Aufklärung, Band 28: Aufsatzpraktiken im 18. Jahrhundert 9783787330997, 9783787331642

Kaum ein Wort macht im 18. Jahrhundert im Deutschen eine so eigenartige Karriere wie das Wort „Aufsatz“. Zu Beginn des J

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Aufklärung, Band 28: Aufsatzpraktiken im 18. Jahrhundert
 9783787330997, 9783787331642

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AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

Herausgegeben von Lothar Kreimendahl, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt Redaktion: Marianne Willems

Band 28 · Jg. 2016

Thema: aufsatzpraktiken im 1 8 . Jahrhundert Herausgegeben von Markus Meumann und Olaf Simons

F ELI X M EI N E R V E R L AG H A M BU RG

ISBN 978-3-7873-3099-7  ·  ISSN 0178-7128 Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und sei­ ner Wirkungsgeschichte. – Herausgegeben von Lothar Kreimendahl, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt. – Redaktion: Dr. Marianne Willems, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für deutsche Philologie, Schellingstraße 3, 80799 München, E-Mail: [email protected] © Felix Meiner Verlag 2017. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber­ rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Bad Langen­salza. Printed in Germany www.meiner.de/aufklaerung

I N H A LT

Einleitung. Aufsatzpraktiken (nicht nur) im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . 5 A BH A N DLU NGEN Jens Nagel: Schulrhetorik an Gymnasien um 1700. Die öffentlichen Redeakte zwischen Meritokratie und Repräsentation . . 29 Michael Rocher: „Fleiß ist die halbe Tugend schon – Liebet ihn: herzlich ist sein Lohn“. Schülerarbeiten und Aufsätze des späten 18. Jahrhunderts als ‚neues‘ moralisches Erziehungsinstrument? . . . . . . . 61 Sebastian Kühn: Feder-Mund-Auge-Ohr. Soziale und epistemische Logiken von Aufsätzen in den naturforschenden Akademien um 1700 . . 81 Martin Urmann: Zwischen „prix de dévotion“, Wissensreflexion und ­Reformdiskurs. Die Preisfragen der französischen Akademien als literarische und epistemische Gattung und die Frage nach dem „Jugement du Public“ an der Akademie von Besançon aus dem Jahr 1756 . 105 Lucinda Martin: Noch eine „res publica literaria“? Die Briefe der Unsichtbaren Kirche als diskursiver Raum . . . . . . . . . . . . 135 Barbara Becker-Cantarino: Rechenschaft und Kontrolle. Herrnhuter Lebensläufe aus der ,Indianermission‘ in Nordamerika ca. 1760–1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Nina Hahne: Der Rede-Essay als Selbsttechnik in Deutschen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Andreas Golob: „Schiken Sie mir zuweilen auch was Interessantes zum A ­ nhang“. Para- und metatextuelle Einblicke in Entstehung, Distribution und Wirkung der polyhistorischen Aufsätze im Anhang der Grazer Bauernzeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Markus Meumann: Logenreden und Übungslogen. Zur Praxis des Sprechens und Schreibens über vorgegebene Themen in der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

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4 Inhalt

Peggy Pawlowski: Arkane Belehrung und Menschenführung. Zu Stellung und Verwendung essayistischer Formen im Illuminatenorden 275 John A. McCarthy: Denken, schreiben, lesen, ethisch handeln. Quellen und Kontext des Aufsatzschreibens der Illuminaten am Beispiel von Schack Hermann Ewald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Martin Mulsow: Die Gothaer Illuminaten als fortgeführte „gemeinnützige Privatgesellschaft“? Die Aufsatzpraxis der Gothaer Sozietät von 1778 und die Minervalkirche von 1783–1787 . . . . . 343 Reinhard Markner: Zwischengrade und Probeaufsätze: Unbekannte Lehrschriften der Illuminaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Olaf Simons: Der Illuminatenorden als Volksaufklärer? Rudolph Zacharias Becker und das scheiternde Projekt des Ordens als Preisausrichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 k u r zbiogr a ph i e Olaf Simons: Christian Gottfried Hoffmann (1692–1735) . . . . . . . . . . . . . 411 disk ussion Kęstutis Daugirdas: Sascha Salatowskys Studie Die Philosophie der Sozinianer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

EI N LEIT U NG Aufsatzpraktiken (nicht nur) im 18. Jahrhundert

I. Vom Kopfputz zur Textsorte Kaum ein Wort macht im 18. Jahrhundert im Deutschen eine so eigenartige Karriere wie das Wort „Aufsatz“. Zu Beginn des Jahrhunderts noch die Bezeichnung für Düsenaufsätze, die aus Wasserrohren Fontänen holen, für die „Fontangen“, sprich: die auf Drahtgestelle gezogenen Hauben, die Frauen auf ihre Frisuren aufsetzen, sowie für Kommoden- und Schrankaufsätze,1 wird es in der zweiten Jahrhunderthälfte zum ubiquitären Begriff für eine Textsorte, von der nicht recht klar wird, ob sie nun ihrerseits eigentlich neuartig ist oder nicht. Die Wörterbücher und Lexika der Zeit erlauben zwischen dem knappen Eintrag in Johann Theodor Jablonskis Allgemeinem Lexicon der Künste und Wissenschaften von 17212 und dem ausführlichen Artikel, den ein Jahrhundert später Erschs und Grubers Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste zum Lemma „Aufsatz“ bietet, den Umbruchpunkt halben Weges auszumachen.3 1 Siehe

Amaranthes [d.i. Gottlieb Siegmund Corvinus], Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon, Leipzig 1715, 117; Johann Theodor Jablonski, Allgemeines Lexicon der Künste und Wissenschaften, Leipzig 1721, 88. 2 „Aufsatz, Ajoutage. Bey wasser-künsten, gewisse stücke so auf die rohren der spring-brunnen gesetzet werden. Dem springenden Wasser allerhand figuren zu geben. Böckler in seiner Architect. Curiosa hat allerhand dergleichen aufsätze angegeben“ (ebd.). 3 Eine exakte zeitliche Bestimmung dieses Bedeutungswandels anhand der Lexika fällt allerdings schwer. Während das Lemma „Aufsatz“ in Krünitz‘ Oeconomischer Enzyklopädie 1773 noch ganz von den eingangs zitierten Bedeutungen dominiert ist (Johann Georg Krünitz, Oeconomische Encyclopaedie oder Allgemeines System der Land-, Haus- und Staats-Wirthschaft, Teil 2, Berlin 1773, 760–762), was dem thematischen Schwerpunkt des Werkes geschuldet sein mag, kennt der Zedler 1733 bereits ansatzweise die neue Bedeutung, bezeichnenderweise aber noch nicht unter dem Lemma „Aufsatz“ (dort dominieren mit dem „Aufsatz auf den Mörser“ und dem „Aufsatz auf die Stein-Carthaune“ militärische Verwendungen), sondern im Eintrag „Concept“, der ein solches als „den ersten Aufsatz eines Schreibens, oder Predigt“ bezeichnet (Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 6, Halle, Leipzig 1733, 887). Die Deutsche Encyclopädie (wie Anm. 6) eröffnet dann 1779 das Lemma ganz selbstverständlich mit der neuen Bedeutung. Eine Volltextsuche nach dem Wort „Aufsatz“ bzw. „Aufsätze“ in online verfügbaren Werken aus dem 18. Jahrhundert bei Google Books deutet allerdings darauf hin, dass die neue Bedeutung auch schon in der ersten

