beitragen, die ihnen gegenübersitzen oder vor ihnen in Erscheinung treten. Auch dort, wo die profondeur des Spielraums an die Behörden und Kanzleien übergeht, schwindet der Auftrittsglanz der Figuren. Vor der Halbdurchsichtigkeit der Kanzlei verliert die Inszenierung von Anwesenheit ihre Bedeutung wie ihre Notwendigkeit. Vor den Toren der Kanzleien lassen sich dieselben Verzwergungen und dieselben Verwirrungen beobachten wie vor der chambre des Despoten. Ebenso wird der Herrscher durch den Kanzellenraum aus seinem solaren Zentrum vertrieben. Ein Beispiel eines anderen Bühneningenieurs des 18. Jahrhunderts macht das drastisch deutlich. Der von Lorenzo Quaglio entworfene Bühnenprospekt für die Uraufführung von Mozarts Idomeneo (1781) kanzelliert exakt die Stelle, die für das festliche Entrée des Machthabers vorgesehen war (Abb. 13). Die Kolonnade hat sich vor den Triumphbogen geschoben und verwandelt den spektakulären Auftrittsraum in eine verdeckte und unzugängliche Räumlichkeit. Der große Schlagschatten in Quaglios Prospekt lässt die Depotenzierung höfischer Auftrittsmacht im Umkreis moderner Arkadenarchitekturen sinnfällig werden. Das monumentale cancellum blockiert nicht nur den Auftritt des Despoten, sie lässt auch die Auftrittspositionen aller anderen Figuren, die sich geltend machen, fragwürdig werden. Kanzleien räumen keine Auftrittsstellen ein. Gelegentlich finden sich aussagekräftige Details, welche die für die BibienaBühne charakteristische Spannung von furchterregender Raumsteigerung und Auftrittsbegehren sichtbar werden lassen. Exemplarisch teilt sie sich einer kleinen Figurine mit, die sich auf einer Zeichnung Ferdinando Galli Bibienas findet. Ihr Auftritt erfolgt am äußersten rechten Rand eines Entwurfs zu einer Ballettkulisse (Abb. 14): im übermächtigen Schlagschatten großer Säulen, der ein nur unvollständiges Hervortreten der Figuren erlaubt. Idealtypisch werden hier die Auftrittsparadoxien der Bibiena-Bühne entfaltet, die die Gegensätze zwischen 43 Niklas Luhmann: Funktionen und Formen formaler Organisation, 3. Aufl., Berlin 1976, S. 278.

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Abb. 13: Lorenzo Quaglio, Bühnenentwurf für die Uraufführung von Idomeneo von Wolfgang Amadeus Mozart in München (1781).

Abb. 14: Ferdinando Galli Bibiena, Bühnenbild mit Ballett, o.D.

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Erscheinen und Verschwinden so weit auflösen, dass das eine immer schon das andere ist. Auch wenn sich die Figurine hier in vollendeter Haltung dem Publikum darbietet und mit graziös zur Seite gebreiteten Armen eine festliche Haltung einnimmt, die dem höfischen Auftrittsprotokoll entspricht, ist die artikulatorische Funktion des Auftritts weit herabgesetzt. In der Halbdurchsichtigkeit der Säulenanlage gelingt nur eine unvollständige Artikulation. Die Figur verbleibt im Halblicht des Chiaroscuro, das Kopf und Brust erhellt, während ihre anderen Teile im Schatten liegen. Nicht zuletzt aber wird die Schwächung des Auftritts durch die Verkleinerung der Auftretenden erreicht, deren geringe Körpergröße in den Raummassen der Bibiena-Bühne kaum in den Blick fallen kann, diese aber umso größer erscheinen lassen. Sie sind Teil einer mikromegalischen Anordnung, in der die Einzelfigur zum bloßen Figuranten degradiert wird, der in den Vorhöfen arkaner Mächte eine lächerliche, kaum mehr wahrnehmbare Existenz fristet.

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4. Aus dem Takt. Auftrittsstrukturen in Schillers Don Karlos

‚Liaison des scènes‘ Das deutsche Theater des 18. Jahrhunderts ist auftrittsorientiert. Mit der Dramatik Christian Weises, vor allem aber jener Johann Christoph Gottscheds setzt sich im Deutschland der Aufklärung eine auf dem Akt des Auftretens beruhende Szenenordnung durch. Während die Repräsentanten des Barocktheaters Andreas Gryphius und Caspar Daniel Lohenstein in der Aufgliederung ihrer Theatertexte noch aus den Diskursformen der Gelehrtenkultur schöpften und ihre Dramen ohne Akzentuierung theatraler Performanz in ‚Abhandlungen‘ einteilten, etabliert sich nun ein Theater, das die dargebotene Handlung in Auftritte gliedert und mit Hilfe von Auftritten verknüpft. Eine neue und am Ende des 17. Jahrhunderts noch unbekannte Nomenklatur bestimmt nun Struktur und Ablauf des Dramas, die als ein Spezifikum der deutschen Theatergeschichte angesehen werden kann. Abweichend von anderen europäischen Dramaturgien, welche vor allem mit dem Begriff der Szene arbeiten, sorgen in Deutschland ‚Auftritte‘ für geregelte Bühnenbewegungen und deren geordnete Abfolge. Dennoch wirken auch bei ihrer Entwicklung französische Traditionen mit. Wie aus Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen von 1730 zu entnehmen, organisiert sich das neue deutsche Gliederungsschema nach dem Vorbild der sogenannten liaison des scènes. Dabei handelt es sich um ein Prinzip der szenischen Verkettung, das für das französische Hoftheater entwickelt wurde und auf der Regel des Personenwechsels gründete: Man zählt aber die Scenen nach dem Auf- und Abtritte einer Person. So bald eine kömmt, oder eine weggeht, so rechnet man einen neuen Auftritt: und nachdem sie kurz oder lang gerathen, nachdem müssen auch viele oder wenige zu einem Aufzuge seyn. Das merke ich hier abermals an, daß die Schaubühne niemals ganz leer werden muß, als bis der Aufzug aus ist. […] Wenn also jemand auftritt, so muß er allezeit jemanden finden, mit dem er redet: und wenn jemand weggeht, so muß er einen da lassen, der die Bühne füllet, es wäre denn, daß er mit Fleiß dem Neuankommenden ausweichen wollte. Das heißt beym Boileau: Et les Scenes toujours l’une à l’autre liée.1

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Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, in: ders.: Ausgewählte Werke, Bd. 6.2: Anderer besonderer Theil, hg. v. Joachim Birke u. Brigitte Birke, Berlin 1973, S. 352f. Vgl. außerdem ebd., S. 334: „Schließlich muß ich erinnern, daß die Auftritte der Scenen in einer Handlung allezeit mit einander verbunden seyn müssen: damit die Bühne nicht eher ganz ledig werde, bis die Handlung aus ist. Es muß also aus der vorigen Scene immer eine Person da bleiben, wenn eine neue kömmt, oder eine abgeht: damit die ganze Handlung einen Zusammenhang habe.“ Jacques Scherer: La Dramaturgie classique en France, Paris 1959, S. 266ff. da-

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Das Modell der liaison des scènes, das Gottsched den Deutschen auferlegt, entstammt dem französischen Theaterdiskurs des 17. Jahrhunderts, wo es sich zu einem Zeitpunkt etabliert, als rigorose Einheitsregeln auf die Tragödie zugreifen und die Geschlossenheit des Dramas zur zwingenden Auflage wird.2 Diese Konstruktion des dramatischen Zusammenhangs beruhte jedoch nicht nur auf den Forderungen der neoaristotelischen Dramenordnung, sie war zugleich durch die Konstruktion eines lückenlosen zeremoniellen Ablaufs zu gewährleisten. Klar situierten sich die Verfechter der liaison des scènes im Kontext der absolutistischen Symbolpolitik, wenn sie die unité der Handlung mit den Gestaltungsvorgaben höfischer Repräsentation in Einklang setzten. Corneille bezeichnete sie als „un grand ornement dans un poème, […] qui sert beaucoup à former une continuité d’action par la continuité de la représentation“3. In dramatischer wie auch in politischer Hinsicht diente sie der Abbildung und ansprechenden Versinnlichung einer Machtstruktur, wie sie seit den 1640er Jahren durch die Politik Ludwigs XIV. gegeben war. Wie der absolutistische Hof selbst wurde daher auch die liaison des scènes als ein Perpetuum mobile entworfen,4 das in zeitlicher wie in räumlicher Hinsicht für strukturierte und lückenlose Abläufe sorgte. Indem sie den Szenenwechsel an den Wechsel der Personen knüpfte, setzte sie klar erkennbare Taktstriche ein und verhinderte die Entleerung der Bühne. Indem sie das Ende der einen Szene mit dem Anfang einer neuen verschränkte, vermied sie tote Zeit und leere Räume und garantierte jene Zeichendichte, welche den Hof und seine Protagonisten vor Bedeutungskrisen schützte.5 Dabei spannte sie zugleich den choreografischen Rahmen auf, in dem sich die Auftretenden im Takt der Szenen aufeinander zu und voneinander wegbewegten. Höfisch ist dieses Auftrittsregime aber noch aus einem anderen Grund. Denn in dem Maße, in dem der Begriff der Szene an den Akt des Auftretens gebunden wurde, multiplizierten sich auch die Schwellen, die damit überschritten werden

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tiert das Aufkommen einer strengeren Handhabung der liaison des scènes in Frankreich für die Zeit nach 1640. Vgl. Scherer: La Dramaturgie classique, S. 266ff. Pierre Corneille: Discours des trois unités, d’action, de jour et de lieu, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1, hg. v. Marty Laveaux, Paris 1862, S. 98-122, hier S. 101: „[E]in großes Ornament, das dazu dient, die Kontinuität der Handlung durch die Kontinuität der Repräsentation herzustellen.“ Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a.M. 1983, S. 136, S. 197. Er verwendet den Begriff des Perpetuum mobile zur Beschreibung des höfischen Zeremonialmechanismus. Vgl. Eintrag: Auftritt, in: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. In einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt, mit einer Einleitung von Giorgio Tonelli, Hildesheim 1970, Bd. 1, S. 240-242.

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mussten.6 Jede neue Szene setzte eine künstliche Hürde voraus, welche jeweils nur mit Zeremonie genommen werden konnte. Diese inkludierte vor allem ein abgestuftes System von Ankündigungen, die den im Auftritt bezeichneten Schwellenübertritt vorbereiteten, vorwegnahmen und kontrollierten. Feste Formeln sorgten hier für eine geordnete Einführung ankommender Personen auf der Bühne. Der obligate Hinweis ‚da kommt‘ oder ‚hier kommt‘7 gewinnt eine gegenüber älteren Verwendungen gesteigerte Bedeutung, da er nicht nur den geordneten Ablauf des Personenwechsels garantierte, sondern zugleich auch dafür sorgte, dass der Ankömmling stets ein vertrautes Gesicht trug. Die französische Auftrittsregie des 17. Jahrhunderts kennt weder Zufälle noch Unbekannte. Eröffnungsverse wie „What bloody man is that?“8, wie sie sich in Shakespeares Macbeth vorfinden, liegen außerhalb des Vorstellungsvermögens der tragédie. In den Palast dringen grundsätzlich nur solche Personen vor, die in Rang und Namen bezeichnet und im höfischen Raum zugelassen sind. Dieser Umstand fällt umso stärker ins Gewicht, als höfische Räumlichkeiten stets Zutrittslizenzen voraussetzen. Neben anderen Aufgaben veranschaulichen sie eine wie immer eingeschränkte Zugänglichkeit des Schauplatzes, in erster Linie aber die künstlich verknappte Zugänglichkeit des Herrschers. Auch bei routinierten Abläufen gilt diese als das kostbarste Gut, das in höfischen Spielen zu erwerben ist.9 Diese Ordnung der liaison ist im Blick zu behalten, wenn nun die Entwicklungen angesprochen werden, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts zur Herausbildung neuer Auftrittsstrukturen führen. Es bedarf dabei keiner ausführlichen Erläuterung, dass sich die bürgerlichen Dramen des 18. Jahrhunderts auf die liaison des scènes nicht mehr verpflichten wollten. Eine Orientierung an Shakespeare brachte die höfische Choreografie des Personenwechsels zugunsten offenerer, unbestimmterer, informellerer und riskanterer Erscheinungsformen in Misskredit. Wenn der Begriff des Auftritts auch weiterhin gültig blieb, dann durch eine semantische Verschiebung, die ihn nicht mehr als machterhaltende Form, sondern als Impuls begriff. Gegenüber höfischen Verwendungen akzentuierten vor allem die Dramen des Sturm und Drang das im Auftritt angelegte Bewegungs-, 6

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Zum Begriff der Schwellenvermehrung vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolpolitischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), S. 389-405, hier S. 398. Vgl. Ulrich Schütte: Stadttor und Hausschwelle. Zur rituellen Bedeutung architektonischer Grenzen in der Frühen Neuzeit, in: Die Grenze. Begriff und Inszenierung, hg. v. Markus Bauer u. Thomas Rahn, Berlin 1997, S. 159-176, hier S. 165. Zur Funktion der Ankündigungen in der tragédie vgl. Scherer: La dramaturgie classique, S. 270. William Shakespeare: Macbeth, in: The Arden Edition of the Work of Shakespeare, hg. v. Kennetz Muir, London 1965, I/2 (V. 1), S. 4. Vgl. Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 126ff. Vgl. Carl Schmitt: Gespräch über den Zugang zum Machthaber, Stuttgart 2008, S. 30, mit explizitem Bezug auf Schillers Don Karlos.

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Kraft- und Empfindungspotential und bildeten seinen protokollarischen Charakter zurück. Andererseits gewannen auch Verzögerungen an Bedeutung, die einer nunmehr verzögerten Auftrittsbewegung den Zustand der Melancholie einschrieben. Schillers frühe Stücke geben die besten Beispiele für eine Szenografie, die in den Mustern des höfischen Zeremoniells nicht mehr zu fassen ist. In dem Maße, in dem die liaison des scènes in Frage gestellt wird, gewinnen Auftrittsformen an Bedeutung, die sich an freieren Rhythmen orientieren und die dramatischen Figuren unter neuen kinetischen Vorzeichen ins Spiel treten lassen. Dies hat unter anderem zur Folge, dass auch an den vorgeschriebenen Ankündigungen des klassizistischen Theaters Anstoß genommen wird.10 In der deutschen Dramaturgie des 18. Jahrhunderts geraten ausholende Antizipationen zunehmend in den Verdacht der Unnatürlichkeit. Im Widerstand gegen die aristokratische Distanzpolitik werden nun auch im Drama die höfischen Schwellenformeln kritisiert, die Zugangsbeschränkungen unterlagen, Ränge zuteilten und Abstände betonten. In seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste beklagt zum Beispiel Johann Georg Sulzer das übersteigerte Ankündigungswesen auf dem Theater, an dem sich die Geltungsverluste der überkommenen und durch zeremoniale Ordnungen gesicherten Dramaturgie ablesen ließen: Sie lassen oft die Ankunft einer neuen Person förmlich ankündigen, wo es gar nicht nöthig wäre; als ob sie befürchteten, man würde den neu auftretenden nicht gewahr werden, oder nicht kennen. Dieses Mißtrauen in die Aufmerksamkeit des Zuschauers beleidiget ihn. Es kann freylich Fälle geben, wo diese Ankündigung nöthig ist; aber sie wird gar zu oft ohne Noth gebraucht.11

Immer stärker tritt dabei die funktionale Schwäche der protokollarischen Voranmeldung zu Tage, während in den Dramen schnelle, übereilte und zuletzt nachträgliche Ankündigungen zunehmen. Ausrufe wie: ‚Ha! Er ist’s‘, die die Reihenfolge von Aviso und Ankunft verkehren, sind im symbolischen Universum der klassizistischen Tragödie die Ausnahme und signalisieren etwa bei Racine die Lockerung des durch die liaison garantierten symbolischen Gefüges. Das Zerbrechen der Auftrittskette In Schillers Don Karlos jedoch, der in die geschlossene Welt des spanischen Hofes einführt, wird die klassizistische Szenografie der Franzosen noch einmal heraus10 Schon die Debatte um Gottscheds Tragödie Der sterbende Cato adressiert die nach Ansicht der Kritiker hypertrophe Ausgestaltung der Ankündigungen und wirft dem Verfasser sklavischen Regelgehorsam bei der Verknüpfung der Szenen vor. Vgl. Gottlieb Stolle: Eines ungenannten Freundes kritische Gedanken über den sterbenden Cato, in: Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke, Bd. 2, hg. v. Joachim Birke, Berlin 1970, S. 127-131, hier S. 127. 11 Eintrag: Auftritt, in: Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, S. 240.

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gefordert. Das Stück, das zu Recht als eine Auseinandersetzung mit der höfischen Maschine und ihren Herrschaftsformen gelesen worden ist,12 kann in Hinblick auf das Ideal der Szenenkette noch einmal in den Blick genommen werden. Ausgehend von den lockeren szenischen Fügungen, die für Schillers frühe Dramen insgesamt charakteristisch sind, kommt es in Don Karlos zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der syntaktischen Konvention der liaison. Der Konflikt zwischen Philipp II. und dem Thronfolger bietet ihm Gelegenheit, deren Bindungskräfte in Frage zu stellen und die Positionsverluste zu verzeichnen, die sich für alle Beteiligten aus der Auflösung der höfischen Syntax ergeben. In einer Analyse der szenischen Verknüpfungen lässt sich zeigen, dass Schillers Hofkritik nicht nur ‚zur Sprache‘ kommt, sondern auch am Scheitern kleinster zeremonieller Vollzüge ablesbar ist. Die besondere Rolle des Auftritts in Don Karlos kann vor allem daran ermessen werden, dass Schiller, nachdem er in Kabale und Liebe bereits zum neutralen Begriff der Szene übergegangen war, nun erneut eine Einteilung in Auftritte vornahm. Nur diese nämlich, so soll im Folgenden gezeigt werden, bot ihm die Möglichkeit, die Krise der absolutistischen Herrschaftsform zugleich als eine Krise höfischer Dramaturgie zu inszenieren und dabei jenes störungsanfällige Element zu fokussieren, das den höfischen Protagonisten bei seinen Aktionen definierte: Auftrittsbewegungen und ihre geordnete Abfolge. In Schillers Drama werden der Takt der liaison ausgesetzt, die Abstände verrückt und die Eingliederung des einzelnen Auftritts in eine Szenenkette unmöglich gemacht. In fast allen seinen Szenen bietet das Stück Störungs- und Stockungsvarianten an. Wie zahlreiche Regieanweisungen zeigen, werden Entrées und Abgänge zu riskanten Manövern mit ungewissem Ausgang und ungewisser Zeitstelle. Dabei ist es nur folgerichtig, dass die Entregelung des Auftritts vor allem die distanzierte Position des Königs gefährdet. In dem Maße, in dem sich das zeremonielle Gefüge zersetzt, büßt auch dieser seine in der Summe der Auftrittsregeln kodifizierte Machtstellung ein. Immer deutlicher zeigt sich die Blöße eines Regenten, der sich zwischen den Gliedern aufgelöster Szenenketten verliert. Philipp II. delegitimiert sich in dem Maß, in dem er die Kontrolle über die Schwellen verliert, die seinen Rang bezeichnen. Im Folgenden ist jedoch zunächst zu zeigen, dass sich im gelockerten symbolischen Gefüge des spanischen Hofes neue und außerplanmäßige Auftrittsformen entwickeln. Der Widerstand gegen das geltende Regime wird naheliegenderweise zwei herausragenden dramatischen Personen übertragen: dem Charismatiker Posa einerseits und dem empfindsamen Thronfolger andererseits. Beide folgen, so lässt sich Schillers Kommentaren zum Entstehungsprozess entnehmen, in ihren Bewegungen keinem protokollarischen Schema mehr, sondern einem natürlichen bzw. einem freieren Rhythmus. Als ein neues und durch die Zeremonie 12 Vgl. Peter André Alt: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers, München 2008, hier besonders S. 13-35.

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nicht mehr gebundenes Maß nennen seine Briefe die menschliche Herztätigkeit und das Schlagen des Pulses. Wie er am 14. April 1783 an Reinwald schreibt, handelte es sich etwa darum, den Figuren des Don Karlos den eigenen Herzschlag zu übertragen und damit auch ihren Auftritten die Pulse des Autors mitzuteilen.13 Bereits der erste Auftritt des Marquis Posa bei der Königin in Aranjuez geschieht daher gegen die Regel und muss gegen die Bedenken der Protokolldame Olivarez durchgesetzt werden. „In meiner Vorschrift/ Ist des besondern Falles nicht gedacht,/ Wenn ein Kastilian’scher Grande Briefe/ Von einem fremden Hof der Königin/ Von Spanien in ihrem Gartenwäldchen/ Zu überreichen kommt.“14 Posas Auftritt löst sich gleich zu Beginn aus den höfischen Zeichenketten, welche Könige und Höflinge gleichermaßen binden. Mit seinem Erscheinen wird ein neues und durch Hofdamen nicht mehr zu lenkendes Regime in Kraft gesetzt, das den spontanen Auftritt auch im höfischen Raum ermöglicht. Der „besonder[e] Fall[]“ des Marquis erzwingt den Rückzug der Protokollchefin und damit den Rückzug der Vorschrift: „Doch mir vergönne Ihro Majestät/ Mich so lang’ zu entfernen.“15 Posas Auftritt fügt sich so wenig in die höfischen Abläufe ein, dass er Ausnahmen an höchster Stelle erzwingt. Sein Prunkdialog mit Philipp II., in dem er die Forderung nach Gedankenfreiheit ausspricht, mündet daher auch nicht in eine politische Reflexion, sondern in eine protokollarische Sonderregelung von Seiten des Königs: „Der Marquis steht auf und geht. Graf Lerma tritt herein. KÖNIG: Der Ritter/ Wird künftig ungemeldet vorgelassen.“16 Umgehend trägt diese Anweisung der von Norbert Elias verzeichneten Tatsache Rechnung, dass der Charismatiker zur Durchsetzung seiner Zwecke selbst an die Menschen herantritt.17 Die Auftritte des Marquis erzwingen Anerkennung außerhalb der Regel und betonen den Status einer durch Vorschriften und insbesondere durch Ankündigungen nicht zu kontrollierenden Ausnahmefigur. Die Souveränität hingegen, mit der der König geltende Auftrittsregeln außer Kraft setzt, verursacht zugleich seine langfristige Schwächung. Als der Herrscher selbst dem Puls der Empfindung zu folgen beginnt 13 Vgl. Friedrich Schiller: An Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald, 14. April 1783, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 11: Briefe 1, 1772-1795, hg. v. Georg Kurscheidt, Frankfurt a.M. 2002, S. 72. Auch zitiert in Erika Fischer-Lichte: Don Carlos. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas, Braunschweig 1993, S. 6. 14 Friedrich Schiller: Don Karlos (Letzte Ausgabe), in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 3: Dramen 2, hg. v. Gerhard Kluge, Frankfurt a.M. 1989, S. 773-986, hier S. 790 (I/3, V. 473-478). 15 Ebd. (V. 480f.). 16 Ebd., S. 898 (III/10, V. 3353f.). 17 Vgl. Elias: Höfische Gesellschaft, S. 198. Wenn Posa hier als Charismatiker bezeichnet wird, dann mit Bezug auf Norbert Elias vor allem als höfische Figur, die sich innerhalb des absolutistischen Distanzregimes durch Nähe und Bindungsangebote Erfolg verschafft. Zum Register der Außergewöhnlichkeit bzw. des Charismas bei Schiller vgl. auch die erhellende Studie von Eva Horn: „Mit ihrer Sichel wird die Jungfrau kommen“. Krieg und Charisma in Schillers Jungfrau von Orleans, Vortrag am Institut für Germanistik der Universität Wien, 18. Juni 2007.

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und dem Außerordentlichen freien Zutritt zu seinen Räumen gewährt, kündigt er auch den Schutz auf, den ihm das Protokoll gewähren sollte. Ohnmächtige Impulse Mit dem Rückzug der Vorschrift aus dem Spiel schreitet nun die Entregelung des Auftrittsgeschehens weiter fort. In der nächsten Szene führt sie zu einem weiteren Entrée außer der Reihe. Unter der Deckung des Marquis drängt sich eine Person nach vorne, die sich, wie alle Entstehungsstufen des Stücks zeigen, außerhalb des höfischen Taktes bewegt: Don Karlos. Die strafbare Liebe zu seiner Mutter, die seine Gattin hätte sein sollen, beschleunigt auch seine Auftrittsgeschwindigkeit. Indem er unangekündigt nach vorne prescht, versetzt er die durch strenge Zutrittsregelungen abgeschirmte Königin durch Plötzlichkeit in Schrecken. Nach schleppenden Anfängen – in der ersten Szene des Thalia-Fragments erscheint er noch im zögernden Schritt des Melancholikers – treiben ihn nun schnellere Tempi durch den feindlichen höfischen Raum, der ihm seinerseits keine privilegierte Auftrittsposition zuerkennt und vor allem seinen Wunsch nach familiärer Intimität zurückweist. Seine vom ‚Puls der Empfindung‘ geleiteten Bewegungen enden daher in Abbrüchen. So wird sein Ausruf am Ende des ersten Aktes: „Jetzt zum König“18, umgehend durch den Aktschluss abgeschnitten und zu Beginn des zweiten Aktes schon dadurch abgebremst, dass ihm Zutritt nur zu einer politischen Unterredung, nicht aber die Zweisamkeit mit dem Vater gestattet wird. Seinem Wunsch, seinem Vater außerhalb höfischer Formalität, d.h. ohne Beobachter zu begegnen, wird nicht stattgegeben. Als er die Anwesenheit des Herzogs von Alba bemerkt, verkehrt sich der empfindsame Auftrittsschwung in eine Rücktrittsbewegung: Wenn Don Karlos zu Beginn der Szene sogleich „mit einer Verbeugung zurück[tritt]“19, dann unter dem Druck eines höfischen Zeremonialregimes, das ihm weder Impuls noch Intimität gestattet. Sein erster Vers lautet: „Den Vortritt hat das Königreich.“20 Einmal mehr wird der Konflikt zwischen höfischer Szene und familiärer Unmittelbarkeit durch eine Bewegungskrise verdeutlicht, die mit der Unentschiedenheit von Rücktritt und Vortritt den Akt des Auftretens selbst problematisiert. Kaum eine andere Stelle vermag wie diese zu zeigen, wie Schiller politische und dramaturgische Krisen miteinander verschränkt und mit welcher Genauigkeit er beobachtet, dass diese neben der Rede der höfischen Protagonisten vor allem den Schritt und den Tritt betreffen, die die Szenen miteinander verbinden. 18 Schiller: Don Karlos, S. 809 (I/9, V. 1012). 19 Ebd., S. 811 (II/1). 20 Ebd. (V. 1015).

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Das Begehren des Kronprinzen zumindest richtet sich auf die Zerstörung der liaison und auf einen großen und durch keine szenische Verkettung relativierten Moment. Diente diese dazu, ein Gefüge von Auftritten in Zeit und Raum zu entfalten und den Zusammenhang des gesamten höfischen Systems zu verdeutlichen, so ersehnt sich Don Karlos einen emphatischen Auftritt im Singular: Wir sind allein./ Der Etikette bange Scheidewand/ Ist zwischen Sohn und Vater eingesunken./ Jetzt oder nie. Ein Sonnenstrahl der Hoffnung/ Glänzt in mir auf, und eine süße Ahnung/ Fliegt durch mein Herz – der ganze Himmel beugt/ Mit Scharen froher Engel sich herunter,/ Voll Rührung sieht der Dreimalheilige/ Dem großen, schönen Auftritt zu!21

Die Auftrittsphantasie des Thronfolgers gilt einem zeremoniellen Oxymoron: Er ersehnt einen „großen, schönen Auftritt“ und zugleich die imaginäre vierte Wand, die das bürgerliche Theater zwischen Parterre und Bühne aufrichtete, um die Illusion des Unbeobachtetseins zu erzeugen und auch am Hof jenen intimen Raum zu eröffnen, der die Konstituierung bürgerlicher Familien ermöglichte.22 Don Karlos‘ Rede evoziert die Form des rührenden Tableaus, die nach dem Vorbild der Diderot’schen Comédie larmoyante die familiäre Empfindungsgemeinschaft präsentiert,23 will jedoch zugleich den theatralen Begriff des Auftritts bewahren und den spektakulären Kern des Vorgangs auch in die neue Szene retten. Deutlich wird jedoch sofort, dass es weder in höfischer noch in familiärer Hinsicht zu einem gelungenen Doppelauftritt kommt. Der vom Puls der Empfindung angetriebene Thronfolger wird zur Ordnung gerufen und landet im Vorzimmer des Königs, wo er ohne die Vorrechte, die einem Kronprinz zustünden, unter anderen Höflingen auf Zugang wartet. Kontrollverluste Aber auch am König, so soll im Folgenden deutlich werden, zeigt sich die Zerrüttung der höfischen Formgrammatik. Nach dem Zerbrechen der Szenenkette bewegt sich auch dieser schutzlos durch das mit wachsenden Lücken durchsetzte 21 Ebd., S. 812f. (II/2, V. 1057-1065). 22 Vgl. Johannes Friedrich Lehmann: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg i.Br. 2000. Zur Frage der in Don Karlos konkurrierenden Gattungen vgl. zusammenfassend Cornelia Zumbusch: Die Immunität der Klassik, Frankfurt a.M. 2011, S. 160ff. 23 Vgl. Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2004, S. 81ff. Vgl. Michael Fried: Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Chicago 1980, S. 7ff. Da Auftritte vierte Wände zerstören und Situationen der gefühlvollen Ergriffenheit unterbrechen, kann der Auftritt als der natürliche Feind der auf Intimität ausgerichteten Bestrebungen des Thronfolgers angesehen werden.

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Gefüge der höfischen Gesellschaft. Gleich sein erster Auftritt im Garten der Königin führt in musterhafter Weise die formauflösenden Folgen vor, die sich aus dem Rückzug der Protokolldame nun auch für Philipp II. ergeben. Die Formkrise des Regimes bereitet sich dabei schon dadurch vor, dass er durch einen eilenden und unberufenen Boten angekündigt wird: „MARQUIS eilt aus der Allee: Der König!“24. Dieser kann bei seinem Erscheinen nur feststellen, dass zu seinem angemessenen Empfang nichts bereitet ist: Die Königin, die nur im Halbkreis ihrer Hofdamen auftreten dürfte, findet sich ohne „Begleitung“25. Die Bestrafung der nachlässigen Wächterin Mondekar gilt denn auch der unverzeihlichen Tatsache, dass die Kette der Auftritte nicht nach der Regel geknüpft wurde. Kennzeichnend für die Auftritte des Königs ist dabei nicht nur, dass sie aus der Form fallen, sondern auch, dass sie verfrüht, d.h. am Ende einer Szene und nicht an deren Anfang stattfinden. So schließt die fünfte Szene des ersten Aktes mit der Anweisung: „Die Königin sieht sich unruhig nach ihren Damen um, welche sich nirgends erblicken lassen. Wie sie nach dem Hintergrunde zurückgehen will, erscheint der König.“26 Indem Schiller den Herrscher auftreten lässt, bevor der Auftritt beginnt, entzieht er ihm die souveräne Position, die ihm durch die liaison gewährt war. Unzeitiges Erscheinen löst auch ihn und diesmal unfreiwillig aus dem Gefüge der szenischen Positionen, die seinen Ort und Rang im höfischen Raum veranschaulicht hätten. Tritt der König vor der protokollarischen Zeit in Erscheinung, verliert die vormals klar bezeichnete Szenengrenze ihre Prägnanz. An ihrer Stelle etabliert sich ein unbestimmter und ungeschiedener Zwischenzustand, der keine klaren Auftrittsrichtungen mehr erkennen lässt. Eine Markierung von Anfang und Ende, wie sie durch den Personenwechsel geleistet wurde, ist nicht mehr möglich. Bei der Ankunft des Königs tritt eine Unterbrechung ein, die durch die Regelung der liaison gerade verhindert werden sollte. Das Perpetuum mobile unentwegt ineinandergreifender Szenen stockt. Das unvermutete Erscheinen des Königs produziert zunächst Verlegenheit und vor allem jene tote und unstrukturierte Zeit, die die höfischen Uhrwerke aussetzen läßt:27 „KÖNIG sieht mit Befremdung umher und schweigt eine Zeitlang[.]“28 Mit dieser Entkoppelung von Auftritt und Szene stellt sich nun die erste der Pausen ein, die die Auftritte des Herrschers während des Stückes begleiten und die Leere sinnfällig machen, die ihn umgibt. Eingesenkt in dieses Schweigen verschwindet zugleich der Szenen-

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Schiller: Don Karlos, S. 802 (I/5, V. 803). Ebd. (I/6, V. 810). Ebd. Zur horreur vide in der tragédie vgl. Scherer: La Dramaturgie classique, S. 271. Schiller: Don Karlos, S. 802 (I/6).

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schnitt aus dem Wahrnehmungsfeld des Zuschauers, dem nun einzig die Schriftform des Dramas den Beginn einer neuen Szene anzeigt. Diese bereits bei seinem ersten Auftritt zu beobachtende Entstrukturierung in Raum und Zeit wird sich im Verlauf des Dramas dreimal wiederholen.29 Immer deutlicher konturieren sich die Züge eines neuen außerprotokollarischen Auftrittsregimes, das Zäsuren verwischt, Routinen zerstört, Verlegenheiten schafft und den geisterhaften Raum zwischen zwei Szenen zum Schauplatz überraschender und darum entgleisender königlicher Auftritte macht.30 Ihren Höhepunkt erreicht diese Deplatzierung des Königs in der höfischen Auftrittsordnung am Ende des achten Auftritts im fünften Akt, als Herzog Alba eigenmächtig die Tür zum königlichen Zimmer öffnet und sich damit die Rechte anmaßt, die nur dem Marquis Posa verliehen waren:31 „FERIA: Nein! Der Eintritt ist verboten./ ALBA: So öffn’ ich selbst – Die wachsende Gefahr/ Rechtfertigt diese Kühnheit –/ Wie er gegen die Türe geht, wird sie geöffnet, und der König tritt heraus. FERIA: Ha, Er selbst!“32 Nicht nur legt dieser Szenenschluss die Schutzlosigkeit eines Herrschers offen, in dessen Räume nun jedermann unangemeldet vordringen kann, es zeigt sich zugleich das endgültige Gespenstischwerden des Königs, dem der szenische Ort ebenso entzogen ist wie die Herrschaft über die Syntax der höfischer Formen. Seiner Herrschaftszeichen entkleidet und im Zwischenraum der Szenen ausgesetzt, wird er zum ohnmächtigen Nachtwandler: „Alle erschrecken über seinen Anblick, weichen zurück und lassen ihn ehrerbietig mitten durch. Er kommt in einem wachen Traume, wie eines Nachtwandlers. – Sein Anzug und seine Gestalt zeigen noch die Unordnung, worein ihn die gehabte Ohnmacht versetzt hat.“33 Die Zerstörung herrscherlicher Sichtbarkeit ist damit vollzogen.

29 Der dritte Auftritt im fünften Akt bringt die Ermordung des Marquis Posa zur Aufführung und endet in einem weiteren verfrühten Entrée des Königs: „Karlos bleibt wie tot bei dem Leichnam liegen. Nach einiger Zeit tritt der König herein, von vielen Granden begleitet, und fährt bei diesem Anblick betreten zurück. Eine allgemeine und tiefe Pause. Die Granden stellen sich in einen halben Kreis um diese beiden, und sehen wechselweise auf den König und seinen Sohn. Dieser liegt noch ohne alle Zeichen des Lebens. – Der König betrachtet ihn mit nachdenkender Stille. VIERTER AUFTRITT“ (Schiller: Don Karlos, S. 960f.). 30 Zur Zeremonialisierung höfischer Raumordnungen vgl. Rudolf Schlögl: Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum. Interaktionstheoretische Perspektiven der Forschung, in: Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien, hg. v. Franz Becker, Frankfurt a.M. 2004, S. 185-226, hier S. 196. 31 Vgl. Friedrich Schiller: Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 6: Historische Schriften und Erzählungen 1, hg. v. Otto Dann, Frankfurt a.M. 2002, S. 35-373. Aus seiner Darstellung geht hervor, dass Philipp II. dem Herzog von Alba den ungemeldeten Eintritt verwehrte. 32 Schiller: Don Karlos, S. 972 (V/8, V. 5013ff.). 33 Ebd., S. 973 (V/8).

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Seitenwechsel. Hintergrundmächte Dennoch endet das Stück nicht mit einer Abdankung. Nur scheinbar deutet die Unordnung der Kleidung und der Mangel an Präsenz das Ende einer Herrschaft an. Die vorletzte Szene führt eine Wende herbei, die den gespenstisch gewordenen König auf andere Weise, dafür aber umso nachdrücklicher wieder ins Spiel bringt. Im Finale des Stücks werden verlorene Posten zurückgewonnen und der entmachtete Herrscher wieder eingesetzt. Diese Wiederermächtigung des Königs nach „gehabte[r] Ohnmacht“ ist mit einer grundlegenden Transformation bestehender höfischer Auftrittsregelungen verbunden. Nach einem Umsturz des bis dahin auf der spektakulären Sichtbarkeit des Herrschers gegründeten Formregimes rückt nun das Zentrum der Macht aus dem Blickfeld des Betrachters. Diese in Don Karlos sich abzeichnende Entwicklung steht in klarem Zusammenhang mit dem Aufkommen panoptischer Strukturen im absolutistischen Herrschaftsraum und signalisiert den Bedeutungsverlust des theatralen Proszeniums zugunsten eines allsehenden Auges aus dem Hintergrund. In der Wende des Stückes transformiert sich Philipp II., dessen politische Schwächung sich zunächst im zerfallenden Auftrittszeremoniell des Hofes widerspiegelt, zum Akteur eines im theatralen Bild- und Blickfeld des Hofes nicht mehr genau zu lokalisierenden Schreckensregimes. Am Leitfaden der Thesen Michel Foucaults kann auch an Schillers Don Karlos die Ablösung des höfischen Schauspiels durch Strukturen der Überwachung aufgezeigt und „das allmähliche Erlöschen der glänzenden Feste der Souveränität, das Verstummen der spektakulären Kundgebungen der Macht“34 mit dem Aufbau einer panoptischen Hintergrundwelt in Verbindung gebracht werden. Schillers Philipp II., so ist abschließend zu zeigen, restituiert seine monarchische Autorität, indem er von der erleuchteten Vorderbühne in ein Irgendwo, aus der Sichtbarkeit in die Unsichtbarkeit wechselt, um sich dort mit einer Institution zu verbünden, die sich nicht in theatralen Erscheinungsformen manifestiert und auch den König schon immer beobachtet hat: der Inquisition. Bezeichnenderweise aber leitet Philipp II. auch diese Wiederkehr mit der Erneuerung eines Auftritts ein. Mit Hilfe folgenden Befehls erlangt er die Macht über den Personenwechsel zurück, die ihm in den voranstehenden Szenen entwendet worden war: „Ich erneure einen Auftritt/ Vergangner Jahre. Philipp der Infant/ Holt Rat bei seinem Lehrer.“35 Der sich hier anschließende Auftritt folgt keiner bestehenden Ordnung der Sichtbarkeit, er lässt sich vielmehr als Geisterauftritt, d.h. als Auftritt eines im Dunkeln agierenden und nicht zu lokalisierenden Mächtigen lesen. Philipps Befehl zitiert eine alte und bis dahin verborgene 34 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1994, S. 279. 35 Schiller: Don Karlos, S. 978 (V/10, V. 5145ff.).

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Macht auf die Bühne, der sie bis dahin ferngeblieben war: „Der Kardinal Großinquisitor, ein Greis von neunzig Jahren und blind, auf einen Stab gestützt und von zwei Dominikanern geführt. Wie er durch ihre Reihen geht, werfen sich alle Granden vor ihm nieder und berühren den Saum seines Kleides.“36 Bezeichnenderweise erscheint auch der Großinquisitor, wie zuvor der König, im Zwischenraum zwischen den Szenen, und wie dieser gibt er sich durch die Unbestimmtheit der Auftrittsstelle als gespenstisch zu erkennen. Doch wird damit keine Schwäche mehr signalisiert. Vielmehr wird dort, wo die Syntax des Protokolls zerbricht, ein Machtapparat sichtbar, der sich bisher hinter den ‚Ornamenten‘ der Repräsentation verborgen hatte. Dass er überhaupt zu sehen ist, hängt unmittelbar mit der Tatsache zusammen, dass der aus den „Bande[n] der Zeremonie“37 entlassene König zumindest in höfischen Begriffen unsichtbar geworden ist. Die Ordnung des höfischen Theaters erreicht ihre Grenze, wenn ein Blinder und ein Unsichtbarer miteinander ins Gespräch treten. Mit Ironie konstatiert der blinde Großinquisitor den Bankrott absolutistischer Herrscherrepräsentation, wenn er bei seinem Auftreten fragt: „Steh’/ Ich vor dem König?“38. Gleichzeitig assoziiert er sich als Blinder mit einer Dunkelheit, die die verborgene und nicht repräsentierbare Rückseite der höfischen Ordnung hervorkehrt und in der Folge auch den König zu sich hinüberzieht. Nach dem Zerbrechen der liaison des scènes am spanischen Hof folgen daher weder eine Wiederherstellung der höfischen Gesellschaft noch die „großen, schönen Auftritt[e]“ derjenigen, die dem Rhythmus des Herzschlags oder dem Drängen der Kräfte folgten. Stattdessen regeneriert sich mit dem erneuerten Auftritt des Großinquisitors eine Ordnung, die sich ausschließlich auf Wiederholung und Verwesung gründet. Ihr gespenstischer Bühnenmodus ist das unbemerkte Erscheinen an ungewisser Stelle und ihr Regime nutzt die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, dass die Mächtigen in nicht mehr deutlich umrissener Gestalt ins Blickfeld treten. Die Bewegungen des empfindsamen Jünglings oder des charismatischen Marquis werden am Ende wie auch alle anderen Pulse durch ein neues Regime gewaltsam zum Stillstand gebracht. In der letzten Szene des Dramas, die dem Wechsel des Königs auf die Seite der Inquisition folgt, findet sich zuletzt die folgende Regieanweisung: „Der König, begleitet vom Großinquisitor und seinen Granden, erscheint im Hintergrunde, ohne bemerkt zu werden.“39 Sie dokumentiert in aller Kürze einen doppelten Bruch mit dem höfischen Auftrittsregime und zieht die Konsequenzen aus der räumlichen Desorientierung, die mit dem Anwachsen der Hintergründe im dramatischen Raum und der Verundeut36 37 38 39

Ebd. (V/9). Schiller: Abfall der Niederlande, S. 99. Schiller: Don Karlos, S. 978 (V/10, V. 5143f.). Ebd., S. 985 (V/11).

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lichung der dort befindlichen Gestalten einhergeht. Denn zielten die höfischen Inszenierungen bis dahin darauf ab, den König in allen seinen Bewegungen für alle wahrnehmbar ins Licht zu stellen, so erscheint er nun erstens im Hintergrund und zweitens unbemerkt. Die Inquisitoren und der an ihre Seite getretene Herrscher agieren nunmehr aus der Latenz eines dunklen Fonds heraus, der es ihnen erlaubt, zu beobachten und dann zu intervenieren. Gemeinsam bewegen sie sich im Schutz einer obscuritas, die den glänzenden höfischen Auftritt schon deswegen desavouiert, weil sie eine wirksame Unterscheidung zwischen On und Off, Anwesenheit und Abwesenheit unmöglich macht. Wenn von einer Auftrittsform der Inquisition überhaupt die Rede sein kann, dann, wie es in Schillers Schrift Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung heißt, als Eingreifen „plötzlich aus dem Hintergrund“40. Ebendieser Hintergrund, der das Faktum des Auftritts nicht mehr zum entscheidenden Kriterium für die Anwesenheit auf der Bühne nimmt und im Verborgenen einen Auftritt ohne Auftritt möglich macht, baut sich im Verlauf des Don Karlos als ein bedrohlicher auf. Rückblickend kann daher von einem Stück gesprochen werden, das die politische Produktivität des dunklen Fonds in zahlreichen Regieanweisungen darlegt und zugleich die Herrschaftsformen beschreibt, die durch diese räumliche Neuorientierung begünstigt werden.41 Dabei kann rückblickend wahrgenommen werden, dass dieser Hintergrund bereits im ersten Auftritt des Stückes für Beobachtungsinteressen instrumentalisiert wurde, indem er den Thronfolger von Beginn an unter den Augen einer unsichtbaren und zugleich allgegenwärtigen Institution agieren lässt: Abwesendanwesend sind Kirche und Inquisition stets gegenwärtig, wenn er auftritt. Deutlicher als die vollendeten Fassungen entwirft das Thalia-Fragment von 1786 Don Karlos als einen bereits bei Spielbeginn unter Beobachtung stehenden Charakter. Hier deutet die Regieanweisung: „Unterdessen zeigt sich im Hintergrund der Pater Domingo, und bleibt eine Zeitlang stehen ihn zu beobachten. Endlich nähert er sich, auf das Geräusch ermuntert sich Karlos, und fährt unwillig auf“42, auf ein Theater hin, das auftretende Figuren ohne ihr Wissen und von unbestimmter Stelle aus in den Blick nimmt.43 Umgekehrt führt es in präzisen Schritten vor, wie der 40 Schiller: Abfall der Niederlande, S. 358. Hier verwendet im Zusammenhang mit der Verhaftung des Grafen Egmont. 41 Inwieweit Schiller hier dramaturgische Positionen Racines ausarbeitet, die er spätestens bei seiner Übersetzung der ersten Szene des Britannicus kennenlernte, müsste genauer untersucht werden. Vgl. Friedrich Schiller: Britannikus, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 9: Übersetzungen und Bearbeitungen, hg. v. Heinz Gerd Ingenkamp, Frankfurt a.M. 1995, S. 601-612. 42 Siehe die Thalia-Fragmente von Don Karlos in: Schiller: Don Karlos, S. 15-174, hier S. 22. 43 Vgl. auch Roland Racevskis: Tragic Passages. Jean Racine’s Art of the Threshold, Lewisburg 2008, S. 99: „The externalization of power in space, combined with the fact that the observer remains invisible, suggests another move towards panopticism, not yet fully accomplished

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aus den Banden des Zeremoniells entlassene König zu einem Einwohner uneinsehbarer Raumfluchten wird, wenn er sich unter die Gespenster begibt und von dorther und in Übereinstimmung mit dem unsichtbaren Apparat der Inquisition seine Rückkehr organisiert. Wie die Inquisitoren erscheint er nun auch an ungewisser Raum- und Zeitstelle. Seine wiedergewonnene Macht erweist sich, wie er sogleich mit der Verhaftung des Thronfolgers deutlich macht, nun gleichfalls durch Beobachtung aus dem Hintergrund und durch plötzliche Intervention. Schritte und ihre Abfolgen sind dafür ebenso wenig erforderlich wie ein höfisches Formenrepertoire, das Macht- und Rangpositionen durch Auftritte definiert, die klar zwischen Anwesenheit und Abwesenheit unterscheiden.44 Mit diesem Positionswechsel ist gleichzeitig eine Depersonalisierung verbunden. Denn der König, dem das Register des Spektakulären künftig verschlossen ist, wechselt nun auf die unsichtbare Seite der Macht, in der sich Behörden und Institutionen in den Kabinetten ausgebreitet haben. Der Arkanbereich, in dem er von nun an agiert, ist der Herrschaftsraum der Inquisition, einer Macht, die nun auch den König zu einem unsichtbaren Handlanger ihrer Interessen macht. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Schiller in seinem Don Karlos eine differenzierte und vielfach geschichtete Krisenlandschaft höfischer Zeichensysteme offenlegt. Die Konvention der liaison des scènes, wie sie durch das französische Hoftheater entwickelt wurde, bietet ihm Anlass für eine umfassende Analyse einer theatralen Praxis, die ebenso wie das in ihr wirksame Symbolisierungsvermögen zunehmend an Geltung verliert. Zugleich eröffnen sich utopische Perspektiven auf eine zukünftige Welt der „großen, schönen Auftritt[e]“, in der empfindsame oder charismatische Entrées über den Schematismus höfischer Inszenierungen zu triumphieren scheinen. Dem geregelten königlichen Auftritt wird weder Form noch Stelle zugewiesen, so wenig wie das Theater die Herrschaft der Obskuren zu symbolisieren vermag. Wenn der König erscheint, ohne bemerkt zu werden, wenn er interveniert, ohne empfangen zu werden, versagen, wie sich in Don Karlos zeigt, die semiotischen Orientierungen der Beherrschten but nonetheless strongly suggested in Britannicus – the transition to impersonal power. Spatial relations, rather than individual prerogatives, determine intersubjective dynamics of domination. It is not a single individual who holds the power as a result of his or her identity or legitimacy. […] The system is beginning to take precedence over the individual, and Neron is only too happy to maintain his observation post, in silence and invisibility.“ Dabei ist zu untersuchen, wie die höfische Kunst der Menschenbeobachtung (vgl. Elias: Höfische Gesellschaft, S. 159) allmählich zugunsten eines panoptischen Beobachtungsmodells transformiert wird (vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 251ff.). Vgl. hierzu außerdem: Hans-Christian von Herrmann: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München 2005, hier das Kapitel: Panoptismus, S. 219-234. 44 So heißt es bei der Festnahme des Kronprinzen und der Königin, ohne dass vorher eine Bewegung notiert worden wäre: „Er greift nach der Maske. Der König steht zwischen ihnen.“ (Schiller: Don Karlos, S. 986.)

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wie die des Königs selbst. Die Analogie, die das Theater mit dem Hof verknüpfte, besitzt nun keine Grundlage mehr, so wie auch das dramaturgische Regime des Hofes seine Autorität über die Bewegungsabläufe einbüßt. In der finalen Wendung des Dramas jedoch wird ein Regime implementiert, das der zeremoniellen Visualisierung von Herrschaft ebenso wenig bedarf wie geregelter Auftritte, die das protokollarische Funktionieren von Herrschaft anschaulich machen. An die Stelle theatraler Zeichen tritt ein Herrschaftsprinzip, das seine Untergebenen aus einem undurchsichtigen Hintergrund heraus beobachtet und durch gezielte und unvorhersehbare Einschreitungen in Schrecken hält. Auch diese Herrschaftsinstanz – die Inquisition – ist eine Behörde. Das höfische Theater bewegt sich damit vor einem Vermutungsraum, aus dessen Tiefe heraus die Sichtbarkeit von Figuren als konstitutiver Modus des Theatralen in einer für die Moderne wegweisenden Form in Frage gestellt wird.

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Vorbemerkung: Die Suspendierung der Tragödie. Auftrittsprotokolle des Lebens Goethe begegnet dem Auftrittsprotokoll der klassizistischen Tragödie mit großen Vorbehalten.1 Seine eigenen Tragödien entmystifizieren den tragischen Grund und vertreiben den Schrecken, der die Figuren Racines aus der Tiefe bedrohte. Die arkanen Raumstaffelungen oder chambres de terreur, in denen grausame Monster wüteten, weichen Bühnenvorstellungen ohne despotisches Hinterland. Am Ende der Iphigenie auf Tauris ziehen sich die Rachegeister, die jenseits der Bühne Orestes erwarten, „[w]ie eine Schlange“2 in ihre Höhle zurück. „Die Eumeniden ziehn, ich höre sie,/ Zum Tartarus und schlagen hinter sich/ Die ehrnen Tore fernabdonnernd zu.“3 Auch in Torquato Tasso, baut sich kein hintergründiges Arkanum mehr auf. Die Fürsten von Ferrara verlassen nicht nur die Bühne, sie verschwinden auch aus dem Hintergrund: „Sie gehn hinweg – O Gott! Dort seh’ ich schon/ Den Staub, der von den Wagen sich erhebt […].“4 Am Ende des Stückes findet sich Tasso vor einer leeren chambre wieder, die ihn ganz auf sich selbst gestellt sein lässt. War Racines Theater auf einen „unbestimmten, dunklen, auf jeden Fall nicht vordergründigen Ort“5 hin orientiert, von dem alles Unheil ausging, befreit sich Goethes Theater aus solchen Tiefenbezügen. Programmatisch widersetzen sich seine im weiteren Umkreis der Tragödie angesiedelten dramatischen Texte der Unausweichlichkeit tragischer Verläufe und streben die Normalisierung menschlicher Verhältnisse an. Mittelgründe Gleichzeitig wird den dramatischen Figuren ein neuer Aufenthaltsort zugewiesen, der nicht mehr an der Rampe oder im Proszenium liegt. Auftretend bewegen sie 1

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Zu Goethes Vorbehalten gegenüber der Gattung vgl. Marie-Christin Wilms: „Die Construction der Tragödie“. Zum Bedingungsverhältnis von Tragischem und Ästhetischem in Goethes Tragödientheorie, in: Goethe-Jahrbuch 123 (2006), S. 39-53, hier S. 39ff.; Nicholas Boyle: Goethe’s Theory of Tragedy, in: The Modern Language Review 105 (2010), S. 1072-1086. Zu Goethes Tragödienverständnis generell vgl. Peter Szondi: Versuch über das Tragische, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1964, S. 30ff. Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris, in: MA 3.1, S. 161-221, hier S. 219 (V. 2124). Vgl. ebd. S. 197 (V. 1359-1361). Johann Wolfgang Goethe: Torquato Tasso. Ein Schauspiel, in: MA 3.1, S. 426-520, hier S. 518 (V. 3385f.). Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 11. Aufl., Tübingen 2015, S. 11.

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sich in einer Sphäre, die in Anlehnung an einen Begriff der Malerei als ‚Mittelgrund‘ bezeichnet werden kann und dementsprechend schwache Auftrittsprotokolle ausbildet. In mehrfacher Hinsicht sind sie Milieubewohner, die Distanz zu den räumlichen Extremen der Bühne halten. Wer im Mittelgrund lebt, macht keine Rampenerfahrungen. Zwar ist er sichtbar, doch nur in der Gesamtheit seiner Determinanten und ohne den Glanz, den der höfische Erscheinungsraum seinen Akteuren verleiht. Goethes Figuren kennen keine Disjunktion, sie bleiben auch noch im Auftritt eingebettet.6 Anders jedoch als in der Tragödie Racines handelt es sich auch nicht mehr um tragische Tiefenverhaftungen mit Todesfolge, sondern um mittlere und nicht exponierende Auftrittsformen, die höhere Lebensund Überlebenschancen bieten. Sie stehen für eine paradoxe Theatralitätskonzeption, die ohne Auftrittsbetonungen auskommt. Entaristokratisierung der Bühne Diese Neuverortung der Figuren im Mittelgrund führt zwangsläufig zu einer Entaristokratisierung der Bühne. Wenn die Figuren in der halben Tiefe auftreten, entleert sich der Vordergrund, der der aristokratischen Personeninszenierung vorbehalten war. Der Schauplatz der Entrées, der akzentuierten Auftritte, aber auch der gefährlichen Selbstexposition weicht unauffälligeren Spielräumen. Wenn es die Aufgabe des Adeligen war, „höchst vorzüglich in der Welt auf[zu]treten“7, hält sich der Bürger zurück. Er exponiert sich nicht wie der Aristokrat, der bekanntlich nur dann existiert, wenn er im Vordergrund erscheint. Das Beispiel von Goethes Tragödie Die natürliche Tochter gibt hierzu wertvolle Hinweise. An die Stelle aristokratischer Repräsentation, die, wie es in Wilhelm Meisters Lehrjahre heißt, durch Auftritt und Vorwärtskommen geprägt war,8 treten schwächere Artikulationen von Gegenwart. Tragischer Gegenstand des Stückes ist das unstillbare Auftrittsbegehren einer ‚natürlichen‘ Tochter, Eugenie, deren Wunsch, bei Hof und 6 7 8

Vgl. Christoph Menke: Force. Towards an Aesthetic Concept of Life, in: MLN 125 (2010), S. 552570, hier S. 564: „in accordance with the conditions of its environment“. Johann Wolfgang Goethe: Inschriften, Denk- und Senke-Blätter und Aufklärende Bemerkungen über Festliche Lebens-Epochen, und Lichtblicke traulicher Verhältnisse, vom Dichter gefeiert, in: FA I.2, S. 573-620, hier S. 598. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman, in: MA 5, S. 7-610, hier S. 290: „Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, wenn man aus ihm Könige oder königähnliche Figuren erschaffen kann; so darf er überall mit einem stillen Bewußtsein vor seines gleichen treten; er darf überall vorwärts dringen, anstatt daß dem Bürger nichts besser ansteht, als das reine stille Gefühl der Grenzlinie die ihm gezogen ist.“ Vgl. auch Patrick Primavesi: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800, Frankfurt a.M., S. 104ff. Primavesi zeigt zugleich die Entwertung von Festlichkeit, die im Prozess der Verbürgerlichung angelegt ist.

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unter den Augen des Monarchen glänzend zu erscheinen, durch die Machenschaften ihrer Familie und vermutlich des Königs selbst hintertrieben wird. Nach ihrer Entführung, die ihre Hoffnung auf éclat gänzlich zerstört, lässt Goethe sie „im Grunde“9 erscheinen. Diese Regieanweisung im vierten Akt bezeichnet ihren neuen und unspektakulären Ort in der bürgerlichen Welt. Am Ende der Tragödie wird sie sich entschließen, der höfischen Sphäre vorübergehend zu entsagen. Zwischen Tod und Glanz, Rampe und profondeur hin- und hergerissen, entscheidet sie sich für das gemäßigte Hinterland. Aus der Welt der glänzenden Erscheinungen wechselt sie in die Sphäre der Scheinlosigkeit,10 die Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahre explizit als bürgerlich bezeichnet. Eugenie tritt in eine Welt über, die dem Prunkauftritt keinen Raum gewährt, und deren Figuren, wie Herder bemerkte, wie mit dem „Silberstift“11 gezeichnet sind. Am Ende zieht sie sich in das Landhaus eines Bürgers zurück, der ihr eine sichere, wenn auch unspektakuläre Existenz an seiner Seite in Aussicht stellt, und vermeidet zugleich, dass sie von den Hintergrundgewalten verschlungen wird, die im bedrohlichen Bild des Meeres gegenwärtig sind. Zwischen éclat auf der einen und despotischem Tiefenschrecken auf der anderen Seite gelegen, bietet dieses Haus Eugenie eine vorübergehende Unterkunft. Wer sich im Halbgrund aufhält, kann überleben und vermeidet die tragische Schließung seines Schicksals. Temporalisierung: Erscheinung und Emergenz Dies ist jedoch nur ein Indiz dafür, dass der Grund in Goethes Texten eine gänzlich andere Funktion besitzt als in den Tragödien Racines. Anders als die tödliche profondeur der chambre, die der Figur Form und Farbe zu entziehen drohte, stehen Goethes Gründe für eine grenzenlose Produktivität der Figuration. Auf seinem Theater werden aus den objets défigurés Racines objets naissants. Seine Auftrittsprotokolle drohen den Figuren nicht mit Vernichtung, sie führen sie in statu nascendi vor und entfalten zugleich ihren morphologischen Reichtum. Damit setzen sie einen tendenziell unendlichen formativen Prozess in Gang, der den Auftritt mit den Merkmalen des Werdens ausstattet. „Wo die Genesis in den Fokus tritt“, heißt es bei Christoph Menke, „ist auch der Grund im Spiel“.12 Explizit 9

Johann Wolfgang Goethe: Die natürliche Tochter, in: MA 6.1, S. 241-326, hier S. 241: „EUGENIE (in einen Schleier gehüllt, auf einer Bank im Grunde, mit dem Gesicht nach der See).“ 10 Vgl. hierzu Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 17. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1987, S. 73f. 11 Zitiert nach dem Kommentar zu Die natürliche Tochter, FA I/6, S. 1116-1175, hier S. 1121. 12 Menke: Force, S. 556. Vgl. Wolfgang Iser: Emergenz. Ein Essay, in: ders.: Emergenz. Nachgelassene und verstreut publizierte Essays, hg. v. Alexander Schmitz, Konstanz 2013, S. 19-150, hier S. 22.

