Angst vor dem Altern?: Zwischen Schicksal und Verantwortung 9783495482834, 9783495997253

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Angst vor dem Altern?: Zwischen Schicksal und Verantwortung
 9783495482834, 9783495997253

Table of contents :
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Vorwort
Einleitung
I Das Schicksal bewusster Endlichkeit – philosophiehistorische Stationen der Reflexion über das Altern
1 Die Entfaltung der Spannung zwischen Verfallen und Reifen in der Antike
1.1 Resignation und Zuversicht – Eine Kontroverse zwischen Mimnermos und Solon
1.2 Epikureische Gelassenheit
1.3 Erhabenes Alter in Rom – Die Apologie des Cicero
1.3.1 Das Altern als natürlicher Prozess
1.3.2 Das Alter als Vorstufe zum Tod – Überlegungen zu einem Paradoxon
1.3.3 Zur Notwendigkeit, das Leben sinnvoll und ethisch zu planen
1.3.4 Die Jugend als Quelle guten Alterns
1.3.5 Erfüllung durch soziale Eingebundenheit
1.4 Seneca und die Unabhängigkeit des Glücks von der Zeit
2 Die Einheit von zivilisatorischer und individueller Höherentwicklung bei Hegel und Schelling
2.1 Die historische Entwicklung nach dem Muster der Lebensalter bei Hegel
2.1.1 Die Einteilung der Weltgeschichte
2.1.2 Das System der Lebensalter in der Enzyklopädie
2.1.3 Die Ideen des Fortschritts und der Entwicklung des Ganzen als Voraussetzung für Hegels Begriff des erfüllten Alters
2.2 Das Verhältnis von menschlichem und kosmischem Altern in Schellings Weltaltern
2.2.1 Die Abscheidung der Gegenwart von der Vergangenheit als Befreiung
2.2.2 Entwicklung als innere Notwendigkeit
2.3 Exkurs zum Bruch mit dem idealistischen Holismus bei Hölderlin
3 Selbstwerdung in der Retrospektive – biographische Einheit
3.1 Das Leiden an Zeitlichkeit und Endlichkeit – Melancholie, Langeweile und Angst als Erkenntnisdimensionen bei Kierkegaard
3.2 Die Ethik der Selbstwahl in Entweder – Oder
3.3 Das Selbst als Redakteur seiner Geschichte
3.4 Das Streben nach Ganzheit bei Heidegger
4 Moderne Konfrontationen mit dem Negativen – Sartre, de Beauvoir, Améry und Bobbio
4.1 Sartres Ekel vor der Klebrigkeit der Zeit als Angst vor dem Altern
4.2 Das Alter als Zumutung und Aufgabe bei Simone de Beauvoir
4.3 Amérys Aufruf zum tapferen Untergang in der Endlichkeit
4.4 Bobbios Streitschrift gegen Ciceros Altersapologie
II Praktisch-ethische Überlegungen zu einem verantwortlichen Umgang mit der individuellen Endlichkeit
5 Die Endlichkeit als Preis der Individualität
5.1 Zum Traum vom unendlichem Leben und die Faktizität der Endlichkeit
5.2 Zur faktischen Unmöglichkeit einer Entkoppelung von Leben und Tod
5.3 Verletzlichkeit und Endlichkeit als existentielle Konstante
5.4 Exkurs zum Jugendwahn als vergeblicher Realitätsflucht bei Thomas Mann
6 Möglichkeiten, die egozentrische Fixierung auf die eigene Endlichkeit zu überwinden
6.1 Individuelles Zurücktreten von sich und ästhetische Selbstüberschreitung
6.1.1 Humor als selbstentgrenzende und selbstbehauptende Distanzierungsleistung bei Freud
6.1.2 Selbstrelativierung und mystische Selbstüberschreitung bei Tugendhat
6.1.3 Befreiung von der Herrschaft der Zeit bei Theunissen
6.2 Sinnerfahrung im Leiden als ethische Transformation des Negativen bei Viktor E. Frankl
6.2.1 Die Vergangenheit legt Zeugnis ab
6.2.2 Verantwortung als Lebenssinn
6.3 Soziale Selbstüberschreitung durch Großmut und Engagement
6.3.1 Großzügigkeit
6.3.2 Widerspiegelung und Weitergabe
7 Altern als individuelle Entwicklungsmöglichkeit und soziale Verantwortung
7.1 Gesellschaftspolitische Voraussetzungen
7.1.1 Der Gewinn an Ressourcen
7.1.2 Die notwendige Balance zwischen Freiheit und Verantwortung
7.2 Individuelle Entwicklungsmöglichkeiten
7.2.1 An die Lebenswirklichkeit angepasste Lernhorizonte, Gestaltungs- und Entwicklungsräume
7.2.2 Chancen später Selbstvollendung
8 Überlegungen zum »dünnen Ende« des Lebens
8.1 Grenzen der Autonomie
8.2 Zur Kunst des Loslassens
Bibliographie
Personenregister
Sachregister

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Eva Birkenstock

Angst vor dem Altern? Zwischen Schicksal und Verantwortung

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997253

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Eva Birkenstock Angst vor dem Altern?

ALBER PHILOSOPHIE

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Zu diesem Buch: Das Buch entfaltet die Grundprobleme des aktuellen Themas des Alterns anhand philosophiehistorischer Stationen und vertieft die in ihnen präsenten ethisch-praktischen Fragen. In antiken Texten treten zwei unterschiedliche Sichtweisen zutage, die auch gegenwärtige Altersbilder noch prägen. Das Alter wird sowohl als Verfallsprozess erfahren als auch als Abschlussphase, die sinnvoll in ein Konzept gelingenden Lebens integriert werden muss. Von hier gehen zwei Fluchtlinien aus, die pessimistische Altersbilder ebenso durchziehen wie zuversichtliche Prognosen über lebenslanges Lernen. Dem Begriff der Verantwortung kommt insofern besondere Bedeutung zu, als das historisch neue Phänomen der weitgehend gesicherten und erweiterten Lebenszeit eine allen Aspekten individuellen wie demographischen Alterns gerecht werdende Gestaltung notwendig macht. Die Autorin: Eva Birkenstock, Dr. phil., geb. 1965, studierte Philosophie, Literaturwissenschaften, Geschichte und Theologie, promovierte 1995 in Philosophie und arbeitet derzeit am Projekt Paradigmen öffentlicher Ordnung des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.

https://doi.org/10.5771/9783495997253 .

Eva Birkenstock

Angst vor dem Altern? Zwischen Schicksal und Verantwortung

Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997253 .

Meinen Eltern, Sergio und unseren Kindern Ariane und Micol

Diese Veröffentlichung wurde gefördert mit Mitteln von Netzwerk AlternsfoRschung / Network Aging Research (NAR) Heidelberg

Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2008 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg ISBN 978-3-495-48283-4

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

I

Das Schicksal bewusster Endlichkeit – philosophiehistorische Stationen der Reflexion über das Altern

1

Die Entfaltung der Spannung zwischen Verfallen und Reifen in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.1 Resignation und Zuversicht – Eine Kontroverse zwischen Mimnermos und Solon . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Epikureische Gelassenheit . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Erhabenes Alter in Rom – Die Apologie des Cicero . . . 1.3.1 Das Altern als natürlicher Prozess . . . . . . . . . 1.3.2 Das Alter als Vorstufe zum Tod – Überlegungen zu einem Paradoxon . . . . . . . . 1.3.3 Zur Notwendigkeit, das Leben sinnvoll und ethisch zu planen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Die Jugend als Quelle guten Alterns . . . . . . . . 1.3.5 Erfüllung durch soziale Eingebundenheit . . . . . 1.4 Seneca und die Unabhängigkeit des Glücks von der Zeit .

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Die Einheit von zivilisatorischer und individueller Höherentwicklung bei Hegel und Schelling . . . . . . .

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2.1 Die historische Entwicklung nach dem Muster der Lebensalter bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Einteilung der Weltgeschichte . . . . . . . . . 2.1.2 Das System der Lebensalter in der Enzyklopädie .

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Inhaltsverzeichnis

2.1.3 Die Ideen des Fortschritts und der Entwicklung des Ganzen als Voraussetzung für Hegels Begriff des erfüllten Alters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Verhältnis von menschlichem und kosmischem Altern in Schellings Weltaltern . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die Abscheidung der Gegenwart von der Vergangenheit als Befreiung . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Entwicklung als innere Notwendigkeit . . . . . . . 2.3 Exkurs zum Bruch mit dem idealistischen Holismus bei Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Selbstwerdung in der Retrospektive – biographische Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.1 Das Leiden an Zeitlichkeit und Endlichkeit – Melancholie, Langeweile und Angst als Erkenntnisdimensionen bei Kierkegaard . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Ethik der Selbstwahl in Entweder – Oder . . . 3.3 Das Selbst als Redakteur seiner Geschichte . . . . . 3.4 Das Streben nach Ganzheit bei Heidegger . . . . .

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Moderne Konfrontationen mit dem Negativen – Sartre, de Beauvoir, Améry und Bobbio . . . . . . . . . 114

4.1 Sartres Ekel vor der Klebrigkeit der Zeit als Angst vor dem Altern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das Alter als Zumutung und Aufgabe bei Simone de Beauvoir . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Amérys Aufruf zum tapferen Untergang in der Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Bobbios Streitschrift gegen Ciceros Altersapologie . .

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Inhaltsverzeichnis

II

Praktisch-ethische Überlegungen zu einem verantwortlichen Umgang mit der individuellen Endlichkeit

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Die Endlichkeit als Preis der Individualität . . . . . . . . 139

5.1 Zum Traum vom unendlichem Leben und die Faktizität der Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Zur faktischen Unmöglichkeit einer Entkoppelung von Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Verletzlichkeit und Endlichkeit als existentielle Konstante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Exkurs zum Jugendwahn als vergeblicher Realitätsflucht bei Thomas Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Möglichkeiten, die egozentrische Fixierung auf die eigene Endlichkeit zu überwinden . . . . . . . . . . . . . . . . 162

6.1 Individuelles Zurücktreten von sich und ästhetische Selbstüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Humor als selbstentgrenzende und selbstbehauptende Distanzierungsleistung bei Freud . . 6.1.2 Selbstrelativierung und mystische Selbstüberschreitung bei Tugendhat . . . . . . . . . . . 6.1.3 Befreiung von der Herrschaft der Zeit bei Theunissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Sinnerfahrung im Leiden als ethische Transformation des Negativen bei Viktor E. Frankl . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Die Vergangenheit legt Zeugnis ab . . . . . . . . . 6.2.2 Verantwortung als Lebenssinn . . . . . . . . . . . 6.3 Soziale Selbstüberschreitung durch Großmut und Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Großzügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Widerspiegelung und Weitergabe . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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Altern als individuelle Entwicklungsmöglichkeit und soziale Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

7.1 Gesellschaftspolitische Voraussetzungen . . . . . . . . 7.1.1 Der Gewinn an Ressourcen . . . . . . . . . . . 7.1.2 Die notwendige Balance zwischen Freiheit und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Individuelle Entwicklungsmöglichkeiten . . . . . . . . 7.2.1 An die Lebenswirklichkeit angepasste Lernhorizonte, Gestaltungs- und Entwicklungsräume 7.2.2 Chancen später Selbstvollendung . . . . . . . .

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. 193 . 193 . 197 . 208 . 210 . 214

Überlegungen zum »dünnen Ende« des Lebens . . . . . 220

8.1 Grenzen der Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 8.2 Zur Kunst des Loslassens . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

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Vorwort

Das vorliegende Buch versucht, einige zentrale Probleme der aktuellen Diskussion über das Phänomen – oft wird behauptet das Problem – der zunehmenden Lebenszeit zu erhellen. Dies geschieht sowohl im Rückblick auf historische Positionen als auch in der Analyse neu erforschter Fakten, die einen interdisziplinären Zugang, aber auch philosophische Reflexion fordern. Seine Entstehung geht auf ein DFGProjekt zurück. Abgeschlossen wurde es parallel zur Mitarbeit an einem Projekt über »Paradigmen internationaler Ordnung« am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, dessen Direktor Prof. Armin v. Bogdandy ich hier von Herzen für seine großmütige Unterstützung danken möchte. Der Makrokosmos der Weltordnung und der Mikrokosmos der biographischen Ordnung (bzw. das jeweilige Chaos) sind ja durchaus strukturell miteinander verbunden. Zu tiefem Dank bin ich darüber hinaus Prof. Andreas Kruse, dem Direktor des Heidelberger Instituts für Gerontologie verpflichtet, auf dessen Rat und Ermutigung ich mich stets verlassen konnte. Was die Möglichkeit der Veröffentlichung und damit die Chance betrifft, das Erarbeitete und Gedachte einem weiteren Publikum vorzustellen, bin ich Herrn Lukas Trabert und Herrn Dr. Alwin Letzkus vom Verlag Karl Alber verbunden. Schließlich danke ich besonders allen engen Freunden und selbstverständlich den Familienangehörigen, denen ich das Buch widmen und wünschen möchte, dass sie ihr Leben lang Freude an den drei Dingen haben, von denen Dante sagte, sie seien uns aus dem Paradies geblieben: Sterne, Blumen und Kinder. Torre Pellice im Mai 2008

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Einleitung

Im Jahr 1871, als bei der Gründung des Deutschen Reiches unter der Regierung Bismarcks die ersten einigermaßen verlässlichen Sterbestatistiken erhoben wurden, betrug die durchschnittliche Lebenserwartung in diesem Raum – v. a. bedingt durch die hohe Kindersterblichkeit – zwischen 35 und 38 Jahren. Heute, nur 135 Jahre später, beläuft sie sich auf etwa 75 (Männer) bis 81 Jahre (Frauen) bei immer noch ansteigender Tendenz. Die Sorge um das Überleben überschattet in der westlichen Welt nicht mehr den Alltag, sondern nur noch die besonderen Notzeiten schwerer Erkrankung. In der historisch gesehen noch jungen Epoche weitgehend gesicherter Lebenszeit entstanden in den entwickelten Ländern jedoch neue Probleme: Fast ein Drittel aller Hochbetagten stirbt in Alten- oder Pflegeheimen unter Verhältnissen, die oft nicht ihren Wünschen entsprechen. Etwa ebenso viele Menschen, die 85 Jahre und älter sind, leiden an Demenz, was sensible Fragen nach dem Selbstbestimmungsrecht und sozialer Verantwortung aufwirft. In den Schwellen- und auch in den Entwicklungsländern ist das zunehmende Alter der Bevölkerung ebenso wie in der jüngeren Vergangenheit der Industrieländer zunächst ein Indikator für verbesserte Lebensqualität, der allerdings bereits eine Voranzeige auf die Umwandlung der Bevölkerungspyramide enthält. Gerade dann, wenn der Tod das Leben nicht mehr durchherrscht und keine mittelalterlichen Artes moriendi mehr vonnöten zu sein scheinen, kann sich das Alter als eine eigene, lange Lebensphase etablieren. Die alltägliche Einstellung hierzu ist ambivalent: Alle wollen alt werden, kaum jemand will alt sein. Alle wollen möglichst lange eine gewisse Jugendlichkeit aufrecht erhalten, aber auch die Vorzüge des Alters genießen, die vor allem in einer neugewonnen Freiheit von den Sorgen und Belastungen des Arbeitslebens besteht. AntiagingProgramme bieten von verhaltenstherapeutischen Maßnahmen (Gehirnjogging, Gedächtnistraining) über Diätik (ausgewogene Restriktion) und Kosmetik bis hin zu invasiven medizinischen Eingriffen gegen äußere wie innere Alters- bzw. Verschleißerscheinungen eine A

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Einleitung

umfassende Palette von Techniken an, unterschiedliche Befindlichkeitsstörungen zu bekämpfen. Zur Untersuchung der vielfältigen Aspekte des Alterns als physiologischem, psychologischem, soziologischem, kulturellem Prozess hat sich seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts die Gerontologie als eine eigene, vornehmlich medizinisch-psychologisch-pragmatische Wissenschaft etabliert. Der Beitrag, den die Philosophie zur Beantwortung der Frage leisten kann, wie mit dem Phänomen zunehmenden Alterns individuell und sozial am besten umzugehen sei, besteht zunächst, vor allen einzelnen ethischen Analysen, in einer Reflexion über die Zeitlichkeit, Endlichkeit und Fragilität der individuellen menschlichen Existenz überhaupt. Menschen haben als einzige Lebewesen das doppelgesichtige Privileg, einerseits ihren eigenen Tod lange vorausdenken und andererseits ihr Altern bewusst beobachten zu können. Über ein reflexives Selbstverhältnis und eine abstrakte Sprache zu verfügen, bedeutet ferner, generell weit über das unmittelbar Erfahrene hinausdenken, darüber kommunizieren und dadurch wiederum den Alterungsprozess wesentlich durch Handlungen beeinflussen zu können. Die Erkenntnis der Endlichkeit fremden und eigenen Existierens und die Hoffnung auf deren mögliche Hinüberrettung in eine andere Dimension stehen daher am Anfang der Kulturgeschichte. Die ersten Zeugnisse bildender Kunst finden sich an Grabstätten, die erste schriftlich bezeugte Poesie, das Gilgamesch-Epos, entstand aus der Trauer um den Verlust des Freundes. Der Tod des Sokrates stellt ein entscheidendes Ereignis am Beginn der abendländischen Philosophiegeschichte dar. Die Ambivalenz, mit der Altern wahrgenommen wird, spiegelt sich auch in der Philosophiegeschichte wider, an deren Beginn sich bereits zwei Stränge trennen, die sich bis heute verfolgen lassen: ein pessimistischer, der die Verlustseite betont, und ein optimistischerer, der das Augenmerk auf den Gewinn richtet. In der Antike finden sich auch bereits Lösungsansätze, wie das Leiden an der Endlichkeit ausgehalten, gemildert oder sogar durch bewusste Lebensgestaltung konvertiert werden kann. Aus dem Interesse an der Verfolgung und Analyse der beiden Wege – der Vertiefung der negativen Seite, deren Verdrängung an der Wurzel der Geringschätzung des Alters liegt, und der Analyse erfolgreicher Bewältigungsstrategien – folgt auch die Methode der Untersuchung. Das Ziel ist nicht eine ideengeschichtliche Rekons12

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Einleitung

truktion mit Anspruch auf Vollständigkeit, sondern eine exemplarische Darstellung und Analyse unterschiedlicher Positionen, die der heutigen Orientierungslosigkeit vorausgingen und vielleicht helfen können, »den Kompass wiederzufinden«, wie Bobbio gesagt hätte. Dabei werden erste Eckpfeiler dessen abgesteckt, was eine moderne und humanistische Ethik des Alter(n)s sein könnte. Zentrale Themen sind hier: Akzeptanz des Altersprozesses, Autonomie und Selbstsorge, soziale Verantwortung im Sinne der Vorsorge wie der Fürsorge, aber auch die Möglichkeit einer zeitweiligen Befreiung von der Last des Alterns durch die Mittel der Kultur, der Reflexion bzw. dialogischen Engagements. Das 1. Kapitel beginnt mit der Gegenüberstellung der beiden Grundpositionen in der Dichtung bei Mimnermos, der das existentielle Leiden an der Fragilität des Lebens betont, und Solon, der ihm praktisch-ethisch entgegnet, es gehe im Leben nicht um flüchtiges Glück, sondern um die Erfüllung von Aufgaben. Anschließend werden diachronisch Epikurs Loslösung des Glücks von der Jugend, Ciceros Lobreden auf das Alter und Senecas Strategie untersucht, durch die Akzeptanz des Notwendigen das Mögliche realisieren zu können. Von den ersten großen Alterstheorien der Antike springt das 2. Kapitel zu den letzten einheitlichen Entwürfen des deutschen Idealismus. Bei Hegel steht die Einheit zwischen individueller Biographie und Kulturgeschichte im Mittelpunkt. Die Verflechtung des Individuellen mit dem Allgemeinen, für deren Gelingen das Alter einen entscheidenden Prüfstein darstellt, bestimmt die sinnvolle Abfolge biographischer wie historischer Entwicklung. Schelling bildet die Geschichte des Individuums und die des Kosmos aufeinander ab. Diese Harmonie des Einzelnen mit dem Ganzen geht in der jüngeren Moderne verloren, wofür sich bereits in der Dichtung Hölderlins deutliche Anzeichen finden. Das 3. Kapitel ist Kierkegaard und seinem rückblickenden Verständnis der Lebenseinheit gewidmet. Zwar hat er ebenso wenig wie sein Nachfolger Heidegger eine explizite Alterstheorie entwickelt, doch sind seine Untersuchungen negativer Stimmungen angesichts der Endlichkeit und ethischer Konflikte hinsichtlich der existentiellen Notwendigkeit, der eigenen Geschichte selbst eine Form zu geben, wegweisend. Im 4. Kapitel wird der bei Mimnermos beginnende pessimistische Strang der Altersbilder wieder aufgenommen und in seiner modernen, auf Theorien der existentiellen Einsamkeit gründenden AusA

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Einleitung

prägung betrachtet. Dabei stellt sich heraus, dass der Negativismus ein notwendiges Korrektiv gegenüber einem Differenzen tendenziell einebnenden Holismus einerseits und einer zu optimistischen Rhetorik andererseits darstellt. Am Übergang zum 5. Kapitel endet der Gang durch Stationen der Philosophiegeschichte. Der Blick auf das Alter wird auf sein naturwissenschaftliches Verständnis hin erweitert und die dadurch bestätigte unauflösliche Verknüpfung der Individualität mit der Endlichkeit des Lebens weiter herausgearbeitet. Dies ist besonders relevant hinsichtlich egozentrischer und auf Äußerlichkeiten bezogener Phantasien über Möglichkeiten, Altern und Sterben besiegen zu können. Das 6. Kapitel befasst sich vor dem Hintergrund dieser Tatsache mit unterschiedlichen aktuellen Vorschlägen, aus der Einsicht in die Tatsache eigener Endlichkeit individuelle wie soziale Wege der Selbstgewinnung durch Selbstüberschreitung zu finden. Im 7. Kapitel werden soziale wie individuelle Aspekte des Alterns erweitert und vertieft. In dem Maße, in dem das Altern zu einer universalen und globalen Tatsache wird, wächst die Notwendigkeit, für diese historisch neue Situation Perspektiven zu finden, die den Veränderungen gerecht werden können. Hier werden Ergebnisse der Gerontologie einbezogen, sowohl was das Glück, sich auch im Alter noch selbst verwirklichen zu können betrifft, als auch hinsichtlich der Verantwortungen, die eine stets noch anwachsende Lebenserwartung individuell wie gesellschaftlich mit sich bringt. Ein ganz besonderes Problem tut sich da auf, wo das individuelle Altern mit schweren Erkrankungen einhergeht. Gerade die allerletzte Lebenszeit ist oft eine Phase, in der empfindlichste Essentiale menschlichen Daseins, wie Würde und Autonomie mehrfach gefährdet sein können – durch das Individuum selbst, wenn es durch schwere Formen der Demenz die Kontrolle über sich und sein Handeln verliert, als auch durch die Mitmenschen, die vor die schwere Aufgabe gestellt sind, die Integrität einer sich dekompensierenden Person zu bewahren. Daher befasst sich das 8. Kapitel mit dieser Grenzfrage und der Notwendigkeit, den Begriff des Personseins über die kognitive Definition reflexiven Selbstbezuges hinaus zu erweitern. In einer pluralistischen Welt kann es auf die Frage nach einer Ethik gelingenden Alterns viele individuelle, aber auch gesellschaftspolitische Antworten geben. Dabei kann eine Ethik des Alterns nicht als ein Sonderfall praktischer Philosophie verstanden werden, son14

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Einleitung

dern muss im Kontext einer allgemeinen Ethik gesehen werden, die zwar Raum für Differenzen lässt, aber dennoch den Anspruch auf eine universale Vermittelbarkeit nicht aufgibt. Alle Lebensformen, die ein so weit irgend möglich selbstbestimmtes, zufriedenes Altern ermöglichen, können in einem weit gefassten Horizont guten Alterns einen Platz haben, solange sie nicht direkt oder indirekt andere berechtigte Interessen verletzen. Daher lässt sich eine individualistische Ethik guten Alterns nicht von allgemeinen Gerechtigkeitsansprüchen ablösen. Mit anderen Worten, eine nur den Bereich der Innerlichkeit und der Selbstverwirklichung ansprechende Alterstheorie, die die Rechte der Autonomie des einzelnen betont, muss ergänzt werden durch die Frage nach den Pflichten gegenüber der Allgemeinheit, von denen die alten Menschen gerade auch im Sinne ihrer Bedeutung für die Gesellschaft nur nach Maßgabe ihrer Gesundheit und nicht der bloßen Lebensjahre entbunden werden können. Dem humanistischen Kampf gegen die Allgegenwart des Todes, seiner Zurückdrängung aus der Mitte des Lebens, entspricht noch keine Kultur guten Alterns, die alle Lebensstadien umfasst. Schlüsselbegriffe einer solchen Kultur aus der philosophischen Tradition zu gewinnen und ihnen Hinweise zu entnehmen, wie mit dem neuen, manchmal ambivalenten Privileg des Altwerdens bestmöglich umzugehen sei, ohne seine Schattenseite zu verleugnen, ist das Anliegen dieser Studie.

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I Das Schicksal bewusster Endlichkeit – philosophiehistorische Stationen

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1 Die Entfaltung der Spannung zwischen Verfallen und Reifen in der Antike Der selbstzufriedene Alte aus der rhetorischen Tradition und der verzweifelte Alte bilden zwei extreme Positionen. Norberto Bobbio 1

Inmitten eines scheinbar holistischen Weltbildes, in dem alles seine irdische wie kosmologische, von den Göttern überwachte Ordnung hatte, findet sich ein in der Substanz sehr modern anmutendes Denken. Bereits in der vorsokratischen Lyrik liegen die Ursprünge dessen, was bis heute die Reflexion über ein anthropologisch und existentiell so fundamentales Thema wie das des Alterns prägt. Das Menschsein wird aus der Perspektive des sterblichen Subjekts als ein vergängliches und verletzliches beschrieben. Die basale Erfahrung der Menschen ist, dass sie sich in einer stets latent bedrohten Existenz vorfinden, der sich je nach der helleren oder düsteren Optik der Dichter ein mehr oder weniger erfülltes, leid- oder sinnvolles individuelles Dasein abgewinnen lässt. 2 Heute sieht sich der privilegierte Teil der Welt, in dem es nicht mehr um das tägliche Überleben geht, in einem doppelten Sinn mit der Frage, wie mit der Tatsache des immer Älterwerdens umzugehen sei, konfrontiert. Existentiell-individualistisch bedeutet die sich immer länger ausdehnende, verhältnismäßig sichere Lebenszeit sowohl Gewinn als auch Anstrengung. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit war am Beginn eines Lebens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen gewesen, dass die zu erwartende Lebensspanne sieben bis acht Jahrzehnte dauern würde, aber auch noch nie war die Rolle der alten Menschen so wenig definiert. Sozial und praktisch bedeutet letzteres, dass der ständig wachsende Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung dazu nötigt, eine Idee darüber zu entwickeln, wie die letzte Lebensphase als Refugium, oder aber auch als Raum neuer Selbstentfaltung geschützt bleiben kann, ohne dass dadurch ein Interessenkonflikt mit den Bedürfnissen

N. Bobbio, Vom Alter – De senectute, S. 36. Eine Gesamtdarstellung des Alterns in der Antike anhand literarischer und historischer Quellen findet sich in: H. Brandt, Wird auch silbern mein Haar.

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Die Entfaltung der Spannung zwischen Verfallen und Reifen in der Antike

anderer, sich zunehmend in der Minderheit befindender Altersgruppen wie die der Kinder und Jugendlichen eskaliert. Was ein Blick auf die Entfaltung eines Interpretationsspektrums der Antike in Bezug auf ein besseres Verständnis der aktuellen Lage nur wenig leisten kann, ist eine Reanimierung der inhaltlichen Rollendefinition. Aus der Begeisterung über das Reifen und den Gewinn der Altersweisheit bei Solon sowie aus dem Faktum der Gerusia, dem Rat der Ältesten und Weisen in der Regierung von Sparta lassen sich keine Erkenntnisse gewinnen, die allgemeinere und aktuelle Geltung hätten. In einer Welt, in der das Wissen längst beträchtlich schneller altert als die Menschen, kann die Aufgabe alter Personen kaum mehr darin bestehen, das Ganze besser zu verstehen. Der Soziologe K. O. Hondrich gibt als einen entscheidenden Grund für das Verschwinden der Altersweisheit als Wissensvorsprung die Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse zwischen der Enkel- und der Großelterngeneration an. Er vertritt die These, die Minderheit wisse immer mehr über die Mehrheit als andersherum, so dass den alten Menschen gerade durch ihre faktische Dominanz zunehmend der Zugang zur Welt der jungen verschlossen bliebe, welche ihrerseits eine historisch bisher einmalige Anstrengung unternehmen müssten, ihre eigene Kultur gegenüber permanenten Einverleibungsversuchen zu schützen: »Die Älteren verlieren heute den Status der Wissenden und Weisen; nicht nur, weil ihr Sachwissen schneller verfällt, sondern auch – und hauptsächlich – weil sie sich von einer Minderheit in eine Mehrheit verwandeln und deshalb weniger in die Jugendwelt einbezogen werden als umgekehrt.« 3 Ein historischer Vergleich der Relation zwischen dem zugänglichen Wissen und der Lebenszeit ergibt ein sogar noch nachteiligeres Bild der heutigen Situation. So bemerkt der historische Demograph Imhof: »Wir können es drehen und wenden wie wir wollen: setzen wir die Gesamtmenge all dieses heutigen Wissens oder Wissenkönnens mit der Gesamtmenge heutiger Lebenszeit in Beziehung, so haben wir im Vergleich zu unseren Vorfahren unendlich viel weniger Zeit.« 4 Was die Interpretation der alten Texte allerdings erhellt, sind die substantiellen Fragen, einerseits nach der Möglichkeit, sich bis zum Ende des Lebens im Sinne einer fortschreitenden persönlichen Rei3 4

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K. O. Hondrich, Eine Minderheit namens »Jugend«, S. 41. A. E. Imhof, Reife des Lebens, S. 110.

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Resignation und Zuversicht – Eine Kontroverse zwischen Mimnermos und Solon

fung zu entwickeln, und andererseits nach der Eingebundenheit in einen gesellschaftlichen Zusammenhang, der die Balance zwischen Schutz und Verantwortung sucht. Ebenso lehrreich ist die Betrachtung der unterschiedlichen Sichtweisen aus den Perspektiven des Pessimismus bzw. des Optimismus, die beide in ihrer jeweiligen Spiegelung einer inneren Einstellung einen Teilbereich des gesamten Phänomens erschließen.

1.1 Resignation und Zuversicht – Eine Kontroverse zwischen Mimnermos und Solon Vergegenwärtigen wir uns zunächst, der Chronologie entsprechend, was der im 6. vorchristlichen Jahrhundert geborene ionische Lyriker Mimnermos vom Alter dachte, so sehen wir uns mit einer Trauer über die Vergänglichkeit der Jugend konfrontiert, welcher nicht etwa der Trost einer wachsenden Weisheit oder Reife gegenübergestellt wird, sondern die vielmehr den Verlust des gesamten Lebensglückes bedeutet. Alt wird ein Individuum durch die äußeren Zeichen des körperlichen Abbaus, denen eine innerliche Depression korrespondiert. Das untrüglichste Zeichen dafür, unrettbar dem Altersprozess verfallen zu sein, sieht er im Schwinden der Fähigkeit, sich zu verlieben, zu begehren und begehrt zu werden, den Beginn eines umfassenden Absinkens in eine Freudlosigkeit, die zum Schluss nicht einmal mehr der Naturschönheit gegenüber empfänglich ist: Was ist das Leben, was freut Aphrodite der güldnen? Tot sein möcht ich, sobald dies mir nicht länger behagt, Heimliche Liebesgewährung, und holde Geschenk’, und das Lager. Blüten der Jugend, dahin welken sie, flüchtig entrückt, Männern sowohl wie den Fraun; wenn dann mühseliges Alter Annaht, das ganz gleich Schöne den Häßlichen macht: Immer ihm drückt nunmehr das Gemüt abmattende Sorge, Nicht mehr labet es ihn, Strahlen der Sonne zu schaun. Nun sind feind ihm die Knaben, und nicht sein achten die Mädchen, Also Beschwerliches hat Greisen verliehen der Gott. 5

Sein Blick auf das Altern ist ein radikal pessimistischer – und ein ebenso radikal individualistischer. Der innere Zusammenhang zwischen diesen beiden Positionen wird sich leitmotivisch noch in der 5

Mimnermos, in: W. Marg (Hrsg.), Griechische Lyrik, S. 27. (Übers. v. A. W. Schlegel). A

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ganzen folgenden Tradition existentieller Reflexionen über die Verletzlichkeit des Lebens zeigen. Wenn das Individuum sich über den Höhepunkt seiner eigenen Schönheit und Kraft definiert, was bekannterweise keinesfalls ein isolierter Standpunkt eines jugendverliebten antiken Griechenland geblieben ist, dann erscheinen alle späteren Stadien nur noch als defizitäre, allenfalls kompensatorisch noch zu erfüllende Daseinsformen. Doch schauen wir uns zunächst die in dieser Elegie aneinandergereihten Thesen über das Alter genauer an. Erstens: Tot sein ist besser, als die Gebrechen des Altseins zu spüren. In dieser These laufen alle folgenden zusammen. Altsein wird von Mimnermos also als ein derart gravierender Verlust der Lebensqualität verstanden, wie wir ihn aktuell nur noch aus der Diskussion über die intensivmedizinisch Lebensverlängerung, verbunden mit gravierenden Symptomen wie dem psychopathologisch irreversiblen Verlust der Persönlichkeit oder mit durch Medikamente nicht mehr zu lindernden Schmerzen kennen. Leben wird derart selbstverständlich mit Gesundheit und jugendlicher Schönheit identifiziert, dass bei einer Einbuße dieser Attribute nur noch die Alternative des Todes übrig zu bleiben scheint. Andererseits braucht man nicht weit in die Zeitgeschichte zurückblicken, um in der Jugendbewegung der sechziger und siebziger Jahre ein Fortleben dieser Tradition, allerdings v. a. in Form der Gesellschaftskritik und unter dem Zeichen der Entrüstung über die Verlogenheit der Welt der »Erwachsenen« zu finden. Dreißig Jahre galten als die Grenze dessen, was man sich als lebenswert vorstellen konnte, Gedanken an die eigene Altervorsorge erschienen als grotesk, da die Vorstellung an das eigene Alter absurd wirkte, und alt sein galt als synonym mit strukturkonservativem Denken, dem Verlust an Lebensfreude, und vor allem der Preisgabe aller Ideale. Besonders deutlich bringt der Titel des Romans Vor den Vätern sterben die Söhne von Thomas Brasch dieses Lebensgefühl zum Ausdruck, der vom Scheitern des jungen Protagonisten nicht am eigenen Altern, sondern an dem einer sklerotisierten Gesellschaft berichtet. Zweitens: Das Alter ereilt Männer und Frauen gleichermaßen. Was das Vorurteil, Männern nehme das Altern nicht so viel von ihren Vorzügen betrifft, ist Mimnermos sicherlich moderner als viele Meinungen der jüngeren Vergangenheit. Gleichheit gilt hinsichtlich der individuell-existentiellen Situation. Ungleich behandelt das Altern Männer und Frauen allerdings hinsichtlich der Lebenserwartung überhaupt, die für Frauen heute etwa 7 Jahre höher liegt, und das 22

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höchste Greisenalter somit fast ausschließlich zu einer Frauensache macht. 6 Drittens: Das Altern macht das Schöne dem Hässlichen gleich. Das bedeutet, dass ein wichtiger ästhetischer Vorteil in der Konkurrenz um die Liebesgunst während der Jugendzeit eingeebnet wird. Alte Menschen, heißt das, sind alle gleichermaßen hässlich. Es ist in der Tat wahr, dass die Ästhetik erst im Laufe der Jahrhunderte den Blick veränderte und die spezifische Schönheit wie Vielfalt des Alterns entdeckte. Berühmt geworden sind z. B. die Altenportraits von Rembrandt, einschließlich eines eigenen, dem er das Attribut »lachendes« zufügte, welche die Bitterkeit des Mimnermos entkräften und zeigen, dass sich die innere Gestaltungskraft der Individuen durchaus auch im Äußerlichen widerspiegeln kann, in einem sanften Blick, in ironisch-verständnisvollen Augen, wie denen des alten Malers, in einer gütigen Geste oder an den faltigen Händen, die von lebenslanger Arbeit Zeugnis ablegen. Voraussetzung für eine solche Gestaltung ist, das Alter nicht ausschließlich als ein von der Natur grausam verhängtes Schicksal zu fürchten und sich seiner Fremdherrschaft zu ergeben, sondern es sich als eine formbare Lebensphase anzueignen. 7 Viertens: Das Gemüt wird von Sorgen bedrückt und ermattet. Dieser Punkt ist der komplizierteste, da sich die Frage nach eventuell altersspezifischen Verstimmungen in besonders viele Einzelprobleme auffächert. Es ist zu differenzieren, welcher Art die Sorgen sind, doch um eine Vorstellung von der negativistischen Deutung des Mimnermos zu bekommen, genügt es hier, lediglich die äußeren Probleme zu benennen, z. B. das Faktum, dass es im Alter, durch sich mehrende Verlusterfahrungen etwa am Tod nahestehender Menschen oder in der nachfolgenden Elegie genannten wirtschaftlichen Notsituation 8 Vgl. hierzu: C. V. Browne, Women, feminism, and aging; Gannon; L. R., Woman and aging: transcending the myths; A. Niederfranke, Das Alter ist weiblich: neue Lebenschancen nach der Lebensmitte. 7 Vgl. Zum Zusammenhang zwischen der Arbeit an sich selbst und dem Erscheinen in der sozialen Welt den schönen Titel von M. Kaminsky: What’s inside you it shines out of you. 8 In den westlichen Wohlfahrtsstaaten haben wir heute vielfach eine Situation erreicht, in der die Not im Alter nicht nur beseitigt ist, sondern sich ökonomisch im Vergleich zu anderen Gruppen eine einmalig günstige Situation ergeben hat, doch das ist in Bezug auf die Vergangenheit eine sehr junge Ausnahmesituation, und was die Prognosen angeht, wird sie das auch für die Zukunft bleiben. Hierzu vgl. P. Wallace, Altersbeben. 6

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objektiv oftmals mehr Gründe für reaktive Depressionen gibt. 9 Was die inneren Bedingungen für Verstimmungen betrifft – die häufigsten, chronischen Erkrankung mit unmittelbaren Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden sind das Alzheimer- und das Parkinson-Syndrom –, an der ein Viertel bis die Hälfte aller über 85-Jährigen erkranken, fehlen genaue Kenntnisse. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es ähnliche Symptome auch in der Vergangenheit gab, da die durchschnittlich niedrige Lebenserwartung sich vor allem aus der immensen Säuglings- und Kindersterblichkeit ergab und weniger daraus, dass die Menschen, wenn sie die Kindheit überlebt hatten, nicht alt wurden 10 , aber wir wissen über ihre psychologische Befindlichkeit wenig Repräsentatives. Was bei der Trauer des Mimnermos fehlt, ist neben der bereits erwähnten sozialen Dimension – beispielsweise die Eingebundenheit in eine Gesellschaft, von der bei Solon die Rede sein wird – auch die Frage nach einem möglichen immanenten oder transzendenten Sinn, der dem Altwerden abzugewinnen sei. Im Unterschied zu Solon gliedert er das Leben der Menschen auch nicht in unterschiedliche Altersphasen mit unterschiedlichen Qualitäten, sondern nur in eine kurze und glückliche Jugendzeit und in das lange, mühselige Alter als das Warten auf den Tod, der auch keine Erlösung bringt, sondern nur die nicht ganz so schreckliche Alternative zum Greisentum ist. Da es die ewige Jugend nicht gibt, ist ein rasches Ende besser als eine schlechte Unendlichkeit, in der sich der alte Tithonos quält, weil ihm nur das ewige Leben, nicht aber in eins damit das Jungsein gewährt wurde: Zeus hat zu eigen gegeben ein Übel ohn Ende Tithonos, Greisentum, schauriger noch selbst als der grimmige Tod. 11

Für die Jugend bedient sich der Dichter der Jahreszeitenmetapher des Frühlings und der des Sommers als der Zeit der Blüte, auf die jedoch

Zu einer detaillierten Untersuchung depressiver Erkrankungen im Alter vgl.: R. D. Hirsch & G. Heuft, Altern und Depressivität. 10 Vgl. A. E. Imhof, Reife des Lebens, S. 39 f. Der Historiker bezieht sich zwar mit seinen Datenanalysen nicht auf die Antike, sondern auf die frühe Neuzeit, weil es für vorangegangene Epochen außer den römischen Grabsteinen kein demographisches Quellenmaterial gibt, doch dürfte die Lage in der altgriechischen Zivilisation keinesfalls schlechter gewesen sein. 11 Mimnermos, in: W. Marg (Hrsg.), Griechische Lyrik, S. 28. 9

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weder ein melancholisch-heiterer Spätsommer noch ein besinnlicher Herbst folgen: Gleich den Blättern, die mächtig im blumigen Triebe des Lenzes Sprossen und fröhlich gedeihn, wenn sie die Sonne bescheint, Also erfreun auch wir uns der Jugendblüte für kurze, Flüchtige Zeit, und was Gott Gutes und Schlimmes beschert, Wissen wir nicht. Es stehn zwei düsterere Schatten daneben: Der hat in seiner Gewalt Greisentum, leidige Zeit, Und der andre den Tod. So kurz nur dauert der Jugend Frucht, als die Sonne das Licht über die Länder ergießt. Aber nachdem einmal die Vollkraft der Blüte vorüber, Dann ist es besser, als noch weiter zu leben, der Tod. Denn viel Leid trifft unser Gemüt: dem schwindet des Wohlstands Fülle dahin, und es zieht Elend ins darbende Haus, Jenem sind Kinder versagt, er sehnt sich nach ihnen vergebens Lebenslang, und er sinkt so zu den Schatten hinab. Andere schwinden dahin in Siechtum. Keiner der Menschen Lebt, dem die Himmlischen nicht Leiden in Fülle beschert. 12

In der vorletzten Strophe ist allerdings im Negativen implizit ein, wenn auch der einzige kleine Trost hinsichtlich des Alterns und Sterbens enthalten: Das Weiterleben innerhalb der Generationenfolge, das einen davor bewahrt, gänzlich, ohne auch nur eine Spur der Erinnerung zu hinterlassen, aus der Welt zu verschwinden. Wir können heute, wo das intergenerationelle Band der Familien zunehmend durch andere soziale Netze ergänzt oder abgelöst wird, dieser Veränderung Rechnung tragen und allgemein feststellen, dass enge und solidarische menschliche Bezüge nicht nur eine Stütze im Alter sind, sondern auch eine metaphorische Brücke über den Tod bedeuten können. 13 Die lyrische Klage über das Grauen vor dem Alter wiederholt sich bei Mimnermos in variierten Intervallen, die jeweils einen neuen Aspekt ins Zentrum rücken. Als ein weiteres, wichtiges Thema neben den angesprochenen wird nun noch das der Abnahme geistiger Kraft angeführt: Aber nur spannenlang zeigt sich uns gleich einem Traum Jugend, an Ehren so reich; das leidige, peinlich entstellte Ebd., S. 27 f. Vgl. hierzu die Schilderung der Erinnerung an seine verstorbene Schwester von Bobbio: N. Bobbio, Vom Alter – De senectute, S. 52 f.

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Alter, über dem Kopf hängt es und droht es sogleich, Ungeachtet, gehaßt, und nimmt dem Mann das Erkennen, Hüllt ihn ein und versehrt Augen und geistigen Blick. 14

Hier ist eine Ausnahmesituation beschrieben, die Mimnermos für das Alter generalisiert. Die Psychologie hat das Phänomen in diesem Zusammenhang sundown syndrome genannt 15 , das eine Abschwächung des Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögens wie der Interpretationssicherheit bedeutet. Wieder erlaubt sein Pessimismus Mimnermos keine freundlichere Sicht auf die späte Lebenszeit, die andererseits, z. B. bei Cicero, oft mit einer besonderen Fähigkeit zur klaren Sicht, mit Weisheit, in Verbindung gebracht wurde und noch wird. Gemäß des Mottos der extremen Sichtweisen nach Bobbio ist zunächst diejenige des Verzweifelten zur Sprache gekommen. Nun folgt die direkte Antwort Solons auf den Zeitgenossen, 16 die als ein Ankerpunkt der rhetorischen Tradition verstanden werden kann, wenngleich es sich nicht um eine Rede, sondern ebenfalls um eine Elegie handelt. Ehe sein Entwurf der Lebensabschnitte vorgestellt wird, sei jedoch seine Erwiderung auf Mimnermos zitiert, dessen überliefertem Wunsch, mit sechzig Jahren zu sterben, er den Wunsch nach einer um zwanzig Jahre längeren Lebensspanne entgegensetzt: An Mimnermos Doch sofern du noch jetzt mir Gehör schenkst, tilge die Zeile, Sei nicht neidisch, wenn ich besser als du sie ersann, Dichte, du lockender Sänger, sie um und singe nun also: Dann im achtzigsten Jahr treffe das Todesgeschick.

Worauf er hofft, ist die Überzeugungskraft seiner Interpretation der menschlichen Lebenskurve, die nicht nach einem Scheitelpunkt auf dem Höhepunkt der Energie abfällt, um in der Hoffnungslosigkeit geistiger Umnachtung zu enden, sondern die sich lange auf einem hohen Niveau von sich teilweise ändernden und kompensatorischen Fähigkeiten wie Qualitäten halten kann. Auch der Verfassungsgeber von Athen war keineswegs unempMimnermos, in: W. Marg (Hrsg.), Griechische Lyrik, S. 29. Vgl. L. Evans, Sundown Syndrome in the Elderly. 16 Zwar geben die historischen Quellen keinen eindeutigen Anhaltspunkt dafür her, dass die beiden sich persönlich gekannt hätten, doch der Text des Solon bezieht sich so explizit auf den des Mimnermos, dass diese philologische Relation für sich spricht. (Vgl.: R. Tuomi, Kai nyn. Solons Gedicht an Mimnermos im Lichte der Tradition, S. 7 f.) 14 15

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findlich gegenüber der Tatsache, dass man am eigenen Altwerden individuell leiden kann, doch er hob alternativ dazu sowohl die soziale Komponente des Eingebundenseins in familiäre wie freundschaftliche Beziehungen als auch den Aspekt einer sinnerfüllten Ganzheit des sich mit dem Alter abschließenden Lebensprozesses hervor. Er benennt zwar die Angst vor »Siechtum und Alter, das schlimm – ohne zu zaudern sich naht« 17 , ist jedoch auch ein Vertreter der Auffassung eines klassischen Lebensbogens, der sich in zwölf Siebenjahresphasen gliedert, von denen jede ihre eigene Aufgabe mit sich bringt: Die Lebensalter Knabe zuerst ist der Mensch, unreif: da wirft er der Zähne Hag, der dem Kinde entspross, von sich im siebenten Jahr. Wenn zum anderen Mal Gott schloss die Sieben der Jahre, Zeichen der Mannheit sodann keimen, der nahenden auf. Während der dritten umkraust sein Kinn – noch wachsen die Glieder – Wolliger Flaum, da der Haut Blüte im Wandel verwich. Nun in den vierten empor zu hohem vollen Gedeihen Reift die Stärke; in ihr zeigt, was er tauge, der Mann. Mit den fünften gedeiht ihm die Zeit, der Freite zu denken Und daß in Söhnen ersteh fürderhinwährender Stamm. Während der sechsten da breitet der Geist allseit sich ins Rechte, Nimmer zu unnützem Tun treibt ihn hinfort noch der Mut. Sieben Siebenerjahre und acht: im vollen Gedeihen Stehen Zunge und Geist: vierzehn an Jahren zusamt. Noch in den neunten ist tauglich der Mann, doch lässiger zeigen Gegen das volle Gedeihn Zunge fortan sich und Witz. Wer in die zehnten gelangte, die zehnten nach Maßen vollendend, Kaum zur Unzeit wärs, träf ihn die Neige des Todes. 18

Die hier beschriebene Kurve steigt in vier Phasen bis zu einer Blütezeit auf, die mit dem 28. Lebensjahr voll erreicht ist. Sodann flacht sie ab, um sich jedoch während fünf weiterer Phasen auf stabilem Niveau zu halten. Jenseits des 63. Lebensjahres schließlich fällt sie steiler als sie aufgestiegen ist wieder ab. Bei jedem Lebensalter wägt Solon erneut den Gewinn gegenüber dem Verlust ab, und bis ins siebente Lebensjahrzehnt, um die heute üblichere Zeiteinteilung zu gebrauchen, sind die Waagschalen ausbalanciert. Dabei stellen sich die einzelnen Phasen folgendermaßen dar: 17 18

Solon, in: W. Marg (Hrsg.), Griechische Lyrik, S. 34. Ebd., S. 33. A

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Lebensalterstufen nach Solon 00 – 07 Kindheit und 07 – 14 Jugend 14 – 21 Reifung 21 – 28 28 – 35 35 – 42 42 – 49 49 – 56 56 – 63 63 – 70 70 – 77 77 – 84

Blüte, Bewährung in der Welt Familiengründung Höhepunkt der geistigen Klarheit »Volles Gedeihen von Zunge und Geist« Höhepunkt der gesellschaftlichen Anerkennung Beginn des Alterns Langsamer Abfall durch den Schwund von vitalen Kräften Es wird Zeit zum Sterben, da schon das bloße Weiterleben Mühe kostet Spätestens »im achtzigsten Jahr – treffe das Todesgeschick.«

Wir sehen an der Tabelle, dass den alternden Menschen über eine längere Zeit ihres Lebens hohe Anerkennung zuteil wird, doch das jugendverliebte Athen ordnet ihnen noch nicht die Rolle der weisen und politisch einflussreichen Ratgeber zu – diese bekleiden sie nur in Sparta 19 und später in Rom 20 . Nachdem die geistige Präsenz eine lange, knapp fünfunddreißig Jahre anhaltende Hochphase hatte, kommt ab dem 63. Lebensjahr tendenziell nichts mehr hinzu, sondern Körper und auch Geist bauen allmählich kontinuierlich ab. Selbstverständlich handelt es sich bei diesem wie bei allen Schemata nur um annähernd stabile Gesetzmäßigkeiten, von denen es individuelle Abweichungen geben kann. Solon gesteht sich beispielsweise selber eine außerordentlich wichtige, dem Verfall trotzende oder ihn sogar reflektierende Fähigkeit zum unaufhörlichen Erwerb neuer Erfahrungen zu: »Alternd lerne ich stets – Neues und Neues dazu« 21 . Der Begriff des lebenslänglichen Lernens, der von ihm eingeführt wird, besitzt auch in der aktuellen Forschung noch eine, wenn nicht überhaupt die entscheidende Bedeutung, da er den Spielraum der Möglichkeiten auch gegen scheinbar erdrückende Realitäten immer noch offen hält. Die Lernfähigkeit nimmt nicht proportioIn der Verfassung Spartas gab es neben der Volksversammlung der Spartiaten und den beiden Königen als dritte Staatsgewalt die Gerusia, den Rat der 28 Alten, d. h. über Sechzigjährigen, welche bestimmte Anträge für die Volksversammlung vorzubereiten hatte. 20 Vgl. Cicero, Cato maior de senectute. 21 Solon, in: W. Marg (Hrsg.), Griechische Lyrik, S. 34. 19

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nal zu den Kräften ab, sondern vermag immer noch neue Horizonte zu eröffnen. Zum Vergleich sei eine Lebensabschnittstabelle aufgestellt, an der die Diversifizierung, aber auch Chaotisierung heutiger Biographien jenseits der Kindheit und Jugend deutlich wird. Zum Vergleich: Lebensstufen in einem heutigen Industriestaat 0–3 3–6 6 – 15/16 16 – 19/20 20 – 60

60 – 65 65 – 75 75 – 85 ab 85

Säuglings- und Kleinkindzeit Kindergarten/Vorschule Schulpflicht Höhere Schule/Ausbildung, Reifung der Persönlichkeit Studium / Praktika / Berufstätigkeit / Fortbildung / Erziehungszeit / Umschulung /Arbeitslosigkeit / Frührente, Unterschiedliche Formen der Familienbildung, -auflösung und -neuformung; bis zu einem Drittel Kinderlose Übergang von der Berufstätigkeit in die Zeit des Ruhestands Jüngeres Alter, oft noch sehr aktiv und gesund Höheres Alter, insgesamt noch überwiegend stabile Gesundheit Hohes Alter, allmählich stärkere Zunahme an Demenzerkrankungen und multiplen Funktionsstörungen wie chronischen Krankheiten

Zwei Merkmale fallen an Solons Konzeption besonders auf: sie ist eine ganzheitliche, rhythmisch in Siebenjahresschritte gegliederte Ordnung, d. h. das Leben der Einzelnen wird als eine sinnvolle Einheit aufgefasst, in der jede Lebensphase ihren Platz einnimmt, 22 und sie ist eine soziale. Vom Sinnganzen der Biographie zeugt nicht nur äußerlich die Symmetrie der Lebensalter, sondern auch das Ende der Elegie Geld und Gut, die mit dem Satz schließt: Sie ist am schwersten zu sehn, im planenden Willen, die dunkle Grenze, die doch allein allem sein Ende verbürgt. 23

Die verborgene Grenze des Todes, der das Ende des individuellen Lebens beschließt, macht dieses zu einem Ganzen. Im 3. Kapitel wird die Problematik des ganzheitlichen Lebensentwurfes, der sowohl prominente Fürsprecher als auch Kritiker hat, eingehender untersucht. An dieser Stelle sei vorerst nur auf die wichtige integrierende Mitte des letzten Jahrhunderts nahm Romano Guardini in seinem gleichnamigen Werk die Idee des Lebensalter auf und betonte, dass jeder Lebensabschnitt mit einer Krise beginne; vgl. auch O. F. Bollnow, Krise und neuer Anfang. 23 Ebd., S. 33. 22

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Funktion hingewiesen, die ein solches holistisches Konzept für die Zeit des Alters bedeutet. Wenn von der Geburt bis zum Tod jeder Lebensabschnitt einen Teil eines Ganzen darstellt, fällt die Toleranz gegenüber mühevollen Strecken des Lebenslaufes leichter. Über 2000 Jahre später taucht die Einteilung der Lebensalter, zwar nicht in Siebenjahres-, aber in Siebenphasenschritten in Shakespeares Komödie As You Like It, wieder auf. Auf der Lebensbühne gestaltet sich das Leben hier als tragisch-komischer Siebenakter: Lebens-Akte nach Shakespeare 24 1. Akt 2. Akt 3. Akt 4. Akt 5. Akt 6. Akt

Das jammernde Kleinkind in den Armen der Amme Das unwillige Schulkind Der oft enttäuschte Liebhaber und Schwärmer Der vergeblich nach Ruhm gierende Soldat Der Richter mit rundem Bauch und voller Allerwelts-Weisheit Das sechste Alter: Verlust an Vitalität, die mächtige Stimme wird wieder piepsig wie die eines Kindes, die Kleider passen nicht mehr 7. Akt Die letzte Szene: Zweite Kindheit, Verlust von allem: Gedächtnis, Zähnen, Sehfähigkeit, Geschmack

Auffällig ist, dass den beiden letzten Stationen nicht einmal mehr eine stellvertretend zu betitelnde Figur zugeordnet wird. Das Leid am Ende wird allerdings dadurch humorvoll relativiert, dass die Identifikation mit den Repräsentanten der vorangegangenen Lebensabschnitte nicht generell attraktiver ist. Auch an diesem Beispiel zeigt sich jedoch die als stabil erachtete natürliche Ordnung, deren Gesetzmäßigkeiten in ihrer allgemeinen Verbindlichkeit nicht nur eine beschränkende, sondern auch eine entlastende Funktion haben. Der andere Anker der eher optimistischen Auffassung Solons sind nach der Ordnung der Lebensphasen die sozialen Bezüge, wobei die persönlichen entscheidender sind gegenüber den gesellschaftlichen. Es sind die Freunde und die Familie, die garantieren, dass man nicht spurlos im Reich der Schatten verschwindet, sondern in der Trauer und in der Erinnerung präsent bleibt: Und nicht klaglos komme mein Tod einst, sondern den Freunden Hinterließe ich gern Schmerzen und Stöhnen und Gram. 25 24 25

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W. Shakespeare, As You Like It, 2. Akt, 7. Szene (Jaques). Solon, in: W. Marg (Hrsg.), Griechische Lyrik, S. 34.

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Epikureische Gelassenheit

Aber nicht nur nach dem Tod zeigt sich die Bedeutung der Freundschaft, sondern auch schon im Leben bedeutet soziale Verbundenheit neben einem gewissen Wohlstand die wichtigste Garantie für Glück: Glücklich wer trauliche Kinder besitzt, einhufige Pferde, Tüchtige Hunde zur Jagd, fern aus der Welt einen Freund. 26

Wir können an der Gegenüberstellung von Mimnermos und Solon also zwei Tendenzen erkennen, welche die gesamte philosophische Altersforschung durchzieht: Zum einen ist es die Linie des vor allem auf die Existenz des einzelnen und einsamen Daseins konzentrierten Pessimismus, für den es zentral darauf ankommt, sich in der Grenzsituation des hohen Alters mit seinem Schicksal allein zu konfrontieren, und der weder den Trost enger sozialer Bindungen kennt, noch eine Orientierung an Sinnbezügen. Zum anderen sehen wir die Entstehung des dialogischen Optimismus, der der Verzweiflung über die eigene Endlichkeit deren spezifischen Sinn sowie ihre mögliche Transzendierung durch das Einbeziehen der Anderen entgegensetzt.

1.2 Epikureische Gelassenheit Die schlichte Lebensverneinung, wie Buddha sie lehrte, wirkt ebenso fragwürdig wie die sture Selbstbehauptung. Das Loslassen, die Gelassenheit, ist im Übrigen eine Haltung, die wir uns nicht nur dem Tod gegenüber wünschen […]. Ernst Tugendhat 27

Die Philosophie kennt wenige Beispiele für einen Optimismus, der weder auf dem Boden orthodoxer Gläubigkeit wächst noch sich gegenüber den negativen Realitäten der Welt und des Daseins blind stellt. Epikur vermittelt den Eindruck, seine Gelassenheit gegenüber den Negativitäten des Lebens verdanke sich eher einer inneren Disziplin als der Stütze durch einen von außen kommenden Trost oder der Verdrängung. In seinem Brief an Menoikeus, der wie viele seiner Schriften von der Erlangung des größtmöglichen Glückes handelt, beschränkt er sich ausschließlich auf die inneren, selbstverantworteten Bedingungen für ein zufriedenes Altwerden – auf die äußeren, sich teilweise dem autonomen Handeln entziehenden Faktoren wie 26 27

Ebd., S. 35. E. Tugendhat, Über den Tod, S. 89. A

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Wohlstand und Gesundheit geht er nicht ein. Dieses Defizit muss hier genannt werden, wobei es die Reichweite seiner Überlegungen zwar einschränkt, sie selber jedoch nicht hinfällig macht. Das Altern ist für ihn kein Lebensabschnitt, der grundsätzlich problematischer wäre als alle anderen. Er vertritt auch nicht die Theorie einer Lebenskurve, sondern meint, es komme zu jeder Zeit darauf an, dem Leben ein Höchstmaß an Lust (donffi) abzugewinnen, wobei es gilt, unabänderlichen Tatsachen, die dem im Wege stehen, nicht die Macht einzuräumen, das Streben nach Glück, das auf das engste mit dem Erlangen der Einsichtsfähigkeit verknüpft ist, 28 zu zerstören. Berühmt geworden ist das Diktum über den Tod aus demselben Brief, der »nichts sei, was uns betrifft« 29 , weil wir ihn nicht mehr empfänden: »Das schauererregendste aller Übel, der Tod, betrifft uns überhaupt nicht; wenn ›wir‹ sind, ist der Tod nicht da; wenn der Tod da ist, sind ›wir‹ nicht.« 30 Der Tod stellt somit nicht eine Art Fluchtpunkt des Lebens dar, auf den in besonderem Maße der letzte Abschnitt des Alters zulaufen würde, sondern das Leben steht als eine nicht chronologisch segmentierte Einheit dem bedeutungsleeren Nichts des Todes gegenüber. Die Bedrohungen, mit denen sich die Einzelnen in den unterschiedlichen Lebensstadien konfrontiert sehen, kann man demnach als einigermaßen ausgewogen verstehen. So macht Epikur auch keinen Unterschied zwischen der Notwenigkeit, mit der sich junge wie alte Menschen dem Studium der Philosophie als dem Mittel zur inneren Zufriedenheit widmen müssten, um jeweils das ihnen Mangelnde zu lernen: Weder soll, wer noch ein Jüngling ist, zögern zu philosophieren, noch soll, wer schon Greis geworden, ermatten im Philosophieren. Denn weder ist jemand zu unerwachsen noch bereits entwachsen im Blick auf das, was in der Seele gesunden lässt. Wer aber sagt, zum Philosophieren sei noch nicht das rechte Alter, oder, vorübergegangen sei das rechte Alter, ist dem ähnlich, der sagt, für das Glück sei das rechte Alter noch nicht da oder nicht mehr da. Philosophieren also muss der Jüngling wie der Greis, der eine, um alternd jugendfrisch zu bleiben an seinen Gütern aus Dankbarkeit für das Vergangene, der andere, um zugleich jung und altersweise zu sein aus mangelnder Furcht vor dem Künftigen. 31 28 29 30 31

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Vgl. H.-M. Bartling, Epikur: Theorie der Lebenskunst, S. 19 f. Vgl. Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, S. 43. Ebd., S. 45. Ebd, S. 41 f.

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Epikureische Gelassenheit

Mit diesem Begriff des Philosophierens nimmt auch Epikur denjenigen des Lernens in Anspruch und teilt den unterschiedlichen Altern unterschiedliche Aufgaben zu, an deren Bearbeitung sich sowohl ihre spezifischen Vorzüge als auch Gefahren zeigen. Die Alten hält die geistige Anstrengung beweglich und ermöglicht ihnen einen rückblickenden Zugriff auf ihr gelebtes Leben, der sich nicht selbstverständlich einstellt, und einen großen Wert bedeutet. Die Jungen lernen hingegen, etwas von dem Künftigen zu antizipieren und ihre Angst vor dem Ungewissen zu beherrschen. Die Zuordnung der zeitlichen Dimensionen dergestalt, dass dem Alter die Vergangenheit, der Jugend aber die Zukunft gehört, zählt zu den am meisten geäußerten Thesen zu diesem Thema. Meistens jedoch tönt eine melancholische Stimmung das Bild auf der Seite des Alters, das nur noch über einen engen Zukunftshorizont im Unterschied zu dem weiten der Jugend verfügt, dunkel. Epikur als Meister der Balance hingegen wägt auch hier ab und gibt zu bedenken, dass die Fülle an Erlebnissen und Erfahrungen einer langen Biographie einen Reichtum darstellt, von dem junge Menschen nie wissen können, ob sie ihn überhaupt je erreichen werden. Sicherlich kann man auch hier wieder den sozialkritischen Einwand anbringen, dass es viele Situationen gibt, in denen alte Menschen keinerlei Grund dafür haben, dankbar auf ihre Vergangenheit zurückzublicken. Ebenso lässt sich an dieser Stelle gegen den Epikureischen Optimismus die Gebrochenheit Benjamins geltend machen, der in seiner 2. Geschichtsphilosophischen These auch im Sinne der individuellen Geschichte nicht von zufriedener Rückschau, sondern vielmehr vom Neid gegenüber der Vergangenheit spricht. Dieser entzündet sich an den verpassten Chancen und ist das unangenehme Resultat verspielten oder zumindest nicht mehr spürbaren Glücks: »Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten geben können.« 32 Dennoch bleibt festzuhalten, dass die individuelle Vergangenheit potentiell und vielfach auch real eine ergiebige Quelle der Lebenszufriedenheit sein kann. 33 Wenn sogar der über jeden Verdacht des Harmonismus erhabene Jean Améry als einzige Stütze des TrotW. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, S. 79. Der Begriff der Lebenszufriedenheit hat in der jüngeren Altersforschung zunehmend den zu sehr befrachteten Begriff des Glücks abgelöst und betont stärker den relativen,

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zes gegen die Resignation angibt, man könne stolz darauf sein, »es schon solange durchgestanden zu haben« 34 , mag das als Bestätigung des Wertes gelten, den die eigene Vergangenheit im Zugriff des rückblickenden Festhaltens grundsätzlich bedeutet. Die Vorzüge des epikureischen Entwurfs sind v. a. zweierlei: Die Souveränität gegenüber dem Verlust an vitaler Kraft und Jugendschönheit ebenso wie gegenüber der Herrschaft der Zeit. Ausnahmslos alle pessimistischen Altersanalysen quälen sich, wie im 4. Kapitel erörtert wird, mit der Diktatur der Zeit, die uns zunächst wachsen lässt, um uns sodann wieder alles zu nehmen und uns schließlich zu vernichten. Zwar ließe sich einwenden, dass es eine reale Herrschaft der Zeit, ohne die Leben nicht denkbar ist, ebenso gibt wie die Realität des Todes als Ende des individuellen Lebens, doch Epikur leugnet diese dunklen Realitäten gar nicht. Er nimmt ihnen lediglich ihre lähmende Bedrohung, indem er ihnen den Rücken zukehrt, Abstand nimmt und in die Zeitlosigkeit »heiterer Gelassenheit« 35 heraustritt. Seine Idee vom Glück als innerer Genussfähigkeit entspricht zu einem gewissen Teil dem, was in jüngerer Zeit Michael Theunissen innerhalb seines Werkes über die Negative Theologie der Zeit das Verweilen als »Freiheit von der Zeit« nennt: »In einer Sache aufgehen kann der und nur der, welcher sich um Zukünftiges nicht kümmert und auch seiner vergangenen Leiden nicht gedenkt.« 36 Für Epikur bedeutet Freiheit von der Herrschaft der Zeit und von der panischen Sorge, etwas zu versäumen, den Gewinn eines von äußerlichen Bedingungen unabhängigen Glücks, das nicht deshalb endlich ist, weil wir sterben müssen, sondern das in dem Moment vernichtet wird, in dem wir uns durch die Angst vor der verrinnenden Zeit und vor der eigenen Endlichkeit den Genuss an der Gegenwart stehlen lassen. Das Leben verlieren die Menschen eher abstrakt durch den Tod, der am Ende droht und nur vermittelt in das Leben integriert wird, konkret jedoch ständlig im Nichtergreifen gegenwärtiger Möglichkeiten zugunsten einer Projektion des Glücks auf die ferne Zukunft: »Du aber bist nicht Herr des morgigen Tages und schiebst dennoch das Erfreuliche auf. Das Leben geht unter Zauindividuell ganz unterschiedlichen Zustand innerer Ausgeglichenheit. Vgl.: H. Thomae, Lebenszufriedenheit im Alter. 34 J. Améry, Über das Altern, S. 41. 35 Vgl. Das Ende des Briefes an Herodot von Epikur, in: ders.: Briefe, Sprüche, Werkfragmente, S. 41. 36 M. Theunissen, Freiheit von der Zeit, in: Negative Theologie der Zeit, S. 291.

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dern verloren, und jeder einzelne von uns stirbt in seiner Unrast.« 37 Vergreisung droht nicht vornehmlich am Ende des Lebens, sondern ständig – in derselben Verachtung des Präsenten: »Gedenkt er nicht des ihm zuteil gewordenen Guten, so ist er schon heute zum Greis geworden.« 38 Die Rettung des Augenblicks als ein Anhalten der Zeit wird im Abschnitt über Seneca wieder aufgegriffen. Was die Heiterkeit des Gemütes betrifft, so hat die aktuelle Altersforschung interessante Ergebnisse erbracht. Besonders wichtig dabei ist, dass diese Fähigkeit nicht in erster Linie als naturgegebene psychische Stimmung verstanden werden darf, sondern dass sie vielmehr das Ergebnis eines anspruchsvollen Prozesses der Selbsterziehung ist. Diese Selbsterziehung besteht zum einen aus der genannten Fähigkeit, in der Gegenwart Räume des Glücks zu eröffnen, zum anderen in der Distanzierung von der ängstigenden oder deprimierenden Situation, in der man sich unter Umständen befindet. Dies kann z. B. die Aufgabe des literarischen wie alltäglichen Humors sein, wie Sigmund Freud sie in seinen Abhandlungen Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten von 1905 und Der Humor von 1927 darstellte. Er hielt die ironische Distanzierungsleistung sogar für eine der höchsten psychologischen Fähigkeiten überhaupt, da sie eine einzigartige Garantie dafür bietet, dass das Ich seine Integrität auch im Strudel negativer Erlebnisse zu retten vermag. Es entzieht sich durch eigene Kraft der Dominanz des Negativen und »verweigert es, sich durch die Veranlassungen aus der Realität kränken, zum Leiden nötigen zu lassen.« 39 (Vgl. Kap. 6.1.1) Dieselbe Idee verfolgt auch G. W. Allport in Gestalt und Wachstum in der Persönlichkeit weiter und kommt zu dem Schluss, der aus gelassener Distanz erwachsende Humor sei sogar »unentbehrlich für eine reife Lebensansicht« 40 , allerdings stellt dieser sich mit dem Alter ebenso wenig von selbst ein wie alle anderen so genannten Alterstugenden auch. Gelassenheit, Nachsicht, Heiterkeit kommen nicht Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, S. 83. Zur fatalen, umgekehrten Reziprozität zwischen dem verzweifelten Versuch, durch Beschleunigung dem Leben scheinbar mehr abzugewinnen und dem gerade dadurch verursachten Verlust an realen Erfahrungen von Glück und damit von erfüllter Lebenszeit vgl. M. Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit, S. 102 ff. 38 Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, S. 83. 39 S. Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, S. 234 f. 40 G. W. Allport, Gestalt und Wachstum in der Persönlichkeit, S. 286. 37

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wie der deus ex machina mit einer bestimmten Anzahl von Lebensjahren. Vielmehr entziehen sie sich einer solchen theatralischen Vorstellung vollkommen und bleiben eine Frucht mühevoller Arbeit an sich selbst. Die Psychologin Hildegard Bechtler berichtet beispielhaft von einer Patientin, die inständig gehofft hatte, im Alter verschwänden ihre Beschwerden einer depressionsbedingten Hypersensibilität ohne andere therapeutische Maßnahmen: »So war Frau K. davon ausgegangen, dass sie mit dem Älterwerden alles nicht mehr so schwer nehmen und abgeklärt sein wird. Probleme hat sie immer schwer genommen und auf eine mit fortschreitendem Alter sich quasi von selbst einstellende Entlastung gehofft.« 41 Dieser Erwartung blieb jedoch nicht nur die Erfüllung versagt – es verstärkten sich darüber hinaus sogar die Eigenschaften, von denen die Patientin Befreiung erhofft hatte. Frau K. ist im Alter nämlich »noch dünnhäutiger« geworden und nahm alles schwerer denn je. Der Philosophie, wie Epikur, die Aufgabe zuzutrauen, »die Seele gesunden zu lassen«, ist ein hoher Anspruch. Sie kann dazu dienen wie alles, was Prozesse der Auseinandersetzung mit der eigenen Situation anregt, wie Bildende Kunst, Literatur, Musik, Psychologie – ohne allerdings selbst bereits das Heilmittel zu sein. Die aktuelle Altersforschung hat den Bildungsgedanken, der hinter dem Epikureischen »Einüben des vollkommenen Lebens und des vollkommenen Sterbens« (das ihm zufolge dasselbe ist) aufgegriffen, bis hin zur These, dass die einzig sinnvolle Prävention gegen die Verzweiflung im Alter eine allgemeine und drastische Erhöhung des Bildungsniveaus sei. 42 Der Aufruf zu Gelassenheit und zum Frieden mit sich selbst in der jeweiligen Situation löst das Problem des Leidens an der Vergänglichkeit nicht, gibt jedoch ein Mittel an die Hand, sich ohne naive Verdrängung von ihm ab- und anderen, lösbaren Problemen oder Freuden zuzuwenden. Gesetzt den Fall, dass der Widerspruch zwischen dem menschlichen Wunsch nach Unsterblichkeit, der sich von einem geistigen Leistungsvermögen herleitet, welches zumindest potentiell die vitale Lebenserwartung weit zu übersteigen vermag, als unaufhebbar hingenommen wird, kann als ein Herzstück der epikureischen Gelassenheit die Betonung der spezifischen Alterssicherheit H. Bechtler, »… Also ich mach mir da schon selber Mut«, S. 24. Vgl. O. Blume, Vorbereitung auf das Alter aus gesellschaftlicher Sicht, in: actuelle gerontologie, Jg. 1 (1971), 268 ff.; und: R. Vath, Das Altern lernen, S. 124 ff.

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als Quelle der Zufriedenheit abschließend noch einmal geltend gemacht werden. Auch wenn das Glück, wie von Benjamin betrauert, zu einem großen Teil in der Vergangenheit eingeschlossen liegt, bedeutet es eine Ressource der Stabilität, die, wenn sie das Leben einem nicht gänzlich vorenthalten hat bzw. wenn sie ethisch verspielt wurde, einen großen Reichtum darstellt: »Der Greis aber ist in seinem Alter wie in einem Hafen vor Anker gegangen und hat die früher kaum erhofften Güter eingeschlossen in sicheres Gedenken.« 43

1.3 Erhabenes Alter in Rom – Die Apologie des Cicero Altwerden ist wie auf einen Berg steigen. Je höher man kommt, desto mehr Kräfte sind verbraucht, aber um so weiter sieht man. Ingmar Bergmann

Bisher wurden vor allem zwei unterschiedliche Modelle ganzheitlicher Lebensauffassung vorgestellt: Bei Mimnermos und Solon dasjenige der Lebenskurve, die mehr oder weniger langsam ansteigt und wieder abfällt. Bei Mimnermos steigt sie steil an, erreicht früh einen Gipfelpunkt, um dann ins trostlose Alter abzusinken. Bei Solon steigt sie beträchtlich langsamer an und weist statt eines dominanten Gipfels auf der Höhe jugendlicher Schönheit und Kraft ein ausgedehntes Hochplateau auf, auf dem Vitalität und Reife ineinander übergehen, um schließlich wesentlich sanfter zum Greisenstadium hin abzufallen. Das zweite Modell, das von Epikur, war hingegen kein lineares, sondern ein integratives. Es kam nicht darauf an, einem in Altersbzw. Reifephasen segmentierten Lebensweg zu folgen, sondern vielmehr darauf, zu jedem Zeitpunkt des individuellen Lebens das Richtige zu tun, mit dem Ziel, die Zeit jeweils momentan zu erfüllen, aber nicht, sie phasenweise abzuarbeiten. Nun treffen wir auf ein weiteres Modell, das wiederum linear ist, aber nicht im Sinne einer Kurve, sondern einer ansteigenden Linie ohne Wendepunkt. Mit anderen Worten: Von einmal erklommenen Höhen müssen die alten Menschen nun nicht mehr absteigen. In Rom war die Zeit, in der das Alter wie zuvor bereits in Sparta 44 , Epikur, Briefe, Sprüche, Werkfragmente, S. 83. Cicero beruft sich ausdrücklich auf Wertschätzung des Alters in Sparta, Vgl. Cato maior, de senctute, S. 84 f.