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6 Einleitung

Die alte Breite der Wortbedeutung lebt dabei fort, während der Begriff ein neues Zentrum gewinnt: Im weitesten Sinne ist ein Aufsatz alles das, was auf etwas anderes gesetzt ist; wie z. B. ein gewisser Kopfputz der Frauen, weil er auf den Kopf, und ein gewisses Tischgeräth, weil es auf den Tisch gesetzt wird. Im engeren Sinn aber ist ein Aufsatz ein Inbegriff geschriebener oder gedruckter auf das Papier etc. gesetzter Worte, welche einen zusammenhangenden Sinn haben.4

Die unterschiedlichen Definitionsversuche weisen vor allem darauf hin, dass sich der Begriff letztlich der Definition entzieht. Für die Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften ist 1779 zwar klar, dass es hier um eine Textgattung geht, um eine Praxis, Gedanken zu ordnen. Der Artikel verliert sich dabei jedoch rasch in Erwägungen darüber, wie mit der vermeintlichen Unmöglichkeit, seine Gedanken in einen Aufsatz zu bringen, umzugehen sei: Gerade hier helfe es, die eigenen Gedanken in einer Art laut werdendem „Selbstgespräch“ auf Papier zu setzen: Ein Aufsatz ist ein schriftlicher Vortrag zusammenhängender Sätze, welche die Vorstellung einiger Wahrheiten in sich halten. Die Bedeutung dieses Worts ist sehr allgemein. Oft versteht man auch den ersten Entwurf einer Sache darunter.5 Wer eine Sache wohl durchdacht hat, dem wird es nicht schwer werden, solche auch schriftlich vorzutragen. Man sagt von gewissen Personen, daß sie ihre Gedanken nicht von sich geben können. Es ist möglich, dass sich dieses bey einem Mann ereignen kann, der im übrigen einen tiefdenkenden Verstand hat. Er kann in seinen Meditationen auf solche Ideen kommen, die er nicht so bestimmt, als er sie im Kopf hat, ausdrücken kann. Es fehlen ihm in dem gegenwärtigen Vorrath seiner Sprache die Worte, wodurch er seinen Gedanken ausdrücken kann. Es bleibt ihm nichts übrig, als neue Zeichen, womit er denselben andeuten kann, zu erfinden. Und wir finden auch dieses in den Werken der größten Geister, daß sie Worte erfunden, wodurch sie ihre erfundene Begriffe angezeigt haben. Außer diesem besondern Fall aber ist es meistentheils entweder Unwissenheit oder Windbeuteley, wenn jemand sagt, daß er seine Gedanken nicht in einen Aufsatz bringen könnte. Der Horazianische Ausdruck: cui lecta potenter erit res hec secundia deferet hunc, nec lucidus ordo, hat noch immer seine Richtigkeit. Denn, wenn wir auf uns Achtung geben wollen, was sind unsere Gedanken, unsere Ueberlegungen anders, als ein stilles Selbstgespräch. Gewöhnen wir uns nun, unsere Jahrhunderthälfte gelegentlich verwendet wurde und die Wörterbücher und Enzyklopädien insoweit erst mit einem gewissen Verzug einen sich eher schleichend vollziehenden und über einen längeren Zeitraum erstreckenden Bedeutungswandel nachvollziehen. Während „Aufsatz“ in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts noch vorwiegend im Sinne eines „ersten Aufsatzes“, also eines Entwurfs oder Konzepts, verwendet wird, wie es auch der Zedler 1733 definiert, setzt sich seit den 1730er und 1740er Jahren mehr und mehr die Bedeutung von „Aufsatz“ als einer schriftlichen Ausarbeitung durch. Seit den 1760er und mehr noch den 1770er Jahren findet der Ausdruck „Aufsatz“ bzw. „Aufsätze“ schließlich immer häufiger auch Eingang in die Titel von entsprechenden Textsammlungen. 4 Johann Samuel Ersch, Johann Gottfried Gruber, Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, Bd. 5, Leipzig 1820, 320 f. 5 Hier klingt der Eintrag „Concept“ aus dem Zedler an (wie Anm. 3).



Aufsatzpraktiken (nicht nur) im 18. Jahrhundert 7

Gedanken zu Papier zu bringen, so denken wir laut, und der Aufsatz ist fertig. Alle Arten der Producte des Geistes gehören unter diesen allgemeinen Begriff. Es giebt rednerische, poetische, theologische, politische &c. Aufsätze. Die Hauptregeln derselben sind diese: bezeichne deine Gedanken so, daß der andere aus Deinen Worten deutlich erkennen kann, was du gedacht hast; verfertige den Aufsatz so, daß daraus der ganze Gedanke in seiner Stärke, Schönheit und Ausdehnung erkannt werde. In der Erziehung der Jugend ist es ein wichtiges Stück, solche anzuweisen, wie sie ihre Gedanken vortragen könne.6

Der Autor, den Erschs und Grubers Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste rund 40 Jahre später für das Lemma gewinnt, verstrickt sich seinerseits in Betrachtungen über den Zusammenhang zwischen dem Drahtgestell für Frisuren und der inhaltlichen Kohäsion, die ein schriftlicher Aufsatz genau wie ein solches Gestell aufweisen müsse, um dieselbe Bezeichnung zu verdienen. Offensichtlich bemerkend, dass er so zu keiner Definition gelangen wird, verwirft er seine Überlegungen sodann in einer jähen Volte: Übrigens kommt es auf den Inhalt und die Form nicht weiter an. Diese mögen seyn, welche sie wollen; wenn nur auf (Papier etc.) gesetzte, zusammenhangende Worte da sind, so ist ein Aufsatz vorhanden. Im engsten Sinne wird jedoch zu einem Aufsatze noch erfodert, daß er (nicht etwa bloß aus einem einzelnen Satze, sondern) aus einem größeren Inbegriffe von Sätzen bestehe.7