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wird die Gestaltenproduktion in den Stücken Goethes auf die fortdauernde Produktivität eines räumlich unbestimmten Kräftefeldes angelegt, das die Figuren hervortreibt, umbildet und wieder in sich einfaltet.13 In den Regieanweisungen aus der Weimarer Zeit werden daher die Gründe stets mitgesetzt. Auffällig oft beginnen sie mit der Formulierung „im Grunde“14 und schaffen so die Bedingungen der Möglichkeit eines unmittelbar aus der Produktivität des Grundes hervorgehenden Auftritts. Wolfgang Iser folgend können sie als „ursprungssetzende[ ]“15 Fundierungen beschrieben werden, die den Prozess der Figurenbildung in Gang bringen und zugleich in Gang halten. War die profondeur Racines eine „Grabstätte“16, so sind Goethes Gründe Stätten der Geburt – Übergangszonen zwischen Nichts und Etwas, nebelhaft und fest, Entstehen und Vergehen, loser und strikter Koppelung. Auftretende Figuren emergieren aus einem schöpferischen Möglichkeitsfeld, das immer nur vorläufige und tendenziell instabile Formen schafft. Entsprechend treffen wir auf emphatisch temporalisierte Auftritte. Ausschließlich in der Zeit, nur allmählich und in transitorischen Zuständen formieren sich Goethes Bühnenerscheinungen. An die Stelle einer Auftrittskultur der Zeichen- und Rangerkennung, wie sie an den Höfen herrschte, treten veränderliche Personenbilder, die sich einer sozialen wie auch jeder anderen Festlegung entziehen. Goethes Vorliebe für das Partizip Präsens, das einen in der Gegenwart andauernden Vorgang grammatikalisch bezeichnet, verleiht auch seinen Auftrittsanweisungen prozessualen Charakter. Der Nebentext, welcher der Helena oder dem Orest in der Iphigenie beigegeben ist: „HELENA (hervortretend)“ und „Er entfernt sich“,17 lässt die Verzeitlichung allen Erscheinens in seinem Theater deutlich werden. Damit ist auch unterstrichen, dass die dramatische Figur nicht als eine gegebene, sondern als eine emergente das Theater betritt, dass sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich gegenwärtig ist und dass sich auch die „Intensität der Erscheinung“18 in Graden messen lässt. Rhetorische oder höfische Formen des In-Erscheinung-Tretens werden durch sukzessive und graduale abgelöst, welche die Figuren in Abschattungen, 13 Vgl. Gottfried Boehm: Der Grund. Über das ikonische Kontinuum, in: Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, hg. v. dems. u. Matteo Burioni, München 2012, S. 29-94, hier S. 47ff. 14 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Der Groß-Cophta, in: MA 4.1, S. 9-93, hier S. 9: „Im Grunde des Theaters“; ders.: Des Epimenides Erwachen, in: MA 9, S 195-232, hier S. 197: „im Grunde ein tempelähnliches Wohngebäude“; ders.: Pantomimisches Ballett, in: MA 2.1, S. 500-509, hier S. 500: „Wald, Nacht, im Grunde ein Berg“. Vgl. auch das Folgekapitel II,1. 15 Iser: Emergenz, S. 27. 16 Wolfgang Pichler: Zur Kunstgeschichte des Bildfeldes, in: Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, hg. v. Gottfried Boehm u. Matteo Burioni, München 2012, S. 441-474, hier S. 442. 17 Goethe: Iphigenie auf Tauris, S. 190; Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: MA 18.1, S. 105-352, hier S. 165. 18 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004, S. 289.

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immer nur vorläufig und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten in den Blick des Betrachters rücken. „Die Form wird nicht gegeben mit einem Mal, ganz und voll und klar, sondern man schafft gleichsam eine Bildungssphäre […].“19 Diesen Figuren eignet daher nur eine transitorische und instabile Theatralität, die sich nicht mehr im vollen Licht des Hofes entfaltet. Vor allem in Goethes späteren Texten wird man Protokolle entdecken, die „Defiguration und Refiguration“20 verschränken und eine Beweglichkeit aufweisen, die erst durch nachträgliche, von außen erfolgende Eingriffe stillgestellt werden kann. Auftrittsprotokolle des Lebens Diesem Sachverhalt entsprechen Auftrittsformen, die nicht mehr dem sozialen Distinktionsbedürfnis des Hofes, sondern der verschwenderischen Produktivität des Lebens selbst Ausdruck verleihen sollten. Goethes Texte, die hier behandelt werden sollen, entwickeln einen neuen, emphatisch anti-höfischen Theatralitätstypus und mit ihm eine neue Form der Evidenz, die nicht mehr das Resultat rhetorischer Verlebendigung, d.h. rhetorische Figur, sondern unmittelbarer Ausfluss des Lebens selbst sein soll. Goethes Auftritte sind als Lebenszeugnisse und Lebenserzeugnisse angelegt, die einer in Erstarrung gefallenen höfischen, aber auch der tragischen Szene neue Impulse zuführen. An die Stelle der durch die Höfe definierten Auftrittsimago treten die energischen Selbstäußerungen eines unbestimmbaren evolutiven Prinzips, das seine Hervorbringungen weder in sozialer noch in formaler Hinsicht festlegt.21 Das Schöpferische dieses Vorgangs teilt sich auch den Auftrittsformen von Goethes Theater mit. Mit Hubert Thüring, der in seinem Buch Das neue Leben auch die Grundlagen des Goethe’schen Lebensbegriffs herausarbeitet, lässt sich das Leben, wie es im Diskurs um 1800 er-

19 Heinrich Wölfflin: Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, 4. Aufl., München 1926, S. 52. Vgl. David Wellbery: Form und Idee. Skizze eines Begriffsfeldes um 1800, in: Morphologie und Moderne. Goethes ‚anschauliches Denken‘ in den Geistes-und Kulturwissenschaften seit 1800, hg. v. Jonas Maatsch, Berlin 2014, S. 17-42. Eva Geulen: Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager, Berlin 2016; Claudia Blümle u. Armin Schäfer (Hg.): Organismus und Kunstwerk. Zur Einführung, in: Struktur, Figur, Kontur: Abstraktion in Kunst und Lebenswissenschaften, Zürich/Berlin 2007, S. 9-25. 20 Hubert Thüring: Das neue Leben. Studien zu Literatur und Biopolitik 1750-1938, München/ Paderborn 2012, S. 27. 21 Vgl. ebd., S. 20, mit Verweis auf Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, übers. v. Davide Giuriato, Frankfurt a.M. 2003, S. 23. Vgl. auch ebd., S. 28: „In der politisch-sozialen Perspektive besteht sie [die defigurierende Kraft des Lebens; J.V.] in der Auflösung der Ständegesellschaft zugunsten einer flexiblen Formierung, Normierung und Normalisierung individueller und kollektiver Existenzformen.“

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scheint, als ein unbestimmbares Subjekt begreifen,22 das bestehende Strukturen ‚im Grunde‘ oder vom Grunde her in Bewegung setzt, mit Eva Geulen als eine Vielheit, die nicht abgegrenzte Individuen, sondern multiple, wandlungsfähige Pluralitäten hervorbringt.23 Dieses Modell hat sich von der für Racines Auftrittsprotokolle maßgeblichen Souveränitätsvorstellung klar verabschiedet.24 Auftritte in Goethes Texten werden nicht mehr durch einen Souverän anbefohlen, ermöglicht oder verhindert. Dieser ist weder vor der Bühne noch auf der Bühne oder hinter der Bühne anzutreffen. Vielmehr sind Auftritte Hervorbringungen des Lebens, das seine Produktion selbst reguliert.25 Hinter der Gestaltenproduktion in der Dramaturgie Goethes stehen politische und ökonomische Regelungskräfte, die den Wechsel von Hervorkommen und Verschwinden in neuer Weise organisieren. Von hier aus lassen sich die Grundzüge eines Theaters nachzeichnen, das den Grund als seine unerschöpfliche Quelle betrachtet. Goethes Gründe sind „schaffende[ ] Gewebe“26, die auch im Hintergrund des Theaters unaufhörlich produktiv sind. In seinen Auftrittsformen erweist sich das Drama als ein Betätigungsfeld der Bevölkerungspflege, die auch im Kunstraum des Theaters für geregeltes Wachstum sorgt. Zugespitzt formuliert erhöht jeder Auftritt auf der Bühne des Lebens die Geburtenrate: Er wird zum biopoetischen Ereignis.27 Anti-tragisches Hervorkommen Vor diesem Hintergrund lassen sich die anti-tragischen Tendenzen dieser Dramaturgie noch einmal pointieren. Goethe setzt das Auftrittsprotokoll des Lebens hauptsächlich dort ein, wo sich im Umkreis der Tragödie ein tragischer Vollzug anbahnt. Goethes Texte halten der drohenden Katastrophe ein gesteigertes Auftrittsgeschehen entgegen, das sich dem Finalisierungszwang der Gattung entzieht. Dem „eng gehaltenen, lakonischen Hergang“28 der Tragödie wird durch erhöhte 22 Vgl. ebd., S. 23. 23 Geulen: Aus dem Leben der Form, S. 16ff. 24 Vgl. Joseph Vogl: Romantische Ökonomie. Regierung und Regulation um 1800, in: Das LaokoonParadigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, hg. v. Inge Baxmann, Michael Franz u. Wolfgang Schäffner, Berlin 2000, S. 227-240. 25 Vgl. Thüring: Das neue Leben, S. 15; Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1977, S. 166, S. 173. 26 Johann Wolfgang Goethe: Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet, in: MA 12, S. 12-17, hier S. 17. Zur Gewebemetapher bei Wolff und Goethe vgl. Dietmar Schmidt: Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen, München/Paderborn 2011, S. 129-149. 27 Zu Goethes Biopoetik vgl. neuerdings: Viktoria Niehle: Die Poetik der Fülle – Poetologische Annäherung an ein konstitutives Moment der modernen Literatur. Ms., S. 208-214. 28 Johann Wolfgang Goethe: Phaeton. Tragödie des Euripides, in: MA 13.1, S. 301-313, hier S. 310.

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Gestaltenproduktion Einhalt geboten, dem Verschwinden durch ein fortlaufend erneuertes, ausgleichendes Ankommen. Die Introduktion von Leben bedeutet die fortwährende Suspension des tragischen Urteils, Entfinalisierung und erneuertes Wachstum, was auch dem Tod eine andere Bedeutung gibt. Unter solchen Auftrittsbedingungen kann auch das Sterben als ein natürlicher und damit untragischer Vorgang interpretiert werden. Während der Tod bei Racine die Folge souveräner Willkür ist, herrscht bei Goethe das gleichgültige ‚Stirb und werde‘ natürlicher Lebensvollzüge. In den Texten Iphigenie auf Tauris, Pandora, aber auch im Helena-Akt aus dem zweiten Teil der Faust-Tragödie, die hier behandelt werden, treten tragische Gründe mit produktiven, gestaltenschaffenden Gründen in Konkurrenz. Das negative Auftrittsprotokoll, das auf die Vernichtung des Subjekts hin angelegt ist, wird durch ein Protokoll überwunden, das mit dem emphatischen Vorschreiten oder der atmosphärischen Einschließung der Figur das Leben selbst in Szene setzt. Den Momenten dieses Widerstreits ist in den anschließenden Studien nachzugehen. Schwankende Gestalten Andererseits lässt sich beobachten, wie dieses Protokoll des Lebens allmählich in ein Gespensterprotokoll übergeht und seine Merkmale nun im Gespenstischen wiederkehren. Goethes Dramaturgie des Lebens transformiert sich in seinen späteren Texten bruchlos in eine ontologisch verdächtige Gestaltenproduktion, die aus verdichteten Atmosphären – Rauch, Dunst, Wolken, Licht, körperlosen Schemen – hervorgeht und die Mediatisierung allen Auftretens anzeigt.29 Der Körper als Träger eines Personenbildes wird immer fragwürdiger. Mephisto benutzt das treffende Wort „Getreibe“30, wenn er das offene und nebulistische Feld benennt, aus dem die Figur der Helena hervortritt. Vor allem das Faust-Projekt arbeitet daran, die Grenzen zwischen euphorischer Emergenz und gespenstischem Treiben aufzulösen. Die mephistophelische Regie lässt es durchweg als ungewiss erscheinen, ob sich bloße ‚Erscheinungen‘ oder ‚lebendige‘ Personen sehen lassen. Im Festspiel Des Epimenides Erwachen ist das Protokoll einer nicht mehr im Körper verankerten Figurenbildung festgehalten. Auftritte werden zu gespenstischen Ereignissen auf einem potentiell leeren Theater:

29 Vgl. Cornelia Zumbusch: Dämonische Texturen. Der durchkreuzte Wunsch in Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg. v. Lars Friedrich, Eva Geulen u. Kirk Wetters, Paderborn 2014, S. 79-96. 30 Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, S. 157 (V. 6279).

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Verdichtet schwankt der Nebelrauch und wächst/ Und webt, er webt undeutliche Gestalten,/ Die deutlich doch undeutlich immer fort/ Das Ungeheure mir entfalten./ Gespenster sind’s, nicht Wolken, nicht Gespenster,/ Die Wirklichen sie dringen auf mich ein./ Wie kann das aber wirklich sein/ Das Webende, das immer sich entschleiert?/ Verschleierte Gestalten, Ungestalten,/ In ewigem Wechseltrug erneuert!31

Gleich der erste Vers nennt das entscheidende Stichwort, das zuletzt auf alle Erscheinungsformen in Goethes Theater anwendbar ist. Unabhängig davon, ob sie sich dem Leben oder dem Nebel zuordnen, sind Goethes Auftrittsprotokolle Protokolle von schwankenden Gestalten. Wenn es heißt: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten!“32, ist die für sein Theater kennzeichnende Auftrittsform benannt. Wie Eva Geulen in ihrem Buch Aus dem Leben der Form bemerkt, tritt diese Aktivität des Schwankens immer dann auf, wenn sich etwas noch nicht zu einer Gestalt entschieden hat: Was da vorläufig konturlos aus Dunst und Nebel heraufsteigt, hat überhaupt noch zu keiner verbindlichen, dauernden Form, freilich auch keiner Unform gefunden. Darin ist das Schwanken strikter Gegenbegriff zu dem der Gestalt […], weil dieser Ausdruck das noch Werdende und das Gewordene so beruhigend harmonisch ineinanderbildet.33

Diesem Schwanken ist Goethes Theater verpflichtet.

31 Goethe: Des Epimenides Erwachen, S. 216 (V. 526-535). 32 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, in: MA 6.1, S. 535-673, hier S. 535 (V.  1). 33 Geulen: Aus dem Leben der Form, S. 66f.

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1. „Nebulistische Zeichnungen“. Figur und Grund in Goethes Weimarer Dramen

Der Grund als neue Einheit In seinen Arbeiten für die Weimarer Liebhaber- und Freilufttheater verwendet Goethe ein neues Bühnenregister, das in seinen frühen dramatischen Texten noch nicht anzutreffen ist. Kurz gefasst lässt sich feststellen: Er arbeitet seither auf ‚Grund‘. Die Stücke, die er seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts für die Festlichkeiten des Weimarer Fürstenhofes anfertigt, etablieren den Grund als Bezugsrahmen theatraler und dramatischer Repräsentation. Als eine neue „visuelle Prämisse“1 der Handlung wie der Figuration findet er sich in den Stücken Lila, im Jahrmarkts-Fest zu Plundersweilern2, im Triumph der Empfindsamkeit bis hin zur Die natürliche Tochter3 und darüber hinaus. Die Unscheinbarkeit der in diesen Dramen angetroffenen Regieanweisungen lässt zunächst noch keine Vorstellungen darüber aufkommen, dass sie ein zentrales transformatorisches Element des Goethe’schen Theaters enthalten. Doch auch wenn Angaben wie „Kästen im Grunde“4, „Höhle im Grund“5, „im Grund eine Hütte am Felsen“6 zunächst nur wenig Aufmerksamkeit erregen, so indizieren sie dennoch einen fundamentalen konzeptuellen Wandel des Bühnenraumes und der Personenregie. Die Gestaltungen der Goethe’schen Bühne treten nun mit einem Fond in Beziehung, der dem Spiel eine in der einheitsfixierten aristotelischen Dramenordnung unbekannte Einheit verleiht. Als ein räumliches Kontinuum garantiert dieser neue Grund nicht die klassischen Einheiten von Ort, Zeit und Handlung, sondern die Ganzheit einer Ansicht, die neben dem Theater auch die handelnden Figuren einbegreift. Ein Grund ist, so heißt es in Diderots Encyclopédie: „la partie la plus basse d’un tout“7. 1 2 3 4 5 6 7

Gottfried Boehm: Die ikonische Figuration, in: Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, hg. v. dems., Gabriele Brandstätter u. Achatz von Müller, München 2007, S. 33-52, hier S. 38. Johann Wolfgang Goethe: Das Jahrmarkts-Fest zu Plundersweilern. Ein Schönbartspiel (Zweite Fassung), in: MA 2.1, S. 213-234, hier S. 221. Johann Wolfgang Goethe: Die natürliche Tochter. Trauerspiel, in: MA 6.1, S. 241-326. Johann Wolfgang Goethe: Der Triumph der Empfindsamkeit. Eine dramatische Grille, in: MA 2.1, S. 165-212, hier S. 175: „Die Kasten werden auf beiden Seiten, die Laube in den Grund, und ein großer Kasten auf die Laube gesetzt.“ Vgl. auch S. 173, S. 175, S. 181, S. 186, S. 211. Johann Wolfgang Goethe: Proserpina. Ein Monodrama, in: MA 2.1, S. 161-164, hier S. 161. Johann Wolfgang Goethe: Jery und Bätely, in: MA 2.1, S. 290-312, hier S. 292. Eintrag: Fond, in: Denis Diderot u. Jean le Rond d’Alembert: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 7 (1757), S. 51-54, hier S. 51 (elektronische Ausgabe der University of Chicago: http://encyclopedie.uchicago.edu).

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Damit werden auch die dramatischen Akteure und Aktivitäten von einem grundierenden Ganzen umgeben, das in und zwischen den Teilen weiterwirkt und eine Abtrennung von vorne und hinten unterläuft. In Gottfried Boehms Begriff „des kontinuierenden Grundes“8 ist diese Funktion benannt, die nun auch Goethes Bühne in neuer Form zusammenschließt. Gleichfalls erfolgt die Grundierung des dramatischen Geschehens im Theater in Anlehnung an eine Gemäldekomposition. Die Akteure desselben, so legen es die Regieanweisungen nahe, bewegen sich vor einem allgegenwärtigen und verbindenden Dahinter, das sich in Struktur und Funktion mit einem Bildgrund vergleichen lässt. Auch in diesem Punkt kann die Definition der Encyclopédie für die Bühne in Anspruch genommen werden, wo es heißt: „Der Grund eines Gemäldes ist das, was als Fundament und Feld der Figuren dient.“9 Die in den Weimarer Stücken wirksame Dramaturgie betrachtet die Bühnenrückwand daher als einen in den architektonischen Rahmen des Theaters eingefügten Bildträger. Diese Analogie wird auch an anderer Stelle unterstrichen. So ist das Tuch, das in Goethes Gedicht Amor ein Landschaftsmaler eine arkadische Ansicht grundiert, dasselbe Tuch, das dem Puppentheater in Wilhelm Meisters Lehrjahre „zum Grund“10 dient. Die gemalte Idylle des Gedichts und die Theaterstücke, die von dem jungen Wilhelm Meister aufgeführt werden, haben dasselbe noch undifferenzierte Grau zur Voraussetzung: Heißt es im Gedicht: „Saß ich früh auf einer Felsenspitze,/ Sah mit starren Augen in den Nebel,/ Wie ein grau grundiertes Tuch gespannet/ Deckt er alles in die Breit’ und Höhe“,11 so werden auch Wilhelm Meisters Puppen von einem solchen Fond hinterfangen. Gleichzeitig experimentiert Goethe aber auch mit den immer weitreichenderen Konsequenzen, die sich aus dieser zunächst in der Malerei angesiedelten Anordnung ergeben. Die Triftigkeit seiner Theaterversuche lässt sich umso besser wahrnehmen, wenn man sie von zeitgenössischen Grundierungskonzepten in bildender Kunst und theatraler Aufführungspraxis abgrenzt. Auch wenn er die Nähe zu den Nachbarkünsten sucht, unterscheiden sich Goethes Vorstellungen in wichtigen Punkten von dem, was die aufgeklärte Malerei als einen Grund betrachtet. Johann Georg Sulzers 1771 erschienene Allgemeine Theorie der schönen Künste hatte vor allem dessen Zweidimensionalität unterstrichen und ihn als eine „Fläche“ bezeichnet, „auf welche die ersten Farben zum Gemälde aufge8 Boehm: Die ikonische Figuration, S. 38. 9 Eintrag: Fond, in: Diderot u. d’Alembert: Encyclopédie, S. 52. 10 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman, in: MA 5, S. 7-610, hier S. 28. 11 Johann Wolfgang Goethe: Amor ein Landschaftsmaler, in: MA 3.2, S. 10-14, hier S. 10. Zum Konzept der Landschaftsmalerei in diesem Text vgl. Norbert Miller: Der Wanderer. Goethe in Italien, München 2002, S. 168ff.

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tragen werden“.12 Auch in Krünitz’ Oekonomischer Encyklopädie wird der Grund noch als „das Hintere eines Gemähldes“ beschrieben, „worauf alles gemahlt ist, und wovon es doch abgesondert scheinen muß, [...] zum Unterschiede von dem Vordergrunde“13. Während diese Definitionen ein Gegensatzverhältnis von vorne und hinten aufbauen, widersetzen sich Goethes dramatische Fundierungen einer solchen statischen Auslegung. Sein vom Fond her aufgebautes Theater wird von Sulzers auf klare Oppositionen ausgerichteter Definition nicht annähernd erfasst. Die Prozesse, die in seinen Gründen vor sich gehen und die zuletzt den Theaterraum vollständig transformieren, laufen einer Bestimmung zuwider, die die Relation von Figur und Grund ausschließlich im Sinne einer Absonderung definiert. Andererseits setzt sich Goethes Spiel aber auch von den Raumverhältnissen der höfischen Perspektivbühne ab, die eine leere und zugleich errechnete Tiefe auf einen rückwärtigen Prospekt projizierte. Seine Experimente, die auch dadurch befördert wurden, dass das Weimarer Hoftheater kurz vor Goethes Ankunft abgebrannt und auf provisorische Bühnen und Freiluftbühnen verlagert worden war,14 lösen sich von der Vorstellung eines gefluchteten Containerraums, in dem sich die dramatischen Figuren auf und ab bewegten.15 Mit der Einführung eines Grundes verzichtet Goethe auch auf die Geschlossenheit eines exakt umrissenen und durchschaubaren Theaters, das über seitliche Türen bzw. Seitenkulissen betreten wurde. Anstelle von Fluchtpunkten weisen seine Szenarien allenfalls unbestimmte Vertiefungen auf, wie die wiederkehrende Angabe: ‚Höhle im Grunde‘ in Proserpina und im Triumph der Empfindsamkeit verdeutlicht. Unregelmäßige Löcher verformen hier den Bühnenfond und suggerieren eine rückwärtige Dunkelheit, die eine durchdringende Raumwahrnehmung im Sinne der perspektivischen perspicuitas erschwert. ‚Fonds vagues‘ In dieser Absage an die leere Tiefe kann Goethe an die dramatischen Tableaus des Diderot’schen Theaters anschließen. Schon in dessen Comédie larmoyante ließ sich beobachten, dass an die Stelle des Gegensatzes von Hinter- und Vorder-

12 Eintrag: Grund, in: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Zweyter Teil. Neue vermehrte zweyte Auflage, Bd. 1, Leipzig 1792, S. 450f., hier S. 450. 13 Eintrag: Grund, in: Johann Georg Krünitz: Oekonomische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft, Bd. 20, Berlin 1780, S. 249-256, hier S. 253 (elektronische Ausgabe der Universitätsbibliothek Trier: http://www.kruenitz.uni-trier.de). 14 Vgl. Wilhelm Flemming: Goethe und das Theater seiner Zeit, Stuttgart u.a. 1968, S. 28ff. 15 Hans-Christian von Herrmann: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München 2005, S. 35ff.

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grund eine bewegte Gradation getreten war,16 und schon hier ließ sich eher von einer Staffelung von Gründen als von einer einzigen zweidimensionalen Grundfläche sprechen. Außerdem hatten bereits die Definitionen der Encyclopédie und bei Krünitz für ein pluralisiertes Verständnis des Gemäldehintergrunds geworben. Hier war die Rede von den Tiefenwirkungen der sogenannten fonds vagues, die durch eine Vervielfältigung und Überblendung grundierender Schichten zustande kamen: „Denjenigen Grund eines Gemähldes, worauf vermittelst einer vielfachen, aber unmerklichen Degradation der Tinten […] eine sehr weitläuftige Gegend mit vielen höher und niedriger liegenden Plätzen abgebildet ist, nennt man einen umschweifenden Grund, fr. Fond vague.“17 Diese Unmerklichkeit der Übergänge verhinderte schon hier eine Kontrastierung von hinten und vorne und erschwerte durch eine Verunklarung der Raumkoordinaten die exakte Positionsbestimmung der im Bildfeld befindlichen Figuren. Die Wortfelder des Vagen wie des Umschweifenden deuten vielmehr darauf hin, dass sich diese in einem Zwischenraum befinden, in dem sie sich nicht in voller Deutlichkeit platzieren oder konturieren können. Ohne eine buchstäbliche Übertragung des fond vague auf die Weimarer Bühne vornehmen zu wollen, weist dennoch vieles darauf hin, dass Goethe durch die Einführung der Grundierung eine Stelle der räumlichen und figuralen Unbestimmtheit auf der Szene schaffen wollte. Seine Stücke kommunizieren mit einem unbezeichneten und in seinen Grenzen unbestimmten Feld, das die Figuren auch dann umgibt, wenn sie sich nach vorne hin abgesondert zu haben scheinen. Dieser Eindruck wird durch weitere flankierende Regieanweisungen unterstützt, die ebenfalls auf einen fond vague hindeuten und gleichfalls der Terminologie der zeitgenössischen Malerei entstammen. Wenn die zentralen Protagonisten aus dem Singspiel Erwin und Elmire mit den Worten eingeführt werden: „Rosa und Valerio kommen mit einander singend aus der Ferne“18, ist ein weiteres, dem Unbestimmten verpflichtetes Grundierungskonzept ins Spiel gebracht. Hierzu heißt es in Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch: „In der Mahlerey werden die 16 Vgl. Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2004. Diese Untersuchung legt den Akzent der dramatischen Bildkomposition jedoch auf die Gruppierung, vgl. S. 83ff. Im Unterschied zu Goethe wird hier die perspektivische Konstruktion aufrechterhalten, vgl. S. 86. Zwar wird auch hier die bildliche „Einheit von Mensch und Raum“ (S. 88) festgestellt, doch handelt es sich auch dann, wenn der Nebentext einen Fond fordert, um einen bestimmten und ausgestalteten Raum. Vgl. dazu auch Johannes Friedrich Lehmann: Der Blick durch die vierte Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg i.Br. 2000. 17 Eintrag: Grund, in: Krünitz: Oekonomische Encyklopädie, S. 253. 18 Johann Wolfgang Goethe: Erwin und Elmire. Ein Singspiel. Zweite Fassung, in: MA 3.1, S. 330360, hier S. 330. Vgl. auch später S. 332: „Sie gehen nach dem Grunde des Theaters, als wenn sie abtreten wollten, und machen eine Pause. Dann scheinen sie sich zu besinnen, und kommen, gleichsam spazieren gehend, wieder hervor.“

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entferntesten Gegenstände die Fernen genannt.“19 Diesen Terminus übernimmt Goethe, wenn er etwa vorschlägt, „nach der Größe des Theaters […] über einer beschränkten Nähe eine weite […] und practicable Ferne einzurichten“20. Wie der Begriff des Grundes bezeichnet auch der der Ferne einen Bühnenbereich, der sich einer rationalen Durchdringung durch den betrachtenden Blick entzieht. Bezeichnenderweise paart er sich häufig mit den Worten ‚Nebel‘ und ‚Dämmerung‘ und legt auch dadurch nahe, dass der Blick in die Ferne auf keine deutlichen Umrisse trifft. Goethe selbst spricht von „nebulistischen Zeichnungen in der Ferne“21. In unterschiedlichen Wendungen werden auch auf der Bühne Zwischenzonen zwischen Tag und Nacht, Linie und Atmosphäre ausgemacht, die ein deutliches Sehen verhindern und, in der Terminologie Christian Wolffs gesprochen, ausschließlich der cognitio confusa zugänglich sind.22 Nur zusammenfassend kann hier bemerkt werden, dass auch die vorgeschriebenen Bühnenbewegungen diesem Unbestimmtheitszustand entsprechen. Goethes Figuren kommen und gehen nicht, sie nahen und entfernen sich, durchschreiten einen in vagen Staffelungen nach hinten verlängerten Raum und entgrenzen, indem sie ins Unbestimmte eintreten, auch die Grenzen des Bühnenzirkels. Gerade in der Weimarer Dramaturgie ergeben sich diese Bewegungen aus einer Hintergrundlandschaft, die alle Unterscheidungsanstrengungen zunächst ins Leere laufen lässt und die Bezeichnung fond vague auch für das Theater rechtfertigt.23 Insbesondere sind davon die Auftrittsformen der Stücke Goethes betroffen. Hier fällt zunächst ins Auge, dass zumindest die zentralen Protagonisten nicht als Gegebene und Vollendete auf dem Theater erscheinen, sondern dass sie sich unfertig und mit Unterbrechungen aus der vagen Zone des Hintergrunds hervorarbeiten. Systematisch vergrößern und verlängern sie die semiotische Krise, die eine dramatis persona beim Eintritt in die Sichtbarkeit durchlaufen muss. Goethes Auftritte stellen daher nicht die Figuren selbst, sondern die Prozesse der Figuration ins Zentrum und beleuchten einen infinitesimalen Vorgang der Gestaltenbildung, der vom Grunde her kommend immer wieder neu durchlau19 Eintrag: Die Ferne, in: Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Elektronische Volltext- und Faksimile-Edition nach der Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793-1801, Bd. 2 (1811), S. 114 (elektronische Ausgabe: http://lexika.digitale-sammlungen.de/Adelung). 20 Johann Wolfgang Goethe: Tragödie aus der Zeit Karls des Grossen (Fragment), in: MA 9, S. 186194, hier S. 189. 21 Vgl. Eintrag: Ferne, in: Goethe-Wörterbuch, Bd. 3, hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften u. a., Stuttgart 1998, Sp. 664-666. 22 Vgl. Hans Adler: Fundus Animae – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung, in: DVjs 62 (1988), S. 197-220, hier S. 205ff. Wolff bestimmt die cognitio confusa als Erkenntnis, die sich mit den unterhalb der Deutlichkeitsgrenze liegenden Erkenntnisgegenständen befasst. Vgl. ebd., S. 200. 23 Vgl. auch Johann Wolfgang Goethe: Die Fischerin. Ein Singspiel, in: MA 2.1, S. 338-356.

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fen werden muss. Deutlichkeit und plastische Körperlichkeit bleiben dabei zuletzt unerreichbare Ziele und werden nur vorübergehend verliehen. Denn so wie seine Figuren aus dem ‚Grunde‘ hervortreten, werden sie auch wieder von diesem absorbiert. In diesem Fall gehen sie „nach dem Grunde“ ab oder ziehen sich „in den Grund [eines] Saals zurück“, um sich dort „nach und nach“ zu verlieren.24 Mit Gottfried Boehm, der in einem richtungsweisenden Aufsatz mit dem Titel „Die ikonische Figuration“ zentrale Begriffe zur Figur-und-Grund-Relation entwickelt hat, können auch Goethes Dramen im „Hiatus zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit“25 angesiedelt werden. Programmatisch verweilen diese an der „Chaosstelle“26 des Auftritts, die andere Dramatiker durch die knappe und konventionelle Anweisung: ‚Auftritt Cäsar‘ unterschlagen, abkürzen und überspielen. Die Bühne wird dabei immer wahrnehmbarer zum Ort einer permanenten Genese, des Erscheinens von Etwas27, und leistet damit eine Fundamentalkritik einer klassizistischen Theaterästhetik, die dramatische Figuren als eidetische Größen betrachtet und ihren Auftritt als ein Fait accompli. Stockungen Dieser Zoom ins Zentrum des Auftrittsvorgangs fällt umso deutlicher ins Auge, als er sich klar von höfischen Auftrittsregimen abgrenzt. Denn während das klassizistische Theater die Bekanntheit, den Rang und die Prägnanz der bei Hofe agierenden Personen voraussetzen kann, bringt der neue Grund nun unbestimmtere Personen hervor. Wie vor allem an Torquato Tasso zu beobachten, irritieren die von Goethe entwickelten Auftrittsinszenierungen jene der höfischen Gesellschaft.28 Mit dem italienischen Dichter tritt eine Figur in Erscheinung, die sich weder in ihrer Gestalt noch in ihrer Bewegung auf dem Spielfeld des Hofes positionieren lässt. Gleich sein erster Auftritt entzieht sich jener Bestimmung in festen Größen, die die Symbolpolitik des Absolutismus auch in ihren dramatischen Fiktionen anstrebte. Tasso fügt sich in keinen perspektivischen Prospekt und keine abge24 Goethe: Der Triumph der Empfindsamkeit, S. 215. Zur Dynamik dieses Prozesses vgl. James Elkins: On Pictures and the Words That Fail Them, Cambridge 1998, S. 78-125, hier S. 118ff. Vgl. hier auch S. 85: „‚Detachment‘ is anything but simple.“ Zum kunstgeschichtlichen Horizont der Absonderungsproblematik vgl. ebd., S. 102. 25 Boehm: Die ikonische Figuration, S. 36. 26 Gabriele Brandstetter: Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung, in: Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge, hg. v. Bettina BrandlRisi u.a., München 2001, S. 189-212, hier S. 190. 27 Boehm: Die ikonische Figuration, S. 36. 28 Zum Verhältnis von Tasso und höfischer Gesellschaft vgl. Peter André Alt: Höfische Ambivalenz. Schaustücke der Aristokratie bei Goethe, in: ders.: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers, München 2008, S. 108-136.

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schlossene Handlung. Exemplarisch werden stattdessen die Orientierungsprobleme entfaltet, die sich aus seiner sozialen und figuralen Unbestimmtheit in der höfischen Gesellschaft ergeben. In nahezu schmerzhafter Zeitdehnung bereitet sich sein Erscheinen auf der Bühne vor, sowie sich im Vorhinein zeigt, dass dieses nur ein unvollkommenes sein kann. Gleich anfangs rätseln die fürstlichen Personen von Ferrara darüber, wo sich Tasso zum Eröffnungszeitpunkt des Dramas aufhält. In vollständiger Umkehrung der Hierarchie richtet sich das höfische Erscheinungsbegehren nicht mehr auf den Fürsten selbst, sondern auf die ungreifbare und zugleich unbegreifliche Person eines im Grund des Gartens verschwundenen Dichters: „Ich suche Tasso, den ich nirgends finde“29, lautet der erste Vers des Fürsten Alphons, der sich mit seiner unerfüllten Sehnsucht unter die anderen Wartenden einreiht: „Ich sah’ ihn heut’ von fern“30, lautet die unbestimmte Antwort der Prinzessin. Dieser Auftritt aus der Ferne bereitet sich schließlich am Ende der Szene vor, wenn es heißt: „Schon lange seh’ ich Tasso kommen. Langsam/ Bewegt er seine Schritte, steht bisweilen/ Auf einmal still, wie unentschlossen, geht/ Dann wieder schneller auf uns los, und weilt/ Schon wieder.“31 In der Zeitlupe dieser Verse wird der unwegsame Zwischenraum zwischen Ferne und Nähe kenntlich gemacht und der paradoxe Charakter des im Auftritt aktivierten Figurationsprozesses erhellt. Auf dem Weg durch die Raumschichten stocken die Syntax und auch die Versfüße, die Tassos Schritten nachgebildet sind. Sein Herankommen wird wiederholt unterbrochen und lässt eine Richtung erst dann erkennen, wenn es heißt: „Nein, er hat uns gesehn, er kommt hierher.“32 In mehr als einer Hinsicht handelt das Stück von der Unmöglichkeit, im Proszenium des Theaters einen „zum Ganzen geründeten“33 Körper zu platzieren, der sich aus einer fernen und ihn umschließenden Umgebung herauslöst und in den Vordergrund des Spiels hin absondert. Im Bild einer von ‚Stocken‘ unterbrochenen Annäherung werden grundsätzliche Einsichten in die Unabschließbarkeit der dramatischen Figuration gewonnen und in ein in sich widersprüchliches Auftrittsbild gefasst. Beim Auftritt Tassos handelt es sich nicht um die emphatische 29 Johann Wolfgang Goethe: Torquato Tasso. Ein Schauspiel, in: MA 3.1, S. 426-520, hier S. 433 (V. 239). 30 Ebd. (V. 252). 31 Ebd., S. 436 (V. 373ff.). 32 Ebd. (V. 379). 33 Vgl. ebd., S. 433ff. (V. 274ff.): „Und seine Seele hegt nur diesen Trieb/ Es soll sich sein Gedicht zum Ganzen ründen.“ Die Problematik der Figuration verschränkt sich deutlich mit jener des Werks. Die Unabschließbarkeit der Figuration Tassos wird in Analogie zur fragmentarischen Verfassung seines Epos gesetzt und mit denselben Phrasen und Bildern abgehandelt wie „Das befreite Jerusalem“. Vgl. ebd.: „Er kann nicht enden, kann nicht fertig werden,/ Er ändert stets, ruckt langsam weiter vor,/ Steht wieder still, er hintergeht die Hoffnung;/ Unwillig sieht man den Genuß entfernt/ In späte Zeit, den man so nah’ geglaubt.“ (V. 265ff.).

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Manifestation einer Figur, sondern um die vorübergehende Unterbrechung einer permanenten morphologischen Unruhe. Schweifender Auftritt: Pudel Im Kontext der Faust-Dramen, die im Folgenden wenigstens kurz angesprochen werden sollen, kommt es nun zu einer kritischen Zuspitzung der eben beleuchteten Vorgänge. Das in seinen Grundzügen skizzierte Figurationstheater erreicht eine neue Stufe darin, dass der ferne Bühnenhintergrund nicht mehr nur eine Durchgangsstelle für auftretende Bühnengestalten, sondern der Ort ihrer Produktion ist. So legen vor allem die Auftrittsanordnungen der Faust-Dramen nahe, dass es nun die Gründe selbst sind, die in Tätigkeit versetzt und zu Hervorbringungen befähigt werden. Diese entwickeln formgebende Kräfte und treten als Modifikationen ihrer selbst ins Spiel. Ohne hier die philosophischen Voraussetzungen dieses Prozesses ausbreiten zu können, lässt sich doch mit Leibniz von einem Theater der dynamisierten und sich selbst in eine Vielheit entäußernden Substanz sprechen, die zum Grund wie zur Quelle von szenischen Figuren gemacht wird.34 Die persistierende Regieanweisung ‚im Grunde‘ deutet auf ein Konzept der Konfiguration, das seine Figuren aus der obscuritas einer noch ungeschiedenen Materie gewinnt und im Zuge einer Entwicklung immer deutlicher ausformuliert. Im Fundus des Theaters werden demnach bildende Kräfte freigesetzt, die sich in immer deutlicheren Gestalten ausprägen,35 ohne dass diesen ein eigener abgesonderter und stabiler Existenzstatus zuerkannt würde. Wie eng diese Dramaturgie mit den Entwicklungslogiken in Goethes Morphologie und Metamorphosenlehre in Zusammenhang steht, kann hier nur angedeutet werden.36 Die Korrespondenzen zwischen einer Lehre, die die Natur und ihre Formen prozesshaft bestimmt, und einer Auftrittskonzeption, die dem Werden, der Umbildung und dem Vergehen mehr als dem Sein der theatralen Figuren Rechnung trägt, sind dennoch durchweg offenkundig. Hervorbringungen der Natur wie jene des Theaters unterliegen derselben genetisch-morphologischen Methodik.

34 Vgl. Thomas Leinkauf: Der Monadenbegriff in der frühen Neuzeit, in: Der Monadenbegriff in Spätrenaissance und Aufklärung, hg. v. Hanns-Peter Neumann, Berlin 2009, S. 1-25. 35 Zur Vorgeschichte von Goethes Entelechie-Konzept vgl. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. Mit einer Einleitung von Gerald Rosenkranz, Hamburg 2007, S. 83ff. 36 Zum genetisch-morphologischen Denken Goethes vgl. Olaf Breidbach: Goethes Metamorphosenlehre, München 2006; Eva Geulen: Metamorphosen der Metamorphose. Goethe, Cassirer, Blumenberg, in: Intermedien. Zur kulturellen und artistischen Übertragung, hg. v. Alexandra Kleihues, Barbara Naumann u. Edgar Pankow, Zürich 2010, S. 203-217.

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Am Beispiel des Pudels aus Faust I soll daher nun die morphologische Krisis rekonstruiert werden, die sich bei seinem Auftritt in einer auch für andere Auftritte paradigmatischen Weise abspielt.37 Zu zeigen ist, wie auch dieser aus dem Verborgenen des Grundes entsteht und wie lange es dauert, bis er in der dramatischen Figur des Mephisto festgebannt ist. Den Anfang macht die Szene „Vor dem Tor“, als sich Faust aus der Nacht seiner Studierstube heraus und in die Natur hineinbegeben hat, um zum Ausklang des Ostertages – d.h. am Abend – spazieren zu gehen. Bezeichnend für die hier wirksame Auftrittsordnung ist ein Perspektivenwechsel. Der Vorgang, der am Ende den Mephisto auf die Bühne bringt, wird nicht durch Regieanweisung oder Nebentext eingespielt, sondern aus einer Beobachterperspektive geschildert, die die allmähliche Bildung einer Bühnenfigur in die allmähliche Verfertigung einer Erkenntnis übersetzt. In parodistischer Überzeichnung führt Goethe anlässlich des Auftritts des Pudels einen Übergang zwischen cognitio confusa und cognitio clara vor Augen, wie er durch die Philosophie der Aufklärung, insbesondere durch Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten vorgedacht worden war.38 Geradezu idealtypisch werden im Dialog von Faust und Famulus die kognitiven Prozesse und Krisen nachgezeichnet, die im Betrachter durch einen Auftritt aus der Ferne ausgelöst werden, und die Wahrnehmungsschritte nachvollzogen, die die zunächst nur ‚nebulistisch gezeichnete‘ Figur des Pudels allmählich verdeutlichen und in den Vordergrund der Bühne befördern. Denn während des österlichen Gespräches zwischen Faust und Famulus bewegt sich etwas im Bühnenhintergrund, dessen Wahrnehmung und genauere Bestimmung eine Weile in Anspruch nehmen wird. Mit den folgenden Versen des Famulus Wagner wird der Szene ein dunkelnder Grund bzw. eine modellierbare Atmosphäre unterlegt: WAGNER […] ergraut ist schon die Welt, Die Luft gekühlt, der Nebel fällt! Am Abend schätzt man erst das Haus. – Was stehst Du so und blickst erstaunt hinaus? Was kann Dich in der Dämmrung so ergreifen? FAUST Siehst Du den schwarzen Hund durch Saat und Stoppeln streifen? WAGNER Ich sah ihn lang, nicht wichtig schien er mir.39

Im Halbdunkel, so erfahren wir aus diesem Gespräch, bewegt sich ein schwarzer Körper, der die Aufmerksamkeitsschwelle des Famulus noch nicht vollständig 37 Inka Mülder-Bach danke ich für ein sehr anregendes Pudelgespräch. 38 Vgl. Adler: Fundus Animae, S. 203ff. 39 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, in: MA 6.1, S. 535-673, hier S. 566 (V. 1242ff.)

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überschritten und sein Unterscheidungs- wie sein Bezeichnungsvermögen noch nicht herausgefordert hat. Wie auch Fausts Frage zeigt, handelt es sich zu diesem Zeitpunkt noch um einen von seiner Umgebung – Saat und Stoppeln – vollständig eingeschlossenen Akteur, der sich, schon bevor man ihn sieht, in einem von Dunkel umhüllten Entstehungsprozess befindet. Noch gehört der Hund der Sphäre des Grundes und dem Bereich der unmerklichen Perzeptionen40 an, die der deutlichen Wahrnehmung und ihrer Versprachlichung vorausgehen. Aus der Zuschauerperspektive wird daher dem Umstand Rechnung getragen, dass der Identifizierung einer Figur eine Phase der cognitio confusa vorausgeht, eine Wahrnehmung in der Latenz, in der sich das Sehen noch nicht in Artikulation umsetzt. In dem Satz: „Ich sah ihn lang“ resoniert das: „Schon lange seh’ ich Tasso kommen“ der Prinzessin von Ferrara. Beide setzen im Vorfeld des Auftritts einen dunklen und verworrenen Objektbereich, der der sprachlichen Bezeichnung wie der endgültigen Unterscheidungsleistung auf Seiten der Betrachter noch entzogen ist.41 Als eine unbestimmte schwarze und wollige Gestalt zwischen Nebel und Dämmerung bzw. ‚vor der ergrauten Welt‘ bewegt sich der Pudel eine Zeitlang an der Grenze der Semiosphäre bzw. an der Grenze der figuralen, aber auch der sprachlichen Artikulation. Wie Albrecht Schöne in seinem Faust-Kommentar mit Bezug auf Krünitz’ Encyklopädie bemerkt, wählt Goethe dabei ein Tier, in dessen schwarzer Wolle sich weitere und vorerst noch unerkennbare Figuren verbergen: Dieses trage „langes und über den gesamten Leib so krauses Haar, daß man sich die wahre Gestalt dieses Thieres, dessen Theile sämmtlich unter wollichten Haaren verborgen liegen, kaum vorstellen kann“.42 Der aus der Dämmerung nur allmählich hervortretende Hund ist zumindest seinen äußeren Merkmalen nach selber fons et fundus für weitere, im schwarzen Fell verborgene Bildungen, wie sich an seinen exzessiven und ziellosen Metamorphosen in den folgenden Szenen erweisen wird. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass sich das Tier wie schon Tasso nicht direkt auf den Vordergrund zubewegt. Wie der Dichter im Garten von Belriguardo scheint sich auch der Pudel zunächst noch auf ungerichteten Bahnen zu bewegen. Auch er nähert sich in ‚Schneckenkreisen‘ und ‚Schlangenlinien‘ an, jedenfalls auf Wegen, die nicht eindeutig, sondern vielfach und umschweifig verlaufen. Kehrt man nochmals zum französischen Begriff des fond vague zurück, den Krünitz im Zusammenhang seiner Definition als ‚umschweifenden Grund‘ übersetzte, so scheint die dort angelegte Semantik des Irrens im Sinne eines mehrspurigen und in sich gegenläufigen Gehens vollständig auf die 40 Vgl. hierzu: Adler: Fundus Animae, S. 201. 41 Vgl. auch Elkins: On Pictures and the Words That Fail Them, S. 111: „[…] passing through states of indeterminate formlessness, and slowly gathering form and meaning“. 42 Albrecht Schöne: Johann Wolfgang Goethe. Faust, Kommentare, in: FA 7/2, S. 243.

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Bewegung des Hundes überzugreifen. Die unbestimmten Gründe dieser Szene werden nicht in gerader Linie durchschnitten, sondern in einem rätselhaften Irrgang erschlossen, der das Tier auf seinen Pfaden ebenso nach vorne wie nach hinten führt. Dabei bleibt bis zum Ende unentschieden, ob sich dieser Weg als ein tierisches und instinktgeleitetes Schnüffeln oder aber als eine magische Zeichenhandlung lesen lässt, d.h. ob wir es mit dem zufälligen Auftauchen eines Tieres oder dem absichtsgeleiteten Auftrittshandeln eines Geistes zu tun haben. Die Genese der Figur des Pudels ist jedoch nicht zu Ende, als der Hund als Pudel bezeichnet und im Vordergrund angekommen ist. Sie setzt sich in der anschließenden Szene im Studierzimmer fort. Denn schon an der nächsten Schwelle zeigt sich, dass sich der Auftritt des schwarzen Tiers vor dunklem Grund samt seiner Krisis perpetuiert. Als Faust aus „tiefe[r] Nacht“ mit dem Pudel eintritt, beginnt sogleich ein neues Schwellendrama: „Sei ruhig Pudel! renne nicht hin und wieder!/ An der Schwelle was schnoperst du hier?“43 Ein weiteres Mal verzögert sich die deutliche Konturierung eines Tieres in der Passage zum Proszenium. Die Häufigkeit, mit der sich die Bewegungsattribute ‚hin und wieder‘, ‚hin und her’ in den Auftritten der Dramen Goethes finden, deutet einmal mehr auf die motorische Unentschiedenheit theatraler Figuration im Schwellenbereich hin. Weit über den Pudel hinaus indizieren sie eine liminale und polydirektionale Unruhe, die jede Figuration in seinem theatralen Universum bedroht und ihren Fortgang in Frage stellt. Dabei zeigt sich unmittelbar anschließend, wie sich das metamorphotische Prinzip der steten Änderung im Grund des Theaters auch des erscheinenden Geistes bemächtigt: „Aber was muß ich sehen?/ Kann das natürlich geschehen?/ Ist’s Schatten? ist’s Wirklichkeit?/ Wie wird mein Pudel lang und breit?/ Er hebt sich mit Gewalt,/ Das ist nicht eines Hundes Gestalt./ Welch ein Gespenst bracht’ ich ins Haus!/ Schon sieht er wie ein Nilpferd aus […].“44 Naheliegenderweise finden auch diese proteischen Wandlungen der schwarzen Pudelwolle wiederum an einer dunklen und produktiven Stelle statt: hinter dem Ofen – dem „Raum zwischen dem Ofen und der Wand“45, wie Albrecht Schöne schreibt, in dem die Metamorphose einen weiteren Ausgang nimmt: „Hinter den Ofen gebannt,/ Schwillt es wie ein Elephant,/ Den ganzen Raum füllt es an,/ Es will zum Nebel zerfließen.“46 Gestaltung verläuft demnach auch hier nicht einsinnig vom Grund zur Figur, von der Umgebenheit zur Absonderung, sie ist vielmehr als ein permanenter und umkehrbarer Prozess einer chaotischen Emergenz zu beschreiben, der nur durch autoritäre oder magische Interventionen – und das

43 44 45 46

Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, S. 567 (V. 1186f.). Ebd., S. 569 (V. 1247ff.). Schöne: Faust. Kommentare, S. 245. Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, S. 570 (V. 1310ff.).

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auch nur vorübergehend – unterbrochen werden kann.47 Im Auftritt „des Chaos wunderliche[n] Sohn[s]“48, als der Mephistopheles von Faust bezeichnet wird, wird die ‚Chaosstelle‘ des Auftritts als ein Ort der richtungslosen Metamorphose bestimmt. Zuletzt bedarf es eines Zaubers, um die volatilen Gestalten des produktiven Grundes festzuhalten und in eine deutliche Theatergestalt zu bannen, die die Bühnenschwelle tatsächlich überschreitet. Nur einem Faust oder einem anderen Magier gelingt es, die Luftgeister in das Gefängnis einer Kontur zu sperren und zu einem ordnungsgemäßen Auftritt zu zwingen. Der Auftritt Mephistos, der am Ende eine solche Theatergestalt annimmt, bedient sich daher im Kontrast einer provokant konventionellen Theatersprache. Das Missverhältnis zwischen dem Spektakel einer permanenten Semiose und dem Auftritt eines „fahrenden Scholastikus“49 könnte nicht größer ausfallen. Vor dem Hintergrund einer auf Dauer gestellten Metamorphose kann das tatsächliche Erscheinen des in die Grenzen einer Maske gezwungenen Geistes nur abgeschmackt sein. Wenn sich der von Faust durch Zauber unterworfene Geist zuletzt in eine stabile Form bequemt und „hinter dem Ofen“50 hervortritt, liefert er zuallererst die schlechte Parodie eines gelungenen theatralen Auftritts. Nur durch eine ironische Stockung der formgebenden Gewalten kommt die Gestalt Mephistos zustande und nur durch die momentane Selbstbeschränkung eines Prinzips der permanenten Hervorbringung bekommen wir ihn deutlich und körperlich zu sehen. Dass er nun und nur eine Figur ist, dass er in der grenzenlosen Potentialität der Bildungen ausgerechnet diese wählt, macht ihn lächerlich.51 „Der Casus macht mich lachen“52, ist daher Fausts Reaktion auf einen Auftritt, der das Wandlungstheater vorübergehend stillstellt und zu den Konventionen zurückkehrt. Auftritt im Getreibe Gleichzeitig deuten sich schon hier die Potenzierungen dieser proteischen Transformationen an, die dann im zweiten Teil des Faust die Grenzen gebauter Bühnenräume und jeder Auftrittsordnung sprengen werden. Im Folgenden nämlich 47 Zur Vielgestaltigkeit des Teufels und seiner Verkleidungssucht vgl. Edith Anna Kunz: Zur Darstellung des Ungreifbaren. Goethes Mephistopheles, in: Colloquium Helveticum 36 (2005), S. 143-164. 48 Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, S. 572 (V. 1384). 49 Ebd., S. 570. 50 Ebd. 51 Vgl. ebd., S. 634ff. Vgl. hierzu auch den Faust-Kommentar von Ulrich Gaier, der das Maskenhafte dieser Rollenwahl hervorhebt: Ulrich Gaier: Kommentar zu Goethes „Faust“, Stuttgart 2002, S. 58. 52 Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, S. 64 (V. 1324).

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expandiert der Grund nach oben wie nach unten. Der „tieffste[], allertieffste[] Grund“53 wird zum umschließenden, umgebenden und verwandelnden Element für alles, was sich auf der Bühne manifestiert. Die Phasen der semiotischen Turbulenz dehnen sich dabei so weit aus, dass die dramatischen Figuren ihr Entstehungsstadium prinzipiell nicht mehr überschreiten können. Der leere Containerraum des klassizistischen Theaters, der Abstände garantierte und Figuren freistellte, wird nun endgültig vom „Getreibe“54 bewegter Stoffe und emergierender Formen in Besitz genommen. Fausts Beobachtung aus dem ersten Teil: „Den ganzen Raum füllt es an“55, greift auf das gesamte Geschehen über. Als Voraussetzung aller Figuration wird immer deutlicher die turbulente Selbstbewegung der theatralen Medien sichtbar, die sich mit Luhmann gesprochen zwischen strikten und losen Koppelungen hin und her bewegen und die Stabilität der jeweils gebildeten Formen permanent in Frage stellen.56 Dabei wird eine so dichte und produktive Atmosphäre geschaffen, dass sich weder die Plastizität eines Körpers noch die Prägnanz eines Auftritts ausbilden kann, mittels derer Figuren sich dauerhaft auf der Bühne formieren. Das vom Grunde her konzipierte Theater tritt zuletzt in ein drastisches Missverhältnis zu den Größen und Fassungsmöglichkeiten der klassizistischen Dramaturgie. In der Vorführung der permanenten Genese konzentriert sich das Theater des produktiven Grundes ganz auf den widerrufbaren Akt der Hervorrufung von Figuren, die so chimärisch sind wie Helena, als sie von Faust am Anfang des zweiten Teils aus dem „tiefsten, allertiefsten Grund“ herbeigeschafft wird. Immer deutlicher löst sich dabei auch die alte Raumordnung auf, die den für das Theater unabdingbaren Akt des Auftretens überhaupt ermöglichte. In einer permanenten Bewegung vom Grunde her und dem Grunde zu werden auch die Ein- und Ausgänge überflüssig, die das klassizistische Theater räumlich akzentuierten und die verlässliche Sichtbarkeit seiner Personen gewährleisteten. Während die klassizistische Bühne den Verkehr zirkulierender Körper durch ein strukturiertes Ambiente und feste Verkehrsordnungen regelte, bringt das Wolkenund Nebeltheater Goethes seine Figuren nun selbst hervor.

53 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: MA 18.1, S. 103-351, hier S. 157 (V. 6284). 54 Ebd., S. 157 (V. 6279). 55 Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, S. 570 (V. 1312). 56 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1998, S. 198.

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2. Umgeben. Auftritt und Einbettung

Symphysis Wie die Anweisung ‚im Grunde‘ bestimmt auch die Angabe ‚umgeben von‘ den Auftritt als ein relationales Ereignis. Goethes Figuren treten vielfach in Umgebungen auf. Sie signalisieren damit, dass sie nicht in der Leere eines Repräsentationsraumes zur Erscheinung kommen, sondern eingebettet in einen Umraum. Die Regiebemerkungen: „Peneius, umgeben von Gewässern und Nymphen“1 oder: „Des Gegenkaisers Zelt, Thron, reiche Umgebung“2 richten sich gegen ein Auftrittsprotokoll, das Absonderung verlangt und die Figuren ganz heraus- oder auf die Rampe treten lässt. Grund und Umgebung sind räumliche Setzungen, die die dramatische Figur in Bezug auf ein Offenes, „Weiträumigeres“3 und Ungewisses definieren. Mit jedem Auftritt lässt Goethe auch dasjenige sichtbar werden, wogegen sich die Figur auftretend abgrenzt und doch nicht abgrenzen kann. Während jedoch der Grund ein generatives Kräftefeld darstellt, das sich hauptsächlich in der Tiefenachse der Bühne realisiert, schließen Umgebungen die Auftretenden von allen Seiten her ein. Statt der Tiefenbezüge betonen sie „die Beziehungsverhältnisse zur Außenwelt“4, die in ihrer Vielfalt nun nach allen Seiten hin sichtbar werden. Semantisch bezeichnen sie die Bezogenheit einer Figur auf einen sie umschließenden Umraum unklaren Ausmaßes und unterdeterminierter Struktur. Anders als der Grund, der hauptsächlich dort aktiv wird, wo es um die Hervorbringung und Rücknahme von Figuren geht, sorgen Umgebungen für deren Einbettung in die Welt. Umgebung ist die Welt als die Gesamtheit ihrer ebenso vielfältigen wie kontingenten Bezugs- und Abhängigkeitsgeflechte. Sie widersetzt sich der künstlichen Isolierung der Figur und trägt den mannigfaltigen Faktoren Rechnung, die auf ihr Erscheinen auf der Szene einwirken. Diese Welthaltigkeit der dramatischen Auftrittssituation, die im Mittelpunkt dieses Kapitels steht, ist nicht zuletzt eine Frucht der deutschen Shakespearerezeption im 18. Jahrhundert. Bereits Shakespeares Dramen blenden die Welt in das dramatische Geschehen ein. Auch wenn sie dies nicht über Regieanweisungen, sondern auf dem Weg der panoramatischen Zersplitterung erreichen, sind schon hier Umgebungen spielbestimmend. Erich Auerbach stellt schon an ihnen 1 2 3 4

Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: MA 18.1, S. 103-351, hier S. 193. Ebd., S. 308. Gottfried Boehm: Die ikonische Figuration, in: Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, hg. v. dems., Gabriele Brandstetter u. Achatz v. Müller, Paderborn 2007, S. 33-52, hier S. 39. Eva Geulen: Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager, Berlin 2016, S. 55.