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jedoch nie wieder danach in der abendländischen Geschichte als ein geradezu privilegierter Lebensabschnitt gesehen wurde. (Die Gerontokratien der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten lassen sich damit nicht vergleichen, weil die politischen Potentaten – übrigens im Unterschied zu Rom – zwar de facto ein auch für staatstragende Personen überdurchschnittliches Alter hatten, aber weniger in ihrer Eigenschaft als alte Menschen geachtet, sondern als oberste Befehlshaber des Machtapparates gefürchtet wurden.) Bis in die späte Kaiserzeit hinein manifestierte sich diese Hochschätzung des Alters auch in realer politischer Macht, zumindest einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe. Männer in sozial bevorzugter Stellung konnten mit einiger Sicherheit darauf zählen, ihre späten Jahre im Glanze ihres Ruhmes genießen zu dürfen und als weise Ratgeber geachtet zu werden. Es sieht bei Cicero stellenweise sogar fast danach aus, als wolle er besonders die ästhetische wie die vitale Jugendverliebtheit als beinahe lächerliche, von einem Mangel an Geist zeugende Schwärmerei entlarven. Neutral formuliert vernimmt sich das in seiner Hauptschrift über das Alter, Cato maior de senectute, folgendermaßen: »Große Dinge vollbringt man nicht durch körperliche Kraft, Behendigkeit und Schnelligkeit, sondern durch Planung, Geltung und Entscheidung; daran pflegt man im Alter nicht nur nicht abzunehmen, sondern gar noch zuzunehmen.« 45 Schärfer gefasst, behauptet er wenig später, die Vitalität weiter abwertend: »Die Kräfte eines jungen Menschen vermisse ich nicht einmal jetzt (…), so wenig, wie ich als junger Mensch die Kraft eines Stiers oder Elefanten vermisste.« 46 Eine Lektüre der gesamten Schrift, ergänzt durch die Briefe kommt jedoch zu einem in etlichen Teilen differenzierteren Bild. Zu bemerken ist zunächst, dass das rhetorische Werk von einem Zweckoptimismus geleitet wird, der durch das Vorhalten des Spiegels der negativen Seiten der Realität leicht zu entkräften ist, weil es ihm nicht gelingt, sie mit einzubeziehen und sich als Antwort auf sie zu verstehen. Besonders scharf wurde Cicero 1996 von Norberto Bobbio in seinem programmatisch gegen ihn gerichteten, titelgleichen Traktat De senectute kritisiert. Bobbio sieht bei dem römischen Staatsmann die existentielle Dimension der Altersproblematik gänzlich verschüttet durch das Interesse an der res publica. Er bezeichnet da45 46

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Ebd., S. 37. Ebd., S. 47.

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her die gesamten Ausführungen über die positive Seite des Altwerdens als »stucchevoli«, d. h. als belanglos, langweilig, sogar ärgerlich. 47 Dabei kann man allerdings in den Briefen Ciceros durchaus eine größere Sensibilität des Privatmannes gegenüber der heroischen Haltung des Staatsredners entdecken. In den persönlichen Dokumenten gesteht er durchaus sein Leiden an den negativen Seiten des Altwerdens, besonders am zunehmenden Hang zum Schwarzsehen und zur Depression ein. 48 Aus dieser Differenz zwischen interner Skepsis und externer Zuversicht lässt sich ein Hinweis auf die Haltung der Selbstdisziplin entnehmen, die bereits im vorigen Abschnitt angesprochen wurde. Vielleicht war weniger eine vollkommene existentielle Blindheit, sondern eher eine bewusste Zurückdrängung der düsteren Aspekte das Motiv für das Argumentationsgerüst der im wörtlichen Sinne erbaulichen Schrift. Diese lässt sich in fünf Hauptthemen untergliedern 1. Das Alter als natürlicher Prozess; 2. Das Alter als Vorstufe zum Tod – Überlegungen zu einem Paradoxon; 3. Die Notwendigkeit, das Leben sinnvoll zu planen; 4. Die Jugend als Quelle guten Alterns; 5. Der Trost durch soziale Eingebundenheit. Ihre Analyse lässt Argumente hervortreten, auf die die folgenden Kapitel immer wieder zurückkommen werden. 1.3.1 Das Altern als natürlicher Prozess Auf den ersten Blick könnte es als selbstverständlich erscheinen, dass das Altern als ein natürliches Ereignis im Rahmen einer umfassenden Prozesshaftigkeit des gesamten Phänomens Leben bzw. in einem natürlichen Zyklus von Entstehen und Vergehen verstanden wird. Weil sich das neuzeitliche Denken von dieser Ansicht jedoch weit entfernt hat und teilweise nachgerade vom Gegenteil überzeugt ist, seien eingangs zunächst drei gravierende Einwände genannt, mit denen sich eine Rückbesinnung auf die Antike konfrontiert sieht. Damit, dass der Idealismus die Menschen vor allem als geistbegabte, selbstbewusste Wesen gesehen und die Psychoanalyse die Dimension N. Bobbio, De senectute, S. 24; dt.: Vom Alter, S. 31. Zur Präsentation der einschlägigen Quellen und deren Kommentar vgl.: G. Dönni, Der alte Mensch in der Antike, S. 37 ff.

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des Unbewussten entdeckt hat, ist die Harmonie mit dem Natürlichen zerfallen. Der protestantische Philosoph und Schelling-Nachfolger Christian Hermann Weiße nannte es beispielsweise geradezu eine »Anomalie« 49 , dass die, mit einem zur Freiheit bestimmten und potentiell unsterblichen Geist begabten Menschen sterben müssten, genau wie die Lebewesen, die ohne Bewusstsein von sich selbst existieren. Sigmund Freud diagnostizierte einen aus der Diskrepanz zwischen der Möglichkeit, das Unendliche denken und die eigene Endlichkeit erleben zu müssen erwachsenden heimlichen Glauben an die eigene Unsterblichkeit. 50 Und Ernst Bloch fasste das Absurde an dieser Gespaltenheit in die prägnanten, sarkastischen Worte: »dass der lange planende Mensch abfährt wie Vieh, ist auch gleichsam witzig.« 51 Bei Cicero ist noch nichts zu ahnen von einem solchen Widerstand des selbstbewussten und vereinzelten Individuums gegen das Schicksal des Kreatürlichen bzw. von einer ironischen Entfremdung von ihm. Der von der Natur vorgesehene Entwicklungsprozess wird nicht nur hingenommen, sondern sogar als moralische Stütze betrachtet. Maßgeblich dafür ist die in Griechenland geborene Idee des Kairos, des richtigen Zeitpunktes, der für alles gegeben ist, des Augenblicks, den es jeweils zu ergreifen gilt, das bedeutet, staatsmännisch interpretiert, die Pflicht, die aktuell zu erfüllen ist: »Es gibt einen bestimmten Lauf des Lebens, und zwar einen einfachen. Einem jeden Abschnitt des Lebens ist eine richtige Zeit gegeben, so dass die Schwäche der Kinder, der Ungestüm junger Leute, der Ernst des schon gesetzten Alters und die Reife des Greisenalters etwas ganz Natürliches hat, das man zu seiner Zeit erleben muss.« 52 Das Natürliche als das Gute begreift auch das Sterbenmüssen als notwendiges Ende des individuellen Lebens mit ein – ohne das Alter allerdings ohne weiteres als eine Vorstufe zum Tod zu stigmatisieren. Dem Guten aber ist alles zuzurechnen, was der Natur gemäß ist. Was aber ist so naturgemäß wie das Sterben alter Menschen? (…) Und wie das Obst sich, wenn es unreif ist, kaum von den Bäumen reißen lässt, wenn es gereift und ausgetrocknet ist, jedoch abfällt, so nimmt den jungen Menschen die Gewalt Vgl. Ch. Weiße, Über die philosophische Bedeutung der christlichen Lehre von den letzten Dingen, S. 25 f. 50 S. Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, S. 341. 51 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, S. 1299. 52 Cicero, Cato maior, de senectute, S. 53. 49

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das Leben, den alten aber die Reife. Sie ist mir freilich so angenehm, dass ich, je näher ich dem Tod komme, um so mehr den Eindruck habe, dass ich gleichsam Land sehe und im Begriff bin, nach langer Seefahrt endlich in den Hafen zu gelangen. 53

Hier tauchen zwei Bilder auf, die universal für ein Altern und Sterben in Analogie und Harmonie mit der Natur stehen: das Reifen von Früchten als Metapher für das Physische, die Einfahrt in den Hafen als schon von Epikur gebrauchtes und immer wieder aufgegriffenes Sinnbild für den gelungenen Abschluss eines zielgerichteten, psychisch wie geistig erfüllten Lebens sowie für den sicheren Frieden am Ende einer großen Anstrengung. Wie bereits durch die anfangs eröffnete neuzeitliche Perspektive auf den Harmonizismus Ciceros angedeutet wurde, lässt sich dem Aspekt des natürlichen Trostes in seiner Verteidigungsschrift über das Alter aus heutiger Sicht nur schwer noch etwas abgewinnen. Die erste Metapher ist demnach auch aus den Theorien über ein erfülltes Altern verschwunden. Am deutlichsten hatte bereits Kierkegaard in einer Fußnote im Begriff Angst die Beschönigung, die in dem Bezug des Bildes vom organischen Reifen auf das menschliche Altern oder gar Verwesen steckt, aufgedeckt, indem er auf die sehr naheliegende Tatsache verwies, dass die Menschen, wenn sie als Teil der Natur betrachtet werden, nicht mit Pflanzen, sondern mit Tieren verglichen werden müssen. Das bedeutet, wie er naturalistisch ausführt, dass das Altern und Sterben der Menschen gerade nicht den Wohlgeruch modernder Pflanzen oder reifen Obstes verströmt, sondern eher den Gestank verwesender Kadaver. 54 Was den zweiten Aspekt, die Erfüllung eines Lebenszieles betrifft, so ist die aktuelle Forschung sich uneinig, ob ein kompakter Sinnentwurf als Voraussetzung für ein zufriedenes Altern unentbehrlich ist, oder ob darauf verzichtet werden kann bzw. vielleicht sogar sollte. 55 Kierkegaard selbst, der als Protestant auch den Bilderreichtum der Sprache ablehnte, behielt allerdings einen Aspekt der Seefahrer-Metapher bei, indem er in der Wiederholung von einem, die Antizipation des eigenen Todes einschließenden »Umschiffen« des eigenen Daseins spricht, 56 das der

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Ebd., S. 93 f. S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, IV 362, Fn. Vgl. Kap. 3.3. Vgl. ders., Die Wiederholung, III 174. A

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Einzelne jeweils zu leisten hätte. 57 Dies mag als Hinweis dafür gelten, dass etwas von der Ethik des in irgendeiner Form als Einheit verstandenen und verantwortlich geplanten Lebens erhalten geblieben ist. Was sich am eindeutigsten in die moderne Zeit gerettet hat, ist die Vorstellung, es gäbe eine Zeit des Alterns und eine Zeit des Sterbens, allerdings weniger als natürliche Bestimmung, sondern vielmehr als interne Bedingung individueller Existenz. Einen besonders deutlichen Hinweis darauf, dass die rechte Zeit zum Sterben gekommen sei, sieht Cicero in der Lebenssattheit, die bis zum Lebensüberdruss führt (satietas vitae), die sich einstellt, wenn das Interesse und die Teilnahme an der Welt (studium) verschwindet: »Wie die Neigungen früherer Altersstufen so werden auch die des Greisenalters hinfällig. Wenn das geschieht, dann bringt der Lebensüberdruss die Zeit mit sich, die reif ist für den Tod.« 58 Reif ist die Zeit dann, wenn der positive Aspekt der satietas, nämlich die angenehme Sattheit erreicht ist, bevor sie in den negativen Aspekt, den Überdruss umschlägt. Davon, dass das selbstbewusste wie auch das soziale Leben im eigentlichen Sinne bereits vor dem physischen Tod enden kann, wenn die Fähigkeit zur Teilnahme am Geschehen um einen herum erlischt, gibt es kaum einen Zweifel. Alle Theorien, die unterstellen, erfülltes Altern lasse sich erlernen, gehen von dieser Tatsache aus und versuchen, Wege aufzuzeigen, wie gerade das Interesse an der Welt und an den Anderen bewahrt und sogar immer wieder neu belebt werden kann. 1.3.2 Das Alter als Vorstufe zum Tod – Überlegungen zu einem Paradoxon Jünglinge rafft Gewalt dahin, Greise ihr Alter. Michel de Montaigne 59

Die Aussagen Ciceros zur Frage, ob das Alter als Übergangsphase zum Tod zu verstehen sei, die von Epikur wie auch von allen existenzialistischen Theoretikern der Anwesenheit des Todes mitten im 57 58 59

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Vgl. hierzu: M. Theunissen, Das Erbauliche im Gedanken an den Tod, S. 48 f. Cicero, Cato maior, de senectute, S. 99. M. de Montaigne, Essais (3.13, Über die Erfahrung), S. 557.

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Leben verneint wurde, sind zwiespältig. Einerseits bezeichnet er am Ende von De senectute das Alter als »gleichsam den letzten Akt eines Theaterstückes« 60 und reiht sich damit in die Tradition der Architekten eines Lebensbogens ein, doch es gibt davor auch ein Argument gegen die scheinbare Selbstverständlichkeit dieser Auffassung, das dann allerdings nicht explizit weiter verfolgt wird, sondern in einem Paradoxon wieder auftaucht. Zwar verengt sich mit zunehmendem Alter der Zukunftshorizont immer mehr und der Tod rückt näher, gleichzeitig damit breitet sich die gesamte Lebensspanne jedoch noch immer weiter aus. Das bedeutet, wer alt wird und lange gelebt hat, nähert sich einerseits dem Tod, hat jedoch andererseits real mehr Leben gewonnen als die jüngeren mit einem zwar offenen, aber auch unsicheren Zukunftshorizont. Der unheilbar erkrankte ehemalige französische Präsident François Mitterand soll anlässlich einer Geburtstagsfeier gesagt haben, er habe wieder ein Jahr gewonnen, es dem Tod also erfolgreich abgerungen und sein Leben damit erweitert und bereichert. Daher verwirft Cicero die Klage, das Alter sei eine Vorstufe zum Tod, die einem prospektiven Blick auf die Todesnähe entspringt und plädiert für eine retrospektive Sicht auf die Länge des gelebten Lebens. Wie Epikur schätzt er die Sicherheit des erfüllten Lebens, die das Alter bieten kann und hebt sie vor dem Hintergrund des Lebensrisikos der jungen Menschen ab, das – besonders wenn sie als Krieger dienten – oftmals höher war als das der Greise: »In dieser Altersstufe [der Jugend] gibt es ja sogar noch viel mehr Todesfälle als in der unseren. Junge Leute werden leichter krank, ihre Krankheiten sind schwerer, und sie zu pflegen ist trauriger. Deswegen sind es nur wenige, die bis zum Greisenalter gelangen.« 61 Heute können wir in den modernen Industriestaaten, wie uns die demographischen Statistiken zeigen, zwar so gut wie sicher mit einer hohen Lebenserwartung rechnen, doch das ändert nichts daran, dass sich mit dem Erreichen des Ersehnten, nämlich des hohen Alters, die Zeit nähert, wo das Leben endgültig verloren wird. Das Alter ist dem Tod paradoxerweise fern und nah zugleich, indem viele lebensgefährliche Risiken überwunden wurden, das letzte sich jedoch nicht ausschalten lässt. Dass Cicero die Sicherheit, das Greisenalter und gleichzeitig damit, wie er nirgends bezweifelt, Verstand (mens), Ver-

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Vgl. Cicero, Cato maior, de senectute, S. 109 Ebd., S. 89 ff. A

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nunft (ratio) und Einsicht (consilium) erreicht zu haben 62 , höher einschätzt als die spezifischen Charakteristika jüngerer Jahre, ist insofern irritierend, als er der Jugend lediglich den gleichzeitig abschätzig beurteilten Vorzug höherer Vitalität, nicht aber ihre spezifischen Qualitäten wie Innovationskraft, geistige Beweglichkeit oder Offenheit zugesteht. Er verschüttet damit nicht nur die nachvollziehbare Trauer des Mimnermos über einen verlorenen Teil des Lebens, sondern er zementiert dadurch auch eine Hierarchie der geistigen Potenz, die das Lehren vollständig der Seite des Alters zuordnet, das Lernen hingegen, sofern es nicht Selbsterziehung ist, der Seite der Jugend. Es klingt Trost, zugleich aber auch ein schaler Triumph aus dem Satz, der alte Mensch sei »insofern in einer besseren Lage als ein junger Mensch, als er das schon erreicht hat, was jener nur erhofft. Jener will lange leben, dieser hat schon lange gelebt.« 63 Unmittelbar nach dieser Überlegung schließt Cicero allerdings eine Überlegung an, die heute aktueller denn je ist – die nach dem Wert des langen Lebens als Wert an sich, sofern es sich nicht bzw. nicht mehr deckt mit einer Idee vom erfüllten Leben. 1.3.3 Die Notwendigkeit, das Leben sinnvoll und ethisch zu planen Indem er die Metapher des Lebensschauspiels, mit welcher der Traktat über das Alter schließt, vorher bereits einführt, relativiert Cicero seine hohe Meinung über das Greisenalter, das sich vor allen Dingen an der Quantität der Jahre bemisst, zugunsten einer qualitativen Definition von erfülltem Leben: »Man muss jeweils mit dem zufrieden sein, was einem an Zeit zum Leben vergönnt ist. Ein Schauspieler muss ja auch nicht bis zum Ende des Stückes spielen, um zu gefallen, wenn er nur in jenem Akt, in dem er auftritt, Beifall findet, und Weise müssen auch nicht bis zum »Schlussbeifall« gelangen. Denn für ein sittlich gutes Leben ist eine kurze Lebensdauer lang genug.« 64 In der Tat stellt sich auch heute die Frage, ob die Verlängerung der Lebensspanne in individueller wie in sozial-medizinischer Hinsicht ein Zweck für sich sein kann, oder ob die Qualität der gelebten Jahre nicht viel entscheidender ist als ihre bloße Vervielfältigung. Für 62 63 64

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Vgl. Ebd., S. 90. Ebd., S. 91. Ebd., S. 93.

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Cicero ist es das sittlich gute Leben, das ein Individuum auszeichnet und ihm soziale Achtung und Geltung verschafft, die er höher einschätzt als das lange Leben. Die Tugenden, die er dabei im Sinn hat, nennt er im Laufe seiner Ausführungen immer wieder. Gleich zu Anfang legt er Cato maior gegenüber seinen jüngeren Gesprächspartnern die Worte in den Mund: »Die besten Waffen gegen das Alter, Scipio und Laelius, sind überhaupt die Tugenden und ihre Betätigung. Zu jeder Lebenszeit geübt, bringen sie, wenn man lange gelebt hat, wunderbare Früchte, nicht nur weil sie nicht einmal in der letzten Lebenszeit versagen (…), sondern auch, weil das Bewusstsein eines gut gelebten Lebens und die Erinnerung an viele gute Taten höchst angenehm ist.« 65 Sein Begriff des tugendreichen Lebens ist weniger ein kontemplativer als ein praktisch ethischer – das gute Leben zeigt sich in den guten Taten, im Handeln, das vom Verstand, von der Vernunft und von der Einsicht geleitet wird. Damit diese Tugenden sich entfalten können, ist es nötig, ihre Gegenspielerin, die Wollust (voluptas) zu besiegen. Dass Cicero neben der Anstrengung, die es bedeutet, gegen manche Verlockung bequemer Gedankenlosigkeit vernünftig zu handeln, gelten lässt, dass das Alter von selber vom Laster der Wollust und der Gier befreie, gehört sicherlich zu den am deutlichsten widerlegten Irrtümern seiner Apologie des Alters. Genauso wenig wie Weisheit und Gelassenheit im Alter von selbst auf der Lebensbühne erscheinen, verschwinden die Gespenster der Unbeherrschtheit oder der Gier ohne weiteres Zutun. 66 Doch abgesehen von dieser Überhöhung des faktischen Alters bleiben für eine aktuelle Auseinandersetzung mit dem Thema, wie ein erfülltes Altern gestaltet werden könnte, die Begriffe des Lernens und des sinngebenden Planens von Bedeutung, wie sie parallel zu der Argumentation, es komme mehr noch auf die Tugenden als auf das Alterwerden an, entwickelt werden. 1.3.4 Die Jugend als Quelle guten Alterns Diese Feststellung gilt nach Cicero gleich in doppelter Hinsicht. Ebenso wie Epikur ist er der Meinung, dass die Menschen mit dem 65 66

Ebd., S. 27. Vgl. Ebd., S. 61 ff. u. 69. A

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Reflektieren und Philosophieren nicht früh genug anfangen können, damit sie sich darin üben und lernen, ihre aktuelle Situation zu bestimmen. Doch nicht nur das, sogar den Kräfteverfall im Alter schreibt er eher den Jugendsünden als dem späten Abbau zu, »denn eine ausschweifende und hemmungslose Jugend übergibt dem Alter einen erschöpften Körper.« 67 Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, was er damit meinte. Die virtus romana begann allmählich zu bröckeln, und es begann die Zeit einer genussfixierten (in heutigen Termini könnte man hinzufügen konsumorientierten) Lebenskultur, die während der Blüte des Römischen Reiches ihren Höhepunkt erreichte, sich kurz darauf jedoch wieder abschwächte und den Überlebenstechniken im untergehenden Weltreich Platz machen musste. Das Ideal einer disziplinierten, weitsichtigen Lebensführung war verblasst und die lustbezogene Hingabe an den Augenblick brachte als negative Folge einen Verlust an Zukunftsfähigkeit mit sich. Daher könnte man sagen, dass das Diktum des carpe diem und die Aufforderung, das Glück nicht auf die individuelle Zukunft zu projizieren, sondern in der Gegenwart zu suchen, die Zukunft als den Zeitraum des allgemeinen Weiterlebens nicht vernachlässigen darf. 68 Die Verantwortung für ein gelingendes Altern liegt also bereits in den jüngeren Jahren. 69 Verfolgt man den Argumentationsstrang dieser Hypothese, so zieht sich der Begriff des Lernens, des Philosophierens, technisch könnte man auch sagen, des Gedächtnistrainings leitmotivisch durch De senectute. Das Gedächtnis schwindet nur, »wenn man es nicht übt« 70 , der Geist (mens) und die Denkkraft wie das Gemüt (animus) müssen stets mit neuer Energie versorgt werden 71 , und für den Erhalt der geistigen Beweglichkeit gibt es eine bestimmte Technik. Cicero beschreibt die Methode, welche er selber anwendet, folgendermaßen: »(Ich) vergegenwärtige mir abends, um mein Gedächtnis zu trainieren, nach Art der Pythagoreer, was ich an dem betreffenden Tag jeweils gesagt, gehört und getan habe. Das sind

Ebd., S. 49. Ein dramatisches Bild des Opfers der Zukunft zugunsten gegenwärtigen Lustgewinns geben die jungen Opfer aufputschender Modedrogen, deren längerfristiger Konsum zu irreversiblen Gehirnschäden und vergleichbaren Pathologien wie der Altersdemenz führen kann. 69 Vgl. U. Lehr, Das Alter beginnt in der Jugend. 70 Cicero, Cato maior, de senectute, S. 39. 71 Vgl. ebd., S. 54. 67 68

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Erhabenes Alter in Rom – Die Apologie des Cicero

Übungen des Geistes, Trainingsläufe des Verstandes (…).« 72 Beides zusammengenommen, den Begriff der Tugend und den des Lernens, ergibt ein Bild vom selbstverantwortlichen Altern, das nur durch – auch von Cicero zugestandene – externe Probleme relativiert wird. Da ist vor allem die Armut zu nennen, die selbst einem Weisen das gute Altern sehr erschweren kann, weil die Not ihm keine Freiheit für die Pflege des Ideellen lässt. 73 Ansonsten werden alle Gründe, über negative Erscheinungen des Alters wie Eigensinn, Ängstlichkeit, Jähzorn oder Geiz zu klagen, einem Mangel an Charakter zugeschrieben, der formbar ist und sich damit nicht der individuellen Verantwortung entzieht. 74 1.3.5 Erfüllung durch soziale Eingebundenheit Cicero begnügt sich nicht mit der Befriedigung, die das Erlangen von Reife und Weisheit im Alter individuell verspricht, sondern sieht in ihrer Vermittlung an Andere, an die Jüngeren die eigentliche Aufgabe der späten Jahre. Als Vorbild dient ihm Platon, der, wie der Römer bemerkt, mit 81 Jahren als noch praktizierender dialogischer Lehrer starb. 75 Die positive Rolle der Jungen, deren Gefährdung durch Laster in De senectute immer wieder genannt wird, besteht darin, gute Schüler zu sein, indem sie sich »über die Lehren der Alten, durch die sie angeleitet werden, nach Tugenden zu streben« freuen. 76 Im Unterschied zu der griechischen Tradition der Maieutik (Sokrates) oder der Anamnesis (Platon), die voraussetzten, dass die Aufgabe der Lehrer darin bestünde, dem bereits in den Schülern angelegten Wissen durch kluge Hilfestellung gleichsam auf die Welt zu helfen – eine pädagogische Methode, die der Humanist Montaigne in seinem Essai Über die Knabenerziehung aufgreift – besteht Ciceros Vorstellung vom Lehren in einer eindimensionalen, vertikalen Vermittlung von Werten und Wissen. Das Lernen verkümmert dabei, sofern es nicht das Studium der Weisen ist, zur reinen Rezeption.

72 73 74 75 76

Ebd., S. 57 ff. Vgl. ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 25 u. 87. Vgl. ebd., S. 32. Ebd., S. 45. A

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Die Entfaltung der Spannung zwischen Verfallen und Reifen in der Antike

Das Prinzip des Dialogs wird nur anfangs noch formal beibehalten, mündet dann aber in eine lange Rede ein. Dieses paternalistische Bild eines alten Lehrers, der die jungen Schüler an den Früchten seiner Weisheit teilnehmen lässt, ist – wie bereits zu Anfang bemerkt wurde – aus der heutigen Realität weitgehend verschwunden, teilweise sogar politisch diskreditiert worden. Mit der exponentialen Vervielfältigung des Wissens und der Veränderung sozialer Rollenbilder ist die Figur des alten, autoritären Lehrmeisters wohl unwiderruflich aus der Welt verschwunden. Anders hingegen verhält es sich mit dem Begriff des Ansehens, da dieser nicht auf einem starren sozialen Rollenbild beruht, sondern auf der oben zitierten Vorstellung von der eigenen Biographie als einer formbaren, in Verantwortung vor sich selbst und den Anderen zu gestaltender Aufgabe: »Ansehen kann man sich nicht plötzlich durch graue Haare und durch Runzeln verschaffen, sondern ein schon früher in Ehren geführtes Leben erntet am Ende die Früchte des Ansehens.« 77 Hier zeigt sich, dass die Forderung nach einer verantwortlichen Lebensgestaltung über die Dimension des Privaten hinausgeht. Die soziale Eingebundenheit stellt gewissermaßen einen Hafen dar, in dem das jeweilige Lebensprojekt vertäut werden kann. Ebenso wie die Begriffe der Tugend und des Ruhmes oder gar der Ehre ist auch der des Ansehens ein eher in Vergessenheit geratener. Er hat sich in der Vielfalt der Lebensentwürfe, der Diversifikation und Individualisierung zunehmend aufgelöst. Schon der überzeugte Individualist Montaigne stand ihm skeptisch gegenüber. Er stellte fest, dass der Mensch, »von der maßlosen Sehnsucht besessen, sein Dasein zu verlängern«, versuche, seinen Namen durch Ruhm zu erhalten, so wie er den Körper durch Gräber schützen möchte, 78 doch er bemerkt, dass dieses Unternehmen aufgrund der Vergänglichkeit des Ruhmes zum Scheitern verurteilt ist. Seine Nachfolge hat vor allem der Begriff der Anerkennung angetreten, der den Vorzug einer implizit vorausgesetzten Wechselseitigkeit hat und der das Fundament eines Konzepts der Selbstentfaltung bildet, das nicht in der existentiellen Einsamkeit endet, sondern diese auf den bzw. die Anderen hin transzendiert. Was verloren geht, wenn hingegen auf die für den antiken Denker selbstverständlich kommunikative Idee der Selbstverwirk77 78

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Ebd., S. 85. M. de Montaigne, Essais, 2.12 (Apologie für Raymond Sebond), S. 275

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Seneca – Die Unabhängigkeit des Glücks von der Zeit

lichung verzichtet wird, zeigen später die Analysen der existenzphilosophischen Schriften. 79

1.4 Seneca – Die Unabhängigkeit des Glücks von der Zeit Das Glück bestand darin, dass er existierte. A. Camus 80

Wie Epikur relativiert Seneca das Altern als ein spezifisches Problem am Ende des individuellen Lebens vor dem Hintergrund einer Idee des erfüllten Augenblicks, so dass man eigentlich nicht davon sprechen kann, dass er eine Alterstheorie im engeren Sinne entwickelt hätte. Seine Hauptschrift, in der dieses Thema eine Rolle spielt, trägt somit auch nicht den Begriff des Alterns im Titel, sondern handelt Von der Kürze des Lebens überhaupt, davon, dass die einem zur Verfügung stehende Zeitspanne ohnehin immer eine kurze ist und es sich viel mehr lohnt, sie so gut wie möglich auszuschöpfen, als um ihre Kürze zu trauern. Es geht darum, jeden Augenblick gut zu nutzen, nicht im Sinne einer Hast, die ganz im Gegenteil geradezu die Negation erfüllter Zeit ist, sondern im Sinne einer Befreiung oder zumindest Entlastung von unnötiger Geschäftigkeit durch Muße, Gelassenheit und Gemütsruhe (Atharaxie). 81 »Nur ein kleiner Teil des Lebens ist es, in dem wir leben. Die ganze übrige Spanne ist nicht Leben, sondern Zeit.« 82 In diesem Satz am Beginn der Schrift ist eine Unterscheidung präsent, für die die griechische Philosophie zwei Zeitbegriffe hervorgebracht hatte, den des Aion als der mit Leben und Ereignissen erfüllten Zeit, und den des Chronos, des Ungeheuers, das seine Kinder frisst, als der das einzelne Leben vernichtenden Herrschaft. Die Zeit als lineare Abfolge von mit dem Chronometer messbaren, gleichförmigen Takte ist der Strom, der das Leben der Menschen von ihrer Geburt an zum Tod vorantreibt, ohne dass sie dagegen Widerstand leisten können. Vgl. Zur Kritik der Reduktion der Selbstverwirklichung auf die vereinzelte Individualität in der Moderne: M. Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, S. 6 f. 80 A. Camus, Der glückliche Tod, S. 134. 81 Zu einer Aktualisierung der stoischen Alterstheorie Senecas in der zeitgenössischen Gerontologie vgl. A. Kruse, Selbstverantwortung im Prozess des Sterbens. 82 Seneca, De brevitate vitae, S. 7. 79

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Was sie jedoch können ist, diese Zeit in Lebensabschnitte zu dimensionieren und sie durch die Umsetzung ihrer Vorstellung vom guten, vom aktiven oder kontemplativen Leben zu erfüllen. Die leere Zeit errichtet nämlich, wie Michael Theunissen sagt, »eine entfremdende, keine befreiende Herrschaft über uns.« 83 Wer sie nicht zu Leben macht, indem er sie so weit wie möglich autonom gestaltet, wird seiner selbst entrissen und merkt erst im Angesicht des nahenden Todes, dass er sich zu wenig Zeit genommen hat. Sein Leben ist »schweigend dahingeglitten« 84 zwischen der einen und der anderen fremdbestimmten Tätigkeit, bis das letzte Ereignis eintritt, für dass man sich Zeit nehmen muss bzw. in dem die Zeit sich einen nimmt. Seneca analysiert also bereits ein Problem, das heute angesichts der Globalisierung, der Mobilität und Flexibilität besonders aktuell ist, nämlich das der Zeitautonomie, die immer auch ein Indikator der allgemeinen Selbstbestimmung ist. Sein Argument lautet, das eigene Leben erscheine aus der Perspektive des Alters vor allem deshalb so kurz gewesen zu sein, weil einem während des gesamten Lebens gleichsam ständig Zeit gestohlen werde, so dass man beim Rückblick auf die eigene Biographie den Eindruck habe, betrogen worden zu sein. Seine Vorstellung von der Zeitautonomie entspricht einer ökonomischen Theorie des Wertes von der Zeit im ursprünglichen Sinne des Haushaltens als bestmögliche Verwaltung der zur Verfügung stehenden Ressourcen (o§konomffla), allerdings betont er nicht den Vorteil, Zeit zu verkaufen, sondern den Wert, über sie frei disponieren zu können. Es geht also darum, sich einerseits von dem Reichtum an verfügbarer Lebenszeit so wenig wie möglich stehlen zu lassen, z. B. durch fremdbestimmte Aufgaben, und andererseits das einem verbleibende Zeitkapital optimal zu nutzen, d. h. sein Wissen zu erweitern und über sich selbst nachzudenken. Nicht nur der äußere Feind der Zeitautonomie, die Notwendigkeit fremdbestimmt zu arbeiten, verhindert nämlich das Erleben erfüllter Zeit, sondern dafür ist ebenso der innere Überdruss gegenüber dem Gegenwärtigen (praesentium taedium) verantwortlich, der alle Hoffnung auf Glück auf die Zukunft verweist. Seneca zufolge ist somit jede Projizierung von Wünschen auf das Alter als einer ruhigeren Zukunft bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt, weil sie die mögliche Erfüllung in der Gegenwart zunichte macht und sich so der eigenen Bedingung zum 83 84

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M. Theunissen, Negative Theologie der Zeit, S. 41. S. Kap. 6.1.3 Vgl. Seneca, De brevitate vitae, S. 26

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Gelingen immer schon im Ansatz beraubt. Zufrieden, glücklich können hingegen allein diejenigen sein, die alles »bis zur Sättigung« (ad satietatem) ausgekostet haben. 85 Die Sehnsucht nach der Zukunft ist ebenso wie die Zerstreuung in der Gegenwart die Ursache für das Misslingen einer erfüllten Zeitgestaltung, da »die Erwartung, die vom Morgen abhängig ist […], das Heute zerstört«. 86 Dabei vermeidet Seneca die bereits im Zusammenhang mit Epikur angesprochene unproduktive Konkurrenz zwischen einem generellen Primat der Gegenwart gegenüber dem der Zukunft, da das gegenwartsbewusste Leben der Zukunft gegenüber nicht abgewandt ist, sondern deren solide Basis darstellt. Ein gegenwartsbewusstes Leben kann daher nur den weisen Menschen, den sapientes gelingen, die Seneca den occupati gegenüberstellt, denjenigen also, die ausschließlich in den eingefahrenen Mechanismen des Alltags funktionieren. Da sie keine Zeit für die Reflexion ihres Zustands aufbringen, bleiben sie unreif und werden irgendwann plötzlich und völlig unvorbereitet vom Alter überfallen: »Dass es täglich näher kam, merkten sie nicht.« 87 Indem sie ihr Älterwerden ignorierten, konnten sie keine Strategie positiver Verarbeitung entwickeln und werden von der verdrängten Negativität überfallen. Die Zeitsouveränität der Weisen dagegen, die sich durch eine besondere Präsenz auszeichnen, begreift über die bewusste Aneignung der Gegenwart hinaus auch diejenige der Vergangenheit mit ein. Dabei wird der Fähigkeit, die eigene Vergangenheit zu reflektieren, die Aneignung der Geschichte des Denkens beiseite gestellt: Man darf sich mit Sokrates unterhalten, mit Karneades zweifeln, mit Epikur sich ausruhen, die menschliche Natur mit den Stoikern besiegen, mit den Kynikern sie hinter sich lassen, da es die Natur der Dinge gestattet, in die Gemeinschaft mit jedem Zeitalter teilnehmend einzutreten. 88

Ein solcher Schatz an Wissen wächst mit der Zeit und kann im Alter weiter vergrößert werden. Bringt man dazu die Aristotelische Frage nach dem guten, dem glückenden Leben in Anschlag, wird deutlich, dass sich Glück in der je individuellen Lebenspraxis realisieren lässt, also auch im Alter. Es muss nicht an etwas Außerordentliches geknüpft sein, an die Erfüllung besonderer Bedingungen. Es gleicht 85 86 87 88

Ebd., S. 23. Ebd., S. 27 Ebd., S. 29. Ebd., S. 45. A

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nicht einer positiven Bilanz, die erst an einem fernen Ziel, am Ende einer langen Kette von Entbehrungen und Leistungen gezogen werden kann. Vielmehr kann es sich in jedem Moment, der als wertvoll erfahren wird, beispielsweise im schlichten Frieden mit sich selbst, einstellen. Im Ersten Buch der Nikomachischen Ethik spricht Aristoteles zwar die transzendentale Frage schlechthin an, ob es eines »Gutes an sich« bedürfe 89, einer hinter den einzelnen Gütern stehenden Ursache aller Werte und allen Glücks, doch aus dem weiteren Argumentationsgang wird deutlich, dass diese nicht notwendigerweise beantwortet werden muss, um eine Theorie des Glücks, der Eudämonie zu fundieren. Für eine auf der Idee des tugendreichen, arbeitsamen oder kontemplativen Lebens gründende Vorstellung vom guten Leben reicht es hin, innerhalb der durch das eigene Leben gesetzten Grenzen nach dem Vollkommenen zu streben, nach dem guten Geist (e'daimonffla), der in einem steckt. 90 Bei der Überprüfung, inwieweit eine neostoische Haltung gegenüber der Tatsache der Zeitknappheit, die im Alter besonders augenfällig wird, denkbar ist, muss berücksichtigt werden, dass Seneca als Berater Neros – ebenso wie Aristoteles als Aristokrat – eine herausragende Position in einer nicht egalitären Gesellschaften besetzte. Das erlaubt beiden auf ähnliche Weise, das Leben des Weisen, den bfflo@ qewrhtik@, als die höchste Form gelingenden Lebens zu propagieren. 91 Eine solche »Klassentheorie des Glücks« muss aufgefächert werden in eine egalitärere Vorstellung vom guten Leben bzw. Altern, die der Pluralität der Lebensformen Rechnung trägt – ein Gedanke, der bei Aristoteles durchaus vorhanden war, wenn er jeder Lebensform einen eigenen Dämon zuordnet – und gleichzeitig den Maßstab der Selbstverwirklichung in Harmonie mit und Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit beibehält. Es ist nämlich zu beachten, dass das glückliche, das gelingende Leben in der Antike unablösbar mit der Vorstellung vom guten, das heißt tugendreichen Leben verknüpft war, die weder eine direkte Vorform der GlückseligAristoteles, Nikomachische Ethik, 1095a. Vgl. ebd., 1177b. 91 Vgl. ebd., 1178a: »Was einem Wesen von Natur an eigentümlich ist, ist auch für es das beste und genussreichste. Für den Menschen ist dies das Leben gemäß dem Geiste, da ja dieses am meisten der Mensch ist. Also ist dieses Leben auch das glückseligste.« Seneca, De brevitate vitae, S. 31: »Nur ein Geist, der sorglos und ruhig ist, vermag alle Phasen seines Lebens zu durchlaufen: die Beschäftigten können sich, als wären sie unter ein Joch gebeugt, nicht wenden und zurückblicken.« 89 90

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keit einer religiösen vita contemplativa des Mittelalters war, 92 noch Gemeinsamkeit mit dem überströmenden Gefühl hatte, zu dem die Romantik es später gleichzeitig verklärte und verdunkelte. 93 Die Abhandlung über De vita beata, in der Seneca seine soziale Eingebundenheit und politische Verantwortung betont und meint, er werde so leben, als wüsste er, dass er »für die anderen« geboren sei, 94 endet mit einem Plädoyer für eine moralische Standhaftigkeit als deren Vorbild ihm Sokrates dient, der den Tod der Selbstverleugnung vorzog; »ferendo vos vincam« lässt er diesen ausrufen: »indem ich standhalte werde ich über Euch siegen« 95 . Beim Tod des Sokrates, geschildert in Platons frühem Dialog Phaidon, mit dem Kierkegaard die abendländische Philosophie beginnen lässt, liegen die Tragik und die Möglichkeit, sich vom Negativen nicht überwältigen zu lassen, eng nebeneinander. Der heute noch übliche Gebrauch des Adjektivs »stoisch« geht auf diesen Aspekt der Stoa zurück. Wie sich bereits bei Cicero und der Kritik an ihm gezeigt hat, ist für die Vorstellung eines privilegierten, patriarchalischen Weisen in der Moderne kein Platz mehr, was jedoch nicht bedeutet, dass die Eigenschaften, die ihn auszeichneten, nicht mehr aktuell und nicht verallgemeinerbar seien. Angesichts einer tragischen Situation wurde die Standhaftigkeit angeführt, im Falle des alltäglichen Lebens das Lernen. Der individualistische Moralist und Humanist Montaigne, der das Lächeln Demokrits der Traurigkeit Heraklits vorzog, 96 bezeichnete die Weisheit in seinem pädagogischen Essai als eine der wichtigsten Eigenschaften, die ein guter Lehrer haben und zu der seine Erziehung führen müsse. Als Indikator für sie dient ihm weniger das erworbene Wissen als vielmehr das lebenslange Lernen und die Freude daran, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Das dabei empfundene Glück internalisiert und subjektiviert er zu einem heiteren Gemütszustand, der die Hochschätzung des Humors durch Freud (vgl. 6.1.1) vorwegnimmt: »Das deutlichste Kennzeichen der Weisheit ist ein stetes Vergnügtsein; ihr Zustand gleicht den Dingen Zu den drei Formen glückenden Lebens bei Aristoteles (Ästhetik, Politik, Theorie) und ihre verändernde Rezeption in der Geschichte vgl. Hannah Arendt, Vita activa, bes. S. 22 ff. 93 Zum Begriff des Glücks und seiner Geschichte vgl. die historisch-systematische Darstellung von W. Janke, Das Glück der Sterblichen. 94 Seneca, De vita beata, S. 57. 95 Ebd., S. 82. 96 Vgl. M. de Montaigne, Essais, 1.50. 92

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unterm Monde: heiter immerdar. Es ist das geheimnistuerische Abrakadabra, das ihre Nachbeter so rauch- und rußgeschwärzt dastehn lässt […].« 97 Die Liebe zum Lernen, zum Wissen, mit dem man einen »Bund fürs Leben« schließen müsse, 98 kann nicht der einzige, aber ein universaler Schlüssel für ein Glück sein, dass dem Ablauf der Lebenszeit zu widerstehen vermag.

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Ebd. (1.26 Über die Knabenerziehung), S. 86. Ebd., S. 96.

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2 Die Einheit von zivilisatorischer und individueller Höherentwicklung bei Hegel und Schelling Am Altern wird wie an keinem anderen Phänomen das Vergehen der Zeit sichtbar und existentiell erfahren. Im vorangegangenen Kapitel wurden sowohl das subjektive, individuelle Leiden an der Endlichkeit des Lebens gezeigt, wie es die griechisch-römische Antike thematisiert hatte, als auch die gleichzeitig entstandenen Entwürfe zu einer Überwindung dieser Negativität bis hin zur Erhöhung des Alterns als des Stadiums der Reife und des Zu-sich-selbst-Kommens schlechthin. In diesem Kapitel wird das individuelle Altern nun gleichsam aus einer Fernperspektive heraus betrachtet. Das Einzelschicksal, das Mimnermos mit großer Emphase beklagt hatte, interessiert weder Hegel, der in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte 1 die Lebensalter als Muster für die Darstellung der kulturhistorischen Entwicklungsstufen benutzt, noch Schelling, der in den Weltaltern betont, dass die geschichtliche Zeit des menschlichen Lebens »zu Einer großen Zeit« gehöre, 2 die eine vorweltliche Vergangenheit und eine nachweltliche Zukunft habe. Für beide ist das Individuelle so eng mit dem Allgemeinen verwoben, dass der Versuch, die Gesetze des Allgemeinen, die hinter dem kulturellen Fortschritt stehende Idee, das System der Geschichte und der Welt zu verstehen, allenfalls deduktiv Antworten auf die Fragen nach dem Individuellen verspricht. Da bei Schelling die Theorie der Menschenalter noch mehr als bei Hegel hinter die Philosophie der Weltzeit zurücktritt, kann man behaupten, dass Hegels Stufenmodell des historischen Forstschritts nach dem Modell der biographischen Entwicklung den letzten großen Versuch darstellt, dem Alter als einer eigenen Entwicklungsphase eine herausragende Stellung sowohl in der Geschichte als auch in der Biographie der Einzelnen zu verleihen. Nach ihm spalten sich die historisch-politische Philosophie einerseits und 1 Die Textgrundlagen für die Interpretation Hegels bilden die Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte von 1822/23 und der anthropologische Teil der Enzyklopädie von 1830. 2 F. W. J. Schelling, Die Weltalter (WA) I, 11.

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Zivilisatorische und individuelle Höherentwicklung bei Hegel und Schelling

die Existenzphilosophie, als deren Vordenker der enttäuschte Schelling-Hörer Kierkegaard gelten kann, andererseits. Die in die Weltgeschichte integrierten Alterstheorien sind zwar nur unter dem starken Vorbehalt, dass das Alter allein in einer sehr vermittelten, metaphorischen Form als Reife oder als Herrschaft der Vergangenheit überhaupt auftritt, als solche zu betrachten, doch sie enthalten eine wichtige Anzeige auf zwei Grundideen glückenden Alters: Die Herstellung einer Harmonie mit dem Allgemeinen bei höchster Individualisierung (Hegel) und die Notwendigkeit der Anstrengung, die eigene Zeit zu gestalten (Schelling). In Hegels Entwurf ist noch ein deutliches Bild des Alters als Zeit der distanzierten, klaren, nicht mehr in Tätigkeiten verstrickten Urteilskraft zu erkennen. Obwohl er die beiden Staaten, in deren Lenkung alte Menschen real Macht besaßen, Sparta 3 und Rom 4 mit ihren aristokratischen Regierungen stark kritisierte, traut er dem Alter eine Erhabenheit zu, die – wenn auch von einem ganz anderen Grundgedanken getragen – am ehesten an die Apologie Ciceros anschließt.

2.1 Die historische Entwicklung nach dem Muster der Lebensalter bei Hegel Zwischen dem Phasenmodell der Lebensalter des Menschen und dem der Weltgeschichte gibt es bei Hegel, dies sei vorausgeschickt, kein Abbildungsverhältnis. Weder verläuft die Weltgeschichte nach dem Muster individueller Entwicklung, noch ahmt diese den ebenfalls auf dem Entwicklungsprinzip beruhenden historischen Fortschritt nach. Beide Prozesse folgen vielmehr demselben Gesetz und verkörpern dieselbe Idee, weshalb sie als deren individuelle bzw. allgemeine Realisierung gelten können. Dies erlaubt uns, die Eigenschaften und

In Sparta konnte sich die Demokratie Hegel zufolge nicht richtig entwickeln, weil die Herrschaft aufgrund der »Dumpfheit des Geistes« auf eine Machtelite überging, die keine sittliche Größe hatte. (Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (1996), S. 375) 4 In Rom misslingt die Versöhnung von Individualität und Allgemeinheit unter anderem deshalb, weil sich die Individuen in einen hedonistischen Privatismus zurückziehen, und das Ganze somit unerfüllt bleibt: »eine wesenlose Erscheinung, ein geistloser Leichnam, in dem viel Bewegung ist, aber nur von Würmern.« (Ebd., S. 437) 3

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Die historische Entwicklung nach dem Muster der Lebensalter bei Hegel

Prinzipien, die Hegel jeder dieser Phasen zuordnet, sowohl historisch als auch anthropologisch zu verstehen. 2.1.1 Die Einteilung der Weltgeschichte Bevor er den Gang der Weltgeschichte im Einzelnen darstellt, die Vorherrschaft zunächst der orientalischen, dann der griechischen und römischen bis zur germanischen Welt, nimmt er in der Einteilung der Weltgeschichte zuvor Bezug auf die biographischen Lebensalter des Menschen. Als Maßstab der Fortentwicklung dient ihm in beiden Fällen parallel die Entfaltung und immer stärkere Behauptung der Individualität, die er in fünf Gestalten unterteilt: Kindesalter, Knabenalter, Jünglingsalter, Mannesalter und Greisenalter. Diese verglichen mit der Einteilung der Lebensalter von Solon weniger differenzierten Gestalten charakterisieren ihrerseits wiederum vier Reiche, wobei die ersten beiden zu einem Reich zusammengezogen werden. Die ersten beiden Gestalten, also die frühere und spätere Kindheit, entsprechen dem orientalischen Reich, das frühe Kindesalter Hinterasien, v. a. China, das Knabenalter Mittel- und Vorderasien. Die Eigenschaft des frühen Kindheitsstadiums besteht darin, dass seine Grundlage »Familienverhältnisse« sind, »eine Organisation, gegründet auf väterliche Vorsorge, durch Strafe, Ermahnung, Züchtigung das Ganze erhaltend.« 5 In der Weltgeschichte stellt es sich dar als eine »ungeschichtliche Geschichte« 6 , insofern es noch nicht die Kraft aufbringt, sich von innen heraus bewusst zu verändern. Das spätere Kindheitsstadium, das Knabenalter, ist die zweite Gestalt, »die nichts hervorbringt« 7 , da sie einer rastlosen, aber nicht autonom gesteuerten Veränderung unterliegt. In diesem Stadium tritt jedoch, inmitten einer zunehmenden Konfliktualität der Staaten nach außen, bereits eine Vorahnung des individuellen Prinzips auf. Auseinandersetzung, Kampf und Streit gelten als Zeichen eines allerdings noch nicht zum Bewusstsein gelangenden »Sichzusammenfassens[s] zur Individualität« 8 . 5 6 7 8

Ebd., S. 114. Ebd. Ebd., S. 115. Ebd. A

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Die Dritte Gestalt, das Jünglingsalter, prägt das zweite Reich, das griechische, das »Reich der schönen Freiheit.« Dessen Prinzip ist eine Einheit aus ästhetischer und ethischer Schönheit und Güte, wobei letztere beiden noch nicht in zwei Begriffe auseinanderfallen, sondern vereint sind: das sittlich Gute ist das Schöne, und das wahrhaft Schöne ist seinerseits das Gute. Dieser unmittelbaren Einheit von Schönheit und Idee entspricht die unmittelbare Einheit von Individualität und Allgemeinheit: Die Individualität wird zwar erfahren, aber noch nicht als von der Allgemeinheit abgetrennt oder ihr gar antagonistisch gegenüberstehend. Dennoch handelt es sich um entgegengesetzte und eine unterschwellige innere Spannung erzeugende Prinzipen, was dazu führt, dass die griechische Gestalt des Jünglings als die unruhigste gilt. Zur Festigung könnte ihr allein die Reflexion ihrer Widersprüche verhelfen, zu der sie jedoch noch nicht fähig ist. Erst die vierte Gestalt im dritten Weltreich kann diese Kraft der Reflexion über den inneren Gegensatz von Individualität und Allgemeinheit entwickeln: »Die Griechen schauten ihre Einheit an, die Römer reflektierten sie.« 9 Die römische Welt, die das Mannesalter verkörpert, beruht auf Arbeit und Pflichterfüllung, auf dem Dienst am Staat unter dem Prinzip der für alle geltenden Gesetze. So vollendet sich in Rom »die Aufopferung der Individualität an die Allgemeinheit, worin das Individuum untergeht.« 10 Eine solche, das Opfer der konkreten Individualität fordernde Allgemeinheit nennt Hegel eine abstrakte Allgemeinheit. Diese historisch ausgesprochen erfolgreiche Form gipfelte durch das Aufkommen des Christentums und dessen Integration in den Staat schließlich in einer Versöhnung mit der Subjektivität im »Heiligen Römischen Reich«. Diese fünfte Gestalt des Greisenalters, die sich im vierten, christlichen Reich im Norden realisierte, kennzeichnet der »Kampf der abstrakten Allgemeinheit gegen das Prinzip der besonderen Subjektivität«, der mit dem Sieg der »subjektiven Einzelheit« endet. Da die abstrakte Allgemeinheit nicht dazu in der Lage war, sich selbst mit Individualität zu füllen, war sie dazu verurteilt, in viele rein willkürliche und unverbundene Einzelheiten zu zerfallen. 11 Auf dem Boden dieses Zerfalls, aus der Negativität des Misslingens der UmklamG. W. F. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (1996), S. 116. Ebd. 11 Ebd., S. 116 f. 9

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merung der individuellen Einzelheit und der abstrakten Allgemeinheit unter dem Primat der letzteren, kann sodann sowohl die weltliche als auch die geistige Versöhnung wachsen. Die weltliche Seite der Versöhnung wird durch das Christentum als Staatsreligion verkörpert, die geistige durch den freien Geist, in dem die Individualität zur vollen Reife gelangt. Im Gegensatz zum Greisenalter Ciceros, das als ein ruhiger, von Kontemplation und Weisheit befriedeter Lebensabschnitt beschrieben wurde, beruht dasjenige Hegels zunächst auf der Anstrengung, die Individualität wieder zur Allgemeinheit zu führen, damit es zur Versöhnung von beiden kommen kann. Die Weltgeschichte, die Hegel wegen der sie dominierenden Kriege in dem Manuskript über die Mittel der Verwirklichung [des Geistes in der Geschichte] als »Schlachtbank« bezeichnete, auf der »das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen« geopfert wurden, 12 findet ihren Endzweck in der durch das Christentum verkörperten Versöhnung. Diese wird nicht verstanden als ein »versöhnendes Resultat«, 13 sondern als der Prozess der Versöhnung des Geistigen mit dem Weltlichen, des Allgemeinen mit dem Besonderen. Die Barbarei verschwindet erst dann, wenn beide Mächte, die Weltliche wie die Geistige untergehen und sich in einer höheren Form versöhnen, nämlich in der der Vernünftigkeit oder des Gedankens. 14 2.1.2 Das System der Lebensalter in der Enzyklopädie Ohne die komplizierte logische Struktur hinter der Einteilung der Weltgeschichte im Ganzen vor Augen halten zu müssen, wird aus diesem kurzen Blick auf die fünf Altersstufen deutlich, dass dem Greisenalter die wichtige Rolle der Vollendung zukommt. Der Geist kommt endlich zu sich selbst, der Konflikt mit der Welt wird befriedet, die Kraft des Gedankens kann zum Tragen kommen, das Individuelle vermag sich mit dem Allgemeinen zu versöhnen, ohne sich jedoch in ihm aufzulösen. In der Enzyklopädie tritt die anthropologisch-biographische Seite der Lebensaltertheorie deutlicher hervor als in der Geschichtsvor12 13 14

Ders., Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (1994), S. 80. Ebd. Ders., Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (1996) S. 119. A

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lesung. Die Entwicklungsphasen sind dieselben fünf wie in der Weltgeschichte, werden allerdings in sich feiner differenziert. In diesem Zusammenhang ist v. a. zweierlei besonders interessant: die Verwendung einer eher psychologischen statt historischen Begrifflichkeit und die Zusammenführung von Geburt und Tod als der zwei Grenzphänomene des menschlichen Lebens schlechthin. Das Greisenalter ist nämlich das auf der höheren Ebene der Reflexion wieder erlangte Stadium der Einheit des Gegensatzes von Gattung (Natur) und Vernunft (Geist), von Allgemeinheit (Welt) und Individualität (Subjekt), die in der Kindheit noch unmittelbar gegeben war, im Lauf der Entwicklung jedoch zerbrochen ist: »das Kindesalter ist die Zeit der natürlichen Harmonie, des Friedens des Subjekts mit sich und mit der Welt, – der ebenso gegensatzlose Anfang, wie das Greisenalter das gegensatzlose Ende ist.« 15 Mit dem Tod »schließt sich der Verlauf der Lebensalter des Menschen zu einer durch den Begriff bestimmten Totalität von Veränderungen ab, die durch den Prozess der Gattung mit der Einzelheit hervorgebracht werden.« 16 Aus der Einheit von Gattung (Lebendigem) und Vernünftigem (Geistigem) und ihrer Wandlung entspringen die Entwicklung und die psychischen Veränderungen. 17 Zur Veranschaulichung der Lebensphasen sollen die folgenden beiden Tabellen der sie am deutlichsten charakterisierenden Begriffe dienen. Die erste bezieht sich auf die Lebensphasen im Allgemeinen und die jeweiligen Veränderungen des Individuums in Bezug auf sein Verhältnis zur Welt, die zweite berücksichtigt die Details der biographischen Entwicklung im Einzelnen. 18

15 Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 396 (Natürliche Veränderungen), S. 77. 16 Ebd., S. 86. 17 Ebd., S. 76. 18 Die entsprechenden Seitenzahlen aus der Enzyklopädie werden in der Tabelle jeweils direkt in Klammern angefügt.

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Die historische Entwicklung nach dem Muster der Lebensalter bei Hegel

I Allgemeine Bestimmung Lebensalter Veränderungen im Verhältnis Individuum/Allgemeinheit, Welt, Gattung Kindheit

natürliche Harmonie, Friede des Subjekts mit sich und mit der Welt; vorbewusste Einheit mit dem Ganzen

Jugend

Betrachtung der Individualität als des Substantiellen und der Welt als des Akzidentellen; Gegensatz zur vorhandenen Welt

Erwachsenen- Umkehr: Betrachtung der Welt als des Substantiellen und der alter Individualität als des Akzidentellen. Erkenntnis der sittlichen Weltordnung; Einsicht in die objektive Geistigkeit Greisenalter

Rückkehr des Individuums zur »Einheit mit der Sache«, mit der Welt (78); Freiheit von bestimmtem Interesse (86)

II Nähere Bestimmung Lebensalter Kindheit

Abschnitt

einzelne Entwicklungsstufen vom vorbewussten Zustand zur Weisheit

Fötus

vegetativer Zustand, noch keine ausgebildete Individualität animalischer Zustand, Erwachen des Selbstgefühls; Zustand der Absonderung Der Widerspruch zur Welt wird dadurch erlebt, »dass die Außendinge Widerstand leisten« (80); Spracherwerb; Fähigkeit, den Gegensatz zwischen dem Ich und der Welt zu erkennen bewusstes Lernen unter fremder Autorität; Übergang in die bürgerliche Gesellschaft durch die Schule

Neugeborenes Kleinkind

Kind Jugend

Ideale, Tatkraft, Wille die Welt umzugestalten; Beschäftigung mit dem Allgemeinen und sich selbst

Erwachsenenalter

Beschäftigung mit dem Einzelnen, verantwortliches Handeln; Einsicht in die Tatsache, dass die Welt die »Verwirklichung der göttlichen Vernunft« ist (83); Erhaltung und gleichzeitige Weiterführung der Welt in Bezug auf Rechtlichkeit, Sittlichkeit und Religiosität; die Trauer über den Verlust der Jugendideale wird durch die Einsicht in die »Vernünftigkeit der Welt« aufgehoben (85)

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Rückblick auf die Vergangenheit, Erkennen des geleisteten Fortschritts; Interesselosigkeit im Sinne einer verobjektivierenden Distanz zur Welt; es zählt nur noch das Allgemeine; Leben in der Erinnerung an das Vergangene und an das Substantielle; Verschwinden des Interesses am Einzelnen und am Gegenwärtigen; Erlangen der Weisheit als »leblose[s] vollkommene[s] Zusammengegangensein der subjektiven Tätigkeit mit ihrer Welt« (86)

Beim Vergleich mit den antiken Entwürfen fällt zunächst auf, dass die Kindheit viel differenzierter dargestellt wird. Das ist zum einen ein Novum der Aufklärung – Rousseaus Beschäftigung mit dem Thema des Kindes als Maßstab des sittlich Guten war ein Entwurf, mit dem Hegel sich auseinandersetzte, auch wenn er dieser These kritisch gegenüberstand – und zum andern ein Ausdruck der Idee von der Einheit des Lebens, das am Ende den vollen Begriff des am Anfang bereits Angelegten einholt. In unserem Zusammenhang ist dies insofern von Bedeutung, als – wie im folgenden Abschnitt erläutert werden soll – die Idee der systematischen Ganzheit sowohl des Lebens des Einzelnen wie des Gangs der Weltgeschichte ganz entscheidend ist für die herausragende Stellung des Alters bei Hegel. Wenn im Folgenden versucht wird, anhand einer eingehenderen Vertiefung der bisher nur stichwortartig aufgelisteten Eigenschaften, ein plastischeres Bild von dem Ideal des alten Menschen bei Hegel zu entwerfen, kann als Leitgedanke ein Satz seines Jugendfreundes Hölderlin aus dem Hyperion vorangestellt werden: »Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.« 19 Zwar bedeutet Versöhnung bei Hegel weniger den Einfall des Friedens in eine gequälte Seele gerade dann, wenn die Verzweiflung am tiefsten ist, sondern ist eher das Ergebnis der Arbeit an der Überwindung des Gegensatzes von Individualität und Allgemeinheit, aber auch bei ihm geht dem Frieden, wie bereits erwähnt, eine Phase höchster Auseinandersetzung voraus. Nachdem das Kind noch über eine vorbewusste Intuition der Einheit des Ganzen verfügte, bricht diese Einheit beim Erwachsenwerden in einen Widerspruch zwischen dem konkreten Individuellen und dem abstrakten Allgemeinen auseinander, der allein durch eine höhere Einsichtsfähigkeit wieder aufgelöst 19

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F. Hölderlin, Hyperion, in: Ausgewählte Werke, S. 654.

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werden kann. Dem Erwachsenen dämmert zwar bereits die Erkenntnis, dass Widerstand gegen den Lauf der Welt keinen Sinn hat, weil dieser einer vernünftigen Gesetzmäßigkeit folgt, doch er ist noch zu sehr in die Beschäftigung mit dem Einzelnen verstrickt, um diese ganz erkennen zu können. Erst der Greis, der kein bestimmtes Interesse mehr hat, kann sich vom Einzelnen so weit distanzieren, dass er das Ganze in den Blick bekommt. Dabei hilft ihm eine natürliche Milderung der die klare Einsicht in früheren Jahren verschleiernden Leidenschaften. In der Geschichtsvorlesung meint Hegel hierzu: »Das Alter im Allgemeinen macht milder, die Jugend ist immer unzufrieden; das macht im Alter die Reife des Urteils, das nicht nur aus Interesselosigkeit auch das Schlechte sich gefallen lässt, sondern, durch den Ernst des Lebens tiefer belehrt, auf das Substantielle, Gediegene der Sache ist geführt worden.« 20 Diese Stelle enthält auch seinen einzigen Hinweis auf die negative Verfallsseite des Alterns, das Schlechte nämlich, das alte Menschen sich ohne Protest gefallen lassen, weil sie nicht mehr am Bestimmten, an Kraft oder Jugend hängen und ganz im Betrachten des Allgemeinen aufgehen. Das natürliche »Sichabstumpfen der Tätigkeit [ihres] physischen Organismus« 21 dient ihnen geradewegs dazu, sich aus dem Verlorensein an die einzelnen Objekte der Welt herauszulösen, so dass ihre jeweilige Subjektivität zu sich selbst kommen und wieder eins mit dem Allgemeinen werden kann. Da sie ferner nicht nur an der Gegenwart kein Interesse mehr haben, sondern auch nicht an der Zukunft, die ihnen »überhaupt nichts Neues zu versprechen scheint«, wenden sie sich ausschließlich der Vergangenheit und dem Gedanken der Versöhnung der eigenen Tätigkeit mit dem allgemeinen Schicksal der Welt zu. Diesen Frieden mit der eigenen Rolle in der Welt bringt Hegel auf den von Bobbio später verworfenen Begriff der Weisheit. Die zu ihr gelangten Greise vollziehen in ihrer zur Ruhe kommenden Position eine doppelte Bewegung: sie erreichen auf der höheren Ebene des Bewusstseins wieder die den Kindern natürliche, aber noch nicht bewusste Einheit ihrer Individualität mit dem Ganzen, und werden dabei gleichzeitig auf den Tod als der »abstrakten Negation der lebendigen Einzelheit« 22 zugetrieben. In zeitlichen Kategorien ausgedrückt beschreibt die erste Bewe20 21 22

G. W. F. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (1994) S. 53. Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, S. 86. Ebd. A

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gung einen durch die Tätigkeit des Subjekts gestalteten kreisförmigen Zeitraum, in dem es seine eigene Biographie dadurch zum Abschluss bringt, dass es seinen individuellen vorbewussten Anfang bewusst wieder einholt. Durch die Kraft seiner durchlebten und erarbeiteten Biographie vermag es den ihm beschiedenen Zeitabschnitt zu einer sinnvollen Einheit zusammenzuschließen. Zugleich damit fordert jedoch die Zeit der Welt, die Herrschaft des Chronos, ihren Preis, so dass das Erreichen der Einheit mit dem Tod des besonderen Subjekts zusammenfällt. Die für das existentielle Denken der späteren Moderne typische Zerrissenheit zwischen der Macht, die eigene Individualität behaupten zu können, und der Ohnmacht, das potentiell in die Ewigkeit zu verlängernde Projekt der Selbstverwirklichung durch den Tod gewaltsam beendet zu sehen, bricht bei Hegel ebenso wenig auf wie das bei Mimnermos zentrale Leiden an der eigenen Endlichkeit, weil die singuläre Ganzheit des einzelnen Lebens in die universale Ganzheit der vernünftigen Welt sinnvoll eingebunden ist: »So schließt sich der Verlauf der Lebensalter des Menschen zu einer durch den Begriff bestimmten Totalität von Veränderungen ab, die durch den Prozess der Gattung mit der Einzelheit hervorgebracht werden.« 23 In dieser Einbettung des eigenen, begrenzten Lebens in einen vernünftigen Gesetzen folgenden Entwicklungsprozess der gesamten Menschheit liegt zugleich die Stärke und die Schwäche von Hegels Alterstheorie, wobei die Schwäche weniger von der Theorie als von der Praxis, dem realen Gang der Weltgeschichte zu verantworten ist. Wenn die Philosophie, wie Hegel in der Vorrede zur Rechtsphilosophie meint, »ihre Zeit in Gedanken erfasst« ist, und wenn sie nie über ihre gegenwärtige Welt hinausgehen kann, 24 so konnte er mit guten Gründen davon ausgehen, dass sich in der Welt, die er kannte, die Prinzipien der Vernunft, des Rechts und der Sittlichkeit dauerhaft hätten durchsetzen können. Heute muss die unumstößliche Wahrheit anerkannt werden, dass die gigantische Barbarei des letzten Jahrhunderts, die unter den Namen Holocaust oder Shoah zusammengefasst wird, und die vielen anderen, die Befähigung des Menschen zu vernünftigem und humanem Handeln in Frage stellenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit den idealistischen Optimismus, die »Schlachtbank« könne ein 23 24

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Ebd. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), S. 26.

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Durchgangsstadium zu einem vernünftigen Ziel sein, definitiv widerlegt haben. Niemand kann mehr rational begründet und ethisch verantwortet die These vertreten, die Weltgeschichte sei eine nur mit einigen Mängeln behaftete Fortschrittsgeschichte und es gäbe irgendeinen tröstlichen Sinn hinter dem Leid. Aus der aktuellen Perspektive heraus ist oftmals eher Adornos dunkle Gegenthese von der Geschichte als einer Aneinanderreihung von Grausamkeiten nachvollziehbar, die besagt, dass die Universalgeschichte nicht vom Naturzustand zur Humanität führe, sondern »von der Steinschleuder zur Megabombe.« 25 Dass Hegels Idee vom Alter als Stadium der Reife und der Versöhnung vom Gang der Geschichte nicht bestätigt wurde, bedeutet, dass der vor dem Hintergrund der Poesie des Mimnermos deutlich hervortretende Mangel an existentieller Tiefe nicht mehr durch einen Verweis auf eine umfassendere Sinnstruktur ausgeglichen werden kann. Was bleibt, ist zum einen die Frage, ob das Leben des Individuums als eine bewusst und vernünftig gestaltete Ganzheit anzusehen und selbstverantwortlich zu planen ist, und zum andern, was von dem Gedanken des Fortschritts und der Entwicklung in eine aktuelle Theorie erfüllten Alterns integriert werden kann. 2.1.3 Die Ideen des Fortschritts und der Entwicklung des Ganzen als Voraussetzung für Hegels Begriff des erfüllten Alters Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der Dämmerung ihren Flug. Vorrede zur Rechtsphilosophie 26

Anhand der Geschichtsphilosophie haben wir gesehen, wie Hegel den Gang der Geschichte ebenso wie die individuelle Entwicklung des einzelnen Subjekts als eine Fortentwicklung hin zu den Prinzipien der Individualität und der Vernunft beschreibt. In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes hatte er denselben Grundgedanken folgendermaßen formuliert: »Wenn der Embryo wohl an sich Mensch ist, so ist er es aber nicht für sich; für sich ist er es nur als gebildete 25 26

Th. W. Adorno, Negative Dialektik, S. 314. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821),.28. A

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Vernunft, die sich zu dem gemacht hat, was sie an sich ist.« 27 Das heißt, im Verlauf des individuellen Lebens wie auch der Geschichte, ganz besonders aber am Ende eines Entwicklungsprozesses muss sich zeigen, ob es gelungen ist, den vollen Begriff des am Anfang nur potentiell Möglichen einzuholen. In diesem Zusammenhang findet sich auch Hegels – später von Adorno als Grundbegriff des Totalitarismus verworfener und in sein Gegenteil verkehrter 28 – Satz vom Ganzen als dem Wahren: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.« 29 Blenden wir nun das im vorigen Abschnitt angesprochene Problem der Geschichtsphilosophie als einer Theorie realen universalen Fortschritts aus, bleibt die Frage bestehen, inwieweit der Gedanke einer Entwicklung oder der Eingebundenheit in eine größere Einheit als die der jeweiligen Existenz für eine Theorie gelingenden Alterns fruchtbar bleiben kann. Halten wir außerdem fest, dass die Utopie des Fortschritts bei Hegel wie bei allen Idealisten keine banale Propaganda für den Primat des Allgemeinen, sondern ein erst noch einzuholendes Desiderat mit der eindeutigen moralischen Implikation, das Individuelle mit dem Allgemeinen zu versöhnen, darstellt, eröffnet sich eine Möglichkeit, sich am Ende des Lebens mit den vorangegangenen Etappen zu versöhnen, die vielleicht sogar von den Skeptikern des Fortschritts geteilt werden kann. Voraussetzung für die Versöhnung ist bei Hegel der Durchgang durch die Negativität. Der Geist muss »die ungeheure Macht des Negativen«, den Tod des Akzidentellen aushalten und darf sie nicht verdrängen, wenn er zu sich selbst kommen will, heißt es in der Vorrede weiter, denn er kann seine Macht nur entfalten, »indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.« 30 Diese an den Mythos des sich aus der Asche erhebenden Phönix erinnernde Umkehr, dass der Konfrontation mit dem absolut Negativen das Leben des Geistes entspringt, unterscheidet Hegels Kritik am Gegenwärtigen von derjenigen Rousseaus. Diesem wirft er vor, das Bessere in der Vergangenheit zu suchen und hält ihm entgegen: »das Bessere liegt vorwärts.« 31 Da es, wie eingangs bemerkt wurde, zwar kein abbilden27 28 29 30 31

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Ders., Phänomenologie des Geistes (1807), S. 25. Th. W. Adorno, Minima Moralia, S. 57: »Das Ganze ist das Unwahre.« G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), S. 24. Ebd., S. 36 Ders., Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte (1996) S. 376.