Eine ähnliche Minimaldefinition bietet 1794 – mit deutlichem Anklang an die eben zitierte Deutsche Encyclopädie von 1779 – Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch: Figürlich, was aufgeschrieben ist, doch nur in der Bedeutung eines schriftlichen Vortrages zusammen hängender Sätze, welche die Vorstellung einer gewissen Wahrheit enthalten. Ein Aufsatz. Ein schriftlicher Aufsatz. Einen Aufsatz machen, übergeben. Aufsatz ist in dieser Bedeutung ein allgemeiner Ausdruck, welcher die nähere Art unbestimmt lässet.8

Der Unbestimmtheit der lexikalischen Definitionen entspricht der Sprachgebrauch der Praxis: Im deutschen Zeitungswesen ist das Wort „Aufsatz“ um 1800 vorübergehend das Sammelbecken für so gut wie alle Formen von Beiträgen, die in einem Blatt einlaufen und von diesem wiedergegeben werden können – vom heutigen „Artikel“ über die sachlich-wissenschaftliche „Abhandlung“ bis hin

6 Deutsche

Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, von einer Gesellschaft Gelehrten, Bd. 2, Frankfurt am Main 1779, 250 f. Vgl. zu diesem im Vergleich zum Zedler weniger bekannten Werk Uwe Decker, Die Deutsche Encyclopädie (1778–1807), in: Das achtzehnte Jahrhundert 14/2 (1990), 147–151. 7 Ersch, Gruber, Allgemeine Encyclopädie (wie Anm. 4). 8 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mund­ art mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe, Bd. 1, Leipzig 1793, 523.

8 Einleitung

zum thematisch-pointierten „Essay“.9 Letzteres könnte den Gedanken nahe­ legen, dass der Aufsatz im Deutschen schlicht die Entsprechung des westeuropäischen „Essay“/„Essai“ ist, jener sich nicht minder der Definition entziehenden Gattung des schriftlichen (Annäherungs) „Versuchs“, deren ‚große Namen‘ die ‚literarischen‘ Essayisten von Montaigne über Bacon bis zu Addison und Steele sind,10 beziehungsweise dessen Popularisierung im Sinne eines neuen, „aufgeklärten“ Schreibstils, der sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Bahn bricht.11 Tatsächlich erscheinen viele dieser später als „Essays“ klassifizierten Texte zunächst unter anderen Bezeichnungen wie „Fragment“, „Versuch“, „Entwurf“ oder eben „Aufsatz“.12 Zugleich setzen jedoch in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verstärkt Bemühungen ein, den Aufsatz verbindlicher zu bestimmen und ihn auf eine regelhafte Form zu verpflichten, indem man der Praxis eine Theorie in Form praktischer Anleitungen zur Abfassung von Aufsätzen sowie eine rhetorische Aufsatzlehre zur Seite stellt.13 Die Felder, in denen der Auf 9 Siehe mit dieser breiten Wortverwendung Rudolph Zacharias Beckers Einladungen zur Einsendung von „Aufsätzen“ in: Der Reichs-Anzeiger oder Allgemeines Intelligenz-Blatt 1793 ff. Vgl. dazu auch den Beitrag von Olaf Simons in diesem Band, S. 377–410. 10 Zum Essay als literarischer Gattung insgesamt siehe u. a. Tracy Chevalier (Hg.), Encyclo­ pedia of the Essay, London, Chicago 1997; Christian Schärf, Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Göttingen 1999. Zur Geschichte des deutschsprachigen Essays im 18. Jahrhundert siehe Joachim Schote, Die Entstehung und Entwicklung des deutschen Essays im 18. Jahrhundert, Diss. phil., Freiburg 1988; John A. McCarthy, Crossing Boundaries. A Theory and History of Essay Writing in Germany 1680–1815, Philadelphia 1989, sowie zuletzt Nina Hahne, Essayistik als Selbsttechnik. Wahrheitspraxis im Zeitalter der Aufklärung, Berlin, Boston 2015 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 53). Für einen instruktiven Überblick über die Forschungsliteratur der letzten 50 Jahre siehe ebd., 35–45. Zu den Schwierigkeiten und diversen literaturwissenschaftlichen Ansätzen, den Essay gattungstypologisch zu definieren, vgl. schließlich ebd., 26 ff., sowie McCarthy, Crossing Boundaries, 27–65. 11 Vgl. dazu ebd., bes. 94 ff., sowie den Beitrag McCarthys in diesem Band, in dem er sein Konzept eines „aufgeklärten Schreibstils“ am Beispiel des Gothaer Illuminaten und Publizisten Schack Hermann Ewald pointiert darlegt. 12 Vgl. Eberhard Ostermann, Art. „Essay“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, 1460–1468, hier 1465. Zur semantischen Überschneidung von „Aufsatz“ und „Essay“ siehe auch McCarthy, Crossing Boundaries (wie Anm. 10), 38; sowie die zeitgenössischen Belegstellen bei Hahne, Essayistik als Selbsttechnik (wie Anm. 10), 130, 188, 241, 292 ff. 13 Siehe etwa Friedrich Karl Adolf von Trützschler, Anweisung zur vorsichtigen und förmlichen Abfassung rechtlicher Aufsätze, 2 Bde., Leipzig 1783 f.; Joseph von Sonnenfels, Über den Geschäftsstil, Wien 21785; Friedrich Carl Christian Link, Neuer Catechismus des Cantzleystyls oder Anleitung sich bey Abfassung gerichtlicher Aufsätze in der Muttersprache gut und richtig auszudrücken, Coburg, Leipzig 1798; Der grätzerische Secretär, oder gründliche Anleitung, alle Arten schriftlicher Aufsätze, welche im bürgerlichen Geschäftswesen vorkommen, nach den Regeln einer guten Schreibart […] zu verfassen, Grätz 1800; Friedrich Wilhelm von Bernewitz, Anleitung zur Abfassung aller Arten militärischer Aufsätze und Briefe. Auch in Beziehung auf andre Verhältnisse des bürgerlichen und gesellschaftlichen Lebens, Leipzig 1808; Johann Hoheisel, Theoretisch-practische Anleitung zu schriftlichen Aufsätzen mit besonderer Rücksicht auf