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UM GEBE N. AUFTR ITT UN D E INBETTUNG

„das Bewußtsein der Mannigfaltigkeit menschlicher Lebensbedingungen“5 fest. Unter den Autoren des Sturm und Drang verlangt die Feststellung, dass Shakespeares Dramen nicht einzelne Handlungen vorführen, sondern das „Ganze[] Eines theatralischen Bildes“6 schildern, nach einer Form der Nachahmung, die neben der Figur auch die Welt berücksichtigt, in der diese auftritt. Mit Goethe wird ‚Umgebung‘ zu einem dramaturgischen Grundbegriff, der im Drama, aber auch in anderen Gattungen Einbettung einfordert. Auch Hegels Ästhetik misst der formativen Funktion von Umgebungen auf der Szene zentrale Bedeutung zu. Wenn sie „Reichtum in betreff auf Naturumgebung, architektonisches Beiwerk, Hintergründe, Horizont […]“7 einfordert, werden gleichfalls Ansätze zu einer theatralen Ökologie sichtbar. Dabei ist aufschlussreich, dass diese Anreicherung nicht allein von der Sprache geleistet werden kann, sie bedarf der Beihilfe aller am Theater beteiligten Medien: Das sich in wirklicher Realität darstellende Individuum macht dann ferner eine äußere Umgebung, ein bestimmtes Lokal notwendig, in welchem es sich bewegt und tätig ist; und so bedarf die dramatische Poesie, insofern keine dieser Seiten in ihrer unmittelbaren Zufälligkeit belassen werden kann, sondern als Moment der Kunst selber künstlerisch gestaltet sein muß, die Beihilfe fast aller übrigen Künste. Die Szene umher ist teils, wie der Tempel, eine architektonische Umgebung, teils die äußere Natur, beide malerisch aufgefaßt und ausgeführt.8

Auf der Bühne soll sich damit realisieren, was die antike Literatur als „Symphysis“ bezeichnet: die Darstellung der „Verwachsenheit [einer Person oder einer Sache; J.V.] mit dem umgebenden Elemente“9. Auch Gottfried Boehms Begriff der „Konkreszenz“, der eine Bildanordnung bezeichnet, in der das bildliche Kontinuum und die „unterscheidbaren Elemente[ ]“ oszillieren,10 lässt sich auf Goethes Theater übertragen. Beide Begriffe eignen sich für die nähere Bestimmung einer geminderten Theatralität, die völlige Absonderung unterbindet und dafür unbestimmtere Auftrittsformen begünstigt, welche die Pluralität und Kontingenz beliebiger Außenwelten in die Figurenbildung einbeziehen und diese wieder auf die Umgebung zurückwirken lassen. Die Frage, die sich daran anschließt, lautet, 5

Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 11. Aufl., Tübingen 2015, S. 307. 6 Johann Gottfried Herder: Shakespear, in: ders.: Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter, Hamburg 1773, S. 73-118, hier S. 93. 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, in: ders.: Werke, Bd. 15, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, S. 125. 8 Ebd., S. 505. 9 Sextus Empiricus, zitiert nach Leo Spitzer: Milieu and Ambiance. An Essay in Historical Semantics, in: Philosophy and Phenomenological Research 3 (1942), S. 1-42, hier S. 4. 10 Gottfried Boehm: Der Grund. Über das ikonische Kontinuum, in: Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, hg. v. dems. u. Matteo Burioni, München 2012, S. 29-94, hier S. 43.

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was es bedeutet, aufzutreten und im Auftritt umgeben zu sein. Ihre Zweideutigkeit empfangen die unter diesen Voraussetzungen entwickelten Protokolle aus der Verschränkung von Immersion und Heraustreten, von Erscheinen und umgebungsbedingtem Vorbehalt. Soziale und elementare Atmosphären: „Peneius, umgeben von Gewässern und Nymphen“ Für die Einbettung der Figur in Goethes Theater sind dabei sowohl die soziale wie die atmosphärisch-kosmische Bedeutung von Umgebung maßgeblich. Leo Spitzer folgend, der in einem einflussreichen Text zwischen sozialem Milieu und kosmologischem Ambiente unterschieden hat,11 lassen sich auch bei Goethe natürliche und soziale Ausprägungen von Umgebenheit nachweisen. Auf der Seite des Sozialen bezeichnet Umgebung die wechselnden Beziehungsgeflechte, in denen Menschen kommunizieren, sowie die Mannigfaltigkeit der Bezüge zu sich selbst und anderen. Auf der Gegenseite steht die Einbettung des Einzelnen in kosmologische Zusammenhänge: Hier sind es Dickichte, Wälder, Elementarhorizonte oder Klimata – atmosphärische Raumzustände, die die Konturen, die sich in ihnen abzeichnen, ins Unbestimmte auslaufen lassen. Vor allem im FaustProjekt ist dafür gesorgt, dass es „nicht an Umgebung […] mangelt“12. Am Ende des ersten Aktes von Faust II ist es die Atmosphäre, die den Auftritt des Paris vorbereitet: „Das Dunstige senkt sich; aus dem leichten Flor/ Ein schöner Jüngling tritt im Takt hervor.“13 Gleich die eingangs zitierte Auftrittsanweisung „Peneius, umgeben von Gewässern und Nymphen“, ebenfalls aus Faust II, macht jedoch deutlich, dass eine Unterscheidung zwischen kosmisch-natürlicher und sozialer Umgebung in Goethes Theater nicht dauerhaft aufrechterhalten werden kann. Der Nebentext aus der klassischen Walpurgisnacht lässt die Grenze zwischen Gewässer und Gefolge 11 Spitzer: Milieu and Ambiance, S. 2. Spitzer definiert das Umgebende zunächst generell als „an aggregate of influences or conditions which shape or determine the being, development, life, or behavior of a person or thing“. Demnach meint ‚Milieu‘ die soziale Umgebung einer Person, während der Ausdruck ‚Ambiance‘ etwas bezeichnet, „which surrounds, encompasses“ und seinem Ursprung nach „used to refer to the all-embracing air, space, sky, atmosphere, climate: the cosmic ‚milieu‘ of man“. 12 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 20. Dezember 1829, in: MA 19, S. 341-343, hier S. 343. 13 Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, S. 164 (V. 6449f.). Der Einfluss zeitgenössischer Klimatheorien auf Goethes Dramaturgie der Atmosphäre wäre weiter zu verfolgen: vgl. Gonthier-Louis Fink: Klima-und Kulturtheorien der Aufklärung, in: Georg-Forster-Studien 2 (1998), S. 25-56; Eva Horn: Klimatologie um 1800. Zur Genealogie des Anthropozäns, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaft: Romantische Klimatologie 1 (2016), S. 87-102.

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offen: Peneios erscheint sowohl im elementaren Ambiente des Gewässers wie im sozialen Milieu der Nymphen, die bei seinem Auftritt bruchlos ineinander übergehen. Soziales und Elementares, Figuration und Auflösung, Wasser und Festkörperlichkeit bleiben im Auftritt ungeschieden und ziehen auch den Flussgott in ihrem Zentrum in diese Ungeschiedenheit hinein. Alle an dieser Auftrittsgruppe beteiligten Figuren werden als instabile, veränderliche Gebilde von ungewissem Aggregatzustand gekennzeichnet.14 Der Nachdruck, mit dem Goethe auf Umgebungen besteht, lässt auf ein Modell des ‚In-der-Welt-Seins‘ schließen, das der Figur keine Konsistenz und keine dauerhafte Befestigung nach außen hin gewährt. Soziale Umgebungen vaporisieren in Dunst, Nebel, Atmosphäre – sie werden zu Elementarzuständen einer zweiten Natur, die keine Festkörperlichkeit mehr ausbildet und die Differenz, die der Auftritt stiftet, in den losen Koppelungen der Elemente verschwinden lässt. Umgekehrt können atmosphärische Umgebungen wieder in soziale konvertieren, wie abschließend an Goethes Iphigenie gezeigt werden soll. Für beide Formen der Umgebenheit gilt jedoch, was das Fragment Natur, das 1784 im Tiefurter Journal erschien und bei ungewisser Autorschaft Goethes Meinung artikuliert, über die Möglichkeit des Auftritts in Umgebung zu sagen weiß: „Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten.“15 Das ökologische Protokoll, von dem hier die Rede ist, lässt Goethe sowohl in höfischen Vergesellschaftungsformen als auch in der Tragödie wirksam werden. Wenn er Umgebungen in die höfische Auftrittskultur vordringen lässt, dann zum Nachteil einer rhetorischen actio, die darauf ausgerichtet ist, Figuren aristokratisch, deutlich und kraftvoll hervortreten zu lassen. Glänzende Umgebung. Amplifikationen Das Wort ‚Umgebung‘ verwendet Goethe zunächst im Kontext repräsentativer Öffentlichkeit. Hier bezeichnet es nichts anderes als die Steigerung einer Erscheinung durch Vermehrung ihres Umfangs. ‚Eine Figur zu umgeben‘ oder als ‚umgebene‘ auftreten zu lassen bedeutet ihre rhetorische Amplifikation. Wilhelm Meisters Wanderjahre vermerken ausdrücklich, dass man sich „de[n] bedeuten-

14 Vgl. Ovid: Metamorphosen, hg. u. übers. v. Gerhard Fink, 13. Aufl., Berlin 2014, S. 35. 15 [Georg Christoph Tobler]: Die Natur. Fragment, in: HA 13, S. 45-57, hier S. 45. Der Text entstand 1782, erschien zuerst 1784 im 32. Stück des Tiefurter Journals. Er wird Georg Christoph Tobler zugeschrieben. Vgl. Goethe dazu: „Daß ich diese Betrachtungen verfaßt, kann ich mich faktisch zwar nicht erinnern, allein sie stimmen mit den Vorstellungen wohl überein, zu denen sich mein Geist damals ausgebildet hatte.“ Johann Wolfgang Goethe an den Kanzler Friedrich von Müller, 24. Mai 1828, in: HA 13, S. 48f., hier S. 48.

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de[n] Mensch[en] […] ohne Umgebung nicht denken kann“16. Auch sie ist ornatus, Mise en Scène, Schmuck, Pracht oder Auszierung, die einen Auftretenden zur höfischen Persona steigert und ihm hinzufügt, was ihn über seinen natürlichen Körper hinaushebt. Als Epitheton des Auftritts wird ‚Umgebung‘ in der prominenten Ankleideszene in Goethes Drama Die natürliche Tochter gebraucht, in der sich die Protagonistin Eugenie, deren Natürlichkeit bereits durch den Titel des Dramas festgelegt wird, einen auftrittsfähigen höfischen Körper zulegt. Ziel ihrer Wünsche ist die Symphysis von ‚Mädchen‘ und ‚Schmuck‘, die Vereinigung von Figur und Glanz: „Die Schleppe ziehe, weit verbreitet nach./ Auch diesem Gold ist, mit Geschmack und Wahl,/ Der Blumen Schmelz, metallisch, aufgebrämt./ Und tret’ ich so nicht schön umgeben auf?“17 Dieser Eindruck verstärkt sich weiter, wenn der Zustand der Umgebenheit mit der Anwesenheit eines Gefolges in Verbindung gebracht wird. Wie bereits an Peneius‘ Auftritt abzulesen, bedeutet Umgebenheit bei Hof die Vermehrung des Fürsten durch einen Hofstaat bzw. die Umkleidung des Souveräns durch ein ihn begleitendes Gefolge. Die oben zitierte Angabe: „Des Gegenkaisers Zelt, Thron, reiche Umgebung“ macht das deutlich. Beide Verwendungen bestätigen jedoch auch den Verdacht, dass die glänzende Amplifikation durch Kleider und Gefolge um den Preis des deutlichen Bildes erkauft wird. Umgebenheit ist stets mit der Herabsetzung von Kenntlichkeit verbunden. Die Einschließung, die mit dem Zustand der Glanzumgebenheit einhergeht, löscht zugleich die Unterschiede, die durch den höfischen Auftritt demonstriert werden sollen. Gerade dort, wo die Figur im Kreis eines Gefolges wirkungsvoll erglänzt, ist sie nicht mehr klar zu erkennen. In den Augen seiner geblendeten Betrachter erleidet sie einen Formentzug, der die Einzigartigkeit ihrer Erscheinung durch das Beiwerk gefährdet, das sie betonen soll.18 Im Fall des Gefolges wie des ‚metallisch aufgebrämten‘ Kleides führt Umgebenheit zu einem Distinktionsverlust im Zentrum. Ist der Hofstaat zunächst ein Produkt

16 Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 311. 17 Johann Wolfgang Goethe: Die natürliche Tochter. Trauerspiel, in: MA 6.1, S. 241-326, hier S. 272 (V. 1054ff.). 18 Im Fall der Glanzumgebenheit handelt es sich um eine gezielte Ausschaltung des Sehvermögens. Erzeugung von Glanz bedeutet den strategischen Einsatz von Blendwerken, die das Sehvermögen des stets als Untertan eingestuften Betrachters durch die Erscheinung von Souveränität einschränken. Effekte der Überwältigung dominieren jene der Wahrnehmung. So verfolgen die solaren Protokolle Ludwigs XIV. das Ziel des ‚éclatter et éblouer‘ und spekulieren auf die partielle Erblindung des durch die Brillanz des Souveräns niedergeworfenen Betrachters: „Quels yeux en la voyant n’en seroient ébloüys?“, heißt es in Benserades Ballet Royal de la Nuit, das die Wirkungskalküle des solaren Protokolls genau auseinandersetzt. Vgl. Isaac de Benserade: Ballet Royal de la Nuit. Divisé en quatre parties, ou quatre Veilles. Et dansé par sa Majesté le 23 février 1653, Paris 1653, S. 65. Vgl. dazu das Kapitel I,1.

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des fürstlichen Unterscheidungsvermögens,19 da er dem Höfling seinen Platz in der höfischen Rangordnung zuweist, lässt er in der entdifferenzierten Form der Umgebung den Fürsten selbst aus dem Blick verschwinden. Die geordnete, hierarchische und klar zentrierte Aufstellung diffundiert in der unbestimmten Pluralität des Gefolges, vor der oder in der sich die organisierende souveräne Mitte nicht mehr hinreichend abhebt, oder im blendenden Licht, das die Sehkraft mindert. Der Begriff der Umgebung weist hier auf eine Form der Vergesellschaftung hin, die ihre ständisch-hierarchische Struktur zugunsten unbestimmterer und bewegterer Aggregationen preisgibt. Sie wird damit zum Teil einer Vielheit, der bei Goethe immer auch ein lebendiger Zusammenhang ist.20 Distinktionsverluste Diese Verwandlung strukturierter höfischer Aufstellungen in unbestimmte soziale Formationen lässt sich insbesondere an den höfischen Gelegenheitstexten beobachten. Im konventionellen Rahmen der Festgattungen entwickelt Goethe neue Bewegungs- und Auftrittsformen, die den Umgebungsbezug der Figuranten dramaturgisch umsetzen. Hauptsächlich seine Maskenzüge für den Weimarer Hof, die er in den 1780er Jahren ausrichtete und die im Kapitel zum Mummenschanz genauer behandelt werden, reflektieren in komplexen Choreografien den Übergang zwischen höfischer Figuration und offener Aufstellung. Unter den Maskenzügen findet jener der Weiblichen Tugenden zu einer besonders ungewöhnlichen Form. 1782 zu Ehren der Herzogin Anna Amalia verfasst, lässt er die Grenze zwischen Fürstin und Gefolge verschwinden, die für die zeichenhaften Anordnungen der repräsentativen Öffentlichkeit maßgeblich war. Die wenigen Verse, die Goethe dem Maskenzug beistellt, zerstören das zeremonielle Schema, das die Trabanten, aber auch die Fürstin ihren Rangunterschieden gemäß in Erscheinung treten ließ. Statt einer geordneten Aufstellung, aus der die Allegorien der Tugenden einzeln und voneinander unterschieden hervortreten, inszenieren sie ein bewegtes Gedränge, das sich protokollarischen Vorgaben entzieht: Wir die Deinen,/ Wir vereinen,/ In der Mitte/ Vom Gedränge,/ Vor der Menge/ Leise Schritte./ Wir umgeben/ Stets Dein Leben,/ Und Dein Wille/ Heißt uns stille/ Wirkend schweigen./ Ach verzeihe!/ Daß zur Weihe/ Dieser Feier/ Wir uns freier/ Heute zeigen,/ Im Gedränge/ Vor der Menge/ Dir begegnen/ Und Dich segnen.21 19 Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a.M. 1983, S. 199. 20 Vgl. Geulen: Aus dem Leben der Form, S. 16ff. 21 Johann Wolfgang Goethe: Die weiblichen Tugenden, in: MA 2.1, S. 510. Vgl. auch Heinrich Düntzer: Goethes Maskenzüge. In ihrem Zusammenhange dargestellt und erläutert, Leipzig 1886, S. 18.

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In den syntaktisch freischwebenden Wortgruppen des Huldigungsgedichtes gerät auch die durch sie bezeichnete Aufstellung ins Gleiten. Die Sprecher postieren sie an einer ungewissen Stelle zwischen Erscheinen und Verschwinden, Heraustritt und Umgebung. Die chiastischen Verse: „In der Mitte/ Vom Gedränge,/ Vor der Menge“ verschränken Vordergrund und Hintergrund der Szene, ohne den genauen Ort des Sprechens festzulegen. Unbestimmt bleibt, ob sich der oder die Sprecher in oder vor der Menge befindet bzw. befinden. Die Tugenden scheinen einerseits vor etwas hinzutreten und andererseits inmitten von etwas zu sein. Die Kühnheit des Gedichtes liegt jedoch nicht allein in der Pluralisierung und Entortung eines allegorischen Korpus, sondern darin, dass auch die Fürstin in den Umkreis der „Menge“ bzw. des „Gedränge[s]“ hineingezogen wird. Wenn es heißt: „Wir umgeben/ Stets Dein Leben“, verwischt sich die Frontlinie, die die Fürstin klar von ihren Trabanten geschieden hatte. Anstatt die Abstände zu betonen, die zu setzen und zu unterstreichen die Aufgabe des Zeremoniells ist, bewegen sich die Tugenden „freier“ auf einer entgrenzten und durchlässig gewordenen Schwelle. Die hierarchische Konfiguration von Souverän und Trabant weicht damit einer dynamischen Vergesellschaftung, die sich nicht mehr durch Auftritt, Abstand, Grenze und Unterscheidung, sondern durch unbestimmte und veränderliche Nachbarschaften konstituiert. Auch Fürsten werden eher in Begriffen der Einbettung als in Begriffen der Distinktion wahrgenommen. Dabei wird der Hofstaat zu einem ‚Hof‘ in der optischen Bedeutung des Wortes, der sich ohne Binnendifferenzierung als ein Ring um leuchtende Personen und Gegenstände legt.22 Die Masken von Goethes Festzügen sind ungeschiedener Teil einer beweglichen Sozialität, die keine erkennbaren sozialen oder semiotischen Markierungen mehr aufweist. „Heraus in eure Schatten“ Andererseits – und das ist für den Untersuchungszusammenhang dieser Arbeit ebenso wichtig – werden auch die Spielräume der Tragödie zusehends in Umgebungen verwandelt und damit ins Anti-Tragische gewendet. Durch die Schaffung von natürlichem und atmosphärischem Ambiente wird auch die künstliche räumliche Verengung, in der sich die aristotelische Tragödie abspielt, auf die Vielfalt bedingender und begleitender Faktoren hin geöffnet. Nicht nur die Figur, auch der geschlossene und von der Einheit des Ortes regierte tragische Raum verliert damit seine Außengrenzen. Umgebungen überführen geschlossene Areale in unbestimmte Weitläufigkeit. Sie öffnen tragische Vollzugsräume und lassen mit der Außenwelt auch Überlebensperspektiven sichtbar werden. Die hier anschließenden Überlegungen, die dieser Spur folgen, befassen sich mit den drama22 Ich danke Karin Leonhard für diese Anregung.

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turgischen Implikationen solcher Umgebenheit. Sie gehen davon aus, dass sich Goethes Weimarer Dramen, sofern sie sich am Schema der Tragödie orientieren, in Umgebungen abspielen, die aus der Geschlossenheit der Paläste herausführen. Das gilt für Tasso, der an höfischen Kabalen zugrunde zu gehen glaubt und doch nur in einem offenen Gartenraum unterwegs ist, wie für Iphigenie, die als Angehörige des Geschlechtes der Atriden nach Tauris verbannt ist und dort als Priesterin der Diana unter dem Zwang alter Gesetze ihren eigenen Bruder opfern soll. Liest man den Eingang der Iphigenie auf Tauris unter dem Vorzeichen der Umgebenheit, ist die künstliche räumliche Enge des tragischen Vollzugsraums, wie er durch die aristotelische Regelpoetik gefordert wurde, nicht mehr selbstverständlich gewährleistet. Erneut befinden wir uns in der Szene des Pleinairoder Gartentheaters.23 So transformieren gleich die ersten, von Iphigenie gesprochenen Worte des Schauspiels, das auf einen Gattungsvermerk verzichtet, den Tempel der Diana in eine natürliche Umgebung. Ihr erster Schritt führt nicht nur aus etwas ‚heraus‘, sondern auch in etwas hinein. Die Verse: „Heraus in eure Schatten, rege Wipfel/ Des alten, heil’gen, dichtbelaubten Haines,/ Tret ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,/ Als wenn ich sie zum erstenmal beträte“24, schildern eine Immersion. Sie umschreiben nicht oder nicht nur die Exposition der Figur auf dem prekären Proszenium der Tragödie, sondern ihr Eintauchen in einen Laubraum. Im Vorschreiten gelangt Iphigenie in ein aus bewegten Blättern und Halblicht gebildetes Umfeld, das wie das Wasser des Peneios keine dauerhaften Identitäten gewährleistet und alle, die in ihm erscheinen, wie auch alle Handlungen, die in ihm stattfinden, unter der Perspektive der Veränderlichkeit zu sehen gibt. Dramaturgie der ‚feuillage‘ Demnach ist zunächst Aufschluss über das zu gewinnen, was hier als eine Dramaturgie der feuillage bezeichnet werden soll, die in die Tragödie eindringt. Daraus ergibt sich die Frage, was es für eine tragische Figur bedeutet, im Laubraum aufzutreten und von bewegten Blättern umgeben zu sein. Nähere Einblicke in das in der Iphigenie geltende Auftrittsprotokoll geben die Schriften, die sich zeitgenössisch mit Fragen der Gartengestaltung und Baumpflanzung befassen. Für den Auftritt sind sie insofern erhellend, als sie über die Anordnung der Vegetation, die Mischung der Baumarten und die Anlegung von Blickachsen hinaus auch

23 Die Eröffnungsverse der Iphigenie referieren auch auf den Park von Ettal, in dem die Uraufführung des Stückes 1779 unter Mitwirkung von Goethe selbst stattfand. 24 Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris, in: MA 3.1, S. 161-221, hier S. 161 (V. 1ff.).

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die Bilder der Besucher in die Gartenplanung einbeziehen. Auch in ihrem Fokus steht die dynamische Reziprozität zwischen Vegetation und erscheinender Figur. In seinem Buch über den Garten des Schlosses Herrenhausen in Hannover hat Horst Bredekamp das Prinzip der varietas der feuillage bereits im französischen Barockgarten aufgefunden. Anhand der Geschichte dieser Anlage, die wesentlich auf Entwürfe von Leibniz zurückgeht, entwickelt er die Grundzüge einer „Philosophie der Blätter“25, die den Formenreichtum des Laubs und die geometrischen Formationen des französischen Gartens in produktive Wechselwirkung setzt. Bereits zu diesem früheren Zeitpunkt, also der englischen Gartenmode zeitlich vorausgehend, lässt sich beobachten, wie eine mathematisierte, auf perspektivische Blickachsen hin ausgelegte Gartenanlage zu einem Möglichkeitsraum unbegrenzter Formbildungen wird. Leibniz bewies der Fürstin Wilhelmine, seiner Auftraggeberin, anhand des Laubes, dass sich keine Form in der Natur wiederholte.26 „Da kein Blatt dem anderen gleicht, erkannte er in der scheinbar unendlichen Formenvielfalt des barocken Gartens die zutiefst individuelle Gestalt der Natur und die Freiheit des Individuellen schlechthin.“27 Das Laub des Parks wie dieser selbst wurden zur natura naturans erklärt, in der sich die Formen der Schöpfung ständig erneuerten: „Es gibt folglich immerwährend aktuelle Unterscheidungen und Variationen in den Massen der aktuellen Körper.“28 Im Laubgrund wird man der „Ruhelosigkeit und [des] Drang[s] der Materie, abweichend über sich selbst hinauszugehen“29, ansichtig. Den Evolutionen der Blättersphäre ausgesetzt, verliert auch die höfische Figur, die sich in ihr bewegt, ihre Unterschiedenheit wie ihre zeremonielle Form. In einer verschatteten und von „rege[n] Wipfel[n]“ erfüllten Sphäre steigert sich die Lebendigkeit und zugleich die Unbeherrschbarkeit der Erscheinung. Die Gartentheorien des 18. Jahrhunderts folgen daher nur den Anregungen Leibniz’, wenn sie eine neue und bewegte Umgebenheit postulieren. Abwechslung und Abänderung sind auch ihre Leitbegriffe. Die einflussreiche Gartenlehre Christian Hirschfelds, der die Prinzipien englischer Gartenkunst für Deutschland adaptierte, greift die programmatischen Stichworte aus Herrenhausen auf, wenn sie lehrt, durch geschickte Bepflanzung eine mannigfaltige Umgebung herzustellen: „Die malerische Abänderung der Farben in dem Laubwerk einiger Bäume giebt einen neuen Unterschied.“30 Durch gärtnerische „Diversifikation“31 wird auch hier dem 25 Horst Bredekamp: Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter, Berlin 2012. 26 Vgl. ebd, S. 73ff. 27 Ebd., Klappentext. 28 Leibniz an Sophie, 31.10.1705, zitiert nach Bredekamp: Leibniz, S. 74. 29 Ebd., S. 89. 30 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Leipzig 1779, S. 19. 31 Harald Tausch: Locke, Addison, Hume und die Imagination des Gartens, in: Der imaginierte Garten, hg. v. dems. u. Günter Oesterle, Göttingen 2001, S. 23-44, hier S. 32.

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Auge ein Dickicht geboten, das sich je nach dem Blickwinkel, aus dem es wahrgenommen wird, immer neu und anders konfiguriert. Dabei verbinden sich „[d] ie Bäume mit ihren verschiedenen Figuren, die durchkreuzenden Gestalten und Farben des Laubwerks“ mit den „Abwechselungen des Lichts und des Schattens, […] [den] lieblichen Einfällen des Mondschimmers, [den] sanften Widerscheine[n], […] [den] mannigfaltigen Gesänge[n] der Vögel, [den] Düfte[n] der Pflanzen“32. Planmäßig werden Umgebungen erzeugt, welche die Wahrnehmung der in ihnen erscheinenden Personen und Dinge in immer neue Richtungen lenken. Unruhige Beleuchtungen veranlassen nicht nur, wie es in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik heißt, das unbestimmte „Hervor- und Zurücktreten der Gegenstände“33, sie verändern auch die Personen, die in ihnen zu sehen sind. Unter diesen Voraussetzungen wird Figuration auch hier als ein prozessuales, radikal verzeitlichtes und zugleich unberechenbares Geschehen mit ungewisser Orientierung fassbar, das den Betrachter zu immer neuen Interpretationen einlädt.34 Kontingenz und Prozessualität werden bewusst in die Garteninszenierung einbezogen; so wird die Figur, die im verdichteten Blickfeld des Gartens erscheint, in ihrem unbegrenzten Formpotential sichtbar. Ein Hinweis auf die Gemälde Thomas Gainsboroughs, die das Formpotential umgebender foliage exemplarisch entfalten, kann das auch für die bildende Kunst unterstreichen (vgl. Abb. 15). Der Tragödie, ihren Verwicklungen, ihren Notwendigkeiten und ihren Vollzugszusammenhängen ist damit die räumliche Grundlage entzogen. Die Unausweichlichkeit einer tragischen Finalisierung lässt sich im bewegten Umraum des Gartens nicht aufrechterhalten. Im Blätterraum ist die Tragödie vermeidbar. Das zeigt sich schon daran, dass es in der vegetativen Fülle des Gartens nur zu natürlichen, nicht aber zu tragischen Verwicklungen kommt. Hier sind Knoten etwas Fruchtbares: Leben 32 Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, S. 38. Vgl. Michael Gamper: Garten als Institution. Subjektkonstitution und Bevölkerungspolitik im Volksgarten, in: Der andere Garten. Erinnern und Erfinden in Gärten von Institutionen, hg. v. Natascha N. Hoefer u. Anna Ananieva, Göttingen 2005, S. 35-54. 33 Hegel: Ästhetik, Bd. 3, S. 66. 34 Goethes Singspiel Die Fischerin, das für den Tiefurter Park geschrieben wurde, setzt auf die Wirkungen des im Laubgrund herrschenden Chiaroscuro, wenn es die Figuren auf mit Fackeln beleuchteten Booten aus dem Tiefurter Erlengrund hervorgehen lässt: „Unter hohen Erlen am Flusse stehen zerstreute Fischerhütten. Es ist Nacht und stille. Auf einem kleinen Feuer sind Töpfe gesetzt, Netze und Fischergeräte rings umher aufgestellt.“ (Johann Wolfgang Goethe: Die Fischerin. Ein Singspiel, in: MA 2.1, S. 338-356, hier S. 338.) In diesen vegetabilen und veränderlichen Umgebungen werden die höfischen Figuren nicht mehr durch den Souverän definiert. Erscheinen sie im Helldunkel eines Laubgrundes, werden sie von einem offenen und veränderlichen Sichtfeld eingeschlossen. Vgl. Stefan Blechschmidt: Dichtung und Landschaft – „Auf dem natürlichen Schauplatz zu Tiefurth vorgestellt“, in: Landschaft am „Scheidepunkt“. Evolutionen einer Gattung in Kunsttheorie, Kunstschaffen und Literatur um 1800, hg. v. Markus Bertsch u. Reinhard Wegner, Göttingen 2010, S. 87-111, hier S. 103ff.

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Abb. 15: Thomas Gainsborough, Die Promenade im St. James’s Park (1783).

in einer Phase der Selbstreproduktion und kein undurchschaubarer Schicksalszusammenhang, in dem sich die tragische Figur verstricken muss. Folgende aus der Betrachterperspektive geschriebene Passage aus Hirschfelds Gartenmanual entwirft einen von schönen natürlichen Verwicklungen belebten Raum, von dem sich ein flüchtiges Figurentheater abhebt, das so, aber auch anders sein könnte. Der Garten erweist sich auch hier als ein generativer Grund, von dem sich gleichgültige Lebensvollzüge, aber keine tragischen Prozesse abspielen: Seine geschäftige Phantasie belebt sich bey dem Anblick der einander durchkreuzenden Verwickelung der Bäume und Gebüsche, und der niederhängenden Verdunkelung; sie schafft sich aus den vorschwebenden Gestalten neue abentheuerliche Erscheinungen, die entstehen und beunruhigen, erfreuen und verschwinden.35 35 Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, S. 44. Adalbert Stifter wird die Generativität des Gartens auf ähnliche Weise beschreiben und der Gartenlaube einen poetologischen Stellenwertzuweisen. Vgl. Saskia Haag: Auf wandelbarem Grund. Haus und Literatur im 19. Jahrhundert, Freiburg i.Br. 2012, S. 210ff.

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Tragödie im Laubraum Was bedeutet es nun, dass Iphigenie in einen atmosphärisch dichten Raum hineintritt, in dem die grenzenlose varietas der Formen herrscht, und zugleich dem Geschlecht der Atriden angehört, das unter dem Diktat eines Fluches zur Wiederholung der immer selben Verbrechen verdammt ist? Wie verhält sich nun das natürliche Ambiente der „rege[n] Wipfel des alten, heil’gen, dichtbelaubten Haines“ zum Protokoll der Tragödie, das durch die Stoffwahl vorgegeben scheint? Wie verträgt sich die Regsamkeit der Blätter mit dem tragischen Skript des Atridengeschlechts, das den Fluch von Generation zu Generation vererbt und zwangsläufig auch auf eine tragische Schließung des Iphigeniemythos zuzusteuern scheint? Wie in anderen Texten Goethes, die sich mit der Gattung der Tragödie auseinandersetzen, stehen auch im Auftritt der Iphigenie die Ordnung der Tragödie und die des Lebens in einer prekären Balance. Bereits am Anfang, als Schaudern und natürliche Regsamkeit im selben Auftrittsbild zusammentreffen, widerstreiten generative und destruktive, figurative und defigurative Kräfte. Bereits die ersten Verse des Schauspiels bauen eine Spannung auf, die bis zum Schlussvers des Schauspiels erhalten bleibt. Der Vers: „mit schauderndem Gefühl,/ Als wenn ich sie zum erstenmal beträte“, artikuliert ein Auftrittszögern, das an Racines tenebrosi erinnert.36 Es gilt der dunklen Fremde, die zum Zeitpunkt des Drameneinsatzes noch eine tragische Schattenwelt ist. Ebenso aber zeigt sich dieses Dunkel als untragisch, da es anders als die Wälder Racines von der Regsamkeit der Blätter erfüllt ist und den tragisch verschlossenen Horizont auf eine freie Umgebung hin öffnet. Die Figur bewegt sich in einen doppelt konditionierten Raum hinein, dessen Schatten dem Leben und dem Tod, dem Schicksal und dem Zufall der natürlichen Gegebenheiten gleichermaßen angehören.37 Dennoch ist das Protokoll des Lebens, dem Goethes Texte folgen, bereits mit den ersten Versen des Schauspiels etabliert. Endgültig aber als es am Ende nach der Lösung aller tragischen Knoten heißt: „Lebt wohl“38, und der Streit zwischen Griechen und Taurern beigelegt ist, wendet sich die Tragödie buchstäblich dem Leben zu. (Abb. 16, TAFEL 4) 36 Schatten bieten schon hier keinen Auftrittsraum. Phèdre wünscht sich während ihres langsamen Hervorkommens, sitzend im Schatten der Wälder zu verbleiben: „Dieux! Que ne suis-je assise à l‘ombre des forêts!“ (Jean Racine: „Phèdre et Hippolyte“, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1: Théâtre – Poésie, hg. v. Georges Forestier, Paris 1999, S. 815-876, hier S. 826 (V. 167).) Ähnlich kommt auch Racines aulische Iphigenie aus einem obskuren Wald, in dem sie sich mit ihrer Mutter verirrt hat und der den Eingang zur Bühne verstellt: „Dans ces bois, qui du Camp semblent cacher l’entrée./ À peine nous avons dans leur obscurité/ Retrouvé le chemin que nous avions quitté.“ (Jean Racine: Iphigénie. Tragédie, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 1: Théâtre – Poésie, hg. v. Georges Forestier, Paris 1999, S. 695-813, hier S. 713 (V. 342ff.).) 37 Zum Begriff der Doppelkonditionierung vgl. Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2013, S. 168. 38 Goethe: Iphigenie, S. 221 (V. 2174).

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Abb. 16 (Tafel 4): Georg Melchior Kraus, Goethe als Orest und Corona Schröter als Iphigenie (1779).

Gleichzeitig kulminiert dieses Finale nicht in einem vollen Heraustreten. Das Ende bringt keine Erneuerung höfischer Auftrittsregie und keine Rehabilitierung ihrer festlichen Auftritte. Goethes Tragödie, die keine mehr sein will, setzt auch nach ihrem Ende den Zustand der Umgebenheit fort. Nach der Aufhebung des tragischen Protokolls durch die friedliche Einigung der Beteiligten bildet sich eine neue Form von sozialer Komplexität, die die Figuren neu und anders in sich einschließt. Das wiedergewonnene Leben sorgt umgehend für neue Bezugsgeflechte, die einen neu geordneten Umraum schaffen. Am Ende wird alles darangesetzt, unter den Konfliktparteien ein neues völker- und gastrechtliches Verhältnis zu stiften, das Umgebung nun auch in sozialer und politischer Hinsicht definiert.39 „Ein freundlich Gastrecht walte/ Von dir zu uns: so sind wir nicht auf ewig/ Getrennt und abgeschieden.“40 Am Ende schafft Goethe – und das nicht zum letzten Mal – eine verbesserte Verkehrs- und Kommunikationssituation: Iphigenie stiftet einen friedlichen Austausch unter ehemals feindlichen Völkern. Damit treten Rechtsverhältnisse in Kraft und an die Stelle einer tragischen Schließung des Dramas. Am Ende normalisieren sich die Beziehungen zwischen den Beteiligten. Während sich die Schlangen „zu der Höhle“41 zurückziehen und 39 Vgl. Thomas Weitin: Freier Grund. Die Würde des Menschen nach Goethes Faust, Konstanz 2013. 40 Goethe: Iphigenie, S. 220 (V. 2153ff.). 41 Ebd., S. 219 (V. 2124).

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sich der tragische Hintergrund von Furien entleert, gestalten jene nun aktiv die neuen Verhältnisse, die auf neue Figurationen einwirken. Wiederum ist es eine Variante des Mittelgrundes, die in dieser gemäßigten Schlusslösung zur Geltung kommt und die Figuren hinter der Rampe einbehält, wo die ‚Prosa der Verhältnisse‘ herrscht. Dort erscheinen nicht mehr die großen Einzelnen in tragischer Gefährdung, sondern bürgerliche Subjekte, deren Leben durch Institutionen gefördert und geformt wird. Im Mittelgrund erlangt die tragische Figur „prosaische Gestalt“42.

42 Hegel: Ästhetik, Bd. 3, S. 393.

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3. Staffage. Auftrittsprotokolle der Landschaftsmalerei In den Theatertexten Goethes werden Naturszenarien zu maßgeblichen Bezugsgrößen des Auftritts. Goethe, der im ersten Teil des Faust das „offen[e] Feld“1 als Auftrittsraum entdeckte und im zweiten die „[o]ffene Gegend“2 zum Schauplatz wählte, lässt seine Figuren mit Vorliebe in offenem Gelände in Erscheinung treten. Erneut ist damit die Aufmerksamkeit auf einen fond vague gerichtet, der hier in spezifischer, nämlich in landschaftlicher Weise gegeben ist. Während sich das voranstehende Kapitel mit den Auftrittsprotokollen des Pleinair, d.h. mit realem Garten- und Parkambiente befasste, werden nun Auftritte in gemalter Natur in den Blick genommen. Der Auftrittsgrund, von dem hier die Rede ist, ist das Landschaftsgemälde und damit ein „Kunstgebiet“, in dem „von der Bestimmtheit der Formen sehr viel nachgelassen werden muß (weil die Teile in dem Ganzen verschwinden, und der Effekt durch Massen bewirkt wird)“3. Auftritte in der Landschaft positionieren ihre Figuren in unklaren, niemals zur vollen Verdeutlichung gelangenden Raummassen, die sich einer perspektivischen Durchdringung entziehen. Sie verlegen sich in das sfumato, das Körper und Raum als atmosphärisches Kontinuum begreift. Wie die folgende Bemerkung Goethes zu den Gemälden seines Freundes Jakob Philipp Hackert erkennen lässt, wird in der Landschaftsmalerei die Zentralperspektive durch die Luftperspektive,4 die geometrisch-mathematische Raumtiefe durch die atmosphärische überlagert: Man findet den sanften Nebel des Morgens und die Ausdünstungen des Abends nicht allein in der fernsten Entfernung, sondern alle Grade durch bis auf den Mittelgrund, wo der sanfte Nebel herrscht, ohne jedoch die Lokalfarben, welche die Natur zeigt, und ohne das Detail zu alterieren.5

Auch in der Landschaftsmalerei trifft Goethe somit auf eine Raumordnung, die auf klare Konturierung verzichtet und ihre Formen und Figuren in dichten Atmosphären aufgehen lässt. Seine Auftrittsprotokolle orientieren sich an dem gradualen Gestaltungsprinzip des sfumato, das den Körper, anstatt ihn mit Linien zu 1 2 3 4

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Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, in: MA 6.1, S. 535-673, hier S. 667. Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: MA 18.1, S. 103-351, hier S. 317. Friedrich Schiller: Über Matthissons Gedichte, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 8, hg. v. Rolf Peter Jantz, Frankfurt a.M. 1992, S. 1016-1037, hier S. 1022. Vgl. Eckhard Lobsien: Landschaft als Zeichen. Zur Semiotik des Schönen, Erhabenen und Pittoresken, in: Landschaft, hg. v. Manfred Smuda, Frankfurt a.M. 1986, S. 159-177. Einen einführenden Überblick zur Luftperspektive gibt Janis Callen Bell: Perspective, in: The Dictionary of Art, Bd. 24, hg. v. Jane Turner, London/New York 1996, S. 485-495. Zur Luftperspektive vgl. Ernst Hans Gombrich: Art and Illusion, London 1962, S. 154ff. Johann Wolfgang Goethe: Philipp Hackert, in: MA 9, S. 665-869, hier S. 859.

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umschreiben, in seine Umgebung übergehen lässt.6 An die Stelle der perspektivischen Konstruktion treten Nebel und Ausdünstungen, die die Umrisse der Figuren entdeutlichen. Das Erscheinen von Figuren in der Landschaft ist jedoch nicht nur mit einem Mangel an Absonderung, sondern zuallererst mit einem Bedeutungsverlust verbunden. Es erfolgt in einem Naturraum, der die Figuren an Bedeutung und Umfang weit übersteigt. Während in der Gattung der Historienmalerei das handlungsfähige Personal dominiert, nimmt die Landschaftsmalerei in der Regel Staffierungen vor. Ihre Figurenpraxis besteht zumeist in der Zerstreuung einer kleinen und unbedeutenden Population auf schwach strukturiertem Gelände.7 Schiller bemerkt in seiner Rezension zu Matthissons Gedichten, dass sie den Menschen zum bloßen Figuranten mache.8 Auch Carl Ludwig Fernow geht davon aus, dass die Vergrößerung des Raums in der Landschaftsmalerei mit einer Verkleinerung der Figuren einhergehe.9 In seiner gemeinsam mit Heinrich Meyer verfassten Schrift Etwas über Staffage landschaftlicher Darstellungen benennt zuletzt auch Goethe die Gefahren, die mit der Überakzentuierung der Figur im Landschaftsbild verbunden sind. „Historische oder mythologische Figuren in die Landschaft zu introduciren ist allemahl bedenklich, weil sie die Aufmerksamkeit, vom Ganzen ab, auf sich ziehen, ja das Bild blos als ein unverhältnißmäßiger Grund derselben erscheint.“10 Die auf das Ganze einer Landschaft gerichtete Bildgattung verlangt die Unterordnung, Depotenzierung und Dezentralisierung der Figur. Zwar besteht sie auf einer Harmonisierung von Staffage und Landschaft. Konformität, Zugemessenheit und Zusammenstimmung beider Elemente zu gewährleisten, sind wichtige Forderungen an die Landschaftsmalerei,11 die sicherstellen, dass 6

Zum Verhältnis von Atmosphäre und Perspektive vgl. Hubert Damisch: Theory of Cloud. Toward a History of Painting, übers. v. Janet Loyd, Stanford 2002, S. 137. 7 Vgl. Gerhard Gerkens: Staffage – oder: Die heimlichen Helden der Bilder, Bremen 1984, S. 3: „Der […] Unterschied ist, dass auf dem Historienbild die Gestalten die ganze Aussage tragen müssen, im Bild mit Staffage ist die Hauptaussage der Umgebung, nicht dem Menschen zugewiesen.“ 8 Vgl. Schiller: Über Matthissons Gedichte, S. 1016. 9 Vgl. Carl Ludwig Fernow: Über die Landschaftmalerei (Beschluß), in: Der Neue Teutsche Merkur 12 (1803), S. 594-640, hier S. 616. 10 Johann Wolfgang Goethe u. Heinrich Meyer: Etwas über Staffage landschaftlicher Darstellungen, in: Propyläen. Eine periodische Schrift, Bd. 3, hg. v. Johann Wolfgang Goethe, Tübingen 1800, S. 153-156, hier S. 153. 11 Vgl. Roger de Piles: Cours de peinture par principes (1708), in: Landschaftsmalerei, hg. v. Werner Busch, Berlin 1997, S. 160-167, hier S. 161: „Le Peintre en composant son paїsage peut avoir dans la pensée d’y imprimer un caractère conforme au sujet qu’il pourroit avoir choisi, & que ses figures doivent représenter.“ In seinen Betrachtungen über die Mahlerey verlangt Christian Ludwig von Hagedorn, dass „dieses Fischers Gegenwart dem Schilfe und den Weidensträuchen des beschatteten Ufers wie zugemessen“ sei (Christian Ludwig von Hagedorn: Betrachtungen über die Mahlerey. Erster Theil, Leipzig 1762, S. 365), der Gartentheoretiker Thomas Whateley

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sich Landschaft und Figur „gegenseitig unterstützen und heben“12, wie es in Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste heißt. Ihren Zweck kann sie jedoch nur dann erfüllen, wenn sie unauffällig bleibt und „die Staffage nicht aus dem Ganzen herausfällt“13. Die folgenden Überlegungen wenden sich daher der Frage zu, wie und unter welchen Bedingungen dramatische Figuren in einen Landschaftsgrund ‚introduziert‘ werden. Ausgehend von Goethes Texten sind die konstitutiven Linien einer Bühnenästhetik nachzuzeichnen, die sich an den Kompositionsregeln der Landschaftsmalerei orientiert und daher auch die Bühne als ein vom Dramatiker auszustaffierendes Bildganzes betrachtet. Gefragt wird nach einem dramaturgisch-ästhetischen Konzept, das Auftritte vor „unverhältnißmäßige[m] Grund“ stattfinden lässt und damit immer auch ihre Nebensächlichkeit riskiert. Wie in Diderots Theater erscheinen auch Goethes Figuren in Relation zu einem sie einschließenden Tableau.14 Während es sich dort jedoch um einen Spielrahmen handelt, der jeweils eine Figurengruppe ins Zentrum stellt und das Augenmerk damit auf eine menschliche Situation in ihrer Ensemblewirkung richtet, handelt es sich nun um ein „figurenloses“15 Bildfeld, das dem Auftritt vorausliegt und durch Schauspieler erst nachträglich zu besetzen ist. In Goethes Regeln für Schauspieler, die er für das Weimarer Theater verfasste, wird der Akteur dem Bildfeld der Bühne nachgeordnet. Vier Paragraphen des Spielmanuals erklären ihn zur Staffage, belehren ihn über seine untergeordnete Stellung und warnen ihn davor, aus der Umschließung des Tableaus heraus- und ins volle Licht zu treten. Schauspiel versteht sich damit als die sekundäre Besiedelung eines menschenleeren Bildraums: § 83 Das Theater ist als ein figurenloses Tableau anzusehen, worin der Schauspieler die Staffage macht. § 84 Man spiele daher niemals zu nahe an den Kulissen.

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fordert ein „subject“, das „should seem to have been suggested by the scene“ (Thomas Whateley: Observations on Modern Gardening (1770), in: Busch: Landschaftsmalerei, S. 195-201, hier S. 196), und Carl Ludwig Fernow dringt in seiner 1803 erschienenen Schrift über die Landschaftsmalerei darauf, Landschaft und Staffierung, Haupt- und Beiwerk „zu einem Totaleindrucke zusammen[zu]stimmen“ (Carl Ludwig Fernow: Über die Landschaftmalerei, in: Der Neue Teutsche Merkur 12 (1803), S. 527-557, hier S. 545). Vgl. Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993, S. 329. Sabine Strahl-Grosse: Staffage. Begriffsgeschichte und Erscheinungsform, München 1991, S. 86. Heinrich Wölfflin: Bemerkungen über Landschaft und Staffage, in: ders.: Kleine Schriften (18861933), hg. v. Joseph Gantner, Basel 1946, S. 123-126, hier S. 124. Vgl. Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2004, S. 82ff. Johann Wolfgang Goethe: Regeln für Schauspieler, in: MA 6.2, S. 725-746, hier S. 744.

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§ 85 Ebensowenig trete man ins Proszenium. Dies ist der größte Mißstand; denn die Figur tritt aus dem Raume heraus, innerhalb dessen sie mit dem Szenengemälde und den Mitspielenden ein Ganzes macht. § 86 Wer allein auf dem Theater steht, bedenke daß auch er die Bühne zu staffieren berufen ist, und dieses um so mehr, als die Aufmerksamkeit ganz allein auf ihn gerichtet bleibt.16

Wie die dramatischen Texte zeigen, die nun zu lesen sind, begnügt sich Goethes Theater jedoch nicht damit, den Akteur im Grund zurückzuhalten und ihn der szenischen Übermacht des Landschaftlichen zu unterwerfen. Vielmehr schafft es die Bedingungen für ein erneutes emphatisches Hervortreten, das die Figur aus der Landschaft löst und die ihr durch den Bildrahmen gesetzte Grenze hinter sich lässt. In Goethes Landschaftsdramaturgie kommt es zu einer Aufwertung der Staffage17, die der eingebetteten Figur ihre Auftrittsfähigkeit zurückerstattet und dem Tableau eine vermisste Energie zurückgewinnt. Die Spezies der ‚bloßen Figuranten‘ erfährt durch Goethe eine Verlebendigung, die sie aus der Unverhältnismäßigkeit heraustreten und zu selbstständigen Akteuren werden lässt. Das weitere Argument gilt der Steigerung einer Evidenz, die im herkömmlichen Konzept der Staffage nicht angelegt war. Es folgt dem Leitfaden der Frage, wie aus einem unterdrückten oder depotenzierten Auftritt in der Landschaft ein emphatischer Auftritt aus der Landschaft werden kann und welche Auftrittsmöglichkeiten ein Theater bietet, dessen Figuren immer nur sekundäre, d.h. ihrem Umraum gegenüber nachrangige Bedeutung beanspruchen können. Aufwertung der Staffage Die Aufwertung der Staffage, die damit verbunden ist, lässt sich am besten dann absehen, wenn man sie von dem abgrenzt, was die Kunstwissenschaft akzessorische Staffagepraxis nennt. Diese besteht in der beliebigen Auffüllung kompositorischer Leer- oder Schwachstellen durch ornamentale und der Landschaft äußerliche Figuren, denen keine strukturgebende Rolle im Kompositionsprozess zukommt. Kennzeichnend für ein solches Vorgehen ist die Nachträglichkeit des Figureneintrags in eine vollendete Bildkomposition. Sulzer definiert sie in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste als „Verzierung einer allenfalls fertigen Sache, um ihr etwas mehr Leben oder Ansehen zu geben“18. Diese Nachträglich16 Ebd. 17 Zur Aufwertung der Landschaft durch Goethe vgl. Strahl-Grosse: Staffage, S. 23ff. 18 Eintrag: Staffirung, in: Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Vierter Theil. Neue vermehrte zweyte Auflage, Leipzig 1794, S. 450. Vgl. dazu Strahl-Grosse: Staffage, S. 80ff.

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keit wird noch dadurch verschärft, dass die Aufgabe der Staffierung oft in fremde Hände gelegt wird:19 „Weil zur Staffirung mehr Zeichnung, als zur Landschaft an sich gehört, so findet man viele gute Landschaftmahler, die nicht im Stande sind, ihre Stüke zu staffiren, daher ist die Staffirung sehr oft von einem andern Meister.“20 Entsprechend gilt die Auszierung eines Gemäldes mit Figuren im Kunstdiskurs des 18. Jahrhunderts als eine untergeordnete künstlerische Tätigkeit, die immer wieder mit Geringschätzung betrachtet wird. Goethe hingegen lässt die Figuren aus dem Landschaftsgrund entspringen. Zwar geht auch er zunächst von einer Unterordnung der Figur in einen Gesamtzusammenhang aus, wenn er schreibt: „[D]ie Figuren also, deren man sich zur Staffirung einer Landschaft bedient, werden nur alsdann für schicklich gelten, wenn sie mit dem Character des ganzen Bildes übereinstimmen und als untergeordnete, aus demselben entsprungene Theile angesehen werden können.“21 Das Wort ‚entspringen‘ birgt jedoch ein Energiepotential, das nicht nur eine kräftige Vorwärtsbewegung der Figur möglich macht, sondern auch auf eine nicht mehr bloß akzessorische Staffagepraxis hinweist. Es bezeichnet eine im Bildgrund selbst lokalisierte Genesis. Wenn die Staffage einem Gemälde entspringt, dann wird die Landschaft zum produktiven Grund. Amor ein Landschaftsmaler An Goethes 1787 entstandenem Gedicht Amor ein Landschaftsmaler können die Umstände und Voraussetzungen dessen entfaltet werden, was es heißt, einem Bild zu entspringen. Schritt für Schritt zeichnet es die Entstehung eines Landschaftsgemäldes bis hin zur Staffierung nach. Darin scheint auch der Maler Amor zunächst der Regel zu folgen, dass die Figuren erst zuletzt in die Landschaft einzutragen seien. Wie der Landschaftsmaler Jakob Philipp Hackert, der Goethe zufolge in seinen Gemälden von hinten nach vorn arbeitete,22 bereitet auch Amor zunächst den landschaftlichen Grund, vor dem die Staffierung auftreten soll. Erst nachdem die Gründe gestaffelt und Himmel, Bäume, Flüsse und Wäldchen gemalt sind, wird auch der Figur ein Platz in der Sonne angewiesen.23 Dabei geht die Staffage aus derselben kontinuierenden Zeichenbewegung hervor wie die 19 20 21 22

Zur Heranziehung von spezialisierten Staffagekünstlern vgl. Strahl-Grosse: Staffage, S. 104ff. Eintrag: Staffirung, in: Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, S. 80ff. Goethe u. Meyer: Etwas über Staffage, S. 153. Hervorhebung J.V. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise, in: MA 15, S. 253: „Drei Tinten stehen, wenn er tuscht, immer bereit, und indem er von hinten hervorarbeitet und eine nach der anderen braucht, so entsteht ein Bild […].“ Vgl. Busch: Das sentimentalische Bild, S. 334. 23 Wasser und Licht gelten der zeitgenössischen Kunsttheorie „as the primary ingredients of nature, with trees testifying to fertility and abundance“. (Margaretha Rossholm Lagerlöf: Ideal Landscape. Annibale Carracci, Nicolas Poussin u. Claude Lorrain, New Haven/London 1990, S. 124.)

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Landschaft, vor der sie zur Erscheinung kommt. Hier mischen sich keine fremden Hände ein. In der Verkettung des Wortes „Zeichnete“ geht die Landschaftszeichnung in die Figurenzeichnung über, bis sie in der Produktion eines „allerliebste[n] Mädchen[s]“ „[g]rad a[m] Ende“ ihr Ziel findet: Oben malt er eine schöne Sonne, Die mir in die Augen mächtig glänzte, Und den Saum der Wolken macht er golden, Ließ die Strahlen durch die Wolken dringen. Malte dann die zarten, leichten Wipfel Frisch erquickter Bäume, zog die Hügel Einen nach dem andern frei dahinter; Unten ließ ers nicht an Wasser fehlen, Zeichnete den Fluß so ganz natürlich Daß er schien im Sonnenstrahl zu glitzern, Daß er schien am hohen Rand zu rauschen. […] Zeichnete darnach mit spitzem Finger Und mit großer Sorgfalt, an dem Wäldchen, Grad ans Ende wo die Sonne kräftig Von dem hellen Boden wiederglänzte, Zeichnete das allerliebste Mädchen, Wohlgebildet, zierlich angekleidet […].24

Von einer Unterordnung der Figur kann in diesem Szenarium keine Rede mehr sein. Amors Arbeitsweise zeigt nicht nur die Aufwertung des Figurenmotivs in der Landschaftskomposition, sondern auch ein Maß an Verlebendigung, das die belebende Wirkung herkömmlicher Staffagefiguren entschieden überbietet. Sie stellt sich damit in Gegensatz zur akzessorischen Staffagepraxis, die der Landschaft das Leben nur in geringen Dosen appliziert hatte. Ohne Emphase hatte Sulzer davon gesprochen, dass die Staffierung „etwas mehr Leben“ ins Bild trage. Thomas Gainsborough wollte ihr nicht mehr als „a little business“25 zugestehen. Goethe dagegen geht es nicht um die lokale Belebung einer landschaftlichen Ansicht oder die Erregung einer sporadischen Unruhe durch eine geschickt platzierte Staffagefigur, sondern um eine aus dem Werkprozess selbst hervorgehende, das Bildganze erfassende Animation, die in ein emphatisches Hervortreten einmündet.26 Dem Malvorgang kommt hier die Aufgabe zu, den Auftritt einer Figur vor-

24 Johann Wolfgang Goethe: Amor ein Landschaftsmaler, in: MA 3.2, S. 10-14, hier S. 13. 25 Thomas Gainsborough: Briefe (um 1770), in: Landschaftsmalerei, hg. v. Werner Busch, Berlin 1997, S. 202-205, hier S. 202; vgl. Busch: Das sentimentalische Bild, S. 377. 26 Vgl. Christian Begemann: Kunst und Liebe. Ein ästhetisches Produktionsmythologem zwischen Klassik und Realismus, in: Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, hg. v. Michael Titzmann, Tübingen 2002, S. 79-112, hier S. 80-89.