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des Verhältnis zwischen Weltgeschichte und Biographie gibt, beide aber aus derselben Idee abgeleitet werden, lassen sich bei Rousseau und Hegel zwei exemplarische Alterstheorien ausmachen, die einer unterschiedlichen Geschichtsinterpretation entsprechen. Weil für Hegel die Geschichte eine durch das Tal des Negativen hindurch die Höhe der Versöhnung erklimmende Weiterentwicklung verspricht, kann er dem Alter den erhabenen Platz der Einsicht und Weisheit zusprechen. Rousseau hingegen, für den die Geschichte primär Verfallsgeschichte war, 32 sieht auch im Alter nur den Niedergang. In seinem ironisch-polemischen Brief an Herrn Philopolis, der die Antwort auf eine Kritik des sich hinter diesem Pseudonym verbergenden Genfer Naturwissenschaftlers Charles Bonnet am Diskurs über die Ungleichheit ist, zieht er gerade das Beispiel des Alterns heran, um das Argument, alle Entwicklung folge einer höheren, göttlichen Vernunft zu widerlegen. Er verspottet darin die Neigung der Philosophen, das Alter zu überhöhen, und widerspricht durch die Figur einer rhetorischen Zwiesprache den üblichen Vorzügen des Altwerdens. Die Weisheit entlarvt er als bloßes und blasses Konstrukt einer kraftlosen aber mächtigen Gruppe von Sophisten. Sie diene allein dem Versuch einer unmöglichen Kompensation des Verlustes von Vorzügen der Jugend und täusche darüber hinweg, dass der alte Mensch gegenüber dem Jungen ausschließlich Nachteile habe. Die eigentliche Realität der Greise bestehe dagegen nicht im Leben des Geistes, sondern im Verfall des Körpers. Obwohl sie »abgelebt, matt, von schlechten Säften verdorben« 33 seien, nutzten sie gerade diesen VerDas geschichtsphilosophische Modell Rousseaus entspricht einer Triade: Deren erste Stufe ist der vorgeschichtliche Naturzustand, in dem die Menschen vereinzelt und besitzlos in Frieden mit sich selbst nebeneinanderher lebten, wobei sie dem Prinzip der die anderen nicht herabsetzenden Selbstbehauptung (amour de soi) folgten. Die zweite Stufe, die der Geschichte, ist ein Stadium misslungener Zivilisation, die auf Krieg, Unterdrückung und Verteilungskämpfen aufgebaut ist und auf dem Prinzip der Selbstsucht (amour propre) beruht Diese Verfallsgeschichte kann nur durch den dritten Schritt zur Verwirklichung der volonté générale im Gesellschaftsvertrag aufgehoben werden. Während beim späten Hegel das Verhältnis zu den antiken Zivilisationen, zur Kindheit und Jugend der Menschheit voll Bewunderung aber ohne Sehnsucht ist, weil er das Erwachsen- und Altwerden als eine notwendige Entwicklung und Verbesserung betrachtet, ist bei Rousseau zunächst die gesamte Zivilisation ein Irrtum, den es unter Rückbesinnung auf den Naturzustand zu überwinden gilt (Diskurse). Zum Vergleich der geschichtsphilosophischen Modelle Hegels und Rousseaus und ihren Quellen vgl. S. Dellavalle, Freiheit und Intersubjektivität, S. 70 ff. 33 J.-J. Rousseau, Brief an Philopolis, S. 271. 32

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fall, um ihn – ideologisch in eine angebliche Befreiung des Geistes von den Versuchungen verkehrt – in eine patriarchalische Herrschaft über die Leidenschaften der Jugend zu verwandeln. Hegel, Seneca und alle Theoretiker der Weisheit könnten darauf antworten, wovon Rousseau spreche, sei nicht die edle Gestalt der Weisheit als Kontemplation, sondern banale Besserwisserei, und da er uns eine seinem Pessimismus standhaltende Theorie gelingenden Alterns schuldig bleiben musste, weil eine solche Abwertung des Alters nur zu einsamem Verstummen führen konnte, können wir bei ihm lediglich eine Antithese, jedoch keine Alternative zu Hegels durch die Negativität hindurchgegangenen Optimismus finden. Am Gegensatz der beiden Entwürfe wird jedoch deutlich, dass sowohl die düstere als auch die freundlichere Sicht auf das Alter nicht vom Verständnis der größeren Ordnung abzutrennen ist. Die Bewertung der geschichtlichen Entwicklung wie auch die Vorstellung von der Eingebundenheit der Individualität in die Allgemeinheit spielen für die jeweiligen Alterstheorien vielmehr eine entscheidende Rolle. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, weshalb Hegel das Leiden am Untergang des Einzelnen nicht thematisiert. Das Einzelne muss notwendigerweise untergehen, damit das Ganze sich entwickeln kann, denn: »Das höhere Prinzip erscheint für die Welt – gegen das Frühere, Niedere – immer in der Gestalt des Verderbens.« 34 Dieser im Zusammenhang des Untergangs des Griechischen Reiches stehende Satz kann insofern prinzipiell tröstlich in Bezug auf den eigenen Untergang sein, da am Ende des Vergänglichen das Vernünftige, das höhere Prinzip, das Absolute steht. Um die Einbettung des individuellen Lebens in die Entwicklung der Weltgeschichte bei Hegel zu verdeutlichen, kann man sich ein Modell vorstellen, das die zeitliche Entfaltung beider Prozesse darstellt. Auf einer ansteigenden Linie, welche die chronologische Zeit abbildet und dabei als selbstverständlich voraussetzt, dass das Spätere das Höhere, Reifere ist, reihen sich die großen Segmente der historischen Epochen aneinander, die man sich jeweils parabolisch vorstellen kann: Aufstieg, Höhepunkt, Niedergang; obgleich also das einzelne Segment endet, wird das Ganze vorangetragen, d. h. es folgt ein neues Segment, das dem Ziel ein Stück näher kommt. Auf derselben Linie liegen auch die vergleichsweise sehr kurzen Lebenszeiten der Individuen. Was das Ganze des Prozesses betrifft, können die Einzel34

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nen dabei hoffnungsvoll nach vorne schauen, auf die Vollendung des Ganges der Weltgeschichte mit der Aufhebung der Gegensätze im Absoluten. Was die Ganzheit ihrer eigenen Biographie angeht, drehen sie sich im Alter um und blicken zurück auf den geleisteten Fortschritt. Indem sie ihre Rolle für die Entwicklung des Ganzen sehen, vereinen die Subjekte sich so mit der Welt und erleben die Versöhnung des die mittlere Lebensphase noch prägenden Gegensatzes zwischen den eigenen Wünschen und dem Gang der Welt. War bei Epikur und Seneca das Verweilen in der Gegenwart, das carpe diem der Schlüssel zum Glück, so eröffnet bei Hegel der Überblick über die Vergangenheit den Zugang zur Weisheit, und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verspricht, alles Leid aufzuheben. Was die Bedeutung des Zurückschauens auf die Vergangenheit betrifft, lässt sich sogar eine Parallele zu Hegels Kritikern Benjamin und Adorno ausmachen. Sie verwerfen zwar die Hegelsche Idee des geschichtlichen Fortschritts, und bei Benjamin ist die Zeit keine Zeit der Entwicklung mehr, sondern der erbarmungslose Sturm, der den machtlosen Engel der Geschichte mit dem Gesicht nach rückwärts gewandt mit sich fortreißt, so dass dieser – wie der Greis bei Hegel – in die Vergangenheit blickt, im Unterschied zu diesem jedoch nur weil er nicht anders kann. In seiner erzwungenen Rückschau vermag er allein die Trümmer der Geschichte auszumachen. 35 Dennoch ist auch bei ihm die Vergangenheit die Zeitdimension der Erkenntnis. Dass auch das Glück nur nachträglich festzustellen und gegenwärtig nie authentisch zu erleben sei, wird ebenso von Adorno beschrieben: »Wer sagt, er sei glücklich, lügt, indem er es beschwört, und sündigt so an dem Glück. Treue hält ihm bloß, der spricht: ich war glücklich.« 36 Das Versprechen auf die Zukunft ist für Adornos negativistisches Verständnis der kritischen Theorie allerdings durch das geschichtliche Scheitern der Idee der Vernunft und der Humanität endgültig gebrochen worden. Es kann nur noch unberechenbar und fragmental in der Gegenwart der »Jetztzeit« durchscheinen, in die »Splitter der messianischen eingesprengt sind.« 37 Daher hat die Zukunft ihre Funktion des allgemeinen Trosts durch eine vernünftige Sinnganzheit verloren. In seinem Exkurs zu Hegel meint Adorno daher, was eigentlich Zwang sei, nämlich die Herrschaft des All35 36 37

Vgl. W. Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, in: Zur Kritik der Gewalt. Th. W. Adorno, Minima Moralia, S. 143 f. (Kursiv E. B.) W. Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen A, S. 94. A

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gemeinen über das Besondere, würde bei Hegel zu Sinn verkehrt 38 und damit in seiner entfremdenden Macht verkannt, gegen die anzukämpfen die vornehmlichste Aufgabe der Gegenwart sei. Gerade von den Aufgaben der Gegenwart darf und soll sich der Greis bei Hegel zurückziehen, und das ist der Teil seines Entwurfs, der am wenigsten für eine aktuelle Theorie glückenden Alterns fruchtbar gemacht werden kann. Der Verlust des Interesses am Einzelnen und Gegenwärtigen könnte in einer sich, was die Altersstruktur betrifft, revolutionierenden Welt 39 als eine gefährliche Verarmung erweisen. Wenn die Gewissheit, dass die Zukunft eine bessere sein wird, für endgültig verloren gegeben muss, und wenn die Zukunft dem alten Individuum, wie Hegel sagt, nichts mehr verspricht, kann der Rückbezug auf die Vergangenheit die Gefahr zunehmender Gegenwarts- und Zukunftsvergessenheit bedeuten. Auf der Seite des Engagements des Individuums für die Allgemeinheit droht ein egozentrisches Verweilen in der Anschauung der Vergangenheit, in der privatistischen Erinnerung, und auf der Seite der Heuristik der Mangel an Kategorien, die versuchen, projektiv in die Zukunft auszugreifen, anstatt beim Erkennen des Vergangenen zu verharren. Die nach dem Zerfall der großen Zukunftsutopien nur umso dringender gewordene Frage der Verantwortung für kommende Zeiten, für die Zukunft des Lebens auf der Erde, wurde von Derrida sehr eindrücklich als Verantwortung vor den noch nicht geborenen »zukünftigen Geschwistern« bezeichnet, 40 denen die alten Menschen heute nicht mehr in der ruhigen Gewissheit des gleichsam automatischen Fortschritts den Rücken zuwenden dürfen. Angesichts der in Zukunft zu erwartenden Probleme der Allgemeinheit ist eine ruhige Kontemplation der Vergangenheit, die angesichts der Defizite des Geleisteten Gefahr läuft, in Selbstgefälligkeit abzugleiten, nicht mehr zu verantworten.

Vgl. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, S. 310. Als Beispiel aus der Fülle der Studien zum Thema des demographischen Wandels sei hier auf P. Wallace, Agequake verwiesen, in dem die aufgelisteten Daten deutlich vor Augen führen, dass in Zukunft eine neue Rollenbestimmung des Alters unabdingbar ist. 40 Vgl. J. Derrida, Politik der Freundschaft, 10. Kap. 38 39

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Das Verhältnis von menschlichem und kosmischem Altern in Schellings Weltaltern

2.2 Das Verhältnis von menschlichem und kosmischem Altern in Schellings Weltaltern Schelling betrachtet die Weltgeschichte nicht unter dem Aspekt der kulturellen und politischen Geschichte, von Entstehung, Blüte und Niedergang von Weltreichen, sondern er greift weiter zurück auf poetische, mythologische und religiöse Überlieferungen. Seine Quellen sind nicht die Darstellungen und Dokumente der res gestae oder erhalten gebliebene Werke der Kulturgeschichte, sondern eher Dichtung und die biblischen Schriften zur Offenbarung. Sein Interesse gilt der Vollendung einer christlich-philosophischen Seinsgeschichte, an der sich später das Denken Heideggers inspirieren konnte; seine Vorgehensweise besteht nicht im Versuch, die Tatsachen der Vergangenheit zu analysieren, begrifflich zu ordnen und zu verstehen, sondern er beschäftigt sich fundamental mit dem Thema der Zeit selbst, die erst durch das Eingreifen des menschlichen Geistes in die drei Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingeteilt werden kann. Es geht ihm darum, hinter das Sein zurückzudenken und zu fragen, was vor ihm war, um es selbst besser begreifen zu können. 41 Die Geschichte wird dabei nie wirklich zum Thema seiner Philosophie. 42 Dass er nicht eine ebenso ausführliche Geschichts- wie Naturphilosophie entwickelt hat, 43 ist daher nicht verwunderlich, denn es liegt in der Sache selbst. Ihm geht es um das Elementare, das Ursprüngliche, das Sein, was seine Philosophie – wie später die von Heidegger – im Übrigen dafür prädestiniert, als nicht abendländisch »eingeschränkt« in Ostasien rezipiert zu werden. Dies hat auch zur Folge, dass Schelling den Begriff der Rationalität modifiziert, indem er die Vernunft für untauglich hält, die Dimension des Seins erschließen zu können, welches sich als unendliche Potenz ihrem Zugriff entzieht. 44 Für Hegel bedeutet die Entwicklung der Geschichte die Verwirklichung einer göttlichen Vernunft – deren Plan er versucht, hinter dem Trümmerhaufen der Realgeschichte zu entziffern – durch menschliche Freiheit. Schelling gibt das Unternehmen, die Gesetze Vgl. hierzu H. J. Sandkühler (Hrsg.), Weltalter. Schelling im Kontext der Geschichtsphilosophie. 42 Vgl. D. Jähnig, Philosophie und Weltgeschichte bei Schelling. 43 Hierauf weist L. Kantz hin, vgl. Schellings Welt der Geschichte, S. 46. 44 Vgl. M. Theunissen, Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, S. 9 f. 41

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der Seinsgeschichte in ihrer ganzen Breite rational erkennen zu können auf und versucht, in der Tiefe ihres Beginns hinter ihren Ursprung zurückzukommen. So entfaltet er kein System der Geschichte, sondern reflektiert über die Geschichtlichkeit und die historische Bedingtheit der Geschichte selbst. Dabei setzt seine »letzte Philosophie« methodisch »jener Bestätigung der göttlichen Vernunft, die sie sein soll, d. h. der menschlichen Geschichte, die Selbstverleugnung der menschlichen Vernunft entgegen, die sich der göttlichen unterwirft.« 45 Habermas bezeichnet es geradezu als die »Pointe« des Übergangs von der negativen zur positiven Philosophie, »dass der Mensch die Selbstherrlichkeit seines Verstandes bricht und im existentiellen Akt der Unterwerfung Gott als den allein Waltenden anerkennt.« 46 Schon im System des transzendentalen Idealismus von 1800 definiert Schelling die Geschichte als eine »unendliche Progressivität«, 47 als eine »fortgehende, allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten.« 48 Zur systematischen Gliederung dieses Prozesses entwickelt er eine Variante zu dem aus der Aufklärung von Rousseau, Kant oder auch Schiller bekannten Triadensystem aus Natur, Geschichte bzw. Kultur und dem Ende der Geschichte beim Zustand der verwirklichten volonté générale, des ewigen Friedens oder des ästhetischen Zustands. Schelling nennt den ersten Zustand die tragische Periode des Schicksals, in der alter Glanz untergeht. Auf diese folgt die Herrschaft des Naturgesetzes, die Organisation universaler weltlicher Macht ausgehend vom Römischen Reich. Als dritte, zukünftige Phase erwartet er die Vorsehung, die Ankunft Gottes. 49 Will man auf diese Triadentheorie eine Phasenentwicklung des Menschenalters abbilden, so fiele dem Verlassen des Paradieses, der Zeit der Harmonie, das Verlassen der Kindheit zu, den Gesetzen die Erwachsenenzeit und der Vorsehung vielleicht nicht das Alter selber, aber das Ende des Lebens als Übergang zum bereits seit dem Anfang existierenden Reich Gottes. Die Lebensphasen werden allerdings im Einzelnen ebenso wenig analysiert wie die historischen Ereignisse. Daher kommt dem Alter auch keine Sonderstellung zu, eher dem 45 46 47 48 49

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B. Bourgeois, Geschichtsphilosophie im deutschen Individualismus, S. 29. J. Habermas, Das Absolute und die Geschichte, S. 114. Vgl. SW I/3, S. 592. Ebd., S. 603. SW I/3, S. 603 f.

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Das Verhältnis von menschlichem und kosmischem Altern in Schellings Weltaltern

Tod, der das Leben zu einem Ganzen macht. Mit der Essentialisierung des Daseins durch den Tod, durch die Tatsache, dass es mit ihm zu einer Ganzheit wird, zeichnet Schelling die Figur des vorgreifenden Einholens des Endes vor, die Heidegger in Sein und Zeit als das »Vorlaufen zum Tod« bezeichnen wird. 50 Neben den vielen Differenzen, die zwischen Hegel und Schelling bestehen, und die in diesem Zusammenhang weder erörtert werden können noch müssen, behalten jedoch beide, wie Siegbert Peetz in seiner Einleitung in die Vorlesung über das System der Weltalter bemerkt, über den Bruch hinaus zwei entscheidende Gemeinsamkeiten: »1. Die Geschichte der Philosophie ist nicht historisch-antiquarische Vergegenwärtigung vergangener Probleme, sondern Entwicklung der zu behandelnden Sache selbst. 2. Diese Entwicklung gipfelt im eigenen Standpunkt, das heißt für Schelling: in seiner positiven Philosophie.« 51 Dieser Übergang vom methodischen Negativismus Hegels zur Philosophie der Mythologie und der Offenbarung bei Schelling, der bereits in den Weltalterfragmenten vollzogen wird, bezeichnet auch in unserem Zusammenhang eine entscheidende Zäsur. Es liegt in der Sache selbst begründet, dass mit der Aufgabe des methodischen Negativismus auch das konkrete Negative der Geschichte aus dem Blickfeld gerät. Hatte die reale Negativität mit dem Leid, das sie hervorbringt, im Hegelschen System noch einen sie nicht verschönernden, sondern nur über sie tröstenden Platz, wird sie bei Schelling kaum noch thematisiert. Auch in diesem Zusammenhang interessieren ihn nicht die einzelnen Ereignisse, sondern das Grundsätzliche, das Dunkle. 52 Die Weltalter sind Schellings letzter großer Versuch, die ganze Geschichte der Philosophie darzustellen. 1811 brachte er den ersten Entwurf, der von der Vergangenheit handelt, heraus, welcher jedoch Fragment geblieben ist. Erst sechzehn Jahre später entwickelte er das Opus in Form einer an der neu gegründeten Münchner Universität gehaltenen Vorlesung vor ausgewähltem Publikum weiter. Die VorVgl. W. Wiegand, Schellings Lehre von der Zeit, S. 27. S. Peetz, Einleitung in: Schelling, System der Weltalter (1827/28), S. XI. 52 H. Fuhrmans interpretiert in diesem Sinne die Weltalter als genuines Werk der Spätromantik, als Schellings dezidiert anti-aufklärerischen Weg zur Erforschung des Dunklen. Vgl. H. Furhmans, Schellings Philosophie der Weltalter, S. 92.) In diesem Zusammenhang interessiert jedoch nicht v. a. dieser Aspekt, sondern die Frage, was an Schellings Theorie für eine rationale Erörterung psychisch-existentieller Phänomene fruchtbar gemacht werden kann. 50 51

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lesung über das System der Weltalter von 1827/28 ist in Hinsicht auf die Frage, inwieweit es Wechselwirkungen zwischen einem idealistischen System der Weltgeschichte und einer Phasenfolge der individuellen Lebensalter geben kann, allerdings wenig ergiebig. Bei der Begründung des Systems beruft Schelling sich auf substantielle Gedanken spekulativer Theologie und unternimmt den Versuch, die Fundamente eines Systems der Welterklärung freizulegen, ohne auf andere als philosophiehistorische Quellen Bezug zu nehmen. Dies bedeutet auch, dass die biographische Seite der Parallelität von Lebens- und Weltaltern kaum mehr zur Sprache kommt. Im Manuskript von 1811 war das noch anders. Hier lässt sich sehen, wie die bei Hegel noch geradezu klassisch präsente Orientierung an den Lebensaltern verblasst. Im Verschmelzen von Metaphysik und Religion, das sich auch am Übergang von einer analytischen Sprache zu einem sich zunehmend an biblische Geschichten annährenden Erzählstil der Schellingschen Spätphilosophie zeigt, wird die Entsprechung der Welt- und der Lebensalter zunehmend undeutlich. 53 Und doch zieht auch Schelling Parallelen zwischen der Interpretation der Vergangenheit und dem Alter. Die Einleitung in die Weltalter beginnt mit dem Satz: »Das Vergangene wird gewusst, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zukünftige wird geahndet.« (WA I,3) 54 Den Zugriff, den wir auf das Vergangene haben, ermöglicht uns die Erzählung (vgl. ebd.), und die Erzählung, auf die Schelling sich hierbei implizit bezieht, ist diejenige, mit der der Sohn eines Theologen und Klosterprofessors besonders gut vertraut ist – die Bibel. Das bedeutet, dass er nicht mehr eine vor allem linear-historische Sicht auf die Geschichte hat, die sich an allen zugänglichen Quellen der Geschichtsschreibung und -dokumentierung bildet, sondern dass er hinter diese Interpretation zurücktritt. Seine Triadentheorie setzt an die Stelle des Dreischritts von der anfänglichen Einheit von Individualität und Allgemeinheit innerhalb der frühen Zivilisationsgeschichte über den Zerfall dieser Zum eigentümlichen Sprachstil Schellings, der »weder als ein Produkt naiver Dichtung noch als hochreflektierte (post)moderne Kombination mythologischer, biblischer oder theosophischer Sprachformen eines archaischen Mythos zu verstehen ist« vgl. P. L. Oesterreich, Geschichtsphilosophie und historische Kunst, S. 90. Ihm zufolge entwickelt Schelling seine kraftvolle Rhetorik, um dem absoluten Empirismus gerecht zu werden, dem er sich verpflichtet fühlt. 54 Die Zitate aus den Weltalter-Fragmenten beziehen sich auf die Urfassungen von 1811 und 1813 und werden direkt im Text in Klammern angefügt. 53

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Das Verhältnis von menschlichem und kosmischem Altern in Schellings Weltaltern

Einheit bis zur erwarteten Versöhnung an deren Vollendung denjenigen von der vorgeschichtlichen Vergangenheit über die gegenwärtige Zeit zur nachweltlichen Zukunft (vgl. WA I, 11). Alle drei Zeitdimensionen sind eingebettet in die Ewigkeit als einer außerzeitlichen Dimension. Die Gegenwart als die einzige der anschauenden Erkenntnis zugängliche Zeitdimension muss dabei ständig durch die Abscheidung von der Vergangenheit geschaffen werden, und diese Leistung obliegt dem Subjekt, das die Triade nicht nur aus epistemologischen Gründen zur Grundlage seines Zeit- und Geschichtsverständnisses machen, sondern die Lösung von der Vergangenheit auch in der subjektiven Realisierung seiner Lebenszeit bewältigen muss. Obwohl bei Schelling nicht wie bei Hegel eine explizite Entsprechung zwischen Lebens- und Weltaltern vorliegt, lässt seine Terminologie erkennen, dass auch er auf die individuelle Ebene anspielt, wenn er von den Zeitdimensionen spricht. Dabei deckt er psychologische Muster auf, die deutlich machen, dass die ersten Anfänge der modernen Existenzphilosophie hier ihren Ausgang nehmen konnten. Sein Hörer Kierkegaard, der Vordenker philosophischer Tiefenpsychologie, konnte hieran anknüpfen. Modern ist bei Schelling zum einen die Thematisierung der Zeit als einer nicht nur objektiven Herrschaft des Verfalls oder einer Art gesamthistorischen Transportmittels des Fortschritts, sondern als eines relativen Begriffs, dem in unterschiedlichen Zusammenhängen eine unterschiedliche Bedeutung zukommt, und zum anderen sein Interesse an der Suche nach dem Alter der Welt überhaupt. Im Zurückgehen vor die Zivilisationsgeschichte und sogar vor den Beginn jeglichen Lebens stellt er die mit der kosmologisch-metaphysischen Frage nach der Entstehung der Welt eng verknüpfte Frage nach der Entstehung der Zeit. 2.2.1 Die Abscheidung der Gegenwart von der Vergangenheit als Befreiung Für Sartre war, worauf das 4. Kapitel zurückkommen wird »das Grauen davor, dass die Zeit klebrig wird«, davor, am Vergangenen haften zu bleiben und nicht mehr weiter in die Zukunft fortschreiten zu können ein Innbegriff der Qual. Er sieht im instinktiven Ekel vor dem Klebrigen den Ausdruck der Angst davor, »dass die Zeit klebrig wird, dass die Faktizität kontinuierlich und unmerklich fortschreitet A

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und das Für-sich, das ›sie existiert‹, ansaugt« 55 . Das Subjekt, das für sich ist, das in der Zeit existiert, muss sie sich aneignen, sie realisieren können, um sie zur eigenen zu machen. Vermag es nicht, von der Zeit Abstand zu nehmen, erlebt es seine Unfähigkeit, sie in eine vergangene, eine gegenwärtig erlebte und eine zukünftig geplante, erhoffe Dimension aufzuspalten als lähmenden Stillstand bzw. als passives Fortgetragenwerden vom Strom der Zeit. 56 Die Trennung von der Vergangenheit bedeutet individuell wie geschichtlich das Erwachen zum Bewusstsein, dem die Vergangenheit als ein glückliches Zeitalter erscheint, das gleichzeitig aber erkennt, dass dessen Verlust die Bedingung seiner selbst ist. 57 Für Schelling war das Wissen um die Vergangenheit bereits der Schlüssel zum Begreifen der gegenwärtigen Situation der Welt ebenso wie des Subjekts, da beide bei ihm wie bei Hegel in einem Urgrund zusammentreffen: »[…] in uns selbst müssen wir die Vergangenheit zurückrufen, um zu finden, wovon alles ausgegangen und was zuerst den Anfang gemacht. Denn je menschlicher wir alles nehmen, desto mehr können wir hoffen, uns der wirklichen Geschichte zu nähern.« (WA I, 10) Er versucht Hegel zu überbieten, indem er nicht die zukünftige Verwirklichung der ursprünglichen Idee einer Einheit von Individuum und Allgemeinheit voraussetzt, sondern anstrebt, an den Anfang der Zeit überhaupt, zum ersten Anfang zurückzugehen, der sich im außerzeitlichen Bereich der Ewigkeit mit dem Ende der Geschichte trifft. Um die vorweltliche, vorgeschöpfliche, also nicht nur die vorgeschichtliche, geologische Vergangenheit der Erde zu kennzeichnen, benutzt er das Adjektiv eigentlich. Um sie zu erkennen bedarf es eines Aktes der Abscheidung, der Loslösung vom Vergangenen, der auch der Gestaltung der Gegenwart Raum verschafft. Auch das Individuum, das seine Gegenwart gestalten will, muss sich von seiner Vergangenheit lösen und dabei Distanz zu sich selbst, zu dem Menschen, der es früher war, einnehmen: Wie wenige kennen eigentliche Vergangenheit! Ohne kräftige, durch Scheidung von sich selbst entstandene, Gegenwart gibt es keine. Der Mensch, der Sartre, L’être et le néant, S. 702, dt.: Das Sein und das Nichts, S. 1044. Zu den psychoanalytischen Studien über das Zeitempfinden depressiver und schizophrener Patienten, an dem sich das Leiden am Vergehen der Zeit zeigt, insofern sie sich davon nicht durch deren aktive Gestaltung zu befreien vermögen, vgl. M. Theunissen, Negative Theologie der Zeit, S. 48 ff. Vgl. hierzu Kap. 6.1.3). 57 Vgl. hierzu: W. G. Jacobs, Zur Geschichtsphilosophie des jüngeren Schelling, S. 39. 55 56

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sich seiner Vergangenheit nicht entgegenzusetzen fähig ist, hat keine, oder vielmehr er kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr. Ebenso jene, welche immer die Vergangenheit zurückwünschen, die nicht fortwollen, indess alles vorwärts geht, und die durch ohnmächtiges Lob der vergangenen Zeiten wie durch kraftloses Schelten der Gegenwart beweisen, dass sie in dieser nichts zu wirken vermögen. (WA I, 11)

Hier wird eine häufig benutzte Stereotype in Bezug auf das Alter zitiert, nämlich die Abwertung der Gegenwart vor dem Hintergrund einer übergroß gewordenen, das Individuum noch fesselnden oder von ihm verklärten Vergangenheit, die Herrschaft über es gewinnt, wenn es nicht immer wieder neu die Anstrengung auf sich nimmt, sich von ihr zu distanzieren oder, anders ausgedrückt, Selbstkritik zu üben. Dabei unterscheidet Schelling zwei Weisen, der Vergangenheit zu verfallen. Die eine bedeutet, sich von der Zeit forttreiben zu lassen, ohne sie mitzugestalten, denn dafür wäre es nötig, ihrem Strömen denjenigen Widerstand entgegenzusetzen, der allein den Zeitraum der Gegenwart zu schaffen und so die Vergangenheit von diesem abzutrennen vermag. In diesem Falle versäumt das Individuum die bewusste Distanzierung. Es lässt sich von der Vergangenheit in die Zukunft forttreiben, ohne zu urteilen, zu ordnen, zu verstehen, was Vergangen ist, so wie Hegel vorgeschlagen hatte. Dadurch bleibt es unreflektiert seiner Vergangenheit verhaftet und somit unfrei. Bei der anderen Haltung, der Sehnsucht nach der Vergangenheit, hat es zwar eine kontemplative Umkehr vollzogen, richtet den verklärten Blick jedoch ausschließlich, selektiv und undistanziert auf das Vergangene. Indem es dieses als das eigentlich Eigene verherrlicht, Erinnerungen an Negatives verdrängt und die Gegenwart, der es sich entfremdet fühlt, abwertet, bleibt es durch den Bann der Vergangenheit gefesselt. Sein Verhältnis zur Gegenwart ist daher durch Ohnmacht gekennzeichnet, die durch die Verklärung der Vergangenheit gleichzeitig kompensiert und zementiert wird. Ein solches Scheitern der Trennung von Vergangenheit und Gegenwart vernichtet die Möglichkeit der Zukunft, da ohne eine Standortbestimmung in der Gegenwart keine Projektion in die Zukunft denkbar ist. Eine Befreiung von der Vergangenheit, die eine Voraussetzung für die Befreiung zu sich selbst ist, setzt hingegen nach Schelling zweierlei voraus: auf der Ebene des Individuellen, dass die Einzelnen sich ihrer eigenen Vergangenheit entgegensetzen; und auf der Ebene des Allgemeinen, dass in einem viel weiteren Zeithorizont als im engen biographischen oder auch im größeren geschichtlichen gedacht A

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wird. »Die meisten scheinen überhaupt von keiner Vergangenheit zu wissen, als der, welche sich in jedem verfließenden Augenblick durch eben diesen vergrößert, und die offenbar selbst noch nicht vergangen, d. h. von der Gegenwart geschieden ist.« (Ebd.) Sie haben also einen auf die unmittelbare eigene Erfahrung begrenzten Vergangenheitsbegriff, den es zu erweitern gilt, bis das Ende des Zeithorizonts selbst erreicht wird: »Alles, was uns umgibt, weist an eine unglaublich hohe Vergangenheit zurück, […] die Arbeit von Jahrtausenden muss hinweggenommen werden, um endlich auf den Grund zu kommen.« (WA I, 11 f.) Schicht für Schicht sind die Sedimente der Vergangenheit abzutragen, die vergleichsweise kurze Geschichte menschlichen Lebens, die Evolution von Flora und Fauna, die geologische Formation der Erde, bis deren Ursprung erreicht wird. Die Ganzheit der sich in der Zeit herausbildenden menschlichen Individualität ist somit eingebettet in die Ganzheit der Erde, und wie bei Hegel liegt eine Wechselbeziehung zwischen beiden vor. Das bedeutet, dass die Geschichte der Erde nach dem Muster der Entwicklung des einzelnen Menschen erklärt wird, und dass diese wiederum nur vor dem Hintergrund der bei Hegel zivilisatorischen, bei Schelling kosmischen Geschichte ihren eigentlichen Sinn erhält. Über einen Menschen weiß man etwas, wenn man seine Vergangenheit kennt, über eine geschichtliche Epoche kann erst geurteilt werden, wenn sie vergangen ist, und auch die Vergangenheit des »vielfach zusammengesetzten Individuum[s]« der Erde (WA I, 12) muss als Ganze erkannt werden, um den gegenwärtigen Standort zu bestimmen. 2.2.2 Entwicklung als innere Notwendigkeit Vor dem Beginn der Weltgeschichte herrschte laut Schelling ein Zustand »stiller Beschaulichkeit«, in dem die ontologische Differenz, der Widerstreit von Sein und Seiendem, von Expansion und Kontraktion noch nicht aufgebrochen war: »das Leibliche war geistig und das Geistige leiblich.« (WA I, 36) Der Beginn des menschlichen Lebens steht bei ihm ebenso wie bei Hegel unter dem Zeichen der Einheit. Das Kind, in dem auch er die ursprüngliche, glückliche Verkörperung der Einheit von Individualität und Allgemeinheit – bei ihm Subjekt und Objekt genannt – sieht, repräsentiert sogar die Qualität des Göttlichen: »Sehet ein Kind an, wie es in sich ist ohne Un78

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terscheidung, und ihr werdet in ihm ein Bild der reinsten Göttlichkeit erkennen.« (WA I, 15) Diese göttliche Einheit bricht zwar im Verlauf der Entwicklung auf und kann erst im Durchgang durch Schmerz und Negativität wieder erlangt werden, doch sie wird durch negative Realitäten nicht substantiell in Frage gestellt. »Wir ahnden – schreibt er im Ersten Buch der Weltalterfragmente – einen in der Zeit tief verborgen liegenden und bis ins Kleinste gehenden Organismus.« (WA I, 14) Alles, was existiert, hat in diesem Organismus seinen Platz, seine Zeit und seinen Sinn. Das gilt sowohl für die Entwicklung des Ganzen als auch für die des Einzelnen, da beide in demselben Urgrund wurzeln. Die innere Notwendigkeit des Fortschritts ist dieser Entwicklung bereits eingeschrieben, da sie einen Ursprung und ein Ziel hat. Sie beginnt mit der Schöpfung, zeigt sich in der Offenbarung und endet bei der jenseits der Zeit herrschenden Ewigkeit: Alles Seyn strebt zu seiner Offenbarung und insofern zur Entwicklung; alles Seyende hat den Stachel seines Fortschreitens, des sich Ausbreitens in sich, Unendliches ist in ihm verschlossen, das es aussprechen möchte; […] Nur über dem Seyn wohnt die wahre, die ewige Freiheit. Freiheit ist der bejahende Begriff der Ewigkeit oder besser, was über der Zeit ist. (Ebd.)

Wenn also auch im Menschen Unendliches eingeschlossen ist, das zur Entwicklung drängt, dann biegt sich bei Schelling ebenso wie bei Hegel der abfallende Bogen der traditionellen Alterskurven zu einer Entwicklungslinie auf, wobei sein christlich-religiöser Hintergrund noch deutlicher sichtbar wird. Bei Hegel ist die Negativität der Geschichte notwendiger Ausdruck ihrer Fortentwicklung, und die Negativität der Endlichkeit des individuellen Lebens wird in der Sinneinheit der Gesamtentwicklung aufgehoben. Der Triade des historischen Fortschritts entspricht auf der Ebene der Religion die Dreifaltigkeit von Vatergott, Sohn und Geist. Im Sohn sieht er »das Böse an sich aufgehoben«, und mit seinem Tod erstarb ihm zufolge auch der »Schmerz der Negativität«. 58 Die Befreiung von der Negativität der Zeit, von der Endlichkeit ist bei ihm vor allem eine Befreiung von der Herrschaft der Zeit in der Zeit. Für Schelling bedeutet sie vor allem das Überschreiten der Zeit zur Ewigkeit. Bezogen auf das menschliche Leben heißt das, dass das Alter, das auf den Tod hinführt, zum Höheren fortschreitet und in die Ewigkeit überleitet. Eine 58

G. W. F. Hegel, Enzyklopädie, S. 376. A

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Möglichkeit der Freiheit von der Zeit in der Zeit liegt bei Schelling im Begriff des Bandes, das die Trennung von Subjekt und Objekt wie von Subjekt und Subjekt zu überwinden vermag. Eine existentielle Analyse der Altersphänomene und eine auf ihnen basierende Ethik glückenden Alterns braucht auch seine idealistische Weltaltertheorie nicht zu entwerfen, weil das Ganze des Systems und die unhintergehbare Gewissheit über die vernünftige, göttliche Idee hinter dem als Höherentwicklung verstandenen universalen Reifungsprozess dessen immanente Sinnhaftigkeit verbürgt. Wenn das Subjekt die ursprüngliche Harmonie mit dem Allgemeinen wiedererlangt und solange es dem ihm eingeschriebenen Ziel folgt, bleibt es mit der Tatsache des eigenen Alterns versöhnt, da dieses selbst auch nur ein Zeichen des Fortschreitens ist. Auf Solon können wir zurückgreifen, um das Altern als eine Zeit besonderer Würde zu verstehen, das auch noch Möglichkeit, Bindungen zu erhalten und zu verteidigen bietet. Von Seneca und Cicero können wir eine Gelassenheit lernen, die daher rührt, dass man sich im Alter nicht von dem Gefühl überwältigen lassen darf, das Wesentliche versäumt zu haben. Cicero kann uns ein Beispiel für selbstbewusstes Altern sein, aber auch eine Warnung vor einem möglichen Machtmonopol alter Menschen, die der Selbstkritik entrückt sind. Von Hegel und Schelling lässt sich lernen, dass in der Verflechtung von individuellem Lebensvollzug und allgemeinen Zielen eine Sinnerfüllung möglich ist – auch wenn die spezifisch christliche religiöse Idee dahinter 59 nicht universal geteilt wird. Die Überhöhung des Alters als erhabener Zustand der Reife bricht dann zusammen, wenn die Gewissheit erschüttert wird, dass fortschreitendes Altern einem göttlichen Plan folgt und dass der Tod den Übergang in die Ewigkeit bedeutet. Was jedoch unbeschadet bleibt, ist der Gedanke Hegels, dass im Altern der Prozess der Individualisierung In der Vorlesung über System der Weltalter, die insgesamt eine moderne, philosophisch-theologische Grundlegung des Christentums ist, spricht Schelling den Primat des Christentums deutlich aus. Er versteht es nicht nur als die Überbietung des Judentums durch den als Messias verstandenen Religionsstifter, sondern als die Erfüllung der ursprünglichen Idee der Schöpfung schlechthin: »Alle Wohlgesinnten müssten darin übereinstimmen, dass dies eine religiöse Aufgabe uns[e]rer Zeit sei, das Christentum aus der partiellen Religion, in welcher es nur ein erhöhtes Judentum sein würde zur wahrhaft allgemein menschlichen Religion zu erheben und zu erklären. Nicht weil jene Idee einer selbst gesetzten Mehrheit in Gott eine christliche ist, ist sie wahr, sondern umgekehrt das Christenthum ist Erzeugniß jener Idee. Jene Idee schreibt sich von der Grundlegung der Welt her und so ist das Christentum älter als die Welt.« (S. 189)

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noch fortgesetzt wird und die Forderung Schellings nach der Gestaltung einer Zeit, die eine genuin eigene ist und Widerstand gegenüber dem Strom des Chronos leistet.

2.3 Exkurs zum Bruch mit dem idealistischen Holismus bei Hölderlin Die Frage, ob es einen entscheidenden Unterschied bedeutet, wenn das sinnerfüllte Ganze, in das die individuelle Biographie eingebettet ist, die Geschichte des zivilisatorischen Fortschritts ist oder das Universum der Biblischen Schöpfungsgeschichte, die Teleologie der kosmologischen Geschichte der Erde oder auch die Sinnganzheit der Ontologie von Heideggers Sein und Zeit, ist weniger relevant als die Tatsache, dass jeder holistische Entwurf dazu führt, das Altern des menschlichen Individuums als einen sinnvollen Prozess zu deuten bzw. dessen Sinnhaftigkeit als derart selbstverständlich vorauszusetzen, dass es überhaupt nicht thematisiert wird. In jeder Sinnganzheit ist alles im Hegelschen Sinne aufgehoben, auch das Leid. Um am Altern und seinen negativen Aspekten zu leiden, muss sich das Individuum hingegen in einen existentiellen Widerspruch zum Ganzen setzen, der nicht durch die weise Einsicht in einen höheren Sinn wieder aufgehoben wird. Mit der Abwendung vom Holismus in der Existenzphilosophie bricht diese Gewissheit zusammen, was auch dazu führt, dass das Leiden am Vergehen wieder in den Vordergrund rückt und das seiner Endlichkeit bewusste Individuum sich weder durch einen Verweis auf seine Geborgenheit im großen Ganzen beruhigen lässt, noch den Beitrag zur Entwicklung der Allgemeinheit weiterhin als Pflicht anerkennt. Das Verblassen des idealistischen Optimismus in Bezug auf die in sich sinnhafte Eingebundenheit des Individuums in die Allgemeinheit, in das Ganze, tritt deutlich im Leben und Werk des dritten der Tübinger Stiftsfreunde zu Tage. Für Hölderlin bleibt die Einheit des Individuums und seine Verbundenheit mit der Welt nur noch eine melancholische Erinnerung, die allenfalls in der Poesie bewahrt werden kann, sich aber nicht mehr durch rationale Anstrengung einholen lässt. Stand für Schiller in den Briefen zur Ästhetischen Erziehung des Menschen am Horizont der Trauer über das verlorene Arkadien die Hoffnung auf den sittlichen Zustand, bleibt

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bei Hölderlin schließlich nur die Trauer über das Verlorene und die einsame Erinnerung daran übrig. Die fünfte Strophe der Hymne An die Natur beschreibt noch das jugendliche Gefühl der Einheit mit der Welt: Oft verlor ich da mit trunknen Tränen Liebend, wie nach langer Irre sich In den Ozean die Ströme sehnen, Schöne Welt! in deiner Fülle mich; Ach! da stürzt ich mit den Wesen allen Freudig aus der Einsamkeit der Zeit, Wie ein Pilger in des Vaters Hallen, In die Arme der Unendlichkeit. –

Doch diese Einheitsseligkeit ist nicht über das Vergehen der Zeit erhaben, die Ausdehnung des Individuums in die Unendlichkeit erweist sich als kurzlebig, und es wird schnell aus der warmen Umarmung der Unendlichkeit zurückgeworfen in die kalte Einsamkeit der Zeit. Das verlorene Paradies der Einheit lässt sich in der Zukunft nicht wieder einholen, und so ist die Natur in der letzten Strophe keine Chiffre für die Verbundenheit alles Lebendigen mehr, sondern nur noch die seelenlose Grausamkeit, als die Büchner sie im Woyzeck beschrieb, wo er sich empört, dass sich angesichts des Leids die Erde nicht auftue. An die freundliche, tröstliche Natur des hoffnungsfrohen Frühlings bleibt nur noch eine ferne Erinnerung: Ewig muss die Liebste darben, Was wir lieben, ist ein Schatten nur, Da der Jugend goldne Träume starben, Starb für mich die freundliche Natur; Das erfuhrst du nicht in frohen Tagen, Dass so ferne dir die Heimat liegt, Armes Herz, du wirst sie nie erfragen, Wenn dir nicht ein Traum von ihr genügt.

Der Gegensatz von hoffnungsfroher Jugend und einsamem Altern schimmert bei Hölderlin oft durch. Es gibt zwar ein der Großmutter gewidmetes Gedicht 60 , in dem er »des Alters silberne Krone« würdigt und das Bild einer durch ihre Kinder und Enkel an das Leben angebundenen und in frommer Lebensführung gereiften Frau zeichnet, doch dieses Idyll ist isoliert geblieben. Kennzeichnender ist eher die 60

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F. Hölderlin, Meiner verehrungswürdigen Großmutter zu ihrem 72. Geburtstag

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Exkurs zum Bruch mit dem idealistischen Holismus bei Hlderlin

zweite Strophe des Gedichts Hälfte des Lebens, das mit den Metaphern der Mauern, der Sprachlosigkeit und der Kälte endet, die die Einsamkeit des Alterns und Sterbens mit der Jahreszeitenmetaphorik des auf den goldenen Herbst folgenden Winters umschreiben: Weh mir, wo nehm ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen.

Ein solches Gefühl der Isolation begründet den Zustand der Angst und Verzweiflung, in dem das Subjekt bei Kierkegaard gefangen ist, ehe es sich im Durchgang durch die negativen Gefühle wieder von ihr befreien kann.

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3 Selbstwerdung in der Retrospektive – biographische Einheit Lass uns erkennen, wie kurz unser Leben ist, damit wir zur Einsicht kommen! (Psalm 90,12)

Die Versöhnung von Individuum und Allgemeinheit oder der Versuch, das Sein als Ganzes zu interpretieren und existentiellen Phänomenen ihren Platz in dieser Sinneinheit zuzuweisen bzw. angesichts des ungleich weiteren Horizonts der Seins- bzw. Kulturgeschichte über sie hinwegzusehen, konnte durchaus eine Bedingung zufriedenen Alterns sein. In dem Maße jedoch, in der in der jüngeren Moderne ganzheitliche Weltbilder zusammengebrochen sind, stellte sich die Frage nach dem individuellen Leiden des einzelnen an der eigenen Endlichkeit immer dringlicher. Der erste, der aus vielen – durch Pseudonyme unterschiedlich gekennzeichneten – Blickwinkeln 1 das endliche Existieren mit seinen negativen Phänomenen ergründete und damit das Fundament der Existenzphilosophie legte, war Søren Kierkegaard. Wir finden bei ihm allerdings keine ausgearbeitete, explizite Theorie über das Altern. Alt zu werden kann ihm zufolge, für sich gesehen, weder Glück noch Unglück bedeuten, sondern es bleibt nach der anfänglich in Entweder–Oder vorgestellten Auffassung von Fall zu Fall zu entscheiden, ob das Individuum in welcher Lebensphase auch immer seine Gegenwart erfüllt oder nicht. Dennoch kommt dem Altern im Rahmen der Aufforderung, stets das Ganze des Lebens bis zum Ende einbeziehen zu müssen, implizit eine wichtige Position zu. Kierkegaards Biographie selbst ist nach gewohnten Maßstäben kein Beispiel glückenden, zufriedenen oder ruhmreichen Alters wie Zu Kierkegaards Strategie der indirekten Mitteilung vgl. M. Theunissen & Greve (Hrsg.), Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, S. 24 ff. u. S. 616 f. (Register der Pseudonyme). Vgl. außerdem die Darstellung von A. Pieper, Sören Kierkegaard, S. 155 ff. und G. Pattison, Kierkegaard, the Aesthetic and the Religious. Unter der Voraussetzung, dass die Pseudonyme Aussagen derselben Person aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Identifikationsgraden darstellen, werde ich im Folgenden davon ausgehen, dass es sich bei den herangezogenen Textstellen um eine zwar in sich differenzierte und synthetische, aber dennoch einem identifizierbaren Entwurf zuzuordnende Theorie handelt.

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die seiner idealistischen Vorgänger, oder gar wie die Goethes, der geradezu das Idealbild eines zufriedenen, engagierten alten Menschen verkörperte. Er ist vielmehr in völliger Kohärenz mit seiner Theorie noch jung, mit zweiundvierzig Jahren gestorben. Er hatte der Welt mitgeteilt, was er ihr mitteilen wollte, sein Vermögen, das ihm ein nicht zuletzt auch intellektuell unabhängiges Leben garantiert hatte, war aufgebraucht und seine Existenz als Privatier zu ihrem Ende gekommen. Er musste nicht »der Unglücklichste« aus Entweder–Oder werden, der nicht leben und vor allem nicht sterben kann, und alt zu werden bedeutete ihm nichts Besonderes angesichts der Überzeugung, dass sich eine glückende Existenz jeden Augenblick neu zu bewähren habe und es keine Sinngarantie gäbe. Pessimistisch und im Vorgriff auf Sartre könnte man auch sagen, er konnte der Verurteilung zur Existenz entkommen, nachdem er seine Gegenwart ausgekostet hatte. Er konnte die »große Entdeckungsfahrt«, von der er in einer kleinen Reflexion über den Suizid in den aphoristisch-poetischen Diapsalmata 2 am Anfang von Entweder– Oder spricht 3 , beizeiten antreten. Hiermit soll Kierkegaards früher Tod nicht zu einfach psychologisiert werden, doch die Phänomene lassen durchaus einen gewissen Rückschluss auf einen individuellen Faktor zu, der beim Sterben oft eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. 4

Die Diapsalmata stellen gleichsam die Essenz der ästhetischen Lebensauffassung dar. Kierkegaard hat sie erst geschrieben, als das Gesamtwerk Entweder–Oder (E–O) bereits vollendet war und sie erst nach Abschluss des Tagebuchs des Verführers dem ersten Teil vorangestellt, in dem er die Geschichte seiner Verlobung und Trennung von Regine Olsen verarbeitete. (Zur Entstehungsgeschichte von E–O vgl. die Geschichtliche Einleitung des Übersetzers der deutschen Ausgabe.) 3 »Wunderlich! mit welch einer zweideutigen Angst vor dem Verlieren und Behalten hängt und haftet doch der Mensch an diesem Leben. Unterweilen habe ich daran gedacht, einen entscheidenden Schritt zu tun, gegen den alle meine früheren nur Kinderstreiche wären – die große Entdeckungsfahrt anzutreten. Gleich wie ein Schiff, das vom Stapel läuft, mit einem Kanonenschuss gegrüßt wird, so wollte ich mich selber grüßen. Dennoch. Fehlt es mir an Mut? Falls ein Stein herabkäme und mich zu Tode schlüge, das wäre doch ein Ausweg.« (E–O I 22) Ich zitiere nach der Seitenzahl der dänischen Gesamtausgabe (Samlede Værker, Anden Udgave) und in der Übersetzung von Emanuel Hirsch in der deutschen Gesamtausgabe (Gütersloh: Mohn), die auch die Seiten der Originalausgabe angibt. 4 Er selber dachte immer, nicht älter als vierunddreißig Jahre alt zu werden, weshalb ihm sein erreichtes Alter schon als hoch gelten musste (vgl. den Brief an seinen Bruder Peter vom 19. Mai 1847.) 2

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Lassen wir mit Kierkegaard also die Versuche, das Einzelschicksal des Menschen im Ganzen der Geschichte aufzulösen oder es darin einzubetten hinter uns, können wir seinem eigenen Weg folgend drei Prinzipien des existentiellen Individualismus ausmachen. Er selber verstand sich – das sei vorausgeschickt – als Wiederentdecker des einzelnen Menschen hinter spekulativen Systemen und als Erneuerer der christlichen Religion, die er – ebenso wie die Philosophie – im Gefängnis der Schulen erstarrt sah. Mit Blick auf Hegel meinte er: »welthistorisch will man sich im Totalen betören, keiner will ein einzelner existierender Mensch sein.« 5 Seine eigenen Reflexionen über das Menschsein, die an keiner Stelle an die historisch-philosophische Anthropologie anknüpfen und auch von daher ein Novum darstellen, geschehen erstens aus der Perspektive des Dichters (Ästhetik), zweitens aus der des Vernunftmenschen (Ethik) und drittens aus der des Gläubigen (Religion). Obwohl das Thema des Alterns bei Kierkegaard nirgends eine besondere Stellung einnimmt und eher beiläufig erwähnt wird, sind seine unzähligen Aussagen über die Endlichkeit des menschlichen Lebens und das Leiden an ihr bzw. die Möglichkeit, dieses Leiden zu überwinden eine außerordentlich wertvolle und noch nicht erschlossene Quelle für die philosophisch-psychologische Erforschung der späten Lebenszeit als der Phase, in der die Endlichkeit sich unausweichlich aufdrängt. Das endliche Existieren wird hier nicht mehr wie in der Anthropologie vor allem als ein Naturgeschehen, oder in der Theologie als Sühne für den Sündenfall aufgefasst, sondern als eine wesentliche Bedingung spezifisch menschlichen, nach Autonomie strebenden und für sich selbst verantwortlichen Daseins. Außerdem bietet Kierkegaard eine überzeugende Lösung des Problems der biographischen Einheit an, indem er nicht sie selbst, sondern nur ihre prästabilierte Harmonie kritisiert und dem Beisich-sein im Anderssein 6 eine existentiell überzeugende Gestalt gibt. Montaigne hatte in seinem Essai Über die Erfahrung die Behauptung aufgestellt, die Einheit des Selbst erweise sich aufgrund der biographischen Veränderungen zumindest teilweise als Trugschluss. Er meinte:

S. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift II, VII, 244. Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Kap. VIII Das absolute Wissen, Abs. 1. 5 6

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Ich habe Portraits, die mich mit fünfundzwanzig und mit fünfunddreißig Jahren zeigen. Vergleiche ich sie mit meinem jetzigen – in wie vieler Hinsicht bin das nicht mehr ich! 7

Nachdrücklich weist er hier auf das Problem hin, wie labil das biographische Gefüge eines Menschen ist. Kierkegaard zufolge müssen in der Aussage über den Zerfall des vergangenen, vom gegenwärtigen als fremd empfundenen Ichs zwei fundamentale Irrtümer stecken: erstens, dass die spezifische Identität eines bestimmten Alters, wenn es sie überhaupt gibt, dergestalt eine privilegierte ist 8 , dass eine Person in einer Lebensphase »mehr« sie selbst ist als in einer anderen, und zweitens dass man sich überhaupt so entfremdet – und nicht nur weiterentwickelt wie bei Schelling – von der eigenen Vergangenheit distanzieren kann, da sie einen doch wesentlich konstituiert. Zwar wird das gegenwärtige Ich von dem vergangenen ebenso durch die zeitliche Distanz getrennt wie von dem zukünftigen, das es werden will, doch obgleich es nicht mehr dasselbe ist, bleibt es durch seine zeitlich-physische Kontinuität verbunden. Es kann – hier bleibt Kierkegaard durchaus der Hegelschen Dialektik verbunden – nur es selbst werden, wenn es das Andere seiner selbst integriert. Daher leitet Kierkegaard aus dem gelegentlichen Chaos der unterschiedlichen Lebensentwürfe einer Person auch nicht wie Montaigne eine gewisse Beliebigkeit der gesamten Lebensgestaltung ab, sondern vielmehr die mit dem Leid an Irrtümern verknüpfte Tatsache, dass das sinnvolle Ganze zwar nur retrospektiv erkannt werden könne, aber dennoch eine individuelle Einheit sei und als solche verantwortet werden müsse. Montaigne hatte im Essai Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns ferner behauptet: Unsere Handlungen sind nichts als zusammengestückte Widersprüche […]. Dem, der sein Leben nicht im Ganzen auf ein bestimmtes Ziel auszurichten weiß, ist es unmöglich, im einzelnen sinnvoll zu handeln. Es ist unmöglich, die Teilstücke richtig zu ordnen. Was nützt es, sich Farben zu besorgen, wenn man nicht weiß, was man malen soll? Und dennoch stellt keiner einen festen Lebensplan für uns auf: Wir überlegen uns den Weg nur stückchenweise. […]

M. de Montaigne, Essais (3.13), S. 557. Vgl. Adornos Kritik an der alterstypischen Distanzierung von wissenschaftlichen oder ästhetischen »Jugendsünden« in seiner Notiz zur unveränderten Wiederauflage seiner Habilitationsschrift über Kierkegaard in: Th. W. Adorno, Kierkegaard, Die Konstruktion des Ästhetischen, S. 261 f.

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Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, daß jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; 9

Indem die Gesamtverantwortlichkeit für das Leben als Einheit auf diese Weise unterlaufen wird, zerfasert die Identität sich in eine allein durch die unreflektierte physisch-zeitliche Einheit verbundene Abfolge beliebiger Momente, von denen nur das aktuelle, gegenwärtige zuverlässig erkannt werden kann und von dem sich die vergangenen abscheiden lassen. Kierkegaard war demgegenüber in seiner Verzweiflung über die Unmöglichkeit, das Ganze des eigenen Lebens prospektiv erkennen zu können, radikaler, und im Festhalten an der Notwendigkeit, ihm dennoch retrospektiv einen Sinn zu verleihen, ethisch überzeugender. In den Diapsalmata heißt es: »Was wird geschehen? Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht, ich ahne nichts.« Dies ist eine geradezu wörtliche Distanzierung von Schellings Begriff der Ahnung als der intuitiv-kognititven Möglichkeit, gedanklich auf die Zukunft auszugreifen. Nach Anerkenntnis dieser Ohnmacht und der Feststellung, die Zukunft sei nichts als ein »leerer Raum« zieht er aber folgenden Schluss: »[…] was mich vorwärts treibt, ist eine Folgerichtigkeit, die hinter mir liegt. Dies Leben ist nach rückwärts gekehrt und grauenhaft, nicht auszuhalten.« (E–O I, 8, Hervorh. E. B.). Unter dem Pseudonym Constantin Constantinus, unter dem Kierkegaard Die Wiederholung verfasste, formulierte er die Methode, mit der der leere Raum der Zukunft erfasst werden könne, nämlich durch ein »Umschiffen« des Daseins 10. Darunter versteht er den immer wieder neu zu adaptierenden Versuch, das Ganze des Lebens durch eine gedankliche Antizipierung seines Endes, also des Todes, zu entwerfen. Gerade weil wir, wie er meint, dazu verurteilt seien, nach vorne zu leben, wobei wir allein in der Rückschau erkennen können, müssen wir wenigstens in der Phantasie versuchen, unser Lebensende vorauszudenken und von diesem Fluchtpunkt her unser Leben ordnen und verantworten, ohne das Faszinosum tremendum zu fixieren, sondern mit dem Rücken zu ihm und dem Blick auf das Leben gerichtet. Der Erkenntnis des Problems der leeren Zukunft im ästhetischen Stadium in Entweder–Oder I folgt seine ethische Lösung in

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M. de Montaigne, Essais (2.1), S. 167 f. Vgl. S. Kierkegaard, Die Wiederholung, III 174.

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Melancholie, Langeweile und Angst als Erkenntnisdimension bei Kierkegaard

Entweder–Oder II und schließlich seine Überwindung im Glauben in der Krankheit zum Tode. In seiner Rede an einem Grabe geht Kierkegaard, diesmal nicht pseudonym, so weit zu sagen, dass die Antizipation des eigenen Todes zu einer grundsätzlichen Umkehr der Perspektive führen und ethisch wirksam werden müsse, da bei einem Leben nicht »nach vorne hin«, sondern »von vorne her« auch die Zukunft in den Horizont der Entscheidungen einzubeziehen ist. Diese Figur, die das vorheroische, existentielle »Vorlaufen zum Tode« Heideggers vorzeichnet, geht davon aus, dass man sich das Ganze seines Lebens bis zum Ende hin antizipierend anzueignen vermag, ohne dabei den Raum der Zukunft teleologisch füllen zu müssen. 11

3.1 Das Leiden an Zeitlichkeit und Endlichkeit – Melancholie, Langeweile und Angst als Erkenntnisdimension bei Kierkegaard Niemand kehrt von den Toten zurück, niemand ist in die Welt eingegangen außer mit Weinen, niemand fragt einen, ob man hinein will, niemand, ob man hinaus will. (E–O I, 10)

Durch das Interesse am individuellen Existieren und den Abschied von der davon abstrahierenden spekulativen systematischen Philosophie hat Kierkegaard die Philosophie wieder für die existentiellen Themen der Antike geöffnet und dabei etwas wesentlich Neues gelehrt: Negative Phänomene, dunkle Stimmungen wie Langeweile oder Melancholie oder auch ein so quälender Affekt wie die Angst können einen Erkenntnisgewinn bereithalten. Indem er in der Krankheit zum Tode die menschliche Existenz als eine Synthese aus Möglichkeit und Notwendigkeit, Unendlichkeit und Endlichkeit denkt, bezieht er die endliche Verfasstheit des menschlichen Daseins als eine Bedingung der Möglichkeit des Existierens überhaupt in sein Denken ein. Dabei interessieren ihn die diese Synthese kennzeichnenden Widersprüche und Brüche, nicht aber die Frage nach dem Sinn des Negativen überhaupt, da er ihn als konstitutiv voraussetzt. Wenn Paul Tillich die »Wiederentdeckung des Sinnes der Angst Zum Tod als Fluchtpunkt des Lebens vgl. E. Birkenstock, Heißt Philosophieren sterben lernen?

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durch die vereinten Bemühungen der Existentialphilosophie, der Tiefenpsychologie, der Neurologie und der Kunst« als eine bedeutende Leistung des 20. Jahrhunderts bezeichnet, 12 muss man dem hinzufügen, dass ihr bereits ein halbes Jahrhundert zuvor von Kierkegaard der Boden bereitet wurde. Kierkegaard verabschiedet, wie gesehen, früh und entschieden jede prospektive Vorstellung einer einheitlichen Lebensplanung, eines erfolgreichen Lebensentwurfes mit einem klar definierten Ziel vor Augen, mit abgesteckten Lebensphasen und deren spezifischen Erfüllungsmomenten. In den Diapsalmata spottet er aus der Perspektive des Ästheten explizit über die Idee, das Alter versöhne sich mit der Jugend durch das Einholen früher Entwürfe, indem er eine Karikatur dieser Hoffnung zeichnet: »Das Alter lässt die Träume der Jugend Wirklichkeit werden: das sieht man an Swift, in seiner Jugend baute er ein Irrenhaus, im Alter ging er selbst in es hinein.« (E–O I, 5). Der Autor der Satire Gullivers Reisen, der wie Kierkegaard selbst Theologie studiert hatte, als Pfarrer tätig war, und der ebenfalls in eine unglückliche Liebesgeschichte verstrickt war, dient Kierkegaard als sarkastisches Beispiel der Enthüllung des eigentlichen Misslingens, das sich hinter dem hier unfreiwilligen »Gelingen« verbirgt. Die Erkenntnis, dass es kein monumentales Lebensziel geben kann, weil das Leben ein Prozess mit Brüchen, Weggabelungen und mitunter falschen Entscheidungen ist, der nicht nach einem vernünftigen, vorgezeichneten Muster verläuft, führt sowohl zur Verachtung übereifriger blinder Geschäftigkeit (vgl. E–O I, 9) als auch zur Erfahrung der Zeitlichkeit des Lebens selbst. Die Zeit wird dabei nicht mehr als ein Medium der Bewegung wahrgenommen, das zu individuellem Leid führen kann, jedoch allgemeine Entwicklung, Fortschritt und Hoffnung bedeutet, sondern als Stillstand. Indem sie nicht mehr prospektiv mit Inhalten oder Erwartungen gefüllt werden kann, scheint sie in ihrer Leere stehen zu bleiben: »Die Zeit vergeht, das Leben ist ein Strom, sprechen die Menschen usw. Ich kann davon nichts merken, die Zeit steht still, ich mit. Alle Pläne, die ich entwerfe, fliegen geradewegs zu mir zurück, wenn ich speien will, spei ich mir selbst ins Angesicht.« (ebd. E–O I, 10, Hervorh. E. B.) P. Tillich, Systematische Theologie, Stuttgart: Ev. Verlagswerk 1956, Bd. 1, S. 224. Zur Theorie der Erschließungskraft von Gefühlen bei Heidegger vgl. R. Pocai, Heideggers Theorie der Befindlichkeit.

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Melancholie, Langeweile und Angst als Erkenntnisdimension bei Kierkegaard

Was Kierkegaard hier schildert, ist zweierlei: Die Wahrnehmung der Zeit zum einen als Stillstand, was einer für depressive Bewusstseinszustände typischen Verformung ihrer Wahrnehmung entspricht, und zugleich als ein von der Zukunft her wehender Sturm, gegen den man nicht ankommt. Die Erfahrung der Zeit als Gegenwind ist, obwohl die Windrichtung später gewechselt hat und er nicht mehr aus der Zukunft, sondern von der Vergangenheit her weht, bereits eine ähnliche wie in Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen. Es ist eine basale Ohmachtserfahrung, das Gewahrwerden, dass es keine reale Gestaltungsmöglichkeit des eigenen Lebens gibt. Während die Welt und die Dinge an einem vorbeiziehen, steht man selbst still, unfähig am Fortgang teilzunehmen. Michael Theunissen hat in seinem Aufsatz Melancholisches Leiden unter der Herrschaft der Zeit die hinsichtlich ihrer existenzphilosophischen Erkenntnisse wegweisenden Forschungen der Psychologen V. E. von Gebsattel, E. Straus und E. Minkowski untersucht und für eine existenzontologische Analyse der Zeitlichkeit des Lebens fruchtbar gemacht. 13 v. Gebsattels Patientin Ilse K. wurde berühmt, weil sie ihr Leiden am Vergehen der Zeit als Ursache ihres melancholischen Zwangsdenkens explizit formulierte. Sie litt einerseits darunter, dass die Zeit verging, sie buchstäblich von Sekunde zu Sekunde älter wurde und ihr eigener Tod dadurch unaufhaltsam näherrückte, und andererseits erfuhr sie aufgrund ihrer Unfähigkeit zu handeln ihre eigene Situation als Stillstand, als eine quälende Dauer. In einem von Theunissen zitierten Gespräch äußerte sie ihre Überzeugung, dass der Grund ihrer Erkrankung in der Angst vor dem Älterwerden liege. Der Psychiater stellte diese gestörte Wahrnehmung der »gesunden«, nicht gehemmten, planenden Handlungsfähigkeit als »zeitbezogenes Zwangsdenken« gegenüber. Für den Philosophen offenbart sich in dessen inhaltlicher Leere jedoch eine strukturelle Erkenntnis. Was die Patientin wahrnimmt, ist die nackte Realität der Zeit und besitzt so einen fundamentalen Erkenntniswert. Wie für Kierkegaard die Angst ein Gradmesser der existentiellen Tiefe einer Person war, 14 ist für Theunissen das Leiden an der Herrschaft der Zeit ein Zeugnis zwar kranker, aber in der Krankheit auf besonM. Theunissen, Melancholisches Leiden unter der Herrschaft der Zeit, in: Negative Theologie der Zeit, S. 218–281 14 Vgl. S. Kierkegaard, Der Begriff Angst (BA), Anm. 153 S. 260 »[…] je höher der Mensch in Wertschätzung steht, desto schrecklicher ist der Tod.« 13

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dere Weise authentischer Zeitwahrnehmung. Während die Gesunden Verdrängungs- und Adaptionsmechanismen entwickeln, sieht die Kranke die Diktatur des Chronos unverstellt. Der Stillstand der Zeit ist das Gegenteil der Erfüllung im Augenblick, nach der der Dichter von Entweder–Oder I strebt. In ihm wird die gerade durch ihre Unerfülltheit universale Herrschaft der Zeit erlitten, während der erfüllte Augenblick eine zwar nicht endgültige, aber im Momentanen uneingeschränkte Befreiung von ihr bietet. 15 Im gesamten Diskurs von A und B über Liebe und Ehe, über die Sehnsucht nach dem vollkommenen Ineinanderaufgehen und der Angst vor der Banalisierung des Eros durch Gewohnheit und alltägliche Belastungen lässt sich in den Aussagen von A hinter der Angst vor dem Verlust der Leidenschaft eine Angst vor dem Altern entdecken, die an Mimnermos erinnert. A hat wie dieser Angst davor, das Verblassen seiner Leidenschaft zu erleben. Leidenschaftslosigkeit gilt ihm als die Zeitkrankheit einer alt gewordenen Moderne überhaupt, und er muss auf das Alte Testament und auf die Tragödien von Shakespeare zurückgreifen, um sie wiederzufinden, denn: »Da fühlt man doch, dass es Menschen sind, die da sprechen; da hasst man, da liebt man, mordet seinen Feind, verflucht seine Nachkommenschaft durch alle Geschlechter, da sündigt man.« (E–O I, 12) Nicht einmal der Gerichtsrat (B), dessen ethische Position in Entweder–Oder II dargelegt wird, beschwört die ruhige Utopie des uralten Abraham 16 oder auch Hiobs, der, nachdem die Qualen des Lebens überstanden waren, »in sehr hohem Alter, nach einem reichen, erfüllten Leben« starb, 17 oder diejenige Ovids von Philemon und Baucis, die die Götter vom Schicksal des Todes befreit hatten indem sie als Bäume vor ihrem Tempel weiterleben durften. 18 Für Kierkegaard hielt das Älterwerden nichts Beruhigendes, kein Versprechen irgendeiner besonderen Erfüllung bereit. In einem Brief an Regine Olsen, den er etwa ein Jahr vor dem Entstehen von Entweder–Oder geschrieben hatte, als das Verlöbnis äußerlich noch

Zum Thema der Befreiung von der Zeit in der ästhetischen Anschauung vgl. M. Theunissen, Freiheit von der Zeit, in: ders., Negative Theologie der Zeit S. 285–298. 16 »Abraham wurde 175 Jahre alt; dann starb er nach einem erfüllten Leben und wurde im Tod mit seinen Vorfahren vereint.« (1 Mose, Gen. 25, 7–8) 17 Hiob 42,17. 18 Vgl. Ovid, Metamorphosen VIII. 15

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Melancholie, Langeweile und Angst als Erkenntnisdimension bei Kierkegaard

bestand, innerlich jedoch bereits eine unüberbrückbare Kluft entstanden war, heißt es: Ich sende Dir hiermit eine Rose, […] sie ist verwelkt unter meinen Händen; ich bin nicht wie Du ein froher Zeuge gewesen, wie alles sich entfaltete, ich bin ein wehmütiger Zeuge gewesen wie sie mehr und mehr hinschwand; ich habe sie leiden sehen; sie verlor ihren Duft, ihr Haupt wurde müde, ihre Blätter krümmten sich in des Todes Kampf, ihre Röte schwand dahin, ihr frischer Stengel vertrocknete; […]. 19

Diese Stelle liest sich geradezu wie eine Allegorie auf die Angst vor der Vergänglichkeit nicht nur der Liebe selbst, sondern der Liebenden überhaupt. Nicht nur die Rose als Metapher für die Liebe schlechthin, auch die Farbe des Lebens als »des Geistes Morgenröte« taucht bei Kierkegaard wiederholt als Signum der Jugend auf, die mit zunehmendem Alter verblasst (E–O I, 333) und später durch keine Abenddämmerung aufgewogen werden kann. Das schwermütige Leiden an der Endlichkeit lässt sich nach Kierkegaard nicht dadurch überwinden, dass dem Vergehen des Einzelnen wie bei Hegel ein Sinn verliehen wird, indem es eine Stufe zu Höherem darstellt, in dessen Einheit es aufgeht, noch dadurch, dass sie wie bei Schelling aufgehoben wird in der Ganzheit des Seins. Vielmehr kann die Melancholie – wie die anderen negativen Stimmungen – allein im dritten Stadium des Glaubens überwunden werden, und zwar völlig unabhängig vom erreichten Lebensalter. Bleibt man im ästhetischen Stadium stehen, bei den Erkenntnissen über Kunst und Sinnlichkeit des ersten Teils von Entweder–Oder, ist es unmöglich, der Existenz einen Sinn zu verleihen. So verliert sich A wiederholt in Reflexionen über die Sinnlosigkeit, das Leben überhaupt länger auszuhalten, von denen zwei das eingangs erwähnte Thema des Suizids berühren. In den Diapsalmata führt er Angst und Schwermut zusammen. Die Angst wird dabei noch nicht in ihrer die synthetische Struktur des menschlichen Daseins enthüllenden Zweideutigkeit reflektiert und dadurch verarbeitet wie im Begriff Angst, sondern bleibt der dumpfe und bedrohliche Grund der Schwermut: »Meine Seele ist so schwer, dass kein Gedanke mehr sie zu tragen vermag, […]. Über meinem inneren Wesen brütet eine Beklommenheit, eine Angst, welche ein Erdbeben ahnt.« (E–O I, 13) S. Kierkegaard, Brief vom 5. 5. 1841, Ges. Werke S. 54 f. (Die verwelkte Rose als Symbol vergangener Liebe ist ein Gegengeschenk für ein von Regine Olsen erhaltenes Geburtstagsgeschenk; der Brief datiert auf Kierkegaards Geburtstag).

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Eine solche Ahnung drohenden Unheils, die für depressive Verstimmungen in Verbindung mit einer Angstneurose typisch ist, führt zur Erfahrung völliger Sinnlosigkeit und damit zur Negation des Lebenswillens: Wie ist das Leben so bedeutungslos und leer. – Man begräbt einen Menschen; man gibt ihm das Grabgeleite; man wirft drei Spaten Erde auf ihn; man fährt hinaus im Wagen, man fährt heim im Wagen; man tröstet sich damit, dass ein langes Leben vor einem liege. Wie lange währen wohl sieben mal zehn Jahre? Warum macht man es nicht auf einmal ab, warum bleibt man nicht gleich draußen und steigt mit ins Grab und zieht das Los, wen das Unglück treffen solle, der letzte Lebende zu sein, welcher die letzten drei Spaten Erde auf den letzten Toten wirft? (E–O I, 14)

Hierbei handelt es sich um die Aussage eines einsamen, an keinen kommunikativen oder überhaupt sozialen Bindungen hängenden Individuums, das voraussetzt, dass alle Mitmenschen gleich bindungsund hoffnungslos seien. Diese Unempfindsamkeit gegenüber Beziehungen drückt sich explizit und drastisch in dem auf die Diapsalmata folgenden ekstatischen Vortrag aus, der mit der berühmten Aussage über die generelle Unmöglichkeit, richtige Entscheidungen zu treffen anhebt. Nach der mit der Heirat beginnenden Aufzählung von möglichen Lebensentscheidungen, die alle als ebenso verkehrt erachtet werden wie ihr Gegenteil, weil jede Entscheidung einen Verrat an der Alternative bedeutet, folgt die Klage von A: »[…] warum bin ich nicht als kleines Kind gestorben? So hätte mein Vater mich in einen kleinen Sarg gelegt, mich selbst unter den Arm genommen, mich eines Sonntags vormittags zum Grabe hinausgetragen […]« (E–O I, 24). Der sich hier ausdrückende Lebensüberdruss enthüllt sich in seiner ganzen substantiellen Egozentrik. Kein Gedanke bezieht die trauernden Eltern mit ein und richtet sich auf eine der größten vorstellbaren existentiellen Katastrophen schlechthin, nämlich ein Kind zu verlieren. Diese Egozentrik muss als ein typisches Merkmal aller Theorien, die das Altern allein negativ bewerten, festgehalten werden. Das 5. Kapitel wird hierauf zurückkommen. Da er die Last des Lebens tragen und durch Melancholie und Langeweile gelähmt und beschwert ist, denkt A – wie bereits erwähnt – über den Selbstmord als Akt der Befreiung aus einem nicht selbstgewählten Leben nach. Zwar ist er nicht Herr seines Lebens, worunter er leidet, doch ihm steht immerhin die Möglichkeit offen, »den Faden abzuschneiden«, mit dem er mit dem Leben verwoben ist 94

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Melancholie, Langeweile und Angst als Erkenntnisdimension bei Kierkegaard

(E–O I, 15). Nur fehlt ihm hierzu der Mut, weshalb er sich, da er unglücklicherweise die Kindheit überlebt hat, wünscht, es möge ihn ein herabfallender Stein erschlagen (vgl. E–O I, 22) und ihm den Entschluss abnehmen. Weil auch dieser Wunsch ihm nicht erfüllt wird, sucht er schließlich im Schlaf Linderung und teilweise Befreiung von der Last des Daseins. Da ihm die Zeit ohnehin stillzustehen scheint, und sein Handlungswille gelähmt ist, bedeutet der Schlaf eine Erlösung von dem quälenden Gefühl der Lähmung: »Wenn ich morgens aufstehe, gehe ich gleich wieder ins Bett. Am wohlsten befinde ich mich des Abends […]« (E–O I, 10). Hinter der Sehnsucht nach dem Schlaf und der Geborgenheit des Bettes (vgl. auch E–O I, 12 f.) steht keine romantische Verklärung der Nacht, der Träume und des Bewusstseins, das sich in ihr zu weiten vermag 20 , als einer neuen Erkenntnisdimension, sondern allein der Wunsch, das Bewusstsein davon auszuschalten, dass der Tag mit allen seinen immer neuen, aber auch den immer gleichen Anforderungen zu bewältigen ist. Gelingt dies nicht, bleibt nur die Qual der Langeweile, mit der die Diapsalmata enden (vgl. E–O I, 21) und die Kierkegaard später in den Stadien ausführlich analysiert. 21 Kierkegaard hat im ersten Teil von Entweder–Oder das Unbehagen vor dem Altwerden thematisiert, doch gleichzeitig damit kritisierte er den Widerstand dagegen so scharfsichtig, dass uns seine Erkenntnisse in der heutigen Debatte über die Verlängerung des Lebens noch leiten können. Er hatte in seinem Frühwerk noch nicht die Idee der zwei Tode entwickelt, 22 die später in der Krankheit zum Tode zum Tragen kam und die den physischen Tod als »Durchgang zum Leben«, nämlich zum ewigen Leben versteht, wohingegen der psychische Tod hoffnungsloser Verzweiflung den eigentlichen Tod bedeutet, bei dem alles endet. Obwohl die physische Endlichkeit in Entweder–Oder also noch nicht vom Licht des Glaubens an ein ewiges Hier sei nur erinnert an die Hymnen an die Nacht von Novalis und an das Gedicht Mondnacht von Eichendorff, dessen letzte Strophe lautet: »Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die Stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.« Bei Jean Paul werden die Nacht und den Schlaf sogar zu Komplizen der Überlebensstrategie des Schulmeisterlein Maria Wutz, der in ihm nicht vor allem den Trost des Vergessens sucht, sondern vielmehr einen Schutz der eigenen Freiheit vor den Zumutungen des Alltags. 21 In den Stadien werden sich die negativen Affekte der Schwermut, Langeweile (Tungsind) und Angst als Phänomene der Gottesferne und als ein Zustand erweisen, der durch das dritte Stadium, das des Glaubens überwunden werden kann. 22 Vgl. hierzu E. Birkenstock, Heißt philosophieren sterben lernen?, S. 71 ff. 20

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Leben überstrahlt wird, erachtet Kierkegaard sie auch hier schon als das geringere Übel gegenüber der schlechten Unendlichkeit eines nicht endlichen Lebens. Dies macht seinen frühen Entwurf besonders interessant für eine Philosophie, die im Dienste eines rationalen Universalismus auf Glaubensgewissheiten verzichten möchte. Der Grund, weshalb Kierkegaard nicht altern und sterben zu müssen als schlimmer betrachtet als ein hypothetisch unendliches Leben, ist die Überzeugung, dass das menschliche Leben ein konstitutiv zeitliches ist. Nur eine gelebte, dimensionierte und gestaltete Zeit garantiert, nicht in der lähmenden Ödnis des Immergleichen zu erstarren. In den Diapsalmata heißt es: »vergeblich schminkst du einer alten Metze gleich dein zerfurchtes Antlitz, vergeblich lärmst du mit Narrenschellen; du langweilst mich, es ist doch immerzu das Gleiche, ein ewig Einerlei […].« (E–O I, 14, kursiv E. B.) Am Ende des ersten Teils von Entweder–Oder I wird die Idee, dass es schlechter ist, nicht zu altern wieder aufgegriffen und verdeutlicht. Die Sterblichkeit ist die bessere Alternative gegenüber einem schlechten unendlichen Leben 23 , das schlimmer wäre als der Tod, weil die Zeit nicht nur Endlichkeit, sondern auch die Bedingung für Liebe und Glück bedeutet. Dieses Argument sollte in einer Zeit, in der das Nicht-Sterben-Müssen von vielen für wünschenswert gehalten wird, sehr ernst genommen werden. Auch wenn der Biotechnologie in Zukunft eine genetische Manipulation gelänge, die uns biologisch unsterblich machen könnte (was sic stantibus rebus ohnehin in den Bereich der Phantasie gehört), wären wir nicht gleichzeitig in der Lage, die Zeit auszuschalten, und es gälte dann das, was Kierkegaard über den Unglücklichsten sagt: »Er kann nicht alt werden, denn er ist nie jung gewesen; er kann nicht jung bleiben, denn er ist schon alt geworden; er kann gewissermaßen nicht sterben, denn er hat ja nicht gelebt; er kann gewissermaßen nicht leben, denn er ist schon gestorben; er kann nicht lieben, denn die Liebe ist allezeit gegenwartsbestimmt, und er hat keine Gegenwart, keine Zukunft, keine Vergangenheit.« 24 Der Unglücklichste ist ruhelos, doch in seiner Unruhe zugleich gelähmt, er lebt nicht wirklich, ist abwesend und hat keine Gegenwart – aus anderem Grund, aber im Ergebnis ähnlich wie die occupati von Epikur.