Aufsatzpraktiken (nicht nur) im 18. Jahrhundert 9

satz hier als spezifische Textgattung etabliert wird, sind indes nicht so sehr das literarische, in dem sich anstelle des Wortes „Aufsatz“ eben doch bald das nach westeuropäischen Vorbildern gebildete „Essay“ durchsetzt – Lessing, Herder, Goethe, Schiller und Wieland werden nicht die Repräsentanten des deutschen Aufsatzes, sie werden die großen Essayisten der deutschen Literatur, die sich dabei – ebenso wie etliche weniger bekannte Autoren des frühen 18. Jahrhunderts vor ihnen14 – vorwiegend an ‚literarischen‘ Vorbildern aus dem Englischen und Französischen und weniger am Aufsatz in seiner oben skizzierten Bedeutung orientieren. Der Essay darf denn auch trotz gelegentlicher inhaltlicher, formaler und häufig auch semantischer Überschneidungen nicht einfach mit dem Aufsatz gleichgesetzt werden, auch wenn es im deutschsprachigen Kontext eine gewisse zeitliche Koinzidenz zwischen dem Durchbruch des Aufsatzes in seiner neuen Bedeutung als schriftliche Praxis und der Blüte des ‚literarischen‘ Essays in der sogenannten Klassik ab etwa 1770 zu geben scheint.15 Vielmehr entfaltet sich der Aufsatz, wie die Deutsche Encyclopädie schon 1779 bemerkt („Es giebt rednerische, poetische, theologische, politische &c. Aufsätze“), im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts auf ganz verschiedenen Gebieten16 – darunter namentlich die Rechtsgelehrsamkeit und das Geschäftsleben.17 Vor allem aber gewinnt er bleibende Bedeutung „[i]n der Erziehung der Jugend“, sprich dem Schulwesen, in dem er bis heute sein hauptsächliches Residuum hat. Die in den zitierten Lexikon- bzw. Wörterbucheinträgen anklingenden Schwierigkeiten, den Aufsatz verbindlich zu definieren, verweisen somit auf ein grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen einer primären Neuartigkeit und Offenheit der Praktiken und nachgelagerten Versuchen, die neue, zunehmend ubiquitäre Schreibpraxis definitorisch in den Griff zu bekommen und die […] bürgerliche Brauchbarkeit, Wien 1815 f.; [Georg] Reinbeck, Deutsche Sprachlehre nebst Anleitung zu schriftlichen Aufsätzen, Wien 1817. Vor allem aber entwickelte sich seit den 1780er Jahren eine rhetorische Aufsatzlehre im Schulwesen. Siehe dazu Otto Ludwig, Der Schulaufsatz. Seine Geschichte in Deutschland, Berlin, New York 1988, bes. 110 ff. und 126 ff., sowie Eduard Haueis, Art. „Aufsatzlehre“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, 1250–1258. 14 Auf die häufig unterschätzte Existenz einer deutschsprachigen Essayistik vor 1750 hat jüngst erst wieder Nina Hahne hingewiesen: Hahne, Essayistik als Selbsttechnik (wie Anm. 10), 4 f. Vgl. in ähnlicher Stoßrichtung McCarthy, Crossing Boundaries (wie Anm. 10), 173 ff. 15 John A. McCarthy spricht vom ‚Höhenflug‘ des Essays: Crossing Boundaries (wie Anm. 10), 209 ff. („The Dialectic Muse Soars“). Vgl. auch Hahne, Essayistik als Selbsttechnik (wie Anm. 10), 193 ff., sowie Christian Schärf, Art. „Essay“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3: Dynastie ‒ Freundschaftslinien. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) hg. von Friedrich Jaeger, Stuttgart, Weimar 2006, 554‒562. 16 Eine Titelrecherche in verschiedenen Bibliothekskatalogen und anderen Datenbanken zeigt, dass sich um 1800 Aufsatzsammlungen zu nahezu allen Bereichen des gelehrten Wissens bzw. der Wissenschaften sowie des ‚bürgerlichen Lebens‘ finden. 17 Vgl. Anm. 13. Zur Einführung des Geschäftsbriefes als zu erlernender Textgattung in den Schulunterricht zu dieser Zeit vgl. Ludwig, Schulaufsatz (wie Anm. 13), 118 f.

10 Einleitung

auf bestimmte Felder und Anwendungsgebiete einzugrenzen. Die Karriere des deutschen „Aufsatzes“ – des Wortes ebenso wie der damit verbundenen Schreibpraktiken und Texte – ist damit ein genuin praxeologisches Phänomen, das wir nicht vorschnell mit einem Blick auf seine literarische oder rhetorische Definition in seiner Textlichkeit erklären sollten. Vielmehr handelt es sich, so die Kernthese des vorliegenden Bandes, um eine Praxis, die sich nicht oder doch zumindest nicht vorrangig an einer klar identifizierbaren rhetorischen Tradition oder literarischen Gattung orientiert beziehungsweise auf diese zurückgeführt werden kann, sondern sich aus verschiedenen Quellen sowie sozialen beziehungsweise gesellschaftlichen Bedürfnissen und Erfordernissen speist und auf diese reagiert. Dass sie dabei nicht frei von Vorbildern und Vorläufern ist, versteht sich von selbst; anders als es der spätere Erfolg der Aufsatzpraxis im Schulwesen nahelegt, kann jedoch gerade dieses, wie noch zu sehen sein wird, kaum als maßgeblicher Ursprungsort der sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ausbreitenden Aufsatzpraktiken veranschlagt werden. Es ist daher das primäre Anliegen dieses Bandes und seiner Beiträge, etwaige andere in Frage kommende Quellen des Aufsatzschreibens in den Blick zu nehmen und so die Entstehungskontexte und funktionalen Zusammenhänge dieser sehr spezifischen, mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und sozialen Praktiken des 18. Jahrhunderts auf das Engste verbundenen Praxis zumindest in Umrissen sichtbar zu machen. II. Eine ubiquitäre Praxis und die Frage nach ihrer Entstehung im 18. Jahrhundert: zur Problemstellung Mit dem Verfassen schriftlicher Aufsätze steht eine Praxis im Mittelpunkt dieses Bandes, mit deren Regeln in den westlich orientierten Gesellschaften beinahe jede und jeder vertraut ist. Es genügt, ein Sonett oder einen Roman erkennen und über dergleichen poetische Gattungen sprechen zu können, doch der Aufsatz ist die Textgattung, die jede und jeder aktiv beherrschen muss wie die eigene Muttersprache, und der darum mit dieser zusammen unterrichtet wird. In dieser, bis zur Mitte des 19. Jahrhundert sukzessive in allen Schulformen einschließlich der „Volksschule“ eingeführten und mit dem bis Anfang der 1970er Jahre über die gesamte Schullaufbahn entscheidenden Abituraufsatz zu zentraler Bedeutung für den höheren Bildungsweg aufgestiegenen Form18 handelt es sich beim (Schul)Aufsatz um eine Gattung, die nachgerade in einer negativen Korrelation zum ‚literarischen‘ Essay steht. Anders als der Essay lebt der Aufsatz im Schulunterricht eher von kontinuierlichen Abgrenzungsmanövern, von einer jahrelangen Schulung, sich einer Frage nüchtern zu stellen und dabei mit 18 Die

Etappen und Wandlungen des Aufsatzes sind eingehend dargestellt bei Ludwig, Schulaufsatz (wie Anm. 13), 123–453.