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zubereiten.27 Amor ein Landschaftsmaler inszeniert den Moment der Staffierung als pneumatischen Impuls, der unter Amors Pinselführung aus der organischen Selbsttätigkeit des Gemäldes hervorgeht. Die Anfertigung eines Landschaftsgemäldes gipfelt in einem Vorgang, der auftrittsartige Züge trägt und die Figur, die er hervorbringt, aus dem landschaftlichen Rahmen herausführt: Da ich noch so rede, sieh da rühret Sich ein Windchen und bewegt die Gipfel Kräuselt alle Wellen auf dem Flusse, Füllt den Schleier des vollkommnen Mädchens, Und was mich Erstaunten mehr erstaunte Fängt das Mädchen an, den Fuß zu rühren, Geht zu kommen, nähert sich dem Orte Wo ich mit dem losen Lehrer sitze.28

Das hier erkennbare Bewegungsmodell etabliert sich im Schnittbereich von bildnerischer und theatraler Imagination. Es beschreibt, wie sich das in der Landschaftsschilderung wirksame Prinzip der enargeia oder der anschaulichen Schilderung in energeia, d.h. in Auftrittsenergie umsetzt. Mit dem Aufkommen von Wind und der Füllung des Schleiers bedient sich Goethe derselben energetischen Formeln, die dem Maler durch die Kunsttheorie der Renaissance und insbesondere Alberti vorgegeben worden waren.29 1787 verwendet er dieselben Pathosformeln, die für Aby Warburgs Ninfa-Projekt grundlegend werden sollten.30 Wie dort wird der Effekt der Verlebendigung durch die euphorische Bewegung eines sich rührenden Fußes erzielt, der einer zunächst unbelebten Bildordnung Lebenskraft zuführt. Das Mädchen zeichnet sich durch dieselbe „lebendig leichte aber so höchst bewegte Weise zu gehen“31, dieselbe Unaufhaltsamkeit aus, die auch bei Warburg der Dynamisierung des Bildes dienen werden. Ihr Auftritt ist als ein 27 Vgl. dazu auch Fernow: Über die Landschaftmalerei, S. 543: „[S]o wird auch eine Landschaft bedeutender, ihr Karakter wird bestimmter, ihr Inhalt reicher und poetischer, ihr Eindruck klarer und befriedigender; mit einem Worte: die Darstellung einer idealischen Naturscene wird ästhetisch-interessanter, wenn sie, wie die wirkliche Natur, als ein Aufenthalt lebender Wesen erscheint; wenn sie durch Menschen und Thiere, durch Kunstprodukte der Kultur, durch interessante Ereignisse und Auftritte belebt wird.“ 28 Goethe: Amor, S. 14. 29 Vgl. Charlotte Kurbjuhn: Kontur. Geschichte einer ästhetischen Denkfigur, Berlin/Boston 2014, S. 126ff. 30 Vgl. Gerhart von Graevenitz: Goethes „Pathosformel“. Zur Phileros-Handlung in „Pandora“, in: Epiphanie der Form. Goethes „Pandora“ im Licht seiner Form- und Kulturkonzepte, hg. v. Sabine Schneider u. Juliane Vogel, Göttingen 2017 (im Druck). 31 Aby Warburg: Ninfa Fiorentina, in: ders.: Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare hg. u. kommentiert v. Martin Treml u.a., Frankfurt a.M. 2010, S. 198-211, S. 200.

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Auftritt mit „bewegtem Beiwerk“32 angelegt, der die Landschaft, der er entspringt, in Bewegung setzt und diese zugleich überschreitet. Außerdem wird das komplexe Bedingungsgefüge sichtbar, das diesen Bildauftritt möglich werden lässt: der Maler, der die Staffelung der Gründe mit einer Figur abschließt, die natürlichen Elementarverhältnisse, die durch das Bild selbst hervorgebracht werden, und der Betrachter, der beim Herannahen der Figur aus seiner kontemplativen Haltung erwacht und seine Empfangsbereitschaft steigert. In einer solchen Anordnung transformiert sich der Landschaftsgrund in ein generatives Kräftefeld, das den Auftritt gleichsam organisch aus sich hervorbringt. Die nebensächliche Staffagefigur wird hier zu einer bildbestimmenden, sinnstiftenden Kraft.33 Landschaft in „Poussinischer Weise“ Nicht zufällig orientiert sich Goethes Landschaftstheater dabei an einem Künstler, dem der zeitgenössische Kunstdiskurs eine Mittelstellung zwischen Landschafts- und Historienmalerei einräumte. Dort, wo sich seine Dramatik vor landschaftlichem Hintergrund bewegt, taucht der Name Nicolas Poussins auf.34 Die Stücke Lila, Proserpina und insbesondere Pandora spielen vor ‚poussinischer‘ Kulisse. Für das Divertissement Lila wünscht Goethe sich einen Prospekt, der wie ein „Kupfer von Poussin“ eine mit Architekturstücken versetzte Gegend zei32 Aby Warburg: Die Erneuerung der heidnischen Antike, Leipzig 1932, S. 19; Zum begrifflichen Komplex der Bewegung vgl. Philippe-Alain Michaud: Aby Warburg and the Image in Motion, New York 2004, S. 83; Cornelia Zumbusch: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin 2004, S. 71-89; Vgl. Aby Warburg: Die Theaterkostüme für die Intermedien von 1589, in: ders.: Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare hg. u. kommentiert v. Martin Treml, Sigrid Weigel u. Perdita Ladwig, Frankfurt a.M. 2010, S. 124-168, hier S. 155. 33 Demgegenüber verwenden die Theoretiker der Landschaftsmalerei konventionelle Theatermetaphern: „Würde man noch jeder Landschaft Auftritte aus der thierischen und sittlichen Welt, die sich dazu schiken, beyfügen, so würde eine solche Sammlung für den Verstand und das Gemüth eine höchst nützliche Schule des Unterrichts seyn.“ Zit. Sulzer, in: Strahl-Grosse: Staffage, S. 170. Auch Carl Ludwig Fernow unterscheidet eine Gattung der poetischen Landschaftsmalerei, die die Landschaft allein als „leere Scene“ betrachte, die „für den Aufenthalt lebender Wesen bestimmt ist“. (Fernow: Über die Landschaftmalerei, S. 550.) 34 Zu Goethes Poussinrezeption und Sammeltätigkeit vgl. die Ausführungen von Anja Petz: Goethe und die Kunst, Frankfurt a.M. 1994, S. 89-92; David Wellbery: Goethes „Pandora“. Dramatisierung einer Urgeschichte der Moderne. Sitzungsberichte der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, München 2017, Heft 2; Johannes Grave: Goethes „Pandora“ – Erscheinung und Entzug im Bild, in: ebd.; Ernst Osterkamp: Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goethescher Bildbeschreibungen, Stuttgart 1991, S. 135-137; Steffen Egle: Poussin, Nicolas und Dughet, Gaspard, in: Goethe-Handbuch, Supplemente Bd. 3: Kunst, hg. v. Andreas Beyer u. Ernst Osterkamp, Stuttgart/Weimar 2011, S. 542-544.

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gen sollte.35 Das Monodrama Proserpina ist „in einer ernsten Landschaft Poussinischen Styls“36 lokalisiert. Der Schauplatz der Pandora, der hier genauer behandelt werden soll, „wird im großen Styl nach Poussinischer Weise gedacht“37. Mit diesen Angaben rückt ein Werk in den Blick, dem unter den Kunstkritikern des 18. Jahrhunderts der Ruf vorauseilt, einen Ausgleich zwischen Geschichte und Landschaft zu stiften und die Rolle der Figur in heroischer Weise aufzuwerten. Nach Auffassung Hagedorns dokumentieren Poussins Landschaften das Zusammenwirken zweier gleichberechtigter künstlerischer Vermögen. Als „Nacheiferer des Raphaels an der Geschichte [d.h. in der Zeichnung der Figur; J.V.] und des Titians in der Landschaft“38 werde er sowohl den Forderungen der Historien- als auch der Landschaftsmalerei gerecht. Auch Fernow sieht den Vorzug der poussinischen Landschaftskunst darin, dass er „Poesie der Landschaft und der Staffage […] musterhaft in sich verein[te]“39, ja dass diese jene an Poesie übertreffe. Wo Umgebung und Figur so stark miteinander rivalisieren wie in Poussins Paysages, muss auch der auf eine hierarchische Bildordnung zugeschnittene Begriff der Staffage angepasst werden. Die Aufwertung der Staffage führt zu einer strukturellen Aufwertung menschlicher Akteure im Landschaftsbild. Vor diesem Hintergrund ist am Festspiel Pandora daher der Komplexität der in der Landschaft möglichen Figur-und-Grund-Beziehungen nachzugehen. An ihm kann die Einsetzung eines Protokolls beobachtet werden, das die Figur in Landschaftsbezügen auftreten lässt, um diese am Ende emphatisch zu überschreiten.

35 „Wir wollen der Herzogin Louise auf ihren Geburtstag auf unsern Brettern ein neu Stück geben und bedürfen dazu eines hintersten Vorhangs zum Wald. Wir mögten auf diesem Prospeckt gern eine herrliche Gegend vorstellen mit Haynen Teichen, wenigen Architeckturstücken pp. denn es soll einen Parck bedeuten, […] allenfalls ein Kupfer von Poussin, oder sonst eine Idee.“ (Goethe an Adam Friedrich Oeser, 7. Januar 1777, in: WA IV.3, S. 129.) 36 Johann Wolfgang Goethe: Proserpina. Melodram von Goethe, Musik von Eberwein, in: MA 11.2, S. 191-198, hier S. 193. Die Wahl einer Poussinkulisse für die Proserpina begründet Goethe folgendermaßen: „Die Verehrung Poussins wird allgemeiner, und gerade dieser Künstler ist es, welcher dem Dekorateur, im landschaftlichen und architektonischen Fache, die herrlichsten Motive darbietet.“ (Ebd., S. 198.). 37 Johann Wolfgang Goethe: Pandora, in: MA 9, S. 151-185, hier S. 151. 38 Hagedorn: Betrachtungen über die Mahlerey, S. 367. Vgl. Richard Wollheim: Painting as an Art. The A. W. Mellon Lectures in the Fine Arts, 1984, The National Gallery of Art, Washington D.C./ Princeton 1987, S. 220: „I have spoken of the landscape beyond the landscape in Poussin’s mature work, and now I have to point out how in some of the late work there is a development in this area. The far landscape retains its identity – it remains a second landscape – but now it gets entrapped in the main picture. The effect is uncanny. It is like a fly caught in a spider’s web.“ 39 Fernow: Über die Landschaftmalerei (Beschluß), S. 620.

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Goethes Pandora In Goethes fragmentarisch gebliebenem Festspiel Pandora von 1810 rückt das Spannungsverhältnis von Figur und Landschaft ins Zentrum der dramatischen Anordnung. Es handelt von den Titanenbrüdern Epimetheus und Prometheus, die jeweils gegensätzliche, jedoch gleichermaßen unfruchtbare Lebensformen verkörpern. Dem Frühkapitalisten Prometheus, der sich in leerer Aktivität verausgabt, indem er unterirdisch Waffen produziert, steht Epimetheus gegenüber, der eine ausschließlich kontemplative und rückwärtsgewandte Haltung repräsentiert. Trennscharf entfaltet das Stück die antithetischen Seinszustände einer Zwischenzeit, die auf das Wiedererscheinen einer rettenden Himmelsmacht – nämlich Pandoras – zuläuft. Seine gesamte Anlage ist auf ihren erlösenden Auftritt ausgerichtet. In diese Zeit der Erwartung fügt Goethe jedoch ein tragisches Handlungselement ein, das den Sohn des Prometheus, Phileros, betrifft. Es findet seinen Höhepunkt darin, dass Phileros, der in der Verblendung der Eifersucht seine Geliebte zu töten versucht, von seinem Vater Prometheus verworfen und verbannt wird. Ohnmächtig der Gewalt dieses Urteils ausgeliefert, vollzieht er es in verschärfter Form an sich selbst durch einen Selbstmord im Meer. Doch als Prometheus ihn retten will, wird ihm das Geschäft der Rettung von höheren Mächten aus der Hand genommen. Im Meeresgrund der Szene formieren sich Delphine und Meerwunder und tragen Phileros lebendig zurück an Land. Mit diesem festlichen Auftritt schließt das Fragment, während der Schluss, der die Wiederkehr Pandoras, ihren Auftritt und die Neuordnung der Welt in allegorischer Form herbeiführen sollte, unvollendet und aufgeschoben bleibt. Es ist nur in einem Schema erhalten. Kennzeichnend für diesen wegen seines erbarmungslosen Abstraktionsniveaus zu Recht gefürchteten Text ist die Verschränkung von tragischer und allegorischer Struktur. In der episodischen Anordnung seiner Szenen folgt er einerseits dem Aufstellungsschema höfischer Maskenzüge, das die Symmetrie und Kontrastierung bedeutender Gruppierungen fordert, andererseits stößt er auf der Ebene der Phileros-Handlung in eine tragische Schicht vor. Auch dieses tragische Festspiel findet vor einer Poussin’schen Landschaft statt. Die einleitende Anweisung: „Der Schauplatz wird im großen Styl nach Poussinischer Weise gedacht“40, legt den Stil jeden theatralen Vorgangs fest. Gleichzeitig erklärt sie die dramatischen Figuren zur Staffage, die sich in einen übermächtigen Landschaftsgrund einfügen, und ermutigt zugleich zu einer Untersuchung, die den engen Verflechtungen von bildlichen und textuellen Auftrittsprotokollen nachgeht. Poussins Landschaften geben dabei ein Ambiente vor, das Goethe zur Darstellung eines stagnierenden, anti-theatralen titanischen Weltalters nutzen kann. Die landschaftliche Einbettung der Figur in Pandora erweist sich als tragi40 Goethe: Pandora, S. 151.

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sche Gefangenschaft in einem von den Ressourcen des Lebens abgeschnittenen Raum. Von Anfang an scheinen die Figuren des Festspiels in einen „unverhältnismäßigen Grund“41 eingeschlossen. Langfristig aber bereitet sich in ihm ein emphatischer Auftritt vor, der die erstarrte Weltlage wieder in Bewegung setzt und den in ihr Eingeschlossenen die Möglichkeit eröffnet, mit elementarer Kraft – oder wie es bei Aby Warburg heißt – mit „weltzugewandter Energie“42 aus ihrer Umschließung herauszutreten. Auch in der Pandora geht es um die Reaktivierung eines zum Stillstand gekommenen und seines generativen Potentials beraubten Szenengrundes. Das Stück eröffnet zunächst eine weiträumige Szene des Wartens, in der die Titanenbrüder Epimetheus und Prometheus in ebenso unentschiedener wie unbeweglicher Seinslage anzutreffen sind. Seitdem Pandora aus der Welt verschwand, ist die organische Selbsttätigkeit der Landschaft wie ihrer Bewohner zum Erliegen gekommen und die artikulatorische Funktion des Auftritts geschwächt. Eine umfangreiche Regieanweisung setzt zu Beginn einen gestaffelten Landschaftsgrund,43 in dem Kultur und Natur in ungelöstem Widerstreit liegen und bestimmte Formen in unbestimmte übergehen. Sichtbar wird eine von ungerichteten Kräften beherrschte Landschaft, der die Form entzogen oder noch nicht verliehen ist. Seite des Prometheus Zu der Linken des Zuschauers Fels und Gebirg, aus dessen mächtigen Bänken und Massen natürliche und künstliche Höhlen neben- und über einander gebildet sind, mit mannigfaltigen Pfaden und Steigen, welche sie verbinden. Einige dieser Höhlen sind wieder mit Felsstücken zugesetzt, andere mit Toren und Gattern verschlossen, alles roh und derb. Hier und da sieht man etwas regelmäßig Gemauertes, vorzüglich Unterstützung und künstliche Verbindung der Massen bezweckend, auch schon bequemere Wohnungen andeutend, doch ohne alle Symmetrie. Rankengewächse hangen herab; einzelne Büsche zeigen sich auf den Absätzen; höher hinauf verdichtet sich das Gesträuch, bis sich das Ganze in einen waldigen Gipfel endigt. Seite des Epimetheus Gegenüber zur Rechten ein ernstes Holzgebäude nach ältester Art und Konstruktion, mit Säulen von Baumstämmen, und kaum gekanteten Gebälken und Gesimsen. In der Vorhalle sieht man eine Ruhestätte mit Fellen und Teppichen. Neben dem Hauptgebäude, gegen den Hintergrund, kleinere ähnliche Wohnungen mit vielfachen Anstalten von trockenen Mauern, Planken und Hecken, welche auf Befriedigung verschiedener Besitztümer deuten; dahinter die Gipfel von Fruchtbäumen, Anzeigen wohlbestellter Gärten.

41 Goethe u. Meyer: Etwas über Staffage, S. 153. 42 Aby Warburg: Francesco Sassettis letztwillige Verfügung, in: ders.: Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare hg. u. kommentiert v. Martin Treml, Sigrid Weigel u. Perdita Ladwig, Frankfurt a.M. 2010, S. 234-280, hier S. 260. 43 Vgl. Osterkamp: Im Buchstabenbilde, S. 135ff.

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Weiterhin mehrere Gebäude im gleichen Sinne. Im Hintergrunde mannigfaltige Flächen. Hügel, Büsche und Haine; ein Fluß, der mit Fällen und Krümmungen nach einer Seebucht fließt, die zunächst von steilen Felsen begrenzt wird. Der Meereshorizont, über den sich Inseln erheben, schließt das Ganze.44

Eine komplexere und zugleich übermächtigere Hintergrundsetzung wird man auch bei Goethe nicht leicht finden. Sie erweist sich als so übermächtig und zugleich als so unproduktiv, dass sie den Figuren die Bühnenfähigkeit entzieht. Nicht zufällig gehören die Titanen Epimetheus und Prometheus auch mythologisch einem gefangenen, bewegungsunfähigen und in einen Grund gebannten Geschlecht an.45 Bereits Hesiods Theogonie beschreibt die Titanen als Hintergrundund Untergrundwesen, die sich in langen unentschiedenen Kämpfen aufreiben und nach ihrer Niederlage gegen die Olympier in den Tartarus gebannt oder an den Kaukasus geschmiedet werden. Der Nebentext: „Epimetheus (Aus der Mitte der Landschaft hervortretend[ ])“46, bleibt denn auch die elementaren Energien schuldig, die das Mädchen in Amor ein Landschaftsmaler in die Landschaft gebracht hatte. Sein Auftritt nimmt sich im Moment seines Vollzugs sogleich wieder zurück. Mit den Worten: „Besser blieb’ es immer Nacht!“47, findet eine anti-theatrale Wendung statt. Gleich nach seinem Entrée zieht es Epimetheus wieder auf die „Ruhestätte“, die der Grund für ihn offenhält: „Er begibt sich nach dem Lager in der Vorhalle und besteigt es.“48 Während Amors Mädchen dort in Erscheinung trat, „wo die Sonne kräftig/ Von dem hellen Boden wiederglänzte“, flieht Epimetheus vor Helios und begibt sich in einen Hintergrund zurück, der die Figur in Untätigkeit (‚Ruhe‘) versetzt und bis auf Weiteres einbehält.49 Die Poussin’sche Szene verharrt in einem lichtlosen Latenzzustand, der auch den Glanz der Person auf unbestimmte Zeit suspendiert. Landschaft mit Polyphem Diese Hintergrundbezogenheit des titanischen Personals lässt sich anhand eines Gemäldes verdeutlichen, das als Vorlage für den Landschaftsprospekt der Pandora 44 Goethe: Pandora, S. 151f. Vgl. zur Kontrastbildung Grave: Goethes „Pandora“. Grave betont vor allem die Idealisierungstendenzen des Poussin-Modells. 45 Vgl. Hesiod: Theogonie. Werke und Tage. Griechisch-Deutsch, 5. Aufl., hg. u. übers. v. Albert Schirndling, Berlin 2012, S. 52f. (V. 625ff.). 46 Goethe: Pandora, S. 152. 47 Ebd., S. 153 (V. 25). 48 Ebd., S. 156. 49 Vgl. Wellbery: „Pandora“. Meine Beobachtungen orientieren sich stark an Wellberys Überlegungen, die Pandora als mythologisch geschichtetes Denkbild beschreiben.

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Abb. 17 (Tafel 5): Nicolas Poussin, Landschaft mit Polyphem (1649).

in Frage kommt. David Wellbery und Johannes Grave haben Poussins Landschaft mit Polyphem namhaft gemacht, das in der Kupferstichreproduktion Étienne Baudets zeitweilig Goethes Sammlung angehörte, auch wenn dabei in keiner Weise von einer einfachen Übernahme die Rede sein kann (Abb. 17, TAFEL 5).50 Es handelt sich hierbei um die Verbildlichung der in Ovids Metamorphosen enthaltenen Verwandlungsepisode, die vom Begehren des Titanen Polyphem nach der Nymphe Galatea erzählt und dabei den Moment festhält, in dem dieser auf einem Berg sitzend das Erscheinen Galateas vom Meer her erwartet. Im mittleren Horizont des Bildes erhebt sich eine formlose vulkanische Felsformation, aus der der Rücken Polyphems gleichsam organisch herauswächst. Figur und Grund verbinden sich

50 Wellbery verweist auf Goethes Brief an Meyer im Januar 1796, der vom Ankauf „acht grosse[r] Poussins“ berichtet. Unter ihnen das Bild mit Polyphem: „1. Gegend am Ätna. Polyphem sitzt auf dem Gipfel des Felsens, unten Feldarbeiter, ein Flußgott mit Nymphen.“ Goethe an J. H. Meyer, 22.-25. Januar 1796, in: WA II.4, S. 159-162, hier S. 161. Zu den in den Sammlungen Goethes enthaltenen Druckgrafiken nach Gemälden Poussins vgl. Osterkamp: Im Buchstabenbilde, S. 136ff.

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formal zu einer landschaftlichen Einheit.51 Stellvertretend für das Titanengeschlecht erscheint Polyphem nicht vor der Naturkulisse und von dieser abgesondert auf der Szene, sondern unauflöslich in ihr festgebannt. Er ist somit keine nachträglich in die Landschaft eingefügte dramatische Staffagefigur, sondern eingewachsener Bestandteil des Bildgrundes selbst, welcher der fundierenden Schicht des Werkprozesses angehört. Poussins Gemälde folgt der Vorstellung einer archaischen und noch unerlösten Welt, in der die titanischen Figuren, die ihr das Gepräge geben, in mythische Raumschichten eingeschlossen sind.52 Die Möglichkeit der Absonderung und die bewegte Artikulation der Gestalt im Auftritt bleiben ihnen verwehrt. „Aus der Flutenmitte“: Das Galatea-Protokoll Zugleich wird jedoch das Meer, wenn auch durch Aussparung, als ein künftiger Auftrittsraum bezeichnet. Poussins Polyphem ist ihm zugewandt, weil er von dorther die Ankunft der Galatea, d.h. einen Auftritt erwartet.53 Seine Haltung ist ganz von der Sehnsucht bestimmt, dass die von ihm geliebte Nymphe auf dem Wasser erscheinen und die in ihren Gründen verharrende Bildanordnung beleben wird. Erst in Goethes Pandora jedoch wird das bei Poussin leer bleibende Meer lebendig und die gelähmte Auftrittstätigkeit wieder in Gang gebracht. Das Fragment mündet in den Auftritt des Phileros aus dem Meer, der die Phileros-Tragödie zu einem euphorischen Abschluss führt. Mit ihrer Bergung und Wiederkunft wendet sich die tragische Figur mit „weltzugewandter Energie“ zum Leben zurück. Dort! er taucht in Flutenmitte Schon hervor, der starke Schwimmer: Denn ihn läßt die Lust zu leben Nicht, den Jüngling, untergehn. Spielen rings um ihn die Wogen, Morgendlich und kurz beweget; Spielt er selbst nur mit den Wogen, 51 Zur kunsthistorischen Bedeutung von Zufallsbildern vgl. Horst W. Janson: The „Image made by chance“ in Renaissance Thought, in: De Artibus Opuscula XL. Essays in Honour of Erwin Panofsky, hg. v. Millard Meiss, New York 1961, S. 254-267. 52 In seiner Poussin-Studie weist Otto Grauthoff nicht nur auf die anthropomorphen Züge der Felslandschaft hin, er macht auch darauf aufmerksam, dass sich Polyphem dem Meer als dem äußersten Grund der Szene zuwendet: „So wird Polyphem in seiner Stellung und Hingewandtheit zum Meere weit über eine anekdotenhafte, staffageartige Bedeutung emporgehoben. Seine Gestalt, ganz aus der Felsform entwickelt, hat nur die Aufgabe, uns auch jene drei Berge als sehnsuchtsvoll dem Meere zugewandt erscheinen zu lassen […].“ (Otto Grauthoff: Nicolas Poussin. Sein Werk und sein Leben, Bd. 1: Geschichte des Lebens und des Werkes, München/ Leipzig 1914, S. 256.) 53 Vgl. Wellbery: „Pandora“.

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Tragend ihn, die schöne Last. Alle Fischer, alle Schwimmer, Sie versammeln sich lebendig Um ihn her, nicht, ihn zu retten; Gaukelnd baden sie mit ihm. Ja Delphine drängen gleitend Zu der Schar sich, der bewegten, Tauchen auf und heben tragend Ihn, den schönen aufgefrischten. Alles wimmelnde Gedränge Eilet nun dem Lande zu. Und an Leben und an Frische Will das Land der Flut nicht weichen; Alle Hügel, alle Klippen Von Lebend’gen ausgeziert! Alle Winzer, aus den Keltern, Felsenkellern tretend, reichen Schal’ um Schale, Krug um Krüge Den beseelten Wellen zu. Nun entsteigt der Göttergleiche, Von dem ringsumschäumten Rücken Freundlicher Meerwunder schreitend, Reich umblüht von meinen Rosen, Er ein Anadyomen, Auf zum Felsen. – Die geschmückte Schönste Schale reicht ein Alter Bartig, lächelnd, wohlbehaglich, Ihm dem Bacchusähnlichen. Klirret Becken! Erz ertöne! Sie umdrängen ihn, beneidend Mich um seiner schönen Glieder Wonnevollen Überblick. Pantherfelle von den Schultern Schlagen schon um seine Hüften, Und den Thyrsus in den Händen Schreitet er heran ein Gott. Hörst du jubeln? Erz ertönen? Ja des Tages hohe Feier, Allgemeines Fest beginnt.54

Damit transformiert sich die stagnierende unfruchtbare Landschaftsmitte der ersten Szene zur produktiven ‚Flutenmitte‘, das zerstörerische Meer zur generativen Kraft: Am Ende der Pandora werden auch diejenigen Elemente im Bildgrund mobilisiert, die in Amor ein Landschaftsmaler aktiv waren. Wind und Wasser fließen belebend in ein Auftrittsereignis ein, das sich mit Venus, der aus dem Schaum 54 Goethe: Pandora, S. 182f. (V. 996-1041).

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Abb. 18 (Tafel 6): Raffael, Der Triumph der Galatea (1512).

geborenen Liebesgöttin verbindet. Wenn Phileros als ‚Anadyomen‘ bezeichnet wird, ist auf die venerische Auftrittsbewegung des ‚Entsteigens‘ aus dem Meer angespielt (‚venerem exeuntem e mari‘ übersetzt Plinius das Wort anadyomene55). Wenn er außerdem als ein ‚Bacchusähnlicher‘ angesprochen wird, fließen in seinen Auftritt bacchantisch-dionysische Auftrittsformen und -energien ein, welche die Auftrittsemphase weiter steigern. Drittens lassen sich hier Hinweise auf eine weitere Bildschicht erkennen, die nicht mit dem Namen Poussin, sondern mit dem Raffaels verbunden ist: Wie Wellbery bemerkt, erinnert das leere Meer Poussins an das Galateafresko Raffaels, das Goethe während seines Romaufenthalts in der Villa Farnesina gesehen hatte und in seinem späteren Text 55 Vgl. Gaius Plinius Secundus d. Ä.: Naturkunde, hg. u. übers. v. Roderich König, München 1978, S. 70 (35,91): „Venerem exeuntem e mari divus Agustus dicavit in delubro patris Caesaris, quae anadyomene vocatur, versibus Graecis tali opere, dum laudatur, victo, sed inlustrato.“

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über Philostrats Gemälde zu einem für die eigenen Auftrittsprotokolle richtungsweisenden Bildentwurf ausarbeiten sollte.56 Es zeigt die triumphale Anfahrt der Nymphe Galatea über das Meer, während sie von einem benachbarten Fresko aus von Polyphem betrachtet wird. (Abb. 18, TAFEL 6) Goethes von Raffael inspirierter Gemälde-Text beschreibt ein triumphales Figurationsereignis vor Elementarhorizont und versammelt exemplarisch alle Merkmale, die den Auftritt anti-tragisch als energeia und Ausdruck von Lebenskraft kennzeichnen: Ruhig schwankt die breite Wasserfläche unter dem Wagen der Schönen, vier Delphine nebeneinander gespannt scheinen, zusammen fortstrebend, von Einem Geiste beseelt, jungfräuliche Tritonen legen ihnen Zaum und Gebiß an ihre mutwilligen Sprünge zu dämpfen. Sie aber steht auf dem Muschelwagen, das purpurne Gewand, ein Spiel der Winde, schwillt segelartig über ihrem Haupte und beschattet sie zugleich[.]57

Poussin vs. Raffael Dieses Auftrittsprotokoll wird nicht bei Poussin aufgefunden, dessen Meer leer bleibt und dessen Welt sich im Wartezustand befindet, es wird von Raffael geschrieben, der seine Figuren, wie nicht nur am Galateafresko zu sehen, vorschreiten und aus dem Bildrahmen heraustreten lässt. Bei diesem, nicht bei Poussin findet Goethe die dynamische Bildformel, die den Grund aktiviert und den Auftritt in den Dienst des Lebens stellt. Nur die Figurenmalerei Raffaels scheint die zur Belebung der Welt erforderliche Auftrittsevidenz bereitzuhalten und auch auf der Bühne ein Vorschreiten zu ermöglichen, das vom Zuschauer als lebendig wahrgenommen wird. Nachdruck erhält diese Bildformel dabei nicht nur durch das Galateafresko, das nur in Rom zu sehen war und im Bildgedächtnis der Deutschen daher nur wenig verankert sein konnte, sondern ebenso durch ein zweites und in Deutschland wesentlich präsenteres Gemälde, das dieselbe euphorische Vorwärtsbewegung inszenierte: Das Galateaprotokoll war dasselbe wie das der Sixtinischen Madonna, die ebenfalls aus einem Elementargrund nach vorn kommt und dabei eine Bewegung ausführt, die August Wilhelm Schlegel in einer

56 Vgl. Wellbery: „Pandora“. Vgl. auch das Folgekapitel II,4. Im Meerfest des Faust II wird diese emphatisch-euphorische Auftrittsform direkt an den Namen Galateas gebunden. Auch Helenas Auftritt folgt, wie noch zu sehen ist, diesem Muster. Vgl. Wolfgang Schadewald: Faust und Helena, in: DVjs 30 (1956), S. 1-40; Heinrich Dörrie: Die schöne Galatea. Eine Gestalt am Rande des griechischen Mythos in antiker und neuzeitlicher Sicht, München 1968, S. 73-76; Dieter Richter: Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft, Berlin 2014, S. 56. 57 Johann Wolfgang Goethe: Philostrats Gemälde, in: MA 11.2, S. 449-494, hier S. 476.

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bekannten Bildbeschreibung als ein lebendiges Schreiten bezeichnet.58 (Abb. 19, TAFEL 7) -So bedarf es „raphaelische[r] Lebendigkeit“59, um Poussins statuarische Figurenordnung zu überwinden und den im Meergrund verschwundenen toten Phileros wieder zum Leben zu erwecken.60 Damit ist auch das Protokoll mythologisiert, das sich im zweiten Teil des Faust endgültig als ein Protokoll des Lebens etabliert. Im Meerfest, das am Ende des zweiten Aktes stattfindet, lässt Goethe Galatea selbst auftreten und das Galateaprotokoll durch seine Stifterin beglaubigen: „Im Farbenspiel von Venus Muschelwagen/ Kommt Galatee, die schönste, nun getragen“61. Diese Verschiebung von Poussin zu Raffael, die auch eine Akzentverschiebung vom Grund zum energetischen Auftritt ist, ist durch den zeitgenössischen Kunstdiskurs vorbereitet. In einem in der Zeitschrift Der Neue Teutsche Merkur erschienenen Beitrag Robert von Langers mit dem Titel Raphael und Poussin wird eine solche, für Goethes Pandora richtungsweisende Gegenüberstellung vorgenommen, die ganz im Sinne der Pandora Poussin dem Hintergrund und Raffael dem

58 August Wilhelm Schlegel: Die Gemählde. Gespräch, in: Athenaeum 2 (1799), S. 39-151, hier S. 127: „Dann fängt der blaue Rock oder Mantel unter dem bläulichen Schleyer an bis, wo er sich an den Füßen auseinander schlägt und eine fliegende Falte nach der linken Seite wirft, das rothe Gewand wieder zum Vorschein kommt.“ 59 Robert von Langer: Raphael und Poussin, in: Der Neue Teutsche Merkur 2 (1806), S. 221-242, hier S. 224. Mithilfe des Galateaprotokolls können die Figuren aus dem Grund gelöst und über die Bildschwelle hinausgeführt werden: Wie auch die Rezeption der Sixtinischen Madonna zeigt, ist es die Dynamik des Hervortretens und Aus-dem-Rahmen-Heraustretens, die die Betrachter an Raffael begeistert. Brigid Doherty hat in einem sehr bemerkenswerten Vortrag zur Rezeption der Sixtinischen Madonna auf August Wilhelm Schlegel hingewiesen, der den energetischen Schritt der Madonna ins Zentrum seiner Bildbeschreibung rückt: „In Schlegel’s treatment of the Sistine Madonna, published in the Athenäum in 1799, Raphael’s Maria ‚does not stroll among us, but treads stridingly along the clouds, and does not merely hover in the sky into which her grand form draws its contour.‘ […].“ Sie unterstreicht außerdem die Bedeutung der Silbe ‚vor‘, die in Texten über die Madonna akzentuiert wird. Kennzeichnend für August Wilhelm Schlegels Text sei „the deployment of vor-words – the forward stepping Madonna as a figure who appears as if about to enter the real space in which the painting is seen.“ (Brigid Doherty: Shudders of Reproduction. The Sistine Madonna in Walter Benjamin’s Artwork Essay, and Beyond [Vortrag im Rahmen des Eikones-Workshops „Trace and Transmission. Discussions in German Modernism“, Basel 13. Juli 2012, Ms.].) 60 Auch der Galatea-Auftritt kann allerdings auf Poussin zurückgeführt werden. Sein Neptun-undAmphitrite-Gemälde verdankt sich ebenfalls einer Anregung durch den Triumph der Galatea aus der Villa Farnesina. Auch hier wird allerdings vermerkt, dass Poussin die dynamische Vorlage ihrer Dynamik beraubt habe: „The illusion of dynamic movement so vividly conveyed by the fresco has been intentionally shattered. Instead everything is emphatically frontal, and the dolphins and sea-horses toss and turn seemingly outside time and space.” (Alain Mérot: Nicolas Poussin, übers. v. Fabia Claris, New York 1990, S. 87.). 61 Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, S. 221 (V. 8144f.).

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Abb. 19 (Tafel 7): Raffael, Die Sixtinische Madonna (1512/13).

lebendigen Hervortreten zuordnet.62 In Langers Artikel heißt es: „In den Figuren Poussins ist noch kein Ausdruck angedeutet, die Bewegungen sind meist ohne Leben; dahingegen findet man […] imposante Hintergründe und eine trefflich grosse Vertheilung des Schatten und Lichtes.“63 Bei Raffael hingegen finde sich emphatische Lebendigkeit. Formelhaft wird er für seine „wahre, lebendige und edle Darstellung“, für die „Lebendigkeit und Feinheit des Ausdrucks“64 gepriesen. Durch das Raffaelprotokoll kann das negative tragische Auftrittsprotokoll, das die 62 Robert von Langer (1783-1846) stand mit Goethe in den Jahren 1802-1815 in einem losen Briefwechsel. 63 Langer: Raphael und Poussin, S. 225. 64 Ebd., S. 225f.

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Figur an den Grund zurückfallen lässt, aufgehoben werden und die Rückwendung in ein Vorschreiten umschlagen. Demnach ist das Pandora-Fragment fertiger, als es den Anschein hat.65 Denn scheint es zunächst auf den Wiederauftritt der Göttin Pandora angelegt, so ist es zuletzt ein Auftritt aus dem Meer, durch den sich die Titanenwelt aus ihrer Erstarrung löst. An die Stelle der göttlichen Epiphanie, die Goethe vergeblich in seinen Entwürfen zum Ende der Pandora auszuarbeiten versucht, tritt die epiphanische Evidenz einer aus dem tragischen Grund zum Leben zurückgewendeten Figur. Abschließend ist festzuhalten, dass Phileros nicht im splendor einer hervorgehobenen und von anderen unterschiedenen souveränen Figur wiederkehrt. Sein Auftritt ist eingebettet in eine Vielheit. Er vollzieht sich in einem sozialen Bezugsgeflecht, das in der paralysierten titanischen Welt nicht anzutreffen war. Bei seiner Wiederkehr wird Phileros das Zentrum einer neuen Gemeinschaft, die sich folgerichtig in der Form des Festes organisiert.66 Die zunächst natürlichmythologische Umgebung der Meerwunder verwandelt sich in eine soziale Umgebung mit festlich-utopischen Zügen. Umgebenheit ist damit nicht mehr eine landschaftliche wie zu Beginn des Festspiels, sondern eine gesellschaftliche oder, mit Rücksicht auf die Tragödie gesprochen: eine chorische. In der festlichen Rettung des Phileros feiert sich eine egalitäre Gesellschaft, die sich im Zeichen des Lebens reorganisiert und hier nun ihren kollektiven Auftritt hat. Auch sind es nicht mehr die alten Titanen, sondern die Nebenfiguren der Winzer und Hirten, die nun die Bühne besetzen. In der Festszene nehmen die Staffagefiguren den tragischen Helden in ihre Mitte und spannen eine dynamische Kette des Lebens zwischen Vordergrund und Hintergrund auf. Mit Jean-Luc Nancy gesagt, wird in Phileros’ Auftritt ein Übergang vom Singulären zum Pluralen vollzogen.67 Indem er nun Teil eines „wimmelnde[n] Gedränge[s]“ ist, das dem Lande ‚zueilt‘, und indem er von den Hirten und Winzern am Ufer empfangen wird, fügt sich der ‚Göttergleiche‘ in eine kollektive Bewegung ein. In seinem Entsteigen erfüllt sich „die Sehnsucht nach einer authentischen kollektiven Präsenz im Fest.“68 Aus dem Akt des Hervortretens wird ein festliches Vergemeinschaftungserlebnis, das die höfischen Festaufstellungen hinter sich zurücklässt und einen neuen utopischen Festraum imaginiert. Zugleich kommt es zu einer massiven Aufwertung der Figuren in der Landschaft. Waren diese zunächst akzessorisch und untergeordnet, transformieren sie nun den von Erstarrung bedrohten Bildraum in einen Lebensraum und treten in eine dominante, bildbeherrschende Position. Bereits 65 Vgl. den Kommentar zur Pandora in MA 9, S. 1138-1157, hier S. 1142ff. 66 Vgl. Patrick Primavesi: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800, Frankfurt a.M. 2008. 67 Vgl. Jean-Luc Nancy: Singulär plural sein, übers. v. Ulrich Müller-Schöll, Berlin 2005. 68 Primavesi: Das andere Fest, S. 13.

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Roger de Piles hatte diese Möglichkeit in Erwägung gezogen, als er schrieb: „I am persuaded that the best way to make figures valuable is, to make them agree with the landskip that it may seem to have been made purely for the figures.“69 Die Verbindung zwischen Figur und Grund wird emphatisch betont, wenn sich Meerwunder und Landbevölkerung vereinigen, um Phileros zu retten. Wenn Staffage in der Semantik des 18. Jahrhunderts sowohl „Belebung“, „Bevölkerung“ als auch „Ausschmückung“70 heißen kann, so schließen sich nun alle Bedeutungen zusammen. Am Ende scheint es, als sei die Herrschaft auf die Staffagefiguren übergegangen. Phileros’ Auftritt wird zu einer Figur der Wiederherstellung, die zugleich eine Erneuerung der Gesellschaft und ihrer Auftrittsprotokolle mit sich bringt.

69 Roger de Piles: Cour par des principes – The principles of painting, London 1743, S. 140. 70 Strahl-Grosse: Staffage, S. 48.

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4. „HELENA (hervortretend)“. Heimkehr aus dem tiefsten Grund

Antezedenzien Die Ankunft Helenas im dritten Akt des Faust II ist ein gut vorbereitetes Ereignis. Wenige Auftritte werden so gründlich angekündigt wie jener der Königin von Sparta. Seit seiner ersten Beschäftigung mit dem Helena-Stoff im Jahr 1800 antizipiert Goethe ihr Erscheinen. Keinen Umstand betont er im Vorfeld öfter und mit gleicher Beharrlichkeit als den, dass „Helena auf den Boden von Sparta zurückkehr[t], um als wahrhaft lebendig dort in einem vorgebildeten Hause des Menelas aufzutreten“1. Als er im Jahr 1826 die selbstständige Veröffentlichung des Helena-Aktes vorbereitet, der die Heimkehr Helenas aus Troja behandelt, entwirft er nicht weniger als drei Ankündigungen, die auf dieser Tatsache insistieren: „Das Stück beginnt also vor dem Pallaste des Menelaus zu Sparta, wo Helena, begleitet von einem Chor trojanischer Frauen als eben gelandet auftritt, wie sie in den ersten Worten sogleich zu verstehen gibt.“2 Kompositionelles Gewicht erlangt dieser Auftritt nicht zuletzt deshalb, weil er zum Brückenkopf zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der Faust-Dichtung ausersehen ist. Ihm kommt die Aufgabe zu, die Verbindung zwischen der Gretchentragödie und der Helena-Tragödie zu stiften und die Zeichen des zweiten Teils, der im Entstehen ist, auf das Erscheinen der „griechischen Heldenfrau“ auszurichten. Die Akte, die dem dritten Akt des zweiten Teils vorausgehen, sind nur dessen Präliminarien. Alle Anstrengung gilt der Ausgestaltung eines Antizipationsraums.3 So vermerkt die dritte „Ankündigung der Helena“: Damit aber die große Kluft zwischen dem bekannten jammervollen Abschluß des ersten Theiles und dem Eintritt einer griechischen Heldenfrau einigermaßen überbrückt werde, so nehme man vorerst eine Schilderung des Vorausgegangenen freundlich auf und finde solche einstweilen hinreichend.4

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Johann Wolfgang Goethe: [Par. 123A] Erste Ankündigung der Helena, Reinschrift, in: MA 18.1, S. 934-936, hier S. 935. Ebd., aber auch fast wortgleich S. 857 und in: [Par. 123C] Dritte Ankündigung der Helena, S. 860. Johann Wolfgang Goethe: [Par. 123C] Dritte Ankündigung der Helena, Reinschrift, in: MA, 18.1, S. 936-938. Darauf verweist bereits Wilhelm Emrich: Die Symbolik von Faust II. Sinn und Vorformen, 4. Aufl., Wiesbaden 1978, S. 352f., S. 359. Vgl. auch Wolfgang Schadewaldt: Faust und Helena, in: DVjs 30 (1956), S. 1-40, hier S. 25. Goethe: Dritte Ankündigung der Helena, hier S. 937.

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Diese Überbrückungen, die nichts weniger als den Mummenschanz, die Geisterzitation, die Laboratoriumsszene, die klassische Walpurgisnacht und das Meerfest umfassen, nennt Goethe die „Antezedenzien der Helena“5. Zu ihnen sind auch die Verlagsankündigungen mitsamt den Schemata und Entwürfen in ihrem Umkreis zu rechnen: „Dieses kurze Schema […] diene […] einstweilen die Antecedenzien bekannt zu machen welche der angekündigten Helena […] voraus gekannt und gedacht seyn müßten.“6 Verlag, Autor und die Tragödie selbst weisen auf deren Erscheinen hin. Damit rückt der Anfang des Helena-Aktes ins Zentrum eines auf den Auftritt gerichteten Interesses. Wahrhaftes Leben und tragisches Protokoll Bereits in diesen Ankündigungen jedoch widerstreiten zwei Tendenzen, die den Moment der Rückkehr der Helena nach Sparta krisenhaft zuspitzen. Die Spannung, die am Beginn des Helena-Aktes aufgebaut und ausgetragen wird, setzt die lebendige Gegenwärtigkeit der Figur im Moment ihres Erscheinens gegen die Gattungsanordnung der Tragödie. Die Evidenzforderung, die sich in den Worten ‚wahrhaft lebendig‘ ausspricht, konkurriert mit dem tragischen Schema, das dieses Lebendige bedroht und bei ihrer Heimkehr sogleich auf Helena zugreift. Präsenzbegehren und tragische Präsenzminderung streiten um ihre Anteile. Damit unterscheidet sich die Faust-Tragödie von einer bereits 1803 entstandenen Abhandlung, die die zurückgekehrte Helena in ein triumphales Tableau gefasst hatte. In seinen Betrachtungen zu den Gemälden des Polygnot, d.h. im Medium der Kunstkritik, hatte Goethe das Bild einer von der Vergangenheit entlasteten Helena gezeichnet, die bei ihrer Rückkehr die Grüße der Daheimgebliebenen empfängt. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen einer Figur, die einen Krieg verschuldete und sowohl Troja wie auch Griechenland mit Verderben überzog, das Recht auf emphatische Gegenwart zugestanden werden kann, wird im Folgenden bejaht: Hier sitzt sie wieder, als Königin, bedient und umstanden von ihren Mägden, bewundert von einem ehemaligen Liebhaber und Freier, und ehrfurchtsvoll durch einen Herold begrüßt. […] Alles, was gegen sie verbrochen wurde, hat die traurigsten Folgen; was sie verbrach, wird durch die Gegenwart ausgelöscht. / Von Jugend auf ein Gegenstand der Verehrung und Begierde, erregt sie die heftigsten Leidenschaften einer heroischen Welt, legt ihren Freiern eine ewige Dienstbarkeit auf, wird geraubt, geheiratet, entführt und wieder erworben. […] [U]nd, vorher das Ziel eines verderblichen Krieges, erscheint sie nunmehr als der schönste Zweck des Sieges, und erst über Haufen von Toten und Gefangenen erhaben, thront sie auf dem Gipfel ihrer Wirkung. Alles 5 6

Johann Wolfgang Goethe: Tagebuch, 21. Dezember 1826, in: HA III.1, S. 444. Johann Wolfgang Goethe: [Par. 123B] Zweite Ankündigung der Helena, in: MA 18.1, S. 857f., hier S. 858.

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ist vergeben und vergessen; denn sie ist wieder da. Der Lebendige sieht die Lebendige wieder, und erfreut sich in ihr des höchsten irdischen Gutes, des Anblicks einer vollkommenen Gestalt.7

Vor diesem Hintergrund ist jedoch zu fragen, was zu erwarten ist, wenn sich dieser Moment der emphatischen Gegenwart, der hier mit den Worten: „Alles ist vergeben und vergessen; denn sie ist wieder da“, die Möglichkeit des Neuanfangs setzt, nun im Gattungsrahmen der Tragödie ereignet? Lässt sich diese Emphase der Abhandlung in einer Anordnung aufrechterhalten, die ein mythisch verstricktes und sich selbst zum Rätsel gewordenes Subjekt auf der Bühne exponiert? In der Tragödie, die ihren anti-triumphalistischen Charakter auch an dieser Stelle erweist, gerät das Auftrittsbegehren der Figur mit der Katastrophendrohung tragischer Handlungsverläufe in Widerspruch. Auch im Moment euphorischer Theatralität bleibt diese einer Gattungsordnung unterworfen, die vom ersten Moment ihres Erscheinens an gefährdet ist. Die Zwiespältigkeit dieser Rückkehr, ihr Oszillieren zwischen Präsenzeffekt und tragischer Verstrickung, zwischen dem Anspruch auf lebendige Gegenwart und den Nachforderungen einer sie am Ort der Rückkehr erwartenden Vergangenheit, verleihen dem Beginn des Helena-Aktes sein Profil. ‚Nostos‘ und Tragödie Dieser Gattungsrahmen wird an dieser Stelle nicht nur in allgemeiner, sondern sehr bestimmter Weise aufgerufen. Konkret adaptiert der Beginn des Helena-Aktes das prominente und bis an die Anfänge der Gattung zurückführende tragische Protokoll, das die Tragödie mit dem Motiv der Heimkehr verknüpft. Das strukturgebende Gattungszitat der Tragödie im Helena-Akt ist der nostos.8 Seit ihren Anfängen bei Aischylos gelten ihre Anordnungen der Rückkehr des tragischen Helden an seinen Ausgangsort: die Rückkehr der Griechen aus dem besiegten Troja nach Mykene oder Sparta, die Rückkehr des „Lumpenhelden“9 Xerxes nach der verlorenen Schlacht von Salamis ins von Interregnumskrisen erschütterte Persien. Der Fokus der Tragödie liegt auf der Figur des Heimkehrers, der, auch wenn er als Sieger erscheint, einen tragischen Glückswechsel erleidet. Er gerät in eine Lage, die aus dem Triumphator einen Unwissenden, aus dem Herrscher ein Op7 8

9

Johann Wolfgang Goethe: Polygnots Gemälde in der Lesche zu Delphi (An diesem Versammlungsorte), in: MA 6.2, S. 509-538, hier S. 528f. Vgl. auch Schadewaldt: Faust und Helena, S. 4. Vgl. Karen Bassi: Nostos, Domos, and the Architecture of the Ancient Stage, in: South Atlantic Quarterly 98 (1999), S. 415-449; Christopher Wild: Royal Re-entries. Zum Auftritt in der griechischen Tragödie, in: Auftritte. Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien, hg. v. Annemarie Matzke, Ulf Otto u. Jens Roselt, Bielefeld 2015, S. 33-61. Siegfried Melchinger: Das Theater der Tragödie. Aischylos, Sophokles, Euripides auf der Bühne ihrer Zeit, München 1974, S. 73.

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fer und aus der festlichen Selbstmanifestation der Person einen Spielball tragischer Entscheidungen macht. Wenn Goethe Helena aus dem trojanischen Krieg zurückkehren lässt, bedient auch er sich eines Schemas, das die in der Odyssee geprägte Nostos-Erzählung unter anderen und nunmehr tragischen Voraussetzungen entfaltet.10 Das konkrete Modell, nach dem sich eine triumphale Ankunft ins Tragische wendet, findet Goethe in der Agamemnon-Tragödie des Aischylos, die ihm aus der in den Jahren 1796 bis 1804 entstandenen Übersetzung Wilhelm von Humboldts bekannt und zugänglich war.11 In ihrer tragischen Perspektivierung ist Helena eine Überformung des aischyleischen Agamemnon. Hier wie dort liegt die Souveränität des ersten Auftretens im Widerstreit mit den mythischen Mächten, die die Bühne der Tragödie umfangen. In beiden Fällen verwandelt sich der starke Auftritt binnen kurzem in tragische Ausgesetztheit. Sowohl Agamemnon wie Helena kommen „von den Schiffen“12, beide verweilen vor dem Palast, bevor sie dem Haus zustreben, in dem sie der Tod durch das Beil erwartet.13 Beide sind, wie es in Humboldts Einleitung zur eigenen Übersetzung heißt, sobald sie ihre „Heimath betr[eten], wie mit nicht zu überspringenden Netzen umstellt“14. Während Agamemnon von Klytämnestra empfangen wird, die ihn nach seiner Zeit auf der Skene ermorden wird, droht auch Helena der Tod im Innern des Hauses. Der ihr durch Menelaos erteilte Auftrag lautet, ein Opfer vorzubereiten, das sie selber ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich jedoch auch der Widerstand ermessen, den Goethe den mythischen Dispositionen der Tragödie entgegensetzt. Denn auch wenn der Helena-Akt der aischyleischen Vorlage unmittelbar folgt und das dort entfaltete nostos-Schema in die eigene Exposition einbezieht, setzt er seine Heldin doch in ein deutlich freieres Verhältnis zur Tragödie. Goethe billigt der Helena eine dem Agamemnon unbekannte Autonomie und Anfänglichkeit zu. Ihre Auftrittsbewegung gestaltet er als ein dynamisches Ereignis mit inchoativer, d.h. anfangsmächtiger Kraft. Der sich artikulierenden Figur bleibt dabei die Regsamkeit der Elemente mitgegeben. Beflügelt von der Gunst Poseidons und der Kraft des Ostwinds (Euros) nähert sich Helena unter günstigen Vorzeichen. Ihre Rückkehr steht zunächst im Zeichen der Neuschöpfung oder eines ozeanischen Zeugungsaktes. Sie erfolgt vor dem „Elementarhorizont“15 des Meeres, in dem, wie der Philosoph Thales am Ende des zweiten Aktes bemerkt, immer wieder „[v]on 10 Vgl. Wild: Royal Re-entries, S. 45ff. 11 Vgl. Aischylos: Agamemnon. Metrisch übers. v. Wilhelm von Humboldt, Leipzig 1816. 12 Johann Wolfgang Goethe: [Par. 162] Schema-Entwurf, eigenhändig, in: MA 18.1, S. 938f., hier S. 938. 13 Aischylos: Agamemnon, S. 39 (V. 827): „Doch jetzt ins Haus, zum Heerd.“ 14 Wilhelm von Humboldt: Einleitung, in: Aischylos: Agamemnon, S. I-XXXVII, hier S. V. 15 Schadewaldt: Faust und Helena, S. 1.

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vorn die Schöpfung an[fängt]“16 (V. 8322): „Bewundert viel und viel gescholten Helena/ Vom Strande komm’ ich wo wir erst gelandet sind,/ Noch immer trunken von des Gewoges regsamem/ Geschaukel, das vom phrygischen Blachgefild uns her/ Auf sträubig-hohem Rücken, durch Poseidons Gunst/ Und Euros’ Kraft in vaterländische Buchten trug.“ (V. 8488-8493) Ihrem Autor wird sie dabei so gegenwärtig, dass er ihren Auftritt als einen Moment „vollkommene[r] Anfänglichkeit“17 festzuhalten wünscht. Nach eigener Auskunft widerstrebt es ihm, diesen generativen Moment in eine Tragödie überzuleiten: Glücklicher weise konnte ich diese acht Tage die Situationen fest halten von denen Sie wissen und meine Helena ist wirklich aufgetreten. Nun zieht mich aber das Schöne in der Lage meiner Heldin so sehr an, daß es mich betrübt wenn ich es zunächst in eine Fratze verwandeln soll. […].18

Der euphorische Moment einer vor dem Horizont des Meeres generierten Gegenwart, die schöne Lage, in der Goethe die Heimkehrende vor sich sieht, werden nur widerwillig zugunsten eines Gattungsschemas aufgegeben, das nach Aristoteles die Nachahmung eines Mythos – eines durchorganisierten Handlungs- und Geschehenszusammenhangs – fordert, der die tragischen Personen einem Glückswechsel unterwirft und das Schöne entstellt. Die Unterschiede zwischen der griechischen Tragödie und dem Helena-Akt zeigen sich damit auch in den Unterschieden des dem Auftritt des Helden jeweils vorausgesetzten Antizipationsraumes. So wird die bevorstehende Ankunft des Agamemnon bei Aischylos durch ein gigantisches proleptisches Bedrohungsszenarium vorbereitet, das der Ankunft des Königs in Andeutungen, Wehklagen, Ahnungen und Weissagungen vorgreift. Parodos und Stasima des Chores beschwören die Katastrophe, die sich im Innern des Hauses vorbereitet. Die tausend Verse, die dem Eintreffen Agamemnons vorausgehen, weben eine dämonische Textur, die diesen bereits im Vorfeld verstrickt. Wie Humboldt beobachtet, werden diese Ahnungen wichtiger als das Erscheinen Agamemnons selbst: Agamemnon wird eben so sehr, und sogar mehr durch dasjenige gezeichnet, was seinem Erscheinen vorhergeht, als durch dies Erscheinen selbst. Er soll, als der grösseste und glücklichste Sterbliche, den die Götter je mit Ruhm und mit Sieg gekrönt haben, auftreten. […] Aber zugleich wird alle diese Erhabenheit, als den unmittelbar nachfolgenden Fall drohend, dargestellt. So tritt der König selbst auf, und nach wenigen Worten über die Grösse des vollbrachten Unternehmens, und die Nothwendigkeit nunmehr Stadt und Haus zu ordnen, athmen alle seine Reden nur Besorgniss […].19 16 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: MA 18.1, S. 103-351. (Belege hierzu werden im Folgenden in Klammern im laufenden Text unter Angabe der Verse nachgewiesen.) 17 Schadewaldt: Faust und Helena, S. 28. 18 Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller am 12. September 1800, in: MA 8.1, S. 812. 19 Humboldt: Einleitung, S. VIIIf.

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Im Unterschied zu den düsteren Antezedenzien der Tragödie, die den Triumph nur auf der Folie der bevorstehenden Katastrophe ins Spiel bringt, lässt Goethes Helena zunächst alle Verhängnisse hinter sich. Helena tritt, wie Goethe am 4. Januar 1831 an Zelter schreibt, „als Heroine ohne Weiteres auf“20. Ihr nostos erfolgt in einem performativen Akt der Selbstsetzung und ohne dass sie sich wie Agamemnon in einem verdüsterten Antizipationsraum behaupten müsste. Ihrem Auftritt geht kein Klagechor voraus. Mit den Worten: „Bewundert viel und viel gescholten Helena“ schneidet sie alle Ankündigung ab und nennt in souveräner Selbstdistanzierung sich selbst beim Namen. Goethe lässt den Helena-Akt mit dieser selbst beginnen und enthebt sie zumindest im Moment der Rückkunft ihrer unrühmlichen Vergangenheit und der Folgelasten, die mit dieser verbunden sind. Ist im Triumph des Agamemnon nur seine Fallhöhe bezeichnet, zeigt sich Helena in schattenloser Präsenz, die aus dem Verhängnis heraustritt. So ist auch das Meer in ihrem Hintergrund kein verderblichmythisches wie in der Tragödie des Aischylos, die es als einen Gefahrenraum und den Ankömmling als einen potentiell Schiffbrüchigen betrachtet.21 Es ist vielmehr ein animierendes und von günstigen Dämonen bevölkertes Element, das Helena „durch Poseidons Gunst/ Und Euros’ Kraft“ (V. 8492f.) nach Hause befördert. Meerbedingte Schwankung und formale Stabilität verbinden sich in ihrem Schritt, wenn sie mit „spätzurückkehrendem/ Aber desto festerem/ Fuße freudig“ (V. 8616ff.) herannaht und damit auch das Metrum zur Festigung ihrer Figur aktiviert. Insgesamt ist ihre Figur als eine Figur des Zurücklassens und Hinter-sich-Lassens angelegt, die sich von dem „ungeheure[n] Hintergrund“22, der ihr von Humboldt gegeben wird, auch räumlich mit den Worten ablöst: „[A]lles bleibe hinter mir,/ Was mich umstürmte bis hieher, verhängnißvoll“ (V. 8508f.). Zumindest am Anfang der Szene tritt sie mit der aktualen Kraft ihres Schritts aus der Sphäre heraus, in der Agamemnon zu Grunde geht. Sogar Mephisto, der sie im Innern des Hauses als Phorkyas erwartet, kann der in so überzeugender Form Erscheinenden die Anerkennung nicht verweigern: „Da du, nun Anerkannte! neu den alten Platz/ Der Königin und Hausfrau wiederum betrittst,/ So fasse längst erschlaffte Zügel, herrsche nun […].“ (V. 8803ff.)

20 Johann Wolfgang Goethe an Carl Friedrich Zelter am 4. Januar 1831, in: MA 20.2, S. 1425f., hier S. 1425. Vgl. Albrecht Schöne: Johann Wolfgang Goethe. Faust, Kommentare, in: FA 7/2, S. 588. 21 Die Rede ist von „wildem Flutendrang“ (V. 653) oder „der Flut Verderben“ (V. 641), Aischylos: Agememnon, S. 30f. Vgl. Wild: Royal Re-entries, S. 44. 22 Humboldt: Einleitung, S. XII.