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Vgl. S. Kierkegaard, Entweder–Oder I, »Der Unglücklichste«. Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, (KzT), I 200.

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Die Ethik der Selbstwahl in Entweder–Oder

Die lebensverzehrende Gewalt der Zeit auszuschalten, bedeutete gleichzeitig, ihre lebensermöglichende Macht zu vernichten. Dies hätte einen durch nichts zu ersetzenden Mangel an Lebensqualität zur Folge, weil das Leben sich nicht mehr dimensionieren und strukturieren ließe. Ohne das Vergehen der Zeit gäbe es keine Veränderung, ohne ihre Macht keine Vielfalt.

3.2 Die Ethik der Selbstwahl in Entweder–Oder Für den Unentschiedenen ist jeder Weg mit Dornen versperrt. Salomon, Sprüche 15.19

Die Position des Ästhetikers (A) machte vor allem negativistisch, ironisch deutlich, dass es zur Endlichkeit keine wünschenswerte Alternative gibt. Unendliches Leben diesseits des Todes würde allein die schlechte Form der Unendlichkeit, nämlich die ewige Wiederholung des Gleichen bedeuten und wäre daher schlimmer als der Tod. Mit der ethischen Perspektive des Bürgers (B) aus Entweder–Oder II unternimmt Kierkegaard den Versuch, das endliche Leben positiv als einen Selbstwerdungsprozess darzustellen. Festzuhalten ist, dass er sich, hinter dem Pseudonym verborgen, mit keiner der beiden Perspektiven gänzlich identifiziert, wenngleich er de facto eine Präferenz für die von A hatte, sondern sie als mögliche Alternativen vorstellt. Daher kommt der explizit ethischen Position kein grundsätzlich höherer Rang zu als den Fragmenten des Ästheten. Im Konkreten klaffen beide Standpunkte weit auseinander, existenzphilosophisch stellen sie eher zwei Varianten derselben Erkenntnis dar, dass die Endlichkeit für das individuelle Leben konstitutiv ist. Der Dichter antwortet auf sie introspektiv und melancholisch, mitunter auch sarkastisch, der Bürger verantwortungsethisch. Kierkegaard baut die ethische Position als Antwort auf die ästhetische auf. Der Schlüsselbergriff, mit dem der Bürger auf die Indifferenz des Dichters – »Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es gleichfalls bereuen; […]« (E–O I, 22 f.) – antwortet, ist die verantwortliche Entscheidung. Vor dem »Entweder – Oder«, das sich aufgrund der Unwiederholbarkeit und der Unvertretbarkeit in allen entscheidende Lebenssituationen wie Partner- oder Berufswahl stellt, darf eine verantwortlich handelnde Person nicht fliehen. Sie muss vielmehr aufgrund vernünftiger, begründeter Überlegungen eine A

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Entscheidung, eine Wahl treffen. Diese bedeutet nicht nur, dass etwas gewählt wird, ein Beruf, ein Partner, sondern dass sich das Individuum dadurch auch immer selbst in seinem konkreten Sein in der Welt und mit anderen wählt. Indem Entscheidungen getroffen werden, wird das eigene Dasein in eine bestimmte Richtung gelenkt, die nicht kontingent und so eine unverwechselbar eigene ist. Während der Dichter dazu neigt, das ganze Tableau möglicher Entscheidungen immer vor sich offenhalten zu wollen und Entscheidungen daher um jeden Preis aus dem Weg zu gehen versucht, bahnt der Bürger sich einen Weg durch die verschiedenen Möglichkeiten und geht verbindliche Beziehungen ein. Dabei muss er einige Optionen hinter sich lassen und sich an diesen nicht gewählten Möglichkeiten, wie Heidegger von Sein und Zeit sagen würde, schuldig machen. Er verliert dadurch gegenüber dem Dichter Potentialitäten, doch er gewinnt dafür einen aktiven Handlungsstrang. Bei näherer Betrachtung dessen, was Selbstwahl bedeutet, fällt auf, dass ihr von Anfang an ein Wahrheitsanspruch zukommt, mit dem Kierkegaard als Ethikskeptiker nicht gänzlich einverstanden sein kann. B, der Bürger, schreibt in seinem ersten Brief an A, den Ästheten: »es gibt nur ein einziges Verhältnis, in welchem dies Wort [die Wahl] seine absolute Bedeutung hat, jedes Mal nämlich, wenn auf der einen Seite Wahrheit, Gerechtigkeit und Heiligkeit sich zeigen, auf der andern Seite Lust und Neigungen, und dunkle Leidenschaften und Verderben« (E–O II, 143). Die Entscheidung zwischen Gut und Böse ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht das Entscheidende. Entscheidend ist vielmehr das Argument der Selbstoffenbarung, das B gegen A anführt. Nachdem er darauf hingewiesen hat, wie sehr uns oft der Blick auf uns selbst verstellt ist, entwirft er seine eigene Theorie des »Unglücklichsten«, die sich in der Aussage, er könne nicht lieben, sogar mit der von A trifft. Hatte A betont, die Endlichkeit sei eine konstitutive Bedingung der Liebe, die deren Dauer unmöglich mache, betont B die Notwendigkeit, Liebe als Form der Selbstoffenbarung zu verstehen. Selbstoffenbarung heißt, sich nicht im Meer offener Möglichkeiten zu verlieren und zu verbergen, sondern vor dem Hintergrund der eigenen Idee des Guten eine Wahl zu treffen und sich durch diese zu entäußern. Er wirft A vor, er habe nicht die Konsequenz aus seiner Einsicht in die Endlichkeit gezogen und wolle sich »immerfort auf der Spitze des Augenblicks der Wahl halten« (E–I II, 148), d. h. die Wahl immer offenlassen. Dies könnte man auch in den Vorwurf, A wolle nicht älter werden, umformulieren. Dem 98

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hält B entgegen, dass die Wahl selber »für den Gehalt der Persönlichkeit« entscheidend sei, denn: »mit der Wahl sinkt sie nieder in das Erwählte, und wenn sie nicht wählt, so welkt sie dahin in Auszehrung.« (Ebd.) Er zieht also eine ethische Konsequenz aus der Erkenntnis der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins: Da es nicht möglich ist, anzuhalten und Entscheidungen zu suspendieren, ist es unerlässlich, sie den inneren Überzeugungen folgend zu treffen, wodurch man sich als Persönlichkeit offenbart und gleichzeitig gewinnt. Zur überlegten, bewussten Wahl kann es aufgrund des Fortlaufs der Zeit keine Alternative geben, da sonst »dunkle Gewalten« stellvertretend entscheiden und die Persönlichkeit so ihres eigentlichen Potentials berauben (E–O II, 149). Diese Art der passiven Wahl nennt er die ästhetische oder uneigentliche Wahl im Gegensatz zur bewussten, vermittelten, ethischen Wahl (vgl. E–O II, 151). In der Metapher des Welkens liegt ein Hinweis, der für eine aktuelle Theorie gelingenden Alterns fruchtbar gemacht werden kann. Hatte der erste Teil von Entweder–Oder die Zeitlichkeit und Endlichkeit des Lebens überhaupt deutlich gemacht, betont der zweite Teil die praktischen Konsequenzen aus dieser Einsicht, die A nicht zu ziehen bereit war. In den Entgegnungen von B an A schwingt immer der Vorwurf mit, nicht wirklich erwachsen werden zu wollen, Verantwortung zu scheuen und damit die eigene Persönlichkeit im unernsten – und jenseits der Kindheit auch unechten – Stadium der Unreife verkümmern zu lassen. In der Unmittelbarkeit des kindlichen Bewusstseins kann man nach Kierkegaards B zugeordneter Auffassung ebenso wenig verharren wie nach Hegel. Auch ohne teleologische Geschichtsphilosophie und deren Implikationen für die individuellen Biographien gibt es also keine ethische Alternative zur Notwendigkeit der Reifung. Diese bedeutet, dass die lähmende Schwermut, die auch B als einen Beweis der notwendigen Erkenntnis wertet, »dass kein Mensch sich selbst durchsichtig zu werden vermag« (E–O II, 171) überwunden werden muss. Während der Ästhet seine Lebenszeit »immer von einem Kündigungstermin zu dem anderen« berechnet (E–O II, 177), übernimmt der Ethiker eine bindende Verantwortung für sein ganzes Leben, indem er eine Ehe eingegangen ist, die sowohl ein Sinnbild sittlichen Glücksverständnisses ist als auch das einer verbindlichen Lebensform. Dem Freund A empfiehlt er, sich der Verzweiflung, die seiner ästhetischen Lebenshaltung zugrunde liegt, zu stellen, in dem er ihr auf den Grund geht, da nur im Durchgang durch die Verzweiflung die neue Lebensgestalt A

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des Ernstes geboren werden kann (vgl. E–O II, 187 ff.). 25 Auf dieser Erfahrung lässt sich sodann aufbauen, wobei die Selbstwerdung bei Kierkegaard immer als eine ungesicherte, stets neu zu leistende dialektische Anstrengung gedacht werden muss, die Elemente der Notwendigkeit und der Möglichkeit zu synthetisieren versucht. Da der Mensch eine Synthesis aus Freiheit und Notwendigkeit, Unendlichkeit und Endlichkeit ist 26 muss er sein Selbst immer zwischen diesen beiden Polen steuern, sich immer neu wählen, und kann sich nicht darauf verlassen, einen jeweils erreichten Status endgültig zu besitzen. Das Selbstsein ist somit das Gegenteil eines zufriedenen In-sichRuhens, nämlich ein »ruheloser Prozess«, 27 der durchaus ängstigt. 28 Diese Position des Ethikers kann als eine praktische Anweisung zum verantwortlichen Leben und Altern gelten. Sie muss, aufgrund des Wegfalls sowohl einer teleologischen Geschichtsauffassung als auch eines verbindlichen Lebensstufen- oder Lebensaltersmodells, inhaltlich leer und abstrakt bleiben. Dennoch ist das Handeln nicht beliebig, da es sich in jedem Moment vor sich selbst, vor den anderen und vor dem gesamten Kontext, in dem Entscheidungen getroffen werden, verantworten muss. Das Selbst ist so »das Abstrakteste von allem, welches doch zugleich das Konkreteste von allem ist – es ist die Freiheit.« (E–O II, 192) In dem Maße, in dem der Kontext sich verändert, in dem neue, entscheidende Schritte zu vollziehen sind, von der Berufswahl über die Partnerschaft, Elternschaft, zum bürgerlichen, sozialen, politischen Wirken in der Welt, müssen Entscheidungen jeweils revidiert bzw. neu gefällt und verantwortet werden. Sich nicht zu entscheiden, ist – worauf B immer wieder zurückkommt – auch eine Wahl, allerdings eine uneigentliche, allein durch den Verlauf der Zeit verfügte. Daher gibt es keine Alternative zur Wahl. Auch wenn Entscheidungen Wendepunkte herbeiführen, wenn eine Person sich erheblich verändert, wird doch ihre Biographie faktisch Zum Begriff des Ernstes bei Kierkegaard, zu dessen Verständnis immer auch die sokratische Ironie gehört, vgl. M. Theunissen, Der Begriff Ernst bei S. Kierkegaard (1958). 26 Vgl. S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode (1849), XI, S. 127. 27 M. Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung (1991), S. 55. 28 Im Begriff Angst wird als Grund für die Angst gerade die Entwurzelung des Selbst genannt, das sich in jedem Augenblick neu konstituieren muss. Der Geist hat Angst vor sich selber, konstatiert W. Schulz, »das heißt vor der ihm durch den Sprung [in die Freiheit seiner Selbstwahl] aufklaffenden Wirklichkeit seiner selbst, die darin besteht, sich selbst synthetisieren zu müssen.« (W. Schulz, Fichte/Kierkegaard, S. 51.) 25

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Die Ethik der Selbstwahl in Entweder–Oder

durch den Faden der aneinandergereihten Entscheidungen zusammengehalten, auch wenn diese nicht immer autonom getroffen worden sein sollten. Diese faktische Einheit ist nicht dadurch verbürgt, dass das Selbst als eine menschliche Existenz sich nicht grundsätzlich neu erfinden kann, sondern ein »Geschöpf«, ein Geschaffenes, ein faktisch, körperlich Vorhandenes ist: »ich erschaffe mich nicht, ich wähle mich« (E–O II, 193) stellt B hierzu fest. Das bedeutet, dass eine Person die von A tiefer als von B ergründete Faktizität ihrer konkreten Existenz wählen und in dieser faktischen Existenz dann freie Entscheidungen treffen kann. Der Maßstab für die Verantwortlichkeit der Wahl ist dabei jedoch nicht normativ. Kein kategorischer Imperativ fordert dazu auf, die ethische Qualität der Wahl an einer universalisierbaren Handlungsmaxime zu messen. Das einzelne Selbst ist vielmehr nur vor sich selbst und vor Gott, der es gesetzt hat, verantwortlich (vgl. E–O II, 194). 29 Der Bezug auf ein Anderes als sich selbst, der den ethischen Universalismus Kants auf einen Dialog mit Gott und sich selbst zurückführt, macht den entscheidenden Unterschied zur Kontingenz der Entscheidungen beim frühen Heidegger aus. Kierkegaard hat mit großer Argumentationskraft die Endlichkeit und Zeitlichkeit als konstitutiv für die menschliche Existenz beschrieben. Auch die zentralen Begriffe der Selbstwahl und Selbstverantwortung haben bei ihm eine moderne, dem Interesse an der Existenz des einzelnen Subjekts gerecht werdende Ausformung erfahren. Im Folgenden werden wir sehen, wie sich die Selbstwerdung als Folge ethisch getroffener Entscheidungen konkret in ihrem zeitlichen Vollzug darstellt.

An der Bedingtheit der Selbstwahl durch die Unverfügbarkeit des Schöpfungsakts eigener Existenz knöpft die theologische Forschung an. B. Casper betont in einer Studie über E. Lévinas, der eigene Zeitvollzug würde »viel eher erlitten als aus meinem Vermögen heraus vollbracht«. (Vgl. B. Casper, Die Identität in der Nichtidentität der Erwählung zur Verantwortung für den Anderen, S. 365.) Dennoch sprechen Theunissen/ Greve zu Recht von einer »untheologischen Einführung des Gottesbegriffes« insofern er nicht positiv bestimmt wird (vgl. Theunissen & Greve, Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, S. 47).

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3.3 Das Selbst als Redakteur seiner Geschichte It is a platitude that we live our whole lives in the shadow of death; it is also true that we die in the shadow of our whole lives. Ronald Dworkin 30

Mehr als hundert Jahre bevor das Ende der Geschichte verkündet wurde und die große Universalgeschichte mehr und mehr in unzählige differenzierte Individualgeschichten aufgelöst wurde, bevor sich der Paradigmenwechsel hin zur Posthistoire als Protest gegen die Idee universaler Vernunft, die nur noch als verfremdende Ideologie empfunden wurde, vollzog, hatte Kierkegaard bereits nachdrücklich auf die Bedeutung der individuellen Geschichte verwiesen. Da er ihre unbedingte Eingemeindung in die Universalgeschichte verwarf, sie aus der Totalität der Kulturentwicklung herauslöste und nur noch der Verantwortung des einzelnen Individuums unterstellte, hatte er ein Niveau an existentiellem, aber verantwortlichen Individualismus erreicht, das von seinem Nachfolger Heidegger mit dem Geschichtlichkeitsbegriff von Sein und Zeit und mit dem späteren der Seinsgeschichte wieder unterboten wurde. Man könnte sagen, er habe die Vernachlässigung des konkreten Individuums durch die idealistische Moderne korrigiert und die Emanzipation des Individuums weiter vorangebracht, ohne dabei jedoch eine antimoderne Wende zu vollziehen. Der Einzelne wird nicht zum selbstherrlichen Autor seiner eigenen Geschichte erklärt, sondern als deren »verantwortlicher Redakteur«, der das ihm zur Verfügung stehende Material bestmöglich zu verarbeiten hat. Dabei muss er sich vor drei Instanzen verantworten: außer vor sich selbst und vor Gott auch noch vor »der Ordnung der Dinge« (E–O II, 277), vor der einen umgebenden Welt. Er ist allerdings nicht mehr zunächst und vor allem in eine Sinnganzheit eingebettet, sondern die Zeitlichkeit ist allein seine Existenzbedingung. Die Geschichte, die hinter ihm liegt und ihn prägt, muss er umwandeln, aus sich selbst heraus neu hervorbringen und sie sich so zugleich aneignen: Darin liegt nämlich eines jeden Menschen ewige Würde, dass er eine Geschichte bekommen kann, darin liegt das Göttliche an ihm, dass er selbst, so er will, dieser Geschichte Zusammenhang verleihen kann; denn diesen gewinnt sie erst, wenn sie nicht bloß der Inbegriff des mir Geschehenen oder 30

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Das Selbst als Redakteur seiner Geschichte

Widerfahrenen ist, sondern meine eigene Tat, dergestalt, dass sogar das mir Widerfahrene durch mich von Notwendigkeit in Freiheit gewandelt und überführt worden ist. Das ist das Beneidenswerte an einem Menschenleben, dass man der Gottheit zu Hilfe kommen kann, Gott verstehen kann; und das wiederum ist die einzige eines Menschen würdige Weise, Gott zu verstehen, dass man sich in Freiheit alles aneignet, was einem begegnet, sowohl das Frohe wie das Traurige. (E–O II, 224 f., Hervorhebung E. B.)

Untergliedert man diese zentrale Stelle in drei Hauptthesen, so lassen sich folgende unterteilen: 1. Die menschliche Würde liegt in der Besonderheit der aktiv gestalteten Geschichte des einzelnen Individuums. 2. Es liegt in der Verantwortung des Einzelnen, seiner Biographie eine Gestalt zu geben. Versäumt er dies, verläuft sie nicht nur zerfasert, sondern auch nach fremdbestimmten Gesetzen. Eine Flucht vor Entscheidungen ist ohne Aufgabe der Selbstbestimmung unmöglich, da das Vergehen der Zeit immanente Entscheidungen mit sich bringt, die wirksam werden, wenn der Wille zur Wahl nicht aufgebracht wird. 3. Zeitlichkeit und Sterblichkeit sind nicht nur Grund für Angst und Trauer, sondern auch ein menschliches Privileg. Der Mensch kann und soll – hier bleibt Kierkegaard ein Erbe Hegels 31 – in Freiheit das Notwendige akzeptieren, allerdings nicht weil ein Gott der Vernunft alles nach den besten teilbaren Kriterien geordnet hat, sondern weil ein Deus absconditus, der sich in die Welt entäußert hat, auf die Hilfe des Menschen in Form einer Annahme seiner Gesetze angewiesen ist. Der Gedanke der Autonomie, der dahinter steht, ist ein folgendermaßen differenzierter: Das Individuum plant und konstruiert seinen Lebenslauf nicht objektivierend wie ein Architekt, der sich das Ganze eines Gebäudes räumlich vorstellen kann und persönlich nicht unvermittelt involviert ist, weil es sich zum einen in die nicht nur von ihm zu gestaltende Zeit hinein entwerfen muss, und weil es zum andern in die Geschichte und in seine Geschichte hinein geworfen ist, über die es ohnehin nur begrenzt Herr werden kann. Dennoch ist es, sofern es Entscheidungen trifft, in diesen nicht determiniert und vermag das Material seiner Lebensbedingungen auf unverwechselbare Weise zu gestalten. Indem es dem ihm Begegnenden einen Zusammenhang verleiht, macht es sich die Welt zu eigen. Es lebt mit der Geschichte im Hintergrund, aber es formt sie auch mit. Vgl. Adornos These, Hegel sei bei Kierkegaard »nach innen geschlagen«. (Th. W. Adorno, Kierkegaard, Konstruktion des Ästhetischen, S. 49.)

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Inwieweit eine solche Form der Selbstverwirklichung einen Bezug zu Gott aufweist, wird später, in der Definition des Selbst am Anfang der Krankheit zum Tode begrifflich deutlicher. Der Mensch wird von Kierkegaard (alias Anti-Climacus) dort als »eine Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit« gedacht. (KzT, XI 127) Das Selbst entsteht aus dem Verhältnis dieser Dichotomien: »Verhält […] das Verhältnis sich zu sich selbst, so ist dies Verhältnis das positive Dritte, und dies ist das Selbst.« (ebd.) Da das Selbst derart nicht aus einem dem Selbst intrinsischen Schöpfungsakt, sondern aus einer Konstellation entsteht, deren Elemente es nicht selbst hervorgebracht hat, muss es sich gleichzeitig nicht nur zu sich selbst als dem Verhältnis zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit verhalten, sondern auch zu dem Anderen, das diese Bedingungen seiner Existenz gesetzt hat. Das abgeleitete Selbstverhältnis des Menschen verhält sich daher außer zu sich selbst immer auch zu dem Anderen, das es gesetzt hat – zu Gott, aus dessen »Hand« die Synthesis kommt (vgl. ebd., 130). Indem Gott die Menschen in die Selbständigkeit entlässt, setzt er sie der Gefahr der Verzweiflung als der »Krankheit zum Tode« aus. Diese bedeutet nichts anderes als das Versagen vor der Aufgabe, im Verhalten zu sich selbst auch das Verhältnis zum Anderen zu realisieren, sich vor sich selbst und vor dem Anderen zu verantworten. An diese Hypothese lassen sich sowohl theologische als auch praktisch-philosophische Überlegungen anschließen, die an die Stelle des Schöpfergottes Evolution und Genetik, an die des Richtergottes Allgemeinheit und Gesellschaft setzen können. Verfolgt man den Gedankengang des Ethikers in Entweder– Oder II weiter, so findet man nach der Bewährung der menschlichen Würde in der Bewältigung und Ausformung individueller Geschichte als nächstes Argument das der Notwendigkeit, konkrete Entscheidungen treffen zu müssen: Wer […] sich ethisch wählt, der wählt sich konkret als dies bestimmte Individuum, und diese Konkretheit erreicht er dadurch, dass diese seine Wahl eines und das Gleiche ist mit jener Reue, welche die Wahl bestätigt. (E–O II, 225)

Mit dem Begriff der Reue – Heidegger wird später sogar von existentieller Schuld sprechen 32 – verweist Kierkegaard darauf, das jede Entscheidung nicht nur die Wahl einer Möglichkeit bedeutet, sondern 32

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M. Heidegger, Sein und Zeit, § 58 Anrufverstehen und Schuld: »Die Freiheit [der

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Das Selbst als Redakteur seiner Geschichte

gleichzeitig immer auch den Abschied von allen anderen potentiellen Möglichkeiten, die auch hätten realisiert werden können. Jede Biographie wird so unweigerlich von genau dem Schatten unverwirklichter Möglichkeiten begleitet, den die Unentschlossenen um jeden Preis vermeiden wollen. Die Freiheit zur Selbstentfaltung wird also nicht nur von der Pflicht zur Verantwortung der einzelnen Entscheidungen begleitet, sondern auch von dem bewussten Verzicht auf Wege, an deren Kreuzung man sich anders hätte entscheiden können. Indem eine Möglichkeit realisiert und somit in Wirklichkeit verwandelt und verantwortet wird, wird sie in doppelter Hinsicht zur Aufgabe: Das nicht Realisierte wird aufgegeben, das gewählte als Herausforderung akzeptiert. 33 Wie wir bereits am Beispiel des Begriffs vom »Umschiffen« gesehen haben, ist der Daseinsentwurf bei Kierkegaard nicht als eine sterile Planung vorzustellen, sondern als der Versuch, so gut wie möglich die Zukunft zu antizipieren, wobei das konkrete Verhalten jedoch an die jeweilige Wirklichkeit adaptiert werden muss. Ein Schlüsselbegriff für eine gelingende Selbstverwirklichung ist nach der impliziten Ethik von Entweder–Oder II die Selbsterkenntnis, die Kierkegaard als Fähigkeit beschreibt, sich selbst durchsichtig zu werden. Dabei knüpft er metaphorisch an das Ideal der Aufklärung an. Sich selbst durchsichtig zu werden ist das Gegenteil davon, »dunkle und unklare« Vorstellungen zu haben. Diese Identifikation des Ethischen mit dem Durchsichtigen findet sich nicht zufälligerweise an der Stelle, an der B auf die Furcht vor dem Tod zu sprechen kommt, die er als Paradebeispiel für Selbstverdunklung anführt. Todesfurcht, die zur Flucht vor der gedanklichen Antizipation des Todes wird, erwächst aus einer Abneigung davor, sich selbst durchsichtig zu werden (vgl. ebd., 227). Da Durchsichtigkeit mit dem Ethischen gleichgesetzt wird (vgl. ebd., 228), wird also von einem ethischen Leben erwartet, dass es sich seiner Endlichkeit bewusst ist. Später betont B dies noch einmal, indem er das ethische Individuum dem ästhetischen gegenüberstellt und meint, der Hauptunterschied zwischen beiden sei der, dass »das ethische Individuum sich selbst durchsichtig ist und nicht ›ins Blaue hinein‹ lebt« wie das ästhetische (ebd., 231). Zum Ernst des Wahl] aber ist nur in der Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen.« (S. 285) 33 Zur Kritik des ästhetischen Begriffs der Möglichkeit durch den ethischen Begriff der Aufgabe vgl. E–O II, 225 f. A

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Selbstwerdung in der Retrospektive – biographische Einheit

Konkreten, 34 dem sich das ethische Individuum durch die Selbstwahl stellt, gehört daher auch die Realisierung der Wirklichkeit eigenen Alterns und Sterbens. Eine ethisch verantwortliche Redaktion des eigenen Lebens setzt also voraus, dass dieses als eine Ganzheit betrachtet wird, die auch wenn sie nicht von Anfang bis Ende planbar, dennoch zu projektieren ist. Der Ethiker nennt den Verfall der Biographie in vielfältige unverbundene Einzelerlebnisse kleinmütig und unethisch (vgl. ebd., 231), weil nur der Versuch, einzelne Entscheidungen in einem Kontext zu verankern, bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Als für einen solchen ganzheitlichen Lebensentwurf unabdingbare Eigenschaft werden Energie und Entschlusskraft hervorgehoben, also das Gegenteil von Depression. Hier steht Kierkegaard in Gestalt seines Pseudonyms in der von Luther übernommenen pragmatisch-reformatorischen Tradition der Identifikation von Depression mit Gottesferne. Die Hoffnung zu verlieren und dem Leben keinen Sinn mehr geben zu wollen oder zu können bedeutet Sünde, weil am Versprechen der Erlösung gezweifelt wird. 35 Daher äußert B folgenden Wunsch, der gleichzeitig eine Aufforderung an sich selbst darstellt: ich habe kein höheres Verlangen, als dass ich in jedem Lebensalter meine Arbeit mit der gleichen Energie, dem gleichen ethischen Ernst anpacken möge wie damals. […] Gib einem Menschen Energie, Leidenschaft, und er ist alles. (Ebd., 240; Hervorhebung E. B.)

Die Frage, welche psycho-mentale Präsenz nötig ist, um im hohen Alter noch Redakteur/in des eigenen Lebens bleiben zu können, wird im 7. Kapitel wieder aufgegriffen. Eine Zusammenfassung der Kierkegaardschen Idee von der Redaktion der eigenen Biographie, muss folgende Elemente festhalten: Das eigene Leben ist endlich und zugleich in einen sozialen Kontext verwoben. Sowohl den getroffenen als auch den verworfenen Entscheidungen gegenüber trägt man Verantwortung, ebenso wie gegenüber sich selbst und den bzw. dem Anderen in Gestalt der Mitmenschen und ggf. auch gegenüber der höchsten transzendenten Instanz. Indem für die an den Scheidewegen eingeschlagene RichVgl. M. Theunissen, Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard, S. 95: »Sofern der Ernst sich wesentlich auf Wirklichkeit bezieht, sind die Stadien menschlicher Verwirklichung, Beschränkung und Dialektisierung die Stufen des Ernstseins. Erst im entschiedenen Selbstsein erringt der Mensch seine eigentliche Wirklichkeit.« 35 Vgl. R. Klibansky u. a., Saturn und Melancholie, S. 12 u. 563. 34

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Das Selbst als Redakteur seiner Geschichte

tung schon dadurch Verantwortung übernommen wird, dass man nicht den vergeblichen Versuch unternimmt, als gesamte Lebenshaltung stehen bleiben zu wollen und im Augenblick zu verharren wie der Ästhet, bildet sich das Leben als eine geformte, nicht beliebige, aber dennoch offene Ganzheit, insofern sie zwar in ein bestimmtes Koordinatensystem gestellt, aber nicht vorbestimmt ist. Den inneren Zusammenhalt eines Lebensentwurfs, der nicht in steriler, zwanghafter und aufgrund der unverfügbaren Zukunft ohnehin unmöglicher abstrakter Planung bestehen kann und der dennoch nicht kontingent ist, hat Dworkin in Life’s Dominion als »sense of the general style of life« bezeichnet 36 . In dem Kapitel über den Tod und das Leben, das mit der interessanten Feststellung beginnt, es sei eine Plattitüde zu behaupten, wir lebten im Schatten des Todes, und es sei mindestens ebenso wahr, dass wir im Schatten unseres Lebens stürben, 37 geht es gerade um das zwischen Entweder–Oder I und II verhandelte Problem der ganzheitlich ausgerichteten Lebensführung. Dworkin löst dieses Problem pragmatisch, indem er davon ausgeht, es gebe dafür eine Art Gefühl. Ebenso wie eine penible Lebensplanung und das dazugehörige Kontrollbedürfnis auf der einen Seite Gefahr laufen, aufgrund ihrer Lebensferne zur Selbstverfehlung zu werden, bleibt auf der anderen Seite auch in scheinbar chaotischen Lebensverläufen eine Linie zu erkennen, aus deren Existenz er auf den immanenten Sinn für das Ganze des Lebens schließt. 38 Der Gedanke einer immanenten Sinnhaftigkeit der Lebensführung wird durch soziologische Untersuchungen bestätigt, die aus Interviews über Lebensläufe gewonnene Ergebnisse mit mathematischen Modellen aus der Chaosforschung kombinieren. Sie zeigen, dass auch bei notwendigerweise vorhanden Brüchen und Diskontinuitäten doch immer eine integrierte Struktur vorliegt. Es bilden sich Muster heraus, die nur dadurch zu erklären sind, dass Menschen im Lebensverlauf immer wieder Entscheidungen treffen, die ihrem spezifischen Profil entsprechen, und die jedes Individuum »sich selbst ähnlich« machen. 39 Solche Muster lassen sich vor allem in Längsschnittstudien feststellen, also mit Kierkegaard gesprochen, vom Ende des Lebens her gesehen. R. Dworkin, Life’s Dominion, S. 202. Ebd., S. 199. 38 Ebd., S. 202. 39 Vgl. hierzu J. J. F. Schroots, Muster, die verbinden – Fraktale Formen von Biographien im Alter. 36 37

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Dies bedeutet, auf Entweder–Oder übertragen, dass auch die Weigerung von A, sich zu einer Wahl zu entschießen – eine Ablehnung, die in der Flucht vor der Eheschließung ihren höchsten Ausdruck findet – zu einem integrierten Persönlichkeitsmuster gehört. B könnte also nach neuesten Erkenntnissen mit seinem Plädoyer für die Ganzheit des Ethischen gegenüber der Gebrochenheit des Ästhetischen Lebens nicht gänzlich recht behalten. Dennoch kann sein Freiheits- und Autonomiebegriff, der den Anderen mit einbezieht, für eine Theorie humanen Alterns grundlegend sein. Ein fremdbestimmtes Leben kann ein sinnvolles Muster aufweisen, doch fehlt ihm die konkrete, praktische Form der Selbstbestimmung, die ein wesentliches Element moderner Existenzauffassung darstellt.

3.4 Das Streben nach Ganzheit bei Heidegger Auch bei Heidegger bleibt das Ausgreifen auf die Lebensganzheit eine Antwort auf die dunklen Stimmungen der Angst und der Verzweiflung angesichts der Einsamkeit eines nicht mehr in ein weitgehend kompaktes Weltbild eingebundenen Individuums. Gelingt es dem Menschen nicht, die Verzweiflung der Konfrontation mit dem Nichts zu überwinden, erleidet er nach Kierkegaards späterer Konzeption in der Krankheit zum Tode – wie schon der Unglücklichste in Entweder–Oder I – die höllischen Qualen des Nichtsterbenkönnens, weil er dann so abgrundtief in die Hoffnungslosigkeit versinkt, dass ihm jede Aussicht auf ein Ende der Leidenszeit, sei es auch durch den eigenen Tod, versperrt bleibt. In diesem Fall kann der Verzweifelte das nicht leisten, was Kierkegaard in seiner Grabrede als eine Antizipation des Todes beschrieb 40 und was er in der Wiederholung metaphorisch das »Umschiffen« des Daseins nannte 41 : dass man Lebenskraft schöpfen kann, indem man sich das Ganze seines Lebens bis zum Ende hin antizipierend aneignet. Von einer Antizipation des Todes ist in der Krankheit zum Tode nicht die Rede, da es in ihr nicht um seine lebenspraktische Bewältigung geht, sondern um das Ausloten der Verzweiflung und um die Möglichkeit ihrer Überwindung. Bei Heidegger ist es die Geworfenheit als Ausdruck der ständigen Unsicherheit über die eigenen Existenzgründe und -möglichkei40 41

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S. Kierkegaard, An einem Grabe. Vgl. S. Kierkegaard, Die Wiederholung, III 174, S. Kap. 3.

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Das Streben nach Ganzheit bei Heidegger

ten, die das selbstbewusste, einzelne Dasein zu einem Ausgreifen auf die faktische und prospektive Ganzheit zwingen: Das Dasein hat auf Grund seiner ihm wesenhaft zugehörigen Befindlichkeit eine Daseinsart, in der es vor es selbst gebracht und ihm in seiner Geworfenheit erschlossen wird. Die Geworfenheit aber ist die Seinsart eines Seienden, das je seine Möglichkeiten selbst ist, so zwar, dass es sich in und aus ihnen versteht (auf sie sich entwirft). 42

Im Todeskapitel von Sein und Zeit löst er den Tod als Grenzereignis zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Selbstbewusstsein und Selbstverlust völlig in den Lebensprozess auf. 43 In diesem Zusammenhang spielen jedoch weder die Mängel einer den Tod einerseits durch Subjektivierung und Internalisierung verkürzenden Strategie eine Rolle, noch die Gefahr eines sich beim »Vorlaufen zum Tod« immer mit dem eigenen Ende konfrontierenden Heroismus. Wichtig ist allein die Idee der Verknüpfung von Erschlossenheit (Erkenntnis) und der Ganzheit, wie sie sich erhalten und verändert hat. Beim antiken Lebensaltermodell setzte sie sich aus dem natürlich vorgegebenen An- und Abstieg der Lebensstufen zusammen. Die Rolle des Individuums bestand in der Bewältigung der einzelnen, aber ineinandergreifenden Lebensabschnittsaufgaben, der individuellen wie sozialen Nutzung der gegebenen Fähigkeiten, und schließlich der Bereitschaft zum Loslassen, zum Sterben. Hegel betonte die Unauflösbarkeit allgemeiner und individueller Entfaltung und führte das Element der Rückbesinnung und Rückschau auf die eigene Biographie sowie den Begriff der Versöhnung mit dem Anfang ein. Die auf das Ganze des eigenen Lebens bezogene Rückschau wird von Kierkegaard vom Alter gelöst, indem das Individuum bereits früh seinen Tod hypothetisch in sein Leben einbezieht und von diesem Fluchtpunkt her, durch den Perspektivenwechsel, eine bessere Orientierung gewinnt. Zugunsten eines zwar ganzheitlichen, aber nicht mehr auf Lebensalter bezogenen Konzepts des Individuums gewinnt er Freiräume für dessen nicht auf mehr oder weniger normierte Stufen festgelegte selbstbestimmte Entfaltung, verliert aber dadurch Maßstäbe »altersgemäßen« Verhaltens. Heidegger radikalisiert diese Emanzipation in seinem frühen Werk sogar noch weiter und richtet den Blick besonders entschlossen auf die Zukunft als den durch den M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 181. Vgl. E. Birkenstock, Heißt philosophieren sterben lernen?, S. 68 ff.; A. Hügli u. H. Byung-Chul, Heideggers Todesanalyse.

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Tod nicht zerstörten, sondern eröffneten und befreiten Horizont des Selbstentwurfs: »das Sein zum Tode als Vorlaufen in die Möglichkeit [der Unmöglichkeit, weiter zu existieren] ermöglicht allererst diese Möglichkeit [der Selbstwerdung] und macht sie als solche frei.« 44 Die Freiheit und Diversifikation, zu der die postmoderne Loslösung von verbindlichen Modellen führte, hat uns heute die Möglichkeiten ungeheurer Vielfalt in der Gestaltung des eigenen Lebens und Alterns geschaffen, vom emanzipatorischen Ausbruch aus den Rollenbildern passiven Alterns bis hin zum Versuch, diese überhaupt zu leugnen und zur Weigerung, sich selber als alt zu betrachten. Auf der Verlustseite dieser Emanzipation steht vor allem die Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen. Waren die antiken und aufklärerischen Modelle sowie der Ethiker des frühen Kierkegaard noch selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Realisierung der individuellen Lebensentwürfe sich auch vor anderen zu rechtfertigen habe, wird die Verantwortung beim späten Kierkegaard transzendentalisiert, indem sich das Individuum nur noch vor Gott zu verantworten hat. Beim frühen Heidegger wird sie hingegen internalisiert und in den Selbstverwirklichungsprozess aufgelöst. Rechtfertigen muss sich das Dasein nur vor sich selbst hinsichtlich seiner nicht realisierten Möglichkeiten. Schuldig macht es sich allein in Bezug auf das Versäumen einer zugunsten einer anderen Option. Dasein ist je seine Möglichkeit […]. Und weil das Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist, kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst »wählen«, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur »scheinbar« gewinnen. Verloren haben kann es sich nur, sofern es seinem Wesen nach mögliches eigentliches, das heißt sich zueigen ist. 45

Die existentiell-ethische Grundfrage nach dem eigentlichen Dasein, das unablässig gegen das Abfallen in den uneigentlichen Zustand der Verlorenheit an das »man« ankämpfen muss, gegen die verlockende Flucht in die Alltäglichkeit und Banalität, wird an die gedankliche Antizipation des eigenen Todes geknüpft. Ohne auf das konkrete Phänomen des Alterns einzugehen, integriert Heidegger in die Analyse der Begriffe der Daseinsganzheit, des Vorlaufens zum Tod – welches die Realisierung dieser Ganzheit im Horizont der eigenen Existenz bedeutet – sowie der Zeitlichkeit als der Bedingung allen 44 45

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M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 262. Ebd., S. 42.

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Das Streben nach Ganzheit bei Heidegger

Existierens, implizit auch das Thema der konkreten eigenen Endlichkeit. Dass er das Altern nicht als eigene Lebensphase thematisiert, hat denselben Grund, weshalb er nicht über das Sterben, sondern über die Todesnähe im Allgemeinen spricht. »Der Tod ist eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist«, schreibt er in § 48 von Sein und Zeit, und zitiert weiter aus dem Ackermann aus Böhmen, einer spätmittelalterlichen Schrift über den Tod: »›Sobald ein Mensch zum Leben kommt, sogleich ist er alt genug zu sterben.‹« 46 Dadurch, dass das Dasein ein strukturell zeitliches ist, ist es immer dem Tod nah und einem permanenten Verfallsprozess unterworfen, der sich allerdings durch Aneignung, durch das bewusste »Vorlaufen zum Tod« und durch das Zu-sich-Selbst-Kommen im Widerstand gegen das Verfallen an das »man«, bewältigen lässt. Gerade weil das Dasein zeitlich und vergänglich ist, weil es seine Existenz, in die es ohne eigenes Zutun geworfen ist, wählen muss, hat es die Möglichkeit, es selbst zu werden: »Das faktisch geworfene Dasein kann sich nur ›Zeit‹ nehmen und solche verlieren, weil ihm als ekstatisch erstreckter Zeitlichkeit mit der in dieser gründenden Erschlossenheit des Da eine ›Zeit‹ beschieden ist.« 47 Die praktische Frage (Tugendhat 48 ) des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens wird mit neuer Radikalität hinsichtlich der eigenen, in Teilen immer erst hypothetischen Lebensganzheit gestellt, und zwar sowohl im Sinne der Ausrichtung einzelner Handlungen als auch im Sinne der Verantwortung vor dem Ganzen des eigenen Lebens. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Freiheit, zu der die Individualisierung der Selbstverwirklichung führt und auf der darin implizit enthaltenen Überwindung der Angst vor Alter und Tod durch Aneignung der Endlichkeit im Sinne eines eigentlichen, erfüllten, selbstbestimmten Lebens in der Zeit als dem Horizont allen Seins 49. Die Konzentration auf das einzelne Dasein einerseits, die Dispersion in die universale Zeit des universalen Seins andererseits, und darüber hinaus die Ausblendung der sozial-kommunikativen Dimension führen dazu, dass der Gedanke, dass verschiedene Lebensphasen unterschiedliche Stärken und Schwächen mit sich bringen, keinen Platz hat. Indem die Anderen zum gesichtslosen »man« verschmelzen 46 47 48 49

Ebd., S. 245. Ebd., S. 410. Vgl. E. Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, S. 88. Vgl. die Frage, mit der Sein und Zeit endet, S. 437. A

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Selbstwerdung in der Retrospektive – biographische Einheit

und allein die negative Folie für die eigentliche Selbstwahl abgeben, werden zwar die theoretischen Grundlagen für ein maximal selbstbestimmtes, nicht aber für ein sozial verantwortliches, dialogisches Leben geschaffen. Während dem Alter als besonderer Lebensphase in Sein und Zeit, kohärent zu Heideggers Enthaltsamkeit gegenüber allem Biographischen, überhaupt keine Bedeutung zukommt, kann man am Beispiel der Kunstbetrachtung anhand des Stillebens Ein paar Schuhe von Vincent van Gogh in Der Ursprung des Kunstwerkes 50 etwas von seinem positiven Verhältnis zum Alter erahnen. Um zu erklären, was er unter dem »Zeughaften« versteht, unter einem Ding, das durch den spezifischen Gebrauch, den man von ihm macht, so etwas wie eine eigene, unverwechselbare Geschichte und Gestalt erhält, bedient er sich nicht zufälligerweise des Bildes alter Schuhe. An ihnen zeigen sich die Spuren der Vergangenheit, die von dem spezifischen Verhältnis ihrer Benutzerin zu der Welt, in der sie lebte, zeugen, aber auch das allgemeine Gesetz von Entstehen und Vergehen: »In dem Schuhzeug schwingt […] das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes.« 51 Es ist zu einem Bestandteil der Welt der Bäuerin geworden, die es benutzt hatte, und wird gleichzeitig zu einer Metapher für das individuelle Leben, das durch seinen Vollzug in der Zeit und in seinem Vergehen eine unverwechselbare Gestalt erhält, in der alle Zeichen des Sich-Verbrauchens im Hegelschen Sinn aufgehoben bleiben. Hier thematisiert Heidegger konkret, was er auch in Sein und Zeit unter dem Titel der »Geschichtlichkeit« angesprochen hatte: Prägung und Zugehörigkeit: »Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. Aus diesem behüteten Zugehören ersteht das Zeug selbst zum Insichruhen.« 52 Die Kunstbetrachtung eines Stillebens lässt sich nur begrenzt auf den Komplex des menschlichen Daseins übertragen. Aber in der Vermenschlichung der Beschreibung – die Schuhe sind »behütet« – drückt sich durchaus der implizite Wunsch nach einer ähnlich sinnerfüllten Geborgenheit des alten Menschen aus. Da er keine feste Bestimmung hat wie ein Zeug, sondern sich im unbestimmten Raum der ontologischen Differenz bewegt, im »Zwischen«, das den Raum zwischen dem Sein und dem Seienden ausfüllt, bleibt er letztlich ein 50 51 52

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M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36), in: Holzwege, S. 18 ff. Ebd., S. 19. Ebd., S. 19.

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Das Streben nach Ganzheit bei Heidegger

»Fremdling«. 53 Weil sich kein Ausweg aus dieser prekären Lage anbietet, bleibt nichts anderes übrig, als die Größe aufzubringen, die Rolle des metaphysisch Heimatlosen zu übernehmen. In der poetischen Sprache Hölderlins findet Heidegger diese Situation beschrieben. Er zitiert am Ende von Die Zeit des Weltbildes, der Schrift, die sich mit den Errungenschaften und Verlusten der Neuzeit auseinandersetzt, das Gedicht »An die Deutschen« 54 : Wohl ist enge begränzt unsere Lebenszeit, Unserer Jahre Zahl sehen und zählen wir, doch die Jahre der Völker, Sah ein sterbliches Auge sie? Wenn die Seele dir auch über die eigne Zeit Sich die sehnende schwingt, trauernd verweilest du Dann am kalten Gestade Bei den Deinen und kennst sie nie.

Die einzige Erfüllung, die die menschliche Sehnsucht nach Geborgenheit in einem Sinnzusammenhang finden kann, liegt in der Transzendierung der konkreten Existenz durch die Sprache, denn: »Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung.« 55 Durch den Verweis auf die großen Horizonte des Seins und der Zeit, auf die sich das Denken und Sprechen zubewegen, relativiert sich das Leiden am engen und begrenzten Horizont des eigenen, vereinzelten Daseins. Die Sprache des Denkens und der Kunst geben die Möglichkeit, diesen zu überschreiten und an einer Welt teilzuhaben, die größer ist als die einen unmittelbar umgebende. Hierin liegt Heideggers spätere, gegenüber Sein und Zeit unheroische, aber nicht resignierte Antwort auf die Endlichkeit des einzelnen Daseins, die allerdings weiterhin gegenüber den Dimensionen von Dialog und Kommunikation verschlossen bleibt. In der Dichotomie zwischen Kritik an der Moderne einerseits und Sehnsucht nach Geborgenheit in der archaischen, bäuerlichen Welt andererseits, fehlt das Vermittelnde einer urbanen Theorie des Zusammenlebens in allen Lebensphasen, die sowohl für die Antike als auch für den Idealismus typisch war. 53 54 55

Ders., Die Zeit des Weltbildes (1938), in: Holzwege, S. 94. Ebd., S. 94 Ders., Brief über den »Humanismus« (1946) in: Wegmarken, S. 311. A

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4 Moderne Konfrontationen mit dem Negativen – Sartre, de Beauvoir, Améry und Bobbio … im Alter bleibt alles leer; nur das Herz voll Sehnsucht, das sich vom erschöpften Leben nichts versprechen kann. Jean Paul

Im Unterschied zur antiken Rhetorik Ciceros und zu seinen unmittelbaren idealistischen Vorgängern hatte Kierkegaard die konkrete, individuelle und von Negativität durchzogene Existenz in den Mittelpunkt seines Denkens gestellt. Das Gegengewicht, mit dem er die Negativität ausbalancierte, war zum einen die Ironie – nicht sterben zu können wäre immer noch schlimmer als das faktische Sterben müssen –, zum andern der Bezug auf den transzendentalen Grund der endlichen Existenz. Indem er die Endlichkeit als konstitutiv und die Bewältigung des endlichen Lebens als eine zu verantwortende Aufgabe betrachtete, konnte er auch ohne auf eine Sinnganzheit der Universalgeschichte zurückzugreifen die Einheit des Lebens zusammenhalten. Nach den beiden Weltkriegen und dem absoluten Zivilisationsbruch durch den Holocaust, der jeden vielleicht noch vorhandenen Rest an Überzeugung zerstörte, menschliches Handeln sei in historischer wie individueller Dimension allgemein von einer höheren Vernunft geleitet, fiel der Pessimismus ins Bodenlose. Das Einzige, was sich rettete, war im Falle der ersten beiden Autoren, JeanPaul Sartre und Simone de Beauvoir, die Utopie einer friedlichen und gerechten demokratischen Gesellschaft, von der sie hofften, sie könne dem metaphysisch heimatlosen Individuum Geborgenheit versprechen. Im Gegensatz zur ausweglosen Trauer des Mimnermos ist Sartres Pessimismus konstruktiv, und die Schrift über das Alter von de Beauvoir endet mit der Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft, deren Realisierung allerdings erst nach dem Durchgang durch die Negativität einer stets bedrohten Existenz, die im Altern ihren besonderen Ausdruck findet, möglich ist. Améry betont den individuellen Widerstand gegenüber der Sterblichkeit, und Bobbio bietet eine Ergänzung zur französischen Existenzphilosophie, indem er als Rechtsphilosoph das Engagement für das Öffentliche vertritt, gleichzeitig jedoch den Rückzug in die private Welt der Erinnerung und 114

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Sartres Ekel vor der Klebrigkeit der Zeit als Angst vor dem Altern

den besonderen Bezug des Alters zur Vergangenheit gegenüber dem Verdikt de Beauvoirs rehabilitiert.

4.1 Sartres Ekel vor der Klebrigkeit der Zeit als Angst vor dem Altern In Sartres philosophischem Hauptwerk L’être et le néant von 1943 1 findet sich keine explizite Altersanalyse. Das Thema des Alterns wird jedoch implizit im Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft und von objektiver Welt (An-sich) und subjektivem Bewusstsein (Fürsich) verhandelt. Die Vergangenheit ist bei Sartre, der Hegel über die Interpretation Jean Wahls kannte, 2 ebenfalls die Dimension der Erinnerung, aber auch der Unfreiheit; die Zukunft ist die Dimension möglicher Freiheit, mit der sich das Individuum über sich selbst hinaus auf ein anderes Sein hin entwerfen kann. Das An-sich bedeutet die Welt der Dinge, des Fremden, gegen deren Herrschaft sich das Für-sich behaupten muss. Das Selbstbewusstsein muss sich unablässig gegen die verschlingende Macht der Außenwelt wehren. Der Tod des Individuums bringt jedoch unvermeidlich den Augenblick, in dem es seine Gegenwart und Zukunft verliert und nur noch Vergangenheit ist (vgl. 229/158). Von da an sind die Verstorbenen dem Urteil der Anderen ausgeliefert und haben aufgehört, ein Selbstverhältnis zu sein, indem sie sich nicht mehr von ihrer Vergangenheit distanzieren können und so dem An-sich anheimfallen. Für den Prozess des Anwachsens der Vergangenheit und des Schrumpfens der Zukunft hin bis zu deren völligem Verschwinden benutzt Sartre die Metapher der Klebrigkeit. Die Zeitlichkeit des Für-sich kommt aufgrund dieser Klebrigkeit mit Eintritt des Todes zum Stillstand, da die Gegenwart an der Vergangenheit haften bleibt und so den Sieg des An-sich besiegelt: »Dieser Sieg ist der Tod, denn der Tod ist das radikale Anhalten der Zeitlichkeit durch Vergangenmachen des ganzen Systems oder, wenn man lieber will, Wiedererfassen der menschlichen Totalität durch das An-sich.« (283/193) Das Bewusstsein als J.-P. Sartre, L’être et le néant (1943), dt.: Neuübersetzung Das Sein und das Nichts (1993). Die Zitate stammen aus dieser Übersetzung, die entsprechenden Seitenzahlen des Originals sind beigefügt. 2 J. Wahl, Le malheur de la conscience dans la philosophie de Hegel, vgl. den Hinweis im Nachwort zur Neuübersetzung von Das Sein und das Nichts von T. König, S. 1078. 1

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der Garant des Für-sich, des Selbstverhältnisses, hat gegenüber der Übermacht des An-sich verloren. 3 An einer späteren Stelle, im letzten Kapitel über Handeln und Haben, bezeichnet Sartre die Klebrigkeit sogar als die »Rache des An-sich« (1042/701), weil das Für-sich so lange versucht hat, sich seiner Herrschaft zu widersetzen. Mit anderen Worten: Die reine, unbeseelte Körperlichkeit des Leichnams ist der Triumph der Materie über das Bewusstsein und dessen Versuch, sich von den Zwängen der Weltlichkeit und der Körperlichkeit zu befreien. Sartre meint, ein pathologisch gesteigerter Ekel vor dem Klebrigen enthülle die tiefe Furcht davor, »dass die Zeit klebrig wird, dass die Faktizität kontinuierlich und unmerklich fortschreitet und das Für-sich, das ›sie existiert‹, ansaugt.« (1044/702) So weit ist seine abstrakte und unbenannte, aber deswegen nicht unkenntliche Beschreibung des Alterns und Sterbens vollkommen negativ und vollkommen realistisch. Sieht man individuelles Existieren als die lebendige Realisierung von Zeit an, deren Lebensgrundlage ein materieller, endlicher Körper darstellt, muss dieser Prozess mit dem Erschöpfen der physischen Energieressourcen zum Stillstand kommen, anhalten, festkleben. Doch nachdem er die volle Negativität dieser Erkenntnis ausgeschöpft hat, vollzieht er eine ethische Wende, indem er die Klebrigkeit als das »Symbol des Antiwerts« schlechthin definiert (ebd.). Er betont, dass die pathologische Abscheu vor ihr, in der er eine besondere existentielle Tiefe ausmacht, nicht nur und nicht vor allem als Angst, als horreur vor dem Tod verstanden werden darf. Vielmehr als vor dem eigenen Tod sollte das Subjekt nämlich vor der Möglichkeit einer Umwertung des Seins erschrecken, nach der das An-sich höher bewertet wird als das Fürsich. Der physische Tod, heißt das, ist unvermeidlich und negativ, aber – indem er unserer Verfügungsgewalt ohnehin entzogen ist – weniger schlimm als der psychomentale Tod, der darin besteht, sich nicht mehr gegen die generelle Herrschaft der Dinge zu behaupten. Die ausführlichen Abhandlungen vom Anfang des letzten Kapitels, aus dem zitiert wurde, gelten dem Besitz, dem Verhältnis des selbstbewussten Menschen zu den Gegenständen, mit denen er sich umgibt, die er zu beseelen vermag, von denen er jedoch auch beherrscht werden kann, und die er zur Herrschaft über andere missbrauchen kann. Das heißt, die Ethik guten Alterns, die sich aus dieser moralis3

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Vgl. M. Dornberg, Gewalt und Subjekt, S. 429.

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Sartres Ekel vor der Klebrigkeit der Zeit als Angst vor dem Altern

tischen Wende ableiten lässt und die kohärent mit Sartres politischem Denken ist, besteht in einem Aufruf dazu, den Tod nicht schon im Leben zu antizipieren, indem man dem bloßen, unbeseelten Haben, dem Schein, mehr Wert beimisst als dem Für-sich und vor allem auch dem Für-andere-sein als der Form selbstbewussten und kommunikativen Existierens, die das eigentliche Personsein ausmacht. Die Annäherung an den Tod, die das Altern in einer Hinsicht mit sich bringt, hat für Sartre keinerlei Bedeutung. Zum einen deshalb nicht, weil er Heideggers Urteil teilt, wir seien dem Tod immer gleich bzw. immer verschieden nah, zum andern lehnt er als Kriegsgegner jegliche Hypostasierung des Todes als Sinnstifter entschieden ab. In dem Abschnitt E) Mein Tod im 1. Kapitel des 4. Teils von L’être et le néant 4 verwirft er explizit das Heideggersche Vorlaufen zum Tod und damit auch implizit das Umschiffen Kirkegaards als Versuche, den Tod als eine unverfügbare Tatsache der Faktizität des Daseins zu subjektivieren und in das Leben einzugemeinden. 5 Vielmehr behauptet er die Absurdität des unplanbaren Todes und die Unabhängigkeit der Entwürfe von der Begrenzung durch die eigene Endlichkeit. Die in unserem Zusammenhang wichtigste Wendung, die er gegenüber der früheren Existenzphilosophie macht, ist die Trennung von Tod und Endlichkeit. Mit ihr sprengt er die egozentrische Begrenzung von Verwirklichungsprojekten auf die Dauer des jeweils eigenen Lebens, ohne dabei jedoch den Gedanken der Individualität aufzugeben, die er nach wie vor an die endliche Realisierung eigener Freiheit knüpft: Wenn ich mich mache, mache ich mich endlich, und daher ist mein Leben einmalig. Von da an ist es mir, und wäre ich unsterblich, versagt, »etwas rückgängig zu machen«; die Unumkehrbarkeit der Zeitlichkeit versagt es mir, und diese Unumkehrbarkeit ist nichts anderes als das besondere Merkmal einer Freiheit. (631/938 f.)

Das Entscheidende an diesem Freiheitsbegriff ist, dass er nicht auf Willkür und Beliebigkeit der Entwürfe zielt, sondern auf moralische Verantwortung. Ohne die bürgerlichen Wertvorstellungen von B aus Entweder–Oder II zu teilen, argumentiert er ähnlich wie der Ethiker: Es gibt keine Möglichkeit, die Zeit anzuhalten, auf der Spitze eines in 4 5

J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 914 ff./ 615 Vgl. Ebd., S. 917/617 A

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die Ewigkeit verlängerten Augenblicks zu verweilen, und das Leben ist unumkehrbar. Daher bleibt nichts anderes übrig, als die Entscheidungen, die man trifft, mit deren Verwirklichung man Zeit vollzieht, in dem Sinne zu verantworten, dass man sie an einer projektiven Vorstellung davon ausrichtet, wer man werden und was man für andere tun möchte. Eine solche Ethik, deren theoretische Ausarbeitung Sartre am Ende von L’être et le néant angekündigt 6 hat, und die dann erst posthum erschienen ist 7 , kommt ohne Normen im Sinne einer Ethik des Sollens aus, bezieht ihre Maßstäbe aus einer humanistischen Utopie und bewährt sich in der Praxis. »Der eigentliche Sartre«, meint Gadamer daher, sei »wie sein Lebenswerk zeigt, natürlich der, der dort anhebt, wo es sich nicht mehr um das Für-sich-sein handelt, sondern um das Für-andere-sein. Da kommt der Moralist großen Stils zu sprechen.« 8 Im Engagement gegen den Algerien- wie den Vietnamkrieg, wurde seine Stimme nicht nur hörbar, sondern auch wirksam. Bis zu seinem Tod 1980 blieb er selbst eine integrative Gestalt kritischer Öffentlichkeit. Daher ist seine Ethik nicht gescheitert, wie behauptet wurde, 9 sondern hat sich im praktischen Vollzug bewährt, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass menschliches Existieren instabil ist, von Irrtümern und Scheitern begleitet wird, und sich dem Anspruch der moralischen Prüfung und dem Ausblick auf die Zukunft über die eigene Endlichkeit hinaus dennoch nicht entziehen darf. Ebenso wichtig wie Kierkegaard war Sartre der Widerspruch gegen den falschen Traum vom unendlichen Leben, der dem Leben das eigentlich Humane nehmen würde, Freiheit, Verantwortung und Individualität. In seinem ersten Roman La nausée, (Der Ekel) von 1938, der ursprünglich Melancholia heißen sollte, hatte Sartre dem antiken Thema des Lebensüberdrusses, des taedium vitae, eine moderne Gestalt gegeben. Der Protagonist durchlebt Phasen, in denen ihm die »Normalität« des alltäglichen Existierens zerbricht, indem ihn Gegenstände wie z. B. ein Kieselstein erschrecken und ihn – in Phasen einer mit Angstpsychosen verbundenen Depression – die Sinnlosigkeit der Existenz überfällt. »Alles Existierende entsteht ohne Grund, Ebd., S. 1072/722. J.-P. Sartre, Cahiers pour une morale (1983). 8 H.-G. Gadamer, Das Sein und das Nichts, in: T. König (Hrsg.), Sartre. Ein Kongress, S. 48 f. 9 Vgl. M. Hunyadi, Sartres Entwürfe zu einer unmöglichen Moral. In: T. König (Hrsg.), Sartre. Ein Kongress, S. 84. 6 7

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Sartres Ekel vor der Klebrigkeit der Zeit als Angst vor dem Altern

setzt sich aus Schwäche fort und stirbt durch Zufall.« 10 Diese Folgerung zieht der fiktive Tagebuchschreiber aus einer Erfahrung völliger Sinnentleerung, die ihm die Nacktheit des reinen Existierens erschreckend vor Augen gestellt hatte: »Die Existenz ist nichts, was sich von weitem denken lässt«, heißt es zuvor, »das muss einen plötzlich überkommen, muss sich auf einem niederlassen, muss sich einem schwer auf das Herz legen wie ein dickes, regloses Tier – oder aber es ist überhaupt nichts mehr da.« 11 Sinnerfüllte Lebensmomente, die verhindern, dass sich die leere Existenz als solche aufdrängt, werden hingegen »Abenteuer« genannt. Sie involvieren das Subjekt und erwecken seine Zeit zum Leben, indem diese mit Leben gefüllt wird. Diese erfüllten Lebensmomente sind notwendigerweise endlich – hier trifft Sartre sich mit Kierkegaard, und sie müssen intensiv ausgekostet statt indifferent ignoriert werden, was die entscheidende Botschaft Senecas war: Etwas beginnt, um zu enden: das Abenteuer lässt sich nicht verlängern; nur durch seinen Tod hat es einen Sinn. Auf diesen Tod […] werde ich unwiderruflich hingetrieben. Jeder Augenblick kommt nur, um die folgenden nach sich zu ziehen. An jedem Augenblick hänge ich mit ganzem Herzen: ich weiß, dass er einmalig ist; […] Ich beuge mich über jede Sekunde, ich versuche sie auszuschöpfen […] und unterdessen verrinnt die Minute, und ich halte sie nicht auf, ich liebe es, dass sie vergeht. 12

An dieser Stelle wird die Ambivalenz der vergehenden Zeit als gleichzeitige Ermöglichung und Begrenzung von Glück besonders deutlich. Die einzige Möglichkeit, das flüchtige Glück festzuhalten, besteht in der Erinnerung, wobei deren hegelisch große, historisch ausgreifende Dimension auf den persönlichen Radius zusammenschrumpft. Die alternde Freundin des Protagonisten verrät ihm ihre eigene Strategie, den abnehmenden Erfolg als Schauspielerin zu verkraften: »Ich lebe in der Vergangenheit. Ich nehme alles, was mir zugestoßen ist, wieder auf und ordne es. Von weitem, einfach so, macht sich das nicht schlecht, man könnte sich fast davon einnehmen lassen.« 13 Auch in dieser, auf das Private reduzierten Form bleibt also die versöhnende und ordnende Qualität der Rückschau erhalten. Sie eröffnet am Ende des Romans sogar einen Hoffnungsschimmer. Der 10 11 12 13

J.-P. Sartre, Der Ekel, S. 152. Ebd., S. 150. Ebd., S. 49. Ebd., S. 172. A

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ruhelose Protagonist, der regelmäßig von Attacken des Lebensüberdrusses, der Angst und Verzweiflung über seine Einsamkeit heimgesucht wird, äußert die vorsichtige Erwartung, dass ihm im Rückblick auf seine Vergangenheit das gelingen könnte, was ihm die Gegenwart verwehrt hatte: sich selbst zu akzeptieren. Dem Kierkegaardschen Horror vor dem Unglücklichsten als demjenigen, der nicht sterben kann, dessen Leben nie zu einer endgültigen Vergangenheit wird, verleiht Sartre in zwei späteren Werken eine literarische Gestalt. In dem Theaterstück Huis clos (Bei geschlossenen Türen) von 1944 und in dem Drehbuch Les Jeux sont faits (Das Spiel ist aus) von 1947 entfaltet er das Problem der Unwiederholbarkeit realen Lebens, wie es sich aus der fiktiven Perspektive eines transzendenten Zwischenstadiums zwischen Leben und Tod darstellt. Die in der absurden, ewigen Widerholung der gleichen Auseinandersetzungen und einer kommunikativen Ödnis gefangenen Personen in Huis clos stellen für einander die Hölle dar 14 – eine Hölle der Langeweile, des Überdrusses, der Indifferenz, der sogar noch die Ernsthaftigkeit echter Auseinandersetzung mangelt. In dieser schlechten Unendlichkeit bleibt nicht einmal die Hoffnung auf Erlösung durch den physischen Tod, den die Personen bereits gestorben sind, so dass es kein Entrinnen aus ihrem Zustand der Indifferenz gibt. 15 In Les Jeux sont faits bekommen die zwei Hauptpersonen die Möglichkeit, nach ihrem gewaltsamen Tod ins Leben zurückzukehren, noch einmal von vorne zu beginnen und damit einen oft im Zusammenhang der Endlichkeit des Lebens geäußerten Wunsch zu realisieren: Sie nehmen sich vor, Versäumtes nachzuholen. Doch ihr Versuch, dem Ideal zu entsprechen, das sie – aus ihren sozialen Verstrickungen herausgelöst – in der transzendenten Welt waren, zerbricht an der nicht von ihnen zu verantwortenden Realität. Dennoch ist Sartre weder ein hoffnungsloser »Realist«, noch vertritt er deterministische oder zynische Positionen. Les Jeux sont faits endet zwar mit der Resignation der Protagonisten, aber auch mit einer vagen Hoffnung auf die Möglichkeit, dass ein anderer Versuch eines Neubeginns gelingen könnte: Bevor Pierre und Eve im Jenseits endgültig getrennte Wege gehen, weisen sie einem anderen jungen Paar den Weg zurück ins Leben, ohne ihren Optimismus zu zerstö14 Vgl. eine der letzten Aussagen Garcins am Ende von Huis clos: »[…] l’enfer, c’est les Autres.« 15 Vgl. Ebd., die letzte Aussage von Inès: […] »C’est déjà fait, […].«

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ren. Diese Fähigkeit, sich mit den Projekten der Weiterlebenden identifizieren zu können, ist – wie in den folgenden Kapiteln noch näher erläutert werden soll – für eine Theorie guten Alterns fundamental.

4.2 Das Alter als Zumutung und Aufgabe bei Simone de Beauvoir Als Existenzphilosophin, die den Menschen konkret als psychophysische Einheit betrachtet und die Tatsache der Leiblichkeit nicht idealistisch marginalisiert, spricht die Denk- und Lebensgefährtin Sartres gleich am Anfang ihres monumentalen, an historischen, philosophischen, literarischen, biographischen und ethnologischen Quellen reichen Werkes über das Alter, La vieillesse von 1970, die Probleme des körperlichen Verfalls an: Äußerlich werden wir, meint sie wie Mimnermos, immer unansehnlicher, und parallel dazu lassen auch die inneren Organe in ihren Funktionen nach – der gesamte Organismus wird anfälliger für Krankheiten. 16 Noch schlimmer ist es, dass dieser Verfall sich nicht nur auf das Organische beschränkt und die mentalen Funktionen sowie das Seelenleben unberührt ließe, sondern dass er sich auch psychisch und kognitiv auswirkt. Zum Beleg dieser Feststellung zieht sie medizinische Studien heran, die einen sukzessiven Gedächtnisverlust sowie die Einbuße logischer und kreativer Fähigkeiten dokumentieren. Der Verlust an Flexibilität setzt diesen zufolge bereits jenseits des 35. Lebensjahres ein. 17 Neben den leiblichen und den intellektuellen Defiziten treten ihr zufolge mit dem Altern schließlich auch noch psychische Defizienzerscheinungen auf, und negative Stimmungen wie Depressionen oder Eifersucht verstärken sich, woraus sie folgert: »Nun, das Alter ist eine Zeit allgemeiner Frustration; es erzeugt unklare Ressentiments, die sich in Form von Eifersucht konkretisieren können.« 18 Diese Eifersucht richtet sich gegen die noch Jüngeren, Vitaleren, Schöneren, vergleichbar dem Hass,

Vgl. S. de Beauvoir, Das Alter, S. 24 ff. Vgl. Ebd., S. 30 f. Heute weiß man jedoch, dass die früher benutzten Testverfahren zur Feststellung des kognitiven Leistungsvermögens einseitig auf spezifisch jugendliche Qualitäten ausgerichtet waren. Vgl. den Unterschied zwischen fluider und kristalliner Intelligenz in Kap. 7.2. 18 Ebd., S. 300. 16 17

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den Tolstojs Iwan Iljitsch in einer frühen Phase seines Sterbens gegen seine Verwandten entwickelt, die ihn überleben werden. Weil das Altern ein langsamer Prozess ist, dessen Beginn sich nicht genau datieren lässt – die Spannweite reicht vom jungen Erwachsenenalter, in dem die maximale Knochensubstanz erreicht ist, bis zu deutlich sichtbaren Alterungszeichen wie weißen Haaren oder faltiger Haut –, lässt es sich leicht verdrängen: »Der Erwachsene verhält sich so, als ob er nie alt würde.« 19 An das eigene Alter zu denken erscheint in jüngeren Jahren als schwieriger und oft sogar als weniger wünschenswert als sich den eigenen Tod vorzustellen. Erst ab einem bestimmten Alter, »wenn man sich ihm nähert, zieht man das Alter gewöhnlich dem Tod vor.« 20 Der Tod als Unglücksfall, als Instrument des Krieges oder als Folge schwerer Krankheit kann im Alltag junger Menschen näher und konkreter sein als das durch eine längere Zeitspanne getrennte, erst in einer ferneren Zukunft zu erwartende Alter. Die Vorstellung, gar nicht mehr zu sein als völlige Negation der eigenen Existenz, ist einfacher als die, man selbst und doch ganz anders zu sein: Der Tod ist eine unserer unmittelbaren Möglichkeiten, er bedroht uns in jedem Alter; gelegentlich streift er uns, oft haben wir Angst vor ihm. Dagegen wird man nicht von einem Augenblick zum andern alt: jung oder in der Blüte der Jahre, denken wir nicht wie Buddha daran, dass das künftige Alter schon in uns wohnt: es ist durch eine so lange Zeitspanne von uns getrennt, dass es in unsere Augen mit der Ewigkeit verschmilzt; diese ferne Zukunft scheint uns irreal. 21

Die Frage nach dem Erhalt der Identität im Strom der Zeit, die auch im vorangegangenen Kapitel über Kierkegaard ein Rolle spielte, wird hier mit neuer Schärfe gestellt, nämlich vor dem Hintergrund einer gesellschaftspolitischen Gewinn- und Verlustanalyse. Die Krise des sozialen Alterns, als deren Markstein sie die Pensionierung, also den Austritt aus der Arbeitswelt setzt, ereignet sich spiegelbildlich zur Krise des Erwachsenwerdens zu Beginn der Teilhabe an der Welt der Entscheidungen. 22 Doch während die Identitätskrise der Jugend durch die Vorteile an wachsender Autonomie kompensiert wird, die Ebd., S. 7: Ebd., S. 7. 21 Ebd., S. 8. 22 Vgl. die Annahme Guardinis, jede neue Lebensphase, also auch das Alter, werde jeweils durch eine Krise eingeleitet (R. Guardini, Die Lebensalter) 19 20

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Das Alter als Zumutung und Aufgabe bei Simone de Beauvoir

das Erwachsenenleben mit sich bringt, bedeutet das Ausscheiden aus dem gesellschaftlich aktiven Leben Armutsrisiken und soziale Isolation bis zur völligen Marginalisierung. Die aktuelle Änderung und entscheidende Verbesserung des ersten Punktes, der Armut, wird im 3. Kapitel des 2. Teils aufgegriffen. Was die Ausgrenzung alter Menschen aus dem Berufs- und Sozialleben betrifft, gibt es erste Ansätze, gegen die vorherrschende, auf spezifische Jugendkompetenzen gegründeten Ideologie kontinuierlicher Beschleunigung aller Wissensund Informationsprozesse klassische »Alterstugenden« wie Erfahrung, Erinnerung und auch eine späte Emanzipation von Nützlichkeitskategorien wieder stärker zu betonen. Simone de Beauvoir geht davon aus, dass uns die Beschäftigung mit der jeweiligen Situation, die Eingebundenheit in das Arbeitsleben, die alltäglichen Sorgen und vielleicht auch Freuden so in Beschlag nehmen, dass wir das Ganze unseres Daseins im Allgemeinen nicht, wie Kierkegaard aus einer privilegierten Situation heraus gefordert hatte, in unsere Lebensentscheidungen mit einbeziehen. Unter den geltenden Verhältnissen kann dies ihr zufolge nur einem über allem schwebenden, der Verstrickung in Notwendigkeiten des Alltags entrückten Gott wie Buddha gelingen. Die Schuld an der Absorption durch den Alltag gibt sie der ungerechten Verteilung von Macht und ökonomischen Ressourcen. In den fünfunddreißig Jahren, die seit dem Erscheinen ihres Buches vergangen sind, hat sich zwar eine Umverteilung von Macht und Ressourcen zugunsten der alten Menschen ergeben, doch diese hat sich – woran in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts noch niemand dachte – eher de facto durch den demographischen Wandel vollzogen, und weniger durch eine bewusste politische Willensbildung, welche die soziale Einbindung alter Mitbürgerinnen und Bürger bedacht hätte. Die Gesellschaft hat seither eine weitere, mikrotechnologische Revolution erlebt, eine neue Form der elektronischen Globalisierung und die Liberalisierung und Flexibilisierung der Arbeitswelt, ohne dass dabei jedoch die Grenzen zwischen ihren »produktiven« und »unproduktiven« Mitgliedern gefallen wären. Lediglich die Gewichtung der beiden Altersgruppen, die nicht am Erwerbsleben teilnehmen, haben sich verlagert, zuungunsten der realen Jugend (die nicht mit einer ins Erwachsenenleben hinein verlängerten Jugendlichkeit zu verwechseln ist) und zugunsten des Alters. Geblieben ist hingegen weitgehend die »Atomisierung der Gesellschaft« und »das Elend einer Kultur, die einem Mandarinat A

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vorbehalten ist«, d. h. sich selbst reproduzierenden geschlossenen Eliten. 23 Die Existenzphilosophin hat das Blickfeld erweitert und die Ganzheit über die Begrenzung des eigenen Daseins durch Geburt und Tod hinaus gedacht. Die Vertikale des individuellen Lebens wird ergänzt durch die Horizontale des Eingebundenseins in einen gesellschaftlichen Kontext, und sie betont, es könne nur in einer komplexen, »unbegrenzten Bewegung dieser Zirkularität« von Individualität und Allgemeinheit gelingen, eine Idee guten Alterns zu entwickeln. Alle, könnte man spezifizieren, müssten die Möglichkeit haben, aktiv am gesellschaftlichen, kulturellen Leben teilzunehmen, um ihr Alter zufrieden gestalten zu können. Eine rein ökonomische Absicherung eröffnet noch nicht die Möglichkeit, dem eigenen endlichen Leben, um es klassisch zu sagen, einen Sinn zu geben. Das bedeutet, dass das Altern in doppelter Hinsicht eine Aufgabe darstellt: Für die Allgemeinheit, dass sie den Rahmen garantieren muss, in dem das Individuum geschützt, sozial verankert und geachtet altern kann, und für die Einzelnen, dass sie an der Realisierung einer solchen humanen Gesellschaft nachhaltig, d. h. auch über den eigenen Tod hinausdenkend, mitwirken. Dies wäre nach de Beauvoir, die immer wieder die unabdingbare Notwendigkeit der Chancengleichheit von jungen und alten Menschen in einer von Produktion bestimmten Industriewelt betont, die beste Versicherung für ein zufriedenes Altern. Alte Menschen bedürfen eines besonderen Schutzes, um die gegen Ende des Lebens besonders augenfällige Vulnerabilität zumindest etwas zu kompensieren. Der Kern dieser Verletzlichkeit besteht, außer in der Labilität körperlicher Funktionen, in der Zeitlichkeit des Existierens überhaupt, das bei Sartre wie bei de Beauvoir nie gesichert, allenfalls in der Gegenwart greifbar, und ansonsten durch die zeitliche Distanz zu Vergangenheit und Zukunft dem unmittelbaren Zugriff entzogen ist. Was die Vergangenheit als die klassische Domäne des Alters betrifft, ist de Beauvoir allerdings skeptisch. Da sie der Auffassung ist, das Individuum bleibe nur insofern immer dasselbe, als es auch im Fortgang der Zeit eine physische Einheit darstellt, entzieht sich ihm ihr zufolge nicht nur die noch unbekannte Zukunft, sondern auch die bereits gelebte Vergangenheit. Sie kommt auf das Argument von Montaigne zurück, der die Entfremdungserfahrung 23

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S. de Beauvoir, Das Alter, S. 9.