Aufsatzpraktiken (nicht nur) im 18. Jahrhundert 11

Rhetorik wie mit der individuellen Sprache zurückhaltend, ja selbstkritisch umzugehen. Die schulische Aufsatzpraxis beginnt mit Erlebnisaufsätzen, in denen die Schüler sich selbst noch ‚ausleben‘ können – sie schreitet fort zu Aufsätzen von zunehmender Selbstkontrolle und Fokussierung auf den vorgegebenen, von außen ‚gesetzten‘ Gegenstand. Der schulische Aufsatz ist – im fundamentalen Gegensatz zum Essay – eine zunehmend spröde Leistung, der individueller Glanz allenfalls gestattet ist, wenn die oder der Geprüfte gleichzeitig die inhaltlichen Anforderungen unter dem Strich ‚objektiv‘ meistert. Die seit dem späten 18. Jahrhundert in den Schulunterricht vordringende Praxis des Verfassens von schriftlichen Aufsätzen verweist dabei im selben Moment auf eine Textsorte, die an diesem, ihrem aus späterer Sicht bevorzugten und dauerhaftesten Ort, nur eine brüchige Vorgeschichte hat. Der Vorgänger des Aufsatzes an den Gymnasien der frühen Neuzeit ist am ehesten die auf Latein zu verfassende Rede19 – eine Übung, von der sich der Aufsatz in mehrfacher Hinsicht gerade distanziert, ohne sie jedoch sogleich vollständig ablösen oder ersetzen zu können.20 Das Lateinische als Darbietungssprache weicht im Schulaufsatz der Muttersprache; die rhetorische Performance der stillen Ausarbeitung, die unter den Augen des Lehrers in der beaufsichtigten ‚Klausur‘ zu absolvieren ist. Wo die Rede tendenziell ein individuelles Ereignis coram publico war, ist der schulische Aufsatz die Entscheidung für einen kollektiven Wettbewerb unter Bedingungen möglichst großer Chancengleichheit. Die gesamte Schulklasse erhält in der Regel dasselbe Thema, dem sich danach jeder und jede Einzelne im Stillen stellen muss. Gesucht ist einerseits die Demonstration geistiger Beweglichkeit, bewiesen in der Kompetenz, ein beliebiges Thema fachgerecht ausloten zu können. Gesucht ist, andererseits, nicht minder ein hochgradig persönlicher Akt. Der Aufsatz, der Angelesenes nur wiedergibt oder auch nur geheuchelt einer bestimmten Position das Wort redet, kann als Plagiat disqualifiziert oder als Leistung geringer Eigenständigkeit abgewertet werden. Es zählt somit letztlich die nachvollziehbar persönliche, ‚reife‘, verantwortungsvoll dargebotene Erwägung. Der Schulaufsatz setzt sich in dieser Komplexität der damit verbundenen Regeln, internalisierten Beschränkungen und antizipierten Erwartungshaltungen zwischen dem späten 18. und dem mittleren 19. Jahrhundert nicht als eine Textgattung durch, sondern als eine Praxis, die beim ausschließlichen Blick auf die Texte uninteressant wird – hier würde man bevorzugt auf die freieren Essays sehen, die den Zeitgeist artikulierten, und nicht auf die zahllosen Schüleraufsätze, die in der Regel wohl der späteren Vernichtung zum Opfer fielen.21 19 Vgl.

dazu ebd., 23–85. Ebd., 105 ff. 21 Dies gilt insbesondere für die Schülerarbeiten der unteren Klassen sowie die Schüler­ arbeiten des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Abituraufsätze späterer Zeiten wurden dagegen als Prüfungsnachweise archiviert, was ihre Erforschung möglich macht. Ein entsprechendes Kor20

12 Einleitung

Es lässt sich unschwer ermessen, was diese Praxis in den Bildungssystemen der westlichen Industriestaaten im 19. und 20. Jahrhundert interessant machte. Die moderne Gesellschaft mit ihrem Interesse an der Wirtschaft und den modernen Wissenschaften braucht nicht mehr Einzelne, die ihren Stand und die ihnen zugewiesene Position formvollendet zu repräsentieren verstehen. Sie benötigt vielmehr ein breites Angebot von Schulabsolventen, die sich beliebigen Aufgaben zu stellen wissen und über diese verständlich und auswertbar in den verschiedensten Funktionszusammenhängen kommunizieren können. Ein Auge muss hier nebenbei auf Integrität geworfen werden, auf die verantwortungsvoll besetzte Position, auf das Individuum, das lernt, zu dem zu stehen, was es in Funktionszusammenhängen an Informationen weitergibt – ob als verantwortlich und verlässlich zitierbarer Wissenschaftler oder als Journalist, Beamter oder Abteilungsleiter in einem Unternehmen. In all diesen Anforderungsgebieten verspricht der Aufsatz Schulung und weit mehr noch als Schulung: Training, Gewöhnung, Steigerung der Bereitschaft, sich einer externen Bewertung der eigenen sachbezogenen Äußerung zu unterziehen. Eine einfache Erfolgsgeschichte des Aufsatzes wird dennoch nicht zu schreiben sein – auch keine Geschichte mit einem einfachen Konnex zwischen päda­ gogischen Ansprüchen, didaktischen Konzepten und praktischer Realisation. Die Gattung verführt zur Heuchelei, zum Lippenbekenntnis wie zur Provokation mit der unerwarteten bis paradoxen Antwort, der besonderen, einzigartigen eigenen Antwort. In der breiten Praxis erzeugt sie im selben Moment Unbehagen in Gestalt wiederkehrender Fragen der Schüler, denen sich die Lehrer entziehen müssen – Fragen, die auszuloten versuchen, was der Lehrer denn hier am liebsten lesen würde. Man kann sich in Anbetracht der Bekundungen von Unbehagen, die sich bereits in den Aufsätzen des ausgehenden 18. Jahrhunderts (etwa denjenigen aus dem Illuminatenorden, mit denen sich die Beiträge im hinteren Teil dieses Bandes befassen) finden, fragen, ob der Aufsatz nicht überhaupt vor allem eine abschreckende Funktion haben sollte. Die zukünftige Elite genauso wie der zukünftige Vertreter der Opposition oder des Widerstands stellen sich dieser Anforderung mit je eigenem Interesse. Die Mehrheit derer, die Aufsätze schreiben müssen, findet gute Gründe, sich späterhin nicht mit mehr denn der Stimmabgabe auf dem Wahlzettel oder privaten Meinungsbekundungen hervorzutun. Denn wer Aufsätze schreibt, macht sich angreifbar, so die Erfahrung, die Ian Hunter in Rethinking the School analysiert.22 Der Aufsatz lässt sich grundpus wird derzeit im Rahmen eines Projektes, das seinen Schwerpunkt ebenfalls auf die mit den Aufsätzen verbundenen Praktiken vor allem der Aufgabenstellung und der Bewertung legt, an der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin durchgeführt („Abiturprüfungspraxis und Abituraufsatz 1882 bis 1972. Wissens(re)präsentation in einem historisch-praxeologischen Pilotprojekt“, URL: http://www.dipf.de/de/forschung/projekte/abiturpruefungspraxisund-abituraufsatz-1882-bis-1972, 22.11.2016). 22 Ian Hunter, Rethinking the School: Subjectivity, Bureaucracy, Criticism, London 1994.