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Diskreditierte Erscheinungswelt Doch nicht nur die Gattung der Tragödie bedroht diese den Mächten der Vergangenheit abgenötigte Präsenz. Scheint Helena in diesem Moment der Rückkehr gegen das Vollzugsgesetz der Tragödie Form und Leben zu gewinnen, gerät die im Auftritt gewonnene Anfänglichkeit schnell unter ontologischen Verdacht. Helena ist eine ausschließlich phantasmagorische Größe, die sich, wenn sie sich selbst als Idol bezeichnet und auch in ihrem stärksten Auftritt nur „die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins“23 erzeugt, keine Illusionen über die Fragwürdigkeit ihres Wirklichkeitsstatus macht. Dass Goethe den gesamten Helena-Akt als Phantasmagorie bezeichnet,24 muss als Voraussetzung alles Bisherigen nachgetragen und auf die bisherigen Beobachtungen zurückprojiziert werden. Die Szene der Rückkehr wirft unvermeidlich die Frage nach den Auftrittsoptionen eines nomadischen Schemens auf. Denn ironischerweise aktualisiert sich das nostos-Schema in einer Figur, die mit Hans Belting als eine „Nomadin der Medien“25 bezeichnet werden kann, in einer beginnlosen Figur, der eine Herkunft im Sinne eines festen Ortsbezugs oder eines Uterus nicht zugeschrieben werden kann und die sich auf dem Theater des zweiten Teils unter wechselnden medialen Bedingungen und an unterschiedlichen Orten reaktualisiert. Zwar will Goethe, dass sie von den Müttern herkommt, doch machen die Verse aus der Szene „Finstere Galerie“ deutlich, dass sie auch im ‚tiefsten Grund‘ nur in einer rastlosen und anfangslosen Kreisbewegung begriffen ist. Als „Schemen“ (V. 6290) entstammt Helena dem „Getreibe“ (V. 6279) der Kräfte, dem bodenlosen Grund oder dem Nichts, dem, wie es heißt, die „einzigste Gestalt“ (V. 7439) immer wieder aufs Neue abgewonnen werden muss. Die Mütter sind Medien: Durchgangsorte immer neuer medialer Realisierungen menschlicher Wunschgestalten. Helena ist damit nichts anderes als die transitorische ‚ikonische Differenz‘ (Gottfried Boehm), die sich immer wieder aufs Neue vor formlosen Gründen abzeichnet und von diesen immer wieder zurückgenommen wird. Die Krise der Absonderung, die Goethes Figuren durchlaufen, ereignet sich im Fall Helenas im Übergang von Medium und Form. Helenas Auf23 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 9-156, hier S. 26. 24 Vgl. Goethe: Erste Ankündigung der Helena, S. 934. 25 Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 214: „Nomaden der Medien“, die „in jedem Medium, das in der Geschichte der Bilder eingerichtet wurde, ihre Zelte auf[schlagen], bevor sie in das nächste Medium weiterziehen.“ Vgl. auch S. 32: „Vielleicht läßt sich auch sagen, daß Bilder Nomaden ähneln, die in den geschichtlichen Kulturen ihren Modus verändert und dabei die aktuellen Medien wie Stationen auf Zeit benutzt haben.“ Vgl. Helmut Lethen: Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Berlin 2014, S. 14: Lethen spricht mephistophelisch von „Tiefenbilder[n] auf Abruf“.

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tritte leisten nicht die „Exponierung de[r] Anwesenden“26 – im Sinne des ‚Sie ist wieder da!‘ –, sondern die Exponierung einer Abwesenden und testen dabei die unterschiedliche Leistungskraft der Medien, die dieses Paradox zustande bringen. Die ‚Mütter‘ sind schon deshalb in den Plural gesetzt, weil sich die HelenaFigur nicht nur in einem, sondern in mehreren Artikulationsmedien realisiert, als „Vielheit[en] ohne echte Eigendetermination“27 eröffnen sie der „[i]ns Leben“ (V. 7439) gerufenen Gestalt eine Vielheit medialer Möglichkeiten. Mediatisierter Auftritt I: Rauch Das gilt zunächst für das phantasmagorische Auftrittsprotokoll, dem Helenas erster und wiederum präliminarischer Auftritt am Ende des ersten Aktes folgt und das die Gestalt Helenas im Rahmen einer Laterna-magica-Aufführung auf einen bewegten Rauchvorgang projiziert.28 Bei ihrem ersten Erscheinen im Rahmen der Hofgesellschaft aktualisiert sich Goethes Helena in einem Medium, in dem sich keine Formen stabilisieren lassen. Rauch ist ein Medium ohne letztgradige Verdeutlichungsoption, das Auftritte entsprechend unbestimmt lässt. Vor dem ‚weichen Display‘29 können Auftritte nur in statu nascendi beobachtet werden, als eine auf Dauer gestellte Emergenz und als der immer wieder vergebliche Versuch, in einem von losen Koppelungen beherrschten Sichtfeld eine Form durchzusetzen. „Wir können keine Gesichtszüge erkennen“30, beklagten sich die Zuschauer der von charismatischen Entrepreneuren veranstalteten ‚Geisterzitationen‘, die Ende des 18. Jahrhunderts große publizistische Aufmerksamkeit erregten und nun von Goethe wieder aufgegriffen werden, „weil der Umriß wallend und unbestimmt, und die ganze Figur gleichsam wie schwimmend erscheinet. Das Räuchern, des-

26 Walter Benjamin: Der Autor als Produzent, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.2: Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1977, S. 683-701, hier S. 698. Vgl. Samuel Weber: Scene and Screen: Electronic Media and Theatricality, in: ders.: Theatricality as Medium, New York 2004, S. 97-120, hier S. 103. 27 Thomas Khurana: Was ist ein Medium? Etappen einer Umarbeitung der Ontologie mit Luhmann und Derrida, in: Über Medien. Geistes- und Kulturwissenschaftliche Perspektiven, hg. v. Sybille Krämer, Berlin 1998, S. 111-143, hier S. 115 (online nicht mehr abrufbar). 28 Vgl. Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 129. Zu Rauchund Nebelinszenierungen im Faust vgl. Edith Anna Kunz: „Luftige Welten“ – Zur Poetik von Rauch und Wasserdampf in Goethes Faust (elektronische Ausgabe: http://periodicals.narr.de/ index.php/colloquia_germanica/article/view/613, Stand 07.03.2017). 29 Vgl. Gunnar Schmidt: Weiche Displays. Projektionen auf Rauch, Wolken und Nebel, Berlin 2011. 30 Eberhard von der Recke: Nachricht von der Philidorschen Geisterbeschwörung, in: Berlinische Monatsschrift 13 (Januar bis Junius 1789), S. 468. Vgl. Schöne: Faust, Kommentare, S. 480ff.

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sen sich Schröpfer bediente, wird ihm vermuthlich hierzu gedienet haben. […] Die Gesichter der Geister sahen wie geformter Dunst aus.“31 Helenas erstes Erscheinen erfolgt in einer Sphäre der Halbwirklichkeiten oder – mit Herder gesprochen – der Halbartikulationen.32 Entsprechend kann auch der Schritt, der den Auftritt eröffnet, im Rahmen einer Laterna-magica-Anordnung nicht überzeugend simuliert werden. Prinzipiell herrscht Unklarheit hinsichtlich der Frage, ob die Geister der Phantasmagorie „mit geisterhaftem Schritt“33 auftraten oder nur eine Artikulationsschwelle umspielten, indem sie sich vage auf Rauchgrund abzeichneten. Die Auskünfte der Quellen schwanken, wenn sie die Bewegung genauer zu fassen versuchen, die das Geisterbild nach vorne trägt. Während die einen ‚geisterhafte Schritte‘ bezeugen, berichten andere, dass die Geister sich bewegten „ohne einen Fuß zu regen“ und daher „nur als schwebend“34 erschienen. Unklar bleibt auch, ob diese schreitend von hinten nach vorne, von draußen nach drinnen kamen oder, wie Friedrich Nicolai schreibt, „durch die geöffnete Thür hineinhüpften“35, oder ob sie sich auf einem turbulenten Rauchfeld artikulierten, ohne dass gehende Füße für diesen Schritt benötigt würden. Zugleich wird sichtbar, dass diese Schritte unvollständig und schemenhaft bleiben. Mephistos Kommentar zu Helenas Auftritt: „Das wär’ sie denn!“ (V. 6479), stellt die indikativische Gegebenheit der Idealfigur in Frage. Im Kontrast zu: ‚Sie ist wieder da!‘, arbeitet er an der konjunktivischen Depotenzierung einer ohnehin fragwürdigen Präsenz.36 Die Erschienene adressiert Mephisto im Coniunctivus potentialis, der der gespenstischen Verfasstheit des Helena-Bildes als eines noch nicht in die volle Wirklichkeit getretenen Bildes angemessen ist. Artikulation durch Bewegung kann durch Rauchprojektion nicht gewährleistet werden, so dass auch hier der Dunst immer interveniert, wenn sich eine Figur durch Auftritt abzuzeichnen beginnt. Die Auftretenden im zweiten Teil der Tragödie bringen ihr mediales „Tragewerk“ (V. 10041) niemals ganz zum Verschwinden, sie 31 Moses Mendelssohn: Herrn Moses Mendelssohns Anmerkungen über einen schriftlichen Aufsatz, die Wunderthaten des berüchtigten Schröpfers betreffend, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 26 (1775), S. 277-281, hier S. 280. 32 Vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Berlin 1772, S. 15. 33 Eugen Sierke: Schwärmer und Schwindler zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1874, S. 301. 34 Johann Salomo Semler: Herrn D. Crusii Bedenken über die Schröpferische Theurgie, in: Sammlungen von Briefen und Aufsätzen über die Gaßnerischen und Schröpferischen Geisterbeschwörungen, mit eigenen vielen Anmerkungen, Bd. 2, hg. v. Johann Salomo Semler, Halle 1776, S. 1-14, hier S. 5. 35 Friedrich Nicolai: D. Christian August Crusius. Bedenken über die Schröpferischen Geisterbeschwörungen (Rezension), in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 26 (1775), S. 272-277, hier S. 274. Vgl. auch Sierke: Schwärmer und Schwindler, S. 301. 36 Vgl. Albrecht Schöne: Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil, in: Euphorion 55 (1961), S. 196-220.

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Abb. 20: Karl von Eckartshausen, Aufschlüsse zur Magie (1790).

führen stets einen Rest Chaos mit sich, der sich ihrer restlosen Ausformulierung entgegensetzt und einem unbestimmten Hintergrund verbindet, der ihnen die gewonnene Kontur wieder zu entziehen droht. Auch Helena und Paris sind Formen in Dekomposition, d.h. Formen, die wiederum in das Medium übergehen.37 37 Vgl. Khurana: Was ist ein Medium?, S. 125.

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Mediatisierter Auftritt II: Wasser Im zweiten Anlauf erscheint im Horizont der Tragödie jedoch ein neues Element. Nach dem unbefriedigenden Auftritt im Rittersaal der Kaiserpfalz aktualisiert sich der Helena-Schemen in einem leistungsfähigeren und weniger diskreditierten Medium, das der Figur das von Dunst und Nebel verweigerte „Leben“ verleiht. Der Grund, den Goethe nun aktiviert, ist das Meer – ein „Elementarhorizont“, so Wolfgang Schadewaldt. Zugleich erweitert sich der antizipatorische Raum, in dessen Fluchtpunkt Helena ein weiteres Mal erscheinen wird. Die Szene vor dem zweiten Auftritt der Helena wird aus den Beschränkungen des Rittersaales ins Freie gerückt, das Drama begibt sich auf den „Weg zum Wasser“38. Die Funktion des Meerfests, das Helenas Auftritt in Sparta vorausgeht, besteht nicht zuletzt darin, den elementaren Grund zu aktivieren, welcher der Figur der Helena eine zweite und nun weit überzeugendere Ankunft ermöglicht. War der Rauch ein Artefakt der Scharlatanerie, ist das Meer ein natürliches Element von höchster generativer Dignität.39 Thales ist sein Philosoph, der mit den Worten: „Alles ist aus dem Wasser entsprungen!!“ (V. 8435), einen neuen medialen, aber auch einen neuen generativen Horizont eröffnet und das Hervorbringen von Gestalten von der Rauchprojektion auf Schöpfung umstellt. Am Ende der Walpurgisnacht kommt eine neue formgebende Kraft ins Spiel, die „frischeste[s] Leben“ (V. 8444) spendet und damit den aus dem Ozean hervortretenden Formen eine gegenüber dem Rauch gesteigerte Evidenz verleiht. Im Meerfest inszeniert Goethe eine erotische Turbulenz der formgebenden Kräfte, mit der sich das Theater, wie Max Kommerell bemerkte, unter neuem Vorzeichen „unter das Gesetz des Werdens“40 stellt und die Bedingungen dafür schafft, dass der nomadisierende Helena-Schemen unter günstigeren Bedingungen aufgerufen werden kann.41 Durch diese Aktivität des Grundes wird jedoch nicht nur der Rauchgrund zurückgelassen, sondern, wie oben angedeutet, auch der dunkle Grund der Tragödie. Die formativen, generativen und inchoativen Kräfte, die Helena nach vorne tragen, arbeiten auch gegen die Entstellungen an, die der Figur in jener Gattung 38 Schadewaldt: Faust und Helena, S. 25. Schadewaldt bezeichnet so die klassische Walpurgisnacht. 39 Zur Unterscheidung von natürlichen und künstlichen Medien vgl. Jochen Hörisch: Die Medien der Natur und die Natur der Medien, in: Zum Naturbegriff der Gegenwart. Kongress zum Projekt „Natur“ im Kopf, Bd. 2, hg. v. Kulturamt Stuttgart, Stuttgart 1994, S. 121-138, hier S. 124; Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung, Hamburg 2006, S. 13; Khurana: Was ist ein Medium?; Ulrich Gaier: Schwankende Gestalten. Virtuality in Goethe’s Faust, in: Goethe’s Faust. Theatre of Modernity, hg. von Hans Schulte u.a., Cambridge 2011, S. 54-67. 40 Max Kommerell: Faust II. Teil. Zum Verständnis der Form, in: ders.: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1991, S. 9-75, hier S. 45. 41 Vgl. Schadewaldt: Faust und Helena, S. 4.

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drohen, die Goethe im Helena-Akt zitiert. Er richtet sich gegen die Übermacht der ‚ungeheuren Hintergründe‘, die Wilhelm von Humboldt in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Agamemnon evoziert hatte: Der einzelnen Handlung […] ist […] ein ungeheurer Hintergrund gegeben. Von der ersten Scene an bis zum Erscheinen Agamemnons steht der ganze Troische Krieg mit allem Verderben, das er über einzelne Familien Griechenlands brachte, und allem Glanze, mit dem er die Nation verherrlichte, dem Zuschauer lebendig vor Augen.42

An die Stelle des grundierenden Verderbens, einer weitläufigen Vergangenheitslandschaft, die Humboldt im Agamemnon des Aischylos ausgebreitet sieht, setzt Goethe damit einen Wassergrund im Schöpfungsmodus, der den Auftritt der Helena mit aktualer, anfangsstiftender Kraft ausstattet und damit ein von Humboldt stark unterschiedenes Figurationsmodell herstellt. Denn wenn dieser einer konventionellen klassizistischen Metapher folgt, in der die tragische Figur als ein in sich geschlossenes, von festen Grenzen umschriebenes und damit stark mit dem Grund kontrastierendes plastisches Gebilde entworfen wird, öffnet Goethe die Grenzen der Figur und bewahrt auch der abgesonderten Form Durchlässigkeit gegenüber dem umgebenden Element. So betont Humboldt, dass Aischylos die auftretenden Gestalten „mit der größesten Festigkeit und Bestimmtheit“43 hinstelle. Ähnlich den Figuren Pindars erscheinen sie ihm als „auf festem Fußgestell weilende“, d.h. statuarische „Gebilde“44. Im Agamemnon wird das Gemüth durch die Besorgnisse des Chors, die dunkeln, aber immer furchtbaren Andeutungen Klytämnestras, die Wehklagen und Weissagungen Kassandras vom ersten Verse an, wie mit schwermüthigen Melodieen, mit trüben und schwarzen, aber unbestimmten Ahndungen erfüllt, und auf diesen Grund nun treten, auf ihm bewegen sich die grossen, theils furchtbaren, wie Klytämnestra, theils herrlichen Gestalten, wie Agamemnon und Kassandra. Welcher schönere Gegenstand, auch für die plastische Kunst, könnte gedacht werden, als Kassandra auf dem Wagen des Mannes, der sie gefangen aus ihrer zerstörten Vaterstadt geführt hat, und vor der Thür des Palastes, der ihm und ihr den Tod bringt!45

Bei Goethe hingegen artikuliert sich das Bild der höchsten Schönheit nicht statisch als ein in sich geschlossenes, von seinen Hintergründen abgelöstes und frei in den leeren Raum gestelltes visuelles Artefakt. Es wird vielmehr von den Elementen selbst dynamisiert und in Regsamkeit versetzt. Die Zeichnung der Helena bleibt damit non finito – nicht endgültig ausformuliert,46 insofern sich ihre 42 43 44 45 46

Humboldt: Einleitung, S. XII. Ebd., S. XIV. Ebd. Ebd., S. XIVf. Vgl. Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 2001, S. 233-242, hier insbesondere das Kapitel: Absolute Kunst und das Non-finito.

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Umrisslinien als fluide oder beweglich erweisen und einer Schließung widersetzen, die sie zugleich stillstellen würde. Ihre Gegenwart ist auch in ihrer Perfektion stets als ‚vom Strande‘ herkommend zu denken und nach wie vor vom ‚Geschaukel‘ bewegt, d.h. als ein offener Anfang, nicht als Anfang vom Ende gesetzt. Auch im Auftritt bleibt sie dem medialen Feld verhaftet, das sie hervorbringt und ihre Konturen permanent umschreibt. Helenas Gestalt konstituiert sich als Woge und Kontur, Schwung und Form. Ihr Auftritt ist lebendige Insistenz des Figuralen in einem bewegten Feld möglicher Umgestaltungen.47 Hier wie dort bleibt die artikulierte Form weiterhin im status formandi, d.h. mit den formgebenden Kräften in Verbindung, und gerät damit in ein Oszillationsfeld, das von Goethe unmittelbar mit dem Leben assoziiert wird.48 In der von schwachen und gespenstischen Auftrittsereignissen bestimmten Tragödie erlangt nur der zweite Auftritt der Helena Gegenwart. In einem Kontext, der die theatrale Gestalt ausschließlich als mediatisierte, durch einen Illusionsapparat vergegenwärtigte auf die Bühne bringt, ist die Mediatisierung durch das Wasser die überzeugendste. Vom Meer her auftretend schließt Helena die Reihe der emphatischen Auftritte ab, die Goethe im Auftritt des Phileros in der Pandora oder in Amor ein Landschaftsmaler eröffnete. Dieser Auftritt rechtfertigt für einen Moment den Satz ‚Sie ist wieder da!‘, der in einem Theater, das aufgehört hat zu existieren und den Auftritt der Körper längst an einen Medienapparat delegiert hat, letztlich nicht mehr wahrheitsfähig ist. Die Konsistenz der ‚einzigsten Gestalt‘ kann daher nicht lang anhalten. Ihr einziges Gegenüber bei ihrer Rückkehr ist Mephisto, der als ein ‚Fürst der Luft‘ (Eph. 2,2) bezeichnet wird, der die Wirklichkeit durch phantasmagorische Inszenierungen, das Theater der Körper durch ein Theater der Nebelbildungen ersetzt. Wo er als Spielleiter fungiert, gelten ausschließlich die Auftrittsprotokolle einer diskreditierten Erscheinungswelt.49 Was er erscheinen lässt – und das gilt für Orte, Figuren und Gattungen gleichermaßen –, gelangt an keinem Punkt zu formaler Stabilität. Mit seinem Auftritt in der Maske der Phorkyas hat sich eine formauflösende Kraft in der Tragödie eingenistet, die Max Kommerell treffend als „entgliederndes Prinzip“50 bezeichnet, dessen Wirken sich daran zeigt, dass sie neben vielen anderen Formen auch die strikten Koppelungen der tragischen Form zur Auflösung bringt. Aufgabe des Bösen in diesem Spiel ist die „privation 47 Vgl. Jean-Luc Nancy: Die Lust an der Zeichnung, 2. Aufl., Wien 2013, S. 39: „Weder kann das Entstehen einfach ein unendlicher Prozess bleiben – ein Strich muss gezogen werden –, noch kann das Zeigen einfach eine geformte, geschlossene Form darstellen. Der status nascendi oder status formandi, dieser status ohne stabilen Zustand, unablässig metastabil, hört nicht auf, sich selbst vorauszugehen und über sich selbst hinaus anzudauern.“ 48 Vgl. Schadewaldt: Faust und Helena, S. 5ff. 49 Vgl. Werner Hamacher: Faust, Geld, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 4 (1994), S. 131-187, hier S. 152. 50 Kommerell: Faust II. Teil, S. 24.

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de l’être“51 – die Seinsberaubung, wie Leibniz die Intention des Bösen genannt hat. Dieser gelingt es einerseits, das formale Gefüge der Tragödie aufzulösen, indem sie die Finalisierung der tragischen Aktion verhindert – diabolisch ist die Suspendierung der dramatischen Aktion52; andererseits gelingt es ihr auch, die tragische Figur zu entgliedern, die gerade als „wahrhaft lebendig[e]“ aufgetreten ist. Helena selbst gibt diesen durch Mephisto bewirkten Seinsentzug zu Protokoll, wenn sie am Ende der Szene nach der Begegnung mit Phorkyas in den mephistophelischen Erscheinungsmodus der „schwankende[n] Gestalten“53 zurückfällt: „Tret ich schwankend aus der Oede die im Schwindel mich umgab,/ Pflegt ich gern der Ruhe wieder, denn so müd ist mein Gebein[.]“ (V. 8913f.) Wenig später wird sie von dem Nebel umgeben, aus dem sie im ersten Akt aufgestiegen ist. In die Szene „Innerer Burghof“ gelangt sie mit ungewisser Bewegung. „Ich weiß nicht wie, gekommen, schnell und sonder Schritt.“ (V. 9144) Dennoch soll hier abschließend nicht zwischen einem Theater der Täuschung und einem „wahrhaft lebendig[en]“ Theater der Präsenz unterschieden werden. Grundlage des faustischen Theaters ist die Einsicht und Inszenierung seiner Mediatisierung. Präsenzeffekte – und insbesondere jene des Auftritts – stellen sich bei seinen Figuren nur insofern ein, als diese sich medial vermitteln und offen als vermittelte zeigen. Die Tatsache, dass Goethe den zweiten Teil des Faust für unaufführbar hielt, begründet sich nicht nur darin, dass seine zeitlichen und räumlichen Ausmaße jeden Aufführungsrahmen sprengen mussten, sie ist möglicherweise auch darin begründet, dass der mediale Aggregatzustand seiner Räume und Figuren nicht mehr zu bestimmen war. Diese waren nicht mehr als unterschiedlich stabile Verdichtungen theatraler und visueller Medien, durchweg aber Angehörige einer Erscheinungswelt, welche die Evidenz des ‚Sie ist wieder da!‘ nur durch mediale Rekonstruktion erzielte. Auch außerhalb des Phantasmagorischen haben theatrale Figuren einen ausschließlich medialen Status, der ihre Gegebenheit wie ihre Auftrittsfähigkeit ungewiss werden lässt. Unaufführbar ist das Faust-Projekt auch deshalb, weil ihm Körper in allen Aggregaten zur Verfügung stehen, weil sie alle Grade der Entwirklichung durchlaufen. Die Frage der Festkörperlichkeit als Grundlage theatraler Repräsentation ist zuletzt gleichgültig geworden. Im Exzess der Figurationen wie in der Überaktivität medialer Hintergründe verabschiedet sich das alte Auftrittstheater. Seine Bühne besitzt keine feste Raumstruktur, Tiefe, Schichtungen oder Entfernungsgrößen mehr, sie ist viel51 Gottfried Wilhelm Leibniz: Essaies de Théodicée sur la Bonté de Dieu, la Liberté de l’homme et l’Origine du Mal, Bd. 1, Amsterdam 1734, S. 93. Vgl. Peter Michelsen: Mephistos ‚eigentliches Element‘. Vom Bösen in Goethes Faust, in: ders.: Im Banne Fausts. Zwölf Faust-Studien, Würzburg 2000, S. 171-191, hier S. 173. 52 Vgl. Hamacher: Faust, Geld, S. 138. 53 Johann Wolfgang Goethe: Faust, in: MA 6.1, S. 535-673, hier S. 535 (V. 1).

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mehr das grenzenlose und richtungslose Kräftefeld, das Mephisto als ‚Getreibe‘ bezeichnet, bevor er ihm den ehrwürdigen Namen des „Grund[es]“ (V. 6284) verleiht. Auf diesem vollziehen sich die flüchtigen wie kontingenten Figurationsprozesse, die im Kapitel über den Mummenschanz arrivance genannt werden. An die Stelle von Auftrittsvorgängen treten Medium- und Formunterscheidungen: permanente, schwache und reversible Selbstteilungen des medialen Grundes, die Absonderungen in allen Abstufungen, vor allem aber schwache Abstufungen und in der Regel Vielheiten und Gruppen, die keine Konsistenz mehr erlangen und sich körperlich nicht konsolidieren. Die charakteristischste Auftrittsanweisung, die diese Distinktionsschwäche belegt, findet sich im fünften Akt beim Auftritt der vier grauen Weiber, von denen gesagt wird: „Was schwebet schattenhaft heran? Mitternacht. Vier graue Weiber treten auf.“ (V. 11383f.)

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5. Management of „Arrivance“. Goethes „Mummenschanz“ Kaum eine Gattungsbezeichnung ist provokanter als jene der ‚Tragödie‘ im zweiten Teil von Goethes Faust.1 Wer sich an aristotelischen Gattungsvorstellungen orientiert, wird sich in der Unübersichtlichkeit eines Textes verlieren, der die Einheit, den Zusammenhang und die Folgerichtigkeit einer Handlung vermissen lässt. Nur wenige andere ‚Tragödien‘ werden sich finden, die so offen gegen die aristotelischen Regeln verstoßen. Den Regelwerken, die das Schreiben von Tragödien auch im 19. Jahrhundert anleiten, steht ein dramaturgisches Delirium gegenüber, das den mit der Tragödie verbundenen Erwartungshorizont übersteigt und von seinem Autor für unspielbar erklärt wird.2 Sein Skandal lässt sich daran festmachen, dass die dramatischen Strukturen, die die klassizistische Tragödie dominieren, durch Auftrittsstrukturen überlagert werden. Faust II stellt Auftreten und Selbstvorstellung in den Vordergrund. An die Stelle eines kohärenten Geschehenszusammenhangs treten Auftrittsabfolgen oder Auftrittsreihen, an die Stelle des Handlungsgehalts die „Auftrittsleistung selbst“3. Die Anzahl der handelnden Figuren geht auf ein Minimum zurück, während jene der auf- und hervortretenden Figuren ins Unzählbare anwächst.4 Diese Defilees setzen mit dem Mummenschanz im ersten Akt ein, sie greifen auf die klassische Walpurgisnacht über, setzen sich in den Kriegsszenen fort und enden im Aufzug der himmlischen Mächte in der oratorischen Schlussszene. Die Übersichtlichkeit eines kleinen und durch Handlung miteinander in Beziehung gesetzten Figurenensembles schwin1

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David Wellbery hat das dynamisch-genetische Tragödienverständnis Goethes am Beispiel des Faust II herausgearbeitet, demzufolge die Tragödie Formpotential und Denkform ist, die ein technisches oder regelgeleitetes Gattungskonzept hinter sich lässt. Vgl. David E. Wellbery: Goethes „Faust I“. Reflexion der tragischen Form, München 2016. Vgl. Johann Peter Eckermann über Goethe am 20. Dezember 1829: „Geht nur, sagte Goethe, und laßt mir das Publikum, von dem ich nichts hören mag. Die Hauptsache ist, daß es geschrieben steht; mag nun die Welt damit gebaren so gut sie kann, und benutze es so weit sie es fähig ist.“ (Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823-1832, in: MA 19, S. 342-344, hier S. 343.) Vgl. auch Goethe im Gespräch mit Friedrich Förster am 25. August 1831, in dem er erklärt haben soll, er hätte „von Haus aus gar nicht an eine Aufführung auf der Bühne gedacht“. (Wolfgang Herwig (Hg.): Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang. Auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann, Bd. 3.2: Zweiter Teil 1825-1832, Zürich 1972, Nr. 6889, S. 798-799, hier S. 799.) Alexander Honold: Elementartheater. Walpurgisnacht und Klassische Walpurgisnacht, in: Faust I/II von Johann Wolfgang von Goethe, hg. v. Ortrud Gutjahr, Würzburg 2012, S. 143-164, S. 155. Vgl. dazu Heinz Schlaffer: Faust. Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts, 2., um eine Nachbemerkung erweiterte Aufl., Stuttgart 1998, S. 139: „Bereits die große Zahl der dramatis personae von Faust II (so groß, dass Goethe sich ihre tabellarische Aufzählung erspart) zeigt, daß die einzelnen Figuren in je einzelnen Szenen verbraucht werden.“

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det im gesteigerten Andrang der Personen. Auf der weitläufigen Bühne des Faust inszeniert Goethes Tragödie das, was Shakespeare mit dem Kunstwort „arrivance“5 bezeichnete: ein in Zahlen nicht bezifferbares und in Einzelpersonen nicht mehr aufzulösendes Auftrittsgeschehen, das die Bühne von Akt zu Akt in Wellen heimsucht. Inflationäre Ankunftsereignisse treten immer wahrnehmbarer an die Stelle dramatischer Komplikationen. Je mehr die Handlung verarmt, umso größer werden die Anforderungen an einen Bühnenverkehr, der neue und bizarre Unbekannte in Mengen heranführt. Damit ist eine Dramaturgie erforderlich, die hier als management of arrivance bezeichnet wird. Auch dieses Treiben wird gemeint gewesen sein, wenn Goethe behauptete, im Faust eine Form gefunden zu haben, die „Aristoteles und andere Prosaisten einer Art Wahnsinn zuschreiben würden“.6 Nur scheinbar kommt es mit der Häufung der Auftritte jedoch zu einer erneuten Theatralisierung des Dramas. Wenn das Kommen und Gehen nun überhandnimmt, verfallen zugleich die Auftrittsprotokolle, die ihm eine Form geben. Das Theater, das in seinen christlichen wie in seinen antiken Varianten auf dem Prinzip der Individuation beruhte und den Einzelnen in seiner Unterschiedenheit hervortreten ließ, auch wenn es dieses Hervortreten in Krisenszenarien entfaltete, hält diesem Andrang nicht stand. Durch die Intensivierung des Ankunftsgeschehens werden die Rahmenbedingungen geordneten Auftretens zerstört und in der systematischen Übersteigerung eines grundlegenden theatralen Prinzips dessen Ende herbeigeführt. Beginnend mit dem Mummenschanz zersetzen sich die dramaturgischen Fundamente einer auf der geregelten Abfolge von Auftritten gegründeten Theatralität. Die Grenzen zwischen dem Einen und den Vielen, aus denen dieser heraustritt, die Grenze zwischen Figur und Grund, die der Auftritt festigte, und die Grenze zwischen Akteuren und Zuschauern, die sich im Auftritt auftut, erodieren drastisch. Dieser Verfall ordnungsstiftender Auftrittsprotokolle korrespondiert mit einem gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel, der die theatralen Dimensionen der Personeninszenierung stetig zurückbildete. Folgt man Albrecht Schöne, ereignet sich im Mummenschanz der Übergang von der höfischen in eine kapitalistische Geldgesellschaft, die alle in der Realität des Körpers verankerten Protokolle in Frage stellt und die Gleichgültigkeit der Warenzirkulation auch unter Menschen herrschen lässt.7 Es ist zu beobachten, wie das theatrale Subjekt des Ancien Régime seine Auftrittsfähigkeit und zusehends auch seinen Auftrittskörper verliert. 5 6 7

William Shakespeare: Othello, in: The Arden Edition of the Works of William Shakespeare, hg. v. Maurice R. Ridley, London 1958, 1974, S. 49 (II/1, V. 42f.). Goethe an Wilhelm von Humboldt am 1. Dezember 1831, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. v. Horst Fleig, in: FA 38, Nr. 875, S. 493-496, hier S. 495. Auch in: Ludwig Geiger (Hg.): Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt, Berlin 1909, S. 280. Vgl. Albrecht Schöne: Johann Wolfgang Goethe. Faust, Kommentare, in: FA 7/2, S. 430ff. Vgl. dazu Schlaffer: Faust, S. 49ff.; Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, 4. Aufl., Zürich 2011, S. 310-351.

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Dieser Umbruch wird dort sichtbar, wo sich Goethe noch einmal im großen Rahmen der ersten Faust-Akte mit der Auftrittskultur des Ancien Régime auseinandersetzt. Das Kommen und Gehen, das die Faust-Tragödie über weite Strecken hinweg beherrscht, die Defilees, die seine dramaturgische Struktur konstituieren, erfolgen zunächst im Rahmen eines höfischen Festes. Sämtliche Auftritte des ersten Aktes gehören der Formenwelt des Hofzeremoniells an, das als eine symbolische Maschine zur Produktion von Auftritten verfügbar ist. In den ersten Szenen des zweiten Teils begibt sich Goethe in die Sphäre der ‚Staatshöflichkeiten‘, die wie keine andere durch Akte des Hervorkommens und Nachvornetretens bestimmt war. Spezifischer aber wird die Erosion der großen rhetorischen Auftrittsprotokolle am Verfall des allegorischen Theaters und hier insbesondere in seiner Ausprägung als höfisches Maskenspiel aufgezeigt, das im Mummenschanz noch einmal aufgerufen und im Folgenden diskreditiert wird. Höfische Maskenzüge Seit der Renaissance und fortgesetzt an den Höfen des 17. und 18. Jahrhunderts galten Maskeraden und allegorische Aufzüge als Kristallisationspunkte höfischer Repräsentation. Ihr Zweck bestand darin, die Ordnung der durch den Souverän beherrschten Welt im Auftritt ihrer Elemente darzustellen. In der Abfolge allegorischer oder emblematischer Maskengruppen baute sich bei festlichen Gelegenheiten das klar gegliederte Bild eines vom splendor des Souveräns beherrschten Kosmos auf. Die Rangabstufungen der aristokratischen Maskenträger spiegeln sich in den Abstufungen einer vom Höchsten bis zum Untersten herabsteigenden Ordnung, in der Jahreszeiten, Tugenden, Typen, Planeten oder Zeiteinheiten samt ihren Untergliederungen in geordneter Reihenfolge und deutlich umschriebener Gestalt hervortraten.8 Wer daran teilhatte, konnte sich als „Glied einer hierarchischen Gesamtordnung“9 empfinden, die sich in konzentrischen Kreisen um einen solaren Mittelpunkt aufbaute. Für karnevalistische Exzesse gab es in diesem Rahmen keine Lizenzen. Auch wenn diese Maskenzüge zur Zeit des Karnevals stattfanden, unterlagen sie strengen Regulierungen und ließen keine improvisatorischen Spielräume zu: Nach Auskunft der Zeremonialwissenschaft, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Formalien der europäischen Höfe aufzuschreiben und zu systematisieren begann, folgten sie in der Regel einem durch die Zeremonialinstanzen approbierten und durch den Fürsten selbst bewilligten 8 9

Vgl. Angus Fletcher: Allegory. The Theory of a Symbolic Mode, Ithaca 1964, S. 109, S. 112: Hier der Hinweis auf die hierarchische Anordnung eines allegorisch strukturierten Kosmos. Barbara Stollberg-Rilinger: Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des alten Reiches, 2. Aufl., München 2013, S. 94.

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Plan, der keine Überraschungen zuließ. „Den Anfang des Aufzuges macht entweder ein Herold oder ein Marschall zu Pferde“10, lautet die Forderung der Zeremonialwissenschaft. Alle Aufzüge standen unter der Leitung eines weisungsberechtigten maître, der den Teilnehmern schon vorher die nötigen Direktiven erteilte: Die Personen, aus denen der Aufzug bestehen soll, müssen sich vorhero an einem gewissen Ort versammeln, und daselbst von den Maitres, so solche Aufzüge dirigieren, ihre Instruktionen erhalten, wie sie sich bei ihrem marchiren verhalten, auch in was vor Ordnung sie nach einander gehen sollten.11

Sie wurden in „abwechselnde Corpos [!] und Divisiones“12 abgeteilt, die „wiederum von besonderen Häuptern geführet [wurden], wie sie zu jeder Abteilung gehören […]“.13 Der zentrale Aufstellungs- und Auftrittsgesichtspunkt war demnach die Vermeidung von Unordnung und die Herstellung von Unterschieden: Die Abteilungen der Masken und Maskengruppen sollten klar erkennbar und eigens ausgeflaggt sein: „[U]nd sie haben gar öfters ihre eigenen Fahnen. Sie tragen dasjenige in Händen, was sich für jeden schickt.“14 Wer in Erscheinung treten wollte, unterstand dem Zwang ‚de se distinguer‘, er musste unter den Augen seines Monarchen und mit dessen Zustimmung aus dem Schatten ins Licht getreten sein und sowohl in hierarchischer wie semantischer Hinsicht als ein von anderen Unterschiedener kenntlich werden. Herr dieser höfischen Unterscheidungen war, wie Norbert Elias vermerkt, der Monarch selbst: „Alles war wertvoll an ihm, weil er Unterschiede machte.“15 Im theatrum ceremoniale des Hofes zeigte er sich in unbestrittener semiotischer Autorität. Wo er erschien, schieden sich Licht und Finsternis. Seine Anwesenheit brachte Klarheit auch in verworrene Gemengelagen, sie stiftete Taxis und Hierarchie16 im Gedränge der Höflinge und Klarheit in der festlichen Selbstbeschreibung seiner Herrschaft. Höfische Maskenzüge, welche die ihm untergebene Welt in allegorischer Form zur Darstellung bringen, tendieren daher zu einfachen, übersichtlichen und meist symmetrischen Aufstellungen, die auf begriffliche Trennschärfe abzielen.17 10 Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der Großen Herren, Berlin 1733, S. 742. 11 Ebd., S. 741. 12 Ebd., S. 740. 13 Ebd., S. 743. 14 Ebd. 15 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a.M. 1983, S. 199. 16 Fletcher: Allegory, S.61. 17 Vgl. ebd., S. 87: „The most striking sensuous quality of images in allegories is their isolation from each other. […] [A]nd at the same time they preserve their identities by being drawn with extremely sharp-etched outlines.“ Vgl. auch Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der Großen Herren, S. 745.

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Abb. 21 : Daniel Rabel (attrib.), Entrée du Grand Can et ses Suivants in Ballet Royal du grand bal de la Douairière de Billebahaut (1626).

Abb. 22: Anon., Nine Men Dancing (1660).

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„Force et Grace“ Diesen Unterscheidungen wird jedoch erst durch einen motus corporis – die körperliche Bewegung – Nachdruck verliehen. Unter dem Regime Ludwigs XIV., das den höfischen Maskenzug in die höfischen Festgattungen integrierte, wird daher der Bewegung und dem Schritt intensive choreografische Aufmerksamkeit geschenkt. In den Defilees der Masken ging es nicht ausschließlich um die Aufrechterhaltung von Abständen, sondern nicht weniger um die Energetisierung des höfischen Blickfeldes. Das absolutistische Ordnungsmodell konnte erst dann erfolgreich kommuniziert werden, wenn der Glanz der Persona durch die Kraft des auftretenden Körpers gesteigert wurde. Die Maskeraden, in denen sich der monarchische Kosmos sinnlich vergegenwärtigte, dienten nicht nur der begrifflichen Schärfung und Ausstellung von kosmischen Sinnbildern, sondern auch der Freisetzung von energeia. Allegorische Auftritte waren kraftvolle körperliche Vollzüge, die einen Zeichenkörper in Szene setzten und seine Bedeutung forcierten.18 Höfische Allegorien nutzten den „drive“19 oder dämonischen Vorwärtsdrang, der den Allegorien nach Auskunft Angus Fletchers innewohnt und ihrer Bedeutung Nachdruck verleiht: Der höfische Schritt sollte „force et grace“20 in sich vereinen und im Transport des Körpers körperliche und semantische Impulse setzen. Ein Entrée zu tanzen, bedeutet „danser un commencement“21, heißt es in D’Alemberts Encyclopédie. Auftritten im festlichen Rahmen der Entrées werden inchoative, d.h. anfangsstiftende Kräfte zugeschrieben. Mit jedem neuen Maskenauftritt wendete sich die Szene und erneuerte sich die Ordnung, die er repräsentierte. Entscheidendes Movens waren die Ankünfte neuer Abteilungen und die Einführung neuer Themen durch Neuauftretende, die der Szene immer neue Bewegungsimpulse zuführten.22 Wie Erich Auerbach bemerkt, liegt der Reiz al-

18 Vgl. Sarah R. Cohen: Art, Dance, and the Body in French Culture of the Ancien Régime, Cambridge 2000, S. 27ff. 19 Fletcher: Allegory, S. 52. Vgl. das Kapitel: The Daimonic Agent, S. 25-70. 20 Eintrag: Entrée (Danse), in: Denis Diderot u. Jean le Rond D’Alembert: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 5, Paris 1751-1780, S. 730f. (elektronische Ausgabe der University of Chicago: http://encyclopedie.uchicago.edu/): „Dans toute entrée de danse, le danseur, à qui suppose de la vigueur & de l‘habileté, a trois objets principaux & indispensables à remplir. Le premier, les contrastes perpétuels de la force & de la grace, en observant que la grace suive toûjours les coups de vigueur.“ 21 Ebd., S. 730: „Ce sont ordinairement les chœurs de danse qui paroissent sur cet air; c‘est pour cette raison qu‘on les nomme corps d‘entrée. Ils en dansent un commencement.“ 22 Fiona Garlick: Dances to Evoke the King. The Majestic Genre Chez Louis XIV, in: Dance Research: The Journal of the Society for Dance Research 15 (1997), S. 10-34, hier S. 13ff.: „[I]n the mid-seventeenth century it [das Entrée; J.V.] was characterized by the arrival of dancers in new costumes to indicate the introduction of a new theme or subject.“

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legorischer Darbietungen in ihren „stoßweise[n], vor- und zurückgreifende[n], überall energetische Ansätze schaffende[n]“23 Erscheinungen. Weimarer Defilees Als Goethe nach seiner Ankunft in Weimar in das höfische Festwesen eingebunden wird, gehört die Ausrichtung von Maskenzügen in der Karnevalssaison zu seinen zentralen Aufgaben. Die Aufstellungsform des allegorischen Aufzugs, der in der Regel der Huldigung der Fürstenfamilie diente, spielt in der kleinen und sich allmählich verbürgerlichenden Öffentlichkeit des Weimarer Fürstenhofes eine zentrale Rolle. Auch wenn sich zunehmend Ermüdungserscheinungen gegenüber den Zeremonialformen der Vormoderne bemerkbar machen,24 scheint das Interesse an Maskenzügen noch am Ende des 18. Jahrhunderts und über die Höfe hinaus ungebrochen. Von Kriegen und Revolution unbeirrt berichtet das Journal des Luxus und der Moden von Maskenzügen in Weimar und Berlin, deren Teilnehmer nach wie vor „in trefflich geordneten Gruppen und Tänzen nach einander hervortreten“25. Auch in der Weimarer Karnevalssaison, in der auch der Geburtstag der Weimarer Großherzogin Louise gefeiert wurde, fanden jährlich Huldigungszüge statt, in denen der anwesende Adel in allegorischer Maskierung auftrat. Heinrich Düntzers 1886 erschienene Monografie Goethes Maskenzüge dokumentiert das ungebrochene Weiterfließen dessen, was Sarah Cohen in ihrer Arbeit über den Tanz am Hof Ludwigs XIV. „a stream of entrées“26 genannt hat: die zahllosen Auftritte der maskierten und zur Darstellung von Sinnbildern verpflichteten Aristokratie unter den Augen des Fürsten und seiner Familie. Die Aufgabe des directeur de plaisir27 Goethe bestand in den Jahren seiner Tätigkeit 23 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 11. Aufl., Tübingen 2015, S. 115: „ein Leben, das freilich beschränkt ist durch die Starre und Enge der Ordnungen, welche unverrückbar fortbestehen; das auch leicht wieder abgebrochen wird durch den Mangel an weiterschwingender Bewegung; das aber gerade durch den Widerstreit, welchen der Rahmen der festen Ordnungen bietet, an Wirksamkeit und Gewalt gewinnt“. 24 Zu Ermüdungserscheinungen im Zeremoniell vgl. Annette Kappeler: Auftrittsformen in der Tragédie en musique, Konstanz 2012 (Ms.), S. 9; Eintrag: Entrées (Jaucourt), in: Diderot u. D’Alembert: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 5, S. 729f. 25 Karl August Böttiger: Der große Maskenball in Berlin. Ein Kupferwerk, in: Das Journal des Luxus und der Moden, Juli 1805, S. 469-472, hier S. 470. 26 Cohen: Art, Dance and the Body in French Culture of the Anciene Régime, S. 18. 27 Johann Gottfried Herder in einem Brief an Johann Georg Hamann am 11. Juli 1782, in: ders.: Briefe. Gesamtausgabe 1763-1803, hg. v. Karl-Heinz Hahn, Bd. 4: Oktober 1776-August 1783, Weimar 1979, Nr. 221, S. 224f: „Goethe fühle sich in seiner Rolle als Geheimer Rat, als maitre de plaisir, und ‚Faktotum‘ des weimarischen Hofes wohl.“ Auch in: Wilhelm Bode (Hg.): Goethe in

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darin, die Pläne solcher Maskenzüge zu entwerfen und geeignete Gruppierungen zu konzipieren: „Heute früh hab’ ich den ganzen Plan unserer Maskerade zurecht schreiben lassen und alle Departements ausgetheilet.“28 Über dreißig Jahre hinweg und über die napoleonische Besatzungszeit hinaus verpflichtete er sich, Züge zu gliedern und ihre Monotonie durch Erfindungen zu beleben. Von den ersten Maskenzügen im Jahr 1780 bis hin zu seinen letzten Aufstellungen im Jahr 1810 spiegeln Goethes Maskenzüge jedoch die Schwierigkeiten, die ihm dieses Format bereitete. Durchweg lassen sie erkennen, dass sich die rigorose höfische Festregie unter der Regie eines bürgerlichen Autors zu lockern begann. Bereits in der Konzeptionsphase der Züge registriert Goethe die Macht der Gegenkräfte, die sich einer Teilung der Ströme widersetzten: „Es wird noch gehen“, schrieb Goethe an Charlotte von Stein, „ob es gleich ein ungeheueres Gewirre ist“. Stets ist zu bedenken, dass die Räume „übermäßig voll“ waren.29 Wie eine Zeugin berichtet, konnte der reibungslose Ablauf der Veranstaltung nur durch die Errichtung von Barrieren gewährleistet werden: „Dies alles ging in Barrieren vor sich, die, von rüstigen Söhnen des Mars gehalten, die zudringlichen Gaffer mit sehr begreiflichen Demonstrationen zurückwiesen.“30 Sowohl bei der Planung wie auch bei der Realisierung von Zügen scheint die Zugordnung durch Unordnung bedroht, die Artikulation der Bedeutungen wie die Erkennbarkeit der Gestalten gefährdet. In Schrift und Inszenierung lockert sich das Zuggefüge so vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, Bd. 1: 1749-1793, München 1982, S. 283. Vgl. dazu insbesondere Dieter Borchmeyer: Die Weimarer Klassik. Eine Einführung, Königsstein 1980, S. 95; ders.: Die Festspielidee zwischen Hofkultur und Kunstreligion. Goethe und Richard Wagner, in: Theodramatik und Theatralität. Ein Dialog mit dem Theaterverständnis von Hans Urs von Balthasar, hg. v. Volker Kapp, Helmuth Kiesel u. Klaus Lubbers, Berlin 2000, S. 167-186. Vgl. zu den Maskenzügen Christoph Siegrist: Dramatische Gelegenheitsdichtungen. Maskenzüge, Prologe, Festspiele, in: Goethes Dramen. Neue Interpretationen, hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1980, S. 226-244, hier S. 227ff.; Wolfgang Hecht: Goethes Maskenzüge, in: Studien zur Goethezeit. Festschrift für Lieselotte Blumenthal, hg. v. Helmut Holtzhauer u. Bernhard Zeller, Weimar 1968, S. 127-142; Stefanie Stockhorst: Fürstenpreis und Kunstprogramm. Sozial- und gattungsgeschichtliche Studien zu Goethes Gelegenheitsdichtungen für den Weimarer Hof, Tübingen 2002, S. 169ff. Hier der Hinweis darauf, dass Goethe die Maskenzüge am Weimarer Hof einführte. 28 Johann Wolfgang Goethe an Charlotte von Stein am 12. Februar 1881, in: WA IV.5, Nr. 1119, S. 5152, hier S. 51f. 29 Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller am 30. Januar 1796, in: FA 31, S. 162-164, hier S. 162f: „[…] [E]s ging alles gut ab, obgleich der Saal übermäßig voll war.“ 30 Amalie von Imhoff an ihren Vetter Fritz von Stein am 15. November 1798, in: Mitteilungen aus dem Literaturarchiv in Berlin N.F. 5, hg. v. Heinrich Meisner u. Erich Schmidt, Berlin 1911, Nr. 33, S. 17-20, hier S. 18: „Ich habe nur zwey Redouten besucht, wovon leztere (am Geburtstag der Herzogin) so entsezlich zahlreich war, daß ich beynahe das Reich der Schatten vermehret hätte, denn zum Erstiken fehlte wenig.“ Vgl. auch Heinrich Düntzer: Goethes Maskenzüge. In ihrem Zusammenhange dargestellt und erläutert, Leipzig 1886, S. 38.

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weit auf, dass die Huldigungsbotschaften nicht mehr in geschlossener Formation überbracht werden können. Seit Ein Zug Lappländer. Zum 30. Januar 1781, der als Goethes erster Maskenzug gilt, werden diese Störungen, die das Zuggefüge ins Formlose abgleiten lassen, in die Texte selbst integriert. Die Sternbilder dieses Zuges gehen aus dem „glänzenden Getümmel“31 hervor. Wie die begleitenden Verse aussprechen, pluralisiert sich das Auftrittsgeschehen und lässt aus Reihen Schwärme, aber auch umgekehrt aus Schwärmen Reihen werden. In dem Maskenzug der Tugenden, der an anderer Stelle ausführlicher diskutiert wird32, äußern sich die weiblichen Tugenden nur in pluraler Form. Sie beschreiben sich als Teil einer bewegten Menge, von der sie umgeben sind. Dabei ist zu ergänzen, dass diese aufgelockerten Aufstellungen in der Realität der Aufführungspraxis selbst nicht umsetzbar waren. Die in Goethes Versen erfolgende Dynamisierung des „Wohlgereihten“ 33 beschränkte sich auf die Schriftform, die während der Aufführung selbst wieder in konventionelle allegorische Defilees aufgelöst wurde.34 Das römische Carneval So lässt sich Goethes Schrift Das römische Carneval auch als kritischer Kommentar zu den zeremoniellen Einschränkungen lesen, denen der Ausrichter höfischer Maskenzüge in Weimar ausgesetzt war. Nur vor dem Hintergrund einer Tätigkeit, die im Wesentlichen aus der „Abtheilung von Departements“ bestand, wird die Bedeutung eines Textes ersichtlich, der die Aufhebung von Zugordnungen in den Mittelpunkt seiner Beobachtungen rückte. Das römische Carneval beschreibt ein Maskenfest, in dem sich, wie nicht nur einmal, sondern zweimal gesagt wird, die „Masken vermehren“35. Die Überschrift „Gedränge“36 benennt die kollektive Dynamik, die den Erhalt der Formationen gefährdet und das Hervorragende, das sich in ihm darstellen will, einebnet. Sie erklärt auch, warum während des römischen Karnevals keine bedeutungs- und rangsichernden Auftritte möglich waren. Goethes Beobachtungen richten sich auf die vergeblichen Kämpfe, die im Gedränge um die Gewinnung von Auftrittsraum ausgefochten werden. Sie registrieren die Menschenballungen, die sich in der künstlichen Raumenge des römischen Corso bildeten. Die Abstände zwischen den Wagen gehen so schnell 31 Johann Wolfgang Goethe: Ein Zug Lappländer. Zum 30. Januar 1781, in: MA 2.1, S. 496 (V. 15). 32 Vgl. das Kapitel II,2 zur Umgebung. 33 Vgl. das Adjektiv „wohlgereiht“ in Johann Wolfgang Goethe: Prolog zur Eröffnung des Berliner Theaters im Mai 1821, in: MA 13.1, S. 241-250, hier S. 242. 34 Vgl. Düntzer: Goethes Maskenzüge, S. 18ff. 35 Johann Wolfgang Goethe: Das römische Carneval, in: MA 3.2, S. 217-270, hier S. 224: „Nun fangen die Masken an sich zu vermehren“, und S. 229: „Indessen die Masken sich vermehren […]“. 36 Ebd., S. 231.

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im „Gedränge“ unter, dass den Wagenbesitzern kein Platz für den Auftritt bleibt, der sie vor der Menge auszeichnen könnte:37 Sie drängen sich, so gut sie können, zwischen den übrigen Wägen hinein, und auf diese oder andere Weise zur Seite. Und wie das Wasser, wenn ein Schiffer durchfährt, sich nur einen Augenblick trennt, und hinter dem Steuerruder gleich wieder zusammenstürzt, so strömt auch die Masse der Masken und der übrigen Fußgänger hinter dem Zug gleich wieder zusammen.38

Unter diesen Voraussetzungen entwickelt Goethe die instabile Auftrittsdramaturgie weiter, die sich bereits an den Weimarer Maskenzügen zu zeigen begann. Sie bezeugt das Schwinden des Auftrittsraums in einer distinktionsfeindlichen, zunehmend bürgerlichen Gesellschaft und trägt der Tatsache Rechnung, dass sich Figuren immer nur vorübergehend – einen „Augenblick“ lang – in einer Menge abzeichnen. Auftretenden fällt es immer schwerer, sich gegen einen überfüllten Grund durchzusetzen, der ihnen keine Auftrittsstelle mehr einräumt und sie bei jedem Versuch, ihn zu verlassen, wieder einholt. Sie machen einander die Raumanteile streitig, wenn sie sich „durch die Menge“39 drängen, und „der tollste Eindruck wird gleich von Menge und Mannigfaltigkeit wieder verschlungen“40. Wie das Wasser, das keine dauerhafte Schneisenbildung zulässt und hinter dem Steuerruder wieder zusammenstürzt, wird der Auftritt wieder von der Menge überspült, aus der er herausführen sollte. Die feste Struktur der alten allegorischen Maskenzüge ist nur noch eine vage Erinnerung: Ehemals sollen diese Prachtwagen weit häufiger und kostbarer, auch durch mythologische und allegorische Vorstellungen interessanter gewesen sein; neuerdings aber scheinen die Vornehmeren, es sei nun aus welchem Grunde es wolle, verloren in dem Ganzen, das Vergnügen, das sie noch bei dieser Feierlichkeit finden, mehr genießen, als sich auszeichnen zu wollen.41

Mummenschanz und Gespenstertheater Wie sehr der Mummenschanz dem Text Das römische Carneval gerade in diesem Punkt verpflichtet ist, ist wiederholt festgestellt worden. Was hier vonstattengeht, ist die endgültige Abwicklung eines Auftrittsprotokolls, dem Goethe seit 37 Vgl. Susanne Lüdemann: Vom Römischen Karneval zur ökonomischen Automate. Massendarstellung bei Goethe und E.T.A. Hoffmann, in: Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge, hg. v. ders. u. Uwe Hebekus, München 2010, S. 107-123, hier S. 111; Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, München 2007, S. 115ff. 38 Goethe: Das römische Carneval, S. 230f. 39 Ebd., S. 225. 40 Ebd., S. 226. 41 Ebd., S. 230f.

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1780 verpflichtet war. Den überkommenen höfischen Formbeständen setzt der Mummenschanz härter zu als Goethes frühere, für den Weimarer Hof erstellte Maskenarbeiten, denen es noch gelungen war, die Festgattung des Maskenzugs in ein bürgerliches Zeitalter hinüberzuretten und die Spannungen zwischen bewegter Menge und höfischer Formation so zu moderieren, dass die Grundform des Maskenzuges erhalten blieb. Im unübersichtlichen Bühnenraum („weitläufige[r] Saal mit Nebengemächern“42) werden die auf Distanz berechneten höfischen Auftrittsprotokolle durch den Andrang unbestimmter, unfasslicher und führungsloser Personenmengen zerstört. Während sich jedoch Das römische Carneval im Zeichen des Lebens dekomponierte, das keine rigorosen Abteilungen mehr zuließ, untersteht die körperlose arrivance der Geister in Faust II einem Protokoll, das die Bewegung gespenstisch werden lässt. Anders als das Volk, das sich im Karneval leiblich aneinanderdrängte, wird der im Mummenschanz in Erscheinung tretenden Pluralität eine „ungesicherte Seinsweise“43 zugeschrieben, in der sich allegorische Figurationen nicht mehr dauerhaft stabilisieren. Damit wird eine Grundregel aufgehoben, die für das höfische Maskenwesen wie für die Inszenierung allegorischer Elemente insgesamt bindend gewesen war: die Regel, die es laut Angus Fletcher untersagte, allegorische Sinnbereiche untereinander zu vermischen und die Trennschärfe ihrer Bedeutungen im Kontakt mit anderen Bedeutungsfeldern aufs Spiel zu setzen.44 Wenn sich also bereits die ersten Maskengruppen der Kränze, der Grazien oder der Gärtnerinnen „mischen“, „gesellen“45 und einander umgeben, wird das Entmischungsgebot, das die Zeremonialvorschriften zum allegorischen Maskenzug angeleitet hatte, außer Kraft gesetzt. An die Stelle trennscharfer Bedeutungsgestalten treten Vielheiten, an die Stelle rigider Teilungen semiotische Prozesse, in denen Paarung und Sonderung ineinandergreifen. Wenn es heißt: „Ich sehe schon, wie sie sich schaaren,/ Sich schwankend sondern, traulich paaren“ (V. 5081f.) zeigt sich ein Gespenstischwerden des Auftrittsgeschehens im Zusammenhang des Mummenschanz.46 In dem Vers „Zudringlich schließt sich Chor an Chor.“ (V. 5083) kommen zugleich 42 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: MA 18.1, S. 103-351, hier S. 119. (Belege hierzu werden im Folgenden in Klammern im laufenden Text unter Angabe der Verse nachgewiesen.) 43 Michael Gamper u. Peter Schnyder (Hg.): Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper, Freiburg i.Br. 2006, S. 12 (Einleitung, S. 7-28). 44 Vgl. Fletcher: Allegory, S. 87. 45 Goethe: Faust, in: MA 18.1, S. 123. 46 Das Auftrittsgeschehen des Mummenschanz kann mit Cornelia Zumbusch auch als dämonisch beschrieben werden. Vgl. dies: Dämonische Texturen. Der durchkreuzte Wunsch in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe, hg. v. Lars Friedrich, Eva Geulen u. Kirk Wetters, Paderborn 2014, S. 79-96, hier S. 80ff.