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Das Alter als Zumutung und Aufgabe bei Simone de Beauvoir

angesichts eines älteren Selbstportraits betont und meint: »Und Keiner kann sagen: ›Ich hatte ein schönes Leben‹, da man ein Leben nicht hat.« 24 Der Pessimismus, mit dem sie die Diskontinuität und teilweise Dekomposition der Persönlichkeit beschreibt – wobei sie sich auf Selbstaussagen berühmter Literaten wie Hugo, Tolstoj und Andersen stützt –, geht entschieden weiter als der von Bobbio, der die Erinnerung als die Domäne des Alters ausweist. Für de Beauvoir gibt es keine Möglichkeit, sich durch den Rückzug in den geschützten, intimen Raum der eigenen Vergangenheit einer fremdgewordenen Gegenwart zu entziehen. Der Solipsismus, der in einem solchen Rückzug liegt, ist ihr suspekt; und gleichzeitig negiert sie den Schutzwall, den die Erinnerungen bieten können. Da Erinnerungen immer auch mit sozialen Erlebnissen und Erfahrungen verknüpft sind, bleiben sie unauflösbar mit den Personen verbunden, die an diesen Erfahrungen teilnahmen und verlieren daher mit deren Verschwinden ihre Authentizität. Das Leben der alten Menschen wird also durch den Verlust der Freunde, die vor einem sterben, nicht nur sozial ärmer, sondern auch individuell. Während Bobbio wieder an die traditionelle Vorstellung anknüpfen wird, Verstorbene lebten im Gedächtnis der Überlebenden weiter, betont de Beauvoir umgekehrt den Aspekt, dass diese mit jenen stückweise mitstürben. Im Tod nahestehender Menschen sieht sie einen Bruch mit der eigenen Vergangenheit, in der das Zusammenleben noch real war: »Der Tod eines uns nahestehenden Menschen, eines Freundes, beraubt uns nicht nur seiner Anwesenheit, sondern auch jenes Teils unseres Lebens, der mit ihm verknüpft war. […] In den ›Grabmälern‹, die meine Geschichte säumen, bin ich selbst begraben.« 25 Reißt durch den Tod das soziale Band, stirbt die Beziehung mit. Sie lässt sich nicht unverfälscht in der Innerlichkeit einer Person bewahren. Auch Sartre hatte das Persönlichkeitsrecht der Toten emphatisch betont und festgestellt, dass die Erinnerung des Anderen immer einen zwiespältigen Charakter hat. Einerseits bewahrt sie das Andenken, andererseits verfälscht sie es dabei immer auch, im Zweifel zugunsten der Überlebenden. Der Begriff des Wächters, des gardien, beinhaltet sowohl die Bedeutung des Beschützens als auch die der Freiheitsberaubung. Im Gedächtnis der Anderen bleiben die Verstorbenen vor dem völligen Zurücksinken ins An-sich, dem »ewigen Sieg 24 25

Ebd., S. 315. Ebd., S. 314. A

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Konfrontationen mit dem Negativen – Sartre, de Beauvoir, Améry und Bobbio

des Todes« bewahrt 26 . Die Überlebenden besitzen die Macht, über deren Fortleben in ihrer Erinnerung zu entscheiden: Sie können sie in der Erinnerung lebendig behalten, oder vergessen, oder sie – was das Schlimmste ist – ungerecht beurteilen. Die Verantwortung, die sich aus dieser Machtposition ableitet, besteht darin, das Persönlichkeitsrecht der Toten zu schützen und sie noch posthum vor Entfremdung zu bewahren. Wie die unter gesetzlichem Schutz stehenden Friedhofregeln die Ruhe der Toten garantieren, können Mitmenschen weiterhin deren Freiheit, anders gewesen zu sein, im Andenken respektieren. Für alte Menschen kann dies eine wichtige Aufgabe bedeuten, die bei de Beauvoir allerdings wegfällt. Wie tief ihr Bruch mit Hegels Vorstellung von der Versöhnung mit der Vergangenheit im Alter ist, zeigt sich am deutlichsten an einer Stelle aus dem 6. Kapitel, das mit einer Betrachtung der durch die zeitliche Entwicklung unablässig drohenden Selbstentfremdung beginnt, und aus dem schon oben zitiert wurde: Die Vergangenheit liegt nicht hinter mir wie eine ruhige Landschaft, in der ich nach Belieben spazieren gehen kann und die mir nach und nach ihre verschlungenen Wege und ihre verborgenen Windungen enthüllt. In dem Maße, in dem ich vorwärts schreite, fällt sie in sich zusammen. Die Überreste, die noch zum Vorschein kommen, sind zunächst farblos, starr, verformt, und ihre Bedeutung entgeht mir. Hier und da fasziniert mich ihre melancholische Schönheit; aber es genügt nicht, jene Leere zu bevölkern, die Chateaubriand »die Wüste der Vergangenheit« nannte.

Mehr als mit einer Beschreibung der Wahrheit deprimierender Gegenwart im Kontrast zur Illusion glücklicher Vergangenheit haben wir es hier mit unterschiedlichen Einstellungen und Gemütszuständen zu tun. Nicht zufällig zitiert sie den unter Depressionen leidenden Politiker Chateaubriand und nicht etwa den sich in seiner Innerlichkeit gefallenden Proust, der sein Hauptwerk, den siebenteiligen Romanzyklus A la recherche du temps perdu dem Versuch widmete, sich die eigene Vergangenheit wieder anzueignen. Die politisch engagierte Philosophin muss den Rückzug in die Innerlichkeit ablehnen, weil er weder verallgemeinerbar noch einklagbar ist. Vielmehr ist er, was am Beispiel Prousts deutlich zutage tritt, oft ein Privileg elitärer Lebensformen, die nicht nur besonders schöne Erinnerungen ermöglichen, sondern oft überhaupt erst die Möglichkeit ihrer späte26

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J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 935/628.

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Amérys Aufruf zum tapferen Untergang in der Endlichkeit

ren Kontemplation eröffnen. Ihr starker Begriff von Gerechtigkeit verlangt, dass das Individuum nicht auf das gefährdete Residuum der eigenen Vergangenheit verwiesen wird, sondern im Alter noch eine so weit wie möglich erfüllte Gegenwart haben kann. Das Alter müsste ein eigenes Gewicht gegenüber den Lebensabschnitten der Jugend und des Erwachsenseins besitzen, nicht zur Herabwürdigung der Nutzlosigkeit führen, und den Menschen »eine weite Skala von Möglichkeiten« offen halten. 27 Ihr Resümee am Ende der sechziger Jahre lautet daher: Die Gesellschaft kümmert sich um den einzelnen nur in dem Maße, indem er ihr etwas einbringt. Die Jungen wissen das. Ihre Angst in dem Augenblick, da sie in das soziale Leben eintreten, entspricht genau der Angst der Alten in dem Augenblick, da sie aus dem sozialen Leben ausgeschlossen werden. In der Zwischenzeit werden die Probleme durch die Routine verdeckt. […] Zwischen beiden läuft die Maschinerie und zermalmt Menschen, und die Menschen lassen sich zermalmen, weil sie sich nicht einmal vorstellen, dass sie ihr entrinnen könnten. 28

Jede Utopie glückenden Alterns kann also – das ist der wesentliche Kern der Reflexionen Simone de Beauvoirs – nur im Einklang mit den anderen Generationen gelingen, wobei der Balance mit der Jugend als dem andern Ende der nichtproduktiven Lebenszeit besonderes Gewicht beigemessen wird.

4.3 Amérys Aufruf zum tapferen Untergang in der Endlichkeit Jean Améry vertritt eine resignierte, aber auch empörte und widerspenstige Haltung gegenüber dem Altern. Er fasst den Prozess des Alterns als einen Kampf auf, dessen Sieger unweigerlich feststeht, bei dem es jedoch entscheidend darum geht, wie tapfer sich der Unterlegene schlägt. Aus den Blessuren, die das Leben den Menschen zufügt, leitet er den Stolz ab, »es schon solange durchgestanden zu haben« und die zerfurchte Haut zu tragen »wie ein tapferer Krieger seine Narben«. 29 Da die Natur, indem sie sich den Körper zurücknimmt, feindselig ist, bleibt einem nichts anderes übrig als tapfer zu kämpfen und in Würde zu fallen. Dies allein garantiert, dass die per27 28 29

S. de Beauvoir, Das Alter, S, 466. Ebd., S. 467. J. Améry, Über das Altern, S. 41. A

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sönliche Integrität aufrechterhalten werden kann. In allem Trost über den Niedergang des Alterns, wie »Adel der Resignation, Abendweisheit, späte Befreiung«, sieht er dagegen eine »niederträchtige Düperie« 30 , eine sinnlose Verdrängungsstrategie. Statt sich mit dem Aggressor zu identifizieren und die Endlichkeit zu akzeptieren, zieht er den ehrenvollen Kampf auf verlorenem Posten vor und rebelliert gegen das unentrinnbare Schicksal, ohne sich von harmonischen, organischen, holistischen, idyllischen oder metaphysischen Überzeugungen beschwichtigen zu lassen. Auch die Kierkegaardsche Ironie der besseren Alternative gegenüber einer schlechten Unendlichkeit ist ihm fremd. Die äußerste Verschärfung des Problems stellt der Tod dar, dem wir nur mit dem Stolz geschlagener Krieger begegnen können, die in der Kapitulation, im Angesicht der unausweichlichen Niederlage, wenigstens noch ihre Würde verteidigen. Das Sterben betrachtet er als eine »skandalöse Zumutung, Demütigung sondergleichen, die wir einstecken, nicht in Demut, sondern als Gedemütigte.« 31 Radikaler als alle anderen verweist er auf die Notwendigkeit, die Niederlage der Selbstbehauptung vor den Naturgesetzen einzugestehen. In einer Zeit, in der beinahe alles als machbar erscheint und das Bonmot »Man ist so alt wie man sich fühlt« beinahe alles zu beherrschen scheint, kann eine derart unkorrumpierbare Stimme ein wichtiges Korrektiv bleiben. Romano Guardini hält demgegenüber allerdings begründet an den klassischen Alterstugenden fest, da sich im Alter »eine Gruppe sehr nobler und für das Ganze des Lebens wichtiger Haltungen und Werte« realisieren lasse: »Einsicht, Mut, Gelassenheit, Selbstachtung, Aufrechterhaltung des gelebten Lebens, des geschaffenen Werkes, des verwirklichten Daseinssinnes […]« 32 Sein Plädoyer für das gelassene Hinnehmen des Alters gründet dabei nicht primär auf metaphysischer Demut, sondern auf einer friedlicheren Variante des Stolzes, den Améry dem Verfall abtrotzt. Dieser Stolz speist sich nicht aus verzweifeltem Widerstand, sondern aus der Befriedigung darüber, dass man dem eigenen Lebensprojekt einen Sinn abgewinnen kann. Greise können nach Guardini »eine Würde, die nicht aus

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Ebd., S. 10. Ebd., S. 134. R. Guardini, Die Lebensalter, S. 63.

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Bobbios Streitschrift gegen Ciceros Altersapologie

der Leistung, sondern aus dem Sein kommt« 33 ausstrahlen. Damit meint er nicht das Sein überhaupt in einem metaphysischen Sinn, sondern das individuell gelebte und verantwortete Leben. So würdig der Platz des Kämpfers auf verlorenem Posten ist, kann man dem Modell Amérys entgegenhalten, dass es eine Chance der Freiheit unterschlägt. Wer die Übermacht des Gegners anerkennt und sich einem frontalen Kampf mit ihm stellt, versäumt die Möglichkeit, sich gemäß des Kiekegaardschen Vorschlags umzudrehen und zurückzuschauen. Auch wenn dieser Rückblick nicht nur Gelingen, sondern auch Scheitern vor Augen treten lässt, kann er doch zeigen, dass jeder Mensch »nie bloßes Objekt« ist, sondern »wesenhaft Person und damit immer Subjekt seines Daseins.« 34 Da der Wert des Daseins nicht mit zunehmender Lebenszeit abnimmt, sondern sich von der Geburt bis zum Tod als Ganzes entfaltet, ist das Ende im Hinblick auf die Selbstverwirklichung – selbst wenn es Zeichen des Verfalls trägt – ein Stadium, in dem diese sich vielleicht schwieriger realisieren lässt als in vorangegangenen Phasen, aber dennoch ein unaufgebbarer Anspruch bleibt.

4.4 Bobbios Streitschrift gegen Ciceros Altersapologie Ich habe mich immer für einen Pessimisten gehalten und habe immer als Pessimist gegolten. Der Pessimismus ist keine Philosophie, sondern ein seelischer Zustand. Ich bin ein Pessimist von Gemüt, nicht aus Überzeugung. 35

Mit großem Unterstatement, unter vielen Rekursen auf private Erfahrungen und empört über eine Rhetorik, die glauben machen möchte, das Alter sei der Gipfel menschlicher Existenz, demontiert Bobbio Cicero. Dessen Begriff von Weisheit als Akkumulation von Wissen und immer weiterem Verständnishorizont ist ihm zufolge aufgrund der Abnahme intellektueller Flexibilität im Alter schon vor zweitausend Jahren falsch gewesen und aktuell gänzlich absurd. Dabei verwirft er den Begriff der Weisheit nicht als solchen, doch er reduziert ihn auf eine bescheidenere, kontemplativere Dimension – gemäß der drei wichtigsten traditionellen Lebensweisheiten seiner 33 34 35

Ebd., S. 54. Ebd., S. 63. N. Bobbio, Vom Alter – De senectute, S. 18 f. A

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piemontesischen Heimat, die er als die Leitwerte des Ökonomen, Juristen und späteren Staatspräsidenten Luigi Einaudi, eines anderen bedeutenden Turiner Intellektuellen des letzten Jahrhunderts, zitiert: 1. Tu’ deine Pflicht und stirb; 2. Nimm’s nicht so schwer; und 3. Übertreiben wir bloß nicht. 36 Der erste ist nach Bobbio die Vulgata des Kategorischen Imperativs, der zweite eine Mahnung, die Handlungsfähigkeit nicht durch depressive Apathie lähmen zu lassen, der Dritte ein Aufruf zu echter, nicht strategischer Bescheidenheit gegenüber dem Wenigen, was auch bedeutende und berühmte Personen im universalen Gefüge bedeuten. Die Redimensionierung des Weisheitsbegriffs auf Selbstbesinnung, seine Befreiung von der Funktion des Belehrens und die Einbeziehung der Selbstkritik bedeutet seine überzeugende Rettung. Die Erfahrung der Grenzsituation des hohen Alters zeigt – wie bei Jaspers 37 – zunächst das Scheitern. Erst auf dieser Einsicht lässt sich eine ethische Einstellung aufbauen. Dem Begriff des lebenslänglichen Lernens steht Bobbio ebenso positiv gegenüber wie seine antiken Vorgänger und schreibt im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit Kritik: »Zum Lernen ist es nie zu spät« sei immer eine seiner liebsten Devisen gewesen. 38 Doch er differenziert den Begriff des Lernens sowohl, was die internen als auch was die externen Bedingungen betrifft. Der Wissensdurst, der die denkenden Menschen auszeichnet, wird ihm zufolge durch das Altern nicht beschädigt. Zwei Dinge behindern jedoch die befriedigende Suche nach Neuem: zum einen eine Verhärtung der Ideen und Standpunkte im Alter, und zum anderen die exponentiell sich vervielfältigende Menge an Wissen. Mit dem ersten spricht er ein Problem an, das schon bei de Beauvoir im Zusammenhang mit dem Generationenkonflikt zur Sprache kam – dass alte Menschen nicht mehr innovationsfreudig seien, sondern eher rechthaberisch und besserwisserisch alles nach den von ihnen in jüngeren Jahren erlernten Kriterien beurteilten, die jedoch längst nicht mehr geeignet sind, die aktuelle Lage angemessen zu verstehen. Beim zweiten handelt es sich um die sich beständig verkürzende Halbwertszeit des Wissens, die zwar bei weitem nicht nur ein Problem Ders., De senctute e altri scritti autobiografici, S. 73 (Originalausgabe). In die deutsche Übersetzung wurde der Text »Lob des Piemont« nicht aufgenommen. 37 Vgl. K. Jaspers, Einführung in die Philosophie, S. 20: »Die Grenzsituationen – Tod, Zufall, Schuld und die Unzuverlässigkeit der Welt – zeigen mir das Scheitern.« 38 N. Bobbio, Vom Alter – De senectute, 13. 36

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für alte Menschen ist – in der Arbeitswelt werden die meisten inzwischen ständig mit ihm konfrontiert –, die jedoch die Welt für alte Menschen in besonderem Maße immer rascher immer unverständlicher macht. Nicht nur die Halbwertszeit des instrumentellen Wissens verkürzt sich ständig, sondern vor allem auch die der Kenntnisse von Methoden und Technologien der Wissensproduktion und des Wissenstransfers. Hatte bis zur Revolution des Internets z. B. die Erfahrung des einzelnen Wissenschaftlers eine entscheidende Bedeutung – das Wissen um Kontexte, Fundstellen, historische Bezüge – genügt es seither, einschlägige Enzyklopädien aufzurufen, um möglicherweise ein Vielfaches an Gelehrsamkeit vor Augen zu bekommen. Das bedeutet nicht, dass der Wert der Erfahrung gänzlich abnimmt, doch scheint er sich zunehmend auf eine innerliche Sphäre oder besondere Originalität zu konzentrieren. Ob sich die durch die technologische Revolution geöffnete Kluft zwischen den Generationen jedoch tatsächlich als eine ontologische Kluft erweist, wie Régis Debrays kulturpessimistische These lautet, 39 kann bezweifelt werden, da der Zugang zu den Informationen zum einen eher sozial als generationell beschränkt ist, und weil zum andern das Erfahrungswissen immer noch eine entscheidende Rolle bei der Strukturierung, Interpretation und innovativen Nutzung der Datenfülle spielt. Nur ist Erfahrung nicht mehr als ein stabiler, durch den Lauf des Lebens konsolidierter Wegweiser anzusehen, sondern eher als ein mobiler Kompass auf einem Meer zugänglicher Informationen. Die Multiplizierung und Diversifizierung nicht nur des Wissens, sondern auch der Lebensstile bedroht nach Bobbio allerdings die alten Menschen vor allem mit geistiger wie emotionaler Heimatlosigkeit, weil sie allein von der Vielfalt neuer Ereignisse und Erkenntnisse überwältigt werden. 40 Aus diesem Grund fällt der ehrenhafte Aufgabenbereich der aktiven Beratung, den die spätere Antike für die alten Menschen vorgesehen hatte, ersatzlos weg. In einer Welt, in der Wissen schneller altert als die Menschen, kann persönliche Erfahrung kaum noch allgemein wegweisenden Charakter mehr haben, sondern eher einen dokumentarischen bzw. einen innerlichen Wert behalten. Daraus folgt, dass die Domäne der alten Menschen die Erinnerung ist, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Für die 39 40

Vgl. den Essai Le plan vermeil. Vgl. Ebd., S. 26 ff. und 92 f. A

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Einzelnen stellt die Erinnerung ein Refugium dar, in dem sie sich heimisch fühlen können, in dem das gelebte Leben und auch Personen, die bereits verstorben sind, präsent bleiben. 41 Für die Jüngeren, deren Perspektive von Bobbio allerdings nicht angesprochen wird, bedeutet, an den Erinnerungen teilnehmen zu können, eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen, die durch die persönliche Vermittlung einen authentischen Ernst erhält. 42 Allerdings plädiert er deutlich dafür, die Vergangenheit nicht ohne kritische Distanz zu betrachten und sie nicht aufgrund eines selbstgefälligen Verlangens nach einer perfekten Autobiographie zu beschönigen: […] es zeugt von Weisheit […] nicht allzu nachsichtig auf die eigene Vergangenheit zurückzublicken, sich nicht zu sehr auf die äußerst ungewisse eigene Zukunft zu verlassen und, was die Gegenwart betrifft, jedes Jahr auf den Zuschauerrängen eine Stufe höher zu steigen, dorthin wo die Eindrücke von den Schauspielern undeutlicher werden und die Stimmen von der Straße schwächer.« 43

Das bedeutet, dass der Weisheitsbegriff geradezu umgedreht wird. Weise zu sein heißt nicht wie bei Cicero und der populären Form der »Altherrenweisheit«, in der er bis heute überlebt hat, aus dem Fundus angesammelter Erfahrungen zu schöpfen und Nachgeborenen den richtigen Weg zu weisen, sondern v. a. das eigene vergangene Leben in Frage zu stellen und Gelungenes von Misslungenem zu unterscheiden. An vielen Beispielen von Interviews mit alt gewordenen Mittätern oder zumindest Mitläufern des NS-Regimes, aber auch Funktionären der DDR wie Erich Mielke wird deutlich, wie mächtig der Wunsch ist, die eigene Vergangenheit zu mystifizieren und Irrtümer einschließlich der Verantwortung für Verbrechen großzügig zu entschuldigen, als ob das vergangene Leben als solches und als das eigene einen größeren Wert besäße als Fragen nach Moral oder Wahrheit. Auch in harmloseren, alltäglichen Formen tritt diese Neigung zur Vergangenheitsverklärung zu Tage, etwa in Aussagen über die »gute alte Zeit«, in der man selber jung und alles, das Wetter eingeschlossen, noch viel besser war. Bobbios Aufruf zur Selbstkritik dagegen versteht das Alter nicht als eine Phase der Vollkommenheit, Vgl. Ebd., S. 94. Vgl. die Arbeit der Shoah-Foundation, durch die Zeugenaussagen aufgezeichnet, archiviert und so für die Nachwelt bewahrt werden. Vgl. auch die Interviews in: Kruse/ Schmitt (Hrsg.), Wir haben uns als Deutsche gefühlt, S. 31 ff. 43 N. Bobbio, Vom Alter, S. 18. 41 42

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sondern als die Chance zu einer spezifischen Form der Weiterentwicklung, die in einer bewältigenden, ordnenden, teilweise zufriedenen, aber immer auch kritischen Rückschau besteht und keine neuen Zukunftshorizonte mehr erschließen muss. Dem Altwerden als einer sinnvollen Erfahrung an und für sich spricht Bobbio allerdings wie seine beiden Zeitgenossen jegliche Bedeutung ab. Es ist hinzunehmen, weil es eine unabänderliche Tatsache ist, aber das bedeutet nicht, dass man daraus eine ironische oder gelassene Haltung gewinnen könnte: Man sagt, die Weisheit eines alten Menschen bestehe im resignierten Akzeptieren der eigenen Grenzen. Doch um sie akzeptieren zu können, muss man sie erkennen. Um sie zu kennen, muss man versuchen, ihnen einen Sinn zu verleihen. Ich bin nicht weise geworden. Die Grenzen kenne ich wohl, aber ich akzeptiere sie nicht. Ich gestehe meine Grenzen ein, aber nur, weil ich nicht anders kann. 44

Was den alten Menschen bleibt, sind nach Bobbio nicht die Früchte ihrer Lebensleistungen, sondern allein sehr subjektive positive kommunikative und dialogische Erfahrungen. 45 Da diese Erfahrungen aufgrund von Schicksalsschlägen oder unglücklichen Lebensverläufen nicht allen Menschen zuteilwerden, spricht er einer Sammlung von überwiegend trostlosen Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern eines Altersheims eine größere Bedeutung zu als dem Trost der Philosophie. Das Buch Vecchi 46 (Alte) von Sandra Petrignani, deren Recherche die Interviews zu verdanken sind, habe ihn »mehr zum Nachdenken über das Leben und den Tod angeregt als eine philosophische Abhandlung« 47 . Tatsächlich sind die meisten der Berichte, auf die er sich bezieht, erschütternd und dazu geeignet, viele der psychologischen Ermutigungen, von denen noch die Rede sein wird, in Frage zu stellen. Doch die kurzen Autobiographien mit dem Focus auf die letzte Lebensphase sind andererseits nicht alle nur entmutigend. Drei Beispiele aus dieser Interviewsammlung werden später (Kapitel 7.2.1) wieder aufgegriffen. Im Allgemeinen bleiben die kommunikativen Erfahrungen, auch wenn sie nicht mehr unmittelbar präsent sind, in der Erinnerung bewahrt, die bei Bobbio eine Domäne des Alters ist und wie bei 44 45 46 47

Ebd., S. 61. Vgl. Ebd., S. 65. S. Petrignani, Vecchi. N. Bobbio, Vom Alter, S. 33. A

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Sartre, vor allem aber auch bei seinem Turiner Mitbürger Primo Levi und dessen Leidensgenossen Elie Wiesel über das Private hinaus eine allgemeine ethische Bedeutung hat. Bei Bobbio ist es die Erinnerung an seine kleine, drei Tage nach ihrer Geburt verstorbene Schwester, deren Andenken er hüten wollte, weil sich ohne ihn keiner mehr an ihr kurzes Dasein erinnern würde. 48 Für Primo Levi war der Gedanke, Zeugnis ablegen zu müssen, als moralische Verpflichtung gegenüber den Ermordeten ein Antrieb das Vernichtungslager überleben zu wollen. Seine große Sorge war, dass in der Aufbruchstimmung des Wirtschaftswunders, die gleichzeitig vom Kalten Krieg und stillschweigenden Verdrängungsmechanismen gekennzeichnet war, niemand sie hören wollte. Als er alt wurde, konnte er das mangelnde Interesse an seinen Erinnerungen, den wahr gewordenen Alptraum nicht mehr verkraften. Elie Wiesel, der mit Levi freundschaftlich verbundene Leidensgenosse, der dessen durch die Erfahrung der Shoah gefestigte Gewissheit von der Abwesenheit Gottes nicht teilte, schrieb über die ethische Dimension der Erinnerung: Es gibt eine Leidenschaft, sich zu erinnern, die nicht weniger gewaltig und überströmend ist als die Liebe. Was bedeutet es, sich zu erinnern? Es bedeutet, in mehr als einer Welt zu leben, zu verhindern, dass die Vergangenheit erlischt, die Zukunft herbeizurufen, um sie zu erhellen. Es bedeutet, Teile seines Lebens wiederzubeleben und die Menschen, die verschwunden sind, nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, Licht und Schatten auf Gesichter und Geschehnisse zu werfen, den Sand von den Dingen zu wischen, gegen das Vergessen zu kämpfen, den Tod zurückzuweisen. 49

Eine solche Art der Erinnerung setzt moralische Integrität voraus. Selbst die dunkelste Vergangenheit kann, wie auch die Erinnerungen von Levi zeigen, für diejenigen, die sie erleiden, neben Abgründen kleine erinnernswerte Einschlüsse an Menschlichkeit enthalten. Für diejenigen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, gilt dies jedoch nicht. Mörder, Helfer und Denunzianten können allein noch die Größe zeigen, zu bereuen und keine Versuche der Rechtfertigung zur Entschuldung, Verharmlosung oder sogar Verklärung der eigenen Erinnerungen zu unternehmen. Daher können die Alterserinnerungen als Institution humanen Gedächtnisses gelten, aber auch als Instanz einer individuellen wie gemeinschaftlichen Gewissensprüfung. 48 49

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Vgl. ebd., S. 52 f. E. Wiesel, Alle Flüsse fließen ins Meer, S. 220.

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Trotzige Selbstrechtfertigung wie etwa in Heideggers SpiegelInterview, oder verzweifelte Schicksalsergebenheit wie im Falle von Hitlers Privatsekretärin Traudl Junge lassen beispielsweise keine oder nur vermittelte Reue erkennen. Was anlässlich ihrer perfekt dokumentierten Rückschau50 , bei der sie sich an unendlich viele Details aus den letzten Tagen im »Führerbunker« erinnerte, nicht fehlt, ist die abstrakte Erkenntnis des Irrtums und der Verblendung, in der sie gefangen war und das ehrliche Ringen um eine Erklärung, auch Entschuldigung. Was jedoch wenig zum Ausdruck kommt, ist menschliche Reue über die Verirrung – so, als ob das reine Faktum, dass das Erlebte und Getane zur eigenen Vergangenheit gehört, schwerer wiegt als die Einsicht, dass es zu diesem falschen Leben eine Alternative gegeben hätte. Alles wird so berichtet, als ob es innerhalb der gegebenen Umstände zwar beinahe zufällig, aber dennoch zwangsläufig geschehen wäre. Nur einmal glimmt ein Funke des Bereuens im Sinne persönlicher Übernahme von Verantwortung auf, als sie berichtet, wie sie später in München am Denkmal für Sophie Scholl an deren Wohnhaus vorbeikam und ihr klar wurde, dass sie beide dasselbe Geburtsjahr hatten. In diesem Moment wurde ihr deutlich, dass auch junge, im Nationalsozialismus aufgewachsene Menschen sich anders entscheiden konnten. Das eine ist die Abrechnung mit dem System, als dessen Opfer man in gewisser Weise auch sich selbst betrachtet, ein anderes wäre es gewesen, um Verzeihung zu bitten, wobei zwar klar gewesen wäre, dass diese Bitte keine Antwort hätte erhalten können, aber in diesem Schweigen dennoch deutlicher geworden wäre als im Erklären. In undramatischen Zeiten, in denen es nicht um lebensentscheidende moralische Zwangslagen geht, dürfen Lebensentscheidungen beliebiger getroffen werden. Dennoch bleibt der ethische Kern des oben ausgeführten erhalten: Es geht darum, ein Leben zu führen, an das es sich später lohnt, erinnernd zurückzudenken, das im Alter weder in liebloser Sinnlosigkeit kommunikativer Verarmung auf nur eine erinnernswerte Episode zusammenschrumpft wie in dem Film Citizen Kane von Orson Welles (1941) 51 , noch als erdrückende Im toten Winkel, Interview von André Heller mit Traudl Junge, DOR Film Wien 2002. 51 Der Multimillionär Charles Foster Kane, eine filmische Verkörperung des realen Zeitungsmonopolisten Randolph Hearst, stirbt einsam in seiner luxuriösen Umgebung. Sein letztes Wort ist »Rosebud«, die Inschrift auf seinem Kinderschlitten, die Erinnerung an das letzte wirkliche Glück 50

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Bürde menschlichen – nicht funktionalen – Versagens auf einem lastet. In einem Interview, das er wenige Jahre vor seinem Tod gab, fand Bobbio für das Festhalten an der Idee der Aufklärung, der allgemeinen Menschenrechte und der Vernunft als einzigem Gegenmittel gegen die Verlorenheit des Individuums in der Weite des Universums und seine ständige Bedrohung durch den Missbrauch wissenschaftlichen Fortschritts folgende Worte: Ich; jemand, der sich nie sterblicher gefühlt hat als jetzt – ich bin sozusagen bereits tot –, ich habe mich immer als Anhänger der Vernunft verstanden, nicht als Mann des Glaubens. Aber gerade als Mann der Vernunft weiß ich um die Grenzen der Vernunft, die nur einen winzigen Teil der Finsternis, die uns umgibt, aufklären kann. 52

Dass er die Verzweiflung darüber, selber am Ende seines Lebens angelangt zu sein, ohne damit einverstanden zu sein – nicht lebenssatt wie Abraham, sondern mit vielen offenen Fragen – durch ein größeres Projekt, das der Verteidigung der Aufklärung relativieren konnte, kann neben der Verinnerlichung der Weisheit und der ethischen Aufgabe der Erinnerung als das vielleicht bedeutendste Vermächtnis seiner Altersreflexionen festgehalten werden.

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Die Zeit vom 29. 12. 1999, S. 42.

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II Praktisch-ethische Überlegungen zu einem verantwortlichen Umgang mit der individuellen Endlichkeit

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5 Die Endlichkeit als Preis der Individualität Ihr lebt, als lebtet ihr ewig, niemals kommt euch eure Gebrechlichkeit in den Sinn. Seneca 1

Die Antike kannte beides, die Einbindung des Individuums in einen wohlgeordneten Kosmos sowie in Schicksalszusammenhänge, von denen die Mythen und Tragödien erzählen, aber auch seinen Widerstand gegen die eigene Endlichkeit. 2 Der Idealismus blickte über das individuelle Leiden an der Vergänglichkeit hinweg auf das Ganze der allgemeinen kulturellen Vervollkommnung. Gegen die Gefahr der darin liegenden Marginalisierung des eigenen, laut Franz Rosenzweig »mit Vor- und Zunamen gezeichnete[n]« Bewusstseins 3, wandte sich zunächst Kierkegaard und in seiner Nachfolge Heidegger. Sie gaben dem bis heute dominierenden Interesse an der eigenen Existenz in ihrer Begrenztheit, der Verzweiflung an der Endlichkeit, der Angst vor dem Nichts, aber auch ihrer möglichen Überwindung nicht durch ein schlecht unendliches, sondern durch ein gerade als endliches einmaliges, unverwechselbares Leben einen Ausdruck. 4 Dabei darf nicht vergessen werden, dass die moderne Verdrängung des Todes ein nicht nur negatives Phänomen ist. Auf dem Boden von Friedenssehnsucht und Wohlstand gewachsen, entspricht sie dem Versuch, ihn zu exterritorialisieren, der so lange ein humaner bleibt, als Sterbende nicht verlassen werden. Die historische Demographie erinnert an die über eine lange Tradition erworbene Kultur der Ars moriendi, die das Sterben erleichtern und das Leben bereichern kann. 5 Doch andererseits darf über dem Anliegen, sich mit dem Sterben als eines natürlichen, jeden einmal ereilenden Ereignisses wieder vertrauter zu machen, der Bruch, den der Tod bedeutet, nicht Seneca, De brevitate vitae, S. 11. Zur 4000-jährigen Geschichte des Versuchs, das Alter zum Zweck einer möglichen Lebensverlängerung zu erforschen, vgl. M. Nühlen-Grab, Philosophische Grundlagen der Gerontologie, S. 43 ff. 3 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 7 f. 4 Beide sahen die Möglichkeit, das Leiden an der eigenen Endlichkeit zu überwinden, in der religiösen Transzendierung individueller Begrenzung und der Öffnung für den »Einfall Gottes« ins Denken (Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt). 5 A. E. Imhof, Ars moriendi (1991). 1 2

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Die Endlichkeit als Preis der Individualität

vergessen werden. Die Gewöhnung an den Tod ist, sofern sie nicht einem speziellen pflegerischen Berufsethos entspringt, monströser als der Versuch, ihn aus Furcht aus dem Leben verbannen zu wollen. Auf die Frage, wie es möglich gewesen sei, wieder ein normales Leben zu führen, lautet die Antwort Elie Wiesels, dies sei viel einfacher gewesen als wieder ein normales Verhältnis zum Tod zu finden und ihn nicht als das Alltägliche, sondern als einen Unglücksfall anzusehen: Denn wir haben neben Toten geschlafen, haben ein ganzes Leben lang, eine ganze Folge von Leben, neben dem Tod gehaust, wir mussten uns intellektuell und emotional anstrengen, damit wir den Tod wieder als Bruch, als Unglück, als Skandal ansehen konnten. 6

Hier, am elementaren Unterschied zwischen natürlichem Tod und Mord wird deutlich, auf welche Auffassung des Sterbens man sich bei einer Theorie gelassener Akzeptanz des Todes allein berufen kann: auf die des unausweichlichen, so lange wie möglich unter Maßgabe der Lebensverbesserung, jedoch nicht mehr der Sterbensverhinderung hinausgezögerten, von der Natur prinzipiell verfügten Sterbenmüssens. Alle anderen Versuche, den Tod als Selbstverständlichkeit in Kauf zu nehmen, ihn als letzte Selbsterfahrung oder als sinnvolles Opfer überhöhen zu wollen, bergen das Risikopotential der Instrumentalisierung. Im vorigen Kapitel wurden Standpunkte vorgestellt, die den Horizont der Negativität des bewussten, menschlichen Alterns beleuchten. In diesem Kapitel soll die Grenze dieses Horizonts von außen betrachtet und das Kierkegaardsche Argument, nicht sterben zu können, sei schlussendlich schlimmer als sterben zu müssen, wieder aufgenommen werden. Bevor am Ende unterschiedliche Möglichkeiten, aus der Endlichkeit, die sich im unerbittlichen Vergehen der Zeit manifestiert, herauszutreten, zur Sprache kommen, soll ihre Unabdingbarkeit für den Lebensprozess im Ganzen betont werden. Hierbei kommt den empirischen Naturwissenschaften besonderes Gewicht zu, die der nach-denkenden Philosophie immer einen oft nicht nur pragmatischen, sondern auch erkenntnistheoretischen, wenn viel-

E. Wiesel, Alle Flüsse fließen ins Meer, S. 168. Vgl. auch den Roman Nacht von Edgar Hilsenrath, in dem er den brutalen Überlebenskampf und die Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod in einem rumänischen Ghetto beschreibt, den lange kein Verlag drucken wollte.

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Zum Traum vom unendlichem Leben und die Faktizität der Endlichkeit

leicht auch nicht im einzelnen reflektierten Schritt voraus sind 7 . Die Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses lässt sich dadurch bannen, dass aus den physiologischen und evolutionären Fakten nicht ethische Prinzipien abgeleitet werden, sondern diese sich lediglich von der Akzeptanz des Faktischen abstoßen, um sich auf dem Feld kommunikativer, dialogischer oder auch transzendentaler Praxis zu bewähren. Physiologisch betrachtet sind – das sei vorausgestellt – nur die primitivsten Lebewesen, die Einzeller unsterblich, weil sie sich der Alterung durch Teilung entziehen. Höhere Lebewesen dagegen können diese Strategie nicht verfolgen und sind sogar proportional zu ihrer Position auf der Entwicklungsleiter besonders schadensanfällig: »Je größer und komplexer ein System ist, je komplexer seine Funktionen, um so mehr kann schief gehen.« 8 Bei derartigen Systemen treten lediglich zwei Zelltypen auf, deren Existenz nicht limitiert ist: die Keimzellen einerseits, die Tumorzellen andererseits. Dies muss man sich vergegenwärtigen, wenn vom Wunsch nach einer immer weiteren Ausdehnung der Lebensspanne die Rede ist.

5.1 Zum Traum vom unendlichem Leben und die Faktizität der Endlichkeit HERR: Wir sind ärmer denn die armen Tiere, die ihres Todes enden, wennauch blind, weil wir noch alle ungestorben sind. Rainer Maria Rilke. 9

Bei der Ergründung des Wunsches nach der Verschiebung des Todes in die unendliche Ferne eines immer weiter verlängerten Lebens stößt man v. a. auf drei Kategorien von Motiven: 1) auf zwei existentielle Gefühle, 2) auf eine kognitive Begabung, 3) auf eine emotionale Störung.

Vgl. G. W. F. Hegel, »die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug« am Ende der Vorrede zur Rechtsphilosophie. 8 M. Klentze (2001), Warum wir altern, S. 24. 9 R. M. Rilke, Das Stundenbuch, »Von der Armut und vom Tode«. 7

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Die Endlichkeit als Preis der Individualität

Ursachen für den Traum vom unendlichen Leben und mögliche Entgegnungen 1. a) Ängstliche Verstimmung

Positivistisch-religiös: Der Tod ist die Bedingung für Erlösung

Angst vor dem Tod Erschrecken vor dem Gedanken, einmal Negativistisch-skeptisch: nicht mehr da zu sein, Schwindel vor Es gibt keine bessere Alternative dem Nichts (Kierkegaard, Sartre) (vgl. Legende des Tithonos) b) Festhalten am Leben Utopie des Jungbrunnens 2. Behauptung kognitiver Überlegenheit über die Natur Überzeugung, der physische Verfall beeinträchtige nicht die potentiell unendlichen kognitiven Möglichkeiten Hoffnung, der biomedizinische Fortschritt könne Altern und Sterben besiegen

Akzeptanz der unauflösbaren Verwobenheit von physischer, psychischer und kognitiver Ebene

3. Egozentrismus Nicht Loslassen wollen und können Liebesunfähigkeit in Form von Missgunst gegenüber den Weiterlebenden

Großzügige Identifikation mit Zukunftsprojekten jenseits der eigenen Endlichkeit Sinngewinn durch Selbsttranszendierung

Die Möglichkeit der Inaktivierung eines »Altersgens« ist nicht gegeben, weil die Alterungsprozesse bei hochkomplexen Organismen multipler Natur sind.

Zu 1. a) Insofern wir uns auf den Tod als das Ende aller unserer eigenen Zukunftsentwürfe fixieren, kann es die lähmende Angst vor ihm sein, die depressive Verstimmung aufgrund des unaufhaltsamen Vergehens der Zeit, die uns von Lebenden in »Ungestorbene« im Sinne Rilkes verwandelt. Unter dem Eindruck der Unvermeidlichkeit des Todes in einem Schützengraben des 1. Weltkrieges, in dem er den Stern der Erlösung in Form von Feldpostbriefen schrieb, machte daher Franz Rosenzweig die Angst vor dem Tod und den daraus entstehenden Leidensdruck des Individuums, dessen Ziel die Selbsterhaltung ist, zum Ausgangspunkt seines Neuen Denkens, das sich gegen die akademische Verdrängung subjektiven Leidens wendet. 10 In diesem Falle heißt nicht sterben zu wollen, vor allem einen immer wei-

»Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an.« (F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 3.)

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Zum Traum vom unendlichem Leben und die Faktizität der Endlichkeit

ter fortschreitenden Aufschub für die Erfüllung des großen Projekts der Selbstverwirklichung anzustreben. Zu 1.b) Wenn das Leben ein überwiegend Glückliches ist, möchte man es nicht aufgeben müssen, um die erlebte Schönheit und Leidenschaft zu erhalten. In der bildenden Kunst gibt der Jungbrunnen dieser Sehnsucht nach dem Anhalten bzw. der Umkehr des Zeitstroms, um selbst nicht altern zu müssen, eine Gestalt. Dabei kann die Jugendsehnsucht allerdings nicht unmittelbar mit dem Wunsch nach unendlichem Leben identifiziert werden. Davon, dass beides nicht notwendigerweise verknüpft ist, erzählt schon der antike Mythos des Tithonos: Seine Frau Eos hatte ihn seiner Schönheit wegen aus Troja geraubt und in ihr Reich nach Äthiopien entführt. Sie erbat bei Zeus seine Unsterblichkeit, vergaß dabei jedoch, zugleich um ewige Jugend und Gesundheit zu bitten. Dadurch erreichte sie, dass er nicht starb, aber er wurde immer älter und gebrechlicher, seine Glieder schrumpften und von seiner Stimme war nur noch ein Wispern zu hören. So machte eine Variante der Sage schließlich eine Heuschrecke aus ihm. Zu 2) Statistiker könnten zu Recht behaupten, die Kurve der Lebenserwartung sei von den ersten Datenerhebungen über die Lebensspannen an konstant angestiegen 11 und es gäbe auf dieser Ebene noch keinen Beweis dafür, dass dies nicht auch in Zukunft immer so weitergehen könne. Vielleicht könne derselbe naturwissenschaftliche Fortschritt, der uns die gesicherte Lebenszeit (Imhof) geschenkt hat, dazu verhelfen, diese in Zukunft immer noch weiter auszudehnen. Dem ist jedoch zu entgegnen, dass die möglichst optimale Gesunderhaltung und immer weiter verbesserte Therapiemöglichkeiten, die zum konstanten Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung führen, noch nicht identisch sind mit der Möglichkeit, Leben überhaupt unendlich zu verlängern. Zur allgemeinen Statistik der Lebenserwartung gehören nämlich alle Fälle, bei denen es um den Sieg über tödliche Krankheiten geht. Hier gibt es immer noch einen großen Spielraum an Verbesserungsmöglichkeiten. Was jedoch die von Krankheiten bereinigte, physiologische, genetische, molekulare Lebenserwartung betrifft, zeigt sich, dass die physische Existenz durch multiple, irreversible und progressive Verfallsprozesse begrenzt

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Vgl. die Tabelle zur Rekordlebenserwartung in Enzyklopädie der Gerontologie, S. 62. A

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wird, zu denen v. a. genetische Faktoren 12 , der Zelltod (Apoptose) 13 , atrophische Prozesse, die zu Organversagen führen, und die zunehmende Unzuverlässigkeit von Reparaturmechanismen (Tumorsuppression, Korrektur des oxidativen Stresses) gehören. Zumindest aus heutiger Sicht wäre es also unseriös, Hoffnungen auf eine unendliche Verlängerung der Lebenszeit, Nahrung zu geben – ganz zu schweigen von ihrer Wünschbarkeit überhaupt. Zu 3) Auch die beiden zuvor genannten Affekte weisen eine implizite Selbstbezogenheit auf, die angesichts der Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit selbstverständlich ist. Davon zu unterscheiden ist eine explizite Selbstbezogenheit, die durch keine Möglichkeit des Abstandnehmens von sich selbst relativiert wird. Das von Heidegger Vertretbarkeit genannte Faktum, dass das Individuum in etlichen Weltverhältnissen ersetzbar ist, 14 wird angesichts der Unvertretbarkeit des durch die eigene Vergänglichkeit besonders gefährdeten Selbstbezuges vollkommen abgelehnt. Am deutlichsten kommt diese Tendenz bei Nietzsche, dem radikalsten Anti-Ethiker, zum Ausdruck. »Alle Lust will Ewigkeit« heißt es in vielen Varianten in Das trunkne Lied am Ende des Zarathustra 15 . Dies knüpft an den Punkt 2 an, doch in seinem negativen Bezug auf das Fortleben Anderer – in dem sich Missgunst gegenüber den Überlebenden ausdrückt – verliert er die Unschuld der Utopie des Jungbrunnens. »›Ich will Erben, so spricht alles, was leidet, ich will Kinder, ich will nicht mich‹« lässt er die Stimme der Gewöhnlichen sagen und entgegnet aus der Sicht des Übermenschen: »Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder – Lust will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will Alles-sich-ewig-gleich.« Diese totale Verweigerung der Selbstentäußerung, deren Ideal in der ewigen Wiederkehr des Gleichen besteht und deren Implosion im immer nur eigenen droht, ist der Alptraum, den Kierkegaard mit dem Nicht-Sterben-Können vor Augen hatte. Zur genetischen Alterung vgl. F. M. Hisama, Sh. M. Weissman & G. M. Martin (Hrsg.), Chromosomal Instability and Aging. 13 Hinsichtlich einer biotechnischen Möglichkeit, den Zelltod und die Verkürzung der Telomere bei jeder Teilung zu verhindern, werden derzeit starke Anstrengungen unternommen (Projekt »Strategies for engeneered negligible senescence« an der Universität Cambridge/UK), deren möglicher Erfolg jedoch von medizinischen Gerontologen bezweifelt wird. Vgl. Economist, How to live for ever, 23. Februar 2006. 14 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, § 47, S. 239 f. 15 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 4. Teil, »Das trunkne Lied«, 9–12. 12

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Bevor die unterschiedlichen Möglichkeiten, die eigene Endlichkeit zu akzeptieren und von ihr ab- bzw. über sie hinaus zu sehen, erörtert werden, soll – da die Endlichkeit auf die materielle Körperlichkeit verweist – ein Blick auf die physischen Bedingungen endlichen Lebens und ihre philosophischen Implikationen geworfen werden. Hierbei zeigen sich die Gefahren des Traums vom unendlichen Leben von einer anderen Seite. Hatte Kierkegaard v. a. die subjektive und spirituelle Verarmung des liebes- und gegenwartsvergessenen Unglücklichen im Blick, wird durch die Vergegenwärtigung der physiologischen Endlichkeit des individuellen Lebens, die bei der Evolution eine erhebliche Rolle spielt, die objektive Notwendigkeit der Endlichkeit deutlich. Der wissenschaftliche Ansatz, mit dem das Altern und die Möglichkeit, es biochemisch zu beeinflussen, untersucht wird, ist interessant. Die bahnbrechenden Entdeckungen über Altersgene wurden entweder an einfachen, sich rasch fortpflanzenden Organismen gemacht (Hefepilze, Fruchtfliegen, Fadenwürmer) 16 , oder aber an Patienten mit mutationsbedingten Progerie-Pathologien wie dem Werner- oder dem Hutchinson-Gilford-Syndrom. 17 Beide Erkrankungen haben eigentlich nichts mit dem allmählichen und komplexen Alterungsprozess zu tun, den wir gemeinhin als normal betrachten und der sich aus physiologischen, genetischen, umweltbedingten, sozialen und psychologischen Veränderungen zusammensetzt. Sie führen zu einer schnellen Vergreisung und zu frühem Tod durch Alterskrankheiten wie Osteoporose, Arteriosklerose (auch der Herzkranzgefäße), Arthrose, Muskelatrophie, Diabetes mellitus und auch Tumore. Die Lebenserwartung der ersten Form beträgt kaum 50 Jahre, die der zweiten nicht einmal 20. Zwar lassen sich die genetischen Ursachen sowie die Aktivität (Expression) des mutierten Gens bei der Störung der Bildung von Zellmembranen und DNA-Synthese bzw. -Reparatur der Progerie analysieren und Aufschlüsse über den genetischen Alterungsmechanismus gewinnen, doch bisher konnte noch keine Therapie entwickelt werden. Selbst wenn es diese eines Tages – hoffentlich – geben sollte, ließen sich vielleicht die durch das isolierte Gen bedingten Alterungsprozesse im Inneren der Zellen allVgl. E. L. Schneider u. J. W. Rowe (Hrsg.), Handbook of the Biology of Aging, Teil 2, Kap 3–5, S. 39–88. 17 Auch bei der verbreiteteren und bekannteren Trisomie 21 (Down-Syndrom) ist der Alterungsprozess beschleunigt. 16

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Die Endlichkeit als Preis der Individualität

gemein verlangsamen, doch blieben die Altersphänomene anderer Ebenen (molekular, zellbiologisch, organisch, funktional) davon unberührt. Krankheiten zu heilen ist das ethische Prinzip der Medizin, somatische Unsterblichkeit anzustreben, ist eine ganz andere Idee, deren Wünschbarkeit, wie noch eingehender erläutert wird, zu verneinen ist.

5.2 Zur faktischen Unmöglichkeit einer Entkoppelung von Leben und Tod Natur! […] Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen. […] Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. J. W. v. Goethe 18

Die von Goethe beschriebene Ambivalenz der Evolution, dass sie einerseits individuell höchst differenzierte Lebewesen hervorgebracht hat, die ihre Entwicklung jedoch gerade der Tatsache verdanken, dass kein Individuum als solches dauerhaft bestehen bleiben kann, hat beim Übergang zur jüngeren, nachidealistischen und nachromantischen Moderne zu einem zwiespältigen Verhältnis zur Natur geführt. Bei Schiller verkörpert sie noch das Prinzip der Weisheit 19 , und gibt »den Weg vor, den man in der moralischen [Schöpfung] zu wandeln hat« 20 . Nur hundert Jahre später, bei Georg Büchner, wird sie in ihrer Indifferenz gegenüber Leid und Verbrechen als feindlich erfahren. Die Erde ist nicht einmal mehr utopisch ein Ort der Sicherheit, sondern ein »umgestürzter Hafen« 21 , in dem man keinen Ankerplatz finden kann. Auch die Gesänge Giacomo Leopardis sind von einem Gefühl der Heimat- und Trostlosigkeit in einer unbarmherzigen Welt durchzogen. In seinem Gesang An Silvia klagt er über den Tod einer an Schwindsucht gestorbenen jungen Frau: O natura, o natura, perché non rendi poi 18 19 20 21

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Warum, Natur, versagen, Was du zuvor versprichst?

J. W. v. Goethe, Die Natur, S. 45. Vgl. F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1. Brief. Ebd., 7. Brief. G. Büchner, Woyzeck, Antimärchen der Großmutter in der 2. Straßen-Szene.

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quel che prometti allor? perché di tanto Warum, Natur die eigenen Kinder so inganni i figli tuoi? zu Wahn und Trug verleiten? 22

In der dritten Strophe des Nachtgesangs eines wandernden Hirten in Asien beschreibt er die Mühen und Qualen der Existenz, die mit der ersten tödlichen Gefahr der Geburt beginnen, und fragt den teilnahmslosen und doch in seiner kosmologischen Ordnung tröstlichen Mond nach dem Sinn dieses Leidens. 23 Die Natur setzt, evolutionstheoretisch gesehen, nicht primär auf eine lange Selbsterhaltung und individuelle Verwirklichung in einem geschützten Raum, sondern auf den Erhalt der generationellen Kette, was in dem selbstreflexiven Menschen das Gefühl der Anomalie (vgl. Ch. Weiße, 1.3.1) des Protests (vgl. J. Améry, 4.3) und der Trauer (vgl. Mimnermos, 1.1) hervorruft. »Der Tod des einzelnen ist […] die Voraussetzung für die Entwicklung des Stammes« 24 lautet die nüchterne naturwissenschaftliche Diagnose. Mit anderen Worten: Worauf es in der Evolution ankommt, ist nicht so sehr das Altern als möglichst langer Erhalt des Individuums, sondern die Fortpflanzung als Garantie für die stete Erneuerung und Weiterentwicklung des Lebens. Das selbstbewusste Individuum, das gekränkt an seiner Endlichkeit verzweifelt, ist selbst das Ergebnis der Endlichkeit von Anderen – »aging has been the price for our own existence.« 25 Dieses Phänomen nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, hieße in egozentrischer Hybris zu leugnen, dass es dieselbe Evolution war, die über Jahrmillionen zu dem bislang einzigen Organismus geführt hat, der kognitiv so weit entwickelt ist, dass er seine eigene Endlichkeit überhaupt gedanklich antizipieren und darüber kommunizieren kann. Der Mensch ist beinahe das einzige Lebewesen, das aufgrund einer langen Kindheit und Jugend sowie seiner kulturellen und sozialen Entwicklung seine reproduktive Zeit lange überlebt. 26 Er besitzt eine

G. Leopardi, Canti / Gesänge, S. 152 f. Ebd., S. 164 ff. 24 H. Mohr, Natur und Moral: Ethik in der Biologie, S. 93. 25 R. Zwilling, Aging – Still a Mystery, S. 2. 26 Die uns am nächsten verwandten Primaten überleben ihre aktive Reproduktionszeit nur um wenige Jahre, eine Meno- bzw. Andropause gibt es bei ihnen nicht. Noch an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert überlebte eine Frau die Geburt ihres letzten Kindes durchschnittlich nur um knapp vier Jahre; vgl. Th. Rabe & Th. Strowitzki (Hrsg.), Lifestyle & Anti-Aging Medizin, S. XVIII. (Eine Ausnahme hinsichtlich ihrer langen Lebenserwartung über die Phase der Fortpflanzung hinaus bilden die Orcas.) 22 23

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»inclusive fitness« 27 , die ihm die für seine physische Organisation erstaunlich lange Lebensspanne ermöglicht, vermutlich weil die Stabilität, die durch ein langes Zusammenleben mehrerer Generationen erreicht wurde, wichtiger war als das rasche Platzmachen für neue Individuen. Die alten Mitglieder archaischer Gemeinschaften wurden als Lehrer/innen, Erzieher/innen und Betreuer/innen wichtig. Der Gewinn dieser Lebenszeit jenseits der Fortpflanzungsperiode muss für die evolutionshistorisch gesehen außerordentlich kurze Zeit, in der Kulturgeschichte entstand und exponential wuchs, von wesentlicher Bedeutung gewesen sein. Da das Alter keinem Selektionsdruck mehr unterliegt, ist es jedoch physiologisch gefährdet. Es gibt eine hohe Anzahl an Genen, die in der Jugend nützen, weil sie etwa das Immunsystem stärken und so vor Infektionskrankheiten und einem frühen Tod schützen, die sich jedoch im Alter negativ auswirken und zu chronischen Autoimmunerkrankungen führen können. 28 Dieser pleiotrope Antagonismus, dass dieselbe physiologische Konstitution, die in einem früheren Lebensabschnitt das Überleben garantierte, im Alter lebensverkürzende Krankheiten hervorbringt, scheint der Dialektik der Lebenszeit zu entsprechen: Ohne die Zeit gibt es keine Entwicklung, keine Reifung, keine Erfüllung, doch gleichzeitig führt sie die Verwirklichung und Selbsterhaltung auf ihr Ende zu. Vitalität und Endlichkeit sind keine Widersprüche, sondern die eine bringt die andere mit sich. Der poetische Holismus Goethes, der im Leben die »schönste Erfindung« der Natur sah und im Tod »den Kunstgriff, viel Leben zu haben« 29 einerseits, und die nüchterne Disposable Soma-Theorie 30 , die den zwar zu verzögernden, aber unumkehrbaren Verfall des Körpers nach der reproduktiven Zeit betont und erbarmungslos feststellt, der alternde Körper sei eine Art genetische Mülltonne andererseits, gehen von erheblich verschiedenen Prämissen aus, kommen aber beide zu dem Schluss, dass eine Ausdehnung des individuellen Lebens ins Unendliche nicht nur unmöglich, sondern sogar H. Mohr, Natur und Moral: Ethik in der Biologie, S. 95. Vgl. Th. Dandekar, Molekular- und evolutionsbiologische Aspekte des Alterns, S. 163, u. E. L. Schneider u. J. W. Rowe, Handbook of the Biology of Aging, 5. Teil, Kap. 16.XV, S. 377–378. 29 J. W. v. Goethe, Die Natur, S. 46. 30 T. B. Kirkwood u. S. N. Austad, Why do we age?. Zu den unterschiedlichen Theorien über das physiologisch und genetische Altern vgl. M. Klentze, Warum wir altern (2001) u. D. Platt, Alternstheorien, S. 7–21. 27 28

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nicht wünschenswert ist. Sie widerspräche nämlich elementar dem Prinzip des universalen Lebens und der nicht auf spezielle Individuen beschränkten Individualisierungschancen, die durch Erneuerungszyklen garantiert werden. Von den genau zwei unsterblichen Zellarten, die über den Einzellerstatus hinausgehend in der Lage sind, Zellgefüge zu bilden, spinnt eine den Faden des Lebens weiter, die andere führt auf Kosten ihrer eigenen unbegrenzten Vitalität zum Tod des Organismus, auf dessen Kosten sie lebt – und damit schließlich auch ihres eigenen Lebens, sofern sie nicht im Labor weitergezüchtet wird. 31 Die Keimzellen haben sich seit unvordenklicher Zeit erhalten und eine Keimbahn entstehen lassen, auf der das Leben immer weitergeht. 32 Daher stellt der Biologe Adolf Portmann im Zusammenhang mit der unauflöslichen Einheit von Individualität und Tod fest: »Die Keimzellen, die wir in uns tragen, repräsentieren ja die ganze Zukunft der Art; das Individuum, das um diesen ›Schatz der Arterhaltung‹ herum aufgebaut wird, ist hinfällig, zum Tode verurteilt.« 33 Die Endlichkeit individuellen Lebens ist von der Unendlichkeit universalen Lebens insofern nicht zu trennen, da es ohne den Verbrauch der individuellen Lebensressourcen keine Erneuerung gäbe. Oder anders gesagt: nur eine irrsinnig gewordene hypothetische Gruppe an Individuen könnte sich – die technische Machbarkeit unterstellt – darauf einigen, sich zur Ressourcenschonung nicht mehr fortzupflanzen, sondern stattdessen selber unendlich zu leben. 34 Allerdings täte sie dies ohne ethische Legitimation, denn nach der Frage der maximalen Verlängerung der Lebenszeit und nach der Frage der gesundheitlichen und psychischen Stabilität stellt sich die unabdingbare Frage nach der globalen Legitimität solcher Fantasien. Bei beiden Zellarten gibt es die Telomerase, ein Enzym, welches die sonst bei jeder Zellteilung übliche Verkürzung der DNA-Stränge verhindert und sie dadurch dem Alterungs- und Verfallsprozess entzieht. Vgl. M. Klentze, Warum wir altern, S. 29. 32 »Alle Mitochondrien haben die Besonderheit, dass sie jeweils von der mütterlichen Keimzelle stammen und damit letztendlich von einer einzigen Frau. Hochrechnungen haben ergeben, dass diese Frau vor etwa 200 000 Jahren gelebt haben muss.« M. Klentze, Warum wir altern, S. 31. 33 A. Portmann, An den Grenzen des Wissens, S. 119. 34 Hans Jonas schreibt im Prinzip Verantwortung (S. 49) bereits vor über zwanzig Jahren, als die Machbarkeit einer immer noch weiteren Ausdehnung der Lebensspanne greifbar schien: »[…] wenn wir den Tod abschaffen, müssen wir auch die Fortpflanzung abschaffen, denn die letztere ist des Lebens Antwort auf den ersten, und so hätten wir eine Welt von Alter ohne Jugend, […].« 31

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In seinem Vorwort zu einer gemeinsamen Studie der Universitäten von New Haven (Yale) und Seattle über Chromosomen-Instabilität und Altern schlägt Philip C. Hanawalt daher zu Recht folgende Gewissensprüfung vor: »would we wish that all humans on the planet should be able to live that long, or just you and me?« 35 Vorausgesetzt, die partikularistische Antwort »just you and me« oder erst recht eine gänzlich solipsistische »just me« entbehren der ethischen Legitimierung, muss sich der Blick auf die individuelle Endlichkeit zwangsläufig weiten, und zwar vertikal wie horizontal. – Vertikal: Indem sich der Strang des Lebens schon immer und überall durch die Generationen hinweg fortgesetzt hat und indem das Individuum durch die Teilnahme an diesem Strom dazu bereit ist, sich selbst teilweise zu entäußern und der Zukunft ein produktives, humanes Vermächtnis zu hinterlassen, vermag es zumindest als Spur in ihm weiter zu existieren. (Im nächsten Kapitel wird hervorgehoben, dass diese Art von Fortexistenz keineswegs nur biologisch zu sehen, sondern auf das soziale Leben allgemein übertragbar ist.) – Horizontal: Hinsichtlich der globalen Mitbürger/innen müsste auf eine gerechtere Chancenverteilung geachtet werden. Weltweit werden für die pharmazeutische Erforschung der eher als Alters- und Wohlstandskrankheiten zu bezeichnenden Pathologien Diabetes mellitus Typ II, Demenz, Krebs und Depressionen erheblich mehr Mittel eingesetzt, als für die Ausrottung der Armutskrankheiten Tuberkulose und Malaria. Alles spricht dafür, weiterhin Medikamente zur Verbesserung der Lebensqualität im Alter zu entwickeln, doch müsste das nackte Überleben der Anderen zumindest die gleiche Relevanz haben. Hans Jonas betonte angesichts des wissenschaftlichen Optimismus über die weitere Ausdehnung der Lebensspanne bereits vor mehr als zwanzig Jahren, wie wichtig hingegen die Balance zwischen Vergehen und Erneuerung sei: Aber vielleicht ist eben dies die Weisheit in der harschen Fügung unserer Sterblichkeit: dass sie uns das ewig erneute Versprechen bietet, das in der Anfänglichkeit, der Unmittelbarkeit und dem Eifer der Jugend liegt, zusammen mit der stetigen Zufuhr von Andersheit als solcher. 36

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Ph. C. Hanawalt, Chromosomal Instability and Aging, S. VI. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 49

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Die Zustimmung zum harten Schicksal der eigenen Endlichkeit geschieht nicht ohne Schmerz, aber in der Einsicht in die ethische Gefahr der Hypertrophie, die im nächsten Kapitel näher erörtert wird, und mit einer Offenheit gegenüber den Anderen, ohne die das soziale und kulturelle Leben insgesamt verarmen müsste. Während die Keimzellen als eine philosophische Metapher für das Weiterleben Desselben durch ein Anderes stehen können, verkörpern die Tumorzellen das Paradigma der unbegrenzten Wucherung des Einzelnen auf Kosten des Allgemeinen, die ohne wirksame Therapie schließlich zum Tod von beidem führt. Wer sich also wünscht, sein eigenes Leben ins Unendliche zu verlängern und nicht nur von dem legitimen Wunsch getragen ist, die Qualität eines ohnehin schon langen Lebens weiter zu verbessern, muss mit dem zweiten der beiden Prinzipien identifiziert werden. Die Projektion des eigenen Überlebenswunsches auf das Überleben einer speziellen (Volks-)Gruppe stellt die äußerste Perversion dieses Wunsches dar, da sie versucht, die Ohnmacht des Individuums real in der Übermacht der Nation aufzuheben. 37 Wie schwach die menschliche Konstitution im Allgemeinen ist, zeigte sich bis zur Entwicklung wirksamer Keimtötung und zur Entdeckung des Penizillins alltäglich und konnte unmöglich verdrängt werden. Die hohe Säuglingssterblichkeit von etwa der Hälfte aller Geborenen und eine auch sonst in jeder Alterskohorte hohe Sterberate machten das Altwerden zum Privileg. Heute, wo Krankheiten in den Industriestaaten immer wirksamer bekämpft werden können, konzentriert sich eine Vielzahl von ihnen notwendigerweise auf das Alter. Zu einem unbestimmten, zwar variablen, aber eben nicht unendlich hinausschiebbaren Zeitpunkt im hohen Alter tritt die grundsätzliche Konstitutionsschwäche dann wieder massiv hervor. Auch die Medizin definiert, wie gesehen, Gesundheit dank des immer genaueren Verständnisses genetischer Mechanismen nicht mehr v. a. als ein Gut, von dem durch das Altern etwas verloren geht, sondern eher als die erfolgreiche und rechtzeitige Reparatur von Schäden, die im Alter dann immer schlechter gelingt. Weiterleben ist demnach vor allem dynamisch, als verhinderte Katastrophe zu sehen, als perEine theoretische Rechtfertigung der Rassengesetze als Prävention gegen Volksalterung – eine Widerlegung der Hegelschen Idee von der notwendigen Alterung von Kulturen – findet sich in C. Oehmes Rede Über Altern und Tod anlässlich der Stiftungsfeier der Akademie der Wissenschaften in Heidelberg am 4. Juli 1944, vgl. v. a. S. 9 f.

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manente Schadensreparatur, als erfolgreiche Abwehr zerstörerischer Wucherungen, und nicht primär als linearer Abbau eines Gesundheitskapitals. Dies ändert zwar nichts an dem Phänomen des Alterns, verwandelt allerdings die Sichtweise darauf. In den chronischen und multiplen Erkrankungen, zu denen es im Alter kommen kann, zeigt sich nicht so sehr der Fluch des Alters, sondern die grundsätzliche Verletzlichkeit des Lebens, die sich beispielsweise in Form schwerer degenerativer Erkrankungen oder Krebs bereits schon früher aggressiv äußern kann. Das Gleichgewicht, in dem sich im gesunden Zustand Zerstörung und Reparatur halten, ist dabei notwendigerweise labil und endlich. Dies zeigt sich mikrokosmisch in den Mechanismen des Immunsystems als des wichtigsten Garanten für Schadensabwehr im Organismus. Was in der Jugend gut ist, kann sich, wie festgestellt, im Alter nachteilig auswirken. 38 Umgekehrt hingegen können Alterungsprozesse, indem sie die genetische Aktivität allgemein verlangsamen, vor Tumorerkrankungen schützen. 39 Daher kann man sagen, Gesundheit bestehe sowohl punktuell gesehen als auch bezogen auf die Gesamtlebensspanne vor allem darin, Krankheiten erfolgreich abzuwehren bzw. zu bewältigen, ohne sich durch eine übertriebene Präventivschlagsstrategie 40 selbst zu gefährden. In jedem Falle jedoch ist das Altern zwar nicht mit Krankheit gleichzusetzen, aber auch nicht in dem Sinne von ihr abzutrennen, dass man ein »normales Altern«, das sich nur in Merkmalen wie grauen Haaren oder zunehmender Langsamkeit äußerte, gänzlich von Alterspathologien trennen könnte, da diese allgemein genetisch veranlagt und unvermeidlich sind. Der Humanbiologe Dietrich O. Schachtschabel sagt daher, vom physiologischen Standpunkt aus, es könne keine scharfe Grenze zwischen »normalem« (biologischem, physiologischem) Altern und den meisten Alterskrankheiten gezogen werden. Vielmehr besteVgl. Th. Dandekar, Molekular- und evolutionsbiologische Aspekte des Alterns, S. 160. 39 Vgl. D. O. Schachtschabel, Humanbiologie des Alterns, S. 169, und M. Klentze, Warum wir altern, S. 26: »Zellen, die ihr replikatives Poential verlieren, werden ›senescent cells‹ genannt. Zelluläre Senescense ist ein aktiver Prozess, der in die Apoptose mündet. Apoptose scheint die Zelle auch vor unkontrollierter Replikation zu schützen. Somit ist Apoptose auch ein Schutz vor Krebsentstehung.« Zum labilen Gleichgewicht zwischen positiven und negativen genetischen Wachstumsfaktoren vgl. W. Nagl, Gentechnologie und Grenzen der Biologie, S. 104 ff. 40 Die immer weiter verbreiteten Allergien sind solche Fehlalarme des Immunsystems. 38

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hen fließende Übergänge, weil beide auf molekularer Ebene wahrscheinlich durch gleiche Mechanismen (»genetische Dysfunktionen«) verursacht werden. Damit wäre Altern auch als Folge einer »pathologischen« Genexpression mit Krankheit verbunden, und der gealterte Mensch stirbt schließlich an einer Alterskrankheit. Auch unter evolutions-biologischen Aspekten spricht vieles dafür, dass in der Natur keine Selektion von Organismen mit dem Ziel eines »Alterns in Gesundheit« stattfindet. Vielmehr erfolgt im Allgemeinen eine Selektion mit dem Ziel von gesunden, fortpflanzungsfähigen Organismen, wobei die Phase nach der Aufzucht weniger wichtig ist. 41

Die Natur hat uns also offensichtlich dazu verurteilt, Platz für neues Leben zu schaffen. Darin musste der radikale Individualismus – vor allem auch vor dem Hintergrund einer vulgär-naturalistischen Übersetzung dieses Prinzips in politisch-bellizistische Praxis – eine persönliche Kränkung sehen. Andererseits ist er gerade dadurch entstanden, dass er sich am Problem seiner eigenen Endlichkeit gerieben hat. Je deutlicher das Leben sowohl vom physiologischen als auch vom existentiellen Standpunkt aus als Ganzes als ein störanfälliges, verletzliches Geschehen von nur relativen Stabilität angesehen werden muss, desto unschärfer werden die Konturen der Polarisierung von jung und alt zugunsten der Unterscheidung von konstitutionell stark und schwach, gesund und krank. Denn gerade wenn es medizinisch gesehen so ist, dass wir nicht am Alter, sondern immer an Pathologien sterben, ist kalendarisches Alter noch nicht an und für sich mit Krankheit gleichzusetzen. Das Alter ist vielmehr eine Lebensphase, in der erst sehr spät eine erhöhte Verletzlichkeit auftritt, insofern sich gesundheitliche Schwächen manifestieren und zu deutlichen Einbußen führen können. 42 Kenntnisse über den genetisch programmierten und paradoxerweise »gesunden« individuellen Zelltod 43 sollten nicht zerstören, aber korrigieren, was Sigmund Freud 44 und der Heidegger-Kritiker Ebd., S. 179 f. A. Kruse stellt nach einer Reihe empirischer Altersstudien fest: »Erst ab dem neunten Lebensjahrzehnt scheint die Vulnerabilität des Menschen in einem Maße zuzunehmen, dass auch das Risiko der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit ansteigt; vgl. ders., Was ist Altern?, S. 8. 43 Vgl. M. Driscoll (1994) Genes controlling programmed cell death: relation to mechanism of cell senesces and aging? 44 S. Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 2. Kap., S. 49: »So konnte in der psychoanalytischen Schule der Ausspruch gewagt werden: im Grunde glaube niemand an den eigenen Tod oder, was dasselbe ist: im Unbewussten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt.« 41 42

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Dolf Sternberger 45 als den heimlichen Glauben an die eigene Unsterblichkeit beschrieben haben. Der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa hatte diesen in dem Satz zusammengefasst »Wir alle wissen, dass wir sterben; wir alle fühlen, dass wir nicht sterben werden.« 46 Diese Diskrepanz von Gefühl und Wissen muss nämlich nicht vorreflexiv naiv sein oder bleiben, sondern kann ein Hinweis darauf sein, dass sich die Grenze des eigenen Lebens imaginär durch das kontemplative Heraustreten aus der üblichen zeitlich-räumlichen Ordnung oder projektiv – nicht mehr für mich, aber für andere – überschreiten lässt. Ein Individuum, das um seine Endlichkeit weiß, muss nicht im Angesicht des Todes leben, sondern kann ihm, wie bei Hegel und Kierkegaard, wieder den Rücken zukehren. Nicht nur das eigene Leben ist endlich und von Abschieden durchzogen, sondern auch viele gemeinsame Ziele und Projekte sind es, ohne dass durch die Begrenztheit prinzipiell ihr Wert in Frage gestellt würde. Wir wissen heute um die Gefährdung von Partnerschaften, um die Schwierigkeiten, in einer mobilen und flexiblen Gesellschaft lebenslange Freundschaften aufrechtzuerhalten, und um die Relativität der Lebensziele allgemein. Und dennoch verliert das Engagement dadurch nicht seinen Sinn, da es im Kern immer auch über die Endlichkeit der Einzelnen hinausweist. Daher ist es nicht der Traum von einer wie auch immer verstandenen Fortexistenz durch ewiges Leben, durch Erinnerung, durch Kunst, Wissenschaft, Ideen, durch Nachkommen oder soziale Taten, der durch die Endlichkeit zerstört wird (vgl. 5.2.1). Korrigiert wird vielmehr die Egomanie und Missgunst hinter der Phantasie des nicht altern und sterben Wollens.