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sätzlich unfair gegen das Individuum auslegen, das zu viel Eigensinn oder nicht genug eigenes Denken in ihm entfaltet, sich zu sehr auf den Inhalt zurückzieht oder gerade nicht genug zur Sache spricht. Das Bekenntnis, das der Aufsatz dem Schreibenden abverlangt, schrieb nicht zufällig Literaturgeschichte: Siegfried Lenz’ Deutschstunde (1968) rankt sich um einen Aufsatz zum Thema „Die Freuden der Pflicht“ – in einer unterschwelligen Legitimation der Praxis, die hier zur Selbstergründung gegenüber den gesellschaftlichen Autoritäten implementiert ist. Der Abituraufsatz mit seinem verlangten Bekenntnis zum hehren Thema gesellschaftlicher Verantwortung und Relevanz wurde aufgrund seiner Fragwürdigkeit seit den 1970er Jahren wieder aus den Schulsystemen zurückgedrängt.23 Die hier nur knapp skizzierte Interessenlage aus Bildung und späterer sozio­ ökonomischer Verwendbarkeit scheint in ihren Ursprüngen direkt in das Zeit­ alter der sogenannten Spätaufklärung ab etwa 1770 zurück zu verweisen, als Erziehung und umfassende (Menschen)Bildung, die gesellschaftliche Nützlichkeit und größtmögliche „Industriosität“ breiter Bevölkerungsschichten zum gesellschaftlichen oder doch zumindest diskursiv vermittelten Ideal werden. Die um die Breitenbildung bemühten publizistischen Initiativen der ‚Volksaufklärung‘ ebenso wie die schulreformerischen Anstrengungen und Modellprojekte bekannter und weniger bekannter Pädagogen verhelfen den produktions- und verantwortungsförderlichen Praktiken zur Entfaltung.24 Eine einfache Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen der ‚modernen‘, im 19. und 20. Jahrhundert das Schulwesen flächendeckend durchdringenden Aufsatzpraxis würde es somit nahelegen, diese im Schulwesen der Spätaufklärung zu suchen. In der Tat wurde das Verfassen schriftlicher Aufsätze, das hat Otto Ludwig in seiner breit angelegten Untersuchung zur Geschichte des Schulaufsatzes in Deutschland 1988 gezeigt, ab etwa 1770 in das Schulwesen eingeführt, zunächst an ausgewählten Höheren Schulen, seit spätestens 1800 dann verbindlich zumindest an den Gymnasien der meisten deutschen Staaten.25 Doch lässt sich eben die Einführung dieser Praxis in den Schulunterricht kaum aus diesem selbst heraus – im Sinne einer ‚Entstehung‘ – erklären. Vielmehr findet die Einführung vornehmlich schriftlicher Ausdrucks- und Prüwidmete sich der Spiegel Nr. 50 (5.12.1966) unter der Überschrift „Abituraufsätze. Leicht ins Schwafeln“ der damals gängigen Praxis mit dem an die Betroffenen gerichteten Resümee: „Abiturienten beim Deutschaufsatz: Denkt nein und schreibt ja“. 24 Aus der Menge der Literatur zur Volksaufklärung sei hier nur auf Holger Böning, Hanno Schmitt, Reinhart Siegert (Hg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, Bremen 2007, verwiesen. Eine eingehendere Verortung der Reformpädagogik des ausgehenden 18. Jahrhunderts bieten Dietrich Benner, Herwart Kemper, Theorie und Geschichte der Reformpädagogik, 3 Bde., Weinheim, Basel 2003. 25 Ludwig, Schulaufsatz (wie Anm. 13), 94 ff. Vgl. Haueis, Art. „Aufsatzlehre“ (wie Anm. 13), 1256, sowie den Beitrag von Michael Rocher in diesem Band, der hinsichtlich der zeitlichen Dimension der ausgewerteten Schülerarbeiten weitgehend mit Ludwig übereinstimmt. 23 Süffisant

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fungsformen im Schulwesen – ebenso wie wahrscheinlich auch der Einzug der neuen Wortbedeutung in die Lexika – erst zu einem Zeitpunkt statt, da das Verfassen von Aufsätzen bereits in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen etabliert ist, wie schon bei einem raschen Blick auf die Buchproduktion, vor allem aber auf das Zeitungs- und nicht zuletzt auch das Sozietätswesen der Zeit zu sehen ist.26 So bezog sich etwa die 1736 gegründete „Prüfende Gesellschaft“ in Halle bei ihrer Namensgebung auf ihren Gesellschaftszweck, das Prüfen eingeschickter „Erfindungen und Aufsätze“ seiner Mitglieder, die im Falle der Billigung in einem eigenen, 1738 begründeten Periodikum abgedruckt wurden.27 Zu den Bedingungen für die Aufnahme zählte, dass die – auch als „specimen“ oder „Proben“ bezeichneten Abhandlungen „in einer guten […] Teutschen Schreib-Art abgefasst“ und die Argumente „gründlich, und in einer angenehmen Methode vorgetragen“ waren 28 – Bewertungskriterien, die bereits die Anforderungen an den späteren Schulaufsatzes anklingen lassen. Die zentrale Frage des vorliegenden Bandes lautet daher: Wo konfigurierten sich die Praktiken des Verfassens und Bewertens schriftlicher Aufsätze, bevor sie den Schulunterricht eroberten? Auf welchen Feldern entwickelten sie sich zuerst, welche folgten? Lassen sich Vorläufer oder zeitlich früher gelagerte verwandte Formen identifizieren? Und schließlich: Wie fanden sie ihren Eintritt in die Bildungssysteme, in denen sie bis heute fortdauern? Der vorliegende Band geht diesen Fragen weniger anhand von Definitionen oder am Beispiel von Textgattungen als vielmehr im größeren Geflecht der Praktiken nach, die hier angerissen sind. Aufgefächert nach den zentralen Aspekten dieser Praktiken, stellen sich vor allem folgende Fragen: – Wo liegen die Wurzeln der spezifischen Praxis, mit der Aufsatz-Themen in der Regel zur kollektiven, doch dabei individuell zu erbringenden Bearbeitung gestellt und anschließend einer Bewertung durch eine zentrale, übergeordnete Instanz unterzogen werden? Woher stammen also die spezifischen Wettbewerbspraktiken, die den Aufsatz als Medium des schulischen Leistungsnachweises offenkundig so interessant machten? 26 Eine