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die Krisensymptome zur Sprache, welche die Möglichkeit eines durch den Auftritt konstituierten Dramas prinzipiell in Frage stellen. Nicht zufällig spielen sie inmitten des Maskenfestes auf die antike Gründungsszene tragischen Auftretens an. Wenn bezüglich des Maskentreibens von der ‚Zudringlichkeit’ des Chores die Rede ist, wird nicht weniger als der Gründungsakt der Tragödie selbst suspendiert. Mit der Vermehrung der Chöre auf und hinter der Szene nimmt die Faust-Tragödie eine weitere anti-aristotelische Wendung. Sie lässt die Allegorien in Chören untergehen, während Aristoteles die Tragödie mit dem Hervortreten des Chorführers aus dem dithyrambischen Chor beginnen ließ.47 Das im Mummenschanz geltende Auftrittsprotokoll ist demnach ein Protokoll der ‚Zudringlichkeit‘, das in der Missachtung aller Grenzen und Aufstellungsregeln das Hinten nach vorne kommen lässt und zugleich den Körper als Artikulationsmedium des Auftritts ausschaltet. Die ihm entsprechende Dramaturgie entfaltet sich im Wortfeld des „Drangs“, „Drängens“, „Vor- und Zudringens“ (vgl. V. 4791), das den potentiellen Auftrittsraum vom Grund her überschwemmt und den Einzelnen bei seinem Hervortreten wieder in eine gespenstische Menge einwebt. Ist die Voraussetzung des Auftritts die Einräumung oder die Raumschaffung („Die Winde machen Raum“48), so wird der Erscheinung hier der Raum ihrer Wirkung streitig gemacht. Der Herold am Ende An keiner Stelle wird der Zusammenbruch des höfischen Auftrittsprotokolls so deutlich wie an der Figur des Herolds, der seiner Amtsdefinition nach für dasjenige zuständig ist, was eingangs als management of arrivance bezeichnet wurde. Das schrittweise Versagen des Zeremoniells wird am Versagen des maître demonstriert, dem die Leitung und Erläuterung des Maskenzuges übertragen ist. Wenn Goethe die Szene des Mummenschanz mit einer Heroldsrede beginnen lässt, bewegt er sich zunächst noch auf dem zeremonialwissenschaftlichen Kenntnisstand des 18. Jahrhunderts, das dem Herold eine führende Rolle bei der Realisierung eines Festzuges zuwies: Wo ein Herold die Regie übernimmt, wird die Ankunft einer Person in der Sphäre des Hofes festlich bezeichnet. Durch den Souverän selbst eingesetzt, regelt, beaufsichtigt und annonciert er das Hervortreten einer oder mehrerer Personen an einer durch den Zeremonialapparat vorgesehenen Stelle, er überwacht und vollzieht die Zeremonien des Kommens und Gehens, übernimmt den annoncement und wahrt die ‚Staatshöflichkeiten‘ im Verkehr der Gäste. Das Amt des Herolds umfasst außerdem die Aufgabe der Zeichenidentifikation und 47 Vgl. Einleitung S. 22. 48 Johann Wolfgang Goethe: Planetentanz, in: MA 2.1, S. 514-518, hier S. 514.

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der namentlichen Ankündigung. Heroldswissen ist Wappenwissen und genaue Kenntnis der herrschenden Hierarchie, die ihn dazu befähigt, Ankommende an ihren Zeichen zu erkennen.49 Er besitzt die Fähigkeit, Rätselgestalten zu entziffern und einer ratlosen Öffentlichkeit zu erläutern. Sein Ort ist die Schwelle, an der sich die arrivance unbestimmter Gäste in ein strukturiertes Defilee klar bezeichneter Personen verwandelt. Der Herold agiert demnach als Schwellenhüter, der den Zustrom der Vielen reguliert, die Unbekannten identifiziert und die Einzelnen durch namentlichen Aufruf absondert und anordnet: „Seit mir sind bey Maskeraden/ Heroldspflichten aufgeladen,/ Wach‘ ich ernstlich an der Pforte,/ Daß euch hier am lustigen Orte/ Nichts Verderbliches erschleiche,/ Weder wanke, weder weiche.“ (V. 5495f.) Bedürfte es einer Bestätigung, dass Bühnenränder vor unwillkommenen Eindringlingen gesichert werden müssen und Wachsamkeit am Übergang zur offstage angesagt ist, so wäre sie durch diese Worte des Herolds erbracht. Sein Auftrag lautet auch bei Goethe, den Auftrittsvorgang zu kontrollieren und das Eindringen der ‚questionable shapes‘ abzuwehren, die sich hier wie in Shakespeares Hamlet an der Bühnengrenze versammeln. Diese Amtsbeschreibung lässt die Krise des Maskenzugs im Mummenschanz nur umso deutlicher zu Tage treten. Unter dem Andrang der Menge scheitert der im Herold verkörperte Kontrollauftrag. Weder ist dieser in der Lage, das Gedränge zu beherrschen, noch unter den Vielen den Einzelnen zu unterscheiden. Die höfischen Auftrittsformen, die diesen in Rang und Namen bezeichnen, nivellieren sich in Metaphern kollektiven Einströmens. Inmitten des zeremoniellen Debakels bereitet sich ein neues Regime vor, das die zurückgedrängten Mengen in vagen Aggregationen in den Vordergrund einlässt. Zunächst bei der Ankündigung der Dichter erweist sich die Ohnmacht der heraldischen Instanz. Die Zeit der glänzenden Individuen, die raumnehmend in Erscheinung treten und im Auftritt ihre Rivalen zur Seite drängen, ist vorüber. Im Mummenschanz überwiegen geringe bis verschwindende Verdeutlichungsgrade und Formen der Nivellierung des Hervorragenden, die das Erscheinungsbegehren des Einzelnen ungestillt lassen. Sogar die glänzende Gestalt des Dichters wird in kränkender Weise pluralisiert. Folgende Anweisung ist mehr als nur Literatursatire, sie kennzeichnet vielmehr die schwachen Auftrittsformen einer bürgerlichen Gesellschaft, die auch unter Dichtern keine spektakulären Persönlichkeiten mehr hervorbringt und im freien Wettbewerb der Vielen den Triumph des Einzelnen verhindert:

49 „Sie urtheilen nach den Schilden, Wapen, Geschlechts-Registern und allem, was die Ehre der Adelichen Häuser belanget.“ (von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft, S. 742).

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Der Herold. Kündigt verschiedene Poeten an, Naturdichter, Hof- und Rittersänger, Zärtliche wie Enthusiasten. Im Gedräng von Mitbewerbern aller Art läßt keiner den anderen zum Vortrag bringen.50

Was hier auf die Bühne dringt und die perspektivische Raumordnung flutet, sind die Schatten einer gespenstischen Population. Zeigte sich das Volk des römischen Karnevals noch als ein bewegtes, produktives, zugleich aber gefasstes und pulsierendes Ganzes, pervertiert es sich an der entgrenzten Schwelle der Kaiserpfalz in „gespenstische[s] Gezücht“ (V. 5487). Im weiteren Verlauf des Aktes verlieren Auftritte ihre Form. Die höfische Entrée wird zusehends durch unbestimmte Formen der arrivance ersetzt, die sich an Raumgrenzen und Auftrittsschwellen nicht mehr bindet, die sich an Regeln nicht mehr hält, in gemessene Schritte nicht mehr umsetzen lässt und durch heraldische Ankündigungen weder benannt noch bewältigt werden kann: Doch ich fürchte, durch die Fenster Ziehen luftige Gespenster, Und von Spuk und Zaubereien Wüßt‘ ich euch nicht zu befreien, Machte sich der Zwerg verdächtig, Nun! Dort hinten strömt es mächtig. (V. 5500ff.)

Spätestens an dieser Stelle gerät, was ankommt, unter ontologischen Verdacht. In der fortschreitenden Dekomposition der Auftrittsprotokolle wird das höfische Theater der Anwesenheit zu einem Theater der Abwesenden, die actes de présence zu actes d’absence. Das Geisterprotokoll zersetzt alle Vorrichtungen und Anstalten, die der Erzeugung von Evidenz und der Inszenierung von Anwesenheit dienten: Es zerstört den perspektivischen Raum, der die exakte Positionsbestimmung des Einzelnen ermöglichte, und es zerstört den Schleusenmechanismus der Pforte, indem es seine Populationen an unbestimmter Stelle51 erscheinen lässt. „Out of joint“52 nennt Jacques Derrida mit Shakespeare solche Räume, die sich für gespenstische Zuwanderungen öffnen und infolge schlechter Fügung durchlässig werden. Präsenz lässt sich nur in geschlossenen und strukturierten Räumen mit klaren Grenzen erzielen, sie ist an eine Rahmung gebunden, in der sie sich realisieren kann, während der ‚weitläufige Saal‘, in dem der Mummenschanz statt50 Goethe: Faust, in MA 18.1, S. 126. Zur Verbürgerlichung höfischer Zeremonialformen vgl. Patrick Primavesi: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit um 1800. Frankfurt a.M. 2008, S. 103-109. 51 Vgl. Walter Benjamin: Ein Gespenst, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV.1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übersetzungen, hg. v. Tillmann Rexroth, Frankfurt a.M., 1972, S. 278-280: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, hier S. 279: „Den Ort, an dem es [das Gespenst; J.V.] sich zu schaffen machte, hätte ich schwerlich schildern können.“ 52 Jacques Derrida: Marx’s Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übers. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt a.M. 1996, S. 47.

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findet, keine dieser Voraussetzungen erfüllt. Das Theater, das auf wirksamen Zugangsbeschränkungen gründete und Zudringliche erfolgreich abwehren konnte, wird nun zu einem für Einströmungen offenen Ort, der keine festen Auftrittsstellen mehr vorsieht. Schnelles Geld: Plutus Das endgültige Ende seiner Amtszeit ist für den Herold jedoch dann gekommen, als ein neuer Souverän auf der Szene auftaucht, mit dessen Ausdeutung er überfordert ist53: „Die Bedeutung der Gestalten/ Möcht’ ich amtsgemäß entfalten./ Aber was nicht zu begreifen,/ Wüßt‘ ich auch nicht zu erklären,/ Helfet alle mich belehren!“ (V. 5506ff.) Auf dem Höhepunkt des Mummenschanz hält ein geisterhaftes Herrschaftsprinzip Einzug, das sich mit Hilfe der heraldischen Suchformeln des Ancien Régime nicht mehr entschlüsseln lässt. Als der Gott des Reichtums als „Prachtgebilde/ Hier auf dem Wagenthrone“ (V. 5552f.) einfährt, werden die Vorzeichen des allegorischen Maskenzugs endgültig verkehrt und die Prämissen einer Auftrittskultur sichtbar, die von der alten nur den Schein beibehält. So folgt Goethe durchaus dem Zeremonialprotokoll des höfischen Maskenzuges, wenn er die Wertgestalt des Geldes triumphal auf der Szene einführt. Durch den festlichen Schmuck „in’s Göttliche verzeichnet“54, scheint Plutus’ Einzug zunächst alle Kriterien eines Triumphauftrittes zu erfüllen. Zweifellos schließt Goethes Plutus, der „in Prunk daher“ (V. 5570) kommt und volle Auftrittsmacht beansprucht, an die propagandistischen Formen der Triumphalrepräsentation an, die seit der Frühen Neuzeit der Verherrlichung feudaler oder absolutistischer Fürstenregime dienten. Von vornherein wird jedoch deutlich gemacht, dass auch Plutus Teil des gespenstischen Stroms ist, der in den ‚weitläufigen Saal‘ einfließt. Diente das Triumphalprotokoll der Demonstration von Raummacht und Imperium, vergrößerte es den Abstand zwischen Triumphator und der ihm unterworfenen Menge ins Unermessliche, werden solche Abstände im gespenstischen Bild des Plutus getilgt. Zwar erscheint Plutus im Ornat des Siegers, doch fehlt seinem Prunkauftritt die performative Kraft, die dem triumphalen Auftritt des vormodernen Souveräns zugeschrieben wurde. Seine Insignien üben keine Zeichengewalt, sein Auftritt nimmt keinen Raum im Raum ein.55 Das herannahende Ge53 Vgl. Schlaffer: Faust, S. 74. 54 Heinrich von Kleist: Amphitryon. Ein Lustspiel nach Molière, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 1: Dramen 1802-1807, hg. v. Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba, Frankfurt a.M. 1991, S. 377-461, hier S. 422 (V. 1191). 55 Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals, 3. Aufl., Zürich 2011, S. 80. Zur fragwürdigen Souveränität der Faust-Auftritte vgl. Thomas Weitin: Freier Grund. Die Würde des Menschen nach Goethes Faust, Konstanz 2013, S. 90.

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spann des Plutus ist nicht mehr res extensa oder raumnehmender Körper, es ist eine Phantasmagorie, die, wie der Verweis auf die Laterna magica zeigt, den höfischen Erscheinungsraum entwirklicht: Seht ihr’s durch die Menge schweifen? – Vierbespannt ein prächtiger Wagen Wird durch alles durchgetragen; Doch er theilet nicht die Menge, Nirgend seh‘ ich ein Gedränge. Farbig glitzert’s in der Ferne, Irrend leuchten bunte Sterne, Wie von magischer Laterne, Schnaubt heran mit Sturmgewalt! Platz gemacht! Mich schaudert’s! (V. 5511f.)

Plutus nähert sich, ohne die Menge zu teilen. Die beiden Akte, in denen sich triumphale Auftrittsmacht bekundet: der Akt der Raum- oder Mengenteilung sowie der Akt des flectere, der Menschenbeugung im Angesicht des splendor, also die Akte der Überwältigung und des Schneisenschlags laufen gleichermaßen ins Leere. Anstatt zur Seite zu weichen, durchsetzt die Menge die Gestalt des Souveräns, der sie durchquert. Unter den gespenstischen Bedingungen dieses Auftritts dringt der Grund in die Figur, die sich von ihm abtrennen und glanzvoll in Erscheinung treten sollte. Wenn das Verhältnis von Figur und Grund in gefestigten monarchischen Ordnungen zugunsten der Figur entschieden wurde, werden mit dem Einzug Plutus’, d.h. eines für alle zugänglichen Reichtums alle Distinktionen hinfällig. Plutus geht aus der Menge hervor, ohne sie hinter sich zurückzulassen. Seine Auftrittsbewegung trifft auf keinen körperlichen Widerstand. Seine schnelle Annäherung: „Schnaubt heran mit Sturmgewalt“ (V. 5519), ist eine im Gedränge unwahrscheinliche, wenn nicht überhaupt unmögliche Auftrittsform, die die ontologische Fragwürdigkeit des Ankommenden gerade durch ihre Geschwindigkeit sichtbar macht. Sein ‚Schweifen‘, von dem vorab die Rede ist, situiert ihn in demselben dämonischen Auftrittsraum wie den Pudel, der sich im ersten Teil „schweifend“56 aus dem fond vague annäherte. Außerdem macht die schnelle Annäherung des Plutus den von ihm gebrachten Reichtum verdächtig. Während das auf redlichem Weg verdiente Geld Schwerkraft erzeugt und den Tross verlangsamt, mit dem es sich annähert, weist die schnelle und leichte Annäherung der Gruppe auf eine diabolische, unsaubere und mit dem Unterweltsgott Pluto assoziierte Reichtumsquelle hin. Plutus’ Entrée nährt den Verdacht, dass das Geld, das er bringt, ebenso scheinhaft ist wie er selbst.57 Denn 56 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, in: MA 6.1, S. 545-673, hier S. 565ff. 57 Francis Bacon: The Essayes or Counsels, Civill and Morall, in: The Oxford Francis Bacon, hg. v. Michael Kiernan, Bd. XV, Oxford 2000, S. 109f.: „The poets faigne, that when Plutus (which is

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Abb. 23: Andrea Andreani nach Andrea Mantegna, Der Triumph Cäsars (1484-94/ 1599).

wie das Papiergeld, das wenig später auf der Bühne Einzug hält, sind auch die Figuren nur mehr die Imagines einer verlorenen oder allenfalls versprochenen Wertsubstanz. Wie das Papiergeld, das sowohl Zahlung wie uneingelöstes Zahlungsversprechen ist, sind auch die chimärischen Figuren des Triumphgespanns Projektionen einer erst für die Zukunft in Aussicht gestellten Fülle. Folgerichtig führt der moderne Gott des Reichtums keinen Reichtum mit sich: Während die Triumphatoren der vorkapitalistischen Welt mit Pomp verschwenderische, auf Feldzügen erbeutete Reichtümer nachhause führen, die ihre Bewegung sichtlich verlangsamen, erscheint Goethes Plutus ohne Tross und in beschleunigter Geschwindigkeit auf der Szene. Ein Vergleich mit Goethes Beschreibung der Bilderfolge Cäsars Triumph von Andrea Mantegna lässt erkennen, wie weit sich der Plutus des Mummenschanz von seinen triumphalen Vorbildern entfernt hat (Abb. 23). Gegen Mantegnas Riches) is sent from Jupiter, he limps and goes slowly; but when he is sent from Pluto, he runs and is Swift of Foot. Meaning that Riches gotten by Good Means and Just Labor, pace slowly; But when they come by the death of Others, (As by the Course of Inheritance, Testaments, and the like), they come tumbling upon a Man. But it mought be applied likewise to Pluto, taking him for the Devill. For when Riches come from the Devill (as by Fraud and Oppression and unjust Means), they come upon Speed. The Waies to enrich are many, and most of them Foul.“

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Darstellungen gehalten, die als Vorbild für den Maskenzug in der Kaiserpfalz gelten58, werden die Veränderungen der triumphalen Zeichenstruktur deutlich, die den Mummenschanz von seinen Vorläufern unterscheiden. Goethe zufolge betont Mantegna das Element der copia oder der Fülle und das Gewicht der Schätze: Die Güter des Trosses lasten schwer auf den Schultern der Träger und vermehren zugleich das Gedränge. Die Rede ist von „dickbäuchigen Urnen, angefüllt mit aufgehäuften Münzen, und auf denselben Tragegestellen Vasen und Krüge; auf den Schultern lasten diese schon schwer genug, aber nebenbei trägt jeder noch ein Gefäß oder sonst etwas Bedeutendes.“59 Im Ganzen wird das Bild eines schwergängigen und kaum zu überblickenden Zuges vermittelt, der sich unter dem Gewicht der mitgebrachten Reichtümer kaum von der Stelle bewegt. Im Unterschied dazu müssen die Güter, die Goethes Plutus der Menge darbringt, erst hervorgebracht werden. Der Schwerkraft sind sie nicht unterworfen. Aus der Kiste, die er mitbringt, quellen Schätze ohne Maß, ohne Unterschied, ohne Grenzen und ohne Gewicht. Sie lösen sich auf, sobald man ihrer habhaft wird: „Es thut sich auf! schaut her! In ehrnen Kesseln/ Entwickelt sichs und wallt von goldenem Blute,/ Zunächst der Schmuck von Kronen, Ketten, Ringen;/ Es schwillt und droht ihn schmelzend zu verschlingen.“ (V. 5711f.) Das Fehlen des Trosses signalisiert, dass die Zeit der Schatzbildung vorbei ist. Die Fülle, die sich mit Plutus‘ Auftritt einstellt, ist auch deshalb phantasmagorisch, weil sie mit den Wertformen der Vormoderne auch ihre festkörperlichen Wertträger hinter sich zurücklässt. Körperliche Konsistenz weicht nun den drastisch verringerten Körperdichten anderer und stellvertretender Trägerschaften. Auftrittsformen werden durch Erscheinungsformen abgelöst, die keine Schritte benötigen.

58 Gert Mattenklott: Faust II, in: Goethe-Handbuch, Band 2: Dramen, hg. v. Theo Buck, Stuttgart 1997, S. 391-477, hier S. 404ff. 59 Johann Wolfgang Goethe: Julius Cäsars Triumphzug, gemalt von Mantegna, in: MA 13.2, S. 119147, hier S. 125.

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III. TRIUMPH UND REISSENDE BEWEGUNG

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Vorbemerkung: Im Kräftefeld des Krieges

„Mit unbemerkten Schritten“ Im Jahr 1806 kommt es zu einer Unterbrechung des unter der Leitung Goethes stehenden Weimarer Theaterbetriebs. Vor der Schlacht von Jena-Auerstedt, die in unmittelbarer Nähe Weimars stattfindet, verlassen der Fürst und seine Familie die von den Franzosen bedrohte und wenig später eingenommene Stadt. Unter dem Druck der französischen Streitkräfte scheint die staatliche Ordnung Weimars samt ihren Befestigungen nachzugeben. Mit den Plünderern, Flüchtenden und Verwundeten, aber auch mit Napoleon selbst dringt der Krieg ungehindert in die Stadt und bis in Goethes Schlafzimmer vor. Die Wachen sind von den Toren zurückgezogen, die Grenzkontrollen ausgesetzt. Das Fürstentum sieht sich den Wirkungen einer unwiderstehlichen Kriegsgewalt ausgeliefert, die sich in Napoleon inkarniert. Der in Weimar verbliebenen Fürstin Louise tritt dieser mit den Worten entgegen: „Ich bedaure Sie. Ich werde Ihren Mann (=den Herzog von Weimar) zermalmen“1. Der Eroberer Weimars stilisiert sich selbst zum Elementarereignis: Er sieht sich als die Verkörperung einer Energie, die bei ihrer Ankunft fürstliche Festkörperlichkeit in „Staub oder Brei“2 verwandelt. Zwar wird Napoleon von seinen Zeitgenossen noch mit dem vertrauten Namen des Despoten bezeichnet, als sei er nichts anderes als die machiavellistische Fehlentwicklung eines absoluten Monarchen, zugleich aber gilt er auch ihnen als die Inkarnation einer über die Grenzen des Einzelstaates hinweggehenden revolutionären Kraft, die in der politischen Begrifflichkeit der alten Welt nicht mehr zu fassen ist. Ein Jahr nach der Niederlage von Jena-Auerstedt wird der stillgelegte Theaterbetrieb wiederaufgenommen und die Rückkehr der geflohenen Fürsten nach Weimar in konventioneller Form gefeiert. Aus diesem Anlass verfasst Goethe ein Vorspiel nach klaren, auf Wiederherstellung abzielenden Vorsätzen. Acht Jahre vor dem Wiener Kongress, der die durch Napoleon zerschlagenen Monarchien restaurieren und ihre Fürsten wieder in ihre Rechte einsetzen wird, nimmt er auf der neu eröffneten Bühne den Friedensschluss vorweg. Die Fürstenherrschaft soll, wenn auch nicht ohne Einschränkungen, auf dem Theater wieder legitimiert, die durch den Einmarsch der Franzosen zerstörte Ordnung wiedererrichtet werden. Erklärter Zweck des Vorspiels ist es, einer boden- und grundlos gewordenen Welt wieder 1 2

Jacques Thomas Vermeur: Das Echo der Säle von Paris oder merkwürdige Erzählungen und unbekannte Anekdoten von Napoleon, seiner Regierung, seiner Umgebung, seinem Hofe und seinen Beamten, Leipzig 1816, S. 40. Eintrag: Zermalmen, in: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, Leipzig 1956, Sp. 722-725, hier Sp. 723.

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einen festen Boden einzuziehen und den durch den Einbruch weltgeschichtlicher Kräfte zerstörten Auftrittsraum inmitten des Krieges zu restaurieren. Eingangs lässt Goethe jedoch zunächst die Kriegsgöttin auftreten, die in der allegorischen Form der Selbstauskunft die Verheerungen benennt, die ihr Erscheinen bewirkt. Der Krieg, der in allegorischer Verdichtung auf der Bühne erscheint, beseitigt alle Orientierungen, welche die Ordnung des Auftritts garantieren: oben, unten, rechts, links. An die Stelle eines klar strukturierten Bühnenrahmens, in den hineinzutreten möglich wäre, setzt sich ein erhabener Bewegungsraum, der in den unverbundenen Worten „Wald. Fels, Meer. Nacht. Ferner Donner“3 keine räumliche Syntax mehr zur Verfügung stellt, die ein geordnetes Übertreten in die Sichtbarkeit gewährleisten könnte. Es ist ein unsichtbarer, nächtlicher Auftritt, der die Kriegsgöttin in „unbemerkten Schritten“ und „durch nachtbedeckte Felder“ auf die Bühne führt. Prägnant zeichnen sich hier die Grundzüge eines Auftrittsprotokolls ab, das durch formsprengende Energie und nicht durch die Anschaulichkeit der Person bestimmt ist und in der Stärke seiner Bewegung das Theater gefährdet, auf dem es gilt: KRIEGESGÖTTIN Durch dieser nachtbedeckten Felder still Gebreit, Mit unbemerkten Schritten, stürm‘ ich rasch heran, Ob Jemand widerstünde meiner Kraft. Noch aber find‘ ich Niemand. Ja, behende soll Dies Schwert mir Raum verschaffen, wenn sich mir Die aufgeschreckte Menge kühn entgegenstellt: Denn diesem Stahle widersteht kein Sterblicher. […] Schon reihenweis‘ liegt ausgestreckt Getötetes, Wie emsig Mähenden das Blumengras. Ich aber, unaufhaltsam schreite kräftig vor, Dem Glücksgestirn entgegen, das mich leitete […].4

Die der Kriegsgöttin zugeschriebene Auftrittshandlung ist das Mähen – eine Extremform des flectere, einer nunmehr tödlichen Niederbeugung, in der sich Auftrittsmacht generell und hier in besonders gewalttätiger Weise bezeugt. Ihre Bahn ist von ‚Getötetem‘ gesäumt, die artikulatorische Funktion des Auftritts aufgehoben und die Menschenform auf ein totes Neutrum zurückgeführt. Der Anfangsimpuls des Vorspiels geht von einem ikonoklastischen Auftritt aus, in dem der Bildersturm Gestalt annimmt: Was sichtbar war, wird seiner Form und Kenntlichkeit beraubt. Zugleich aber setzt das Vorspiel der Vernichtung eine Grenze. Der Kriegskraft wird dadurch Einhalt geboten, dass sich ihr die Majestät entgegenstellt und den Bewegungsraum des Krieges zurück in eine höfische Bühne verwandelt. Nachdem al3 4

Johann Wolfgang Goethe: Vorspiel zu Eröffnung des Weimarischen Theaters am 19. September 1807 nach glücklicher Wiederversammlung der Herzoglichen Familie, in: MA 9, S. 235-243, hier S. 235. Ebd., S. 235 (V. 1ff.).

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les zusammengestürzt ist und „der Erde fester Boden“5 zu schwanken beginnt, stellt sich in einer plötzlichen Verwandlung ein „königlicher Saal“ her, in dem sich sogleich ein Prunkauftritt ereignet: „DIE MAJESTÄT (im Krönungsornat) Sicher tret‘ ich auf und glanzumgeben.“6 Allein dem solaren Auftrittsprotokoll des Absolutismus wird zugetraut, dem unaufhaltsamen Vorschreiten der Kriegskräfte zu widerstehen und aus der Turbulenz des Krieges heraus wieder eine Form zu stiften. Die ordnungsschaffende Funktion des Herrscherauftritts wird noch einmal – wenngleich im vollem Bewusstsein seiner Unglaubwürdigkeit – für die Wiedereröffnung des Theaters nutzbar gemacht. Im Niedergang aller Orientierungen kann einzig das höfische Entrée das Chaos beherrschen. Der Schritt erschafft erst die Bühne, die er betritt. Energetische Katastrophen In der Gattung der Tragödie jedoch ist unaufhaltsam, was sich im höfischen Vorspiel noch aufhalten ließ. Goethes theatrale Intervention markiert die Stelle, an der sich die Auftrittsbewegung in eine reißende Kraft transformiert, ohne dass ein Zeremoniell wiederherstellen könnte, was diese mit sich nimmt. Im Zentrum des dritten Teils dieser Untersuchung stehen Auftritte von so hoher energetischer Intensität, dass sie die Figur, die sie vorzeigen, zu vernichten – napoleonisch gesagt: zu ‚zermalmen‘ – drohen, zugleich aber auch das zerstören, was sich ihnen in den Weg stellt. Auftritte dieser Art nehmen Formen des Heranwälzens an, sie ereignen sich als gewaltsames Vorkommen und steigern sich zu Einbrüchen, welche die Bühnengrenzen durchschlagen und den theatralen Spielraum vom Grund her dynamisieren. Das Gleichgewicht zwischen Form und Bewegung, das sich in Goethes Protokollen selbst regulierte, scheint nun endgültig zerstört. Die Bühne wird zum Schauplatz eines katastrophischen Krafteinbruchs. Wenn die Gattung der Tragödie um Überschreitung und Sturz kreist, ist diese Überschreitung nun an ein übermächtiges, exzessives Kraftaufkommen geknüpft, dem weder Bühnenverhältnisse noch Figurengrenzen standhalten. Die Tragödien, die solche Krafteinbrüche inszenieren, können als energetische Katastrophen beschrieben werden: erstens, weil sie das fragile Subjekt im Moment seiner Selbstexposition mit sich fortzureißen drohen, und zweitens, weil sie den Grund selbst stürmisch nach vorne treten lassen. Die Lebenskräfte, deren produktive Seite Goethe nutzte, um aus dem verhängnisvollen Vollzugszusammenhang der Tragödie zu entkommen, werden nunmehr von ihrer zerstörerischen Seite her sichtbar. Schon Schillers Überlegungen Über das Erhabene bestimmen das Tragische als eine energetische Krisenlage. Sie exponieren den Menschen „in einem Reich der 5 6

Ebd., S. 237 (V. 57). Ebd., S. 237 (V. 83).

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Kräfte“7, die „alle ihm überlegen sind, und den Meister über ihn spielen“.8 Auch bei ihm sind es „Lebenskräfte“, in der „die unsrige[n] in nichts verschwinde[n]“9. Wenn reguläre Auftritte stets Kraft moderieren, indem sie die Figuren langsam oder schnell, presto oder maestoso hervortreten lassen, geraten sie nun unter der Einwirkung unbeherrschbarer Gewalten an die Grenzen ihrer Fassungsmöglichkeiten. Das Auftrittsprotokoll, in dem die Kraft das Personenbild entstellt und beschädigt, entspricht den Grundlinien eines radikal dynamisierten Tragödienmodells, das hier am Beispiel Kleists und Nietzsches vorgestellt werden soll. In ihm wird eine Auffassung wirksam, die das tragische Individuum preisgibt, ohne dabei noch auf das Zeichenrepertoire zurückgreifen zu können, das den Auftritt im höfischen Feld organisierte. Triumphe im fortdauernden Krieg Als Protagonist einer solchen Dramaturgie steht Heinrich von Kleist im Zentrum der folgenden Studien. In seinen Kriegsdramen, insbesondere in Penthesilea, aber auch in Robert Guiskard können Auftritte im Kräftefeld des Krieges beobachtet werden. Erneut sind es die napoleonischen Kriege, die den hier gesetzten Hintergründen ihre historische Signatur verleihen. Das dramatische Geschehen richtet sich an der Frage aus, inwieweit der Krieg noch Deutlichkeit und Glanz eines Auftritts gewährleisten kann bzw. welche Auftrittsformen vor dem tumultuarisch entregelten Hintergrund vorstellbar sind, den Kleist in seinen Stücken aufspannt. Es geht aber auch um die Frage, inwieweit dem übermächtigen Gegner Preußens, der die europäischen Staaten durch sein triumphalistisches Auftreten provozierte, zumindest auf symbolpolitischer Ebene Einhalt geboten werden konnte. Kleists Antitriumphalismus ist immer auch anti-napoleonisch. Erneut ist es ein starkes – und diesmal militärisches – Auftrittsprotokoll, das im Geltungsbereich des Tragischen dekonstruiert wird. Zugleich zeigen sich die beiden komplementären oder vielmehr kehrseitig aufeinander bezogenen Auftrittsfacetten, die sich hier – wie vor jedem tragischen Grund – realisieren lassen. Auch bei Kleist bleiben Pathos und Triumph zuletzt ungeschieden. Passio und splendor, Leiden und rücksichtslose Raumnahme konvergieren auch in seinen Texten in widersprüchlichen, in sich polarisierten Auftrittsformen. Der Einbruch reißender Kräfte (Penthesilea), aber auch ihr gänzliches Ausbleiben (Robert Guiskard) untergraben in jeweils unterschiedlicher Weise 7 8 9

Friedrich Schiller: Über das Erhabene, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. v. Rolf-Peter Janz, Frankfurt a.M. 1992, S. 822-840, hier S. 822. Ebd. Ebd., S. 827.

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das Zeremoniell des Prunkeinzugs, das in seiner ursprünglichen Bedeutung das Ende eines Kampfes zelebrierte. Kleists Triumphe bleiben Phantasmen: „potenzierte[ ] Vorwegnahme[ ]“10 eines unmöglichen Sieges, der einen triumphalen Moment lang darüber hinwegtäuscht, dass der Kampf im Hintergrund fortdauert. Dionysisches Auftrittsprotokoll Mit dieser tragischen Durchkreuzung von Triumphalität antizipieren Kleists Kriegstragödien eine Tragödientheorie, die den Prozess tragischer Individuation vor einem turbulenten Kräftefeld ansiedelt. Schopenhauer und allen voran Nietzsche fassen ihn als einen von Kraftentwicklungen gefährdeten und zugleich ermöglichten Vorgang der Absonderung bzw. Individuation, der sich sowohl in der Tragödie selbst wie in ihrer Theorie in ein krisenhaftes Figur-und-Grund-Verhältnis übersetzt. Je nachdem ob sich der Grund als ein Prinzip gewaltsamer Generativität, zeugender Potenz, anfänglicher Geburt oder zyklischer Vernichtung erweist, ob er etwas hervorbringt oder wieder vernichtet, wird sich auch das aus ihm hervorgehende Individuum jeweils anders realisieren. Dieses vielgestaltige Auftrittsprotokoll entfesselter Kraft wird Nietzsche in seiner Schrift Die Geburt der Tragödie, die 1871/72 ebenfalls vor Kriegshintergrund entsteht, dionysisch nennen und zur Grundlage einer Tragödientheorie machen, die ganz auf das Erscheinen eines Gottes ausgerichtet ist. Der rasende Dionysos, der sich der apollinischen Satzung entzieht, der triumphierende Dionysos, dessen Wagen von Panthern und Tigern gezogen wird, der leidende Dionysos Zagreus, der von den Titanen zerstückelt wird, bilden einen einzigen mehrgestaltigen, gewaltsamen und von Widersprüchen durchzogenen epiphanischen Zusammenhang, der sich zu einem komplexen dionysischen Auftrittsprotokoll verdichtet.11 Dionysos ist die Figur, in welcher der Grund selbst in Erscheinung tritt, aber auch der Grund, der die Figur zurückfordert, in der er sich inkarniert hat. Auftritt und Ankommen gestalten sich damit als triumphaler adventus wie auch als formsprengende Gewaltzumutung. Nietzsches Die Geburt der Tragödie protokolliert eine epiphanische Form, in der Figuration und Defiguration einander unauflöslich durchdringen und unaufhörlich widerstreiten. Die in diesem Teil versammelten Studien wollen Kleists Kriegsdramen und Nietzsches Geburt der Tragödie über den Nenner eines solchen Auftrittsmodells zusammenbringen und in einem weiteren, abschließenden Schritt darlegen, wie sich die tragische Krise weg von der Handlung in den Moment des Auftritts verlegt. 10 Beda Allemann: Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell, aus dem Nachlaß hg. v. Eckart Oehlenschläger, Bielefeld 2005, S. 13. 11 Zu den verschiedenen Manifestationsformen des Dionysischen vgl. Karl Heinz Bohrer: Das Erscheinen des Dionysos. Antike Mythologie und moderne Metapher, Frankfurt a.M. 2015, S. 148ff.

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1. Entzauberter Triumph. Kleists Guiskard-Fragment und die Pestkranken von Jaffa

Auftritt im Katastrophenbild Kleists dramatisches Projekt Robert Guiskard richtet sich gänzlich am Auftritt eines ‚großen Mannes‘ aus. Nur als Fragment überliefert, bereitet es das Erscheinen eines Feldherrn vor, der sich als seines „Volkes Abgott“1 bezeichnen kann, und es bricht ab, nachdem dieser Auftrittsvorgang vollzogen und Guiskard aus einem lange verschlossenen Zelt heraus- und in die Öffentlichkeit der Bühne getreten ist. Die wenigen überlieferten Szenen des Entwurfs dramatisieren die Erwartung eines Volkes, das sich, von der Pest befallen, einzig von der Intervention seines Feldherrn Errettung erhofft. Exemplarisch zeigt Kleist, wie sich das Phantasma des ‚großen Mannes‘ in einer richtungslosen und von Chaos bestimmten Situation herausbildet, in welcher Weise sein Hervortreten imaginiert wird und welche Folgen zu beobachten sind, wenn ein Kollektiv, das sich einzig durch die Erwartung charismatischer Größe konstituiert, zuletzt der Sterblichkeit dieses Führers gegenübersteht. Die Eröffnungsszenen schildern die Agonie der Normannen bei der Belagerung von Konstantinopel und beobachten zugleich die politischen und dramaturgischen Dynamiken, die aus einer Situation der Führungslosigkeit entstehen. Gleich die Einzugsrede des Volkes, die bekanntlich der Ödipus-Tragödie des Sophokles nachgebildet ist,2 entwirft ein Katastrophenbild, das einen ungeordneten Haufen und eine verwüstete Stätte szenenbildlich zusammenschließt. Sie schildert ein Volk „in unruhiger Bewegung“3, das sich, von der Pest heimgesucht, in einem Zustand der Weg-, Form- und Richtungslosigkeit befindet. Der in der Rede evozierte Schauplatz gleicht den Wirbeln eines erregten Meeres: „Gepeitscht vom Sturm der Angst, und schäumt und gischt,/ Dem offnen Weltmeer gleich“ (V. 37f.). In dieser Situation nimmt die Erwartung des rettenden Feldherrn religiöse Züge an.4 Inmitten des Krieges und pestilenter Unordnung legt Kleists Eröffnung eine 1

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Heinrich von Kleist: Robert Guiskard. Herzog der Normannen, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 1: Dramen 1802-1807, hg. v. Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba, Frankfurt a.M. 1991, S. 235-283, hier S. 247 (V. 269). Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden im laufenden Text unter Angabe der Verse in Klammern belegt. Vgl. Ernest L. Stahl: Guiskard and Oedipus, in: Tulane Drama Review 6 (1962), S. 172-177, hier S. 176. Kleist: Robert Guiskard, S. 237. Vgl. Bernhard Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen. Experimente zum „Fall“ der Kunst, Tübingen 2000, S. 124.

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dramatische Struktur aus, die auf eine Epiphanie ausgerichtet ist. Dem ‚großen Mann‘, der in der Stunde des Dramas erwartet wird, werden in der sehnsuchtsvollen Vorwegnahme seines Erscheinens die Züge eines Deus ex Machina verliehen. Zumindest die ersten Szenen des Fragments antizipieren einen mit sakralen Zügen ausgestatteten Auftritt, wenn sie dem Moment zustreben, in dem, wie es der greisenhafte Vorredner der Normannen formuliert, „Guiskard uns erscheinen möge“ (V. 204). In der Rhetorik der Epiphanie rufen sie ein heilsgeschichtliches Deutungsschema auf, das den Auftritt eines höheren Wesens in Aussicht stellt und diesem jene Wirkungen zuschreibt, die Karl Löwith in seiner Studie zur Heilsgeschichte als „Erfüllung, Gliederung und Ordnung“5 bezeichnet hat. An diesen Auftritt allein knüpft sich die Hoffnung auf die Wiederkehr der Ordnung in einem Zustand völliger sozialer, politischer und physischer Desorganisation. Die Exposition des Robert Guiskard ist daher durch den Gestus einer „potenzierten Vorwegnahme“6, durch eine antizipatorische Anspannung bestimmt, die, wie Beda Allemann in seiner Studie zur Dramaturgie Kleists gezeigt hat, den dramatischen Konstruktionen Heinrich von Kleists eine immer wieder neu gewonnene Grundspannung verleiht. Dieser physischen Auflösung des normannischen Volkskörpers ist von Beginn an ein politischer Subtext beigegeben. Wie aus dem Einzugslied der Normannen hervorgeht, scheinen durch die verheerenden Wirkungen der Pest auch die sozialen und politischen Gliederungen beseitigt, die ein organisiertes Gemeinwesen kennzeichnen. Chaos herrscht nicht nur insofern, als die Pest die Körper niederstreckt und die Familien vernichtet, sondern auch insofern, als die von ihr befallenen Normannen über keine funktionierenden politischen Institutionen verfügen. So macht das Einzugslied darauf aufmerksam, dass dem ‚in unruhige Bewegung‘ versetzten Volk die Fähigkeit zur effizienten Artikulation seiner Interessen abhanden gekommen ist. Nur undeutlich nämlich hebt sich aus der ozeanisch bewegten Menge ein zwölfköpfiger Ausschuss heraus, der beauftragt ist, dem den Blicken seines Heers entzogenen Führer in Stellvertretung des leidenden Volkes eine Petition vorzulegen, die ihn zum Rückzug nach Italien bewegen soll. Dramaturgisch verdeutlicht die erste Szene, dass sich das Volk der Normannen im Moment der Krise zwischen plebiszitärer und repräsentativer Organisation nicht entscheiden kann. Hin- und hergerissen zwischen Volksrede und Stellvertreterrede führt Kleists Eröffnung einen misslingenden Versuch von demokratischer Selbstorganisation vor Augen, wenn sie zeigt, wie sich die Mitglieder des

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Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 2004, S. 29. Beda Allemann: Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell, aus dem Nachlaß hg. v. Eckart Oehlenschläger, Bielefeld 2005, S. 13.

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Ausschusses immer wieder unter den Wogen des Normannenvolkes verlieren.7 Mit wenigen szenischen Strichen werden die Grenzen zwischen repräsentativer Rede und dem „Jammer dieses ganzen Volks“ (V. 51) aufgehoben, das vergeblich um politische Stabilisierung kämpft. „Schaff’ Ordnung hier!“ (V. 39), lautet daher der vergebliche Befehl der Stellvertreter, denen es nicht gelingt, sich im Stimmengewirr der unruhigen Menge Gehör zu verschaffen. Dabei legt vor allem das Wort ‚Ausschuss‘, das im Deutschen erst im späten 18. Jahrhundert nachgewiesen ist und als Übersetzung des französischen comité eindeutig revolutionäre Assoziationen erweckt, den ohnehin kaum verborgenen politischen Anspielungsraum des Fragments offen. Das Einzugslied des pestbefallenen Volkes ruft die politischen Krisen in Erinnerung, die in Zusammenhang mit der jüngst vergangenen Französischen Revolution zu beobachten waren und eine stabile institutionelle Fundierung der französischen Demokratie durch eine immer wieder erneuerte Unruhe verhindert hatten. In Kurzfassung rekapituliert der Drameneingang des Fragments daher nicht weniger als die Gründungsagonie eines Volkes, das, wie Hannah Arendt in ihrer Studie Über die Revolution bemerkt, aus existentieller Not heraus unfähig war, eine neue Staatsform zu konstituieren.8 Den Vergleich des bewegten Volkes mit dem Meer übernimmt Kleist von Robespierre.9 Erkennbar spitzt sich im Auftritt der Normannen die Krise eines Gemeinwesens zu, das zur wirksamen Aufstellung und Abordnung repräsentativer Organe nicht in der Lage ist und die von ihm selbst ernannten ‚Ausschüsse‘ immer wieder in den bewegten Volkskörper zurücknimmt. Wie die Franzosen der postrevolutionären Zeit hoffen auch die Normannen auf die Intervention eines ‚großen Mannes‘, der sie aus dem Chaos erretten und auf der Grundlage eines autoritären Regierungsstils neue politisch-soziale Strukturen schaffen soll. Der Sehnsucht des führungslosen Volkes vor Byzanz korrespondiert die an den 7

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Zur Labilität der repräsentativen Demokratie nach der Französischen Revolution vgl. Horst Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz, Bd. 2: Theorie der Monarchie, Köln/ Weimar/Wien 1991, S. 853. Vgl. Hannah Arendt: Über die Revolution, München 2011, S. 188. Vgl. ebd. S. 120. In Giambattista Vicos Scienza Nuova findet sich bereits 1730/44 die Assoziation der erregten Volksmenge mit dem vom Sturm aufgewühlten Meer: „Ma – corrompendosi ancora gli Stati popolari, e quindi ancor le filosofie (le quali cadendo nello scetticismo, si diedero gli stolti dotti a calonniare la veritá), e nascendo quindi una falsa eloquenza, apparecchiata egualmente a sostener nelle cause entrambe le parti opposte – provenne che, mal usando l´eloquenza (come I tribune della plebe nella romana) e non piú contentandosi I cittadini delle ricchezze per farne ordine, ne vollero fare Potenza; [e], come furiosi austri il mare, commovendo civili guerre nelle loro repubbliche, le mandarono ad un totale disordine, e sí, da una perfetta libertá, le fecero cadere sotto una perfetta tirannide (la qual è piggiore di tutte), ch´è l´anarchia, ovvero la sfrenata libertá de´ popoli liberi.“ (Giambattista Vico: La Scienza Nuova Seconda. Parte Seconda, hg. v. Fausto Nicoli, Bari 1953, S. 161 (§ 1102).)

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Namen Napoleons geknüpfte Hoffnung Frankreichs auf einen ‚neuen Despotismus‘. Der Romantiker Joseph Görres hat diese revolutionsbedingte Leerstelle in folgenden Worten umrissen: In eine neue Region mußte hinübergeschritten werden, Despotismus der Geistes- und Charaktergröße war zu versuchen noch übrig […]. Zermalmende Größe mit zermalmender Macht gepaart, sollte den Schismen auf immer ein Ende machen; alle Parteien sollten entwaffnet, und aus ihnen allen die seinige zusammengesetzt werden; keine Differenz der Staatsgewalten mehr, kein künstliches Gleichgewicht durch entgegengesetzte Kräfte, alles Widerstreben gebändigt durch die Übermacht der Einheit, alle Opposition erdrückt unter dem Schimmer der Größe.10

Dieser hier aus deutscher Sicht beschriebene ‚neue Despotismus‘ war nicht durch eine Rückkehr zur absolutistischen Herrschaftsform zu gewährleisten, sondern durch eine außerordentliche Führerpersönlichkeit,11 die sich aus Traditionsbindungen und anderen „Banden dieser Welt“12 herauslöst und ein dynamisches und ausschließlich auf Erfolg und Anerkennung gegründetes Herrschaftsprinzip verkörpert, das Max Weber in seinen Abhandlungen zur Herrschaftssoziologie als charismatisch bezeichnet: [D]as reine Charisma kennt noch keine andere „Legitimität“ als die aus eigener, stets neu bewährter Kraft folgende. Der charismatische Held leitet seine Autorität nicht wie eine amtliche „Kompetenz“ aus Ordnungen und Satzungen und nicht wie die patrimoniale Gewalt aus hergebrachtem Brauch oder feudalem Treueversprechen ab, sondern er gewinnt und behält sie nur durch Bewährung seiner Kräfte im Leben. Er muß Wunder tun, wenn er ein Prophet, Heldentaten, wenn er ein Kriegsführer sein will.13

Folgerichtig setzt das Stück daher mit der Antizipation einer Retterfigur ein, die die Züge Napoleons trägt. Wie die Franzosen erwarten auch die Normannen einen charismatischen Führer, der, wie Eva Horn gezeigt hat, an den gewaltsam geräumten Platz des legitimen Königs trat, um dem aus dem tradierten monarchischen Herrschaftsrahmen gefallenen Volk eine neue Organisation zu bringen.14 Die Parallelen zwischen dem Normannen Robert Guiskard und dem Korsen Napoleon Bonaparte werden dabei nicht erst durch Kleists dramatisches Fragment gezogen. Sie gehen bereits aus dem Text hervor, der diesem zur Vorlage diente: 10 Joseph Görres: Resultate meiner Sendung nach Paris (1800), zitiert nach Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft, S. 754. 11 Zu den Merkmalen des charismatischen Herrschaftsmodells vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., revidierte Aufl., Tübingen 1976, S. 654661. 12 Vgl. ebd., S. 656. 13 Ebd. 14 Vgl. Eva Horn: Herrmanns ‚Lektionen‘. Strategische Führung in Kleists ‚Herrmannsschlacht‘, in: Kleist-Jahrbuch 2011, S. 66-90, hier S. 67.

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Karl Wilhelm Ferdinand von Funcks Studie Robert Guiskard Herzog von Apulien und Calabrien,15 die 1797 in Schillers Horen erschienen war. Schon hier waren die charismatischen Züge des normannischen Herrschers und seines Führungsstils in einer auch für Kleist maßgeblichen Weise herausgearbeitet worden. Funck beschreibt die Machttechniken eines Feldherrn und Parvenü, der sich in Ermangelung dynastischer Herkunft und ohne eigene Legitimationszeichen militärische Gefolgschaft durch emphatische Präsenzbezeigungen sicherte. Insbesondere berichtet er von den vielen Gelegenheiten, bei denen dieser seine Leute durch Gabe seiner Anwesenheit an sich band. Bezeichnenderweise dient ihm das Wort ‚Gegenwart‘ als Zauberformel eines Führungsprinzips, das sich auf Traditionen, Vergangenheit und Herkunft nicht berufen kann. Nach Darstellung Funcks ließ sich Guiskard, der keine angestammten Rechte besaß, in seinen Kampagnen von der „stolzen Überzeugung“ leiten, „daß seine Gegenwart allein die Übel gut machen könnte, die seine Abwesenheit veranlaßt hatte“16. Sätze wie „Robert eilte, sich dem erschroknen Heere zu zeigen“17 werden im Verlauf der Darstellung vielfach variiert. In der Summe ergeben sie das Profil eines Herrscher-Feldherrn, der bereit ist, „nicht nur die Gefahren, sondern auch die Beschwerden und Unbequemlichkeiten des Geringsten unter seinen Reutern zu theilen“18. Die Antizipationen der Normannen Kleists bewegen sich somit im Umkreis dieser Präsenzpolitik, wenn sie sich vom Auftritt Guiskards vor seinem erschrockenen Volk eine rettende Wendung erhoffen. Die Bühne von Jaffa Dabei erfolgt auch die Wahl der dramatischen Situation in unmittelbarem Bezug auf die Geschichte der napoleonischen Kriege. Kleist wählt in seinem Robert Guiskard einen kritischen Moment aus dem Orientfeldzug Bonapartes. Für das zeitgenössische Bewusstsein ohne Zweifel erkennbar, spielt die Belagerung von Konstantinopel durch das normannische Heer auf die im März 1799 erfolgte und von Gräueln begleitete Belagerung der Festung von Jaffa an,19 die die Franzosen, die sich die Öffnung des Orients für westliche Interessen zum Ziel gemacht hatten, vor eine unlösbare militärische und sanitäre Aufgabe gestellt hatte. Kleists 15 Karl Wilhelm Ferdinand von Funck: Robert Guiskard Herzog von Apulien und Calabrien, in: Die Horen 9 (1797), 1. Stück, S. 1-58; 2. Stück, S. 1-33; 3. Stück, S. 1-14. 16 Ebd., 3. Stück, S. 2. 17 Ebd., 1. Stück, S. 47. 18 Ebd., 1. Stück, S. 53. 19 Vgl. Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen, S. 134ff.; Iris Denneler: Legitimation und Charisma, in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1981, S. 7393, hier S. 86.

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Fragment greift damit auf eine Episode der jüngsten Kriegsgeschichte zurück, in der sich Massaker, Seuche und Krieg zu einem so unlesbaren Bild der Unordnung zusammenschlossen, dass eine Klärung oder eine Katharsis in einer für ganz Europa wahrnehmbaren Weise ausgeschlossen erschien. Anlässlich der Belagerung von Jaffa zeigte sich das Chaos des Krieges in seiner größtmöglichen Verdichtung. Historischer Ausgangspunkt des Guiskard-Entwurfs ist also eine Katastrophensituation der frühen napoleonischen Kriege, in der dreitausend vor Jaffa stationierte Franzosen an der Pest erkrankten und dreißig pro Tag daran starben. Kurz davor hatten sie auf Befehl Napoleons in Jaffa zweitausendvierhundert türkische Kriegsgefangene mit Bayonetten niedergemetzelt,20 kurz danach wurden die Franzosen selbst von den Engländern vom Meer her angegriffen. Außerdem zirkulierten Gerüchte in ganz Europa, dass Napoleon nach einer Zeit des Abwartens die an der Pest erkrankten Soldaten mit Opium vergiften ließ, um seine militärische Mobilität zurückzugewinnen.21 Sie zeichnen das Bild eines Feldherrn, der zu kalten Barbareien im Stande – das zirkulierende Stichwort lautet „froide barbarie“22 – und durch die Seuche militärisch zugleich aufs Äußerste geschwächt war. Ebenso aufschlussreich sind jedoch die Gegenüberlieferungen, die in diesem Zusammenhang von napoleonischer Seite mobilisiert werden. Diese sprechen – ganz anders – von einem Heerführer, der sich „calme“23 und mit „heiterer Stirne“ im Lazarett zeigte und den Erkrankten die Wohltat seiner Anwesenheit zukommen ließ. Sie berufen sich auf das Zeugnis des in Jaffa tätigen Feldarztes Desgenettes, der berichtet, dass Napoleon selbst das Pestlager von Jaffa besucht habe, dass er unerschrocken durch verschiedene Räume geschritten sei und dass er mit den erkrankten Soldaten und auch mit ihm selbst gesprochen habe.24 Mit diesem Besuch habe Napoleon beweisen wollen, dass er der pestilenten Ansteckung aus moralischer Kraft zu widerstehen vermöge und die Seuche durch einen Akt der Selbstermächtigung besiegen könne. Auf diese Situation spielt Kleist an, wenn er im Guiskard die Hoffnungen und Erwartungen thematisiert, die im prekären Moment der Übersichts- wie der Aussichtslosigkeit auf den Feldherrn gerichtet sind. Auch er unterstreicht die politische Bedeutung, die der Gegenwart des mi20 Vgl. Darcy Grimualdo Grigsby: Rumor, Contagion, and Colonization in Gros’s Plague-Stricken of Jaffa (1804), in: Representation 51 (1995), S. 1-61, hier S. 26. Vgl. auch Greiner: Kleists Dramen und Erzählungen, S. 134. 21 Vgl. Grigsby: Rumor, Contagion, and Colonization, S. 26. 22 Henri Deherain: L’Egypte Turque. Pachas et Mameluks du XVIe au XVIIIe siècle. L’expédition du général Bonaparte, Paris 1931, S. 406ff., zitiert nach Walter Friedländer: Napoleon as „Roi Thaumaturge“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 4 (1941), S. 139-141, hier S. 139. 23 René Desgenettes: Histoire médicale de l’Armée de l’Orient, Paris 1830, S. 50, zitiert nach Friedländer: Napoleon as „Roi Thaumaturge“, S. 139. 24 Vgl. ebd.

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Abb. 24 (Tafel 8): Antoine-Jean Gros, General Bonaparte bei den Pestkranken von Jaffa (1804).

litärischen Führers während der Pest zukommt. Zugleich erschließt sich von hier aus die Brisanz der Eröffnungsszenen des Fragments, die den Auftritt Guiskards unter den Kranken in einer die Normannen beunruhigenden Weise so weit hinauszögern, dass zuletzt der Glaube an ihn schwindet.25 Im Folgenden soll gezeigt werden, in welcher Weise auch Kleists Stück an den phantasmatischen Aktivitäten partizipiert, die in ganz Europa durch Napoleons Erscheinen im Lazarett von Jaffa ausgelöst wurden.26

25 Zur Bedeutung von Pest und Epidemie in Texten Kleists vgl. Ethel Matala de Mazza: Hintertüren, Gartenpforten und Tümpel. Über Kleists krumme Wege (Der zerbrochne Krug), in: Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, hg. v. Nicolas Pethes, Göttingen 2011, S. 185-207, hier S. 196. Hier wird die These vertreten, dass Kleists Interesse an Seuchen und Epidemien ein strategisches Interesse im Krieg gegen die Franzosen war. In dem Wissen, „daß Ansteckungskrankheiten bestehende Ordnungen unter Druck setzen“ (S. 197), habe er auch in Artikeln und literarischen Texten eine Art biologischer Kriegsführung gegen Napoleons Besatzungsmächte praktiziert. 26 Zum medialen Echo von Bonapartes Ägyptenfeldzug in Deutschland vgl. Gerhart von Graevenitz: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987, S. 165ff.

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Bildpolitik im Chaos des Krieges Kleists Darstellung eines von der Pest heimgesuchten Kriegslagers vor Konstantinopel verarbeitet dabei jedoch nicht nur die in Europa zirkulierenden Berichte und Gegenberichte. Sie scheint vielmehr sehr konkret bei einem prominenten Bilddokument anzusetzen, das aus Napoleons Anwesenheit im Pestlager von Jaffa ein hagiografisches Argument ableitete. Mit einiger Wahrscheinlichkeit lässt sich der Guiskard mit einem Gemälde in Beziehung setzen, das in den Entstehungsjahren des Fragments – genau gesagt: in seiner zweiten Entstehungsphase vor 1808 – durch die Propagandamaschinerie Napoleons verbreitet und als ein skandalöser ikonografischer Euphemismus europaweit diskutiert wurde. In die dramatische Anlage scheinen Motive und Anordnung eines Gemäldes aufgenommen, das die französische Regierung in den Jahren 1803/04 bei dem Maler Antoine-Jean Gros in Auftrag gegeben hatte:27 Es trägt den Titel General Bonaparte bei den Pestkranken von Jaffa und stammt von einem Künstler, der schon in den Jahren zuvor Schlüsselikonen des zeitgenössischen Napoleonkultes geschaffen hatte (Abb. 24, TAFEL  8). Die auf diesem Gemälde entfaltete Erzählung lieferte eine einprägsame Bildformel der Jaffa-Legende, indem sie Napoleon mitten unter seinen Soldaten erscheinen ließ und seine Loyalität wie seine Unerschrockenheit im Moment des Chaos feierte. Gleichzeitig leitete es eine neue Etappe in der Geschichte der Historienmalerei ein: Nach einer Phase der ikonografischen Orientierungslosigkeit in den ersten Jahren des Empire und der Revolutionskriege trat die Gattung der Historienmalerei nun unter den Befehl Napoleons. Mit dem General Bonaparte bei den Pestkranken von Jaffa wurde sie zur Bildgattung des ‚großen Mannes‘. Formal bestand Gros’ Leistung darin, die Bildkomposition wieder zu zentrieren und durch die Einfügung einer Heldenfigur eine Bildmitte zu füllen, die durch die Französische Revolution vakant geworden war. Seine Darstellung der Jaffa-Szene führte – zumindest in der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen – aus einer durch die jüngste Geschichte verursachten Kompositionsmisere heraus, die von den Künstlern gefordert hatte, das politische Prinzip der Égalité auch in die Malerei hineinzutragen.28 Nach Ansicht des zeitgenössischen Kunstkritikers Quatremère de Quincy beendeten Gros’ Pestkranke von Jaffa „das Chaos der Gleichheit“29, in 27 Diese Überlegungen beruhen natürlich auf der Spekulation, dass Kleist in der zweiten Entstehungsphase des Fragments neue historische Entwicklungen aufnahm und, wie im diskutierten Fall, auf aktuelle und 1803 noch nicht zur Verfügung stehende Bildmaterialien zurückgriff. 28 Generell zur Krise des Helden in der Historienmalerei um 1800 vgl. Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993, S. 19ff. (Abschnitt: Historie). 29 David O’Brien: After the Revolution. Antoine-Jean Gros. Painting and Propaganda under Napoleon, Pennsylvania 2006, S. 92.