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D. Sternberger, Der verstandene Tod, S. 166. F. Pessoa, Buch der Unruhe, S. 275.

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Verletzlichkeit und Endlichkeit als existentielle Konstante

5.3 Verletzlichkeit und Endlichkeit als existentielle Konstante Giunto e già ’l corso della vita mia, con tempestoso mar, per fragil barca, al comun porto, ov’a render si varca conto e ragion d’ogni opra trista e pia. Michelangelo Buonarroti 47

Die Metapher des Hafens für das Alter, in dem ein stets latent oder akut gefährdetes Leben endlich zur Ruhe kommt, ist nicht nur für eine religiöse Auffassung des Lebens typisch, die dieses als Prüfung und auch als Strafe für die Sünde versteht. Der vor allem als Maler bekannte Michelangelo drückte mit ihr auch ein in der Renaissance neu entstandenes Lebensgefühl aus. Mit der Abschwächung der klerikalen Autorität und Deutungshoheit bezüglich der Stellung des Menschen in einem unmittelbaren Verhältnis zu Gott ging die Gewissheit verloren, zu einem stabilen Mittelpunkt des Universums zu gehören. Verloren und einsam in der Unendlichkeit der Natur, nur mit einer schwachen physischen Konstitution ausgestattet, konnte das Individuum Sicherheit nur noch in sich selbst und seiner persönlichen Würde finden. Die Rolle des Menschen auch als Lebe- und nicht nur als Geistwesen wurde zunehmend in der Behauptung gegen seine biologische Unzulänglichkeit gesehen. In seiner Rede über die Würde des Menschen 48 stellte Giovanni Pico della Mirandola 1486 fest, dass der Mensch, nicht nach einem vorbestimmten Urbild geschaffen sei. 49 Vielmehr nehme er in der Welt keinen spezifischen Platz ein und besitze keine entscheidenden positiven Eigenschaften – wie viele auf Beute oder Flucht spezialisierten Tiere. Aus dieser konstitutionellen Schwäche heraus muss und darf er sich daher sein Wesen erst immer wieder selber neu schaffen. Es besteht so eine Art Zirkularität zwischen Intelligenz und Schwäche, zwischen Freiheit und Unbestimmtheit. Indem der Mensch durch keine engen Zwänge der Natur begrenzt ist, kann er mit freiem Willen Entscheidungen

Michelangelo Buonarroti, Sonett 285, dt.: »Bei stürmischer See, in brüchiger Barke, / ist meines Lebens Lauf im Hafen angelangt, / der allen gemeinsam ist, in den man einläuft, / um über elende und fromme Taten Rechenschaft zu geben.« In: Italienische Lyrik, S. 38 f. 48 Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate, dt.: Rede über die Würde des Menschen. 49 Vgl. Th. Rentsch, Negativität und praktische Vernunft, S. 152 f. 47

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über sein Leben treffen und sich aufgrund seiner flexiblen Intelligenz stets neu erschaffen. In § 5 der Rede wird er daher als »Bildhauer und Gestalter seiner selbst« 50 beschrieben, in § 7 als ein Chamäleon 51 , das sich perfekt und schnell seiner Umgebung anzupassen vermag. Als Kreatur, die er ist, ist er zwar ein Wesen der Natur, als deren Prinzip Pico della Mirandola Krieg und Kampf ausmacht 52 , aber er kann danach streben, den Engeln gleich, also gut zu werden. Wenn wir uns »die Hände und Füße mit Moralphilosophie waschen wie in einem Fluss« 53 , meint er, kletterten wir auf der Stufenleiter göttlicher Ordnung höher. Dies macht den entscheidenden Unterschied zu traditionellen, statischen biblischen Hierarchien aus, die den Menschen unterhalb der Engel und über den Tieren platzierten: Der Mensch startet in der Morgendämmerung der Neuzeit als Kreatur ins Leben, kann sich aber durch eigenen Willen und das moralische Streben nach Verbesserung in die Nähe der Engel emporarbeiten. So wird die Anerkenntnis der konstitutionellen Schwäche sogar zu einer wesentlichen Voraussetzung für das Streben nach (Selbst)verbesserung. Der Begriff der Selbstverantwortung gewinnt ethisch an Stärke: Man muss sich emporarbeiten, Bilanz ziehen, Rechenschaft ablegen, reflektieren, sich über Gelungenes freuen, Versäumtes bzw. Schlechtes bereuen, nach Verbesserung streben. In der Medizin und Psychologie ist das Phänomen der Verwandlung von Schwäche in Stärke Kompensation (Alfred Adler) oder Sublimierung (Sigmund Freud) genannt worden: Der primitive Beweggrund, überleben zu wollen, wird zu einem Höheren verwandelt. 54 Die Menschen haben moralische und kulturelle Leistungen hervorgebracht, um ihrer physischen Unzulänglichkeit und Endlichkeit etwas entgegenzusetzen, über sie zu trauern – erste Zeugnisse der Kultur sind mit Begräbnisritualen verbunden –, sie dadurch aber auch zu bewältigen. Und sie haben ihre Erkenntnisse tradiert, indem sie sie den ihnen Nachfolgenden lehrten. Menschen sind, wie der philosophische Anthropologe Plessner hervorhebt, durch ihre Sonderstellung als selbstreflexive Individuen ohnehin nur teilweise natürliche, Ebd., § 5, Abs. 22. Ebd., § 7, Abs. 32. 52 Ebd., § 17, Abs. 97 f. 53 Ebd., § 15, Abs. 85. 54 Vgl. O. Marquard, der in Kompensation. Überlegungen zu einer Verlaufsfigur historischer Prozesse die Rolle der Kultur und Geisteswissenschaften als Fähigkeit zu Verwandlung bestimmt. 50 51

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immer aber auch künstliche, kreative Wesen, die sich auf der Basis ihrer faktischen Existenz immer wieder neu entwerfen müssen. 55 Im eigentlichen Sinne lebt der Mensch daher vor allem dadurch, dass er dieses planende und überlegende Sichzusichverhalten 56 stets neu leistet. Seine Projektivität kann sich jedoch nie ganz von der ständigen Bedrohung durch die konstitutionelle Schwäche ablösen: Zukunftspläne können durch Naturkatastrophen oder andere Schicksalsschläge zerstört werden, Lebensträume können durch Krankheiten zunichte gemacht werden, Beziehungen zu Anderen, von denen die Glückserfahrungen wesentlich abhängen, kann der Tod abbrechen. Verbindliche Auffassungen für die Anforderungen und Krisen der unterschiedlichen Lebensalter eines solchen gefährdeten, aber auch chancenreichen Lebens haben sich bis zu Thomas Mann erhalten, der sich in seinem gesamten Werk leitmotivisch mit dem Altern und der Reflexion darüber befasste.

5.4 Exkurs zum Jugendwahn als vergeblicher Realitätsflucht bei Thomas Mann … the truth is, I am only old in judgement and understanding … William Shakespeare 57

Hinter dem Bestreben, das eigene Altern ignorieren zu wollen, stecken alle eingangs angeführten Motive für den Wunsch nicht nur nach unendlichem Leben (Tithonos), sondern nach unendlicher Jugend. Mimnermos sah keinen Ausweg, der vor dem Verlust an Attraktivität für die jüngeren Mitmenschen, v. a. für das andere – oder besser für das jeweils bevorzugte – Geschlecht bewahren könnte. Der Gewinn an Lebenserfahrung und das Streben nach Weisheit waren ihm offensichtlich kein Trost. Zweieinhalb Jahrtausende später griff Thomas Mann in seiner Erzählung Der Tod in Venedig das Thema der Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 310. Diesen Begriff verwendet Tugendhat hinsichtlich des menschlichen Selbstverhältnisses, das Heidegger in Sein und Zeit zum zentralen Untersuchungsgegenstand gemacht hat. Vgl. E. Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, 8. Vorlesung, S. 164. 57 W. Shakespeare, Henry IV, 2. Teil, 1. Akt, 2. Szene, Unterredung des Lord Chief-Justice mit dem alten Falstaff, der wider die Evidenz seiner Erscheinung seine Jugendlichkeit behauptet. 55 56

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verzweifelten Rebellion einer sich als jung empfindenden Seele gegen das faktische Alter auf. Die sich nach Erwiderung sehnende erotische Liebe des alternden Mannes zu dem Knaben führt jenen dazu, einen ungerechten Widerspruch zum eigenen Alter zu empfinden. Die Sehnsucht nach dem Anhalten oder sogar der Umkehr der Zeit offenbart die Ungleichzeitigkeit des inneren Empfindens und des tatsächlichen Alters, und führt schließlich über das Spiel der Fantasie hinaus zu dem konkreten Verwirklichungsversuch, und damit zu tragischen, mitunter auch komisch gefärbten Folgen. Die Erzählung handelt nicht unwesentlich vom Misslingen eines würdigen Alterns. In dem Maße, in dem der Protagonist, der alternde Schriftsteller Aschenbach, sich in seine Liebe zu dem Knaben, dem er gefallen möchte, verstrickt, büßt er seine Fähigkeit zur Selbstkritik und Autoironie ein. Hatte er zuvor noch scharfsichtig den peinlichen Schein anderer, dem Jugendwahn huldigender Urlauber entlarvt, gibt er nun selbst schrittweise die Distanz des Beobachters auf und erliegt der Versuchung, sich forciert ästhetisch verjüngen lassen zu wollen. Die Versuchung tritt in Gestalt eines Barbiers auf, der das auch heute noch gerne benutzte Bonmot bemüht, wir seien lediglich »so alt, wie unser Geist, unser Herz sich fühlen« 58 . Setzt man diese Prämisse als wahr voraus, dann erscheinen die Alterungszeichen des Körpers schnell als eine Unwahrheit, die es zu korrigieren gilt. Die grauen Haare nicht zu färben wäre somit unwahrer als die Fälschung, die im Färben liegt (wobei das Anfang des letzten Jahrhunderts noch eher untypische Haarfärben bei Männern stellvertretend für alle Revisionen des phänotypischen Alters steht). Um den zunächst noch skeptischen Kunden zu überzeugen, sagt der Barbier: »[…] graues Haar bedeutet unter Umständen eine wirklichere Unwahrheit, als die verschmähte Korrektur bedeuten würde. In ihrem Falle, mein Herr, hat man ein Recht auf seine natürliche Haarfarbe. Sie erlauben mir, Ihnen die Ihrige einfach zurückzugeben?« 59 Die optische Verjüngung wird schließlich noch durch andere Korrekturen der Zeichen einer ungerechten Natur komplettiert, doch zum Schluss straft der Tod die Maskerade lügen. Die implizite Antwort, die Thomas Mann gibt, ist ein Plädoyer für eine würdevolle Akzeptanz, für die es auch in der heutigen Diskussion nicht über bloße Kosmetik,

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Th. Mann, Die Erzählungen, S. 377. Ebd.

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sondern über invasive Eingriffe in Alterungsprozesse stichhaltige Argumente gibt. Eine Variante zum Thema unwürdigen Alterns findet sich in der Erzählung Die Betrogene: Eine reife Frau verliebt sich nach Beginn der Menopause leidenschaftlich in einen Freund des Sohnes, hält eine erneut auftretende Blutung für die Rückkehr ihrer fruchtbaren Weiblichkeit und wird dann jäh mit der Diagnose eines fortgeschrittenen Tumors »bestraft«. Zwei Todesurteile für Kandidaten, die ihrem Alter unangemessene Leidenschaften verwirklichen möchten, sind die harte Antwort des Schriftstellers auf den Versuch, den durch das Altern gesetzten Begrenzungen zu trotzen. Im Gegensatz zur früheren Erzählung kommt es hier jedoch zur Versöhnung mit der Macht der Natur, die Leben und Passionen nur begrenzt gibt. »Ungern geh’ ich dahin – von euch, vom Leben mit seinem Frühling«, sagt die Sterbende zu ihrer Tochter. »Aber wie wäre denn Frühling ohne den Tod? Ist ja doch der Tod ein großes Mittel des Lebens, und wenn er für mich die Gestalt lieh von Auferstehung und Liebeslust, so war das nicht Lug, sondern Güte und Gnade.« 60 In der Substanz bedeutet dieser versöhnte Tod auch eine Rechtfertigung der humanen Illusion über den Jungbrunnen. Dem Schrecken ins Angesicht zu sehen und sich von ihm lähmen zu lassen ist nicht unbedingt einer Täuschung vorzuziehen, solange diese eine schützende Rolle spielt. 61 Symbole der Endlichkeit durchziehen das gesamte Werk Thomas Manns. Viele Protagonisten vom unvitalen, introvertierten, melancholischen Künstlertyp, von Hanno Buddenbrook über Detlev Spinell im Tristan bis zu Tadzio im Tod von Venedig, haben kariöse Zähne, an denen sich die Verletzlichkeit und Endlichkeit des Lebens zeigen. Alle fühlen sich wie Tonio Kröger magisch angezogen von denen voller Lebenskraft mit den gesunden, schönen Zähnen, von den Fröhlichen mit den einfachen Namen wie Hans Hansen, die keine Schwermut oder Krankheit bedrückt. Dabei verkörpern die Repräsentanten der Lebenskraft entweder die naive Vitalität des vorrefleEbd., S. 1120. Zu dem interessanten Thema der schützenden Verschleierung einer Realität, die noch ungleich grausamer ist als alle Tragik, die die Natur je hervorgebracht hat, vgl. den Film La vita è bella (Das Leben ist schön) von Roberto Benigni. Hier bewahrt ein Vater im Konzentrationslager die kindliche Seele seines Sohnes, indem er vorgibt, es handele sich um ein Abenteuerspiel. Die Weigerung, das Negative Besitz aller Gedanken und Gefühle ergreifen zu lassen, indem es dort, wo es nicht frontal bekämpft werden kann, verspottet wird, enthält ein beachtliches Potential an Humanität.

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xiven Bewusstseins wie Hans Hansen im Tonio Kröger, oder aber eine aggressive, alles Schwache und Kranke niederwalzende »exzessive Gesundheit« wie Vater und Sohn Klöterjahn im Tristan. 62 Ob eine naive Unreflektiertheit gegenüber dem Bewusstsein von der Endlichkeit und Verletzlichkeit des Lebens nachrangig ist, braucht nicht entschieden werden, weil sie ohnehin den wenigsten gegeben ist. Im Falle des Leidens an der Vergänglichkeit eröffnen jedoch Kunst und Reflexion von ihr nicht zerstörbare Räume, die den Leidenden Schutz in einer Welt bieten, die den Unverletzbaren verschlossen bleibt (vgl. 6.1). Das Bekenntnis zum Prinzip der Ordnung unterschiedlicher Lebensabschnitte zu einander findet sich, vom Lebensanfang her betrachtet, spiegelbildlich zum Tod in Venedig und zur Betrogenen, auch in der Erzählung Unordnung und frühes Leid, die von einer plötzlich auftretenden kindlichen Frühreife handelt. Während die anlässlich eines spielerischen Tanzes mit einem Freund ihrer großen Geschwister aufgetretene Verliebtheit des kleinen Lorchens als momentane Verwirrung durch die Rückkehr kindlicher Unschuld jedoch wieder heilbar ist 63 , führen die späten Ausbrüche aus der Ordnung in die Katastrophe. In der Entwicklungspsychologie der Kindheit ist das Prädikat »altersgemäß« heute noch gebräuchlich, wenn auch die Anwendung vorsichtig geschieht. Hinsichtlich des Erwachsenen- und Pensionsalters ist seine Verwendung jedoch verschwunden. Im Zeichen einer vereinzelten Selbstverwirklichung, die oft wenig andere Maßstäbe als den des eigenen Wohlbefindens zulässt, ist die verbindliche Auffassung von einer Ordnung der Lebensalter verblasst. Dies sieht man am späten, aber auch am mittleren Lebensalter, dessen »Verkindlichung« in Form einer Flucht vor Verantwortung augenfällig ist 64 . Die schon oft angetroffene Wiederannäherung des Greisenalters an die Kindheit, die bei Hegel in der Versöhnung des Endes mit dem Anfang gipfelt und die sich auch in dem alltäglichen Phänomen zeigt, dass sich bei zunehmendem Alter das Langzeitgedächtnis verbessert und anscheinend längst vergessene Kindheitserinnerungen wieder auftauchen, beschrieb Thomas Mann in dem Gedicht Gesang vom

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Ebd., S. 273. Vgl. ebd., S. 792. Vgl. O. Marquard, Apologie des Zufälligen, S. 85 f.

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Kindchen. Wir werden so schwach geboren, wie wir im Greisenalter dann wieder werden: […] Es scheint dein gebrechliches Wesen Ganz das des hohen Alters: Der zahnlose Mund und der mühsam Suchende Blick, das wackelnde Häuptchen, nicht fest im Genick noch, Und die Schwäche des Rückgrats, – alles gemahnt an sein menschlich Widerspiel am Ende des Lebens; doch ist es lieblich Anfangs und weckt nebst Rührung, Entzücken; während das späte Unvermögen, welches wir gleichfalls ehren und schonen, Hauch der Krypte umweht, so dass es kühl uns durchschauert. – 65

Im Unterschied zu Neugeborenen wird Hochbetagten allerdings nicht die gleiche, selbstverständliche, normalerweise tief in unser Verhaltensmuster eingeschriebene beschützende Zuneigung zuteil. Daher ist der Umgang mit alten Menschen zu einer wichtigen ethischen Aufgabe geworden. Sowohl die mikroskopische Sicht auf die strukturell endliche physische Organisation als auch das hiervon abstrahierende Verständnis endlicher Ganzheit durch den Lebensentwurf in der Dimension der Zeit gehen gleichzeitig von der prozessualen Entwicklung der Existenz und von ihrer notwendigen Begrenztheit aus. Bei Hegel erschloss sich die Ganzheit dem Bewusstsein v. a. in der Rückschau, bei Seneca in der Selbstreflexion, bei Kierkegaard durch die Lebensgestaltung, bei Heidegger in der Vorausschau auf das Ende des eigenen Lebens, bei Thomas Mann in der Akzeptanz der Ordnung. Im Folgenden werden drei weitere Möglichkeiten vorgestellt, diese Fragilität zu akzeptieren, ohne sich von ihr beherrschen zu lassen.

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6 Möglichkeiten, die egozentrische Fixierung auf die eigene Endlichkeit zu überwinden Wir verleugnen die Natur auf ihrem rechtmäßigen Felde, um auf dem moralischen ihre Tyrannei zu erfahren […]. F. Schiller 1

Die durch Freuds tiefenpsychologische Forschung bestätigte Figur der heimlichen und verkehrten Herrschaft des Verdrängten zieht sich durch viele Ebenen der aktuellen Altersverleugnung. Die zunehmende Konzentration auf lediglich äußerlich-ästhetische Verjüngung birgt die Gefahr, die innerlich-ethischen Potentialitäten des Alters zu vernachlässigen. Ästhetik und Ethik müssen dabei, um Schillers Satz von der Schönheit, durch die man zur Freiheit gelangt, 2 keineswegs Gegensätze sein, doch ein sich von den Kriterien der Wahrheit und der Frage nach dem Guten ablösender Ästhetizismus späten Jugendkultes hat diese idealistisch-humanistische Einheit aufgelöst. Indem es eine starke Tendenz gibt, wider besseres Wissen die Gewissheit der eigenen Endlichkeit ebenso wie die der materiellen Ressourcen zu ignorieren, hat sich eine Mentalität des »Nach mir die Sintflut« entwickelt, die nicht zuletzt in der Weigerung wurzelt, in eine Zukunft außerhalb des individuellen Wahrnehmungsradius, des eigenen Nutzens und jenseits der persönlichen Existenz zu investieren. Die Verdrängung der eigenen Endlichkeit, die tragische Fixierung auf sie und die Unsensibilität gegenüber der Fortexistenz des Lebens haben gemeinsam, dass sie keine Möglichkeit des produktiven Umgangs mit der Dialektik von Negativität und Neuschöpfung sehen. Einige Strategien der Anerkennung eigener Endlichkeit sowie des Loslassens von der tragischen Fixierung auf sie wurden bereits gestreift: die Zustimmung zu den Gesetzmäßigkeiten des natürlichen Lebens zwischen Aufbau und Abbau bei Solon, die Betonung des Erfahrungsgewinns bei Cicero, das Versprechen zeitunabhängigen Glücks bei Seneca, der Einklang mit der Ordnung der Vernunft bei Hegel und der des Kosmos bei Schelling, die Akzeptanz des Todes bei Kierkegaard und schließlich das ironische Einverständnis Thomas 1 2

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F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 5. Brief. Vgl. ebd., 2. Brief.

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Manns. Einige davon beinhalteten auch bereits Elemente, die über die Akzeptanz der eigenen Endlichkeit hinausweisen: bei Cicero die Weitergabe von Wissen und Erfahrung, bei den Idealisten das Aufgehobensein des Individuellen im Allgemeinen, bei Kierkegaard die Verantwortung vor Gott und der Ordnung der Dinge. Im Folgenden soll ein weiteres Panorama an Möglichkeiten gezeigt werden, die ebenfalls nicht nur eine defensive Form der Kompensation von Verlusten bedeuten, sondern konstruktive Perspektiven der Selbsttranszendierung öffnen.

6.1 Individuelles Zurücktreten von sich und ästhetische Selbstüberschreitung … Così tra questa Immensità s’annega il pensier mio: E il naufragar m’è dolce in questo mare. Giacomo Leopardi 3

Das Abstandnehmen von sich selbst kann in unterschiedlichen Formen mit unterschiedlichen Intentionen geschehen, z. B. naturwissenschaftlich, indem man die Gesetze des Universums oder die molekulare Struktur der DNA erforscht, religiös, wenn man sich auf ein transzendentes Wesen bezieht, psychologisch, indem man zu den Tiefenstrukturen des Denkens und Handelns vordringt, oder ästhetisch durch die Selbstentgrenzung im Eintauchen in andere Farb-, Form oder Klangwelten. Die Ziele können dabei so unterschiedliche wie ein Erkenntnisgewinn oder bloße Entspannung sein. Geschieht es nicht voluntativ, passiert dieses Abstandnehmen von sich selbst durch das Altern immer wieder zwangsläufig – erinnern wir uns an die von Montaigne oder von Oscar Wilde beschriebene Selbstentfremdung angesichts eines alten Portraits oder des Spiegelbilds seiner selbst. Dann stellt sich die Frage, ob man versucht, die Lücke, die zwischen dem eigenen Jugend-, Erwachsenen- und Altsbild aufklafft, zu ignorieren, sie gewaltsam zu schließen, oder ob man sich auf die Brücke der Erinnerung stützt und gleichwohl noch Zukunftsentwürfe entwickelt. Bewusster intergenerationeller Großmut, der weit G. Leopardi, Gedicht »Das Unendliche«, dt. »[…] In dieser Unendlichkeit / versinkt mein Denken, und süß ist mir / das Untergehen in diesem Meer.« In: Italienische Lyrik, S. 54 f.

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über den verlängerten Egoismus der Gene hinausgeht, ist vielleicht die universal am besten vermittelbare, nobelste und verantwortungsvollste, weil zukunftsträchtigste Form einer Transformation eigener Schwäche in Stärke. Doch sie ist nicht die einzige. Sie vermag sozial sinngebend zu sein und im Einvernehmen mit der Natur über die eigene Endlichkeit zu trösten, doch sie setzt Bindungen voraus, die nicht selbstverständlich gegeben oder gewünscht sind. Im Folgenden werden zunächst die drei Wege des Abstandnehmens von sich durch Humor, Meditation, Kunst, und Religion dargestellt, die das Individuum über sich selbst hinausführen. Der erste nimmt seinen Ausgang bei der Komödie, der notorisch weniger beund geachteten Zwillingsschwester der Tragödie, die jedoch bei Hegel und Freud zu großer Ehre gelangte und eine entscheidende Rolle für die Kultur der Gelassenheit spielt. Die anderen verbürgen, in einem ursprünglichen Sinn verstanden, die ältesten, vorgeschichtlichen Zeugnisse des gedanklichen Überschreitens eigener Endlichkeit auf ein Jenseitiges hin, da die menschliche Kultur zugleich mit dem Totenkult angesichts des Leidens an der Endlichkeit entstand. Anschließend werden Möglichkeiten erörtert, wie ein Hinausgehen über sich selbst zur Relativierung dieses Leidens führen kann, und welche Kräfte über die – manchmal im eigentlichen Wortsinn erbärmlichen, das heißt Erbarmen weckenden – Niederungen der eigenen Existenz hinauszutragen vermögen. 6.1.1 Humor als selbstentgrenzende und selbstbehauptende Distanzierungsleistung bei Freud Es ist noch schwerer, ein mittelmäßiges Lustspiel zu schreiben als ein entsprechendes, möglichst historisches Trauerspiel. Wieviel mühsamer ist es nun erst, sich selber, den Herrn Dichter persönlich, zur inneren Heiterkeit zu erziehen, statt ein Leben lang, mit den Dackelfalten der Probleme auf der Stirn, herumzurennen und die gleiche Verzweiflung auf stets neues Papier zu bringen! Es ist leicht, das Leben schwer zu nehmen. Und es ist schwer, das Leben leicht zu nehmen. Erich Kästner (Die einäugige Literatur)

In seinen Abhandlungen Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905) und Der Humor (1927) wies Freud darauf hin, dass die Fähigkeit zum Humor eine der höchsten psychischen Leistungen 164

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überhaupt darstelle, weil seine Voraussetzung darin bestehe, dass das Ich sich über seine Kränkungen und Verletzungen zu stellen vermag. Statt in Selbstmitleid zu versinken, behauptet es seine Integrität gegen alle Feindseligkeiten der natürlichen und sozialen Umwelt: Das Ich verweigert es, sich durch die Veranlassungen aus der Realität kränken, zum Leiden nötigen zu lassen. […] Mit der Abwehr der Leidensmöglichkeit nimmt [der Humor] einen Platz ein in der Reihe jener Methoden, die das menschliche Seelenleben ausgebildet hat, um sich dem Zwang des Leidens zu entziehen. 4

Im Gegensatz zur unbewussten Verdrängung, bei der das Verdrängte das Innere weiterhin beherrscht, bedeutet die humorvolle Distanzierung eine wirkliche Befreiung. Indem zunächst eine bewusste Konfrontation mit dem Gefürchteten stattfindet, wird ihm die Ausübung seiner destruktiven Herrschaft verwehrt. Leiden ist unvermeidlich, doch man kann sich seiner Diktatur entziehen. Die Tradition des jüdischen Witzes ist ein großartiges Beispiel für eine solche Transformation negativer Realitäten durch Humor. Bezogen auf das Alter – sofern es als negativ erfahren wird – kann also eine humorvolle, selbstironische, distanzierte Haltung erfolgversprechender sein als sich auf verlorenem Posten verzweifelt gegen die Realität zu stemmen. Obgleich Shakespeares Komödien keinen niederen Rang einnehmen als die Tragödien, obwohl Hegel die antike Komödie sogar höher schätzte als die Tragödie, weil sie nicht am Einzelnen haften bleibt, sondern die Sicht aufs Allgemeine frei macht, ist für den Humor eher außerhalb des Pantheons von Kunst und Wissenschaft, im Alltag, in der mündlichen Kommunikation Platz. Dabei könnte gerade hinsichtlich der tragischen Auffassung des Alterns als Weg zum Tod eine gelassenere Sichtweise als notwendiges Korrektiv dienen. Den Helden der Tragödie, die ihrem unentrinnbaren Schicksal nicht entkommen können, bleiben laut Hegels Ästhetik nur die Selbstzerstörung oder die resignierte Hinnahme dessen, was sie bedroht und vernichtet. Das Lachen hingegen löst die Einzelnen in ihrer Isoliertheit zunächst auf, um dann auf einer neuen Ebene Subjektivität zu bilden: In der Tragödie zerstören die Individuen sich durch die Einseitigkeit ihres gediegenen Wollens und Charakters, oder sie müssen resignierend das in sich 4

S. Freud, Der Humor, S. 234 f. A

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aufnehmen, dem sie in substantieller Weise selbst sich entgegensetzten; in der Komödie kommt uns in dem Gelächter der alles durch sich und in sich auflösenden Individuen der Sieg ihrer dennoch sicher in sich dastehenden Subjektivität zur Anschauung.5

Eine tragische, auf sich selbst verengte Fixierung auf das eigene Alter oder den eigenen Tod kann ebenfalls nur Selbstzerstörung durch Depression oder Resignation zur Folge haben. Eine auch nur momentane befreiende Selbstentgrenzung durch Distanzierung von Einzelnem und Neufindung seiner selbst aus erweiterter Perspektive kann dagegen nicht nur zu humaner Gelassenheit gegenüber einem natürlichen Phänomen führen, sondern – ähnlich wie das methodische Denken – auch zu gesteigerter Selbstwahrnehmung. 6 Allerdings wird – worauf Allport hinwies – auch diese psychologische Strategie kontraproduktiv, wenn sie sich aus der Relativierung der Negativität heraus- und von der leidvoll erfahrenen Realität ablöst und selbst verabsolutiert. Eine den Humor zum Lebensprinzip erhebende Existenzphilosophie würde aufgrund eines fehlenden Lebenszieles in selbstgefälligen Zynismus münden. 7

6.1.2 Selbstrelativierung und mystische Selbstüberschreitung bei Tugendhat Ernst Tugendhat analysiert in Egozentrizität und Mystik drei Schritte des Abstandnehmens und des Überdenkens von unmittelbaren, egozentrischen Interessen: 1. die Überprüfung des Gewollten hinsichtlich seiner ethischen Vertretbarkeit (Frage nach dem Guten und dem Wahren); 2. die Überprüfung des Einzelnen hinsichtlich seiner Übereinstimmung mit dem Ganzen des eigenen Lebensentwurfs, dem »Wie des Lebens« als »Schritt zurück zu sich«; 3. ein »zurücktreten von sich«. 8 G. W. F. Hegel, Ästhetik, 532. Vgl. K. Jaspers’ Aussage über die Rolle der wissenschaftlichen Distanzierungsleistung für die Selbsterkenntnis: »Wir werden erst recht mit uns identisch, wenn wir so [durch methodologisches Bewusstsein] zur Wahrhaftigkeit über uns und das, was wir tun, gelangen.« K. Jaspers, Chiffren der Transzendenz, S. 99. 7 Vgl. G. W. Allport, Gestalt und Wachstum in der Persönlichkeit, S. 286. 8 E. Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, S. 106 f. 5 6

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Im ersten Teil des Buches, der vom Sich-Verhalten zu sich handelt, hatte er als Ersatzbegriff für »Mensch« den des »›ich‹-Sagers« vorgeschlagen, was einen doppelten epistemologischen Vorteil hat: Zum einen wird deutlich gemacht, was genau am Menschen interessiert – nicht die bloße Gattungsbezeichnung, auch nicht die undeutliche Evokation einer Sonderstellung, sondern die spezifisch ausgebildete Fähigkeit bewussten abstrahierenden und praktischen Bezugnehmens auf sich selbst. Durch die nicht substantivierte Schreibweise wird deutlich gemacht, dass es dabei um einen reflexiven Denk- und Handlungsprozess geht, nicht um einen gegebenen Ich-Kern. Zum andern wird gerade dadurch, dass dieser besondere, spezifische »Kontrast zu den anderen Tieren« 9 hervorgehoben wird, die Nähe zu ihnen im Allgemeinen anerkannt. Die »ich«-Sager können durch ihre Fähigkeit zur Abstraktion, indem sie in der Lage sind, zu respektieren, dass andere »ich«-Sager denselben Anspruch auf Selbstverwirklichung haben, zunächst sich selbst und ihre unmittelbaren Wünsche relativieren. Ein weiterer Schritt dieser Selbstrelativierung über die Grenzen eigner Ansprüche gegenüber denen der Anderen hinaus ist die gedankliche Antizipierung des eigenen Endes und damit der eigenen Begrenztheit. Für die »ich«-Sager stellt sich somit die »praktische Frage in ihrem weitesten Sinn« 10 . Der gedanklich antizipierte Tod wirkt dabei als ihr »Veranlasser und Verschärfer« 11 . Die Überlegung, wie ich mich zu mir verhalten will und soll, wird auf das Ganze des eigenen Lebensentwurfs bezogen. Nachdem zunächst die spezifische Verantwortlichkeit für das eigene Tun erkannt wurde, muss diese also dann auf das Leben im Ganzen erweitert werden. Erst in einem dritten Schritt kann danach ihre Relativierung oder eventuelle Transzendierung angestrebt werden. Das Zeitbewusstsein führt dazu, »dass ›ich‹-Sager im Unterschied zu anderen Tieren auch mit der Vergänglichkeit ihres Lebens und von allem in ihm Erreichten konfrontiert sind.« 12 Die Endlichkeit selber, nicht die unmittelbar auf eine konkrete Gefahr bezogene Todesangst, wie auch Tiere sie empfinden, wird so zu einem Problem: »Vor dem Tod steht das egozentrische Wollen so fassungslos, weil bei ihm die Ohnmacht nicht nur das Ebd., S. 8. Ebd., S. 88. 11 Ebd., S. 105 12 Ebd., S. 95. 9

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Wie der Zukunft betrifft, sondern diese selbst, ihr Ende.« 13 Tugendhat zufolge sind sowohl alle Versuche, zu ergründen, wie man sich angesichts des Todes tatsächlich fühlt, was man erlebt bzw. nicht mehr erlebt, ebenso sinnlos wie die Vorbereitung auf ihn, da man nicht weiß, welche Ressourcen einem bei dieser Grenzüberschreitung zur Verfügung stehen werden. 14 Als sinnvolle Konsequenz aus dem Gedanken an den eigenen Tod führt er jedoch die Selbstrelativierung an, die zu mystischer Selbsttranszendierung werden kann: Die »ich«-Sager, die für sich selbst jeweils der »voluntative Mittelpunkt« der Welt sind, können sich »innerhalb der Welt an den Rand stellen.« 15 In dem Aufsatz Über den Tod hatte er die produktive Erkenntnis dieser Randständigkeit neben der Konfrontation mit dem Tod auch dem Altern zugeordnet: Im gewöhnlichen Leben und auch gerade in der Depression neigt jeder dazu, sich als Universum zu sehen, aber es ist ein Irrtum: Ich bin in der Welt, diese ist das Universum, und ich nur ein Partikel. Der Tod und schon das Altern enthalten die Chance, diesen Irrtum einzusehen und sich gewissermaßen innerhalb des Theaters auf die Seite zu stellen, aus dem Zentrum heraus. 16

Wie Bobbio benutzt Tugendhat hier die Metapher des Theaters, doch nicht um deutlich zu machen, dass man sich mit zunehmendem Alter allmählich auf die hinteren Plätze zurückzieht, sondern um die Universalität der Tatsache zu betonen, dass wir, gleich welche Macht, welchen Besitz, welches Ansehen wir haben, sowohl gegenüber andern partikularen Bezugssystemen als auch gegenüber den kosmischen Gesetzmäßigkeiten immer und notwendigerweise nur eine Randposition einnehmen. Die Einsicht, dass wir nur für uns selbst, vielleicht noch für einen engen Kreis anderer Menschen die Hauptrolle spielen, dass wir für wenige noch in einer Nebenrolle vertreten sind, den allermeisten gänzlich unbekannt bleiben und uns gegenüber dem Universum ohnehin alle als bloße Zuschauer wiederfinden, bedeutet keine Relativierung im schlechten Sinne der Ablehnung von Verantwortung. Vielmehr legt die Abstufung der drei Ebenen des Welt- und Selbstverständnisses drei Auffassungen von Verantwortung nahe: Auf der Ebene des unmittelbaren Wollens bin ich dafür verantwortlich, keinen anderen zu schädigen; auf der Ebene des 13 14 15 16

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Ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 103 f. Ebd., S. 106. E. Tugendhat, Über den Tod, S. 87.

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Verhaltens zum Gesamten des eigenen Lebens trage ich Verantwortung für die Integration dieses sich zeitlich erstreckenden Prozesses; und auf der Ebene der Konfrontation eigener Endlichkeit angesichts des Universums liegt meine Verantwortung im Verlassen der engen Perspektive des Egozentrismus. Gegenüber der Religion hat die Mystik nach Tugendhat den Vorteil, zum einen nicht auf einen bestimmten personal verstandenen, anthropomorphen Gott bezogen und daher universal vermittelbar zu sein, zum anderen den der unmittelbaren Praxis gegenüber der beschreibenden Erforschung. 17 Während die Religion versucht, die Welt zu interpretieren, indem sie ihre Gesetzmäßigkeiten zum Willen Gottes verdichtet, bewirkt die Mystik eine »Transformation des Selbstverständnisses« 18 . Was jenseits meines Willens liegt, mein Verständnis übersteigt und meine Affekte überfordert, kann entweder einer höheren Person zugeordnet werden – dann hat dies zur Folge, dass ich deren (willkürlicher) Herrschaft unterstellt bin, oder aber zu einer gelassenen Haltung der Selbstzentrierung, des Seelenfriedens und gleichzeitigen Selbstrelativierung führen. Dieser gelassene und relativierende Umgang mit vielen negativen Realitäten, zu denen auch das Sterben und nicht immer, aber manchmal das Altern gehören, führt schließlich zur Wiederentdeckung des Staunens als eines Begriffs, der die abendländische Philosophie von der Aristotelischen Metaphysik über Descartes Les passions de l’âme bis zu Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen durchzog. Vom naiven Staunen unterscheidet sich das philosophische Staunen dadurch, dass es sich nicht über die Welt, sondern über das eigene Weltverständnis wundert. Beides, das Staunen über das, was geschieht, und über das, wie ich es verstehe, schlägt Tugendhat vor, durch folgenden Satz zu verbinden: »›wie erstaunlich, dass wir darüber staunen können, dass es etwas (oder: die Welt) gibt.‹« 19 Auf das Altern übertragen könnte im Anschluss hieran folgender Satz formuliert werden: »Wie erstaunlich, dass es uns überhaupt gibt, dass wir verstehen können, dass unsere Existenz zeitlich begrenzt ist, dass wir nicht wissen, wie wir in unser Leben hineingekommen sind und wie wir es wieder verlassen werden.« Wenn durch eine solche staunende Haltung Offenheit und vielleicht sogar etwas Neugier gegenüber den Erfahrungen 17 18 19

Vgl. E. Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, S. 114 f. Ebd., S. 122. Ebd., S. 162. A

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des Lebensausklangs aufgebracht werden können, ließe sich daraus etwas für die Praxis gewinnen. 6.1.3 Befreiung von der Herrschaft der Zeit bei Theunissen Mein sind die Jahre nicht, Die mir die Zeit genommen; Mein sind die Jahre nicht, Die etwa möchten kommen;

Der Augenblick ist mein, Und nehm ich den in acht So ist der mein, Der Jahr und Ewigkeit gemacht. Andreas Gryphius20

Um Theunissens Begriff des Aufgehens in ästhetischer Anschauung als Befreiung von der Negativität der Zeit zu verstehen, muss man zunächst seinen Begriff von der entfremdenden Herrschaft der Zeit verdeutlichen. 21 Am Anfang von Negative Theologie der Zeit unterscheidet er vier Umdeutungen der Zeit durch die moderne Metaphysikkritik, die sich durch die Verabschiedung vom Begriff der Ewigkeit als dem Anderen gegenüber der Zeit auszeichnet: 1. ihre Subjektivierung durch die Auflösung der objektiven Zeit in ihren subjektiven Vollzug / ihre subjektive Erfahrung, 2. die daraus folgende Pluralisierung in diverse subjektive Zeiten, 3. die aus der Emanzipation von Dualismus Zeit / Ewigkeit erfolgende Universalisierung, 4. und schließlich, in Heideggers Sein und Zeit die vollkommene Affirmierung der Zeit als Bedingung aller Existenzmöglichkeiten. 22

A. Gryphius, Gedicht Betrachtung der Zeit. Das Problem der historischen Wandlung des physikalischen Zeitverständnisses, das vom Zeitpfeil Zenons über das Aristotelische Kontinuum, die absolute Zeit nach Newton, die rationale Zeit nach Leibniz bis zur Zeit als der vierten Dimension in Einsteins Relativitätstheorie und ihrem Verschwinden in den Schwarzen Löchern Hawkins’ führt, kann hier nicht vertieft werden. Allerdings ist einerseits ihre zunehmende Subjektivierung zu verzeichnen, andererseits ihre Loslösung von der Idee der Linearität. Daher lässt sich diesbezüglich folgendes festhalten: »[…] in der Allgemeinen wie in der Speziellen Relativitätstheorie [wird] keine Zeitrichtung (›Älterwerden‹) ausgezeichnet, sondern als bisher unerklärte Erfahrungstatsache angenommen.« K. Mainzer, Zeit, S. 51. 22 M. Theunissen, Negative Theologie der Zeit, (»Können wir in der Zeit glücklich sein?«) S. 38 f. 20 21

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Bei diesem Subjektivierungs- und Säkularisierungsprozess geht ihm zufolge das Negative, das die Zeit als »Vergängnis« und »Verhängnis« 23 gegenüber der Ewigkeit des Seins (metaphysisch), Gottes (jüdisch-christlich) bzw. der messianischen Zeit (jüdisch) verkörperte, verloren. Während wir meinen, sie zu unseren Zwecken nutzen zu können, zur Entwicklung, für den Fortschritt, zur Selbstverwirklichung, ist sie es, die uns eigentlich beherrscht: Die Zeit herrscht über uns, über uns Menschen ebenso wie über die Dinge. Und zwar richtet sie eine entfremdende, keine befreiende Herrschaft über uns auf. Wohl herrscht sie so über uns, dass sie zugleich in uns und letztlich durch uns herrscht. Aber ihre Herrschaft in uns verlängert und vertieft nur ihre Herrschaft über uns. 24

Die Zeit entfremdet uns von uns selbst, weil sie uns nicht anders behandelt als die Dinge. Sie unterwirft uns dem Gesetz des Vergehens ohne Rücksicht darauf, ob wir diesen Prozess bewusst erleben oder nicht. Daher plädiert Theunissen für die Rückkehr zum Begriff der einen, der negativen Zeit. Zum Beweis der Richtigkeit seiner Hypothese von deren totalitärer und entfremdender Herrschaft führt er das Leiden unter ihr an, wie es sich in extremer Form in Psychosen zeigt: Die Schizophrenie offenbart in der Verräumlichung der Zeitwahrnehmung deren Fremdheit. 25 In der Depression zeigt sich durch die Unmöglichkeit, sie mit Leben zu füllen, ihr Zwangscharakter. 26 Und die Zwangskrankheit schließlich stellt eine sichtbare, weil auswegslose Form ihrer Internalisierung dar. 27 Im nicht Normalen eine Anzeige auf das Wahre zu suchen – wie auch bei Foucault – und hinter die Banalität des konventionell Normierten zurückzugehen ist der Verdienst einer Philosophie, die sich noch gegenüber und nicht nur in Folge von Aufklärung und Emanzipation als Kritik versteht. In einem jedoch bleibt eine Übereinstimmung der Rückkehr zur Negativität der Zeit als fremder Herrschaft mit Heideggers Affirmierung bestehen: in der Ablehnung einer Ethik, die nicht nur anthropologisch vage, in eine Philosophie der Existenz aufgelöst, sondern auch normativ bestimmt ist. Die kontinentale Philosophie der jüngeren Moderne ist seit der Mitte des 23 24 25 26 27

Ebd., S. 40. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 49 f. und S. 218 ff. Vgl. ebd., S. 52. A

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19. Jahrhunderts mit Kierkegaard, Nietzsche und Schopenhauer mit starkem anti-normativistischem, teilweise überhaupt anti-ethischem und antimoralistischem Pathos hervorgetreten, in deren Folge Heidegger den urethischen Begriff der Verantwortung – der im folgenden Kapitel eine wesentliche Rolle spielen wird – entweder vermied (Sein und Zeit) oder im Gang der Seinsgeschichte auflöste (SpiegelInterview). Gerade am Fehlen dieses Begriffs zeigen sich aber auch die Grenzen der antiethischen Opposition eines negativistischen Realismus 28 : Sucht man im Absehen von der natürlichen Dialektik von Individualität und Vergänglichkeit nach dem rein Negativen in der von den alltäglichen und überlebensnotwendigen Verdrängungsmechanismen freien Krankheit, bewegt man sich zwangsläufig auf einem Terrain ohne ethische Ansprüche. Psychisch Kranke sind notwendigerweise egozentrisch, insofern sie nicht mehr in der Lage sind, Distanz zu sich und ihrem Leiden zu gewinnen. Niemand kann von einer psychisch kranken Person Verantwortung für ihr Tun und gegenüber Mitmenschen einfordern, nicht einmal gegenüber den eigenen Partnern oder Kindern. Dennoch leiden diese unter dem objektiv verantwortungslosen Handeln bzw. der depressiven Erstarrung der Patienten und tragen ihrerseits Verantwortung für sie. Diese ganze Breite einer ethisch sensiblen kommunikativen Situation muss ausgeblendet werden, um über den unverstellten, jedoch einseitigen Blick der Kranken in die Tiefe einer ursprünglichen Realität des Negativen zu gelangen. Das Negative wird hierbei klinisch freigelegt, um sich sodann im Sinne eines dialektischen Umschlags von seiner Herrschaft ästhetisch momentan und theologisch endgültig befreien zu können. Die Schlüsselworte einer Befreiung von der Zwangsherrschaft der Zeit sind dabei das Verweilen als Freiheit von der Zeit in der Gegenwart und die Utopie als Hoffnung auf eine Zukunft jenseits der Zeit. Weil unser vereinzeltes Leben, insofern keine verbindlichen ethischen Maßstäbe gelten, aufgrund seiner zeitlichen Verfasstheit grundsätzlich scheitert, 29 kann sich gelingendes Leben nur als die Negation des Negativen von diesem absetzen. Daher unterscheidet Theunissen drei Formen trotz der Zwangsherrschaft der Zeit gelingenden Lebens: »erstens eine Herrschaft über die Zeit, die wir der Vgl. M. Theunissens Kritik an der »Sollensethik« (normativen Ethik) ebd. S. 29–32 und E. Tugendhats Entgegnung in Der aufgescheuchte Normativist. 29 Vgl. M. Theunissen, Negative Theologie der Zeit, S. 55. 28

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Herrschaft der Zeit über uns abringen; zweitens Freiheit von der Zeit; drittens Versöhnung mit ihr oder Mimesis an sie.« 30 Herrschaft über die Zeit bedeutet ihre alltägliche, dem gesunden Individuum selbstverständlich mögliche Gestaltung, ihre Nutzung für die Verwirklichung von Ideen, Arbeit, Kommunikation, kurz das praktische Glück im aristotelischen Sinn. 31 Hierzu gehört auch die Akzeptanz der Endlichkeit, der das Leben kennzeichnenden Abschiedlichkeit 32 , in der Schellings Betonung der Notwendigkeit, sich von Vergangenem zu trennen, wieder aufgegriffen wird. Freiheit von der Zeit geht über die Alltagspraxis hinaus und geschieht durch die ästhetische Anschauung, im Verweilen bei einer meditativen Betrachtung, im sich Losreißen von der nie anhaltenden Zeit. Dies bewirkt eine Ausweitung der Gegenwart 33 , ein Gegensteuern gegen den ständigen Verlust an Gegenwart durch das Forthasten in die Zukunft im Sinne Senecas, das theoretische Glück Aristoteles’, welches der praktischen Instrumentalisierung der Zeit entgegengesetzt ist 34 . In einem solchen Anhalten der Zeit bleibt nach Theunissen etwas vom traditionellen Begriff der Ewigkeit bewahrt. In der ästhetischen Anschauung ist man sowohl von der Notwendigkeit, Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, als auch über vergangene Traumata nachzudenken, entlastet: »In einer Sache aufgehen kann der und nur der, welcher sich um Zukünftiges nicht kümmert und auch seiner vergangenen Leiden nicht gedenkt.« 35 Dieser Zusammenhang von der Suche nach Überwindung der Zeit, des Todes mit Kunst steht evident am Beginn menschlicher Kultur überhaupt. Die ältesten Zeugnisse hiervon finden sich an Grabstätten, an denen unseren Vorfahren vermutlich die Idee eigener Endlichkeit aufgedämmert ist. Die ästhetische Verarbeitung von Erfahrungen und der Ausdruck von Wahrnehmungen, Gedanken und Empfindungen waren von Anfang an Versuche, Zeit zu gestalten, etwas Dauerndes ihrem Lauf zu entziehen. Der Kunsthistoriker Rainer Zimmermann geht Ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 57. 32 Vgl. M. Theunissen, Die Gegenwart des Todes im Leben: »Menschlich leben wir dann und nur dann, wenn wir abschiedlich leben, und das heißt: wenn wir uns ständig von der Welt und von uns selbst abscheiden. So zu leben ist nicht willkürlicher Entscheidung anheimgegeben. Denn unser Leben ist abschiedlich.« S. 213. 33 Vgl. ebd., S. 58. 34 Vgl. ebd. (»Freiheit von der Zeit«), S. 290. 35 Ebd., S. 291. 30 31

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sogar so weit, den künstlerischen Schöpfungsakt als eine Garantie des Fortlebens mit der Fortpflanzung zu vergleichen: Dass die Kunst sich zu einem Akt der Auflehnung gegen den Tod erheben konnte, verdankt sie allein der Tatsache, dass sie nichts anderes vollzieht als einen Liebesakt, die Zeugung eines Geschöpfes zweiter Ordnung, in dem die Hingabe an ein Geliebtes dauerhafte Gestalt annimmt. 36

Mimesis an die Zeit heißt, sich ihr zuzuwenden anstatt sich wie im ästhetischen Verweilen von ihr abzukehren. Eine solche Zustimmung, die sich von der Affirmation dadurch unterscheidet, dass sie die Gewalt der Zeit anerkennt, kann darauf hoffen, der Ewigkeit als dem Anderen der Zeit zu begegnen. Dieses wäre die eigentliche Bedeutung von Utopie, die nach Theunissen wie nach Adorno notwendigerweise nie von der Gegenwart einzuholen ist. 37 Die drei Formen der Befreiung von der Herrschaft der Zeit von der einfachsten der Instrumentalisierung über die höhere der Kontemplation bis zur höchsten der Hoffnung enthalten alle Potentiale einer einsamen Bewältigung eigener Endlichkeit. Die Kulturkritik, die hinter der Rückführung der Zeit auf das diesseits der Ewigkeit herrschende radikal Negative steht, übersieht jedoch deren kommunikative, ethische Alternativen. Zu Beginn seines Vortrags über Zeit des Lebens anlässlich des Evangelischen Kirchentages in Frankfurt 1987 betonte Theunissen die immanente Dialektik des Lebens: »Im Leben trifft sich beides: Wachstum und Abnehmen, Fortschreiten und Verfallen, Reifen und Altern. So gesehen ist es in sich selbst zwiespältig.« 38 Hieraus ließe sich auch der Schluss ziehen, dass die negative Seite dieses Prozesses nicht unbedingt ein Zeichen entfremdender Herrschaft ist, sondern sich ethisch neutral verhält. Eine Suche nach Vermeidung oder Überwindung des konkret Schlechten (als dem Gegenteil des Guten) anhand ethischer Kriterien, das nicht versucht, auf ein radikal Negatives zurückzugehen, könnte etwas von dem Erlösungsversprechen der Ewigkeit in die kommunikative Realisation der eigenen Lebenszeit hineinnehmen. Sollte es gelingen, dass an die Stelle von Verhängnis und Sündenbewusstsein eine »Verantwortung der Vernunft« (Apel) tritt, verweist die Aussicht auf eine Beherrschung des homo faber, dem Machbarkeit über Verständnis 36 37 38

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R. Zimmermann, Die Überlistung des Todes, S. 172. Vgl. M. Theunissen, Negative Theologie der Zeit, S. 65 Ebd. (»Zeit des Lebens«), S. 299.

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Sinnerfahrung im Leiden als ethische Transformation des Negativen bei Frankl

geht, durch den homo sapiens, der sich auf seine rationale Stärke besinnt, auf eine solche Möglichkeit der Hoffnung. 39

6.2 Sinnerfahrung im Leiden als ethische Transformation des Negativen bei Viktor E. Frankl Affectus qui passio est, desinit esse passio simulatque eius claram et distinctam formamus ideam. Baruch de Spinoza 40

Nachdem unterschiedliche Wege des Abstandnehmens bzw. der Befreiung vom Leiden am negativen Aspekt der Existenz – sowohl in nicht-wertender als auch in wertender Hinsicht – erörtert wurden, sollen in diesem Abschnitt die Möglichkeiten einer Transformation leidvoller Negativitätserfahrungen untersucht werden. Dabei muss vorangestellt bleiben, dass es sich hier ebenso wenig wie später bei der Großmut (6.3) um den gefährlichen Versuch handelt, Negatives in einem fremdbestimmten Sinn heroistisch überhöhen zu wollen, oder gar den ethischen Imperativ der Leidensvermeidung unter Hinweis auf seine potentielle Konversionsfähigkeit zu unterlaufen. Leiden, das vermeidbar ist, ist objektiv immer sinnlos, auch wenn sich ihm ein subjektiver Sinn abgewinnen lässt. Wird es bewusst erzeugt oder geduldet, bedeutet dies über die strafrechtliche Relevanz hinaus eine elementare Verletzung ethischer Grundregeln. Dort, wo zumindest psychisches Leiden unvermeidbar ist, angesichts von Krankheit oder Tod, lässt sich ihm nach Frankl allerdings weniger eine Anzeige auf die tiefe, unumstößliche Realität des Negativen entnehmen, sondern vielmehr individuelle Sinnerfahrung abringen. 41 Leiden ist nicht notwendig, es gehört nicht zum Sinn des Lebens, aber es gilt, »dass Sinn möglich ist trotz Leidens«, insofern sich dessen Ursache nicht beheben lässt. 42 Sein Wort hat durch die Lebens- und Leidenserfahrung, aus der er selber spricht, ein besonderes Gewicht. Wo von Leid die Rede ist, stehen im Hintergrund nicht das »normale«, im Vgl. K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, S. 44 B. Spinoza, Ethica, 5. Teil, Satz III.: »Ein Gefühl, das ein Leiden ist, hört auf, ein Leiden zu sein, sobald wir uns eine klare und deutliche Idee bilden.« 41 Zur produktiven Einbindung der Psychologie Frankls in die Gerontologie vgl.: M. Utsch, Sinnfindung im Alter; zu einer allgemeinen Darstellung unterschiedlicher Sinnhorizonte vgl. F. Dittmann-Kohli, Sinngebung im Alter. 42 Ebd., S. 88. 39 40

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Vergleich geradezu luxuriöse Unbehagen von Gebrechlichkeit oder abstrakte Todesfurcht, sondern das persönliche Überleben der Maschinerie größter Qualen und Erniedrigungen, die je von Menschen erdacht und umgesetzt wurde. 43 Umwandlung von Leid in Sinnerfahrung bedeutet nicht heroistische Umwertung eines Versagens in Macht, sondern die Anerkennung und Rettung der spezifischen Würde einzelner Existenz auch noch in ihrer äußersten Bedrohung. Der schlimmsten realen Negativität wird so noch eine Anzeige auf Sinn entnommen, denn: »Es gibt keine Lebenssituation, die wirklich sinnlos wäre.« 44 Auch Frankl entfernt sich aus der befangenen, engen Fixierung auf die eigene Endlichkeit zunächst durch das Hinaustreten in eine größere, kosmologische Ordnung – allerdings nicht um die Bedeutung der einzelnen Existenz zu relativieren, sondern um ihr in einem zweiten Schritt eine konstitutive Rolle für das Ganze zuzuordnen. Die Leitfigur der Verflechtung zwischen individuellem Handeln und dem allgemeinen Gang der Geschichte ist daher die Verantwortung, die jede(r) einzelne in jedem Moment für die Gestaltung des eigenen Lebens trägt, die Lebensverantwortung 45 . Die Geschichte dieser Verantwortung wird in der Vergangenheit zu Sediment, das Zeugnis unserer Taten ablegt. Offensichtlich beeindruckt durch die großen physikalisch-chemischen Entdeckungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überträgt er deren Grunderkenntnis – den Zusammenhalt der Materie durch Energie und die Befreiung von Energie durch materiellen Zerfall – auch auf das menschliche Leben insofern es Teil der Natur ist. Dessen »ursprüngliche Substantialität« löst sich zunehmend auf und die gewonnene Energie kann durch Taten in Werte verwandelt werden. 46 Der Katalysator dieser Verwandlung ist die Vernunft, die Reflexion, welche es ermöglicht, von den eigenen Ohnmachtsgefühlen angesichts der Endlichkeit Abstand zu nehmen, nicht um sie zu verdrängen, sondern um sich durch Rationalität von ihrer Herrschaft zu befreien.

Vgl. den Bericht und die Analyse der Erfahrungen im Konzentrationslager, V. E. Frankl, … trotzdem Ja zum Leben sagen. 44 Ders., Der unbewusste Gott, S. 76. 45 Ders., Ärztliche Seelsorge, S. 83. 46 Ebd. 43

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6.2.1 Die Vergangenheit legt Zeugnis ab Um die durch Erfahrung verbürgte Wirkung der Zeit zu beschreiben, benutzt Frankl die auch umgangssprachlich in diesem Zusammenhang verwendete Metapher des Stroms: Der Zeitfluss sagt er, grabe sich ein Bett in der Geschichte und gleichzeitig damit unser Grab. Diese Aussage ist vergleichbar mit derjenigen über die Evolution, allerdings mit dem in unserem Zusammenhang besonders wichtigen Unterschied, dass der Vergangenheit und nicht der Zukunft besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ist für die Evolutionsbiologie das Vergangene eher eine primitive Vorstufe des Zukünftigen, ist es für den rationalen Moralisten der sedimentierte Beweis für Gelingen und Versagen, sowohl in historischer wie auch in individueller Dimension: Die Zeit verfließt; aber das Geschehen gerinnt zur Geschichte. Nichts Geschehenes lässt sich ungeschehen machen – nichts Geschaffenes lässt sich aus der Welt schaffen. In der Vergangenheit ist nichts unwiederbringlich verloren: im Vergangensein ist alles unverlierbar geborgen. 47

Gerade wenn man selber alt wird, ist diese Sicht auf die Vergangenheit als der Dimension des Bewahrens aber auch der Prüfung und Bewertung von besonderer Wichtigkeit. Während hinsichtlich des zukünftigen Lebens und für junge Menschen die Dimension der Zukunft und die Modalität der Möglichkeit die entscheidende Rolle spielen, sind es für alte Menschen die Vergangenheit und die Wirklichkeit, die beide durch die Notwendigkeit der Verantwortung verbunden sind. Angesichts der Frage eventuellen Neides eines alten Menschen gegenüber einem jungen, der das Leben noch vor sich hat, lässt Frankl jenen denken: ich habe statt dessen Wirklichkeiten – in meiner Vergangenheit; nicht nur die Wirklichkeit der gewirkten Werke, sondern auch die der geliebten Liebe und auch noch die der gelittenen Leiden. Und auf die bin ich am meisten stolz – mag ich auch um sie am wenigsten beneidet werden … 48

In der persönlichen Vergangenheit bleibt alles archiviert, nichts war umsonst, aber auch nichts lässt sich tilgen. Die Biographie zeigt sich so nicht dualistisch im Spannungsfeld von Bewertungen wie Wachsen (positiv) und Abnehmen (negativ) oder Reifen (positiv) und Ver47 48

Ders., Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, S. 198. Ders., Ärztliche Seelsorge, S. 47. A

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fallen (negativ), sondern holistisch als »temporale Explikation der Person«. 49 Die Nutzung dieser potentiell immensen Ressource alter Menschen hängt allerdings von zwei Faktoren ab: dass sie überhaupt zugänglich gemacht wird und dass der Blick zurück, wenn er gelingt, nicht vor gravierendem moralischen Versagen erschrecken muss. Anhand der Schilderung der Sinnkrisen zweier Patientinnen angesichts ihres nahen Todes macht der Psychiater deutlich, wie gerade durch die Umkehrung der Begriffe des Gewinnens und Verlierens der Blick vom geschlossenen Zukunftshorizont ab- und der Realität der eigenen Vergangenheit zugewendet werden kann. Anstatt sich vom baldigen Verlust lähmen zu lassen, werden die Gewinne, der Sinn des gelebten Lebens gewertet. Eine an nicht mehr behandelbarem Krebs erkrankte Krankenschwester war verzweifelt darüber, dass sie weder ihren Beruf würde weiter ausüben noch das Schicksal ihrer (erwachsenen) Kinder verfolgen können. Der Therapeut bewegte sie dazu, dieser verschlossenen Zukunft den Rücken zuzukehren und auf das zu schauen, was ihr im Leben gelungen ist: Patienten zu pflegen und ihre Kinder zu selbständigen, erfolgreichen Menschen zu erziehen. Dabei legt er Wert darauf zu betonen, dass es elementar darauf ankommt, dass wir etwas in der Welt zurücklassen, von dem Abschied zu nehmen zwar schmerzt, das unserem Leben jedoch andererseits seinen Sinn gibt: »Etwas, das wir in der Welt zurücklassen können, mit dem wir einen Sinn und uns selbst erfüllen an dem Tag, an dem sich unsere Zeit erfüllt.« 50 Denn in der Negativität des Abschiedsschmerzes liegt eine Anzeige auf einen Wert, einen Sinn, das, für das es sich lohnt, ihn zu empfinden. Eine andere, alte Patientin, ebenfalls an einem nicht mehr therapierbaren Karzinom erkrankt, ist zwar über ihr nahes Ende nicht so verzweifelt, klammert aber aus ihren Erinnerungen an ihre lange Biographie die fremdbestimmten negativen Erlebnisse, die die positiven quantitativ überwogen, aus. In diesem Falle war es die Aufgabe des Psychiaters, die Seite des Leidens in die Biographie zu integrieren, indem er den Mut und die Tapferkeit betonte, mit der es ausgehalten wurde. Durch das Aushalten der Last, die ihr in ihrer Existenz zugemutet wurde, konnte sie sich ein persönliches Denkmal schaffen, das auch in seiner einzelnen Kleinheit in den Sedimenten der Geschichte der Menschheit aufgehoben bleibt. Beiden Patientin49 50

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Ders., Das Leiden am sinnlosen Leben, S. 87. Ders., Der unbewusste Gott, S. 78.

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nen konnte geholfen werden, sich an den »vollen Scheunen der Vergangenheit« zu freuen, anstatt vor dem »Stoppelfeld der Vergänglichkeit« zu erstarren. 51 Die beiden Krankengeschichten konnten ein den Umständen entsprechend gutes Ende haben – es wird berichtet, dass beide Patientinnen ohne Verbitterung starben –, weil sie über ein starkes ethisches Rückgrat verfügten. Wenn das Leben nämlich mit dem Tod zum Abschluss kommt, entscheidet sich auch ohne den Glauben an ein jüngstes Gericht, allein anhand der Fakten des Zurückgelassenen seine moralische Qualität. Im Tod gerinnt das gesamte Leben des individuellen Menschen zu Geschichte, »er ist seine eigene Geschichte, sowohl die ihm geschehene als die von ihm geschaffene. Und so ist er auch sein eigener Himmel und seine eigenen Hölle, je nachdem.« 52 Durch den Fortgang der Zeit schließt sich das Leben ohne unser Zutun ab. Die aktive Gestaltung, das Übernehmen von Verantwortung, aber auch das würdevolle Ertragen dieses Prozesses wenn die Handlungsräume nicht mehr frei sind, entscheiden jedoch darüber, ob es als Erfüllung erlebt werden kann. Es geht, sagt Erhard Olbrich in der Nachfolge Frankls, im höheren Alter um Ich-Integration, die das Gegenteil von Verzweiflung ist: Der Mensch, der an der Schwelle des Alters nach vorne blickt und nur Krankheit, Verlust und Tod auf sich zukommen sieht, kann schnell verzweifeln. Steht ein alt gewordener Mensch aber lebensvoll an der Schwelle seines Alters – ein Mensch, der seine Identität gefunden hat, der sie intim geteilt hat und sich in Bezogenheit weiterentwickelt hat zu einer Person, die generativ in Kinder, Werte, Ideen, Werke usw. investiert hat –, dann besitzt es eine tragfähige Basis in sich selbst. Er verfügt über etwas, das ihm nie genommen werden kann. Eine prägnant gewordene Persönlichkeit löst sich doch nicht auf, eine intensiv gelebte Beziehung stirbt doch nie. Die Beziehung zu den Kindern bleibt weiter erhalten, auch wenn die Kinder physisch nicht mehr anwesend sind. Intensiv gelebtes Leben ist zwar physisch vergangen, psychisch aber ist es nach wie vor verfügbar. Es macht uns im Alter selbst aus. 53

Der Blick einer Person, deren Ich-Integration sich im Alter vollendet, geht zurück, jenseits der eigenen Geburt, auf die Geschichte, innerhalb der eigenen Biographie auf das individuelle Leben, und nach

51 52 53

Ders., Psychische Hygiene des Reifens, S. 106. Ders., Zeit und Verantwortung, S. 31. E. Olbrich, Lebenszugewandtes Altern, S. 84. A

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vorne, jenseits des eigenen Todes, auf die Zukunft der Menschen und die Früchte der Taten, die man zurücklässt. 6.2.2 Verantwortung als Lebenssinn In depressiven psychischen Erkrankungen zeigt sich nach Frankl v. a. ein endogenes Sinndefizit. Endogen ist es, weil das, was der persönlichen Existenz einen Sinn verleiht, nicht primär von außen in Form zu erfüllender Aufgaben oder zu leistender Verpflichtungen kommt, sondern eigener Initiative entspringen muss. Das Individuum ist nicht passiver Vollstrecker eines sinnvollen Lebensplans, sondern dessen aktiver Gestalter – auch dann, wenn die Spielräume sich verengen. Gelingt die Mühe solcher lebenspraktischen Sinngebung nicht mehr, versinkt man in eine Verzweiflung, aus der wiederum nur der Entschluss zur Verantwortungsübernahme wieder herausführen kann: Wir müssen lernen und die verzweifelten Menschen lehren, dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: was das Leben von uns erwartet! […] Leben heißt letztlich nichts anderes als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderung der Stunde. 54

Die Endlichkeit des eigenen Lebens stellt den Sinn der Verantwortung nicht in Frage. Vielmehr ist sie konstitutiv für sie. Indem das Leben zu einem Abschluss kommt, insofern nicht alle Projekte ins Unendliche hinein verschoben werden können und weil die gedankliche Nähe zum eigenen Tod eine reflexive Wirkung hat, erwachsen hieraus die Pflicht vernünftigen Handelns und die »Verantwortung dafür, den Augenblick zu nützen, um Werte zu verwirklichen und das Dasein mit Sinn zu erfüllen.« 55 Die Lebensverantwortung ergibt sich aus der »Zeitlichkeit und Einmaligkeit« des menschlichen Lebens, in deren individueller Mikrochronik alles bewahrt bleibt, ebenso wie in der Makrochronik der Geschichte. Ein derart existentiell verstandener Verantwortungsbegriff führt dazu, dass die Frage nach dem Glück hinter die Frage nach 54 55

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V. E. Frankl, … trotzdem Ja zum Leben sagen, S. 124 f. Ders., Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie, S. 325.

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Soziale Selbstüberschreitung durch Großmut und Engagement

dem Sinn zurücktritt. Es kommt nicht so sehr darauf an, »ob das Leben eines Menschen lustvoll oder leidvoll als vielmehr darauf, ob es sinnvoll ist.« 56 Daher kommt es auch nicht in erster Linie auf das utilitaristische Wozu langen Lebens an, das die Frage nach extern zu beurteilenden Kriterien für den Wert des Lebens aufwirft, sondern auf das Wofür als praktische Frage der internen Wertschöpfung. Für eine Theorie gelingenden Alterns lässt sich hieraus lernen, dass es, solange Bewusstsein vorhanden ist, keine Entpflichtung von Verantwortung geben kann, doch dass gerade hieraus die Chance erwächst, diese Lebenszeit für das Ordnen, Erinnern, Bewahren, Bewerten, Bedauern, Freuen zu nutzen. Einem Pessimisten, der über jedes abgerissene Kalenderblatt trauert, weil es ihn seinem Tod einen Tag näher bringt und der Kalender immer dünner wird, hält Frankl den potentiellen Reichtum der abgelegten, sortierten und mit Tagebuchnotizen versehenen Blätter entgegen. Bei Frankl bleibt vieles unklar: der ethische Maßstab des Handelns, der im Inneren des Gewissens verborgen bleibt, oder auch die Verinnerlichung der Verantwortung – Ich trage Verantwortung v. a. für mich und meine Biographie. Beides ist begründet in der höheren Instanz des Gewissens und der Verantwortung, in einem universalen Gott, mit dem alle Religionen der Welt dialogisieren. Die säkulare Idee der Gerechtigkeit oder der sozialen Verpflichtung spielt keine Rolle. Doch hinsichtlich der in diesen ersten beiden Abschnitten des Kapitels verhandelten individuellen Möglichkeiten, die eigene Endlichkeit zu bewältigen, kann davon abgesehen werden.