Titelrecherche bei Google Books zeigt, dass seit den 1760er Jahren vermehrt Sammlungen von Aufsätzen auf den Markt gebracht wurden (vgl. Anm. 3). Zum Zeitungswesen siehe Jürgen Wilke, Die Zeitung, in: Ernst Fischer, Wilhelm Haefs, York-Gothart Mix (Hg.), Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800, München 1999; sowie Volker Bauer, Holger Böning (Hg.), Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit, Bremen 2011. Zu den Moralischen Wochenschriften der ersten Jahrhunderthälfte vgl. auch Wolfgang Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1971, sowie Hahne, Essayistik als Selbsttechnik (wie Anm. 13), 100 ff. 27 Hans-Joachim Kertscher, Die „Prüfende Gesellschaft“ in Halle, in: Detlef Döring, Kurt Nowak (Hg.), Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820), Teil 3, Stuttgart, Leipzig 2002, 71–99. 28 Zitiert nach ebd., 78.



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– Welches sind die Traditionen dieser spezifischen Wettbewerbsbedingungen? In der Regel wird hier ja Chancengleichheit versprochen – alle erhalten das Thema gleichzeitig, jede(r) erhält genau so viel Bearbeitungszeit usw. Welche Maßnahmen sollen die Beurteilung der individuellen Leistung – in der Regel ‚ohne Ansehen der Person‘ – sicherstellen? Wie werden Kriterien der fairen Beurteilung formuliert? Gibt es Instanzen der Urteilsanfechtung? Agiert eine breitere Öffentlichkeit als diese Instanz? Werden die Bewertungskrite­ rien vorab bekannt gegeben oder finden sie erst in den Beurteilungen am Ende Erwähnung (als ein geradezu unheimlicher Ermessensspielraum der Machtausübung)? – Die Ausarbeitung muss in der Regel von den Bearbeitenden mit einer Zusiche­ rung ihrer eigenständigen Leistung vorgelegt werden. Es geht in der Regel nicht (wie etwa in einer Mathematik-Klausur) darum sicherzustellen, dass die Geprüften die Aufgabe selbständig lösen können. Es geht hier eher um eine Ab- und Eingrenzung der eigenen Sicht, denn das Zitat beliebiger anderer Perspektiven ist erlaubt, ja geradezu eigefordert. Diesen anderen Perspektiven gegenüber soll der den Aufsatz Schreibende regulär zu einer persönlichen Sicht finden. Ein Akt des Bekenntnisses ist hierin angelegt, mit möglicherweise eigenen Traditionen – im religiösen Bekenntnis, in der Loyalitätsbezeugung gegenüber dem Staat? – Welches sind die Kriterien der Beurteilung, der sich der Aufsatz anders als der meinungsbildende Essay unterwirft? Welche Traditionen haben sie? Wie veränderten sie sich? Wie entfalten sie sich in unterschiedlichen institutionellen Regimen? – Was sind die Traditionen der spezifischen auf das Individuum zielenden Bildungs- und Erziehungsversprechen, mit denen die Schulsysteme den Aufsatz im Verlauf als Medium der Charakterbildung und der Menschenführung im Spannungsfeld von Nation und Religion etablieren? Wie legitimierte sich deren Formulierung in den Disziplinen der Didaktik und Pädagogik im politischen Wandel? – Wie wirkten namentlich die entstehenden Natur- und Geisteswissenschaften, Theologie und Jurisprudenz bei der Etablierung spezifischer Anforderungen an bewertbare, überprüfbare, als Leistungen fixierbare Aspekte von schriftlichen Ausarbeitungen auf den Aufsatz ein? Wie verhält sich der Aufsatz zu vorgängigen universitären Prüfungsleistungen wie der Disputation und der Dissertation, wie zum akademischen Wettbewerb? – Wie wirkt sich die Kommerzialisierbarkeit der Aufsatzpraxis auf diese aus – die Tatsache, dass Autoren ihre Aufsätze auf dem Buchmarkt respektive in Journalen und Zeitungen vermarkten und dabei ganz anderen Bewertungen und Reaktionen aussetzen können?

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Im größeren Kontext einer Forschung, die traditionell vor allem gattungstypologisch auf den Aufsatz und mehr noch den Essay ausgerichtet war, vollzieht der vorliegende Band damit eine betont pragmatische Blickwendung. Die zentrale Frage gilt im Folgenden den Aspekten, die diese Gattung in institutionelle Geflechte hineinzogen und zum Kristallisationspunkt epochaler Anliegen machten – ob es dabei um eine Erziehung der Öffentlichkeit, um eine kollektive Antwortsuche oder um eine Demonstration und Manifestation der Grenzen des aktuell Sagbaren ging. Dort, wo Aufsatzthemen gestellt werden, geschieht nahezu immer all dies gleichzeitig. Die zentral vergebene Frage trifft auf Autoren, die sich ihr stellen müssen. Doch betrifft sie immer auch die Institutionen, die die Themen vergeben und dies im Blick auf die möglichen Themensteller ebenso wie auf eine zumindest interne Öffentlichkeit tun. III. Entstehungskontexte und funktionale Zusammenhänge von Aufsatzpraktiken im Spiegel dieses Bandes und seiner Beiträge Der hier vorgelegte Band kann in seiner Fragestellung wie in der Zusammenstellung der Beiträge seinen Ausgangspunkt nicht verhehlen: Er verdankt sich der Konzeption einer Konferenz zum Thema „Aufsätze als Medien der Charakterbildung und Menschenführung in der Spätaufklärung“, die die Herausgeber im Juni 2015 am Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt mit internationaler Beteiligung durchgeführt haben; mit einer Ausnahme sind die Beiträge aus den bei dieser Gelegenheit präsentierten Vorträgen hervorgegangen.29 Hinter der Konzeption der Konferenz wiederum standen rund anderthalb Jahre der Auseinandersetzung mit internen Aufsätzen des Illuminatenordens aus dessen letzter Phase, den Jahren zwischen 1784 und 1787, in denen Thüringen, die Ordensprovinz „Ionien“, unter der Leitung Johann Joachim Christoph Bodes und Ernsts II. von Gotha Sachsen Altenburg vorübergehend zur Musterprovinz des Ordens avancierte.30 Die ‚Alltagsgeschichte‘ des Ordens in dieser Phase ist geprägt von Anstrengungen, eine Aufsatzpraxis in den örtlichen Ordensgruppen, den „Minerval-Kirchen“, als Mittel zur Bildung und Vervollkommnung der Mitglieder zu etablieren und sie vielleicht sogar gesamtgesellschaftlich wirksam werden zu lassen.31 Durchaus unterschiedliche Fragen stellten sich dabei 29 Vgl.