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das nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Kunst durch die Revolution gestürzt worden war. Sein Gemälde habe dem Betrachter, der von den unübersichtlichen Massen- und Schlachtenbildern der Revolutionskriege dauerhaft verwirrt war, einen starken optischen Anhaltspunkt und eine zentrierende Figur wiedergegeben. Nachdem das Ausstellungspublikum für lange Zeit gezwungen gewesen sei, einem führerlosen Kriegsgeschehen zuzuschauen –„de se traîner sur tout les champs de bataille, de parcourir les bivouacs et les camps“30 –, werde nun die verlorene Bildhierarchie des Historiengemäldes wiederhergestellt. In das Chaosbild des Krieges wurde das Bild eines ‚großen Mannes‘ – Napoleons – inseriert, um die aus verwirrten, gefallenen und zusammengekrümmten Körpern gebildeten Bildlinien der im Umkreis der Revolution entstandenen Kriegsdarstellungen wieder zu begradigen und erneut auf eine heroische Mitte hin auszurichten. Folgende Bildbeschreibung von Rainer Schoch macht das deutlich: Ohne noch das konkrete Bildgeschehen zu beachten, erkennt man in der Figurenkomposition den Kontrast von Unheil und Rettung, der seine Herkunft aus der christlichen Ikonographie nicht verleugnen kann. In Analogie zu christlichen Wunderdarstellungen erscheint Napoleon als einziger unbeeindruckt unter den vom Tod gezeichneten Kranken: als ein mit höheren Kräften ausgestattetes Wesen, für das die Gesetze seiner Umgebung nicht zu gelten scheinen. Schon sein Eintreten verspricht den Unglücklichen Rettung. Durch die glänzende Generalsuniform aus seiner Umgebung hervorgehoben, steht Bonaparte in der hellerleuchteten Bildmitte. Ohne sich von seinen Begleitern zurückhalten zu lassen, tritt er einem Todkranken gegenüber, um mit zeremonieller Gebärde eine Pestbeule auf der Brust des Unglücklichen zu berühren.31

Die Mehrdeutigkeit dieser Berührung, die auch für Kleists Bildrezeption von Bedeutung ist, wurde durch die Kunstwissenschaft ausführlich kommentiert: Wiederholt hat sie darauf hingewiesen, dass sich in Gros’ Bildschema ein sakrales und ein rationales Deutungsmuster überlagern, die die Rolle der feldherrlichen Geste in jeweils ganz unterschiedlicher Weise auslegen. Auf der einen Seite machen sie auf die sakramentale Überhöhung dieser Berührung aufmerksam, wenn sie zeigen, dass die dem Aufsteiger Napoleon zugeschriebene Zeichenhandlung ein aus den bourbonischen Archiven bezogener monarchischer Ritus sei. In einer 1941 im Warburg Journal veröffentlichten Bildlektüre identifiziert Walter Friedländer die Berührung des Pestkranken als die magische Praxis des toucher des écrouelles – der heilenden Berührung Aussätziger durch den christlichen König von Frankreich, wie sie seit dem Mittelalter durch die bourbonischen Könige ausgeübt wurde. Indem sie die Beule berühre, erscheine Napoleon in der Rolle des roi thaumaturge – des heilkräftigen Königs, der sich die herrenlosen Zeichen 30 Antoine Chrysostome Quatremère de Quincy: Recueil de Notices Historiques, Paris 1834, S. 318. O’Brien: After the Revolution, S. 92 übersetzt: „to march its brushes in the wake of armies, lingering on the battlefields, touring bivouacs und camps“. 31 Rainer Schoch: Das Herrscherbild in der Malerei des 19. Jahrhunderts, München 1975, S. 76.

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bourbonischer Königlichkeit aneigne und auf diesem Weg als Träger jener übernatürlichen Gaben hervortritt, die den Charismatiker kennzeichnen.32 Vertikalisierung und ‚ranimation‘ Daneben macht sich ein rationales Deutungsschema geltend, das sich auf die historische Situation selbst gründet und den Intentionen näherliegt, die Napoleon bei seinem Lazarettbesuch leiteten. Demnach erscheint dieser auch deshalb unter den Erkrankten, weil er den Gerüchten entgegentreten wollte, dass es sich bei den im Lager aufgetretenen Erkrankungen um die Pest, das heißt um eine ansteckende Krankheit handele. Sein Besuch sollte einer Massenpanik vorbeugen, die den Erfolg seiner Kampagne gefährdet hätte. Aus dieser Perspektive gesehen erscheint die Geste der Berührung als eine rationale Demonstration von Immunität. 1804 ins Bild gesetzt, d.h. noch fünf Jahre nach der Belagerung, entkräftet sie das Gerücht, der große General sei den unkontrollierbaren Mächten der Ansteckung wie den unkontrollierbaren Mächten des Gerüchts hilflos ausgeliefert. In der Mitte des Historiengemäldes etabliert er sich als eine Gegenkraft, die in der Lage ist, epidemische Entwicklungen durch Präsenz zu unterbinden und auch die lautlosen und gesichtslosen Mächte zu überwinden, die sich in der prägnanten Kategorie der Feindschaft nicht fassen lassen.33 Damit ist Napoleon nicht nur als ‚großer Mann‘ gekennzeichnet, der sich mit erhabenem Mut in Todesgefahr begibt, oder als ein Charismatiker, der sich die monarchischen Herrschaftszeichen seiner Vorgänger aneignet – in der zeitgenössischen Rezeption kommen weitere Wirkungen des ‚großen Mannes‘ zur Sprache. So sprechen die Kommentare zum Salon von 1804, in dem das Gemälde ausgestellt wurde, von den regenerierenden Effekten dieses Besuchs. Das Bild zeige, dass Napoleon den niedergeschlagenen Mut der Soldaten wiederbelebe – das Stichwort lautet „ranimer“ –, die sich an seinem „élan d’un courage sublime“34 begeistern, am ‚Schwung eines erhabenen Mutes‘, den er in das Pestlager hin32 Vgl. Friedländer: Napoleon as „Roi Thaumaturge“, S. 140; Peter Burke: The Fabrication of Louis XIV, New Haven 1992, S. 131; Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 654. Zur Geschichte des toucher des écrouelles vgl. Marc Bloch: Die wundertätigen Könige, München 1989. 33 Vgl. dazu Friedländer: Napoleon as „Roi Thaumaturge“, S. 140. 34 Friedländer benennt Nicolas Desgenettes’ Bericht Histoire médicale als Quelle der ersten Entwurfszeichnung (Louvre 4613) zum Gemälde. Die Skizze ist beschriftet: „Ce dessin de Gros est la véritable scène historique ou la première esquisse de son propre mouvement le cadavre d’un pestiféré, pour ranimer le moral abattu de ceux qui l’entourent. Tous semblent effrayés de son action. Lui seul est calme, comme l’exprime sa figure. Cette scène, étant plus digne de la gloire du grand homme que la substitution d’un attribut plus noble en apparence, a l’élan d’un courage sublime.“ Zitiert nach Friedländer: Napoleon as „Roi Thaumaturge“, S. 139.

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eingetragen habe. Sie bescheinigen ihm explizit, dass er sich mit der Geste der Berührung und der Kühnheit seines Erscheinens als ein grand homme erwiesen habe. Die Wirkungen dieses Bildauftritts lassen sich anhand eines späteren Textes verdeutlichen, der die heilende Wirkung der napoleonischen Präsenz in phantasmatischer Verdichtung formuliert. Er entstammt Karl Rosenkranz’ Ästhetik des Hässlichen aus dem Jahr 1853: Ein treffliches Bild aus dieser Sphäre ist auch das von Gros, Napoleon unter den Pestkranken zu Jaffa. Wie gräßlich sind diese Kranken mit ihren Beulen, mit ihrer lividen Farbe, mit den graubläulichen und violetten Tinten der Haut, mit dem trockenbrennenden Blicke, mit den verzerrten Zügen der Verzweiflung! Aber es sind Männer, Krieger, Franzosen, es sind Soldaten Bonapartes. Er, ihre Seele, erscheint unter ihnen, scheuet nicht die Gefahr des tückischen, scheußlichsten Todes; er teilt sie, wie er mit ihnen in der Schlacht den Kugelregen geteilt hat. Dieser Gedanke entzückt die Braven. Die matten, dumpfen Köpfe richten sich empor; die halberlöschenden oder fieberhaft funkelnden Blicke wenden sich zu ihm, die schlaffen Arme strecken sich begeistert nach ihm aus, ein seliges Lächeln umspielt nach diesem Genuß die Lippen der Sterbenden – und mitten unter diesen Grauengestalten steht der Riesenmensch Bonaparte voll Mitgefühl aufrecht und legt seine Hand auf die Beule eines Kranken, der halbnackt sich vor ihm erhoben hat. […] Ähnlich wie Shakespeare am Schluß des Hamlet, als die vergifteten Leichen eines in Fäulnis geratenen Geschlechts gekrümmt umherliegen, den kräftigen Trompetenschall erschmettern und den jugendheitern, reinen Fortinbras als Beginn eines neuen Lebens auftreten läßt.35

Für eine Kleist-Lektüre ist diese Passage in mehrfacher Weise aufschlussreich. Erstens weist Rosenkranz auf die Theatralität des dargestellten Vorgangs hin, wenn er am Ende das Referenzmedium wechselt und einen Bezug zum Finale von Shakespeares Hamlet herstellt. Vergleicht er das Erscheinen Napoleons unter den Pestkranken von Jaffa mit dem von Trompeten begleiteten Triumphauftritt des jungen Fortinbras auf dem von Leichen bedeckten Hof von Helsingör, werden die theatralen Dimensionen des Sujets unterstrichen und die strukturelle Nähe zwischen Bildauftritt und Theaterauftritt offengelegt. Zugleich treten mit der Bildbeschreibung auch die regenerierenden Kräfte zu Tage, die der symbolischen Form des Auftritts im Gelingensfall zuwachsen. Von Figur zu Figur fortschreitend, zeichnet Rosenkranz’ emphatische Ekphrasis den Prozess einer Wiederaufrichtung – einer ranimation nach, der die Belebung einer durch Krankheit zersetzten Gesellschaft und gleichermaßen die Justierung einer von Chaos bedrohten Bildordnung erwirkt. Auch in der Szene von Jaffa scheinen die charismatischen Effekte einer Auftrittsform zu greifen, die ein von Krankheit gezeichnetes Kollektiv regeneriert und die Bildmitte als ein Kraftzentrum anlegt, das sich den Gekrümmten belebend mitteilt. Wenn sich hier die Kranken an der phantasmatischen Senkrechten eines gottgleichen Ankömmlings erheben, erfüllen sich die heilsgeschichtlichen Versprechen, die den epiphanischen Auftrittsformen zugeschrieben werden. Mit 35 Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen, Stuttgart 2007, S. 300.

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der Erscheinung des ‚aufrechten Bonaparte‘ werden auch die kranken Soldaten dem Bann der Schwerkraft wie jenem der Krankheit entrissen. Klar benennt Rosenkranz die in der Form des Auftritts angelegten Vertikalisierungseffekte, wenn er darauf hinweist, dass sich die matten Köpfe der Soldaten aufrichten, die Blicke dem Gestirn des Feldherrn zuwenden und die erschlafften Arme wieder strecken. Mit dessen Erscheinen wirkt die charismatische energeia – die dem Auftritt des ‚großen Mannes‘ innewohnende belebende Kraft – auf die verwaiste und erkrankte Empfangsgesellschaft ein und führt die gekrümmten Körper aus dem Zustand der Formlosigkeit wieder in stabilere, das heißt: standfeste Formen zurück. Aus der Bildmitte heraus – so ließe sich mit Rosalind Krauss sagen, deren Formbegriff systematisch einen Vertikalisierungsprozess voraussetzt – erfolgt eine „reassuring action of form“36 in politischer wie in physischer Hinsicht, die den einzelnen wie den kollektiven Körper dem „dispersive field of gravity“ entzieht.37 Umgekehrt spricht einiges dafür, Kleists Guiskard-Fragment als dramatischen Gegenentwurf zu den propagandistischen Zielen zu lesen, die in Gros’ Gemälde formuliert werden. Es verfolgt das Ziel, die Ungültigkeit des Gros’schen Auftrittsprotokolls zu erweisen und die Legenden, die den Eroberer von Preußen ins „Göttliche verzeichnet[en]“38, als ein kollektives Phantasma zu entlarven und politisch zu entzaubern. Durch das Trauerspiel sollte die Heilungskraft der napoleonischen Berührung ebenso dementiert werden wie die Legende herrschaftlicher Immunität. Dabei nimmt Guiskard in seiner Rede direkt auf die Bildanordnungen auf Gros’ Gemälde Bezug. Als ihn ein Volksvertreter bittet, sich von den Pestkranken fernzuhalten, zitiert er die durch das Bild General Bonaparte bei den Pestkranken von Jaffa verbreitete Heldenerzählung und verdeutlicht zugleich ihre Unglaubwürdigkeit: Ich hab’s, ihr Leut’, euch schon so oft gesagt,/ Seit wann denn gilt mein Guiskard’swort nicht mehr?/ Kein Leichtsinn ist’s, wenn ich Berührung nicht/ Der Kranken scheue, und kein Ohngefähr,/ Wenn’s ungestraft geschieht. Es hat damit/ Sein eigenes Bewenden – kurz, zum Schluß:/ Furcht meinetwegen spart! – (V. 475ff.)

Schonungslos legen die Guiskardszenen jedoch offen, dass es mit diesem ‚eigenen Bewenden‘ nicht weit her ist, da die Berührung, die die magische Unverletzlichkeit des Feldherrn erweisen sollte, ihre tödliche Wirkung längst entfaltet hat. Kleist setzt dem spektakulären Bildauftritt des ‚großen Mannes‘ einen geschei36 Rosalind Krauss u. Yve-Alain Bois: Formless. A User’s Guide, New York 1997, S. 102. 37 Ebd., S. 97: „A function of the well-built form is thus vertical because it can resist gravity.“ 38 Heinrich von Kleist: Amphitryon. Ein Lustspiel nach Molière, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 1: Dramen 1802-1807, hg. v. Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba, Frankfurt a.M. 1991, S. 377-461, hier S. 422 (V. 1190f.): „Für sein Gemälde, sieh, von Künstlershand,/ Dem Leben treu, in’s Göttliche verzeichnet.“

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terten Theaterauftritt entgegen, der die Immunitäts- und Heilungsversprechen, die das Gemälde von Antoine-Jean Gros formulierte, unerfüllt lässt. Zwar scheint sich die propagandistische Szene der Pestkranken von Jaffa auch der kollektiven Einbildungskraft der Normannen eingeschrieben zu haben, doch werden sie zuletzt von einer Epiphanie enttäuscht, die außer Stande ist, die rettende Wende herbeizuführen, die verheißene Wiederaufrichtung zu leisten oder auch nur die dramatische Struktur aufrechtzuerhalten, innerhalb deren sie stattfindet. Während es dem Napoleon des Gros’schen Historiengemäldes gelingt, die Bildmitte zu besetzen, das Chaos zu beenden und einem von Auflösung bedrohten militärischen Kollektivkörper neues Leben einzuflößen, besitzt Robert Guiskard, in dem sich alle Merkmale der charismatischen Führerfigur zunächst zu bündeln scheinen, keine überzeugende Auftrittsmacht. Das Fragment ist darauf angelegt, ein Blendwerk der napoleonischen Propaganda zu entzaubern und die Präsenzinszenierungen eines Imperators zu entkräften, der sich zum Entstehungszeitpunkt des Fragments als Besatzungsmacht in Preußen aufhielt. In der Verweigerung jener „Erfüllung, Gliederung und Ordnung“39, die sich an die charismatische Figur des Feldherrn knüpfen, entwirft Kleist eine auf Verkleinerung der Größe gerichtete Gegendramaturgie, die sich zielgenau gegen das durch Gros gegebene Heilsversprechen richtet und das Charisma des Führers als Wunschbild eines unerfüllbaren kollektiven Begehrens kennzeichnet. Ein Blick auf das Erscheinen Guiskards, das erst nach langem Zögern endlich stattfindet, soll diese präliminarischen Überlegungen präzisieren. Kraftverlust. Auftritt ohne Paukenschlag So werden gleich zu Beginn die Störungen in der Präsenzpolitik des Feldherrn augenfällig. Sie zeigen sich nicht nur daran, dass sich der Auftritt Guiskards hinauszögert. Die Spannkräfte der Erwartung ermatten auch deshalb, weil aus dem Zelt, in dem er sich verbirgt, zunächst nur Stellvertreter hervortreten und das Ritual der Ankündigung so weit in die Länge ziehen, dass die Hoffnung auf Guiskards Erscheinen von aufsteigenden Verlustängsten überlagert wird.40 Der glänzende Singular der zentrierenden Figur wird durch die Vervielfachung schwächerer 39 Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 29. 40 Die einheitsstiftende Kraft des Charismatikers wird dabei auch dadurch unterlaufen, dass statt des Einen mehrere auftreten, die miteinander im Streit liegen. Der Doppelauftritt von Roger und Abälard, die anstelle Guiskards aus dem Zelt treten, schwächt bereits im Vorfeld die Ordnungsleistung, die durch den Auftritt des Feldherrn erbracht werden soll. Diese Episode wird meistens als Krisensymptom charismatischer Führungsstrukturen gelesen. Im Widerstreit von Roger und Abälard wird das Problem von Genealogie und Nachfolge im Kontext charismatischer – d.h. ausschließlich durch persönlichen Erfolg gewährleisteter – Autorität verhandelt.

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Vorboten depotenziert. Dieser Feldherr eilt nicht mehr, ‚sich dem erschroknen Heere zu zeigen‘, wie der historische Guiskard in der Darstellung Funcks, er gibt vielmehr Gerüchten von seiner Erkrankung Raum. So berichtet einer der vor dem Feldherrnzelt postierten Wächter: „Da ich die Wache heut, um Mitternacht,/ Am Eingang hier des Guiskard’szeltes halte,/ Fängt’s plötzlich jammervoll zu stöhnen drin,/ Zu ächzen an, als haucht’ ein kranker Löwe/ Die Seele von sich.“ (V. 143ff.)41 Die sich daran abzeichnende Auftrittskrise setzt sich außerdem darin fort, dass der lang erwartete Auftritt, als er nun endlich erfolgt, die Überwältigungseffekte schuldig bleibt, die den Inszenierungsformen epiphanischer Präsenz zugeschrieben werden. Wie sich zeigt, erscheint der Feldherr nicht plötzlich und mit der bezwingenden Macht des ‚Alles auf einmal‘ vor den Augen seines Volkes, er muss sich erst umständlich zur Figur des ‚großen Mannes‘ aufrüsten. Um das napoleonische Auftrittsprotokoll zu schwächen, mobilisiert Kleist eine Garderobenszene, die im Detail die kriegerischen Accessoires aufführt, die zur Fabrikation eines „Riesenkerls“ benötigt werden.42 „Wohl, Vater, seh’ ich ihn!/ Frei in des Zeltes Mitte seh’ ich ihn!/ Der hohen Brust legt er den Panzer um!/ Dem breiten Schulternpaar das Gnadenkettlein!/ Dem weitgewölbten Haupt drückt er, mit Kraft,/ Den mächtig-wankend-hohen Helmbusch auf!“ (V. 400ff.). Gleichwohl sind die Voraussetzungen für einen Prunkauftritt gegeben, der zumindest auf den ersten Blick einen festlich amplifizierten Heros in Szene setzt. Im Moment seines Heraustritts scheinen zunächst alle Erwartungen erfüllt und das Stichwort gegeben, das die Fülle des epiphanischen Moments kennzeichnet: „Jetzt seht, o seht doch her! – Da ist er selbst!“ (V. 406). Als Guiskard mit der Unmittelbarkeit des heilsgeschichtlichen ‚Jetzt‘ auf die Szene tritt, brechen die Normannen in Triumphrufe aus, die bei Kleist immer erklingen, wenn ein lang erwarteter Auftritt zu gelingen und eine Figur sich im Raum der Bühne in überwältigender Präsenz zu manifestieren scheint: „Triumph! Er ist’s! Der Guiskard ist’s! Leb’ hoch!“ (V. 407). Für einen kurzen Moment scheint das Versprechen eingelöst, das im topischen Bild des triumphierenden Siegers gegeben ist, und ein politisches Chaos überwunden. Mit dem triumphierenden Guiskard scheint zuletzt eine jubilatorische Ganzheit auf die Szene zu treten, an dem sich das am Boden liegende Kollektiv aufrichtet und reanimiert. Klar artikulieren die Normannen ihr Begehren nach Vertikalität, wenn sie Robert Guiskard die folgende Auftrittsrichtung vorschreiVgl. Helmut Schneider: Genealogie und Menschheitsfamilie. Dramaturgie der Humanität von Lessing bis Büchner, Berlin 2011, S. 317ff. 41 Der Adoptivsohn Abälard wird dies mit folgenden Worten bestätigen: „Der Guiskard fühlt sich krank.“ (V. 326). 42 Dabei werden auch diese nicht ohne Sottise gewählt. So deutet das Requisit des Gnadenkettleins darauf hin, dass Guiskard auf das Gnadentum höherer Instanzen angewiesen ist, ganz abgesehen davon, dass das Diminutiv dieses Kettleins dem Format des ‚großen Mannes’ widerspricht.

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ben: „O Guiskard! Wir begrüßen dich, o Fürst!/ Als stiegst du uns von Himmelshöhen nieder!/ Denn in den Sternen glaubten wir dich schon – – !“ (V. 408ff.). Doch bald mehren sich die Zeichen, dass der Jubel verfrüht war und der Glanz des Triumphalbildes eine schnell verflogene Wunschvorstellung, die eine Rettung vorwegnimmt, die sich in der horizontalen Realität der Szene nicht einstellt. Der ‚ins Göttliche verzeichnete‘ Robert Guiskard stellt sich dem Ausschuss zuletzt nicht in seiner symbolischen, sondern in seiner natürlichen Gestalt vor Augen. Wenn Guiskard in seiner Auftrittsrede betont, dass er „in Lebensfüll’ hier vor euch stehe“ und „seiner Glieder jegliches beherrscht“ (V. 439f.), wird doch immer plausibler, dass er „[n]och eben […] auf dem Teppich lag“ (V. 347). Auch wenn es zunächst so scheint, als werde den Normannen durch Guiskard „ein aufgegebnes Leben“ (V. 450) wiedergegeben, so ist es doch gerade dieses Leben, das sich aus dem Fürsten zurückzieht: „– Zwar trifft sich’s seltsam just, an diesem Tage,/ Daß ich so lebhaft mich nicht fühl’, als sonst[.]“ (V. 454f.) Die Horizontalisierung der Auftrittsbahn, auf der sich das Feldherrngestirn bewegt, setzt sich fort, als sich nicht mehr übersehen lässt, dass sich Guiskard nur mit Anstrengung von einem Krankenlager erhoben hat. Nicht nur die Körper, auch die Verse zerfallen, als sich Guiskard umsieht und die souveräne En-face-Situation der Auftrittsszene in einer buchstäblichen Wendung nach unten hin verlässt. In einer Kaskade von Versfragmenten wird die Senkrechte abgesenkt – und nun auch von der Sprache verlassen: „Willst du – ?/ Begehrst du – ?/ Fehlt dir?/ Gott im Himmel! / Was ist?/ Was hast du?/ Guiskard! Sprich ein Wort!“ (V. 487ff.) Irreversibel schreitet die Horizontalisierung der Körper fort, als die Tochter Guiskards ihrem schwankenden Vater eine Sitzgelegenheit verschafft: „Die Kaiserin zieht eine große Heerpauke herbei und schiebt sie hinter ihn.“43 Hier geht der Triumph endgültig in einen Prozess des Sinkens über. Als sich Guiskard „sanft“44 auf der Heerpauke niedergelassen hat, neigt sich auch das restliche Personal der Szene in einer Rede und Körper gleichermaßen ergreifenden Bewegung der Erschöpfung nieder. Diese Bewegung erfolgt auch nicht mehr in der prägnanten und präzipitatorischen Form Kleist’scher Fallbewegungen, sondern als ein allmähliches Schwinden und fortschreitender Kraftverlust. Mit Roland Barthes lässt sich vielleicht von einer den gesamten sozialen Körper erfassenden „Exspiration“45 sprechen, mit der zugleich sich das Leben aus der Szene verflüchtigt. Diese beginnt damit, dass der Greis gedankenvoll vor sich nieder sieht, und wird gefolgt von weiteren Tableaus unaufhörlichen Sinkens: „Und täglich, wie vor Sturmwind Tannen, sinken/ Die Häupter deiner Treuen in den Staub,/ Der Hingestreckt’ ist’s auferstehungslos,/ Und wo er hinsank, sank er 43 Kleist: Robert Guiskard, S. 254. 44 Ebd. 45 Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesungen am College de France 1977-1978, hg. v. Eric Marty, Frankfurt a.M. 2002, S. 48.

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in sein Grab.“ (V. 503ff.) Mit Foucault gesprochen: Der geschwächte Herrscher Guiskard verliert die „Macht […], Kräfte hervorzubringen, wachsen [zu] lassen und zu ordnen“46. Als er auf eine Heerpauke niedersinkt und gleichsam ohne Geräusch auf ein Feldinstrument niedergleitet, das dem zeitgenössischen Bewusstsein als ein wirbelndes47 oder auch pulsierendes48 Instrument der kriegerischen Agitation gegenwärtig ist, ist die Wiederbelebung seines Volkes gescheitert. Das Instrument, dessen Zweck es eigentlich sein sollte, die Bewegungen einer militärischen Formation durch Paukenschläge zu stimulieren, zu synchronisieren und zu beschleunigen, wird zu einem Krankensitz degradiert. Am Ende des Fragments werden keine rhythmischen Impulse mehr gesetzt, da im Pestlager nichts mehr zu takten und durch Taktung zu beleben ist. Zugleich aber knüpft sich an das Requisit der Heerpauke eine Anekdote aus dem deutsch-französischen Krieg, die in Zusammenhang mit der verlorenen Schlacht von Jena-Auerstedt kursierte und damit in die Entstehungszeit der zweiten Fassung des Guiskard fällt. So entnimmt man Gustav Seibts Buch über Goethe und Napoleon, dass der 1806 vor Napoleon geflohene Herzog von Weimar auf einer Heerpauke sitzend seine eigene Abdankung antizipierte. Mit den Worten: „Herzog von Weimar wären wir einstweilen gewesen“49, soll er nach der Niederlage des preußischen Heeres dort sein ‚einstweiliges‘ Schicksal quittiert haben. Schon in dieser Anekdote wird das Kriegsinstrument, das die preußische Armee koordinieren und antreiben sollte, zum Verlautbarungsort einer Kapitulation erniedrigt. Das Fragment oder die Verweigerung des tragischen Verlaufs Doch lassen sich an dieser Stelle auch die Kriegsziele des fragmentarischen Textes beobachten. Die performative Ausrichtung des Stückes ist die Vernichtung des Gegners Napoleon, es demontiert das Charisma des Feldherrn und entzau46 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1977, S. 163. 47 Vgl. Jean Paul: Das Leben des Quintus Fixlein, in: ders: Werke, Bd. 7: Kleinere erzählende Schriften I, hg. v. Norbert Miller, München u.a. 1975, S. 7-259: Im neunten Zettelkasten ist von den „Wirbel[n] auf der Heerpauke des Jubelfestes“ (S. 148) die Rede. Vgl. auch Kapitel 189 (8. Fahrt) des Luftschiffers Giannozzo: „Aber da abends um 11 Uhr ein majestätisches Gewitter kam, das ordentlich zu gut und zu erhaben war für die Werkeltagsstadt: so flog der göttliche Gedanke in mir auf, allemal, während der Donner auf seiner Heerpauke fürchterlich wirbelte, an die Kammertüre wie ein Sprengblock mit dem ganzen Leibe anzurennen und sie etwan einzustoßen“. (Jean Paul: Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch (Komischer Anhang), in: ders.: Werke, Bd. 6: Titan II, hg. v. Norbert Miller, München u.a. 1975, S. 925-1010, hier S. 978.) 48 Eintrag: Heerpauke, in: Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, Leipzig 1877, Sp. 759; hier der Verweis auf die Heerpauke als Impulsgeber: „pulsare tympanon geminum“. 49 Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung, München 2008, S. 12.

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bert die zirkulierenden Phantasmen über die Kraft seiner Gegenwart. Vor allem aber schiebt es ihm – wie die Heerpauke – die eigene Schwächung unter. In einer kühnen Verschiebung des diskreditierten Feldinstruments auf die Seite Napoleons oder Guiskards als dessen Stellvertreter fügt Kleist die Kränkungen, die Preußen während der Besatzung selbst erfahren hatte, dessen Gegner zu. Durch die magische Dramaturgie des Guiskard wird nun Napoleon selbst in kalkulierten Schritten in die Situation der Ohnmacht versetzt, die nach der Niederlage von Jena-Auerstedt in Preußen herrschte. Zuletzt wird das napoleonische Handlungsvermögen durch das Dramenfragment noch in anderer Weise in Zweifel gezogen. Denn wenn an seinem verfrühten Ende eine unaufhaltsame Bewegung des Sinkens einsetzt, der sich keine greifbare Gegenkraft entgegenstellt, dann wird auch die Gattung in Mitleidenschaft gezogen, in der diese Kränkung thematisiert wird. Die Abwesenheit eines starken Gegenspielers auf Augenhöhe trifft auch die Gattung der Tragödie, die um 1800 immer noch den ersten und höchsten Rang in der Hierarchie der zeitgenössischen Gattungspoetik besetzt. Sie trifft ebenfalls die Vorgaben der aristotelischen Poetik, denen zufolge die Tragödie die Nachahmung der Handlungen ‚großer‘ Menschen sei. So ist der Guiskard vielleicht auch deshalb Fragment geblieben, weil Kleist seinem Helden Größe und Tragödienfähigkeit absprechen wollte. Dem Feind sollte keine Handlung zugeschrieben und kein Gegner zugeordnet werden, an dem er seine Kräfte hätte erproben können. Dem Sieger von Jena-Auerstedt verweigern die wenigen Szenen des Guiskard neben der ‚schimmernden Größe‘50 der Erscheinung auch die tragische Verlaufskurve, die dem tragischen Helden vorgezeichnet ist. Andererseits, und das ist womöglich der noch gravierendere Befund, entzieht Kleist dem Kriegsherrn einen sichtbaren und kenntlichen Gegner. Guiskard wird von ungreifbaren Kräften erledigt, denen er sich nicht stellen und die er nicht erkennen und greifen kann: der Epidemie, aber auch den Gerüchten über seine Erkrankung, die er anders als der Napoleon des Historiengemäldes von Antoine-Jean Gros nicht zum Schweigen bringen kann.51 Die dramatische Form, die die Sichtbarkeit ihrer Akteure voraussetzt, sieht sich hier nun von unsichtbaren Kräften bedroht, die sich der Gestaltung, aber auch der Bekämpfung entziehen. Statt eines Gegners auf Augenhöhe findet der ‚große Mann‘ des napoleonischen Typus nichts als eine Leere vor. Indem das Fragment 50 Vgl. erneut Görres: Resultate meiner Sendung nach Paris. 51 Zur strukturellen Verwandtschaft von Gerücht und Epidemie vgl. Cornelia Zumbusch: Die Immunität der Klassik, Frankfurt a.M. 2011, S. 52ff. Zur Verbreitungslogik von Gerüchten bei Kleist vgl. Elke Dubbels: Zur Dynamik von Gerüchten bei Heinrich von Kleist, in: ZfdPh 131 (2012), S. 191-211 sowie Torsten Hahn: Rauschen, Gerücht und Gegensinn. Nachrichtenübermittlung in Heinrich von Kleists Robert Guiskard, in: Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment 1750-1830, hg. v. dems., Erich Kleinschmidt u. Nicolas Pethes, Würzburg 2004, S. 101-121.

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abbricht, wird dem ‚großen Mann‘ das tragische Format verweigert und die weitere Handlungsfähigkeit aberkannt. Die wenigen Szenen, die ihm bleiben, schildern stattdessen den Verlust seiner Glaubwürdigkeit und das Schwinden einer fiktiven Größe. Wollte man dem fragmentarischen Status des Stückes eine Ratio unterstellen, so vielleicht diese.

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2. „Schreckenspomp“. Antitriumphalismus in Kleists Penthesilea

Tragödie als anti-triumphalistische Gattung Die Tragödie ist eine anti-triumphalistische Gattung. Sie steht in negativer Beziehung zum splendor der Erscheinung. Zumindest in ihrer neuzeitlichen Form setzt sie sich mit einem Ritual auseinander, das auf die göttliche Erhöhung souveräner Personen angelegt ist. Die Konstruktion der Gattung, wie sie in der Frühen Neuzeit in Frankreich, Italien, Deutschland und England stattfindet, ist zugleich die Dekonstruktion einer antiken Formel, die dem Siegeszug des Triumphators eine spezifische protokollarische Fassung gab. Ihr Angriffspunkt ist ein Zeichenrepertoire, das dem diente, was Steven Greenblatt „Renaissance self-fashioning“1 nennt. Ihre Kritik gilt Formen des Selbstentwurfs, die den einzelnen als Unsterblichen und Unbesiegbaren inszenierten. Historisch wird die Verbindung beider Formkomplexe daran sichtbar, dass die Wiederentdeckung römischer Triumphalformen in der Frühen Neuzeit zeitgleich mit der Wiederentdeckung der antiken Tragödien erfolgte. Nicht nur das Drama, gerade auch die Tragödie profitiert von der Neuedition triumphalgeschichtlicher Quellen im 15. Jahrhundert: Valturios De re militaria (1472) und Biondos Romæ Triumphantis Libri Decem (1482) bereiten ihr den Boden.2 Auch wenn nichts Neues damit gesagt ist, dass Tragödien menschliche Verblendung in katastrophischen Verläufen rächen, kann der Hinweis auf das römische Triumphritual die konkrete formgeschichtliche und formsemantische Seite dieser Zerstörung sichtbar machen. Richtet sich das Triumphritual darauf aus, einen Feldherrn über das Menschenmaß hinauszuheben,3 ihn in göttlichen Glanz zu kleiden und ins Zentrum eines Festzugs zu versetzen, der sich den Raum unterwirft, in den er einzieht,4 leistet die Tragödie dessen Demontage. 1 2 3

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Steven Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 2005, S. 2: Im frühneuzeitlichen Triumphalismus bezeugt sich das „increased selfconsciousness about the fashioning of human identity as a manipulable, artful process.“ Vgl. Anthony Miller: Roman Triumphs and Early Modern English Culture, Basingstoke/New York 2001, S. 38ff. Hier das Kapitel: Humanist Transmission. Therese Fuhrer: Triumph und Theater im Text. Literarische Inszenierungen imperialer Repräsentation in Rom, in: Theater und Fest in Europa. Perspektiven von Identität und Gemeinschaft, hg. v. Erika Fischer-Lichte, Matthias Warstat u. Anna Littmann, Tübingen/Basel 2012, S. 80-94, hier S. 87. Vgl. Ernst Künzl: Der römische Triumph. Siegesfeiern im antiken Rom, München 1988; Mary Beard: The Roman Triumph, Cambridge (Mass.)/London 2007; Hendrik S. Versnel: Triumphus. An Inquiry Into the Origin, Development and Meaning of the Roman Triumph, Leiden 1970, hier die Bezugnahme auf den Dionysos-Kult.

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Sie kann sich dabei zu Nutze machen, dass der römische Triumphzug selbst bereits die Möglichkeit zum tragischen Umschlag in sich enthielt. Schon der zeitgenössische Triumphaldiskurs insistierte darauf, dass die Selbstausstellung des triumphierenden unmittelbar in die Exposition des tragischen Subjekts umschlagen konnte. Auf die Ritualchoreografie bezogen übernimmt die Tragödie die Rolle des Einsagers, der dem siegreichen Feldherrn, während er ihm einen Kranz über das Haupt hielt, ins Ohr flüsterte, dass er nichts als ein Mensch und darum sterblich sei, dass sich sein Triumph in Pathos verkehren könne.5 Wie Anthony Miller in seiner Studie Roman Triumphs and Early Modern English Culture darlegt, profitiert gerade Shakespeares Tragödie von der renovatio römischer Triumphalformeln im zeitgenössischen, nach dem Sieg über die Armada siegesbewussten England. Besonders die Römerstücke arbeiten sich am formalen Repertoire römischer Triumphalhandlungen ab. Bereits seine erste Tragödie The most lamentable Romaine Tragedie of Titus Andronicus (1591/92) beginnt mit einer zeichenpolitischen Krise, wenn sie den Triumph des siegreich aus einem Kriegszug gegen die Goten zurückgekehrten Feldherrn Titus Andronicus scheitern lässt.6 Der tragische Verlauf wird hier buchstäblich aus einer triumphalen Exposition heraus entwickelt. Bereits im Triumphzug, der das Stück eröffnet, bereiten sich die kommenden Katastrophen vor, und buchstäblich aus den „rites that we intend“7 wird die Tragödie geboren und der „most lamentable“ Fall des Feldherrn eingeleitet. Die Ritualsyntax zerfällt somit im Moment ihrer Aktualisierung. Die triumphale Ankündigung: „Romans, make way, the good Andronicus,/ Patron of virtue, Rome’s best Champion/ Successful in the battles that he fights,/ With honour and with fortune is return’d/ From where he circumscribed with his sword,/ And brought to yoke, the enemies of Rome“8, ist nur der Beginn eines Niedergangs, die ihm „fortune“ und „honour“ wieder entziehen wird. Dabei geht Shakespeare mit protokollarischer Genauigkeit vor. Die Ausstellung der Kriegsbeute ersetzt er durch die Särge der getöteten Söhne des Titus, den Glanz des Festes besudelt er durch das Nefas eines blutigen Opfers und durch die triumphale Ausstellung der besiegten Gotenkönigin während des Triumphzugs zieht Titus einen Hass auf sich, der seinen Untergang zur Folge hat.

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Fuhrer: Triumph und Theater im Text, S. 84ff., S. 86ff. Vgl. auch Beard: The Roman Triumph, S. 85-92. Vgl. Miller: Roman Triumphs and Early Modern English Culture, S. 129f. Zum Triumph als Medium der Kritik vgl. ebd., S. 14ff. William Shakespeare: Titus Andronicus, in: The Arden Edition of the Works of Shakespeare, hg. v. James Cottus Maxwell, 3. Aufl., London 1984 (I/1, V. 81). Ebd. (I/1, V. 78, V. 64ff.).

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So muss der „progress of pomp“9 auch deswegen scheitern, weil der Krieg, der mit dem Triumph beendet werden soll, weiterläuft. Shakespeare setzt den Triumph an den Anfang und nicht ans Ende der Tragödie, als einen Moment symbolpolitischer Hybris, der nur die tragische Fallhöhe angibt, die der Held durchmessen wird. Alles richtet sich darauf, den instabilen Charakter der Ruhminszenierung zu unterstreichen und ein Subjekt, das im Moment des Sieges mit den Attributen der Göttlichkeit versehen wird, als eine Illusion vor fortlaufendem Kriegshorizont zu kennzeichnen.10 Das Gewaltgeschehen, aus dem es im Glanz des Siegers hervorzukommen scheint, fordert es wieder zurück. Ein Blick auf Aischylos zeigt, dass diese Relation bereits in den griechischen Ursprüngen der Tragödie zu erkennen ist. Schon der Auftritt des Xerxes nach der verlorenen Schlacht von Salamis in Aischylos‘ Die Perser ist ein invertierter Triumphalauftritt,11 wie auch jener von Agamemnon in der Oresteia, dem bei seiner siegreichen Rückkunft aus Troja ein roter Teppich ausgerollt wird, der ihn geradewegs in die Arme seiner Mörder führt. Schon hier wird nahegelegt, dass der Krieg nicht zurückgelassen werden kann und auch im Jetzt des triumphalen Augenblicks gegenwärtig bleibt. „Funkelpracht des Einzigen“ Kann so eine Gattungskonstante angenommen werden, die mehr oder weniger deutlich in unterschiedlichen Tragödienmodellen weiterwirkt, so findet sie sich bei Heinrich von Kleist in äußerster Zuspitzung wieder. Die Beziehung von Triumph und Tragödie steht im Zentrum auch seiner tragischen Anordnungen. Triumphale Amplifikation der Gestalt auf der einen und gewaltsamer Distinktionsverlust auf der anderen Seite sind ihre Grenzwerte und werden in drastischen Kontrast zueinander gesetzt. Besonders seine Kriegsdramen können in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Revival militärischen Triumphalismus im Zusammenhang der napoleonischen Kriege gesehen werden. Symbolpolitisch gesehen richten sie sich sowohl gegen napoleonische wie auch gegen preußische Siegesinszenierungen. Kleist, der bereits in Robert Guiskard auf Napoleons Prunkauftritte mit einer aggressiven Dekonstruktionsstrategie reagiert hatte, setzt die Tragödie

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Christopher Marlowe: Tamburlaine the Great. Part Two, in: The Complete Plays, hg. v. Mark Thornton Burnett, London 2000, S. 74-148, S. 75: „death cuts off the progress of his pomp/ And murd‘rous Fates throws all his triumphs down” (V. 4-5). 10 Insofern ist das tragische Subjekt dem miles gloriosus, dem prahlerischen Kriegshelden in der römischen Komödie, nicht unähnlich. 11 Vgl. Christopher Wild: Royal Re-Entries. Zum Auftritt in der griechischen Tragödie, in: Auftritte. Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien, hg. v. Annemarie Matzke, Ulf Otto u. Jens Roselt, Bielefeld 2015, S. 33-61, hier S. 37, S. 39ff.

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auch in der Penthesilea als anti-triumphalistische Waffe ein. Mit Kleists eigenen Worten gesagt geht es um die Zerstörung eines „großen Augenblicks“12. Dabei richten sich seine Kriegsdramen in besonderer Radikalität gegen das, was mit Hannah Arendt die „strahlende, Ruhm stiftende Helle“13 der Bühne genannt werden kann. Systematisch demontieren sie den Erscheinungsraum, den das Triumphalzeremoniell dem Sieger einräumt. Der Antitriumphalismus setzt sich in ein Bühnenkonzept um, das den illusionistischen Charakter aller Sichtbarkeit insgesamt vorführt. Aus der Diskrepanz zwischen triumphaler Figuration und fortdauernder Kriegsgewalt leitet sich eine Raumordnung ab, die den prekären Status der Figur und die Depotenzierung aller Figurationsvorgänge im Kriegstheater verdeutlicht. Diese Demontage realisiert sich zunächst in einer fortgesetzten Reihe von Auftrittskrisen. Die zahlreichen Prunkauftritte, die im Stück beschworen werden, erweisen sich schnell als ephemere visuelle Hyperbeln, die auf den Krieg, den sie zu überwinden scheinen, stets bezogen bleiben. Paradoxerweise treten sie dann zu Tage, wenn sie von Triumphrufen begleitet werden. Sooft das Wort ‚Triumph‘ laut wird, wird zugleich die phantasmatische Grundlage triumphaler Figuration offengelegt.14 Triumphrufe erweisen sich als die Äußerungsform einer stets hypothetischen Theatralität. Sie sind leerlaufende Akklamation15 und verdanken sich dem Begehren, dort etwas zu sehen, wo sich im Grund alle Unterschiede einebnen. Die Rufe „Heil Dir, du Siegerin! Überwinderin!/ Des Rosenfestes Königin! Triumph Dir!“16 oder „Triumph! Dort tritt Odysseus jetzt hervor!/ Das ganze Griechenheer, im Strahl der Sonne/ Tritt plötzlich aus des Waldes Nacht hervor“ (V. 461ff.) verfehlen die Lage, sie kommen verfrüht 12 Heinrich von Kleist an Adolphine von Werdeck am 29. November 1801, in: ders.: Sämtliche Werke u. Briefe, Bd. 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793-1811, hg. v. Klaus Müller Salget u. Stefan Ormanns, Frankfurt a.M. 1997, Nr. 58, S. 579-583, hier S. 279: „Wohl dem Arminius, daß er einen großen Augenblick fand.“ 13 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, S. 170. 14 Zu Phantasien der Unbesiegbarkeit bei Kleist vgl. Helmut J. Schneider: Kleists Ehrgeiz und Ruhmsucht, in: Kleist-Jahrbuch 2008/09, hg. v. Günter Blamberger u.a., Stuttgart 2009, S. 202213, hier S. 203. Hier mit Verweis auf Katharina Mommsen, die die Frequenz von Triumphalund Ermächtigungsbildern bei Kleist konstatiert. Vgl. Katharina Mommsen: Kleists Kampf mit Goethe, Heidelberg 1974, S. 160. Zur antizipatorischen Struktur als „potenzierte Vorwegnahme“ in Kleists Dramen vgl. Beda Allemann: Heinrich von Kleist. Ein dramaturgisches Modell, aus dem Nachlaß hg. v. Eckart Oehlenschläger, Bielefeld 2005, S. 13. 15 Zur Akklamation als Strukturelement des Triumphrituals vgl. Ernst Kantorowicz: Des „Königs Ankunft“ und die rätselhaften Bildtafeln in den Türen von Santa Sabina, in: ders.: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländischen Königtums, übers. v. Walter Brumm, hg. v. Eckart Grünewald u. Ulrich Raulff, Stuttgart 1998, S. 91-147, hier S. 126. 16 Heinrich von Kleist: Penthesilea. Ein Trauerspiel, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2: Dramen 1808-1811, hg. v. Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba, Frankfurt a.M. 1987, S. 143-256, hier S. 166 (V. 626f.). Zitate aus dieser Ausgabe werden im Folgenden im laufenden Text unter Angabe der Verse in Klammern belegt.

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und lassen den halluzinatorischen Charakter nicht nur des Triumphes, sondern jedes In-Erscheinung-Tretens bei fortdauerndem Krieg erkennbar werden. Die Plötzlichkeit, mit der Odysseus aus dem dunklen Grund des Waldes hervortritt – an anderer Stelle ist von der „Forst des Krieges“ (V. 219) die Rede – und die drastische Intensität, mit der Kleist das malerische Mittel des Chiaroscuro einsetzt, enthüllt gerade in der plötzlichen triumphalen Überzeichnung der Figur die Irrealität jeder Auftrittsvision. Die jubilatorischen Subjektformationen, die durch die Triumphrufe antizipiert werden, haben den Status „[b]untfarb’ge[r] Siegesbilder“17, die, wie es in der Herrmannschlacht heißt, „[d]as Aug‘ von dieser finstern Wahrheit ab[ ]wenden.“ Diese Verse zeigen auf nichts als den dunklen Grund und deuten die unausweichliche Überwältigung des chiaro durch das oscuro an. Auf einem Hügel leuchtend steht er da, In Stahl geschient sein Roß und er, der Saphir, Der Chrysolith, wirft solche Strahlen nicht! Die Erde rings, die bunte, blühende, In Schwärze der Gewitternacht gehüllt; Nichts als ein dunkler Grund nur, eine Folie, Die Funkelpracht des Einzigen zu heben! (V. 1038ff.)

Diese Stellen rechtfertigen es auch, auf der Basis der von Kleist inszenierten triumphalen Auftrittsvorgänge von einer krisenhaften Figur-und-Grund-Relation zu sprechen.18 Chaos des Krieges und übersteigerte Triumphalfigur realisieren sich als ein von Szene zu Szene kollabierender Gegensatz. In der Penthesilea wird ein progressives und ikonoklastisches Hintergrundgeschehen aktiviert, in dem sich die ikonische Differenz19 einer Figur nicht mehr dauerhaft stabilisieren lässt und der Spielraum sich selbst in den Grund entgrenzt.20 Das Proszenium 17 Heinrich von Kleist: Die Herrmannschlacht. Ein Drama, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 2: Dramen 1808-1811, hg. v. Ilse-Marie Barth u. Hinrich C. Seeba, Frankfurt a.M. 1987, S. 477-554, hier S. 46 (V. 345f.). 18 Zum doppelten Schauplatz bei Kleist vgl. Manfred Schneider: Die Welt im Ausnahmezustand. Kleists Kriegstheater, in: Kleist-Jahrbuch 2001, S. 104-119, S. 104ff. Vgl. auch Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung, hg. v. Alexandra Kemmerer u. Markus Krajewski, Frankfurt a.M. 2011, S. 38. 19 Vgl. Gottfried Boehm: Die ikonische Differenz, in: Rheinsprung 11 – Zeitschrift für Bildkritik 1 (2011), S. 170-178. 20 Bettine Menke hat in ihren Studien zum Auftritt die Unmöglichkeit der Abscheidung der Szene von der Backstage eindrücklich herausgestellt. Bettine Menke: Off/On, in: Auftreten: Wege auf die Bühne, hg. v. Juliane Vogel u. Christopher Wild, Berlin 2014, S. 180-188, hier S. 183; dies.: Die Suspendierung des Auftritts, in: Auftreten: Wege auf die Bühne, hg. v. Juliane Vogel u. Christopher Wild, Berlin 2014, S. 247-273. Samuel Weber und Bettine Menke argumentieren mit großer Eindringlichkeit, dass das theatrale Geschehen auch im Augenblick seiner Realisierung einem „Draußen“ verhaftet bleibt. Das theatrale Vor-Ort sein ist negativ bestimmt durchs Off. Nach Weber ist es „in sich eine Randerscheinung“, „strukturell“ „auf die Außenwelt angewie-

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als die privilegierte Auftrittsstelle erweist sich als ein gefährdeter, verwaister, ungern besuchter und vor allem von Mauerschauern besetzter Ort, die dem Publikum den Rücken zukehren und ihren Blick hypnotisch auf das kriegerische Kräftefeld gerichtet halten. Verschlingung, Entstellung, Verschmelzung, Verknäuelung und Verkeilung zeigen die Entregelung des Kriegsspiels21 jenseits der Bühne an und betonen zugleich die energetische Intensität, die jenseits des Proszeniums herrscht: „Wie in der Feueresse eingeschmelzt,/ Zum Haufen, Roß und Reut’rinnen, zusammen!“ (V. 433f.). Gegenüber der Macht dieses „durchlaufenden – kontinuierenden Grundes“, dem sich alles zuwendet, kann sich szenische Gegenwart nicht konstituieren. Der „Vorgrund“, wie es heißt, wird zum bloßen Reaktionsraum dessen, was im kriegerischen „Hintergrund“ vor sich geht.22 Von Beginn an werden die zentralen Figuren als Hintergrundwesen gekennzeichnet, die sich dem Auftritt wie ihrer triumphalen Überhöhung entziehen: Wenn es über Penthesilea heißt: „Sie rückt nicht aus dem Hintergrund hervor“ (V. 552), und über Achilleus: „Doch in den Gründen bald verschwand er mir“ (V. 349), werden die anti-theatralen Tendenzen einer vom kriegerischen Grund her dominierten Dramaturgie sichtbar. Der triumphale Erscheinungsraum wird durch ein invasives Kräftegeschehen entwertet, das alles, was nach vorne tritt, wieder zurückfordert und es einholt, um es sich einzuverleiben. Mit den Worten: „Nichts vom Triumph mir!“ (V. 628) verabschiedet sich Penthesilea sogleich wieder in die Backstage.

sen, nie ganz in sich abgeschlossen“ (Samuel Weber: Vor Ort. Theater im Zeitalter der Medien, in: Grenzgänge. Das Theater und die anderen Künste, hg. v. Gabriele Brandstetter, Helga Finter u. Markus Weßendorf, Tübingen 1998, S. 31-54, hier S. 34.). „Everything that takes place onstage relates constitutively to what has taken or will take place on-stage“ (Samuel Weber: The Incontinent Plot (Hamlet), in: Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, hg. v. Eva Horn, Bettine Menke u. Christoph Menke, München 2006, S. 233-252, hier S. 236). 21 Vgl. Schneider: Die Welt im Ausnahmezustand, S. 115, S. 108ff.; Rüdiger Campe: Zweierlei Gesetz in Kleists „Penthesilea“. Naturrecht und Biopolitik, in: Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz, hg. v. dems., Freiburg i.Br. u.a. 2008, S. 313-342, hier S. 325ff. Hier zur Auflösung „geordnete[r] Kontingenz“ in der Penthesilea. 22 Gottfried Boehm: Der Grund, oder das ikonische Kontinuum, in: Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, hg. v. dems. u. Matteo Burioni, München 2012, S. 29-95, hier S. 73. Zur Mauerschau vgl. Gabriele Brandstetter: Penthesilea. Das Wort des Greuelrätsels. Die Überschreitung der Tragödie, in: Kleists Dramen. Interpretationen, hg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 75-115, hier: S. 86. Vgl. Campe: Zweierlei Gesetz in Kleists „Penthesilea“, S. 331ff., hier aufbauend auf dem Begriff der Hypotypose.

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Auftritt mit Quadriga Die strukturbildende Bedeutung des verfehlten Triumphs in der Penthesilea schlägt sich jedoch vor allem darin nieder, dass das Stück zwischen zwei Triumphalauftritten aufgespannt ist. Der Triumph ist sein zentrales tektonisches Element. Es ist das Begehren nach einem festlichen Hervortreten, das ihm die Form gibt, und dessen Entzauberung, die sie ihm wieder entzieht. Im dritten und im 24. Auftritt finden sie in jeweils unterschiedlicher, doch aufeinander verweisender Form statt. Dabei hat sich selten ein Auftritt großartiger angekündigt als der Auftritt des Achill in der dritten Szene. Glanzvoll und in gerader Bahn scheint er sich aus der Tiefe der Bühne anzunähern. In der durch den Imperativ „Seht!“ eingeleiteten Mauerschau der Griechen entsteht das festliche Bild einer auf vierspännigem Wagen herannahenden und zum Proszenium vorstoßenden Siegergestalt. Gemäß der europäischen Triumphalikonografie wird Achills Auftritt als sonnenhaft, seine Annäherung als Sonnenaufgang vorgestellt. Die Verse folgen dem Stufengang der Sonne, die sich allmählich am Horizont erhebt: „So geht die Sonne prachtvoll/ An einem heitern Frühlingstage auf!“ (V. 368f.). Triumphalrufe identifizieren das Protokoll, dem sein Erscheinen verpflichtet ist, und rufen in Erinnerung, dass Grimms Wörterbuch den Auftritt als ein „sinnliches Aufsteigen“23 definiert hatte: „Triumph! Achilles ist’s! Der Göttersohn!/ Selbst die Quadriga führet er heran! Er ist gerettet!“ (V.370f.) Gleichzeitig zeigt die Versform selbst, wieviel von dieser ‚stellaren Gewissheit‘ des aufgehenden Sonnensterns zu halten ist. Nicht nur wird jeder Vers, der sein Aufsteigen beschreibt, mit einem Fragezeichen versehen, das den unmerklichen Stufengang in Frage stellt, er wird auch durch Zwischenfragen (‚Wessen?‘) unterbrochen, die die Evidenz der solaren Progression diskreditieren. Bereits auf halber Sonnenstrecke zeichnet sich außerdem ein Bildbruch ab, der die glänzende Totalität des Triumphalbildes in Zweifel zieht.24 Denn der Aufgang des Helden macht zugleich die Unstimmigkeiten sichtbar, die seiner vollen Realisierung entgegenstehen. Während sich dieser einerseits in Gradationsschritte des Aufsteigens auflöst, teilt er sich andererseits in zwei widerstreitende Hälften. Mit dem Überschreiten der Gürtellinie – „der gold’ne Gurt“ – wird der Triumphwagen zum Kriegsfahrzeug, der strahlende Held zum Zentauren.

23 Eintrag: Auftritt, in: Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854, Sp. 765f. 24 Zur Dichotomie von Staub und imaginärer Ganzheit vgl. Bettine Menke: Körper-Bild und -Zerfällung, Staub. Über Heinrich von Kleists „Penthesilea“, in: Körper – Gedächtnis – Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung, hg. v. Claudia Öhlschläger u. Birgit Wiens, Berlin 1997, S. 122-156, hier S. 138ff.

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Seht! Steigt dort über jenes Berges Rücken, Ein Haupt nicht, ein bewaffnetes, empor? Ein Helm, von Federbüschen überschattet? Der Nacken schon, der mächt’ge, der es trägt? Die Schultern auch, die Arme, stahlumglänzt? Das ganze Brustgebild, o seht doch, Freunde, Bis wo den Leib der gold’ne Gurt umschließt? […] Die Häupter sieht man schon, geschmückt mit Blessen, Des Roßgespanns! Nur noch die Schenkel sind, Die Hufen, von der Höhe Rand bedeckt! Jetzt, auf dem Horizonte, steht das ganze Kriegsfahrzeug da! […] (V. 356ff.)

Das Triumphalbild ist damit nicht mehr „simplex, unum et totum“, wie es in Horaz’ Ars poetica heißt25, sondern eine in seiner Anordnung monströse Erscheinung, die in ihrer zweiten Hälfte das Bild zerbricht, das sie in der ersten konstituiert. Dieses Bild steht auch nicht, wie die Betrachter zunächst behaupten, es befindet sich vielmehr in reißender Bewegung. Pferde, so wissen wir nicht erst seit Racines Phèdre, sind Ikonoklasten, die in der Entfesselung ihrer Kräfte den Kutscher in den Staub reißen und seinen Leib fragmentieren. Entsprechend wird auch die gravitätische Annäherung, die der Triumph ermöglicht, sogleich in einen Bildersturm umgewandelt. Wie sich zeigt, ist Achill weder Herr der Szene noch Herrscher über einen unterworfenen Erscheinungsraum. Der Sieger erweist sich als Verfolgter, der sich nicht gezielt nach vorne hin, sondern weiterhin im chaotischen Kräftefeld des Krieges bewegt. Sein Fahrzeug wird aus der Bahn „[z]ur Seit’“ (V. 424) herumgerissen, die aufgehende Sonne verschwindet im Grau einer stauberfüllten Gegend, die die Figur, die in der „Funkelpracht des Einzigen“ hervortreten möchte, sogleich absorbiert; sie wird umfangen und erstickt. James Elkins Bemerkung: „grounds might envelop and suffocate figures“26, beschreibt auch Kleists Dramaturgie der Entdifferenzierung, die den Prozessen der euphorischen Individuation, wie sie im Triumphprotokoll formalisiert sind, drastische Zustände der Ungeschiedenheit entgegensetzt: „Staub ringsrum,/ […] Das Aug’ erkennt nichts mehr, wie scharf es sieht“ (V. 433ff.)27 – eine solche Äußerung signalisiert den Kollaps der Figur-und-Grund-Unterscheidung und kehrt auch darin die anti-triumphalistische Seite der Kriegsdramaturgie hervor. Achill wird den ‚Vorgrund‘ nicht erreichen und auch in der Annäherung einem Energiefeld verhaftet bleiben, das ihn in den ‚Gründen‘ wieder entschwinden lässt. 25 Horaz: Ars poetica. Die Dichtkunst, Lateinisch/Deutsch, übers. u. mit einem Nachw. hrsg. v. Eckart Schäfer, Stuttgart 1997, S. 4. 26 James Elkins: On Pictures and the Words That Fail Them, Cambridge 1998, S. 115. 27 Zur Dichotomie von Staub und imaginärer Ganzheit vgl. Menke: Körper-Bild und -Zerfällung, Staub.