6.3 Soziale Selbstüberschreitung durch Großmut und Engagement Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Thomas Mann 57

Nach den individuellen Wegen der Selbstentgrenzung und dem existenzialpsychologischen Ansatz Frankls werden nun einige Möglichkeiten sozialer, kommunikativer Überwindung des Egozentrismus untersucht. Die Kunst, Abstand von sich und seinen unmittelbaren 56 57

Ders., Das Leiden am sinnlosen Leben, S. 89. Th. Mann, Der Zauberberg, Hans Castorps »Traumgedicht vom Menschen«. A

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Die egozentrische Fixierung auf die eigene Endlichkeit überwinden

Interessen zu nehmen, ist in diesem Zusammenhang nicht zu verwechseln mit blinder, einer externen Autorität gehorchender Selbstaufopferung, die z. B. von der Kriegspropaganda intendiert wird. Diese hat Brecht unter dem Titel Wenn die Haifische Menschen wären knapp und eindrücklich in seinen Geschichten vom Herrn Keuner beschrieben. Dort heißt es: Die Hauptsache wäre natürlich die moralische Ausbildung der Fischlein. Sie würden unterrichtet werden, dass es das Größte und Schönste sei, wenn ein Fischlein sich freudig aufopfert, und dass sie alle an die Haifische glauben müssten, vor allem, wenn sie sagten, sie würden für eine schöne Zukunft sorgen. 58

Abstandnehmen und Selbstentäußerung müssen unbedingt sowohl von Heroismus als auch von Fremdbestimmung frei sein. Die Idee der Selbstentäußerung, deren Verschwinden in den modernen Gesellschaften Bataille eine eigene Analyse widmete, 59 war gefährlich, insofern sie scheinbar höhere Werte über die Selbsterhaltung stellte, die zur tendenziellen Geringschätzung und zum leichtfertigen Opfern des eigenen Lebens führten – das Leben der Individuen ließ sich so in einer Vielzahl von kriegerischen Auseinandersetzungen instrumentalisieren. Nicht die Todesverachtung oder gar der Todeskult aggressiver Expansionsbestrebungen unter dem Motto, das bzw. der Einzelne habe sich dem Allgemeinen zu opfern, dürfen daher Überlegungen über den Sinn des Platzmachens leiten. Dieses ist weder horizontal im Sinne eines Opfers für angeblich ranghöhere Existenzen, noch vertikal, d. h. von Jüngeren gegenüber Älteren einzufordern. Vielmehr kann nur aus einer humanistischen Kultur der Identifizierung mit zukünftigen Generationen und dem liebevollen Wohlwollen im Sinne der Aristotelischen Freundschaft 60 ihnen gegenüber die gelassene Akzeptanz des Prinzips des Platz-Überlassens und ein Ethos des großzügigen Weitergebens von Erfahrungen und Ressourcen erwachsen. Nur eine nicht manipulierte, selbstgewählte Identifizierung mit einer Existenz, einer Utopie, einem Projekt über die eigene Begrenztheit hinaus kann so eine Möglichkeit eröffnen, die Tragik des eigenen Todes zu relativieren. B. Brecht, Kalendergeschichten, S. 112. G. Bataille, La Notion de Dépense (1933), dt.: Der Begriff der Verausgabung, S. 7–31. 60 »Jene aber, die den Freunden das Gute wünschen um der Freunde willen, sind im eigentlichen Sinne Freunde; denn sie verhalten sich an sich so, und nicht zufällig.« Aristoteles, Nikomachische Ethik, 8. Buch, 1156 b 1. 58 59

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Soziale Selbstüberschreitung durch Großmut und Engagement

Diese unveräußerliche Entscheidungsfreiheit vorangestellt, lohnt es sich, vor dem Hintergrund der Gewissheit, dass die Natur das Platzmachen gesetzlich verfügt hat, zu bedenken, ob dieses Prinzip als lediglich entfremdend und demütigend erfahren werden muss, oder ob es sich ethisch transformieren lässt. 6.3.1 Großzügigkeit Niemand kann die Weisheit oder die Güte lieben, es sei denn in den ihnen entsprechenden Tätigkeiten, im Philosophieren also und in der tätigen Güte. Hannah Arendt 61

Im Jahre 1528 beschrieb der Florentiner Politiker und Historiker Francesco Guicciardini knapp und eindrücklich den Topos des missgünstigen Alten, der nicht vorschnell als stereotypes Vorurteil abgetan werden sollte, sondern ex negativo der Herausbildung einer Kultur der Großzügigkeit dienen kann. Er stellte fest, dass sich mit dem Alter folgende Eigenschaften verstärken: – der Geiz im Sinne des Nichtloslassenkönnens von erworbenem Besitz zugunsten anderer, weil die Abnahme der eigenen Bedürfnisse nicht anerkannt wird, – die Gier, durch die der Verlust an Vitalität kompensiert werden soll, – die Grausamkeit, mit der die eigenen Interessen durchgesetzt werden. 62 Als möglichen Grund hierfür führt er die zunehmende Gewöhnung an die Realitäten und Annehmlichkeiten des Lebens an. Die Folge davon ist der Wunsch nach unendlichem Leben: »[…] je älter der Mensch wird, desto schwerer scheint ihm das Sterben, und er lebt zunehmend so, als ob sein Leben unendlich sein müsste.« 63 Wer also die eigene Sterblichkeit anerkennt, müsste mit inneren wie äußeren Ressourcen großzügiger umgehen können und sich darum bemühen, das Gegenteil des verbitterten Greises von Guicciardini zu sein:

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H. Arendt, Vita activa, S. 92. F. Guicciardini, Ricordi (1528), Nr. 63. Ebd., Nr. 64. A

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freigiebig im Bewusstsein, dass man Besitz nicht mit ins Grab nehmen kann, – großmütig in der Anerkennung, dass in der materiellen Aufbauphase des Lebens mehr Energien und Ressourcen benötigt werden als in der des Abbaus, und dass die Bedürfnisse sich ändern (psychisch-kognitiver Aufbau ist im Alter möglich, auch wenn man Macht abgibt), – aufmerksam gegenüber den berechtigten Interessen anderer und mild bei der Durchsetzung der eigenen. Während die negativen Stereotypen auf eine egozentrische Persönlichkeit zurückgehen, setzt das Prinzip der Großzügigkeit voraus, dass Selbstverwirklichung nicht am besten in Konkurrenz zu den Anderen, sondern in Kooperation mit ihnen geschieht. Das Begriffspaar egoistisch / altruistisch greift hier nicht, denn eine kooperative Handlungsweise muss nicht frei von egoistischen Interessen sein, insofern sogar garantiert sein sollte, dass die Großzügigkeit zu Anerkennung und Wechselseitigkeit führt. Von der notwendigen Balance zwischen der berechtigten Absicherung eigener Interessen im Alter und der Verantwortung für die Verwirklichung der Interessen Anderer handelt das nächste Kapitel (6.3.2). Hier geht es zunächst um die innere Einstellung der Großmut. Zur Verdeutlichung seien zunächst einige triviale, alltägliche Beispiele für Aussagen angeführt, hinter denen sich nicht selten Missgunst gegenüber denen, die einen Überleben werden, verbirgt: z. B. dass das Wetter immer schlechter würde, die Kriminalität unaufhörlich zunehme, das Wohlstandsniveau nicht länger haltbar sei und allgemeine Werte verfielen. Ohne reale Probleme wie den Klimawandel oder die negativen Seiten der Globalisierung in Abrede stellen zu wollen, steht hinter solchen Aussagen manchmal nicht primär echte Sorge um die Zukunft, die sich in Engagement umwandeln ließe, sondern verborgene Schadenfreude als Trost über die eigene Endlichkeit: Während man selbst nicht mehr sein wird und nicht mehr darunter leiden muss, wird es den Anderen schlechter ergehen. Die Daten der statistischen Erhebungen unterstützen solche düsteren Prognosen nur zum Teil (Klima), widerlegen sie jedoch teilweise (die Kriminalitätsrate sinkt), oder sind ambivalent (die Lebenserwartung steigt immer noch), und schließen keinesfalls eine mögliche Verbesserung der allgemeinen Lage aus (erneuerbare Energien, Bevölkerungskontrolle, Konsolidierung der Wohlfahrtsgesellschaft, weltweite Sensibilisierung für 184

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Soziale Selbstüberschreitung durch Großmut und Engagement

Menschenrechte, Suche nach internationalen Ordnungsprinzipien, die deren Achtung nachhaltig garantieren können, internationale Strafgerichtsbarkeit). Im Kontrast zu den apokalyptischen Visionen, die nicht die Funktion höherer, überirdischer Gerichtsbarkeit haben, sondern der Versüßung des nahen Todes dienen, stehen folgende, von eigener Zufriedenheit und/oder Großmut gegenüber Anderen zeugende Aussagen: es sei gut, dass die Jüngeren Hunger und Krieg nicht erleben mussten; die Demokratie habe sich trotz Krisen und Defiziten weiterentwickelt; der Lebensstandard habe sich in vielen Teilen der Welt verbessert und seine Sicherung bzw. gerechte Verwirklichung in einer unübersichtlichen, globalisierten Welt sei eine universale Aufgabe für Junge und Alte; neue Generationen etablierten neue Wertinterpretationen, zum Teil auf Kosten von alten, die nicht per se besser seien. Eine solche Art Großmut lässt sich an der kulturkritischen Diskussion um den Werteverfall verdeutlichen. Auch ethische Werte unterliegen historisch und kommunikativ bedingten Veränderungen bzw. können in eine Krise geraten. Sie bilden und verändern sich dynamisch, auch wenn das denen, die um sie trauern, nicht bewusst ist. Da sie in der frühen Erziehung wichtig sind, prägen sie sich für das ganze Leben ein, so dass sich ältere Menschen häufig als Leuchttürme ihrer Bewahrung verstehen, ohne zu akzeptieren, dass das, was sie unter Werten verstehen, nicht immer Beweggründe für gutes Handeln sein müssen, sondern unter Umständen sogar pervertiert sein können. Am deutlichsten ist die Umorientierung an Werten im letzten echten Generationenkonflikt der 68-er Generation mit ihren Eltern zu sehen gewesen. Die letzteren beharrten mehrheitlich auf ihren Werten von Treue, Kameradschaft, Gehorsam, Vaterland und autoritär-patriarchaler Familienstruktur. Die Kinder dagegen erforschten die Verkehrung dieser Werte in Komplizenschaft, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Untertanengeist, Sadismus und Unterdrückung und versuchten die Werte der Freundschaft, Liebe, Solidarität, und Selbstverwirklichung neu zu definieren. In diesem Konflikt ging es ebenso wenig wie in der Auseinandersetzung zwischen kirchlich gebundenen Gläubigen und Rationalisten über eine ethisch verwurzelte Lebensgestaltung einerseits oder unethisch-beliebige Lebensweise andererseits, sondern um die unterschiedliche Begründung von Werten vor dem Horizont des moralischen Versagens. A

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Neue Begründungen nicht mehr verstehen zu können oder zu wollen ist das gute Recht alter Menschen, wenn sie sich auf die oberen Ränge des Theaters (Bobbio) zurückziehen, doch müssten sie sich dann auch zunehmend der Be- bzw. Verurteilung enthalten, da die Kritiker immer dort sitzen müssen, wo man eine besonders gute Sicht aufs Detail hat. Ein anderer Prüfstein für missgünstiges oder großzügiges Verhalten ist das Verhältnis zu Kindern: Wird vor allem betont, was sie gegenüber dem früher Üblichen schlechter können, oder auch darauf geachtet, was sie besser können, z. B. schneller komplexe oder abstrakte Zusammenhänge erfassen? Ein alter Mann mit Gehstock, der zu einem Kind, das neben ihm an einer Treppe steht, sagt: »Wetten, dass Du schneller unten bist als ich?« gewinnt durch seinen Großmut ein Lächeln und damit mehr innere Zufriedenheit als durch ein verbittertes und desinteressiertes Ignorieren oder gar Ärger. Das Kind kann sich später vielleicht an seinem Vorbild orientieren. Dabei ist zu bemerken, dass die oft ganz harmlos erscheinende Missgunst gegenüber Jüngeren früh beginnen kann, z. B. mit der Usurpation ihrer Räume und Kulturen. Der Soziologe Karl Otto Hondrich stellte fest, dass durch die verbreitete Weigerung erwachsen zu werden und das Bestreben, die eigene Jugendlichkeit zu konservieren, die Kreativität der Jugend erstickt wird – ein Problem, das durch die Umkehr der Mehrheitsverhältnisse zwischen Jugend und Erwachsenen/Älteren verschärft wird. 64 Beim Ausscheiden aus seinem Amt als Außenminister gab Joschka Fischer im September 2005 ein zwar ironisches, aber dennoch bezeichnendes Beispiel für die Arroganz eines solchen alten Dominanzanspruches, indem er den Unterschied zwischen seiner eigenen »Echtheit« als Rockfan gegenüber der nach ihm kommenden Play-back-Generation betonte. Eine solche implizite Jugendfeindlichkeit aus der Verteidigung eigener Jugendlichkeit heraus ist das Spiegelbild der Missachtung des Alters. Beide Arten der Feindseligkeiten stehen einer wechselseitig respektvollen Kooperation der Generationen im Weg. 65 Der Versuch, sich als älterer Mensch als der K. O. Hondrich, Eine Minderheit namens »Jugend«. An dieser Stelle ist festzuhalten, was im nächsten Kapitel ausgeführt wird: Die Konkurrenz um Existenzvorteile verläuft keineswegs überwiegend vertikal zwischen den Generationen, sondern horizontal innerhalb dieser. Auch wenn häufig dort, wo es sich eigentlich um soziale Verwerfungen handelt, Generationenkonflikte konstruiert werden, sind subtile Formen der wechselseitigen Missachtung dennoch nicht zu unterschätzen.

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eigentlich Jugendliche zu behaupten, widerspricht sogar geradezu dem, was Erich Kästner, der sich sein Leben lang mit dem Thema des Kindbleibens befasste, eindringlich als das Bewahren der Kindheit in sich selbst als moralisches Prinzip forderte. Sie sei »das stille, reine Licht, das aus der eigenen Vergangenheit tröstlich in die Gegenwart und Zukunft hinüberleuchtet.« 66 Doch um sich der eigenen Kindheit zu erinnern, die unser »Leuchtturm« bleibe, 67 muss man akzeptieren, dass man erwachsen, älter und schließlich alt wird und anderen ihre Kindheit und Jugend unter den bestmöglichen Bedingungen mit den größtmöglichen Entwicklungschancen gönnen. 68 Für den Dialog, der die Voraussetzung dafür ist, dass diese Ablösung gelingt, sind beide Seiten verantwortlich, doch nicht im selben Maße: den Älteren fällt zunächst die Rolle der sensiblen Zuhörer und Anreger zu, der sokratischen Geburtshelfer, die das Neue verstehen wollen. Der Dichter Gianni Rodari, der in Italien eine ähnliche Autorität der Kinderliteratur wie Erich Kästner in Deutschland verkörpert, hat dem alten Zuhörer ein eigenes Gedicht mit dem Titel: Ein reifer Herr mit einem grünen Ohr gewidmet. Dieser vermag mit seinem nicht alt gewordenen, unreif und grün gebliebenen Organ, das er vor der Anpassung an das Faktische bewahren konnte, die Sprache der Kinder und ihre Träume zu verstehen. 69 6.3.2 Widerspiegelung und Weitergabe Mit jedem Kinde, das geboren wird, fängt die Menschheit im Angesicht der Sterblichkeit neu an […] Hans Jonas 70

Der englische Dichter und Maler William Blake schuf mit seinen Songs of Innocence (1789) und den Songs of Experience (1794) einen poetischen Dialog zwischen den Tugenden der Jugend und denen des Alters. Im großen Atem der Welt sind die Unterschiede zwischen jung und alt geringer als die existentiellen Gemeinsamkeiten, da die E. Kästner, Die vier archimedischen Punkte, Ges. Schriften Bd. 7, S. 258. Ebd. 68 Vgl. auch E. Kästner, Ansprache zum Schulbeginn, Ges. Schriften Bd. 7, S. 181: »Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt ist ein Mensch!« 69 G. Rodari, Parole per giocare, (»Un signore maturo con un orecchio acerbo«). 70 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 241. 66 67

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Alten vor kurzem noch selber jung waren und sich in den Jungen spiegeln können. In den ersten beiden Strophen von The Ecchoing Green aus den Songs of Innocence beschreibt er die Sphären unbekümmerten Kinderspiels einerseits und alter Menschen ruhiger Unterhaltung andererseits, als eine Welt, die durch das Wohlwollen der Alten verbunden wird: The sun does arise, And make happy the skies; The merry bells ring To welcome the Spring; The skylark and thrush, The birds of the bush, Sing louder around To the bells’ cheerful sound; While our sports shall be seen On the echoing green. Old John, with white hair, Does laugh away care, Sitting under the oak, Among the old folk. They laugh at our play, And soon they all say, ›Such, such were the joys When we all – girls and boys – In our youth-time were seen On the echoing green.‹ Till the little ones, weary, No more can be merry: The sun does descend, And our sports have an end. Round the laps of their mothers Many sisters and brothers, Like birds in their nest, Are ready for rest, And sport no more seen On the darkening green.

In Holy Thursday, einem Lied aus dem späteren Zyklus der Songs of Experience werden die alten Menschen als »wise guardians of the poor« bezeichnet, als die weisen Wächter der Armen und Garanten 188

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Soziale Selbstüberschreitung durch Großmut und Engagement

des Mitleids, die ihre eigene Verletzlichkeit nicht in die innere Verhärtung des Egozentrismus treibt, sondern die Augen für notwendige Solidarität öffnet. Die großmütige Anteilnahme am Leben der Anderen, die ein Abstandnehmen von den eigenen unmittelbaren Bedürfnissen oder Urteilen voraussetzt, bereichert durch das soziale Band, das durch sie entsteht, beide Seiten. Am Anfang von Prousts Recherche du temps perdu taucht in Swann dagegen die Figur des schlecht alternden, ewig jung bleiben Wollenden auf. Selber ignoriert er, dass seine Jugend vorbei ist, die andern hingegen merken, wie er altert: auf jene übermäßige, dunkel abträgliche und doch verdiente Art, wie Junggesellen altern, alle diejenigen, für die offenbar der lange Tag, für den es kein Morgen gibt, länger ist als für die anderen, weil er für sie leer ist und weil sich darin von früh an Stunden folgen, ohne dass Kinder sie in Anspruch nehmen. 71

In vielen Teilen der Welt ist die Drei-Generationen-Familie, in der alte Menschen eng mit jungen zusammenlebten bis heute noch erhalten. In vielen Industriestaaten ist diese selbstverständliche innerfamiliäre Generationenbegegnung aus unterschiedlichen Gründen schwierig geworden. Die wichtigsten davon sind: 1. Der Mangel an Kindern überhaupt, 2. Flexibilität und Mobilität, die dazu führen, dass Enkelkinder und Großeltern oft weit voneinander entfernt wohnen, 3. nicht zuletzt eine oft stark ausgeprägte innerfamiliäre Emanzipation, die zum Auseinanderdriften von Lebensstilen und teilweise auch Werten führt. 72 Lassen wir hier die Analysen der Gründe beiseite, wie es zu der heute für die meisten Industriestaaten typischen Reduzierung der Familien auf zwei Generationen bei steigender Tendenz zu sogar nur noch Ein-Generationenhaushalten kam, und schauen nur auf die Tatsache, wie drastisch sich das Leben alter Menschen, von denen in Zukunft immer mehr gar keine Großeltern mehr sein werden, M. Proust, A la recherche du temps perdu, dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 1, S. 49. 72 S. de Beauvoir hatte schon darauf hingewiesen, dass das Idyll der vormodernen Großfamilie, in der sich die Jungen um die Alten kümmerten, eher nostalgischer Verklärung als der Realität entsprach. Bei dem Vorschlag der intergenerationellen Gerechtigkeit wird daher nicht nur auf den engen Familienbezug geschaut, sondern auf das allgemeine, durch Interessengemeinsamkeiten (Wohlfahrt) verbundene, aber auch durch Interessenkonflikte (Verantwortung) belastete Verhältnis der Generationen. 71

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sozial verändert hat. Sie sind weitgehend nicht mehr nur noch von der Arbeit entpflichtet, sondern auch von familiären Aufgaben, die zugleich soziale Eingebundenheit bedeuten. Das Altwerden ist schon früh in dreifacher Hinsicht frei: – evolutionsbiologisch von der Fortpflanzung, weil sie zu einem Akt freier Entscheidung geworden ist; – sozial von der Notwendigkeit, Kinder großzuziehen, da die Altersversorgung von den Familien auf die Gesellschaft übergegangen ist; – familiär in vielen Fällen von der Aufgabe verbindlicher Enkelbetreuung. Auf der Gewinnseite dieser Freiheit steht, was das Physiologische betrifft, eine enorme Zunahme der Lebensspanne, die für Projekte der Selbstverwirklichung genutzt werden kann. Auf der Verlustseite steht jedoch ein drohender Isolationismus und Egozentrismus, der nicht mehr selbstverständlich über den Horizont dieser Projekte hinaussieht. Umso mehr ist eine über die traditionellen Familienbande hinausgehende, erweiterte solidarische Rückbindung der älteren an die jüngere und der jüngeren an die ältere Generation von Nöten im Sinne einer sprachpragmatischen oder ontologischen Verantwortungsethik (Apel, Jonas), oder der von Derrida geforderten dialogischen Verantwortung für die »zukünftigen Geschwister« 73 . Ein prominentes Vorbild, wie aus dem negativen Platzmachenmüssen nicht nur ein höflich-resigniertes Platzanbieten, sondern ein positives Weitergeben wird, finden wir z. B. bei dem 1999 verstobenen Violinisten Yehudi Menuhin, der sich in vielen humanitären Projekten engagierte und schon auf dem Höhepunkt seiner kreativen Kraft und seines Weltruhms eine Musikschule gründete. 74 Dort wie an vielen Orten, an die er berufen wurde, unterrichtete er, auch nachdem seine eigene musikalische Ausdrucksfähigkeit durch Muskelschwund an den Fingern allmählich abnahm, junge Musiker/innen. Ein solcher Lehrer und Förderer hat im Gegensatz zu dem patriarchalen Lehrertyp Ciceros, dem die Schüler v. a. als Projektionsfläche eigener Überlegenheit dienen, ganz im Sinne der Sokratischen Maieutik ihre bestmögliche Entwicklung im Sinn. Für eine solche großmütige Weitergabe eigener Fähigkeiten (und nicht zuletzt auch eigenen Besitzes) bedarf es jedoch keineswegs einer herausragenden 73 74

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J. Derrida, Politik der Freundschaft, 10. Kap. vgl. Kap. 2.1.3. Menuhin Music School, Stoke D’Abernon, gegründet 1963.

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Soziale Selbstüberschreitung durch Großmut und Engagement

Stellung. Die Idee der Selbstentäußerung und gleichzeitigen Selbstgewinnung im Weiterleben durch Andere hängt nicht wesentlich davon ab, was und wie viel jemand weitergeben kann, sondern mit welcher ethischen Überzeugung er bzw. sie es tut. Forschung und Kunst können hier ebenso einen Beitrag leisten wie Anstrengungen zur Erhaltung der Natur 75 und die langfristige Sicherung der Lebensgrundlagen. Erhard Olbrich prägte für das wichtigste Alterspotential den Begriff der Generativität, die bereits im mittleren, reifen Erwachsenenalter einsetzende Investition von verfügbaren Ressourcen in die nachfolgenden Generationen. 76 Eine solche Weitergabe ist die soziale und kulturelle Übersetzung der Unsterblichkeit der Keimbahn, und nicht nur das auf wenige Ausnahmen beschränkte, selber ebenfalls begrenzte und immer auch von der Anerkennung der Nachkommenden abhängende Weiterleben durch Ruhm und große Taten. Sie ist das Gegenteil des Desinteresses am Leben zukünftiger Generationen angesichts der eigenen Endlichkeit. Laut Freud entspringt der Todestrieb der Angst vor dem Tod und führt das Individuum zu dem Versuch, sein eigenes Leben zu retten, indem es das Leben anderer zerstört. 77 Eine Liebe zum Leben, für die der eigene Tod kein Hinderungsgrund ist, kann ein Gegengewicht zu einer solch destruktiven Eskalation bilden.

In der ethischen Fundierung des Umweltschutzes (»Ökosophie«) wird häufig die verantwortliche Eingebundenheit des Individuums in die Vor-, Mit- und auch Nachwelt betont. Vgl. A. Naess, The Deep Ecological Movement, S. 28: »The self is extended and deepened as a natural process of the realization of its potentialities in others.« 76 E. Olbrich, Selbstfindung und Selbstbestimmung im Alter, S. 84; vgl. auch: A. Kruse, Altern zwischen Hoffnung und Verzicht, S. 179. 77 Vgl. S. Freud, Warum Krieg?, S. 282. 75

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7 Altern als individuelle Entwicklungsmöglichkeit und soziale Verantwortung Ich war, der ich sein werde. Gottfried Benn 1

In diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, unter welchen Bedingungen Altern – das faktisch (existenzphilosophisch) wie praktisch (ethisch) als Teil des Selbstverwirklichungsprozesses verstanden werden kann – gelingt, welche inneren und äußeren Bedingungen dafür notwendig sind und in welchem Rahmen diese lebenslange Fortsetzung des erst mit dem Tod endenden Selbstwerdungsprozess 2 an Verantwortung gegenüber anderen gebunden bleibt. Altern kann v. a. in einem von außen geschützten Rahmen Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Der materielle Aspekt der gesellschaftlichen Verantwortung für die alten Menschen ist in den Wohlfahrtstaaten für die jüngeren von ihnen weitgehend realisiert worden. Die Entwicklung von Konzepten sowohl hinsichtlich der inneren Bedingungen später Selbstverwirklichung als auch der sozialen Verantwortung von alten Menschen holen diese Entwicklung allerdings erst langsam ein, obwohl sich die Frage nach einer sinnvollen und verantwortlichen Gestaltung des dritten und vierten Lebensalters immer stärker aufdrängt. Die globale demographische Entwicklung bringt die Notwendigkeit mit sich, eine neue Balance zu finden zwischen Befreiung von unzumutbaren Belastungen alter Menschen und zumutbarem praktischen Interesse auch über die eigene Lebenszeit hinaus. Im Sinne der Natalität, von der Hannah Arendt meint, sie definiere die conditio humana besser als die Mortalität, ist an Menschen immer die Forderung des Handelns und der Übernahme von Verantwortung für die Welt gestellt. Denn sie werden nicht geboren, »um zu sterben, sondern im Gegenteil, um etwas Neues anzufangen, so-

G. Benn, Altern als Problem für Künstler, S. 581. Das Problem, inwieweit dieser Prozess an das Selbstbewusstsein gebunden ist und welche Konsequenzen es hat, wenn nicht der Tod, sondern eine Krankheit die Möglichkeit autonomer Entscheidungen nimmt, wir im nächsten Kapitel behandelt.

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Gesellschaftspolitische Voraussetzungen

lange der Lebensprozess das eigentlich personal-menschliche Substrat, das mit ihnen in die Welt kam, nicht zerrieben hat.« 3

7.1 Gesellschaftspolitische Voraussetzungen We do not look at the aged people as a class apart, but seek to ensure that they live full lives within the ordinary stream of the community. Iain Macleod 4

7.1.1 Der Gewinn an Ressourcen Simone de Beauvoir ging in ihrer umfangreichen Altersstudie von 1970 noch von der Tatsache aus, dass die alten Menschen keine wirtschaftliche Macht und keine politische Repräsentanz besäßen, wodurch sie vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen blieben. 5 Als Kompensation für ihre Entmachtung würde ihnen nur die Alternative der Identifikation mit der Figur des gelassenen, heiteren Weisen geboten. Sollte diese misslingen, bliebe nur die Karikatur des »alten Narren« übrig, »der dummes Zeug faselt und den die Kinder verspotten.« 6 Sie konnte sich noch nicht vorstellen, dass durch die Veränderung der demographischen Situation die alten Menschen heute in den westlichen Demokratien faktisch an Einfluss gewonnen haben, ohne dass sich ihr Bild in der Gesellschaft zunächst einschneidend verändert hätte. Die Gruppe der älteren und alten Menschen stellt ein derart mächtiges Wählerpotential dar und verfügt über so viele Ressourcen, dass die politische ebenso wie die ökonomische Macht dieser Altersgruppe eine unbezweifelbare Tatsache geworden sind, auch wenn die faktische Schichten- und Bildungsgebundenheit sozialer Differenzen sowie oft auch noch die ethnische Zugehörigkeit meist stärker bleibt als ein eher fiktiver generationeller ZusammenH. Arendt, The human condition (1958), dt.:Vita activa, S. 316. Ansprache des britischen Gesundheitsministers zur Eröffnung des 3. Kongresses der International Association of Gerontology (London 1954), in: Old Age in the Modern World, S. 1. 5 »Der Ruhestand eröffnet dem Pensionierten keine neuen Möglichkeiten; in dem Augenblick, da der Mensch endlich befreit ist von den Zwängen, nimmt man ihm die Mittel, seine Freiheit zu gebrauchen.« (S. de Beauvoir, Das Alter, S. 9) 6 Vgl. Ebd., S. 7. 3 4

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Altern als individuelle Entwicklungsmöglichkeit und soziale Verantwortung

halt. 7 In den jährlichen Statistiken der deutschen Bundesbehörde zeichnet sich diese Entwicklung daran ab, dass das größte Armutsrisiko derzeit nicht die Ältesten, sondern einkommensschwache Familien mit Kindern bzw. Alleinerziehende – also am gravierendsten die Jüngsten, Frauen 8 und Immigranten – tragen. Aus dem Ungleichgewicht zwischen einem solchen faktischen Zugewinn an Macht, deren Unterschätzung und einem tatsächlichen Vakuum an positiven Altersbildern entstand Schirrmachers These von der stillschweigenden Verschwörung gegen die Alten, gegen die diese sich wiederum zur Wehr setzen müssten. 9 Er deutete die Huntington-These vom Clash of Civilizations ohne weiteres zum Clash of Generations um 10 , den 11. September 2001 erklärte er auch in Bezug auf die Weltalterung zum »Beginn einer neuen Zeitrechnung«; 11 in einem Zug damit verglich er die Generation der Achtundsechziger mit der Entourage von Osama bin Laden, weil es sich in beiden Fällen um fundamentalistisch verblendete Bürgerkinder aus einer Babyboom-Kohorte handele. 12 In dem unterstellten kalten Krieg der Generationen müssen sich die Alten gegen den Terror des Jugendwahns verteidigen. 13 Das Komplott ist die Antwort auf eine unhinterfragte, »besondere Form des menschlichen Selbsthasses, die in der Diffamierung des Alters liegt«. 14 Dabei geht der Autor von einer in dieser Form gar nicht existierenden Polarität der Generationen aus, auf die gesellschaftliche Konflikte projiziert werden, deren Eine allgemeine Übersicht zur Demographischen Entwicklung findet sich in: S. M. Steven u. M. G. Cattell, Old Age in Global Perspective; zur speziellen Demographie hohen Alters in Deutschland vgl. Ch. Rott, Demografie des hohen und sehr hohen Alters. 8 Zur spezifischen Lage der Frauen, die aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung im höchsten Alter – mit allen Risiken an Erkrankungen – überrepräsentiert und oft finanziell schlechter versorgt sind, vgl.: C. Browne, Women, feminism and aging; B. Fachinger, Frauen haben es schwerer; L. R. Gannon, Woman and aging; A. Niederfranke, Das Alter ist weiblich. 9 F. Schirrmacher, Das Methusalem-Komplott. Vgl. auch Agequake (Altersbeben) von Paul Wallace. Was die Daten betrifft, ist das pragmatische, von dunklen Unterstellungen freie Sachbuch des englischen Wirtschaftsexperten aufschlussreicher, weil es die demographischen Daten als Basis für praktische Ratschlage bezüglich einer nachhaltigen Sozial- und Wirtschaftspolitik angesichts der Umwälzungen benutzt. 10 F. Schirrmacher, Das Methusalem-Komplott, S. 49. 11 Ebd., S. 51. 12 Vgl. Ebd., S. 50 f. 13 Vgl. Ebd., S. 54 ff. 14 Ebd., S. 63. 7

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Gesellschaftspolitische Voraussetzungen

Ursachen eher horizontal als vertikal zu suchen sind. Ein Kind, das in einem privilegierten Stadtteil wohnt und ein gutes Gymnasium besucht, teilt mit den eigenen Großeltern oft wesentlich mehr Interessen als mit Gleichaltrigen, die eine Hauptschule in einem Bezirk mit »Entwicklungsbedarf« besuchen.

Betrachtet man die Abbildung der Bevölkerungsstatistik aus den Jahren 1910, 1950, 2001 und die Prognose für das Jahr 2050, fällt die Dynamik der Verlagerung des Schwerpunktes nach oben, zum Alter hin sofort auf. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts, vor den beiden WeltA

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Altern als individuelle Entwicklungsmöglichkeit und soziale Verantwortung

kriegen und vor der Möglichkeit, Infektionskrankheiten zuverlässig bekämpfen zu können, hatte sie die Form einer Pyramide. In jedem Lebensalter starben gleichmäßig viele Individuen. An der Basis wurde die hohe Sterblichkeit durch noch höhere Geburtenraten kompensiert. Am Schaubild von 1950 zeigen sich die Verluste der Weltkriege und die Reduktion der Geburten. Im Jahr 2001 hatte es bereits eine baumartige Form angenommen, d. h. die Basis ist durch Geburtenrückgang weiter verdünnt, der Anteil Erwachsener im mittleren Lebensalter – die geburtsstarken Jahrgänge – dagegen besonders hoch. Bis zum Jahr 2050 wird sich die Basis noch weiter reduzieren und die Mehrheit der Bevölkerung die zweite Lebenshälfte überschritten haben. Außerdem glätten sich in einem Jahrhundert ohne Kriege die Konturen. Der Wunsch, die ehemalige Pyramidenform längerfristig wieder anstreben zu wollen, damit viele Junge wenigere Alte unterstützen können, ist eine antihumanistische und unrealistische Vorstellung. Damit sich die Pyramide gleichmäßig nach oben hin verjüngt, müsste es nämlich in jeder Alterskohorte konstant hohe Sterberaten geben oder aber ein unablässiges Bevölkerungswachstum angestrebt werden. 15 Da beide Alternativen nicht wünschbar sind, bleibt nichts anderes übrig, als neue Modelle für die Situation insgesamt alternder Gesellschaften zu finden. »Nostalgie beruht auf Unkenntnis und basiert auf falschen Voraussetzungen« 16 , kommentiert der Sozialhistoriker A. E. Imhof jede Sehnsucht nach früheren Zuständen. Er bezeichnet das Alter als die erst im Lauf der neueren Geschichte gewonnen Jahre 17, die eine grundsätzlich andere, langfristige Lebensplanung ermöglichen und erstmals allgemein die Chance bieten, das Ganze des eigenen Lebens prospektiv zu planen und retrospektiv zu betrachten. Ein relativ sicheres langes Leben und auch gerade die langwierigen, chronischen Krankheiten, die heute die letzte Lebensphase begleiten, bieten die Möglichkeit, Abstand zu nehmen, zu ordnen und nachzudenken. »Unseren Vorfahren«, schreibt Imhof, »war zumeinst nicht einmal dies vergönnt […] vor allem deswegen, weil sie von rasch tötenden Infektionskrankheiten dahingerafft wurden.« 18 Zu einem mathematischen Modell der verschiedenen Formen statistisch messbarer Altersstrukturen und ihren Konsequenzen vgl. R. Jaenicke, A-H-O-V-X, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 3. 2005. 16 A. E. Imhof, Reife des Lebens, S. 130. 17 Ders., Die gewonnenen Jahre (19XX). 18 Ders., Reife des Lebens, S. 160. 15

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Vor dem Hintergrund individueller Chancen und wechselseitiger sozialer Verantwortung ist es notwendig, Lebensabschnitte und Altersphasen neu zu definieren und die Rolle alter Menschen im Sinne größerer Partizipation den veränderten Bedingungen anzupassen. Dabei ist selbstverständlich zu differenzieren zwischen dem jüngeren, aktiven Alter, mit dem sich dieses Kapitel befasst, und dem höheren bzw. höchsten Alter, in dem das Leben oft nicht mehr aus eigener Kraft bewältigt werden kann, das Gegenstand des nächsten Kapitels sein wird. 7.1.2 Die notwendige Balance zwischen Freiheit und Verantwortung Eine von Brechts Kalendergeschichten aus dem Jahr 1953 trägt den Titel Die unwürdige Greisin. Ihre Lektüre führt die Wandlung der Lebenswirklichkeit alter Menschen in Deutschland während der Mitte des letzten und dem Anfang dieses Jahrhunderts plastisch vor Augen. Die Witwe eines Lithographen in einer badischen Kleinstadt, deren Leben in der Erfüllung ihrer Pflichten als eher unglückliche Ehegattin, Hausfrau, Mutter und darüber hinaus auch Köchin für die Angestellten ihres Mannes bestand, beschließt nach dessen Tod, das versäumte eigene Leben nachzuholen. Anstatt ihren in derselben Stadt lebenden Sohn und seine kinderreiche Familie in ihr inzwischen leeres Haus aufzunehmen und sich damit weiterhin in den Dienst der Familie zu stellen, nimmt sie eine Hypothek auf. Das gibt ihr, zusammen mit der finanziellen Unterstützung durch ihre erfolgreicheren abgewanderten Kinder, die Möglichkeit, ihre bescheidenen, aber bislang nicht verwirklichten Interessen zu verfolgen: nicht mehr kochen zu müssen, selbstgewählte Freundschaften zu pflegen, ins Kino zu gehen. Sie enttäuscht so die selbstverständlich in sie gesetzten Erwartungen, und Brecht verteidigt diesen Freiheitswillen vor dem Hintergrund der Lebensleistung: »Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen.« 19 Das Verhältnis zwischen den Jahren der Pflichterfüllung und denen der späten Emanzipation beträgt, die Kindheit mit berücksichtigt, etwa 60 zu 2 Jahren. Nur ein halbes Jahrhundert später beläuft sich der Anteil der 19

B. Brecht, Die unwürdige Greisin, S. 97. A

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nicht mehr durch Verpflichtungen gekennzeichneten Lebenszeit bereits auf bis zu einem Viertel der gesamten Lebensspanne, und die Chancen, eigene Interessen und Selbsterhaltung zu vereinbaren, haben sich auf eine noch vor einem halben Jahrhundert unvorstellbare Weise verbessert. 20 Dem rechtlichen Schutz alter Menschen ist in der bereits gültigen Charta der Grundrechte der Europäischen Union und dem 2. Teil des – mittlerweile ad acta gelegten – Vertrags über eine Verfassung für Europa wie in vielen jüngeren Verfassungen ein eigener Artikel gewidmet worden 21 . Es ist die Altersphase des jungen, des abgesicherten, von verbindlichen Aufgaben befreiten und noch aktiven dritten Lebensalters entstanden. Auf der Basis der Tatsache aufbauend, dass es gelungen ist, die Lebenserwartung nicht nur entscheidend anzuheben, sondern auch sozial besser zu schützen, wächst jedoch der Bedarf, dass sowohl in Hinsicht auf die eigene Zufriedenheit, die in der langen und gesicherten Zeit jenseits des Arbeitslebens zu erreichen ist, als auch hinsichtlich ihrer sozialen Rückverantwortung neue Maßstäbe gefunden werden müssen. 22 Die Zeit des vierten Lebensalters, in der sich die Verantwortung vom Individuum auf das Gemeinwesen verlagert, in der Fürsorge wichtiger als Selbstsorge werden kann, konzentriert sich erst auf die letzten Lebensjahre und wird immer weiter hinausgeschoben. Folgende Überlegungen zu einer Definition der beiden späten Lebensphasen, geordnet nach dem Verhältnis des Individuums zum Gemeinwesen, seiner Innen- und Außenwelt, der Biographie und der Praxis unter dem Überbegriff der Verantwortung im Sinne der Subsidiarität sollen ein Panorama der neuen Komplexität festhalten.

Vgl. S. Rieser, Dritter Altersbericht (im Auftrag der Bundesregierung), nach dem die ersten 15 bis 20 Jahre im Anschluss an das Berufsleben in der Regel frei von Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit sind, in: Deutsches Ärzteblatt. Vgl. auch G. Backes u. W. Clemens (Hrsg,), Lebenslagen im Alter; P. B. Baltes, Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. 21 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. II-85: »Rechte älterer Menschen«. Zum Schutz des Alters in verschiedenen jüngeren Verfassungen vgl. P. Häberle, Altern und Alter des Menschen als Verfassungsproblem. 22 Vgl. D. L. Adams, Correlates of Life Satisfaction. 20

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Verantwortung Verantwortung der Einzelnen Verantwortung der Gesellschaft vor sich selbst vor der Allgemeinheit für die Einzelnen Autonomie und Selbstsorge Selbstverwirklichung – Bildung – Kunst – Interessen

Soziales Engagement jüngerer Alter (nach Maßgabe der Gesundheit) – ehrenamtliche Tätigkeit – Hilfe bei der Betreuung von Kindern, Kranken oder älteren bzw. fragileren Alten

Gesetzliche Normen zum Schutz einer besonders gefährdeter Lebensphase: »Die Union anerkennt und achtet das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben.« (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. II-85)

Erfüllung der verbleiben- Interesse an einer Zuden Lebenszeit kunft jenseits der eigenen Endlichkeit – Kontakte – Beiträge zum nachhal– Muße tigen Wirtschaften – Reisen (Schonung von Energie- und Umweltressourcen, Beachtung sozialer Kriterien bei Konsum) – Abwägung der Verhältnismäßigkeit der verbrauchten finanziellen Ressourcen

Erhaltung eines sozialen Sicherungssystems, in dem ein Altern in Würde und ohne materielle Not gewährleistet ist

Vergegenwärtigung bzw. Aufarbeitung von Lebenserinnerungen – Memoiren – Ordnen gesammelter Erinnerungen

Achtung und Anerkennung der Lebensleistung alter Menschen (insofern diese ethisch zu rechtfertigen ist)

Überführung der Ergebnisse in Dialog – Kommunikative Vermittlung (nicht autoritäre Belehrung) – ehrliche, nicht mystifizierende Erzählung – Gewissensprüfung, Rechtfertigung, evtl. Reue

Frühe Prävention durch flächendeckende, nicht schichtenspezifisch begrenzte Bildungsangebote bzw. –pflichten

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Altern als individuelle Entwicklungsmöglichkeit und soziale Verantwortung Verantwortung der Einzelnen Verantwortung der Gesellschaft vor sich selbst vor der Allgemeinheit für die Einzelnen Selbständigkeit

Akzeptanz eventueller eigener Abhängigkeit – Selbständiges Wohnen – ggf. Annahme nicht bevormundender Hilfe – Altersvorsorge durch – ggf. Dekapitalisierung Beiträge und private (zur Verfügung stellen Vorsorge nicht unmittelbar benötigter finanzieller Ressourcen)

Solidarität unter Berücksichtigung der jeweiligen individuellen Wünsche

Allokation von Ressourcen

In der linken Spalte sind Stichworte aufgelistet, die weitgehend vertraut und in der aktuellen Diskussion bzw. alltäglichen Praxis präsent sind. Was den individuellen Umgang mit dem eigenen Alter(n) betrifft, ist dabei die Trias von Bildung, Autonomie und Selbstsorge entscheidend. Indem Bildung einen Zugang zu den bis ins hohe Alter erschließbaren Ressourcen der Kultur öffnet, ist sie neben den sozialen Kontakten der Schlüssel zu einem erfüllten Alter schlechthin. Auch wenn der Radius der Bewegungsfreiheit sich verengt und Aktivitäten aus Gesundheitsgründen aufgegeben werden müssen, bleibt dieser Horizont offen, und zwar nicht nur prospektiv, hinsichtlich eines weiteren Zugewinns an Erkenntnissen, sondern auch retrospektiv, in der Erinnerung. Um die Begriffe der Autonomie und der Selbstsorge ist eine breite Debatte entstanden, die versucht, den neuen Phänomenen der ausgedehnten Lebensspanne Rechnung zu tragen – sowohl den sich dabei mit Hilfe der Technik ergebenden, bisher historisch nicht vertrauten Grenzsituationen am Lebensende, als auch den Chancen einer Integration der letzten Lebensphase in ein Konzept rücksichtsvoller Selbstverwirklichung. Die Selbstsorge als »auf sich selbst achten« bzw. »um sich selbst kümmern«, wie Foucault schrieb, 23 ist nicht mit Egoismus gleichzusetzen. Wie schon in Heideggers Analyse der Struktur der Sorge im 6. Kapitel von Sein und Zeit hat sie vielmehr den doppelten Sinn der Bewährung eines zu jeder Zeit gefährdeten, verletzlichen und fragilen individuellen Daseins als Entwurf in die Zukunft einerseits und konkreter Realitätsbewältigung andererseits. Nach Heidegger ist es Aufgabe des Menschen – wobei er diesen traditionellen Begriff durch den des »jemeinigen«, d. h. individuellen »Daseins« ersetzt –, das zu werden, 23

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M. Foucault, Technologien des Selbst, S. 28.

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»was er in seinem Freisein für seine eigensten Möglichkeiten (dem Entwurf) sein kann«. Da er aber in seinem Selbstentwurf nicht nur frei, sondern auch an seine Herkunft und geschichtlich-soziale Situation gebunden (»geworfen«) ist, bedeutet Sorge auch die Einbeziehung faktisch vorhandener Grenzen: »Der ›Doppelsinn‹ von ›cura‹ meint eine Grundverfassung in ihrer wesenhaft zweifachen Struktur des geworfenen Entwurfs.« 24 Das Bewusstsein der Abhängigkeit eigener Selbstverwirklichungschancen von heteronomen Faktoren baut eine Brücke zu den sozialen Kriterien der mittleren Spalte, die in Heideggers frühem Entwurf ausgeblendet waren, im Spätwerk Foucaults aber einen wichtigen Platz als Engagement in der Zivilgesellschaft einnahmen. In der mittleren Spalte werden den Stichworten zur individuellen Gestaltung des Alter(n)s Möglichkeiten zu seiner sozialen Anbindung gegenüber gestellt, die vor allem das jüngere Alter weiter in Strukturen der Verantwortung verankern und die gewonnene Freiheit und Unabhängigkeit durch Engagement rückbinden. – Den individuellen Selbstverwirklichungsansprüchen werden auf der ersten Ebene die in der Tat bereits vielfach vor allem informell praktizierten Transferleitungen Älterer zugunsten Jüngerer oder noch Älterer bzw. Schwächerer gegenübergestellt. – Auf der zweiten Ebene wird die wesentlich weniger präsente Frage nach den nachhaltigen Konsequenzen des eigenen Handelns gestellt, die allerdings von erheblicher Tragweite sind, was sich auch auf den letzten Kasten der linken Spalte bezieht. Die an Bedeutung zunehmende private Alterssicherung basiert nämlich zu einem großen Teil auf Aktien, die bis auf wenige Prozentanteile nicht dem ausgewiesenen Sektor ethischer Investitionen angehören, deren ausgebende Unternehmen also weder beweisen können, mit der Umwelt schonend umzugehen, noch soziale Kriterien zu respektieren, geschweige denn sich hinsichtlich einer umfassenden, globalen Wirtschaftsgerechtigkeit zu engagieren. Das bedeutet, dass sich die Sicherung künftigen Alters indirekt zu einem großen Teil auf einen rücksichtslosen Umgang mit der Umwelt und der globalen Arbeitskraft stützt, der in diesem Fall darüber hinaus auch den nötigen Weitblick verweigert. 25 Was die Möglichkeit betrifft, durch den alltägli24 25

M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 199. Vgl. hierzu: J.-L. Gérard, Börse oder Leben. A

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chen, direkten Konsum zur Umsetzung ethischer Kriterien beizutragen, sind bedeutende Fortschritte gemacht worden, die sich allerdings nur schleppend und selektiv in eine allgemeine tägliche Praxis umsetzen. Es gibt Garantiesiegel für Nachhaltigkeit, etwa für Recyclingprodukte oder Plantagenholz, für Verzicht auf Tierversuche, Massenhaltung, Pestizide, genetisch veränderte Organismen, für fairen Handel etc. Hinsichtlich des Geldmarktes gibt es solche Garantien allerdings noch kaum, weil sich an dieser vermittelten Form der Ökonomie zwar passiv bzw. durch Delegierung an große Banken und Versicherungsunternehmen viele beteiligen, das Interesse jedoch fast nie über den garantierten Mindestertrag hinausgeht und die Nachfrage nach sozialen und ökologischen Kriterien somit schwach ist. Darüber hinaus altert Kapital im Gegensatz zu seinen Eignern nicht, sondern hat sogar die gegenläufige Tendenz, mit zunehmendem Alter zu expandieren. Im Interesse des Überlebens von Zeitgenossen in anderen, ärmeren Regionen und des Fortlebens der »zukünftigen Geschwister«, von denen Derrida sprach, müssten ethische Maßstäbe jedoch nicht nur für die unmittelbaren sozialen und politischen, sondern auch für die ökonomischen und damit vermittelt sozialen, politischen und rechtlichen Beziehungen gelten. Die dritte Ebene betrifft den Umgang mit dem Rückblick auf die eigene Geschichte im Sinne der Kierkegaardschen »Redaktion«, zu dem das Alter herausfordert, sei es aufgrund eines Wunsches nach Selbstvergewisserung in Eigeninitiative, in Folge einer Verschiebung der Gedächtnisleistung vom Kurzzeit- hin zum Langzeitgedächtnis oder auch anlässlich interessierter Fragen durch Andere. Eine solche Rückschau kann als Wiedererinnerung eine eher innerliche Qualität haben – Glücks- und Trauermomente tauchen wieder auf, verstorbene Menschen, mit denen man verbunden war, leben darin weiter, und mittlerweile historische Ereignisse werden lebendig. Sie kann aber auch Teil eines Dialogs werden. Die kommunikative Vermittlung zwischen der Vergegenwärtigung von Erinnerungen und ihrer Mitteilung muss dabei eine Brücke über zwei Hindernisse auf Seiten der erzählenden Person schlagen. Das eine besteht in der Neigung zu Mystifizierungen, das andere in der Abneigung gegenüber Reue – beide Tendenzen stellen durchaus keine Besonderheiten des Alters dar, treten jedoch angesichts einer Gesamtrückschau

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auffälliger zu Tage. Die Kritik Bobbios an der Tendenz, die eigene Biographie zu beschönigen sei stellvertretend für das erste Phänomen genannt (vgl. 4.4). Was die Reue betrifft, ist sie in der säkularisierten, aber auch postmodernen Welt hauptsächlich in den Bereich der Justiz bzw. der praktizierten Religion institutionell abgedrängt – als Voraussetzung für eine Minderung des Strafmaßes bzw. für Vergebung. Die mit Nietzsche beginnende Revolte gegen übergeordnete moralische Instanzen, zusammen mit einer Aufwertung der Gesamtheit des jeweiligen Lebensvollzugs nach Heidegger, gibt der persönlichen Biographie eine eigene Würde, aber gleichzeitig damit eine problematische Macht zu solipsistischer Selbstdeutung. Wichtig ist weniger, was getan, sondern dass »authentisch« gelebt wurde. Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde der Konflikt zwischen moralischem Urteil einerseits und gelebter Biographie andererseits thematisiert, wobei das Argument aufkam, die Forderung nach Reue bedeute eine teilweise Abwertung bzw. Auslöschung der einzelnen Biographien – ein Thema, dass auch der erfolgreiche, 2003 herausgekommene Film »Good bye, Lenin!« zentral aufgreift. Dabei überschattet der Wunsch nach Selbstrechtfertigung die Möglichkeit, in der Selbstkritik eine Dimension der Selbstüberschreitung zu öffnen, die nicht zuletzt die Anderen, evtl. geschädigten, mit einbezieht. Die vierte Ebene betrifft einerseits die Organisation des Lebens und das Thema, das, wenn ein äußerlich autonomes Leben nicht mehr aufrechterhalten werden kann, Hilfe gewählt und auch akzeptiert werden muss. Eine solche Unterstützung braucht, gleich ob sie dafür eingerichteten Strukturen überantwortet wird, oder nicht, nicht wenige Ressourcen. Daher wurde die deutsche Pflegeversicherung eingerichtet und das öffentliche Bewusstsein sensibilisiert. Dennoch zeigt sich anhand der Vermögensstatistiken und vor allem der vererbten Vermögen, dass es eine Tendenz gibt, im Alter teilweise Sicherheitsreserven anzuhäufen, die je nach Umständen gar nicht nötig sind. Dies entspricht einer Tendenz zu nicht nur individualistischem, sondern auch egozentrischem Handeln. Weil die Einzelnen möglichst wenig von anderen abhängig sein bzw. diesen zur Last fallen möchten und wenig Vertrauen darauf haben, dass diese Last wenn nötig solidarisch getragen wird, verlassen sie sich, sofern das überhaupt ihren ökonomischen Möglichkeiten entspricht, A

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eher auf sich selbst. Mehr als in sozialen Zusammenhängen wird dadurch in materiellen Werten Sicherheit gesucht. Anhand einer Analyse der Zürcher Steuerstatistik von 1999 zieht der Autor den Schluss: »Mit dem Alter nimmt das Vermögen generell zu. Die über 64-jährigen Haushalte weisen ein markant höheres Einkommen aus als die jüngeren.« 26 Auch in Deutschland herrscht die Tendenz, dass ab einem bestimmten Wohlstandsniveau das Vermögen mit dem Alter zumindest zunächst noch anwächst, 27 was tendenziell für alle Industrieländer gilt. 28 Geerbt wird dadurch in den entsprechenden sozialen Schichten immer mehr, doch erst spät, wenn die Erben selber bereits die Aufbauphase ihres Lebens hinter sich haben, und außerdem mit der Tendenz, soziale Ungleichheit zu verfestigen. Daher wäre es naheliegend, diesem Drift steuer- wie rentenrechtlich entgegenzuwirken, oder sich im Fall einer privilegierten Situation individuell im Rahmen der eigenen Möglichkeiten, durch eine selbstbestimmte Dekapitalisierung in Form von Darlehen, Schenkungen, Stiftungsbeiträgen, Unterstützung nicht profitorientierter Einrichtungen o. ä. und unter der unabdingbaren Gewähr, dass die eigenen Bedürfnisse wie die eigenen Nachkommen sozial abgesichert sind, von allenfalls zins-, aber nicht sozial- und innovationsproduktivem Vermögen zu trennen. Auf diese Weise könnte ein Transfer in drei Richtungen verlaufen: dort, wo es möglich ist, vertikal, um den dünner werdenden »Stamm« des Bevölkerungsbaums zu entlasten, und horizontal sowohl innerhalb der Gesellschaft der gleichaltrigen Mitbürger, die weniger Chancen hatten, als auch global über sie hinaus, im Sinne allgemeiner Sicherung basaler Lebensgrundlagen. Dies wäre die Erweiterung der bereits vorhandenen Ansätze zur vielfältigen, aber keineswegs allgemeinen und meist nur informellen Einbindung älterer Menschen in verantwortliche Aufgaben in den Bereichen der Familien, der Gemeinden, der Kirchen, der Politik, des Sports und nicht zuletzt auch der Betreuung Hochbetagter 29. Für die Zeit, in der Verantwortung mitzutragen nicht P. Moser, Alter, Einkommen und Vermögen, S. 8. A. Ring, Vermögensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland. 28 Vgl. P. Wallace, Altersbeben, S. 266 ff. 29 Eine Gemeinde in Württemberg hat beispielsweise ein innovatives Modell für einen spezifischen innergenerationellen Vertrag zwischen jüngeren, gesunden und pflegebedürftigen Alten entwickelt. In der Seniorengenossenschaft Riedlingen leisten rüstige 26 27

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mehr zugemutet werden kann, sondern in der die Fürsorge greifen muss, sind Garantien optimaler Hilfe und ggf. eine die individuellen Bedürfnisse respektierende Pflege nötig. Nach dem archaischen Familienmodell, in dem der Lebensunterhalt der alten Menschen vor allem durch ihre eigenen Nachkommen gesichert wurde und dem einseitigen Generationenvertrag, der dieses Modell auf das Ganze einer Gesellschaft ausdehnte, wäre an einen wechselseitigen Generationenvertrag zu denken, der alte Menschen nach Maßgabe ihrer Gesundheit, ihres Erfahrungsschatzes und auch ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit an die Entwicklungschancen junger Menschen rückbindet. 30 Gegenstand der rechten Spalte, die sich auf den zuletzt angesprochenen gesellschaftlichen Bereich bezieht, ist auf den ersten beiden Ebenen die Verantwortung gegenüber den alten Menschen, die rechtlicher wie sozialer Absicherung bedarf. Der in der europäischen Grundrechtscharta verankerte, an den Paragraphen über den Kinderund Jugendschutz anschließende Schutz alter Menschen wird bei Übernahme in Gesetzestexte konstitutionellen Ranges zu einer unhintergehbaren zivilisatorischen Errungenschaft. Nachdem die in der abendländischen Geschichte immer wieder periodisch auftretende Verachtung des Alters und der Alten während des Zusammenbruchs zivilisierten Lebens im Dreißigjährigen Krieg am Tiefpunkt der allgemeinen Verrohung angelangt war, 31 konnte sich die Etablierung seiner Achtung allmählich wieder durchsetzen. Heute ist sie zu einem »Maßstab für den Stand unserer Zivilisation« geworden 32 – spiegelbildlich zur Achtung der Kindheit und Förderung der Jugend (und in der Praxis jenseits des formalen Rechts noch ähnlich prekär). Dem auf die fernere Zukunft des Alterns erweiterten Blick erschließt sich die Notwendigkeit einer allgemeinen sozialen Sicherung, gleichzeitig zu der oben angesprochenen deutlichen Anhebung des BilRuheständler soziale Dienste für diejenigen, die ihren Alltag nicht mehr alleine bewältigen können. Die dabei angefallenen Arbeitsstunden werden ihnen für den Fall eigenen Bedarfs in der Zukunft gutgeschrieben. 30 Zu den aktuellen ethischen Fragen im Zusammenhang mit der Generationengerechtigkeit und deren notwendiger Neubestimmung aufgrund der sich vertiefenden sozialen Kluft sowie dem Auseinanderdriften der Leistungen und Ansprüche von Menschen mit Kindern und ohne, vgl.: St. Pohlmann, Die ethische Dimension der Generationensolidarität. 31 Vgl. P. Borscheid, Der alte Mensch in der Vergangenheit, S. 39. 32 P. Baltes u. J. Mittelstraß im Vorwort zu Zukunft des Alterns, S. XIV. A

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dungsniveaus. 33 Würde außerdem das in den siegreichen kapitalistischen Gesellschaften vorherrschende Konkurrenzprinzip schon in Erziehung, Schule und (Aus)bildung stärker durch das Kooperationsprinzip ersetzt, könnte man auch damit rechnen, dass die Gefahr einer Altersdiskriminierung abnehmen würde. – Auf der dritten Ebene entspricht dem individuellen Bedürfnis nach Wertschätzung der eigenen Biographie und deren kommunikativer Vermittlung ein Anspruch auf Anerkennung der Lebensleistung, insofern jene nicht – beispielsweise durch begangene Menschenrechtsverletzungen – verwirkt wurde. – Auf vierter Ebene wird die Solidarität gegenüber hilfsbedürftigen Menschen auf das Alter appliziert. Sie zeigt sich durch Empathie und in sozialer Praxis, aber auch in der Sicherung der Allokation medizinischer Ressourcen. Abschließend muss nochmals mit Nachruck die Bedeutung einer Rückbindung zwischen Menschen höheren und jüngeren Alters im Sinne einer umfassenden, vorausschauenden, vorsorgenden, gleichzeitig aber auch rückblickenden, versorgenden, wo nötig fürsorglichen, in jedem Falle aber wechselseitigen Verantwortung betont werden. Wie Simone de Beauvoir anhand ihrer ethnologischen Studien feststellte, zeichneten sich altenfreundliche Gesellschaften auch durch eine überdurchschnittliche Kinderliebe aus. Wenn aktuell, allein durch Trägheit und eine verspätete Reaktion auf die demographischen Verschiebungen überproportional viele Ressourcen für die späte Lebenszeit zur Verfügung gestellt werden, ohne auf der anderen Seite die Balance zu halten, haben die folgenden Generationen weder ausreichende Chancen, diejenigen Fähigkeiten zu erwerben, die seit über zwei Jahrtausenden für das Lernen guten Alterns als unabdingbar betrachtet werden, noch werden sie besonders sensibel sein, wenn die Reihe an sie kommt, sich um die dann Alten zu kümmern. Von jüngeren Menschen ist im Allgemeinen nur insofern Aufmerksamkeit gegenüber den Interessen der älteren zu erwarten, als diese ihnen ihrerseits konkrete Gründe gegeben haben, sich ihnen gegenüber in der Pflicht zu fühlen bzw. insofern beide sich demselben Wertesystem verpflichtet fühlen. Die Anerkennung einer solch unauflöslichen Reziprozität der Zuwendung bildet das ethische Fundament für besondere Rücksicht gegenüber Schwächeren. Aus Grün33

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Vgl. U. Lehr, Das Alter beginnt in der Jugend.

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den der Gerechtigkeit kann nur eine gegenüber den Chancen ihrer verletzlichsten Mitglieder sensible Gesellschaft langfristig auch eine altenfreundliche sein, in der generationenübergreifende Partizipation gepflegt wird. Über allen berechtigten Klagen bezüglich einer Diskriminierung älterer Menschen v. a. in der Arbeitswelt oder durch propagandistische Verwertung der Jugendlichkeit darf nicht vergessen werden, dass dennoch mehrheitlich sie es sind, die Schlüsselpositionen innehaben, eine demographisch starke Wählergruppe stellen, und somit Prozesse steuern können. Norbert Elias sprach daher, ein Sprichwort des römischen Rechts zitierend, von ihrem glücklichen Besitz und davon, dass sie den häufig unterschätzten Vorteil haben, ihre Position im Leben erreicht zu haben: Die jeweils älteren Gruppen sind die beati possidentes; sie sind im Besitz von Machtchancen, darunter auch Sinnchancen, und solange sie nicht zu alt und gebrechlich für die Ausübung der sozialen Funktionen sind, mit denen sich diese Machtchancen verbinden, solange sie […] diese Funktionen als ein Monopol ihrer eigenen Generation handhaben, bleibt der Zugang zu ihnen den wartenden jüngeren Generationen versperrt oder kann von den älteren im Sinne ihrer eigenen Interessen reguliert werden. 34

Der daraus erwachsenden Aufgabe im Sinne gleichberechtigterer Partizipation der Jüngeren gerecht zu werden, könnte ein Ziel der jüngeren, aktiven Alten im dritten Lebensalter sein. Gegenüber den alten, gebrechlichen Alten im vierten Lebensalter stünden dann die Jüngeren im zweiten und dritten Lebensalter umso mehr in der Pflicht, und knapper werdende Ressourcen blieben für sie reserviert. Es ist bezeichnend, dass in einem der ältesten Gesetzessysteme der Geschichte, in dem Vertrag Gottes mit seinem Volk, nur vom Gebot der Achtung vor den Eltern die Rede ist, nicht von deren Verantwortung für die Kinder. 35 Während die Rechte Älterer bereits eine Jahrtausende alte Kulturgeschichte haben, sind die der Kinder erst eine junge Errungenschaft der Aufklärung. Vor nur einem halben Jahrhundert hatte Adenauer die einseitige offizielle Verpflichtung der mittleren Generation gegenüber der älteren durch den »Generationenvertrag« mit dem Argument verteidigt, »Kinder kriegen die Leute sowieso« – was sich bekanntlich als falsch herausgestellt hat. Da es also keine vergleichbaren Subsidien für alle nicht im ökonomischen 34 35

N. Elias, Studien über die Deutschen, S. 320 Exodus 20,12; 5. Gebot des Dekalogs. A

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Sinn produktiven Bürger gibt, und in der globalisierten Welt eine Erweiterung des Wohlfahrtsstaates politisch unwahrscheinlich ist, bleibt vorerst nur der moralische Appell an die Allianz aus Alter, Macht und Kapital. »Letzten Endes«, meint der Soziologe und Politikwissenschaftler Wolfgang Streeck daher »werden die Alten dafür gewonnen werden müssen, für die Zukunft der Gesellschaft auch über ihr Ableben hinaus Verantwortung zu übernehmen. Dies ist im Kern eine moralische Frage.« 36

7.2 Individuelle Entwicklungsmöglichkeiten Das Erstaunliche im Alter ist das umfassende Verfügen über die aufgenommenen Schätze jahrelangen Lernens; es ist die Freiheit der Neukombination, der Erfindung. A. Portmann 37

Das im ersten Abschnitt angeregte Engagement nimmt mit dem Schwinden der Kräfte und der Zunahme von Gesundheitseinbußen ab. Der Übergang vom äußerlich aktiven zum hohen Alter bezeichnet den Eintritt in eine Lebensphase, die zwar innerlich noch sehr lebendig sein kann, deren Handlungsradius sich jedoch verengt. Auf diese Zeit, das vierte Alter jenseits des achten Lebensjahrzehnts 38, verschiebt sich heute im allgemeinen die eigentliche Schutzbedürftigkeit. Je sicherer diese Lebenszeit erreicht wird, desto besser müssen die individuellen Voraussatzungen dafür sein, sie zum persönlichen Gewinn zu gestalten. Auch wenn sich die Möglichkeiten einschränken, sich durch handelnde Praxis zu verwirklichen, hören damit noch nicht die Entwicklungschancen überhaupt auf. Allerdings sind sie an Fähigkeiten gebunden, die früh erlernt werden müssen und sich im Allgemeinen durch einen Zugang zu Bildung und Kultur eröffnen, der wichtiger ist als die messbare kognitive Leistungsstärke. Wie eine Person altert, hängt – von schweren Schicksalsschlägen abgesehen – damit zusammen, wie sie ihr Leben entworfen hat und weiter entwirft. Empirische gerontologische Studien haben gezeigt, dass das kognitive Defizienzmodell des Alters u. a. entstanden ist, weil man in allen Untersuchungen das spezifische Leistungsver36 37 38

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W. Streeck, Politik in einer alternden Gesellschaft, S. 303. A. Portmann, An den Grenzen des Wissens, S. 125. Vgl. A. E. Imhof, Reife des Lebens, S. 152.

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mögen junger Menschen als Maßstab gesetzt hat. Diese Meßlatte war die fluide Intelligenz, die vor allem der Problemlösung neuer Sachverhalte zugrunde liegt und schnelle Reaktionen und Intuitionen voraussetzt. Ihr wurde die auf einem komplexen System logischer Verknüpfungen beruhende kristalline Intelligenz gegenübergestellt, die einer stärker erfahrungsbezogenen Problemlösung dient. 39 Werden die Testkriterien auf diese zweite Form der Intelligenz zugeschnitten, ergibt sich sogar ein komplementäres Bild zugunsten der älteren Testpersonen. Dies bedeutet, dass pauschale Vorurteile über kognitive Schwächen im Alter entkräftet werden konnten – Demenzerkrankungen beiseite gelassen. Wer allerdings das ganze Leben lang aufgrund entfremdender Arbeit, mangelnder Vertrautheit mit Kultur, Desinteresse an Dimensionen, die weder der unmittelbaren Lebenserhaltung noch der Steigerung des Reichtums dienen, keine Möglichkeiten dieser innerlichen Art der Selbstentfaltung hatte, wird sie sich auch im Alter kaum noch aneignen können. Es gilt nämlich das Prinzip, »dass das Verhalten während des ganzen Lebens mitentscheidet über die Veränderung der geistigen Leistungsfähigkeit im Alter.« 40 Das bedeutet, dass gut zu altern erlernbar ist, die Wurzeln hierfür allerdings weit zurück reichen. 41 Das gleiche gilt auch für die psychische Verfassung. Die von Améry als Schein entlarvten Alterstugenden wie die Gelassenheit stellen sich nicht von selbst ein, sondern allenfalls als Ergebnis einer lebenslang erübten Haltung. Einerseits ist es also im Alter bereits zu spät, um sich das abzuverlangen, was man vorher versäumt hat, andererseits ist es aber auch nicht so, dass negative Eigenschaften gleichsam automatisch aufträten, wie noch Simone de Beauvoir unterstellt hatte. Negative Vorurteile, dass beispielsweise Habgier oder Apathie verstärkt aufträten, lassen sich zumindest empirisch nicht belegen. 42 Im Folgenden werden nun einige Möglichkeiten untersucht, wie

Vgl. A. Kruse, Entwicklungspotentialität im Alter, S. 68 f.; H. Thomae, Altern als mehrdimensionaler Prozess, S. 14 f. u. M. Knopf, Die Rolle des Wissens für das Gedächtnis älterer Menschen, S. 283 ff. 40 H. Thomae, Altern als mehrdimensionaler Prozess, S. 82. 41 Zur entscheidenden Rolle der kontinuierlicher intellektueller Anstrengung für den Erhalt kognitiver Fähigkeiten vgl.: D. Field, K. W. Schaie u. E. W. Leino, Continuity in intellectual functioning. 42 Vgl. H. Thomae, Altern als mehrdimensionaler Prozess, S. 85. 39

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sich auch die letzte Lebensphase mit Gewinn in einen sich weiterentwickelnden Prozess der Selbstverwirklichung integrieren lässt. 7.2.1 An die Lebenswirklichkeit angepasste Lernhorizonte, Gestaltungs- und Entwicklungsräume Im Prado in Madrid hängt ein Portrait von Francisco de Goya, das einen gebückten alten Mann mit weißen Haaren zeigt, der sich auf zwei Stöcke stützt und sinnierend vor sich hinschaut. Es trägt den Titel »Ich lerne noch«. Im Berufsleben ist permanente Weiterbildung und Umlernen geradezu eine funktionale Notwendigkeit geworden. Wer sich der Aufgabe des Lernens ab einem bestimmten Alter, jenseits der Berufstätigkeit, wenn man es sich nur noch selbst abverlangen kann, entzieht, wird mit einem vorzeitigen organischen Abbau des kognitiven Apparats bestraft. Die Ursache intellektueller Einbußen im Alter kann erwiesenermaßen nicht nur degenerative Erkrankung sein, sondern auch selbstgewählte Passivität, die zu einer Inaktivitätsatrophie 43 des Gehirns führen kann. Bildung 44 , vor allem aber psychosoziale Kompetenz 45 werden im Alter geradezu lebensnotwendig, da sie sowohl ein Fenster zum eigenen Innenleben als auch zur Mit- und Umwelt öffnen bzw. offen halten. Wie alle Organe, reagiert auch das Gehirn auf persönliche Verhaltensweisen des jeweiligen Individuums, wobei es hier zu einer, besonders für die Autonomie im Alter wichtigen, Steuerung kommen sollte, da »unser Gehirn so wird, wie wir es benutzen.« 46 Nie droht die Lücke zwischen dem eigenen Erfahrungshaushalt und den aktuell dominierenden Werten so weit auseinander zu klaffen wie im Alter, was eine permanente ethische Konfrontation und Überprüfung notwendig macht. Diese kann sowohl eine aktualisierende Verstärkung verinnerlichter Werte als Konsequenz einer begründeten Kritik zur Folge haben als auch ihre Revision. Die KriteVgl. R Kliegl, Kognitive Plastizität und altersbedingte Grenzen am Beispiel des Erwerbs einer Gedächtnistechnik, S. 279; H. Thomae, Altern als mehrdimensionaler Prozess, S. 83. 44 Vgl. U. Kalbermatten, Bildung im Alter, S. 112. 45 Der Hirnforscher Gerald Hüther bezeichnet daher das Gehirn weniger als »ein Denkals vielmehr ein Sozialorgan. (Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, S. 18.) 46 Ebd., S. 85. 43

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rien der Zeit zu korrigieren, in der sich die eigene und kollektive Ideenwelt bildete, setzt eine theoretische Distanzierungsleistung und ethische Sensibilität voraus, die trainiert werden muss. Dabei ändern Kriterien nicht allein durch ihr bloßes Alter ihr Gewicht, sondern v. a. durch begründete Kritik und eine Veränderung der Horizonte. Die Werte der allgemeinen Menschenrechte oder des Umweltschutzes etwa haben erst langsam an Bedeutung zugenommen, sind also eher noch »junge« Werte. Die hingegen besonders dem Alter eigene Liebe zur Stille, Langsamkeit und Ruhe könne, meint Bloch, »der kapitalistischen Hetze ferner stehen als eine Jugend, die die Hetze mit Leben verwechselt« 47 , und daher ein wichtiges Korrektiv darstellen. Lernen ist von der Antike bis heute eine Schlüsselwort erfüllten Alterns, für das frühe Voraussetzungen maßgeblich sind, da empirisch belegt ist, dass versäumte Fortschritte schwerwiegende Folgen haben. Aufgrund einer Langzeitstudie zur Persönlichkeitsentwicklung zieht Andreas Kruse daher den empirisch bewiesenen Schluss: »Nicht vollzogene Reifungs- oder Entwicklungsschritte in früheren Lebensjahren verringern die Entwicklungspotentialität im Alter.« 48 Das bedeutet nicht, dass im Alter nicht – auf der Basis des Vorhandenen – Neues gelernt werden könnte. So empörte sich der amerikanische Literaturwissenschaftler und Schriftstellers Alan Isler, der beim Erscheinen seines ersten Romans sechzig Jahre alt war, zu Recht darüber, dass die Rezensenten vieler großen Zeitungen auf sein für ein Debüt fortgeschrittenes Alter abhoben, als ob es eine »Literature of Gerontology« gäbe. 49 Um die Möglichkeit der Weiterentwicklung zu beschreiben, auch wenn das eigene Leben im Alter in mancher Hinsicht rückschrittlich zu sein scheint, wird in der Gerontologie der ursprünglich aus der Biomedizin stammende Begriff der Plastizität benutzt. 50 Dieser wurde zunächst anlässlich der Erforschung der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen in jüngeren Lebensaltern geprägt, E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung I, S. 43. A. Kruse, Entwicklungspotentialität im Alter, S. 75. 49 A. Isler, De Senectute: Some Personal Reflections, S. 191. 50 Vgl. K. R. Popper, J. C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, S. 461 f. u. 483 f.; H. Thomae, Entwicklung und Plastizität der Person; vgl. auch M. Baltes u. a. (Hrsg.), Erfolgreiches Altern, S. 250–277; P. B. Baltes, Expertise und kognititves Altern. Eine zusammenfassende Darstellung findet sich in M. Martin, Psychologische Grundlagen der Gerontologie, S. 50 ff. 47 48

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z. B. hinsichtlich der Biographien von Menschen, die als Kinder Traumata von Verarmung (Wirtschaftskrise von 1929 und den dreißiger Jahren 51 ) oder zusätzlich Flucht und Vertreibung (während des 2. Weltkrieges und danach 52 ) erlebt haben. Mit zunehmendem Interesse an den Krisenzeiten des Alters und ihrer produktiven Bewältigung fand er Eingang in die gerontopsychologische und -soziologische Diskussion. 53 Mit ihm wird v. a. dreierlei zusammengefasst: die bewusst lenkbare Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt; die sich nie erschöpfende Möglichkeit zu lernen, sofern dieses nicht nur als Akkumulation von Wissen, sondern auch als Anpassung (Adaption 54 ) an veränderte Verhältnisse und Integration von Rückschlägen verstanden wird; und die Nutzung erlernter und erinnerter Ressourcen zur Orientierung. Vor allem vier der kurzen, von Bobbio als lehrreich angesehenen Altersautobiographien in der Sammlung von Petrignani können als plastisch bezeichnet werden. Bei zweien handelt es sich um Künstler, bei den anderen um eine Frau, die spät ihre Familie verlässt, um sich einen Lebenstraum zu erfüllen, und schließlich um eine politisch engagierte Person. Alle haben eines gemeinsam: Das Alter wird nicht passiv erduldet, sondern auch da, wo es scheinbar kaum noch möglich ist, aktiv gestaltet. Die beiden Künstler, ein Architekt und ein Maler, zeichnen sich dadurch aus, dass ihnen ihr ästhetisches Medium der Mitteilung sowohl den Horizont neuer Erfahrungen offenhält als auch eine besondere Form der Einkehr in eine innere Welt der Phantasie ermöglicht. Der Architekt, einundachtzig Jahre alt und seit zehn Jahren am Parkinson-Syndrom erkrankt, fertigt mit der zitternden Hand Zeichnungen an und meint: »Jetzt experimentiere ich mit merkwürdigen Hieroglyphen, ungenauen Collagen, mit den Produkten meiner Krankheit. Alles kann zur Kunst werden. Man muss nie anhalten.« 55 Durch die Kunst der Selbstbeobachtung und -distanzierung und aufgrund der Fähigkeit, sich vom Maßstab des Gesunden zu lösen, die Realität der Krankheit anzunehmen und sie sogar

Vgl. G. H. Elder, Children of the Great Depression. Vgl. U. Brandt, Flüchtlingskinder; C. Coerper, W. Hagen, H. Thomae (Hrsg.), Deutsche Nachkriegskinder. 53 Vgl. M. M. Baltes u. P. B. Baltes, Plasticity and Variability in Psychological Aging. 54 Zum kreativen Potential der Adaption vgl. R. Atchley, Continuity and Adaption in Aging. 55 S. Petrignani, Vecchi, S. 17. 51 52

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künstlerisch zu verarbeiten, kann sich ihm in der Pathologie ein neues Erfahrungsfeld erschließen. Der Maler erklärt: »Ich bin zweiundneunzig Jahre alt und kommuniziere nur mit den Zeichnungen.« 56 Er bildet seine Umwelt aus Krankenpflegerinnen und Pflegern sowie den Mitbewohner/innen ab, und wartet gespannt auf die Reaktionen der anderen. Die sprachliche Kommunikation, sogar die mit seinem Sohn, hat er aus Langeweile abgebrochen und reduziert sich auf das in den Zeichnungen konzentrierte Wesentliche. Beide Beispiele sind Zeugnisse der Einsamkeit, doch weniger der traurigen Isolation als der schöpferischen Ideen. Gewollt einsam ist auch eine Frau, die alles zurücklässt, was man meint, das alte Menschen am meisten brauchen – ihr gewohntes Zuhause und ihre Familie, um ihr Leben nur noch in Gesellschaft ihrer Katzen in ihren Erinnerungen zu verbringen. Sie folgt dem Weg von Brechts Unwürdiger Greisin und gönnt sich im Alter die Freiheit, etwas von dem nachzuholen, was sie das ganze Leben Lang aus Pflichtgefühl gegenüber anderen zurückgestellt hatte. Einen anderen Weg geht eine siebzigjährige Frau, die, nachdem sie eine Leukämie-Erkrankung überwunden hatte, die Leitung eines telefonischen Seelsorgedienstes für alte Menschen übernahm und ihr Leben sozial neu gestaltete. Der größte Feind der produktiven Anpassung, der inneren Neuorganisation und der Möglichkeit, sich im Bereich des Erreichbaren sogar noch eine neue Umwelt zu schaffen, ist die Verbitterung, die sich nicht von alten Maßstäben lösen kann und die aktuelle Situation wie Mimnermos dunkel gegenüber der früheren, als besser erinnerten Zeit abhebt. Wer daran gewöhnt war, Zufriedenheit, wenn nicht Glück 57 ausschließlich an quantifizierbare Größen zu knüpfen oder sich über Rollen zu definieren, die betont jugendlich geprägt sind, hat es dabei schwerer als jemand, der beispielsweise Zugang zu einer Ästhetik hat, die lehrt, dass das Zielen auf Authentizität und Ehrlichkeit wichtiger ist als genormte Schönheit.

Ebd., S. 72. Zur Integration des Lebensglücks in den gesamten Lebensverlauf vgl. N.-A. Bringéus, Lebenslauf und Lebensglück.

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7.2.2 Chancen später Selbstvollendung […] Wen nämlich die Musen als Kind schon Freundlich betrachtet, dem bleiben im Alter sie treu. Kallimachos 58

Wie erfolgreich, zufrieden, glücklich, oder aber apathisch, depressiv verzweifelt das individuelle Alter erlebt wird, hängt von vielen Faktoren ab, unter denen drei besonders hervorstechen: die psychische Befindlichkeit, soziale Kontakte und der Zugang zu Kultur und Bildung. Im Alter verschleifen diesbezügliche Unterschiede nicht, sondern verschärfen sich eher, weshalb sich die Gerontologie und die Gerontopsychologie nicht zuletzt der Analyse der Differenzen, der Variabilität 59 widmen, um hieraus propositive Schlüsse ziehen zu können. 60 Alle gerontologischen Schulen des letzten Jahrhunderts bis heute haben sich darum verdient gemacht, gegenüber negativen Altersstereotypen positive Alternativen aufzuzeigen: den möglichen Ausgleich von Defiziten durch psychosoziale Ressourcen (Baltes, Kruse, Lehr 61 ), die Betonung der integrativen Kraft und Kontinuität einer Person, die ihre jeweiligen Entwicklungs- bzw. Lebensaufgaben bewältigt, gegenüber Dekomposition bzw. und Rückzug aus dem sozialen Leben (Disengagement; Erikson, Havinghurst, Lehr u. Olbrich 62 ). Internationale Längsschnittstudien, die repräsentativ über den Zeitraum einer ganzen Lebensspanne individuelle biographische Entwicklungen verfolgen und vergleichen 63 , ergaben differenzierte, variationsreiche Altersmuster, die sowohl soziale und historische Einflüsse erkennen lassen als auch Räume individueller Entwicklungschancen. Als Möglichkeit besonderer Kompetenzen des späten Kallimachos, Epigramme, in: Griechische Lyrik, S. 139. Vgl. M. Martin, M. Kliegel, Psychologische Grundlagen der Gerontopsychologie, S. 20 ff. 60 Vgl. A. Kruse und M. Martin, Vorwort zur Enzyklopädie der Gerontologie, S. 9; zu den ökonomischen Unterschieden vgl. u. Fachinger u. W. Schmähl, ebd., S. 536. 61 Vgl. P. B. Baltes, Entwicklungspsychologie der Lebensspanne; A. Kruse, Altern zwischen Hoffnung und Verzicht; U. Lehr, Persönlichkeitsentwicklung im höheren Lebensalter – Differentielle Aspekte. 62 Vgl. E. H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, R. J. Havinghurst, Development Tasks and Education; A. M. Freund, Entwicklungsaufgaben; U. Lehr u. E. Olbrich, Social Roles and Contacts in Older Age: Consistency and Patterns of Change. 63 Z. B. Seattle Longitudinal Study (SLS, 1956); Baltimore Longitudinal Study of Aging (1958); Normative Aging Study (NAS,1963); Berliner Altersstudie (BASE, 1990), Bonner Längsschnittstudie (BOLSA, 1987). 58 59

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Individuelle Entwicklungsmöglichkeiten

Lebensalters treten zu Tage: Erfahrungen, Souveränität im Umgang mit Verlusten, Rückschlägen und Misserfolgen, strukturiertes Denken, Gelassenheit und Weisheit der Erkenntnis eigener Grenzen, die deren Überschreitung erst ermöglicht. Aus dieser Befreiung des Alters einerseits von der Übermacht negativer Konnotationen, andererseits aber auch von rhetorischer Überhöhung zu einer Lebensphase, deren Merkmale aber zum gesamten Lebensprozess gehören und daher bewusst in diesen integriert werden sollten, sind Theorien zur Lebenszufriedenheit (Thomae 64 ), zur lebenslangen Entwicklung (Kruse 65 ) und zum praktischen Verständnis kontinuierlicher Selbstwerdung als Werden zu sich selbst (Rentsch 66 ) entstanden. Während die ersten beiden Ansätze die negativen Phänomene aufgrund der Tatsache, dass sie zwangsläufig zum realen Bestandteil der meisten Biographien werden, pragmatisch in eine Theorie individuell gelingenden Lebens einbeziehen, läuft der letzte Gefahr, das Altern nicht nur konstruktiv in ein Gesamtlebenskonzept zu integrieren, sondern es existentiell und ideell zu einer Phase eigentlichen Selbstseins zu überhöhen, was angesichts des in der letzten Phase häufig drohenden Persönlichkeitsverlusts problematisch ist. Aktuelle philosophische Überlegungen zum Alter als Zeit der Selbstentfaltung versuchen auf dieser Grundlage, eine universale, rationale und ethische Perspektive zu eröffnen, wozu der Dialog mit den empirischen Wissenschaften gehört. Wie die Kulturgeschichte zeigt, wechselten die Altersbilder periodisch. Auf Zeiten stärkerer Jugendverehrung folgten Aufwertungen des Alters, etwa in der Aufklärung. 67 Jürgen Mittelstraß bezeichnete – in der Tradition der Auffassung des Alters als Emanzipation von Alltagszwängen – die späte Lebenszeit als die potentiell menschliche Zeit, die der allgemeinen Tendenz zur Beschleunigung widerstehe. 68 Mehr als andere Lebensphasen entspreche sie, im Gegensatz zur normierten physikalischen Zeit des Chronos, dem Aion als Gestaltwerdung eines Lebendigen. Dass gegenüber diesem Sinnversprechen des Zu-sich-selbst-Kommens oft die Negativität des Leidens an den Verlusterfahrungen des Alterns überwiegen, hält er für einen zu korrigierenden Irrtum einer Vgl. H. Thomae, Lebenszufriedenheit im Alter. Vgl. A. Kruse, Entwicklungspotentialität im Alter. 66 Vgl. Th. Rentsch, Altern als Werden zu sich selbst 67 Zu den geschichtlichen Altersbildern vgl. J. Mittelstraß, Die menschliche Zeit. 68 Vgl. Ebd., S. 309. Die Emanzipation im Alter wird vor kulturgeschichtlichem Hintergrund auch von Leopold Rosenmayr (Die späte Freiheit) emphatisch betont. 64 65

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auf Jugendlichkeit und Konsum fixierten Gesellschaft, wobei allerdings nicht problematisiert wird, ob jemand – und wenn ja, wer – für die unmenschliche Beschleunigung der Zeit in den jüngeren Jahren Verantwortung trägt. 69 Daher meint Alfons Auer im Sinne der katholischen Sozialethik: »Altern ist der letzte, nicht der erste Aufruf zur Freiheit. Der letzte kann nicht gehört werden, wenn die Fähigkeit zu hören nicht zuvor eingeübt worden ist. 70 Thomas Rentsch führte, unter Rückgriff auf die philosophische Anthropologie, den Gedanken des Gestaltwerdens eigener Lebenszeit im Alter fort und prägte dafür die bereits erwähnte Formel des Werdens zu sich selbst, die der Dynamik dieses in jedem individuellen Fall einmaligen Prozesses Rechnung tragen will. 71 Er befreit die späte Selbstverwirklichung von kultureller Dominanz und betont die Bedeutung alltäglicher, bescheidener Erfüllungsformen und Glückserfahrungen, ohne dabei die besondere Rolle der Kultur für ein zufriedenes Alter in Abrede zu stellen. Indem er allerdings die Negativität zur Essenz des Lebens stilisiert, gerät ihm das konkret Negative, z. B. ein drohender Selbstverlust durch Demenzerkrankung, aus dem Blick. Die damit einhergehenden Krankheitsbilder, die mittlerweile zu einem Massenphänomen werden, machen es schwer, die Vorstellung, Selbstwerdung sei ein linearer, zielgerichteter Prozess aufrecht zu erhalten. Diese läuft nämlich Gefahr, nicht ohne einen substantiellen Begriff des Selbst auszukommen, der praktisch schwer verifizierbar ist, und auch theoretisch, vor dem Hintergrund von Montaignes Skepsis gegenüber der Monumentalität des Selbst sowie Kierkegaards Idee der Synthese und schließlich der postmodernen Dekonstruktion von Subjektivität, kaum aufrecht zu erhalten ist. Nur in einem engeren ethischen Sinn kann man sagen, dass das Alter für das labile und gefährdete Unternehmen der Identitätsbildung und -bewahrung ein bedeutendes Stadium ist, in dem sich Erreichtes wie Versäumtes zeigt, wobei allerdings lediglich ein Teil der Verantwortung für die Frage des Gelingens oder Misslingens unter die Kategorie der Selbstsorge fällt. Dass eine Selbstrealisierung bis zum Ende gelingen kann, hängt nämlich, was immer wieder betont werden muss, auch von den externen, sozialen Bedingungen während des gesamten Lebens ab. Vgl. ders., Jugendwahn und Altersangst. A. Auer, Geglücktes Altern, S. 265. 71 Vgl.Th. Rentsch, Altern als Werden zu sich selbst u. Philosophische Anthropologie und Ethik der späten Lebenszeit. 69 70

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Individuelle Entwicklungsmöglichkeiten

Leopold Rosenmayr spricht in Bezug auf das selbstbestimmte Altern nicht von Selbstwerdung, sonder von einer dynamischen und verantwortlichen »Radikalisierung der Arbeit am Ich« 72 und betont damit die Notwendigkeit der Konfrontation mit den eigenen Möglichkeiten, aber auch Grenzen. Parallel zu Theunissen der den Weg über die ästhetische Anschauung als Ausweg aus dem Zwangscharakter der Zeit und als Möglichkeit, aus dem Abstand heraus zu sich zu kommen vorgeschlagen hatte, plädiert Rosenmayr für eine Öffnung des subjektivistischen Horizontes durch das ästhetische Mittel der Musik, die eine »tiefe Ermutigung für den alternden, für den alten Menschen [schafft].« 73 Damit schlägt er bewusst eine Brücke zu der Phase verblassenden Selbstbewusstseins und Interpretationsvermögens. Allen genannten Entwürfen ist gemeinsam, dass das Alter eine besonders verletzliche, aber auch noch chancenreiche Zeit ist, sofern dafür früh die Weichen richtig gestellt wurden. Altern ist de facto, durch die zeitliche Gestalt und die Unvertretbarkeit des individuellen Existierens ein »Gestaltwerden der singulären Totalität eines menschlichen Daseins« 74 . Es ist ein zunächst faktisch geschehendes Endgültigwerden 75 , das ethisch und lebenspraktisch gestaltet werden muss, um zu einem nach Frankl sinnvollen, erfüllten Abschluss zu kommen. Für diesen Prozess können alle der bis hierher untersuchten Alterstheorien eine wichtige Rolle spielen. Aus der Tradition des Negativismus lässt sich individualethisch lernen, die negativen Tatsachen nicht zu verdrängen. Das Leiden des Individuums an Aspekten der eigenen Endlichkeit muss ernst genommen werden, ohne es allerdings zur Essenz des Lebens zu überhöhen. Gleichzeitig führt Kierkegaards Erkenntnis, dass nicht sterben zu können ein viel größeres Unglück bedeutet als Sterben zu müssen aus der perspektivischen Verengung dieser Trauer hinaus. Aus der Verarbeitung der Angst vor Alter und Tod kann der Mut erwachsen, die Endlichkeit des Lebens zu akzeptieren und den Wunsch, das eigene Leben ins Unendliche zu verlängern als Ausdruck eines hybriden Egozentrismus zu entlarven. Solons Lebensaltermodell kann ergänzend zur pragmatischen 72 73 74 75

L. Rosenmayr, Zur Philosophie des Alterns, S. 13. Ebd., S. 27. Th. Rentsch, Altern als Werden zu sich selbst, S. 176. Ebd. A

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Entwicklungspsychologie dazu anregen, dem Alter einen eigenen Platz im biographischen Bogen zuzuordnen und seine Möglichkeiten zu nutzen, ohne es dabei tragisch zu verdüstern wie Mimnermos oder rhetorisch zu erhöhen wie Cicero. Diese Möglichkeiten können darin bestehen, den emanzipatorischen Aspekt des Alterns zu nutzen. Alte Menschen sind von Leistungs- und Karrierezwängen befreit und haben daher mehr Zeit über den Alltag hinauszudenken. Ein erfülltes, glückliches, oder bescheidener gesagt, zufriedenes Alter könnte die biblische Lebenssattheit des Hiob bedeuten, es könnte heißen, Bilanz zu ziehen, im Sinne Senecas das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden und mit Goethe, einem Meister guten Alterns, sagen zu können: »Mir bleibt genug! Es bleibt Idee und Liebe!« 76 Diese Liebe, die Goethe auch als einen sozialen Affekt im Sinne des konkreten Engagements für andere verstand, ist das Gegenteil des gefürchteten verbitterten, isolierten Alterns. Auch die stoische Haltung kann heute noch in vieler Hinsicht fruchtbar gemacht werden: Als Wiederentdeckung der Zeitautonomie, als kritische Distanz zu Handlungszwängen und als Kultur der gelassenen Akzeptanz des Alters. Allerdings wäre sie aus der elitären Nische, in der sie gediehen ist, zu befreien. Der Zugang zu Bildung und Kultur, die für eine auf diese Weise distanzierte, sich vom Negativen befreiende Haltung unabdingbar sind, ist immer noch unverantwortlich eingeschränkt. Davon, dass Bildung wirklich demokratisiert wäre und im Allgemeinen weiter gefasst würde als instrumentelles Wissen sind wir, wie die entsprechende OECD-Studie aus dem Herbst 2004 gezeigt hat 77 , immer noch weit entfernt. Hegel kann auch in einer Zeit, in der weder religiöse Sinnmythen noch historische Utopien dem Einzelnen einen sinnvollen Platz zuordnen, und für die ordnende Rückschau auf das Ganze des individuellen und universalen Lebens wegweisend sein. Auch wenn es keine allgemeinverbindliche Auffassung vom sinnvollen Ganzen der Schöpfung, der Kulturgeschichte der Menschheit und vom eigenen Leben mehr gibt, kann niemand die unauflösbare Durchdringung des individuellen und des sozialen Lebens sowie seine historische Prägung und biologische Faktizität leugnen. Daher bleibt es unerlässlich, den engen Horizont des unmittelbaren Egos zu überschreiten. Die Idee, dass man selbst Teil eines größeren Zusammen76 77

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J. W. v. Goethe, Westöstlicher Divan, HA II, 39. OECD-Studie »Education at a Glance 2004«

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Individuelle Entwicklungsmöglichkeiten

hangs ist und sich zwar teilweise im Widerspruch zu diesem, aber nie gänzlich isoliert selbst verwirklichen kann, enthält ein individualwie sozialethisches Potential, auf das sich Modelle der Selbstverwirklichung in Solidarität und Anerkennung immer noch stützen können. Die Ganzheit des Lebens, die auch nach Bloch an dessen Ende deutlicher vor Augen tritt, wird durch Erkenntnis und Erfahrung verbunden: »… die Meißelschläge des Lebens haben eine wesentliche Gestalt herausgearbeitet und Wesentliches ist ihr besser als je erblickbar.« 78

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8 Überlegungen zum »dünnen Ende« des Lebens […] Du weißt, dass Traurigkeit Heimweh nach dem Himmel ist, und das alles Gute im Menschen ein Kind des Schmerzes ist […]. Kierkegaard 1

Zum Thema der ethischen Herausforderung des Alterns gehört auch das Problem spezifischen Leidens an Autonomieverlust im hohen Alter, das Ernst Bloch das »dünne Ende« des Lebens nannte. 2 Die Idee, infolge schwerer Demenz vielleicht einmal die Kontrolle über sich selbst zu verlieren bzw. einen nahestehenden Menschen davon betroffen zu sehen, gehört zu den schlimmsten Ängsten, die man dort, wo das Überleben gesichert ist, hinsichtlich des Alterns haben kann. Die Angst vor einem möglichen Verlust an Selbstbewusstsein oder auch vor einem lang andauernden Zustand der Hilflosigkeit ist meist schlimmer als die vor dem Sterben selbst. Auch wenn das Alter viele Gesichter hat, die vom Tod weiter entfernt sind als eine durch Malaria, Tuberkulose, Typhus, Unterernährung oder Krieg bedrohte Kindheit und Jugend, steht am Ende unweigerlich das Loslassenmüssen. Die medizinisch-technische Kunst, das Leben zu verlängern bzw. den Eintritt des Todes zu verhindern und so weit wie möglich hinauszuschieben, ist beinahe zur Perfektion gereift. Dabei wurde jedoch über der Freude am Gewinn der zusätzlichen Lebensjahre die humane Kultur des Loslassens vernachlässigt. Hilfsbedürftigkeit und Schwäche stellen eine große Herausforderung an eine menschliche Gesellschaft dar. Ihr solidarisch zu begegnen, aber auch Freiräume zu sichern, sich einem verzweifelten Festklammern am Leben als einer schwer zu bewältigenden Anstrengung zu verweigern, ist ein wichtiges Thema in der Debatte über ein selbstbestimmtes, würdiges Lebensende geworden. Praktisch-ethischen Überlegungen zu einem eventuellen Autonomieverlust und einer Annäherung an eine moderne Ars moriendi bilden daher den Abschluss der Überlegungen zu einer verantwortlichen Gestaltung endlichen Schicksals.

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S. Kierkeggard, Brief an Regine Olsen vom 9. 12. 1840, Ges. Werke S. 40. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 40.

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Grenzen der Autonomie

8.1 Grenzen der Autonomie Die Demenzerkrankungen, angeführt vom Alzheimer-Syndrom, dem die WHO seit Beginn dieses Jahrhunderts einen weltweiten jährlichen Gedenktag widmet, stellen die Altersepidemie schlechthin dar. In den nächsten 25 Jahren werden laut den Prognosen der Weltgesundheitsorganisation die Neuerkrankungen in den Industrieländern noch um etwa ein Drittel, in den sich entwickelnden Ländern um das Doppelte steigen. 3 Solange es keine heilende, sondern nur eine mildernde Therapie gegen dieses Leiden gibt, kann es nur durch individuelle Anstrengung, Solidarität und Empathie gemildert werden. Hier werden die integrativen Kräfte innerhalb der alternden Gesellschaften in den kommenden Jahrzehnten immer stärker gefordert werden. Die analytische Philosophie hat den Begriff der Person vor allem über Elemente des Selbstbewusstseins wie z. B. die Sprache, die Fähigkeit der Selbstreflexion oder das Urteilsvermögen definiert. Diese Begriffe treffen beispielsweise auf demenzkranke Menschen im fortgeschrittenen Stadium zunehmend weniger zu – ebenso wenig übrigens wie auf Neugeborene, womit ein weiteres Mal die Nähe vom Anfang und (nicht immer, aber manchmal) vom Ende des Lebens deutlich wird. Das bedeutet, dass dieser enge Begriff des Personseins zu kurz greift, um das ganze Leben einer Persönlichkeit als unverwechselbare, oft brüchige, meist erst rückblickend zu integrierende, aber dennoch faktische Einheit zu begreifen. Neugeborene verdienen neben der Solidarität mit ihrer Hilflosigkeit Respekt vor der in ihnen ruhenden Potentialität. Diesbezügliche Forschungen liefern Beweise für die Erfahrung, dass sie in vieler Hinsicht schon deutlich ausgeprägte, kommunikative Persönlichkeiten sind. Hochbetagte hingegen können inzwischen zwei unterschiedliche Wege verfolgen: zu einem Zeitpunkt, zu dem sie zu einer selbstverantwortlichen Entscheidung fähig sind, rechtsgültig verfügen, was bei unwiederbringlichem Verlust des Selbstbewusstseins zu geschehen habe, oder sich der Entscheidung anderer anzuvertrauen, denen dann die erinnernde Bewahrung des Respekts vor der Persönlichkeit obliegt, zu der sie geworden sind, auch wenn ihr aktueller Zustand davon vielleicht nicht mehr viel ahnen lässt. Das kann betreuende Personen und Angehörige vor eine schwierige Aufgabe stellen. Die folgenden Überle3

Vgl. die Statistik unter http://www.who.int/aging A

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Überlegungen zum »dünnen Ende« des Lebens

gungen unternehmen den Versuch, den Bewusstseinszustand zu erahnen und besser zu verstehen, in welchem sich Menschen befinden, wenn sie die Luzidität der Gedanken, der Logik allmählich verlässt. Edmund Husserl hat schon vor den Möglichkeiten differenzierter Gehirnforschung unter Anwendung seiner phänomenologischen Methode darauf hingewiesen, dass alles Verstehen intentional sei, d. h. alles Verstehen ist Verstehen von etwas. Dies gilt ebenso für das Sehen, Hören oder Tasten: Alle Leistungen des Bewusstseins stellen anspruchsvolle, wenn auch meist unbewusst bleibende Interpretationsleistungen innerhalb eines komplizierten Systems von bereits bekannten Rastern dar, mithilfe derer wir unsere Wahrnehmungen einsortieren. Das Chaos der ständig auf uns einströmenden Eindrücke muss unablässig zu dem Kosmos der uns vertrauten Welt geordnet werden. Wie stark die kontinuierliche vorbewusste Sinnsuche der kognitiven Arbeit ist, lässt sich am Beispiel optischer Illusionen nachvollziehen, die dadurch entstehen, dass in neuen Figuren alte Muster gesucht werden. Diese Tätigkeit ist anstrengend und setzt eine intakte Bewusstseinstätigkeit voraus. Gehen Koordinaten dieser Rasterbildung verloren, z. B. in der Ausnahmesituation von Krankheit oder extremer Müdigkeit, kann es auch ansonsten gesunden Menschen passieren, dass ihr Bewusstsein größere Mühe damit hat, Wahrnehmungen zu interpretieren. Die Psychologie hat das Phänomen der im hohen Alter oft schwindenden Selbstverständlichkeit, mit der man gewöhnlich die Welt versteht, sundown syndrome genannt: 4 Wahrnehmungen werden unscharf, die Konturen der Gedanken verlieren ihre klaren Umrisse. Sie verschwimmen zunächst im Nebel sich überlappender Assoziationen, um schließlich im schwarzen Loch des nicht mehr Interpretierbaren zu verschwinden, wie eine Landschaft, die in der Dämmerung immer schwerer identifizierbar ist und schließlich unaufhaltsam in die Dunkelheit entgleitet. Ein anderes Beispiel für Orientierungslosigkeit bietet die Erfahrung, sich allein innerhalb einer Gruppe von Menschen zu befinden, die eine fremde Sprache sprechen: trotz größter Mühe, versteht man nicht. Eine solche Unmöglichkeit zu verstehen und darüber hinaus sogar noch die Unmöglichkeit den Grund dafür zu begreifen, warum man nicht mehr versteht, drückt sich in dem oft verlorenen, beunruhigten, suchenden, manchmal auch verärgerten Blick an schwerer 4

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L. Evans, Sundown Syndrome in the Elderly.

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Grenzen der Autonomie

Demenz erkrankter Menschen aus. Da es aus diesem, alltagssprachlich Umnachtung genannten Zustand kein Zurück mehr gibt, muss er von den Mitmenschen in erinnernder Achtung vor der jeweiligen Persönlichkeit, mit Verständnis für die Fragilität des menschlichen Daseins überhaupt und mit mitmenschlicher Empathie hingenommen werden. Darüber hinaus liegt bei ihnen die moralische Verantwortung, die Würde einer Person zu schützen, auch wenn diese dazu selber nicht mehr in der Lage sein sollte. Damit diese Idee im Sinne eines Menschenrechts verwirklicht werden kann, bedürfte es einer deutlichen Revision des Pflegealltags, einer Entlastung der betroffenen Familien und Pflegekräfte, und einer ausgewogenen Ressourcensteuerung. Im Zusammenhang mit der Pflege im Alter, vor allem wenn schwere Erkrankungen auftreten, stellen sich inzwischen für viele Menschen praktische Fragen nach der individuellen Regelung dieser letzten Lebenszeit. Für manche kann dabei physisches Leiden einerseits und der Verlust von Autonomie und Selbstbewusstsein andererseits – wie eingangs festgestellt – eine viel größere Katastrophe bedeuten als der Tod selber. Überlegungen zur Rechfertigung eines frei gewählten Verzichts auf Lebensverlängerung bis hin zum nur in wenigen Ländern wie z. B. Holland, der Schweiz oder dem Staat Oregon legalen ärztlich assistierten Suizid dürfen allerdings nicht in Verbindung mit dem Alter als solchem gestellt werden, sondern allein hinsichtlich eventuell auftretender schwerer Erkrankungen, die die Wiedererlangung eines selbständigen, das heißt von invasiven lebenserhaltenden Techniken unabhängigen Lebens unmöglich machen. Allein aufgrund des Alters gibt es noch keinerlei spezifische Nähe zum Thema der Verfügungen hinsichtlich des eigenen Sterbens, da diese immer an spezifische medizinische Therapien geknüpft sind. Dennoch drängt sich die Notwendigkeit einer vorausplanenden Entscheidung in dem Maße auf, in dem sich durch ein immer gesicherteres Erreichen sehr hohen Alters Krankheiten häufen, multiplizieren, chronisieren, und in dem irreversible Schädigungen des Gehirns als dem Organ des Selbstbewusstseins auftreten können. In den Arztpraxen stehen mittlerweile Patientenverfügungen zur Disposition, in denen jede einzelne Person, solange sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist, detailliert entscheiden kann, ob das medizinische Personal ggf. spezifische lebensverlängernde Maßnahmen zu unterlassen hat. Der Bundesgerichtshof hat hierzu 2003 ein wegweisendes Urteil gesprochen, in dem der XII. Zivilsenat aus dem obersten Gebot A

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Überlegungen zum »dünnen Ende« des Lebens

des Respekts vor der Menschenwürde ableitete, dass das »in einwilligungsfähigem Zustand ausgeübte Selbstbestimmungsrecht« des Patienten auch dann noch zu respektieren sei, »wenn er zu eigenverantwortlichem Entscheiden nicht mehr in der Lage ist«. 5 Dadurch wurde der Vorrang des individuellen Selbstbestimmungsrechts vor dem allgemeinen Streben nach Lebensverlängerung betont. Die Entscheidung für oder gegen eine medizinische Lebensverlängerung bewegt sich zwischen zwei nicht ohne weiteres zu vermittelnden Polen. Auf der einen Seite stehen Freiheitswerte wie das individuelle Selbstbestimmungsrecht, Autonomie und Handlungsfreiheit, zu der auch noch das freiwillige Ausscheiden aus dem Leben gerechnet werden kann. Auf der anderen Seite stehen Gemeinschaftswerte wie Solidarität, Fürsorge und Empathie, für die das Bewahren und Schützen des menschlichen Lebens ein unaufgebbares Gut ist. Je nach Tradition und Wertesystem – in den USA, in Australien, England und Holland herrschen eher die liberalen Prinzipien vor, in Kontinentaleuropa eher die Gemeinschaftswerte – werden auch individuelle Gewichtungen anders gesetzt. Daher kann von einer philosophischen Ethik zu Recht gefordert werden, sich der Frage nach einem selbstbestimmten Sterben als einer individuellen Güterabwägung anzunehmen 6 und dafür zu plädieren, dass beide Optionen offen gehalten werden. Die European Association for Palliative Care (EAPC) und die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) versuchen, durch Aufklärung über die Patientenverfügung als Garantie des Selbstbestimmungsrechts einerseits und durch die Forderung nach Bereitstellung einer effizienten Schmerzbekämpfung im Verbund mit psychologischer und ggf. auch seelsorgerischer Fürsorge andererseits, beiden Prinzipien gerecht zu werden, allerdings unter explizitem Ausschluss des assistierten Suizids, da er dem ärztlichen Berufsethos widerspreche und ein Einfallstor für fremdbestimmte Euthanasie öffne. Da es in einer hoch technologisierten Welt kaum mehr einen »natürlichen« Tod gibt, bieten sich laut der Ethics Task Force der EAPC folgende Maßnahmen zur Leidensvermeidung und -verkürzung an, die aufgrund des Primats der Erhaltung der Integrität der BGH-Urteil des XII. Zivilsenats vom 17. 3. 2003, Aktenzeichen XII ZB 2/03, vgl. auch Urteil vom 8. 6. 2005, ZR 177/03. 6 Vgl. D. Callahan, Why We Must Set Limits u. T. Wetle & W. Besdine, Letting Individuals Decide. 5

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Patienten nicht zur Euthanasie gerechnet werden: der bewusste Therapieverzicht bei aussichtsloser Prognose, der Abbruch einer erfolglosen Behandlung und schließlich die »terminale Sedierung«, um intolerables Leiden zu vermeiden. 7 Das oberste Prinzip der Leidensvermeidung, das in der Entscheidung über einen Therapieabbruch sowohl die Wünsche nach Autonomie respektiert als durch das Angebot umfassender Begleitung auch das der Solidarität, vermag beide Pole überzeugend zu vermitteln. Nur der Fall, dass die völlige Angewiesenheit auf fremde Hilfe oder das Erleben eines raschen, vielleicht entstellenden, unaufhaltsamen Verfalls des eigenen Körpers als solche – unabhängig von der Qualität der Versorgung – individuell als unerträglich empfunden werden, ist nicht einbezogen. Daher müssen Ärzte das Recht behalten, die Mitwirkung am assistierten Suizid abzulehnen, doch kann das nicht zu einer allgemein ethisch begründeten »dogmatischen moralischen Verurteilung« dieses Wunsches führen 8 . Eine solche ist immer dazu bereit, den Wert der paternalistischen Fürsorge über den der Freiheit zu stellen und, wie die Hospizstiftung, gegen die Vertreter der anderen Seite harte polemische Töne anzuschlagen. 9 Das zentrale Argument der Hospizstiftung, allen Wünschen nach Sterbehilfe ließe sich durch einfühlsame, die Bedürfnisse und die Würde der Patienten achtenden Pflege, ein angenehmes Ambiente und wirksame Schmerztherapie begegnen, weil sie hauptsächlich aus der Angst vor dem Verlassenwerden oder psychischer Erkrankung entsprängen, 10 entspricht einem realen und dringenden Bedürfnis, dem Sterben einen geschützten Raum zu verschaffen. Wer sich jedoch dem u. U. lang andauernden Erleben des eigenen Endes entziehen möchte, dürfte bei diesem Entschluss – unter der unabdingbaren Voraussetzung, dass er freiwillig gefasst wurde – ebenso wenig allein gelassen werden wie diejenigen, die bereit sind, sich der Fürsorge anderer anzuvertrauen. Das jüngste Beispiel für diese Entscheidung ist der gemeinsam gewählte Tod des französischen Phi-

L. J. Materstvedt u. a., Euthanasie und ärztlich unterstützter Suizid, S. 104. Vgl. Th. Rehbock, Personsein in Grenzsituationen, S. 272. 9 Vgl. Pressemitteilung vom 4. 6. 2004 »Demenz als Todesurteil auch in Deutschland?« u. »Assistierter Suizid als Einfallstor für Euthanasie« gegen die holländische Rechtsprechung, www.hospize.de/presse. 10 Vgl. Pressemitteilung vom 6. 2. 2004 »Sterbewunsch ist Folge von Depression und Fremdbestimmung«, www.hospize.de/presse. 7 8

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losophen André Gorz und seiner Frau im Herbst 2007, den er bereits in einem Buch angekündigt und begründet hatte 11 . Gadamer, der in hohem Alter an einem Kongress über Schmerzen teilnahm, sprach das Potential der Selbstgewinnung durch Selbstüberwindung an, das im Aushalten von Schmerzen liegen kann: Die eigentliche Dimension des Lebens wird im Schmerz erahnbar, wenn man sich nicht überwinden lässt. Hierin sehe ich auch die größte Gefahr des technologisierten Zeitalters, dass diese Kräfte unterschätzt werden und damit auch – verständlicherweise – unsere Fähigkeiten nicht mehr zur vollen Entwicklung gelangen. 12

Aber unmittelbar darauf spricht er von der »Freude des Gelingens« und des »sich wieder Gesundfühlens« 13 . Wo es keine Hoffnung auf eine solche Belohnung mehr gibt, müsste es dem Individuum überlassen bleiben, ob es für sie auch jenseits seiner irdischen Existenz einen Bezugspunkt findet oder vorzieht, sich einer als sinnlos betrachteten letzten Qual zu entziehen. In Bezug auf eine humanistische, das heißt ehrlich an der Frage nach der Vermeidung von Leid interessierten Sterbehilfe ist die entscheidende Frage, an der sich Befürworter und Gegner unterscheiden, die des Mensch- bzw. Personseins. Das Lager derjenigen, die jegliche Beendigung menschlichen Lebens von der befruchteten Eizelle bis zum unvermeidlichen Tod ablehnt, ist der Auffassung, die Potentialität des Menschseins, die schon im einzelligen Embryo enthalten ist, reiche aus, um einen moralischen Status zu etablieren, der eine Beendigung des Lebens kategorisch verbietet. Diese Überzeugung gründet – wenn sie nicht wie etwa im Jainaismus mit einem rigorosen Schutz allen Lebens einhergeht 14 – auf der theologisch begründeten Annahme eines besondern Status des nach einem göttlichen Ebenbild geschaffenen Menschen. Dem halten universalistische Analytiker entgegen, was den Menschen ausmache, sei das Selbstbewusstsein, und so lange dieses noch nicht oder nicht mehr vorhanden sei, könne nicht im strengen Sinn von Menschsein gesprochen werden. Dabei ergibt sich auch für den Anfang des Lebens, beim A. Gorz, Lettre à D. Histoire d’un amour. H.-G. Gadamer, Schmerz, S. 27 f. 13 Ebd., S. 28. 14 Das höchste Prinzip des indischen Jainaismus ist die Vermeidung der Verletzung (Ahimsa) jeglichen Lebens, auch des scheinbar unbedeutendsten. 11 12

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langsamen Herstellen eines Selbstbezugs in der frühen Kindheit, eine Erklärungslücke, die allerdings durch die begründete Erwartung auf den Entwicklungsschritt des »ich«-Sagens geschlossen werden kann. Am Ende des Lebens gibt es hingegen viele mögliche Stufen des Schwindens von Selbstbewusstsein, die nicht alle mit einem totalen Verlust kognitiver und emotionaler Reaktivität verbunden sind. Die dabei entstehenden Grauzonen sind kein Ort für das Austragen ideologischer Kämpfe um absolute Prinzipien, sondern gemahnen an die notwendige Achtung individueller Abwägungen. Am Fall der Wachkomapatientin Terri Schiavo, der zunächst das höchste Gericht und die Regierung Floridas beschäftigt hatte, und im März 2005 bis vor das amerikanische Verfassungsgericht (Supreme Court) gegangen ist, trat die Polarisierung der beiden Lager um den Preis einer Instrumentalisierung der Patientin deutlich zu Tage. Dabei zeigten sich, abgesehen vom ontologischen Fundamentalismus auf der Seite der Lebensschützer und dem rationalistischen Utilitarismus auf Seiten der Euthanasiebefürworter beispielhaft vier große ethische Probleme: 1) Ein individualistisches: Es lag keine schriftliche Willenserklärung vor. Daher blieb der mutmaßliche Wille, für dessen Klärung das maßgebliche Gericht in Florida jahrelange Recherchen unternahm, vielleicht nicht mehr eine Frage der Interpretation selbst, aber dennoch einer legitimen Stellvertretung. Einem Lebenspartner oder auch der Herkunftsfamilie die Entscheidung über den Tod eines Angehörigen anzuvertrauen, birgt immer das Risiko, dass sie nicht gänzlich frei von Eigeninteressen gefällt wird, gleich ob diese praktischer oder ideologischer Natur sind. Dass die Anderen im Sartreschen Sinn zu doppelten Wächtern über die Erinnerung an die Gestorbenen werden, ist eine unabänderliche Tatsache, die mit der Verdinglichung des Todes zusammenhängt. Solange eine Person in der Form des oben vorgeschlagenen weiteren Begriffs von Personsein jedoch noch lebt, kann allenfalls ihr eigener früher bewusst und schriftlich hinterlegter Wunsch maßgeblich sein. 2) Ein ideologisches: Die Patientin wurde als Präzendenzfall instrumentalisiert, an dem das liberale Lager zeigen wollte, dass die menschliche Würde und der rekonstruierte freie Wille mehr zählen als das nackte Leben als »vegetable«, wohingegen das Lager der konservativen Lebensschützer auf dem unveräußerlichen Wert des Lebens im Allgemeinen und einem individuellen Lebenssinn der Kranken im Besondern bestand. A

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3) Ein politisches: Präsident George W. Bush erließ eine Lex Schiavo, mit der Absicht, auf Bundesebene die liberale Entscheidung der Richter aus Florida annullieren zu lassen, was eine Verletzung der Autonomie der Einzelstaaten zugunsten eines individuellen Falles bedeutet. Der Supreme Court verwies dementsprechend zurück auf die Ebene des Staates Florida. 4) Ein gesellschaftliches: Einen physisch immerhin noch präsenten Menschen, der nicht von Intensivmedizin, sondern nur von künstlicher Ernährung abhängt, über zwei Wochen hin langsam verdursten und verhungern zu lassen, auch wenn er sich in unbewusstem, permanent vegetativen Zustand befindet, ist nicht dasselbe wie eine Herz-Lungenmaschine abzustellen, die die vegetativen Funktionen eines hirntoten Patienten aufrecht erhält. Vermittelt durch die Medien am Krankenbett beim legal abgesicherten Sterben zusehen zu können, brutalisiert eine Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen tatsächlicher und medialer Realität zunehmend unscharf geworden sind. Auch wenn es keinen Grund geben sollte, die medizinische Mehrheitsmeinung vom Ausschluss eines subjektiven Leidens der Patientin zu bezweifeln, ist doch schwer nachvollziehbar, die langsame Dehydrierung mit der damit verbundenen Vergiftung eines menschlichen Körpers als einen humanen Akt zu begreifen. Was an der spezifischen Öffentlichkeit dieses Todes neben dem Faktum des langsamen Verdurstens und Verhungerns besonders erschreckend ist, ist nicht nur das Öffentliche als solches, sondern gerade das Unbewusste, Unfreiwillige. Beinahe zeitgleich mit der Komapatientin starb am 2. April 2005 Papst Johannes Paul II., der die Medien freiwillig und aus der Überzeugung heraus, Leiden und Sterben müssten ihren Platz im öffentlichen Leben haben, an seinem Lebensende teilhaben ließ. Wenige Tage vor seinem Tod ließ er sich noch anlässlich der Ostermesse filmen. Wer will, kann an einem derart öffentlich zelebrierten Todeskult Anstoß nehmen, doch er wirft auf der Ebene der Autonomie kein ethisches Problem auf. Durch die Polarisierung der Lager im Falle Terri Schiavo gingen entscheidende Differenzen unter. Die Liberalen haben mit besten Absichten, einen Durchbruch in Bezug auf die Sterbehilfe als Mittel zur Verteidigung der menschlichen Würde zu erringen, einen Pyrrhussieg davongetragen, indem sie den letzten Zweifel an der Rechtmäßigkeit stellvertretender Entscheidung und die Inhumanität des langsamen öffentlichen Sterbens in Kauf genommen und allein das harte Gesicht des Utilitarismus gezeigt haben. Die Gegenseite mach228

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te sich in vielen Punkten unglaubwürdig – von der Doppelmoral vieler »Lebensschützer«, die – ganz abgesehen vom Umgang mit Tieren als Mitlebewesen – auch meist keine Probleme mit der Todesstrafe haben, bis zur obskuren Ignoranz, sich über alle medizinischen Erkenntnisse hinwegzusetzen und Wunder zu beschwören. Beide Seiten verhärteten in ihren absolut gesetzten Standpunkten. Auf der einen Seite stand die Negation der Menschenwürde bei Verlust des Bewusstseins mit allen damit verbundenen Gefahren, auf der anderen Seite die verzweifelte Hoffnung, dieser Zustand könne revidierbar sein. In diesem verbissenen, unversöhnlichen Frontenkrieg gab es zum Schluss keinen Platz mehr für leise Töne, die weder per se ausschließen, dass auch eine Weiterexistenz in unbewusstem Zustand noch eine würdige sein kann, noch davon ausgehen, dass die medizinische Diagnose eines permanent vegetativen Zustands bereits eine Art Beihilfe zum Mord darstelle. Der Fall Schiavo, der gar nichts mit Altern zu tun hat, sondern bei dem im Gegenteil das Altern eines Menschen, der nicht mehr als Person definiert wurde, beendet wurde, kann allerdings zu einem allgemeinen Überdenken des engen analytischen Begriffs vom Personsein führen. Die Seite der Euthanasie-Befürworter unterstellt, die attraktive und ihrer selbst bewusste Frau vor dem Herzschlag sei nicht mehr identisch mit dem Lebewesen, zu dem sie durch den Ausfall ihrer Großhirnrinde reduziert wurde. Sie sei vielmehr in ihrer eigentlichen, gesunden Identität vor der Kontaminierung mit diesem reduzierten Sein zu retten, um ihre wahre Integrität zu schützen. Dabei wird das Problem des Kontextes außer acht gelassen, dass derselbe phänomenologisch so zu bezeichnende Mensch zuvor hingebungsvoll gepflegt wurde. Das Leid, das bei der Frage der Sterbehilfe in umgekehrten Situationen erhaltener Luzidität bei raschem, mit großen Schmerzen verbundenem körperliche Verfall wie z. B. bei nicht (mehr) therapierbaren Krebserkrankungen außer Frage steht, wurde hypothetisch unterstellt bzw. abgeleitet. Zusätzlich zur früheren Perspektive der Patientin selber, die mutmaßlich dem Abbruch eines nur noch biologischen Kontinuums ihres Lebens zugestimmt hätte – geschah das wesentlich aus der Außenperspektive des früheren Partners, der das vegetative Leben seiner ehemaligen Frau erst nach sieben Jahren nicht mehr für lebenswert hielt. In der Abwägung der Werte Autonomie einerseits und Lebenserhaltung andererseits müsste jedoch die bewusst und individuell vertretene Autonomie als das seit Kant und der Aufklärung höchste Gut respektiert werden, A

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und zwar nur bezogen auf Situationen, in denen das bewusste Individuum dieses unzweifelhaft selber verfügt hat. Eine Existenz fremdbestimmt zu beenden, weil sie von einem bewussten zu einem wenig bewussten oder gänzlich unbewussten Zustand übergeht, wirft hingegen erhebliche ethische Probleme auf. Der gesamte Komplex der Demenzerkrankungen, die sich meist durch einen allmählichen Übergang von einem bewussten zu immer unbewussterem Existieren auszeichnen, entzieht sich dadurch, dass der objektive Befund schwindenden Bewusstseins unmittelbar mit der Veränderung des subjektiven Erlebens dieses Prozesses einhergeht, einer klaren Definition und damit auch einer eventuellen Legitimität von Sterbehilfe. Eine Patientenverfügung kann aufgrund dieser Unschärfe hier erst dann greifen, wenn invasive lebensverlängernde Maßnahmen wie eine Magensonde oder künstliche Beatmung nötig werden, um den Tod hinauszuschieben. Angesichts des bei Altersdemenz meist nicht abrupt, sondern kontinuierlich verlaufenden Bewusstseinsverlusts wird deutlich, dass nicht nur der Anfang des Lebens im vorbewussten Stadium Neugeborener, sondern oft auch das Lebensende eine Erweiterung des engen analytischen Begriffs von Personsein und einen uneingeschränkten Begriff der Menschenwürde erfordert. Im Fall Demenzkranker weiß man, dass das Selbstbewusstsein einmal vorhanden war, und je mehr man davon weiß und je unbezweifelbarer hinterlegt ist, welche lebenspraktische Interpretation das reflexionsfähige Individuum für einen späteren Zustand der Hilflosigkeit bevorzugte, desto sicherer kann garantiert werden, dass seine Würde in seinem eigenen Sinn geschützt wird. Dabei kann das Prinzip der Autonomie vorherrschen, für das der letzte Willensakt ein Verzicht auf Lebensverlängerung bedeuten kann, oder aber das der Geborgenheit, für das eine frei gewählte Abhängigkeit und Angewiesenheit auf andere womöglich ein letzter Liebesbeweis ist.

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8.2 Zur Kunst des Loslassens Wenn wir eine weise Geburtshelferin brauchen, um in die Welt einzutreten, dann einen noch weiseren Sterbehelfer, der uns wieder hinausbegleitet. M. de Montaigne 15

Dass Loslassen schwerer ist als festhalten, erfahren alle Menschen am Anfang ihrer motorischen Entwicklung: Einem halbjährigen Kind fällt es wesentlich leichter, einen Gegenstand sicher zu ergreifen als ihn gezielt, nicht spontan wieder loszulassen. Bei derselben medizinischen Diagnose einer tödlichen Erkrankung gibt es Patienten, die kurz nach dem Auftreten erster Symptome sterben, und andere, die noch lange überleben. Es gibt einen Überlebenswillen hinter dem Kampf mit einer schweren Krankheit, der aus der Todesnähe zurück ins Leben führt und ein Festhalten am Leben, das das Sterben verlängert. Ein solches willentliches Hinauszögern des Sterbens beschrieb Franz Werfel literarisch in der Erzählung Der Tod des Kleinbürgers (1927). Der frühpensionierte, verarmte Portier Karl Fiala regiert gegen alle medizinischen Prognosen und unter Aufbietung einer fast übermenschlichen Kraft seine Krankheit und sein Sterben bis zu dem Tag, an dem die Laufzeit für seine Lebensversicherung erfüllt ist. Er hält durch bis zu seinem 65. Geburtstag, an dem er seiner Witwe und seinem Sohn eine Auszahlung hinterlassen kann, die andernfalls verfallen wäre. Sobald diese Aufgabe erfüllt ist, kann und will er loslassen. Neben den im 5. Kapitel (5.1) erörterten allgemeinen Gründen für den Wunsch, nicht sterben zu wollen, liegt hier ein sehr konkretes, praktisches Anliegen vor, den Tod hinauszuzögern. In einem anderen, diesmal tatsächlichen, aber ebenfalls literarisch erzählten Fall, geht es um ein nicht bereutes, nicht anerkanntes, aber doch innerlich beunruhigendes moralisches Versagen. Helga Schneider erzählt in ihrem autobiographischen Roman über ihre Mutter, die sie, als sie vier Jahre alt war, zusammen mit ihrem einjährigen Bruder von einem Tag auf den anderen allein in der Berliner Wohnung zurückließ, um ihrer »Berufung« zu folgen und sich bei der SS als KZ-Aufseherin ausbilden zu lassen. 16 Der Kontakt zwischen Mutter und Tochter war danach über Jahrzehnte hin völlig abgebrochen, bis die 15 16

M. de Monaigne, Essais, 3.9 (Über die Eitelkeit), S. 491. H. Schneider, Lasciami andare, madre / Lass mich gehen. A

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Mutter ihn am Ende ihres Lebens derart nachhaltig suchte, dass die Tochter schließlich nachgab. Die fremde Person, die sie vorfand, war sentimental, wollte alte Gefühle wecken, beim Kosenamen genannt werden, ihrerseits nun bei der Tochter Geborgenheit suchen und um Verständnis für ihre Handlungen werben. Sie hielt am Leben und am Kind fest, weil sie uneinsichtig und ohne Reue nach Bestätigung ihrer Entscheidung bzw. nach der Tilgung von deren Konsequenzen suchte. Das Ergebnis konnte aufgrund des fehlenden Bedauerns keine Versöhnung sein, sondern nur der Wunsch, die Mutter möge endlich loslassen – von der Tochter und auch vom Leben. Abgesehen von derart dramatischen Fällen, wünschen sich die meisten Menschen einen möglichst schnellen Tod ohne quälende Phasen langen Sterbens – ein Wunsch, der in der erfolgreichen Filmkomödie Grumpy Old Men 17 leitmotivisch variiert wird –, aber die Realität ist oft so, dass man sich, tritt der Tod nach langem Siechtum ein, eher auf den Begriff der erlösenden Gnade besinnt. Montaigne war hinsichtlich der Möglichkeit, vorausplanend Einfluss auf das eigene Lebensende zu nehmen, skeptisch und meinte: Das Sterben freilich, das die größte Aufgabe ist, die wir zu bewältigen haben, vermag uns keine Einübung zu helfen. […] den Tod […] erfahren wir nur einmal, hier sind wir, wenn es soweit ist, Lehrlinge allesamt. 18

Wenngleich betont wurde, dass Altern nicht bedeutet, ständig den Tod im Auge zu haben, wenn man es aus Liebe zu sich, den Mitmenschen, dem Leben überhaupt ablehnt, das Alter als verschärfte Konfrontation mit dem Lebensende zu betrachten, ist doch nicht zu leugnen, dass für viele Hochbetagte eine Lebensphase kommt, in der das Leben oft recht langsam ins Sterben hinübergleitet. Diese Phase ist sensibel und es hat den Anschein, als ob sie sowohl durch die eigene psychologische Verfassung als auch durch das Verhalten der Angehörigen beeinflusst werden kann. Loslassen zu können ist nämlich nicht nur eine Fähigkeit des Individuums, sondern auch der menschlichen Umwelt, der behandelnden Ärzte und nicht zuletzt der Angehörigen, die z. B. Eltern oder Partner auf keinen Fall verlieren wollen. Für einen Arzt heißt es, sich von der Maxime der unbedingten Lebensverlängerung frei zu machen, 17 18

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USA 1993 mit Jack Lemmon und Walter Matthau M. de Montaigne, Essais, 2.6 (Über das Üben), S. 184)

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innerlich vom Heilungsanspruch und zu gegebener Zeit auch von einem bestimmten Patienten loszulassen, also auch einem Patienten zu helfen, von seinen bisherigen Ansprüchen an das Leben und letztendlich vom irdischen Leben überhaupt loszulassen. 19

Nicht umsonst fand man für den Schlaf die Metapher des kleinen Bruders des Todes. Angst vor der Bewusstlosigkeit, vor dem Selbstverlust kann ihn ebenso stören wie Unzufriedenheit mit sich selbst, Sorge um andere, das Gefühl, nicht alle anstehenden Aufgaben gelöst zu haben, einen Fehler begangen oder Anderen gegenüber versagt zu haben. Ferner ist man beim Einschlafen besonders empfindlich von den Gegebenheiten der Umwelt abhängig. Ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit ist förderlich, Unruhe, Kälte, grelles Licht und rücksichtsloses Einbrechen fremder Geräusche sowie indiskreter Blicke in die Privatsphäre sind hingegen störend. Ähnliches gilt, wie von der Hospizbewegung betont wird, vom Sterben, das eine äußerlich geschützte Sphäre, mitmenschliche Begleitung und Hilfe bei der Akzeptanz des Unvollkommenen braucht. In der »Stunde der Angst« (Küng) 20 bedarf es der Diskretion ohne Isolation und des die Intimsphäre achtenden Beistands. Dabei ist noch einmal festzuhalten, dass mittlerweile in den Staaten technologisch-wissenschaftlichen Fortschritts oft weder der Anfang des Lebens noch sein Ende mehr »natürlich« sind. Galt nur vor zwei Generationen noch die Geburt als der Beginn des Lebens und das Neugeborene als eine Art extraterrestrisches Wesen, das plötzlich auf der Erde ankommt, sind heute nicht nur die Überlebenschancen immer jüngerer Föten außerhalb des Uterus enorm gestiegen, 21 sondern es werden ihnen bereits lange vor der Geburt kognitive wie psychologische Fähigkeiten zugesprochen. Und genau so, wie der Anfang des individuellen Lebens seinen selbstverständlichen Fixpunkt verloren hat, ist auch sein Ausklang unscharf geworden. In A. Kruse, Selbstverantwortung im Prozess des Sterbens, S. 339. Zum Problem des Wandels des ärztlichen Berufethos’ von der technischen Machbarkeit der Lebensverlängerung zu einer Wahrnehmung der Wünsche des Patienten vgl. auch H. Schipperges, Alter als Provokation – das befristete Leben als Problem. 20 H. Küng, Ewiges Leben?, S. 217. Der Theologe bezieht sich durchweg auf den christlichen Gottessohn, der durch seinen eigenen Tod, das eigene Durchleben der Angst vor dem Tod das Vorbild für ein Sterben gibt, ohne das Leiden zu verleugnen, dennoch einen Horizont jenseits des Todes eröffnet. 21 Mittlerweile ist es möglich, dass etwa die Hälfte der nötigen Gestationszeit außerhalb des Uterus geschieht. 19

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vielen Fällen der medikamentös und technisch unterstützten Pflege ist kaum noch deutlich, wann der Lebens- in den Sterbeprozess übergeht. Einfache Lösungen für Grenzfragen zwischen Leben und Tod, Erwerb oder Verlust des Titels »Person« gibt es nicht. Auch der Begriff der Würde selbst eignet sich aufgrund der sehr unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten nicht allein zur Begründung allgemeinverbindlicher, normativ strenger ethischer Entscheidungen. In einer höchst differenzierten Welt, in der jede(r) Einzelne in ganz unterschiedliche Koordinatensysteme von Werten und Bezügen eingebunden ist, treten der rechtliche gesicherte Schutz des Lebens und die freie Entscheidung von Personen hinsichtlich ihres Willens, bestimmte Formen einer spezifischen Existenz aushalten zu wollen, notwendigerweise in einen kaum definitiv abzuschließenden Klärungs- und Verhandlungsprozess. Je schwieriger die ethische und rechtliche Lage ist, desto entscheidender ist die aus der jeweiligen inneren Überzeugung folgende, freie Willensverfügung, sofern sie nicht mit allgemeinen humanen Prinzipien kollidiert. Wo sie nicht getroffen wurde, steht vor allem der universal teilbare und rechtlich zu schützende Wert fest, dass Leid und Schmerzen zu vermeiden seien. Für den englischen Moralphilosophen und humanistischen Utilitaristen Jeremy Bentham war das Leiden die Eigenschaft, die inklusiv alle empfindsamen Lebewesen auszeichnet, nicht das (Selbst)bewusstsein, das eine exklusive Trennungslinie zwischen Personen und Vegetierenden errichtet: »What else is it that should trace the insuperable line? Is it the faculty of reason, or, perhaps, the faculty of discourse? […] The question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer?« 22 In der Bejahung dieser einen Frage finden sich Gesunde und Kranke, Junge und Alte, Lebewesen mit und ohne Selbstbewusstsein, ungeachtet ihrer Stellung in den gewohnten Hierarchien mehr oder weniger privilegierter Existenzen zusammen. Der Talmud berichtet, dass sich die Gerechten, deretwegen die Welt gerettet wird, auch dadurch auszeichnen, dass sie wissen, wenn sie bald sterben müssen, damit ihnen Zeit bleibt, ihre Angelegenheiten zu ordnen. Niemand kann sich anmaßen, zu unterstellen, derart auserwählt zu sein. Doch der tiefe Sinn dieser Überlieferung ist womög22 J. Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789), 17. Kap., § 1, Abs. 4, Fn.

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lich nicht die Sortierung und Hierarchisierung von Personen, sondern die Aufforderung zu tätiger Mühe. Eine Person, für die ihre eigene Endlichkeit keine unerträgliche Zumutung, keine Beleidigung ihrer Einzigartigkeit und kein Anlass zur Missgunst gegenüber den Weiterlebenden ist, kann möglicherweise am ehesten, das Leben im Blick, auf den Tod zugehen und Abschied nehmen, um einem »Freundeskreis der Toten« (Max Frisch) 23 anzugehören, an die man Grund hat, gerne zu denken und sie durch Vermittlung am Leben zu erhalten.

M. Frisch, sagte in seiner Rede zum Tod von Peter Noll, S. 144: »Unser Freundeskreis unter den Toten wird größer«.

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Altern als mehrdimensionaler Prozess, in: L. Späth & U. Lehr (Hrsg.), Altern als Chance und Herausforderung, Aktives Altern, Stuttgart, München, Landsberg: Bonn Aktuell 1990, Bd. 1, S. 9–47. Lebenszufriedenheit im Alter, Geschichte und Gegenwart eines gerontologischen Grundbegriffes, in: A. Kruse (Hrsg.), Gerontologie – Wissenschaftliche Erkenntnisse und Folgerungen für die Praxis, München: Bayerischer Monatsspiegel 1988, S. 210–223. Das Euthanasieproblem in philosophischer Hinsicht (1993), in: ders., Aufsätze 1992–2000, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 40–56. Der aufgescheuchte Normativist, in: E. Angehrn, H. FinkEitel, Ch. Iber & G. Lohmann (Hrsg.), Dialektischer Negativismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 368–371. Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. Über den Tod (1996), in: ders., Aufsätze 1992–2000. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 67–90. Egozentriztät und Mystik, Eine anthropologische Studie, München: Beck 2003. Kai nyn. Solons Gedicht an Mimnermos im Lichte der Tradition, Turku (Diss.) 1986. Sinnfindung im Alter, Beiträge aus der Psychologie V. E. Frankls, in: A. Niederfranke, U. Lehr, F. Osawald & G. Maier (Hrsg.), Altern in unserer Zeit, Wiesbaden: Quelle & Meyer 1992, S. 69–80. Das Altern lernen, Hannover u. a.: Schroedel 1973. Le malheur de la conscience dans la philosophie de Hegel, Paris 1930. Agequake, London, 1999; dt.: Altersbeben, Wie wir die demographische Erschütterung in Wirtschaft und Gesellschaft meistern werden, Frankfurt/New York: Campus 1999. Über die philosophische Bedeutung der christlichen Lehre von den letzten Dingen, in: ders., Über den gegenwärtigen Standpunkt der philosophischen Wissenschaft in besonderer Beziehung auf das System Hegels. Leipzig: Barth 1829, S. 87–72. Letting Individuals Decide, in: H. R. Moody (Hrsg.), Aging, Concepts and Controversies, Thousand Oaks, California, London, New Delhi: Pine Forge Press 2 1998, S. 117–118. Schellings Lehre von der Zeit, Grundlagen und Voraussetzungen der Weltalterphilosophie, Heidelberg: Winter 1956. Tous le fleuves vont à la mer (1994); dt.: Alle Flüsse fließen ins Meer, Autobiographie, Berlin: btb 1997.

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Eva Birkenstock https://doi.org/10.5771/9783495997253 .

Bibliographie Zimmermann, R. Zwilling, R.

Die Überlistung des Todes, Wozu der Mensch die Kunst erfand, München & Berlin: Deutscher Kunstverlag 1998. Aging – Still a Mystery, in: R. Zwilling & C. Balduini (Hrsg.), Biology of Aging. Berlin, Heidelberg, New York u. a.: Springer 1992, S. 1–7.

A

Angst vor dem Altern? https://doi.org/10.5771/9783495997253 .

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Personenregister

Adams, D. L. 198 (Fn.) Adorno, T. W. 65 f., 69 f., 87 (Fn.), 103 (Fn.), 174 Allport, G. W. 35, 166 Améry, J. 33, 114 ff., 209 Apel, K.–O. 174 f., 190 Arendt, H. 53 (Fn.), 183, 192 f. Atchley, P. C. 212 (Fn.) Auer, A. 216 Baltes, P. B. 198 (Fn.), 205 (Fn.), 211 f. (Fn.), 214 Bartling, H.-M. 32 (Fn.) Bataille, G. 182 Beauvoir, S. de 114, 121 ff., 189 (Fn.), 193, 206, 209 Bechtler, H. 36 Benjamin, W. 33 (Fn.), 37, 69 Benn, G. 192 (Fn.) Bentham, J. 234 Blume, O. 36 (Fn.) Bobbio, N. 13, 19, 25 (Fn.), 26, 38, 63, 114 f., 125, 129 ff., 136, 168, 186, 212 Bollnow, O. F. 29 (Fn.) Bourgeois, B. 72 (Fn.) Brandt, H. 19 (Fn.) Brandt, U. 212 (Fn.) Brecht, B. 182, 197 Bringéus, N.-A. 213, (Fn.) Browne, C. V. 23 (Fn.) Callahan, D. 224 (Fn.) Camus, A. 49 (Fn.) Cicero 26, 28, 37 ff., 80, 129, 132, 162 f., 218 Dandekar, Th. 148 (Fn.) Debray, Régis 131 Dellavalle, S. 67 (Fn.) Derrida, J. 70, 190, 202

250

Dittmann-Kohli, F. 175 (Fn.) Dönni, G. 39 (Fn.) Dornberg, M. 116 (Fn.) Driscoll M. 153 (Fn.) Dworkin, R. 102, 107 Elder, G. H. 212 (Fn.) Elias, N. 207 Epikur 13, 31 ff. 37, 41 ff., 45, 49, 51, 69, 96, Erikson, E. H. 214 Evans, L. 222 (Fn.) Fachinger, B. 194 (Fn.) Foucault, M. 171, 200 f. Frankl, V. E. 175 ff., 217 Freud, S. 35, 40, 153, 156, 162, 164 ff., 191 Freund, A. M. 214 (Fn.) Frisch, M. 235 Fuhrmans, H. 73 f. Gadamer, H.-G. 118, 226 Gannon, L. R. 23 (Fn.) Gérard, J.-L. 201 (Fn.) Goethe, J. W. v. 146, 148 (Fn.), 218 Gorz, André 226 Gronemeyer, M. 35 (Fn.) Guardini, R. 122 (Fn.), 128 Häberle, P. 198 (Fn.) Habermas, J. 72 Hanawalt, P. C. 150 Havinghurst, R. J. 214 Hegel, G. F. W. 13, 55 ff., 86, 93, 99, 103 (Fn.), 109, 115, 141 (Fn.), 154, 160 ff., 218 Heidegger, M. 13, 71, 73, 81, 89, 98, 101 f., 104, 108 ff., 117, 135, 139, 144, 153, 161, 170 ff., 200 ff.,

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Eva Birkenstock https://doi.org/10.5771/9783495997253 .

Personenregister Hilsenrath, E. 140 (Fn.) Hölderlin, J. Ch. F. 13, 62, 81 ff., 113 Hondrich, K. O. 20, 186 Hunyadi, M. 118 (Fn.) Hüther, G. 210 (Fn.) Imhof, A. E. 20, 24 (Fn.), 139 (Fn.), 143, 196, 208 Isler, A. 211 Jacobs, W. G. 76 (Fn.) Jähnig, D. 71 (Fn.) Janke, W. 53 (Fn.) Jaspers, K. 130, 166 (Fn.) Jonas, H. 149 (Fn.), 150, 187, 190 Kalbermatten, U. 210 (Fn.) Kaminsky, M. 23 (Fn.) Kästner, E. 164, 187 Kierkegaard, S. 13, 41, 53, 56, 75, 83, 84 ff., 114, 118 ff., 122 f., 128, 139 ff., 144 f., 154, 161 ff., 172, 202, 216 f., 220 Klentze, M. 141 (Fn.) Kliegl, R. 210 (Fn.) Knopf, M. 101 (Fn.) Kruse, A. 49 (Fn.), 132 (Fn.), 153 (Fn.), 191 (Fn.), 209 (Fn.), 211, 214 f., 233 (Fn.), Küng, H. 233 Lehr, U. 46 (Fn.), 206 (Fn.), 214 Leopardi, G. 147, 163 Levi, P. 134 Lévinas, E. 101 (Fn.), 139 (Fn.) Macleod, I. 193 Mainzer, K. 170 (Fn.) Mann, Th. 157 ff., 163, 181 Marquard, O. 156, 160 Mittelstraß, J. 205 (Fn.), 215 f. Mitterand, F. 43 Mohr, H. 147 (Fn.) Montaigne, M. de 42, 47 f., 53, 86 ff., 124, 163, 216, 231 f. Moser, P. 204 (Fn.) Naess, A. 191 (Fn.)

Nagl, W. 152 (Fn.) Niederfranke, A. 23 (Fn.) Nietzsche, F. 144, 172, 203 Nühlen-Graab, M. 139 (Fn.) Oehme, C. 151 (Fn.) Oesterreich, P. L. 74 (Fn.) Olbrich, E. 179, 191, 214 Pattison, G. 84 (Fn.) Pessoa, F. 154 Petrignani, S. 133, 212 Pico della Mirandola 155 f. Pieper, A. 84 (Fn.) Platt, D. 148 (Fn.) Plessner, H. 156 f. Pocai, R. 90 (Fn.) Pohlmann, St. 205 (Fn.) Portmann, A. 149, 208 Proust, M. 126, 189 Rehbock, Th. 225 (Fn.) Rentsch, Th. 155 (Fn.), 215 ff. Rieser, S. 198 (Fn.) Ring, A. 204 (Fn.) Rodari, G. 187 Rosenmayr, L. 215 (Fn.), 217 Rosenzweig, F. 139, 142 Rott, Ch. 194 Sartre, J.-P. 75 f., 85, 114 ff., 134, 142, 227 Schachtschabel, D. O. 152 f. Schelling, F. W. J. 13, 55 ff., 71 ff., 87 f., 93, 162, 173, Schipperges, H. 233 (Fn.) Schirrmacher, F. 194 f. Schneider, H. 145 (Fn.) Schroots, J. J. F. 107 (Fn.) Schulz, W. 100 (Fn.) Seneca 13, 35, 49 ff. 68 f., 80, 119, 139, 161 f., 173, 218 Sternberger, D. 154 Streeck, Wolfgang 208 Theunissen, M. 34, 42 (Fn.), 49 (Fn.), 50, 71 (Fn.), 76 (Fn.), 91 f. 100 (Fn.), 101 (Fn.), 106 (Fn.), 170 ff., 217

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Personenregister Thomae, H. 34 (Fn.), 209 ff. (Fn.), 215 Tugendhat, E. 31, 111, 157 (Fn.), 166 ff., 172 (Fn.) Tuomi, R. 26 (Fn.)

Wahl, J. 115 (Fn.) Wallace, P. 23 (Fn.) Weiße, Ch. H. 40, 147 Wiesel, E. 134, 140 (Fn.)

Utsch, M. 175 (Fn.)

Zimmermann, R. 193 Zwilling, R. 147 (Fn.)

Vath, R. 36 (Fn.)

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Eva Birkenstock https://doi.org/10.5771/9783495997253 .

Sachregister

Alter als Vorstufe zum Tod 40, 42 ff. Abschiedlichkeit 173 Absurdität 117 Achtung 45, 205 Alzheimer-Syndrom 24, 221 Andere(r) 31, 106, 111, 115, 125, 151, 184, 233 Andersheit 150 Anerkennung 28, 48, 184 Angst 33, 83, 89, 108, 116, 120, 142, 167, 220, 233 Ansehen 168 Antizipation des Todes 108 Autonomie 13 ff., 103, 122, 220 ff., 229 f.

Entfremdung 126 Entscheidung, Wahl (verantwortliche) 97 ff. Entwicklung, lebenslange 215 Erfahrung(en) 33, 131 Erinnerung 25, 119, 125, 133 ff. Evolution 147 Ewigkeit 79, 173

Bescheidenheit 130 Besitz 168, 207 Bevölkerungsstatistik 195

Ganzes, Ganzheit 29, 63, 69, 73, 81, 84, 87, 106 ff., 123 f., 167 Geborgenheit 113 f., 230, 232 Gedächtnis 46 Gelassenheit 31 f., 35 ff., 45, 49, 164, 215 Geltung 45 Generationenkonflikt 130 Gerechtigkeit 15, 207 Geschichtlichkeit 112 Gesundheit 22 Gewissen 134, 181 Geworfenheit 108 Gier 45 Glück 13 f., 21, 31 f., 34 f., 50 ff., 96, 119, 180, 213 Grenze(n) 215, 217 Großmut, Großzügigkeit 163, 183 ff.

Defizienzmodell 208 Defizite, Defizienzerscheinungen 121 Demenz 216, 220, 230 Depression 21, 39, 106, 121, 166 Dialog, Kommunikation 48, 133, 202 Distanzierung, Abstand nehmen 165, 196, 211 Egozentrik, egonzentrisch, Egozentrismus 70, 94, 117, 147, 169, 172, 181, 189 f., 203 Eifersucht 121 Eingebundenheit (soziale) 27, 47 ff., 68, 81, 123 f., 190 Einsamkeit (existentielle) 13, 48, 108 Emanzipation 109 f., 215 Empathie 221, 224 Endlichkeit 12, 81, 96 ff., 104, 111, 113, 120, 148, 135 Engagement 13, 70, 114, 154, 201, 208

Flexibilität 121, 129 Fortpflanzung 147 ff. Freiheit 34, 105, 111, 117, 129, 162, 216 Freiheit von der Zeit 80 Freundschaft 31, 182

Hoffnung 174 Humor 35, 53, 164 ff. Identität 122 Instrumentalisierung 140 A

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Sachregister Intelligenz, fluide/kristalline 209 Ironie 114 Jugend 20, 45 ff., 63, 67, 93, 122 f., 149 (Fn.), 157 Jugendwahn, Jugendkult 194, 158, 162, 186 f., 194 Kapital 208 Körperlichkeit, Leiblichkeit 116, 121, 145 Krankheit 121, 151 ff., 172 Langeweile 89 Lebens- bzw. Altersphasen 23 f., 28 ff. Lebenserhaltung 229 Lebensfreude 22 Lebensgestaltung (verantwortliche) 48 Lebensüberdruss 94, 118, 120 Lebensverlängerung 224 Lebenszufriedenheit 33, 215 Leiden am Negativen (Einbußen, Schmerzen) 73, 81, 175, 215 f., 223, 234 Leiden an der Endlichkeit 36, 39, 55, 64, 84, 93, 217 Lernen (lebenslanges) 28, 44, 46 f., 53, 130, 210 f. Liebe 96, 98 Loslassen 109, 162, 220, 231 ff. Macht 123, 168, 193, 208 Melancholie 89, 93 Natur 146 Neid 177 Nichts 108, 142 Ordnung, ordnen 29 f., 68, 102, 119, 160, 234 Parkinson-Syndrom 24, 212 f. Person 221, 234 Pflicht(en) 15, 105, 180 Plastizität 211 ff. Reife(n) 20 f., 41, 211 Resignation 34, 166

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Ressourcen 123, 193 f. Reue 104, 135, 203, 232 Rückschau 88, 109, 133 Scheitern 130 Schicksal 23 Schmerzen 226, 234 Selbstbestimmung 50, 224 Selbstbewusstsein 115, 217, 223, 234 Selbstdisziplin, Selbsterziehung 31, 35, 39, 44 Selbstentäußerung 182 Selbsterhaltung 142, 147, 182 Selbsterkenntnis 105 Selbstkritik 77, 132, 158 Selbstrelativierung 167 f. Selbstsorge 13, 200, 216 Selbstverlust 233 Selbstverwirklichung, Selbstentwurf 15, 104, 110 f., 129, 167, 190, 216 Selbstwahl 98 ff., 112 Selbstwerdung 100, 216 Sinn 175 ff. Sinnlosigkeit 93 Solidarität 189, 221, 224 f. Solipsismus 125 Sorge 23, 34 Souveränität 34 Staunen 169 Sterbehilfe 225 Sterben 42, 111, 109, 139, 169, 220, 232 Sterblichkeit 96, 196 Suizid, Selbstmord 85, 94, 225 Tod 12,15, 29, 32, 73, 79, 105, 119, 128, 139, 179, 220, 232 Todeskult 228 Todestrieb 191 Tugenden (des Alters) 35 Überwindung des Todes 173 Unendlichkeit 82, 155 Unendlichkeit (schlechte) 24, 96, 151 Unsterblichkeit 36, 104 Utopie 172, 182

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Sachregister Variabilität 214 Verantwortung 13 f., 47, 70, 103, 106 f., 110, 117, 135, 168, 180 f., 192 ff. Verdrängung 31, 36, 128, 142, 165 Verfall 121, 148 Verletzlichkeit, Vulnerabilität, Fragilität 13, 22, 124, 152 f., 159 f., 189 Verweilen 172 Verzweiflung 83, 108, 120, 136 Vitalität 38, 148, 159

Weisheit 20, 45, 53 f., 63, 67, 129 f., 132 f., 146, 215 Weiterleben 25 Werte 47, 185, 211, 234 Würde, Menschenwürde 14, 102 ff., 128 ff., 155, 176, 224 ff., 234 Zeit 75 ff., 90 Zeit, Herrschaft der Zeit 34, 171 ff. Zeitautonomie, Zeitsouveränität 50 ff. Zeitlichkeit 90, 110

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