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Hinter den Siegesbildern lässt Kleist den ‚finsteren Grund‘ als die Wahrheit hervortreten. Triumph und Sonnenaufgang erweisen sich als „screen scenes“28, die teichoskopische Siegesbilder dort einblenden, wo in Wahrheit ‚Nichts‘ ist oder vielmehr nichts anderes als eine kriegerische Turbulenz, die die Figuren in sich und unter sich begräbt. Zugleich beginnen sich die Züge eines modernen Kriegstheaters abzuzeichnen, das, so Samuel Weber, von der „preponderance of energy over matter, of force over bodies, of power over place“29 gekennzeichnet ist. Dieser Abbruch einer triumphalen Figuration im Horizont der Bühne – die Tatsache, dass Achill die Rampe nicht erreicht – besitzt jedoch auch einen historischen Index. In ihm lässt sich der letzte Ausläufer einer Reihe von triumphalen screen scenes erkennen, um die sich, mit Albrecht Koschorke gesprochen, das preußische Imaginäre30 konzentriert. So verweist das in der Mauerschau verwendete Wort ‚Quadriga‘ auf einen Katastrophenpunkt der preußisch-napoleonischen Militärbeziehungen während der napoleonischen Kriege* eine Szene preußischer Erniedrigung, die in den Entstehungsjahren der Penthesilea langfristig traumatische Wirkung entfaltete. Es ruft einen Kontext auf, der die Diskrepanz zwischen Triumphalbild und ‚ungeheurer Wahrheit‘ offenlegt, zugleich aber auch die Erklärung dafür liefert, warum sie immer wieder neu aufbricht. Ihr wiederholtes Auftreten in Kleists Publikationen, so lautet die hier vertretene These, bezieht sich unmittelbar auf das Schicksal der Triumphalgruppe, die Gottfried Schadow für den Giebel des Brandenburger Tors geschaffen hatte. Das Gleiche gilt auch für das Frontispiz der von Kleist herausgegebenen Zeitschrift Phoebus, in dem das Fragment der Penthesilea erschien und das zu Recht mit Achills Auftritt in Verbindung gesetzt wurde (Abb. 27). Der Spannungsreichtum dieser Verbindung wird jedoch erst dann erkennbar, wenn darauf hingewiesen wird, dass beide das ‚Siegesbild’ einer Quadriga evozieren, die zum Zeitpunkt der Publikation auf dem Brandenburger Tor nicht mehr anzutreffen war. Sowohl Achills Sonnenauftritt wie auch das Deckblatt des Phoebus, auf dem sich die Bildmacht einer von einem vierspännigen Triumphwagen gezogenen Apollon-Figur entfaltet, umschreiben nichts anderes als die Leere im symbolpolitischen Zentrum Berlins. So verdecken und erinnern sie den Umstand, dass das preußische Triumphalbild par excellence von seinem Ort entfernt worden war. Napoleon hatte es nach der preußischen Niederlage von Jena und Auerstedt abmontieren und nach Paris verbringen lassen. Das Münchner Mittwochs- und Sonntagsblatt berichtet: 28 Vgl. Freddie Rokem: Meta-Theatricality and Screen-Scenes, in: Hamlet-Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen, hg. v. Peter W. Marx, Stuttgart 2014, S. 53-58. 29 Samuel Weber: Scene and Screen: Electronic Media and Theatricality, in: ders.: Theatricality as Medium, New York 2004, S. 97-120. 30 Albrecht Koschorke u.a.: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M. 2007.

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Abb. 25: Das Brandenburger Tor ohne Quadriga (1813/1814). Die Quadriga – der Triumphwagen – ist jetzt von der Attika des […] brandenburger Tores zu Berlin abgenommen worden, um nach Paris geschafft zu werden. In dieser nach antiker Form verfertigten Quadriga sitzt die Göttin des Sieges mit den Siegeszeichen in der Hand.31

Diese Leere, die bis zu ihrer Rückführung im Jahr 1814 und darüber hinaus in Berlin und Preußen gegenwärtig blieb,32 manifestierte sich jedoch nicht in völliger Abwesenheit, sondern im Überrest einer eisernen Stange, die Schadows Victoria 31 Münchner Mittwochs- und Sonntagsblatt für den gebildeten und bildungsfähigen Bürger und Landmann in Baiern in Deutschland überhaupt, München 1806, Nro. 16, 28.12.1806, S. 418. Vgl. Emil von Siefart: Aus der Geschichte des Brandenburger Tores und der Quadriga, Berlin 1912, S. 75ff.; Michael S. Cullen u. Uwe Kieling: Das Brandenburger Tor. Die Geschichte eines deutschen Symbols, Berlin 1990, S. 43-46; Hannelore Gärtner: Im Angesicht ihrer neu errungenen Glorie. Raub der Quadriga vom Brandenburger Tor durch Napoleon I. 1806 und ihre Rückführung 1814 von Paris nach Berlin, in: Die Quadriga auf dem Brandenburger Tor. Zwischen Raub, Revolution und Frieden, hg. v. Ulrike Krenzlin, Berlin 1991, S. 13-26. 32 Wie die Memoirenliteratur des 19. Jahrhunderts zeigt, schürte diese Erinnerung das anti-französische Ressentiment während des folgenden Jahrhunderts und konnte zuletzt für die geistige Mobilisierung der Deutschen gegen Frankreich um 1870 fruchtbar gemacht werden: „In den langen Jahren der Unterjochung ragte die eiserne Stange, die der Viktoria als Stütze diente, leer über das Tor hinaus. Jeden Vorübergehenden mußte die Stange mächtig in die Augen und Herzen stechen und jeder mußte diese Kränkung von neuem empfinden.“ (Siefart: Aus der Geschichte des Brandenburger Tores und der Quadriga, S. 76.).

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Abb. 26: Das Brandenburger Tor, Berlin den 10ten April 1814.

als Stütze gedient hatte und fortan in ihrer sinnabwehrenden Materialität die Abwesenheit der Quadriga schmerzlich verdeutlichte (Abb. 25). „Jetzt stehen auf dem Thore nur noch eine hohe eiserne Stange, an welches das ganze [die Quadriga; J.V.] befestigt war, und die eine böse Erinnerung macht.“33

Bereits 1806 hatte der Homerforscher Friedrich August Wolf in einem in deutscher wie in lateinischer Sprache verfassten Distichon diese Stange zum Stachel im preußischen Fleisch umgedeutet: Cuspis portae Brandenburgicae „Exstans magnanimam pupugi probe aculeus urbem: Post pugnam latinans, huc redeunte Dea.“ Das Brandenburger Thor „Ragend reizte mit Macht mein Stachel die edlen Berliner: Reiz‘ er sie ferner versteckt, kehr mir die Göttin zurück.“34 33 Zitat Das Neue Deutschland, 7. Februar 1814, Artikel: Französische Plünderungen. Der Siegeswagen vom Brandenburger Tor, S. 15. 34 Zitat von Friedrich August Wolf, Altertumsforscher und Kritiker, in Siefart: Aus der Geschichte des Brandenburger Tores, S. 93.

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Abb. 27: Ferdinand Hartmann, Phöbus über Dresden, Entwurf für einen Theatervorhang (1808).

Es ist dieser übriggebliebene Stachel, der in der Erststellung des Wortes „Exstans“ betont wird und die Produktion von triumphalen Trugbildern antreibt. Kleists Quadrigen besetzen und umspielen „the little piece of the real“35 im Zentrum der Bildphantasie, die bei ihrem Auftauchen stets auf eine leere Auftrittsstelle verweist. ‚Exstans‘ reizt er zu immer neuen phantasmatischen Auftrittsphantasien. Im Auge erregter Betrachter oder Mauerschauer schlägt der Mangel in jubilatorische Fülle um, in ihm kehrt das geraubte Fahrzeug als „sinnliches Aufsteigen“ zurück. Die „Funkelpracht des Einzigen“ ist somit nichts anderes als ein solares – oder besser gesagt phoebisches – Frontispiz oder Deckblatt, das einen Grund verdeckt, in dem es nichts zu sehen gibt. Eine solche Lesart kann auch durch die Entstehungsgeschichte des Phoebus-Deckblattes gestützt werden, das auf eine Zeichnung Ferdinand Hartmanns zurückgeht, welche, wie 35 Folgt man Žižeks von Lacan inspirierter Theorie des Imaginären, ist es „the little piece of the real“ – „an extimate kernel“ im Zentrum der Bildphantasie, das die Lücke im „Herz des Symbolischen“ anzeigt: „[s]omething sticks out“. (Slavoij Žižek: Looking Awry. An Introduction to Jacques Lacan through Popular Culture, Cambridge (Mass.) 1991, S. 52.).

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Ernst Osterkamp36 gezeigt hat, zunächst als Entwurf für einen Dresdner Theatervorhang, also ihrerseits als ein screen gedacht war. Wie der Auftritt Achills ist auch Phoebus eine Vordergrundvision, die dunkle und leere Theater im Hintergrund verdeckt.37 Raptus Ihren Höhepunkt erreicht die Spannung zwischen Siegesbild und Kriegsgrund jedoch im 24. Auftritt, der als zweiter Pfeiler der stückbestimmenden Triumphalstruktur nun auf Seiten Penthesileas die Triumphalzeichen ins Spiel bringt. Es ist ihr letzter Auftritt, bei dem sie bekanntlich nach dem Vorbild von Euripides’ Bacchen mit dem zerstückelten Leichnam Achills auf der Bühne einzieht38 und in dem die gebrochene Triumphalstruktur des Stückes ihre letzte, abschließende Realisierung findet. Nachdem sie im Kriegsgrund gewütet hat, erscheint sie in einem Zustand triumphaler Verblendung auf der Bühne. Ihr Auftritt erfüllt die Kriterien für einen mock triumph oder eine Triumphalparodie, in der sich ein Unterlegener oder Getäuschter als vermeintlicher Sieger inszeniert und in einem seiner realen Lage drastisch widersprechenden Prunk in Erscheinung tritt. Triumphe dieser Art resultieren aus einem Akt der Selbstverkennung, indem sie als das rühmliche Ergebnis einer souveränen Handlung ausgeben, was im Zustand der Umnachtung geschieht und zum Schaden des Triumphierenden ausschlägt. Kennzeichen solcher Triumphalparodien, die bereits aus der Antike überliefert sind,39 ist das Ergriffensein durch eine Leidenschaft, die dem Subjekt, das sich im Triumph als allmächtig verkennt, die Kontrolle über sich selbst wie über die Szene entzieht. Merkmal dieser, aus den Bacchen des Euripides heraus entwickelten, nicht-souveränen Auftrittsform ist der Raptus: Das Fortgerissenwerden im Erscheinen durch eine überlegene narkotisierende Macht, die das wahre Imperium über die Szene besitzt. Im Fall der Tragödie des Euripides ist es Bacchus oder Dionysos selbst, der triumphierende Gott, der die Unterworfenen dadurch demütigt, dass er sie in ihrer Niederlage 36 Ernst Osterkamp: Das Geschäft der Vereinigung. Über den Zusammenhang von bildender Kunst und Poesie im ‚Phoebus‘, in: Kleist-Jahrbuch 1990, S. 51-71, hier S. 53: „Die Zeichnung war ursprünglich von dem genialen Hartmann zu einem Vorhange für das Dresdner Theater entworfen […].“ 37 Vgl. Campe: Zweierlei Gesetz in Kleists „Penthesilea“, S. 333. 38 Zur Verbindung zu Agaue, der Mutter des Pentheus, die ihren Sohn zerreißt, vgl. Bernhard Böschenstein: Die ‚Bakchen‘ des Euripides in der Umgestaltung Hölderlins und Kleists, in: Aspekte der Goethezeit, hg. v. Stanley A. Corngold, Michael Curschmann u. Theodore J. Ziolkowski, Göttingen 1977, S. 240-254, hier S. 252ff. 39 Vgl. Miller: Roman Triumphs and Early Modern English Culture, S. 29ff.

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wahnhaft triumphieren lässt. Seinen Illustrations on Ion und Bacchae hat Richard Paul Jodrell, einer der wichtigen Bacchen-Kommentatoren des 18. Jahrhunderts, ein Motto voranstellt, das diese Passivität im Triumph und die Gewalt des Fortgerissenwerdens im bacchantischen Taumel prägnant formuliert: „Quo me Bacche rapis tui/ plenum“ – „Wohin ziehst Du mich, Bacchus, Fülle meines Herzens, Gott des Rauschs?“40 Damit wird der Akt der triumphalen Selbstsetzung auch in der Penthesilea zur Pathosszene, in der sich Triumph in Raptus, Souveränität in Wahn, Lorbeer in christliche Dornen und Akklamation in Entsetzen verkehrt und die an die Triumphalform geknüpfte Auftrittsmacht in die Selbst-Exposition eines Deliriums transformiert: Seht, seht, ihr Frau’n! – Da schreitet sie heran, Bekränzt mit Nesseln, die Entsetzliche, Dem dürren Reif des Hag’dorns eingewebt, An Lorbeer-Schmuckes statt, und folgt der Leiche, Die Gräßliche, den Bogen festlich schulternd Als wärs der Todfeind, den sie überwunden. (V. 2704ff.)

Was hier aus der Perspektive der Mauerschau zu sehen ist, ist der einzige emphatische Auftritt, der sich in der Penthesilea realisiert. In der Tat handelt es sich um ein festliches Vorschreiten aus dem Grund bis zur Rampe. Zugleich aber ist die endgültige Kapitulation der Figur damit besiegelt. Denn der Triumph, der das Ende der Kämpfe bezeichnet, bringt die Schrecken des Krieges, die sie eigentlich zurücklassen müsste, nun selbst auf die Bühne. Die Kräfte, die in der öffentlichen Triumphalform als bezwungen gelten, machen sich in triumphaler Weise geltend. Wenn der Triumph dazu dient, durch gesteigerten splendor die Fragmentierung vergessen zu machen, die das Subjekt in den Kriegsgründen erleidet, und es mit einem kraftvollen und raumnehmenden Schritt aus der Szene der Gewalt herauszuführen, so ist es zuletzt dieser gewaltträchtige Grund selbst, der in Penthesilea triumphiert. Mit der zerrissenen Beute dringt der Krieg in die Figur, dringen die membra disiecta Achills in den glänzenden Umriss des Triumphators ein. Im Erscheinen führt Penthesilea die Backstage mit sich, die sie auch im Auftritt fortreißt. Ihre Figur, so könnte man wiederum mit James Elkins sagen, ist „mingled with background“41, vom Kriegsgrund durchsetzt.

40 Motto in: Richard Paul Jodrell: Illustrations of Euripides, on the Ion and the Bacchae, London 1781. 41 Elkins: On Pictures and the Words That Fail Them, S. 100.

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3. Dionysische Regung. Von Rousseaus Pygmalion zu Nietzsches Die Geburt der Tragödie

Auftritt der Statue Sucht man nach einer Urszene des Auftritts des 18. Jahrhunderts, wird man an Rousseaus Pygmalion nicht vorbeikommen. Das Monodrama oder vielmehr Melodram, das vom Begehren eines Bildhauers nach einer von ihm selbst geschaffenen Skulptur handelt, erreicht seinen Höhepunkt in dem Moment, in dem ein geformter Stein von seinem Sockel auf Stufen herab und auf die Bühne tritt. Das Gebet des Künstlers an die Göttin Venus bewirkt, dass sich ein zwar lebensechtes, doch lebloses Bild in Bewegung setzt. Rousseaus Szene handelt von nichts anderem als von den Bedingungen, unter denen eine Figur, die zunächst schön, aber unbewegt im Hintergrund – „[d]ans le fond“1 – zu sehen ist, zum Auftritt kommt. Schon das Bühnenbild antizipiert diesen Auftritt, indem es die Statue der Galathée auf ein mit Stufen versehenes Piedestal stellt und uns somit von vornherein den Weg zeigt, den sie gehen wird. Gegenstand der rudimentären Handlung des Einakters ist es, die zwei komplementären rhetorischen Prinzipien enargeia und energeia zusammenzuführen, die in ihrer Summe die theatrale Evidenz eines Auftritts ergeben. Der Effekt der Verlebendigung resultiert aus der Zusammenkunft von Bild und Bewegung. Rousseaus Monodrama Pygmalion dramatisiert den Versuch, Anschaulichkeit und Kraft so miteinander zu verbinden, dass sich das leblose Bild der Nymphe in Bewegung setzt – „se mouvoir et descendre“2 – und mit unwiderleglicher Überzeugungskraft auch den ungläubigen Bildhauer an ihre Bewegung glauben macht. Erscheint die Statue zunächst als „insensé“3, „immobile et „froid[e]“4, so gewinnt sie eine lebendige Gegenwärtigkeit, die sich durch Schreiten – nicht wie bei Ovid durch Tasten – äußert. Energeia muss durch enargeia ergänzt werden oder wie es bei Jan-Dirk Müller heißt: „Es muss etwas hinzukommen.“5 Wir wollen uns hier nicht mit den komplexen Projektionen 1 2 3 4 5

Jean Jacques Rousseau: Pygmalion. Scène lyrique, in: Œuvres complètes, Bd. 2: La Nouvelle Héloïse, Théatre – Poesies, Essais Littéraires, hg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond, Paris 1961, S. 1224-1231, hier S. 1224. Ebd., S. 1230. Ebd., S. 1227. Ebd., S. 1228. Vgl. Jan-Dirk Müller: Evidentia und Medialität. Zur Ausdifferenzierung von Evidenz in der Frühen Neuzeit, in: Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften, hg. v. Helmut Lethen, Ludwig Jäger u. Albrecht Koschorke, Frankfurt a.M./New York 2015, S. 261-290, hier S. 268. Zum Verhältnis von Bild und Bewegung im Kontext Pygmalion vgl.

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befassen, die dieses Wunder herbeiführen, sondern zunächst die Komponenten festhalten, die dem Auftritt Wirksamkeit verschaffen. Pygmalion ist dramatisierter Kunstdiskurs insofern, als er uns erstens vorführt, welche Elemente für die Durchführung eines Auftritts unverzichtbar sind, und zweitens das Verhältnis bestimmt, das Anschaulichkeit und Kraft miteinander eingehen. Auf der Szene des Monodramas herrscht ein vollkommenes Zusammenspiel zwischen der Stabilität der skulpturalen Form und der Gemessenheit der Bewegung. Der enargeia des schönen Bildes wird ein genau dosierter Kraftbetrag zugeführt, der sicherstellt, dass die vollkommene Form der Statue durch sie verschönert und nicht entstellt wird. Heftige Bewegungen finden sich nur auf Seiten des Künstlers, der über seiner eigenen Unfruchtbarkeit verzweifelt. Genauere Auskünfte zu Tempo und Intensität dieser Animation sind allerdings nicht dem Text selbst zu entnehmen, sondern den Vertonungen, die er durch Rousseau selbst und andere erfuhr. Ein Blick auf das Werk des deutschen Komponisten Georg Anton Benda (1722-1795), der neben anderen Monodramen auch Rousseaus Pygmalion vertonte, vermittelt einen Eindruck von den Zeitmaßen, die diesem Auftritt zugemessen werden. Die musikalische Passage, die der Animation das Tempo vorschreibt, ist mit der Bezeichnung ‚allegretto‘ versehen. Sie schreibt der Statue eine gemächliche Bewegung vor, die auf einen Ausgleich zwischen marbre und Leben ausgerichtet ist. „Allegretto bedeutet in der Music, ein wenig munter, oder fröhlich, aber doch auf eine angenehme artige und liebliche Art.“6 Dieses gemäßigte pygmalionische Modell dient dem klassizistischen Diskurs zumindest in Deutschland als Maßstab für ein gelingendes Auftreten. Ausgehend von Rousseaus Pygmalion etabliert sich ein klassizistischer Topos, der im Übergang vom späten 18. ins 19. Jahrhundert eine statuarische Überformung theatralen Spiels und dramatischer Abläufe insgesamt vornimmt. Die Plastik wird zum zentralen Referenzmedium einer Kunst, die in Text und Aufführung darum bemüht ist, auch im Moment der heftigsten Bewegung die formale Kontrolle über den Körper zu bewahren. Wird das Drama als die Gattung des movere – die Gattung der in körperliche und seelische Bewegung gesetzten Leidenschaften bestimmt, setzt ihr die Plastik ein festes Behältnis entgegen.7 Der Topos von der Sta-

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Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der „Darstellung“ im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 46ff. Eintrag: Allegretto, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 1, Leipzig/Halle 1732-1754, Sp. 1239. Vgl. auch Edgar Istel: Jean-Jacques Rousseau als Komponist seiner lyrischen Scene „Pygmalion“, Leipzig 1901, über die Vertonung durch Horace Coignet. Auch hier wird die Musik des Animationsmoments als „lieblich tänzelnd“ (S. 65) charakterisiert. Ulrich Port: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755-1888), München 2005, S. 161ff. Bernice Kaminskij: Affekte im Drama, in: Drama. Grundthemen der Literaturwissenschaft, hg. v. Andreas Engelhardt u. Franziska Schössler, Berlin 2017 (im Druck).

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tue auf der Bühne gründet auf der Überzeugung, dass nur der Stein die inneren und äußeren Bewegungen einzudämmen in der Lage ist, die durch die dramatische Handlung freigesetzt werden. Auch Goethe empfiehlt dem Schauspieler im Gespräch mit Eckermann, bei den griechischen Statuen „in die Lehre zu gehen“ und sich „die ungesuchte Grazie ihres Sitzens, Stehens und Gehens“8 einzuprägen. Alles, was unter die Klasse der Bewegungen fällt: Leidenschaften, Gesten und Gangarten werden im Rekurs auf die kanonisierten Standbilder der Antike modelliert.9 Das klassizistische Spiel orientiert sich damit an einer sukzessionsund bewegungslosen Kunst, der, wie Hegel in seiner Ästhetik anmerkt, nur ein „erster und leichter Beginn von Handlung“10 möglich ist. Pygmalionisch betont es dabei erneut den inchoativen Moment des Eingangs – Anfang und Impuls des lebendigen Hervortretens, zugleich aber den Vorrang der stabilen Form vor der emotionalen und dramatischen Dynamik, die sich aus dem Fortgang der dramatischen Handlung ergibt. Dies gilt insbesondere für die Gattung der Tragödie, deren Helden, wie es in Hegels Ästhetik heißt, „durch freies Beruhen auf sich große und feste Individuen, gleichsam zu Skulpturwerken hervorgehoben“11 sind. Wenn die Gattung der Tragödie verlangt, dass ein Individuum in körperlicher Totalität aus einem ungeteilten Ganzen hervortritt, dann erhält es im „Skulpturwerk“ einen festen Umriss. Zugleich ist die ebenso lebendige wie gemäßigte Bewegung erfasst, mit der es hervortritt. Somit überlässt auch Hegel die „erscheinende Tätigkeit“, die im Zentrum der Tragödie steht, der Plastik. Den Akt der Individuation oder Besonderung, den seine Überlegungen umkreisen,12 delegiert auch er an den Stein. Dieser Übertragung liegt auch hier die Annahme zugrunde, dass nur die Skulptur jenes „artikulierte, oder besser noch: […] artikulierende Erscheinen“13 durchlaufen könne, das dem Individuum „Lebendigkeit und Bestimmtheit“ verleihe. Nur der statuarische Körper, nicht jedoch der Schauspieler kann das Akzidentielle abstreifen, das dem Menschenkörper anhaftet. Auch hier ist der Nutzen der Statuenmetapher vor allem darin zu sehen, dass sie die Bewegung, sei es die innere der Seele oder die äußere des Körpers, in eine souveräne, sichere Form einschließt:

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Johann Peter Eckermann über Goethe am 1. April 1827, in: ders.: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens 1823-1832, in: MA 19, S. 592-597, hier S. 594. Zum Folgenden vgl. Juliane Vogel: Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der „großen Szene“ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts, Freiburg i.Br. 2002, S. 310 (Kapitel: Slow motion). Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesung über die Ästhetik III, in: ders.: Werke, Bd. 15, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, S. 357. Ebd., S. 522. Vgl. Walter Kaufmann: Philosophie und Tragödie, Tübingen 1980, S. 221ff.; Peter Szondi: Versuch über das Tragische, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1964, S. 20ff. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München 2000, S. 21.

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In diesem Lokale treten sodann die Skulpturbilder beseelt auf und machen ihr Wollen und Empfinden in künstlerischer Ausbildung sowohl durch ausdruckvolle Rezitation als auch durch ein malerisches Mienenspiel und von innen her geformte Stellungen und Bewegungen des übrigen Körpers objektiv.14

Anschließend an Hegel lässt sich jedoch zeigen, wie das skulpturale Containment oder die Fassungskraft der Statue, die das pygmalionische Spiel behauptet, allmählich nachlässt. Anhand von Anselm Feuerbach, hauptsächlich aber an Friedrich Nietzsche soll der Frage nachgegangen werden, wie die Relation von Anschaulichkeit und Kraft aus dem Gleichgewicht gerät und von neuen Energieverhältnissen abgelöst wird, die die Tempobezeichnung ‚allegretto‘ nicht mehr rechtfertigen. Diese Entwicklung hat damit zutun, dass die Tragödie mit einer reißenden Bewegung in Verbindung gebracht wird, die die Umrisse ihrer Figuren bereits im Moment ihres Auftretens der Zerstörung preisgibt. Wie im Folgenden zu zeigen ist, wird die Statuenmetapher, die die tragische Menschenform auch im Sturm der Affekte stabilisieren sollte, zunehmend den Gefahren einer grenzensprengenden Bewegung oder kinesis ausgesetzt, die alles Unterschiedene einzuebnen droht. Die Tragödie wird im Diskurs des 19. Jahrhunderts als ein energetisches Ereignis – d.h. als Ausdruck einer reißenden Kraft und damit als eine exzessive energeia – aufgefasst, dessen Gewalt im Erscheinenden zu Tage tritt; die konzeptionelle und formale Bewältigung dieser Gewalt rückt ins Zentrum des Diskurses über die Tragödie. Diese Entwicklung steht nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Entdeckung einer kultischen und archaischen Antike in den zeitgenössischen Altertumswissenschaften,15 die hinter der antiken Idealwelt eine mythische Gewalt wahrnimmt, die sich in pygmalionischen Begriffen nicht mehr beruhigen lässt. Je mehr von der dionysisch-bacchantischen oder mänadischen Seite der Antike zum Vorschein kommt, desto deutlicher verschieben sich die Maßstäbe tragischer Bewegung. Bei so veränderten energetischen Vorzeichen werden auch Auftritte als Momente möglicher Überschreitungen wahrgenommen. Zunehmend werden sie zu potentiellen Einfallstoren einer einschießenden oder überschießenden Energie, die Containment und Umrisse der Skulptur zu verzerren 14 Hegel: Vorlesung über die Ästhetik III, S. 505. 15 Eintrag: Dionysos, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 3, hg. v. Hubert Cancik u. Helmut Schneider, Stuttgart 1997, Sp. 625-649. Zur Rolle Friedrich Creuzers vgl. Timo Günther: „Dionysos“. Zur Konjunktur einer neuplatonischen Denkfigur im Tragödiendiskurs der Moderne, in: Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose, hg. v. Daniel Fulda u. Thorsten Valk, Berlin/New York 2010, S. 161-176, hier S. 162. Vgl. auch Oliver Leege: Dionysos in der modernen Religionsgeschichte, in: Dionysos. Verwandlung und Ekstase, hg. v. Renate Schlesier u. Agnes Schwarzmaier, Regensburg 2008, S. 132-142; Peter-André Alt: Katharsis und Ekstasis. Die Restitution der Tragödie als Ritual aus dem Geist der Psychoanalyse, in: Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose, hg. v. Daniel Fulda u. Thorsten Valk, Berlin/New York 2010, S. 177-206.

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Abb. 28: Anselm Feuerbach, Der Vaticanische Apollo. Eine Reihe archäologisch-ästhetischer Betrachtungen (1833), Frontspiz.

drohen, aber auch das Theater mit sich reißen, in das sie einbricht. Gleichzeitig beginnen sich die Züge eines modernen Theaters abzuzeichnen, das, so Samuel Weber, von der „preponderance of energy over matter, of force over bodies, of power over place“16, gekennzeichnet ist.

16 Samuel Weber: Scene and Screen: Electronic Media and Theatricality, in: ders.: Theatricality as Medium, New York 2004, S. 97-120, hier S. 98.

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Joseph Anselm Feuerbach In seiner 1833 erschienenen Schrift Der Vaticanische Apollo entwickelt der Altertumswissenschaftler und Archäologe Anselm Feuerbach, der nicht mit seinem gleichnamigen malenden Sohn verwechselt werden sollte, einen Begriff der Tragödie unter Hegel’schen Vorzeichen. Der Autor einer Bewegungsstudie zur antiken Plastik beschreibt das griechische Drama in Begriffen skulpturaler Evolution. In seiner an klassizistischen Theatertopoi orientierten Darstellung werden die tragischen Figuren als Statuen vorgestellt, die zunächst in festumschriebener Form in Erscheinung und zueinander in Kontrast treten: Als die Glieder eines großen Ganzen betrachtet, treten die einzelnen Charaktere der griechischen Tragödie in fester Umgränzung auseinander, ohne darum durch gesuchte Kontraste sich malerisch zu heben, ohne sich zu verdecken und zu verschatten. Sie isolieren sich wie Statuen, jede gesondert auf sich selbst beruhend, keine in dämmernder Luftperspective sich verlierend, alle, auch die Nebenfiguren, in der gediegensten Vollständigkeit.17

Auch wenn die Festigkeit des Statuarischen die Grundlage der Überlegungen Feuerbachs bildet, gehen diese doch in zwei entscheidenden Punkten über Hegel hinaus. Erstens rückt er die skulpturale Dimension der Tragödie so weit in den Vordergrund, dass ihr dramatischer Charakter ganz aus dem Blickfeld gerät. Handlungen beachtet er nur insofern, als sie auf das Plastische Bezug nehmen. Zweitens wird die Bewegung der Statue nun in einer Weise emphatisiert, die über die konventionelle Theatertopik Hegels weit hinauszielt. Mit einer Unermüdlichkeit, die als obsessiv zu bezeichnen man nur schwer vermeiden kann, verfolgt Feuerbach in seiner Schrift das Hervortreten griechischer Plastiken. In einer scharfen Wendung gegen populäre Vorstellungen von „stille[r] Größe“ forciert der Verfasser des Vaticanischen Apoll eine „energische Kraft“18, die an der Statue den Schein des Vorschreitens und damit des Auftritts erzeugt. Er listet dazu zahllose Beispiele auf, in denen Statuen ihre Beine heben und dadurch beim Betrachter eine Bewegungsillusion anregen. Entgegen der verbreiteten Meinung, dass die Statue ein in sich gekehrtes, stillstehendes Artefakt sei, betont er mit Nachdruck deren Mobilität. Entsprechend lässt er die Geschichte der griechischen Skulptur dort beginnen, wo die statischen Bilder der ägyptischen Götter zu starken Schritten ansetzen.19 17 Anselm Feuerbach: Der Vaticanische Apollo. Eine Reihe archäologisch-ästhetischer Betrachtungen, Nürnberg 1833, S. 327f. 18 Ebd., S. 11. Zur Dramaturgie der Statue vgl. Vogel: Die Furie und das Gesetz, S. 307-349. Zum Pygmalion-Komplex vgl. Matthias Meyer u. Gerhard Neumann (Hg.): Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg i.Br. 1997. 19 Vgl. Feuerbach: Der Vaticanische Apollo, S. 17ff.

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Mit dieser Akzentverschiebung verbindet sich ein folgenreicher perspektivischer Wechsel, der die Sicht nicht nur auf die griechische Plastik, sondern auch auf die Figuren der Tragödie verändert, die aus dieser abgeleitet werden. Beide – der tragische wie der plastische Personenkreis – werden von Feuerbach nicht in ihrem ‚Sein‘, sondern in ihrem ‚Erscheinen‘ und das heißt auch: in ihrem ‚Auftritt‘ wahrgenommen. Folgende Passage über den Apollo von Barberini und eine in Dresden befindliche Minerva macht deutlich, in welchem Ausmaß Feuerbachs Theater der Skulpturen Auftrittstheater bzw. Theater des In-Erscheinung-Tretens ist: Der linke Fuß ist aber zum Schritte gehoben, und unbeschreiblich die Majestät, mit welchem die Statue dem Beschauer entgegenzutreten, und dann inne zu halten scheint, um dann das Wort eines Flehenden zu vernehmen. – Mächtiger ausschreitend zeigt sich eine Minerva in Dresden. Sie ist als Promachos gedacht, rasch zum tätigen Beistand vom Olymp herniedereilend. In beiden Statuen sind die Götter unverkennbar nicht blos als seiend, sondern als erscheinend dargestellt; ihre Stellung sagt ganz dasselbe, was jene bekannte Formel sagt, womit die Götter die tragische Bühne zu betreten pflegen.20

Unter diesen Voraussetzungen kann eine Analogie zwischen dem Auftritt einer tragischen Person und der ‚Erscheinung‘ einer griechischen Statue schnell hergestellt werden. In den Augen Feuerbachs setzen sie sich jeweils mit derselben dynamischen Anfangsbewegung in Szene. Ihre Vergleichbarkeit beruht nicht nur auf der Abgeschlossenheit ihrer Kontur, sondern vor allem auf der ‚energischen Kraft‘ ihres ersten Ausschreitens. Wenn Feuerbach von der Tragödie handelt, fällt sein Blick zuerst auf die Auftritte tragischer Helden. Zur Illustration für die wechselseitige Stimulation der verwandten Künste Plastik und Tragödie zitiert er Beispiele aus dem Philoktet von Sophokles, aus den Eumeniden und insbesondere den Auftrittsvers des Orest aus den Choephoren des Aischylos: „heko […] kai katechomei“21. Diese Zitate evozieren im Kontext von Feuerbachs Argument eine gesteigerte Bewegungsimagination, die anschließend von der Statue auf den Schauspieler übertragen und idealtypisch als „ein rhythmisch gemessenes, imposantes Einherschreiten“22 vorgestellt wird. Wie bereits der Titel von Feuerbachs Schrift angibt, ist diese Vorstellung eines majestätischen Erscheinens vom überragenden Bild des Apollon von Belvedere bestimmt. Was immer sie über das Verhältnis von Form und Bewegung zu sagen weiß, bezieht sich auf ein prominentes Kunstwerk, das als Inbegriff antiker Plas20 Ebd., S. 21. 21 Aristophanes: Die Frösche, in: ders.: Sämtliche Komödien, hg. v. Ludwig Seeger u. Otto Weinreich, Zürich 1987, S. 515-580, hier S. 565ff. (V. 1127ff.): „Ins Vaterland rückkehrend zieh’ ich heim.“ Zur Temporalität und Bedeutung des Wortes heko, das in vielen griechischen Tragödien den ersten Auftritt markiert, vgl. Susanne Gödde: Das Drama der Hikesie. Ritual und Rhetorik in Aischylos‘ Hiketiden, Münster 2000, S. 38. 22 Feuerbach: Der Vaticanische Apollo, S. 332.

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tik im Begriff war, zu einer „Culturmacht“23 des 19. Jahrhunderts zu werden.24 Die mit ihr verbundene Auftrittsform ist angemessen triumphal. Folgende Passage lässt ihn wie eine Sonne aufgehen. Idealtypisch vollzieht sich sein Auftritt als „ein sinnliches Aufsteigen“25 – so die Definition des Auftritts aus Grimms Wörterbuch –, das Form und Bewegung ins Gleichgewicht gesetzt: Ramdohr vergleicht den ersten Anblick unserer Statue mit dem Naturschauspiele, das sich ihm darbot, als er zum erstenmal bei Genua die Sonne über die Fläche des Meeres aufgehen sah. Und also ist es. Glänzend feierlich und hochhinwandelnd, wie Homer die Sonne nennt, tritt der vaticanische Apoll uns entgegen […].26

Gleichzeitig machen sich in Feuerbachs Beschreibungen Energien bemerkbar, die das Gleichgewicht der am Auftritt beteiligten Kräfte zu stören beginnen. Wenn er die Vermutung ausspricht, dass in der griechischen Plastik die „Form nur der Bewegung wegen da sei“27, kann dieses Ungleichgewicht auch zu Ungunsten der Form ausschlagen. Vor allem bei der Darstellung von Affekten sind die Auswirkungen einer Bewegung zu verspüren, die durch das skulpturale Behältnis nicht mehr vollends beherrscht wird. Feuerbachs Statuen werden zumindest potentiell von Kräften bedroht, die die „feste Norm“28 der Form wie die Integrität des Standbildes generell gefährden. Zumindest apotropäisch – mit abwehrender Geste – wird die Möglichkeit einer „reißenden“29, „heftigen“30 oder „dämonischen“31 Bewegung beschworen, die das „rechte Maß“ überschreitet, dessen Einhaltung die griechische Plastik gewährleisten sollte. Wiederholt beschwört Feuerbach die Gefahr eines „Zu-Viel des Ausdrucks und der Bewegung“32. Die Rede ist von einem „Strom, welcher in ein zu enges Bett eingeschlossen, nur tobend dahin schäumte“33. Ex negativo, aber in starken Bildern, wird die Möglichkeit einer Kraftentwicklung angedeutet, die das statuarische Auftrittsprotokoll potentiell außer Kraft setzt:

23 Theodor Birt [pseud. Beatus Rhenanus]: Unterhaltung in Rom. Fünf Gespräche deutscher Reisender, Berlin 1895, S. 35f. Zitiert in: Christiane Zintzen: Von Pompeji nach Troja. Archäologie, Literatur und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, Wien 1998, S. 130. 24 Vgl. ebd., S. 1. 25 Eintrag: Auftritt, in: Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854, Sp. 765f. 26 Feuerbach: Der Vaticanische Apollo, S. 95f. 27 Ebd., S. 11. 28 Ebd., S. 53. 29 Ebd., S. 53. 30 Ebd., S. 37. 31 Ebd., S. 27, S. 36. 32 Ebd. S. 78. 33 Ebd., S. 72.

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Nichts wäre thörichter, als in dem bisher besprochenen Principe des Lebens, gleichsam eine blinde stürmische Macht zu denken, eine fixe Kunstidee, welche nur berührt zu werden brauchte, um die Bilder von Göttern und Menschen, oder was sonst sich regen und strecken mag, rücksichtslos in taumelnden Schwindel mit sich fortzureißen.34

Wenn das plötzliche Erstrahlen einer Minerva mit einem „jählings vorüberschießende[n] Feuermeteor“35 verglichen wird, werden jedoch andere, gewaltsamere Auftrittsformen denkbar, die sich ins Evidenz-Schema der ‚lebendigen Individualität‘ nicht mehr einfügen, dem Feuerbach wie auch Hegel in ihren Schriften verpflichtet sind. Und wenn von einer Neptun-Statue gesagt wird, dass ihr „Körper zurückgeworfen [werde] wie eine Woge“, und „die volle Wildheit eines empörten Elementes […] in die Bewegung seines Beherrschers übergegangen zu sein“36 scheint, hat die Bewegung die Form in einer Weise destabilisiert, die sie unkenntlich werden lässt. Erst in Nietzsches Die Geburt der Tragödie von 1872 jedoch tritt der Widerstreit von Umriss und heftiger Bewegung ins Zentrum einer neuen Tragödienauffassung. In seiner Schrift hören Anschaulichkeit und Kraft auf, einander zuzuarbeiten, sie werden zu gleichberechtigten und zugleich antagonistischen Kräften, die im Auftritt entfesselt und zugleich gebändigt werden. Nun ist es die „blinde stürmische Macht“, die im Zentrum der Tragödie steht, die auf dem Theater in Erscheinung tritt und im Auftritt begrenzt werden muss. Auftritt Dionysos. Tragödie im Bildersturm Nietzsches frühe Auffassung des Tragischen wird durch Feuerbachs Schrift über den vatikanischen Apoll vorbereitet. Sein 1870 gehaltener Vortrag Das Griechische Musikdrama zitiert eine Schlüsselpassage, die die Skulptur als Schwesterkunst der Tragödie namhaft macht.37 Nietzsche folgt Feuerbach auch darin, dass er dem formalen Repertoire der aristotelischen Tragödie so gut wie keine Beachtung mehr schenkt. Weder die Handlung noch andere aristotelische Strukturelemente der Tragödie werden in seiner Argumentation berücksichtigt.38 Stattdessen richtet 34 35 36 37

Ebd., S. 78ff. Ebd., S. 96. Ebd., S. 80. Vgl. Friedrich Nietzsche: Das griechische Musikdrama, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 515-532, hier S. 518ff. 38 Vgl. David E. Wellbery: Form und Funktion der Tragödie nach Nietzsche, in: Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, hg. v. Bettine Menke u. Christoph Menke, Berlin 2007, S. 199-212, hier S. 203ff.; Karl Heinz Bohrer: Das Erscheinen des Dionysos. Antike Mythologie und moderne Metapher, Frankfurt a.M. 2015, S. 170ff. Diese Loslösung wird bereits in Nietzsches Vortrag Das griechische

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sich Nietzsches Tragödienkonzept in einer gegenüber Feuerbach noch einmal emphatisch gesteigerten Weise auf eine Epiphanie aus. Sein Tragödienmodell ist ganz auf das machtvolle Erscheinen eines Gottes hin angelegt, sein Theater nur für dessen Auftritt eingerichtet. Nietzsches Tragödie ist Auftritt, Hervortreten, raumnehmender Schritt eines Gottes, auch wenn niemals entschieden ist, ob es sich um eine Vision oder eine Realpräsenz handelt. Der Auftrittsgott, um den es hier geht, ist jedoch nicht mehr Apollon, der bei Feuerbach majestätisch, statuarisch und imposant in Erscheinung trat, sondern Dionysos, in dem sich die Kraft inkarniert, die Feuerbach als „stürmisch“ und „reißend“ bezeichnet hatte. An der Stelle eines in „Klarheit, Sichtbarkeit und schöne[r] Begrenzung“39 stattfindenden Sonnenaufgangs droht nunmehr ein Bildersturm, den Nietzsche mit dem Namen Dionysos assoziiert. Die Bewegung des Dionysos wird als ein Stürmen und Rasen, ein übermächtiges Hervorbrechen oder ein Heranwälzen beschrieben, das, wie es heißt, „alle starren, feindseligen Abgrenzungen“ 40 zu zerbrechen droht. Die Kraft, die Feuerbach nur von ferne als Gegenkraft skulpturaler Evidenz am Horizont seiner Argumentation auftauchen ließ, ist nun im Zentrum der Tragödientheorie angekommen. Die Herausforderung der Tragödie besteht jedoch nicht darin, diesen Bildersturm ungemindert auf der Bühne freizusetzen. Vielmehr geht es in ihr darum, das Asymbolische selbst zu symbolisieren41 und die ikonoklastische Triebkraft des Dionysischen in eine „Vorstellung umzubiegen“42, in der sich Bild und Bewegung gleichberechtigt realisieren. Was sich stürmisch und ungestaltet im Theater heranwälzt, soll in die Grenzen eines apollinischen Auftrittsprotokolls eingeschlossen, umgekehrt aber die apollinischen Erscheinungen für dionysische Kräfte geöffnet werden. Die für sich genommen unbeweglichen Bilder des apollinischen Kunstuniversums empfangen die belebenden Impulse einer als Macht des Lebens apostrophierten dionysischen Kraft. Unter der Auftrittsregie Apollons redet Dionysos nicht mehr ausschließlich durch „Kräfte“43, wie es heißt, sondern mit der Deutlichkeit und Festigkeit einer tragischen Figur. Dieser Vorgang ist je-

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Musikdrama explizit. Vgl. Nietzsche: Das griechische Musikdrama, S. 527: „Man kann sogar sagen, daß es auf ihren früheren Entwicklungsstufen gar nicht auf das Handeln, das δρᾶµα [dráma] abgesehn war, sondern auf das Leiden, das πάθος [páthos].“ Peter Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt a.M. 1986, S. 52. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 9-156, hier S. 29. Wellbery: Form und Funktion der Tragödie nach Nietzsche, S. 206. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 57. Ebd., S. 64.

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doch nicht als ein Ausgleich angelegt, sondern als ein Agon, der in jedem Auftritt eskaliert: Im Moment der tragischen Individuation tragen sich die Spannungen zwischen Figuration und Defiguration, Traum und Rausch, Form und Bewegung, Triumph und Pathos aus, sodass die tragische Krise, die vormals in der Handlung stattfand, nun auf Auftritt und Erscheinen übergeht. Der tragische Schritt nach vorne und heraus ist damit doppelt codiert. Die Geburt der Tragödie fasst ihn sowohl als splendor wie als Gewalt. Er ist die Artikulation einer Kraft, die es drängt, strahlende Gestalt anzunehmen und zugleich emphatisch in Bewegung zu sein, die triumphiert und zugleich zerrissen wird. Es kann daher nicht überraschen, dass der Auftritt des Dionysos auch von Nietzsche ikonografisch korrekt als Triumphzug imaginiert wird, der den Gott auf einem „mit Blumen und Kränzen überschüttet[en]“44 Wagen herankommen lässt und zugleich die Kräfte „ins Joch spannt“45, die ihn vorwärts treiben. Unter dem Eindruck der apollinischen Gegenwirkung gestaltet sich sein gewaltsames „Heranwälzen“ als festliche Annäherung eines glänzenden, aber unwiderstehlichen Bildes, der Bildersturm als jubilatorische Bildbewegung, die zugleich die Kraft bewahrt, die sie einschränkt. Nicht weniger als die mächtigste unter den Auftrittsformen wird gewählt, um das Zugleich von Glanz und Gewalt zu veranschaulichen. Andererseits ist er als Leidensgestalt vorgestellt, der im Durchgang durch das principium individuationis die Gewalt an sich erfährt, die er verkörpert. In Dionysos fallen, so Timo Günther, die Gegensätze zusammen und bewahren zugleich ihre polare Spannung.46 Treffend spricht Peter Sloterdijk von einer „Doppelenergetik von Damm und Flut, von Rückstau und Rausch“47. Während damit jedoch eine Verschmelzung des Dionysischen und des Apollinischen angenommen oder auch eine „stillgestellte Polarität“48 antagonistischer Extreme festgestellt ist, schlägt David Wellbery ein Modell der Umbiegung oder Umwendung vor, das die Dynamik dieser Doppelenergetik betont und die inneren Wechselspannungen der für die Tragödie kennzeichnenden dionysisch-apol-

44 Ebd., S. 29. 45 Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1980, S. 550-577, hier S. 558: „Es war das apollinische Volk, das den übermächtigen Instinkt in die Fesseln der Schönheit schlug: es hat die gefährlichsten Elemente der Natur, ihre wildesten Bestien in das Joch gespannt.“ 46 Vgl. Timo Günther: „Dionysos“, S. 165, unter Verweis auf neuplatonische Fassungen des Dionysischen. Zur Polarität vgl. auch Bohrer: Das Erscheinen des Dionysos, S. 146. 47 Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne, S. 64. 48 Ebd., S. 56.

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linischen Duplizität hervorkehrt.49 Die kulturelle Leistung der Tragödie besteht seiner Ansicht nach darin, dass sie Vernichtung in Leben umwendet:50 Die Affirmation des Lebens ist nur dort zu gewinnen, wo die äußerste Verneinung – die Verneinung nicht dieses oder jenen Zustands, sondern des Daseins schlechthin in Bejahung umgebogen wird. Die tragische Form ist nichts anderes als das Umspringen innerhalb dieser Paradoxie.51

Für Wellberys Auffassung spricht an dieser Stelle vor allem, dass sie ein Bewegungspotential enthält, das sich in eine Bewegung der Wendung, der Biegung oder des Umspringens übersetzen lässt. Die Epiphanie des Dionysos realisiert sich nicht als ein „ruhiges Dasitzen“52 wie noch in Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung, das Nietzsche eingangs zitiert, sie manifestiert sich vielmehr in einer emphatischen Wendung nach vorne, aus dem Grund heraus und auf den Zuschauer zu. Enargeia und energeia verkehren ihre Polaritäten, um aus der „äußersten Verneinung“ die „Affirmation des Lebens“ zu gewinnen, die sich in einem stürmischen Auftritt äußert. Auch aus diesem Grund wählt Nietzsche an der einzigen Stelle, an der er einen konkreten Auftritt der griechischen Tragödie in den Blick nimmt, ein Beispiel, das von einer Wiederkehr von den Toten handelt. An dem folgenden Beispiel ist die lebensbejahende Umwendung buchstäblich eingetreten. Gemeint ist die Tragödie Alkestis des Euripides, die die Gattin des Königs Admet an seiner statt sterben, nach einer Zeit im Totenreich aber durch die Intervention des Herakles wieder ins Leben zurückkehren lässt. Folgende Passage enthält den einzigen wirklich betonten Auftritt, von dem in Die Geburt der Tragödie die Rede ist: Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen seiner jüngst abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und ganz im geistigen Anschauen derselben sich verzehrend – wie ihm nun plötzlich ein ähnlich gestaltetes, ähnlich schreitendes Frauenbild in Verhüllung entgegengeführt wird: denken wir uns seine plötzlich zitternde Unruhe, sein stürmisches Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung – so haben wir ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah, mit dessen Leiden er bereits eins geworden ist.53

49 Vgl. Wellbery: Form und Funktion der Tragödie nach Nietzsche, S. 206. 50 Vgl. ebd., S. 208: Dabei gewinnt auch das Apollinische „an Bedeutungstiefe und Beweglichkeit.“ „Die Gefahr der Erstarrung und der Oberflächlichkeit auf Seiten des Apollinischen“ wird somit ebenso abgewehrt wie die „Gefahr des allzu Überwältigenden und Mitreißenden auf Seiten des Dionysischen.“ 51 Ebd., S. 206. 52 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 28. Vgl. dazu auch Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, hg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, S. 457: „Denn, wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt voll Quaalen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis.“ 53 Ebd., S. 63f.

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Weltverneinendes transformiert sich ein weiteres Mal in „weltzugewandte Energie“54, das Rasen einer entfesselten energeia in eine Auftrittsform, die ihr Maß und Anschaulichkeit zurückgibt. Der Passage wird man jedoch auch entnehmen, was die Realität des Auftritts im Theater des 19. Jahrhundert spätestens seit Goethes Faust unter Verdacht geraten lässt: Es ist nicht mehr das Gespenstische, das seine Wirklichkeit diskreditiert, sondern die Vision. Denn Nietzsches Dramaturgie ist eine Dramaturgie der Visionen – der stimulierten Zuschauerwahrnehmung, die bereits in Feuerbachs Statuenuniversum eine Rolle spielte, nun aber das Theater als einen Ort des leibhaftigen In-Erscheinung-Tretens in Verruf bringt. Denn der Auftritt auf dem apollinischen wie auch auf dem dionysischen Theater wird auch dann, wenn es sich um konkrete und fassliche Auftrittshandlungen handelt, als mögliche Illusion erregter Betrachter und Zuschauer kenntlich gemacht. Ob sich die Statue auf der Bühne der Tragödie in Bewegung setzt oder ob es sich nicht vielmehr um eine Sinnestäuschung handelt, die den berauschten Zuschauer einen Gott sehen lässt, wo eigentlich nichts ist, bleibt bei Nietzsche wie bei Goethe unentscheidbar. Unabweisbar ist jedenfalls, dass auf der Bühne der Tragödie, wenn überhaupt jemand, dann immer mehr als nur der Schauspieler in Erscheinung tritt, den Nietzsche als eine rätselhaft vermummte Puppe schildert. Auftritt ist auch hier phantasmagorische Amplifikation, die einen ‚unförmlich maskierten Menschen‘ in einen epiphanischen Gott transfiguriert und auch damit über die Grenzen menschlicher Auftrittsmöglichkeiten hinaushebt. Das volle Zitat lautet: Dionysus, der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der Vision, ist gemäss dieser Erkenntniss und gemäss der Ueberlieferung, zuerst, in der allerältesten Periode der Tragödie, nicht wahrhaft vorhanden, sondern wird nur als vorhanden vorgestellt: d. h. ursprünglich ist die Tragödie nur „Chor“ und nicht „Drama“. Später wird nun der Versuch gemacht, den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar darzustellen; damit beginnt das „Drama“ im engeren Sinne. Jetzt bekommt der dithyrambische Chor die Aufgabe, die Stimmung der Zuhörer bis zu dem Grade dionysisch anzuregen, dass sie, wenn der tragische Held auf der Bühne erscheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen sehen, sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene Visionsgestalt.55

Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie zieht damit die Konsequenzen aus einer Tragödienreflexion, die nicht mehr die Handlung, sondern das Erscheinen ins Zentrum des tragischen Formprozesses stellt und die das Handeln nur insofern beachtet, als es ‚erscheinende Tätigkeit‘ ist. Seit Herder, der die Tragödie explizit aus Di-

54 Aby Warburg: Francesco Sassettis letztwillige Verfügung, in: ders.: Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare hg. u. kommentiert v. Martin Treml, Sigrid Weigel u. Perdita Ladwig, Frankfurt a.M. 2010, S. 234-280, hier S. 260. 55 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 63.

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thyrambus und Auftritt herleitete56, umkreisen die Schriften, die Peter Szondi als Versuch über das Tragische bezeichnete, den Moment, in dem das tragische Subjekt auf der Bühne erst sichtbar wird. Mit Goethe, Hegel und Nietzsche wird das Hervortreten – oder In-Erscheinung-Treten auf der Bühne – zu einer kritischen, genauer gesagt: zu einer tragischen Größe von so großer Anziehungskraft, dass es die konstruktiven, tektonischen und handlungsbezogenen Aspekte der Tragödie in den Hintergrund drängt. Das theoretische, aber auch das praktische Interesse wendet sich dem Prozess der Figuration auf dem Theater zu, es sichtet die prekären Bedingungen, unter denen sich ein tragisches Subjekt exponiert und ein Erscheinen erfährt, das es zwischen Triumph und Pathos schwanken lässt. Wie die hier versammelten Analysen dargelegt haben, wird der Auftritt in seiner kritischen Theatralität zu einer tragischen Größe eigenen Rechts – einer Größe, die unmittelbar die Hintergrundgewalten aufruft, die sich ihm widersetzen. Die Begriffe der ‚Absonderung‘ und der Individuation, die diesen Theorien zufolge den kritischen Schwellenvorgang bezeichnen, der ein Subjekt aus einem Grund hervor- und auf die Szene treten lässt, korrelieren mit einer Tragödienkonzeption, die den Akt des Auftritts selbst als Überschreitung auffasst und in den Rang eines tragischen Ereignisses erhebt. Diese Akzentverschiebung vom Fortschreiten zum Vorschreiten, von der Handlung zur Erscheinung, von der hier die Rede ist, führt langfristig zu einem veränderten Strukturverständnis der Tragödie selbst. Mit der Akzentuierung der ‚Erscheinung‘ im Spektrum aller ihrer Bedeutungen und der krisenhaften Visualisierung der tragischen Figur, wie sie durch den dramatischen Text vorgenommen wird, reorganisiert sich der tragische Prozess als Ganzes. Um 1900, aber auch schon vorher wird er eine dramatische Produktion begünstigen, die sich auf Ankunfts- und Auftrittsereignisse ausrichtet.57 Von Ibsen bis hin zu Hofmannsthal und weiter bis zu Beckett rücken solche triumphalen und zugleich pathetischen Ankunftsereignisse ins Zentrum, welche die aristotelische Handlungsenergie absorbieren. Auch die Konjunktur des Einakters wird dadurch begünstigt, dass die Intensität der Ankunft, ganz unabhängig davon, ob sie stattfindet oder nicht, alle Lebensvollzüge des dramatischen Universums bestimmt. Es sind dies im Übrigen Ankunftsereignisse, die keine gleichberechtigten Abgangsereignisse nach sich ziehen. Dionysos bleibt der Schutzgott epiphanischer Auftrittsmomente. Dem Abgehen wird unter den hier beschriebenen Voraussetzungen keine entsprechende Bedeutung zugemessen. Es sind Erscheinungskrisen und keine Krisen des Verschwindens, denen die praktische wie die Reflexionsarbeit gilt. Sie sind der tragische Rest der aristotelischen Poetik.

56 Vgl. Johann Gottfried Herder: Von deutscher Art und Kunst, in: ders.: Werke, hg. v. Günther Arnold, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781, S. 443-562, hier S. 500. 57 Vgl. Aage Hansen-Löve, Annegret Heitmann u. Inka Mülder-Bach (Hg.): Ankünfte. An der Epochenschwelle um 1900, München/Paderborn 2009.

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Danksagung Am Ende dieses Buches habe ich vielen Menschen zu danken, die mich während meiner Arbeit an den Auftritten unterstützt haben. Meine Dankesschulden sind groß. Sie müssten in so vielfältiger Weise abgetragen werden, dass ich hier nicht mehr als einen Anfang machen kann. Zu danken habe ich der Universität Konstanz und besonders dem Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“, die mein gemeinsam mit Christopher Wild geleitetes Projekt „Kulturelle Poetologien des Auftretens“ großzügig gefördert und immer mit Interesse begleitet haben. Besonders danke ich für die Finanzierung einer Forschergruppe, in der dieser auftrittsbezogene Zugang zum Drama und Theater diskutiert werden konnte. In dieser offenen Arbeitsform konnte ich mir die dramatische Literatur noch einmal neu aneignen. Ich danke dem Kulturwissenschaftlichen Kolleg der Universität Konstanz, das mich und die Auftrittsforschung ein Jahr lang aufgenommen hat. Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen Albrecht Koschorke, Matthias Schöning, Ulrike Sprenger und Bernd Stiegler für ihre Freundschaft, ihre Anregungen und Unterstützungen während einer ja doch etwas längeren Arbeitszeit. Ich danke Gerhart von Graevenitz, mit dem ich mich so gerne über Auftritte unterhalten habe und den ich sehr vermisse. Ich danke allen Freunden und Kollegen, die gelesen und mit mir diskutiert haben und deren wunderbare Ratschläge wichtige Weichen gestellt haben: Stefanie Diekmann, Eva Esslinger, Christoph Gardian, Claude Haas, Bernice Kaminski, Bettine Menke, Inka MülderBach, Christopher Wild, Claus Zittel. Ich danke ganz besonders Saskia Haag, deren kluges Lektorat wesentlich dazu beigetragen hat, dass nun ein fertiges Buch vorliegt. Anna Maria Post danke ich herzlich für ihre Bildrecherchen. Vor allem aber danke ich meiner großartigen Sekretärin Ingeborg Moosmann für Ihre unermüdliche Unterstützung, ihre Gelassenheit und ihre Tatkraft und meinen großartigen Hilfskräften und Dissertanten für ihr Engagement, ihre Genauigkeit und ihre vielen Anregungen: Sylvia Gschwend, Anita Martin, Annette Kappeler, Viktor Konitzer, Hanna Vielberg, Lucia Wunsch. Ich danke meiner Familie für ihre Langmut und ihren freundlichen Spott. Mitchell Ash danke ich für seine Zuversicht, sein nicht nachlassendes Interesse, seine unbestechliche Kritik und seine Geduld.

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TAFEL 1: Henri Gissey, Ludwig XIV. als aufgehende Sonne in Benserade: Ballet Royal de la Nuit (1653).

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TAFEL 2: Ferdinando Galli Bibiena, Prospettiva con scena di convito (1721).

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TAFEL 3: Giuseppe Galli Bibiena, Atrium mit großer Treppe, o.D.

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TAFEL 4: Georg Melchior Kraus: Goethe als Orest und Corona Schröter als Iphigenie (1779).

TAFEL 5: Nicolas Poussin, Landschaft mit Polyphem (1649), The State Hermitage Museum, Sankt Petersburg.

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TAFEL 6: Raffael, Der Triumph der Galatea (1512), Fresko, Villa Farnesina, Rom.

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TAFEL 7: Raffael, Die Sixtinische Madonna (1512/13), Gemäldegalerie, Dresden.

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TAFEL 8: Antoine-Jean Gros, General Bonaparte bei den Pestkranken von Jaffa (1804).

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