dazu den Tagungsbericht von Robert Heindl und Lorenza Castella in: H-Soz-Kult, 20.11.2015 (URL: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6247, 22.11.2016). 30 Siehe dazu jetzt ausführlich Olaf Simons, Markus Meumann, „Mein Amt ist geheime gewissens Correspondenz und unsere Brüder zu führen“. Bode als ‚Unbekannter Oberer‘ des Illu­ minatenordens, in: Cord-Friedrich Berghahn, Gerd Biegel, Till Kinzel (Hg.), Johann Joachim Christoph Bode. Studien zu Leben und Werk, Heidelberg 2017 [im Druck]. 31 Die ca. 140 textlich überlieferten Aufsätze aus dieser Zeit – dazu kommen noch einmal rund 50, deren Themen und Vortragsdaten bekannt sind – wurden von uns im Rahmen des von



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denen, die bei der Ausrichtung dieser Praxis die Hände an den verschiedenen Stellschrauben hatten. Sollte es ihnen und dem Orden, den sie repräsentierten, primär darum gehen, die Meinungen der Mitglieder auszuloten – sie individuell auszuforschen, um klarer zu sehen, wer sich wozu eignete? Wenn ja, blieb es entscheidend, diese Aufsätze intern zu handhaben und sicherzustellen, dass die Mitglieder ohne Abstimmung untereinander allein ihrem Gewissen verpflichtet antworteten. Wie versichert aber würden die Einsender von Aufsätzen sich in Anbetracht verborgener Leser innerhalb des Ordens sehen, dass ihre Antworten nicht gegen sie verwandt würden? Riskierte man dagegen eine größere interne Öffentlichkeit, indem man Aufsätze auf Versammlungen verlesen ließ, verschoben sich die Probleme: Wie beugte man nun einem Gleichklang der Einsendungen vor? Wollte man nicht gerade die Homogenisierung, den einheitlichen Orden, eine Lenkung und Manipulation der Mitglieder vom Ordenszentrum herab? Der Ordensgründer, Adam Weishaupt, hatte dieses als dessen zentrales Anliegen formuliert und dabei nahegelegt, dass es ihm vor allem um eine Gleichschaltung ging, die die Mitglieder zentral zu koordinieren erlaubte. Unbemerkt ließ sich ein solches Ziel kaum gegenüber Mitgliedern handhaben, deren mündige Parti­zipation der Orden im selben Moment zelebrieren wollte. Unter den verschiedenen Prämissen und Promessen mussten isolierende Praktiken greifen – doch auch regulierende, die Wettbewerb schufen und zur Orien­tierung aneinander Anlass gaben. Man stellte Themen individuell, betreute die Mitglieder einzeln und persönlich und setzte ihre Arbeiten gleichzeitig der egalitären Diskussion auf lokaler Ebene aus – mit dem Risiko, dass all dies den Beiträgen ihre Individualität nahm, wie mit dem entgegengesetzten Risiko, dass ein Wettstreit zu einer unerwünschten Pluralisierung der Meinungen führte. Wie die (aus chronologischer Rücksicht am Ende des Bandes stehenden) Beiträge zur illuminatischen Aufsatzpraxis sehr differenziert und facettenreich belegen, versuchte der Orden in all diesen Fragen einander widerstrebende Ziele übereinzubringen. Seine praktischen Arrangements der Produktion und internen Rezeption von Aufsätzen blieben entsprechend widersprüchlich, und sie gestalteten sich – in einem laufenden Experiment oder unter konstantem Reformdruck, je nachdem, wie man es sehen will – anstrengend für alle Beteiligten. Der Orden richtete sich didaktisch aus, wobei die pädagogischen Ziele und Konzepte Adam Weishaupts unmittelbaren Niederschlag in der Kommunikationspraxis der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 2013 bis Ende 2016 geförderten Projektes „Illuminatenaufsätze im Kontext der Spätaufklärung: Ein unbekanntes Quellenkorpus“ (URL: https:// www.uni-erfurt.de/forschungszentrum-gotha/projekt/dfg-projekt-illuminatenaufsaetze-imkontext-der-spaetaufklaerung/) vollständig transkribiert und sowohl in der internen Kommunikation des Ordens als auch den öffentlichen Debatten dieser Zeit kontextualisiert; die bisherigen Veröffentlichungen dazu sind aus der oben genannten Projektseite ersichtlich. Die Transkripte der Aufsätze sind sämtlich online abrufbar in der Gotha Illuminati Research Base (URL: https:// projekte.uni-erfurt.de/illuminaten, 22.11.2016).

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des Ordens fanden, wie Peggy Pawlowski in einer Kurskorrektur gegenüber der älteren Literatur, die diese überwiegend unter Vorzeichen der Kontrolle und Bespitzlung sah,32 überzeugend darlegt. 33 Eine zentrale Rolle spielten dabei die sogenannten „Pensa“ – eben die von den Mitgliedern im Zusammenspiel mit ihrem Weg durch das Gradsystem einzureichenden Aufsätze –, deren spezifischen Kontexten sowie thematischen und kommunikativen Gefügen in- und außerhalb des Ordens Pawlowski sodann am Beispiel Gothas nachgeht. Reinhard Markners Artikel zu bisher unbekannten Gradtexten verschiebt den Fokus demgegenüber: Hier agiert der Orden mit eigenen programmatischen „Aufsätzen“ – unter anderem mit ‚Probeschriften“ Weishaupts „zur Beantwortung der Preisfrage: Was für Mittel giebt es; die Unbeständigkeit der Menschen in geheimen Gesellschaften so zu fixieren, daß sie ohne allen äussern Zwang gehorchen, und daß man ihnen ohne Gefahr alles vertrauen kann?“ und zur Frage „Sind geheime Gesellschaften einem Staate schädlich? Kann er solche dulden, ohne sich selbst zu schwächen?“ Offen geht es hier um eine Steuerung aller Einzelnen durch den Einzelnen, der als Ordensgründer in die Lage kommt, ihr Denken aus dem Zen­ trum heraus so zu inspirieren, dass sie sich ihrer Lenkung kaum bewusst werden können. John A. McCarthy und Olaf Simons nehmen in diesem Spannungsfeld der Ansprüche des Ordens zwei prominente Mitglieder der Gothaer MinervalKirche in den Blick. McCarthy schlägt in seinem Beitrag den Bogen von der größeren Geschichte des Essays zu den Aufsätzen, die Schack Hermann Ewald alias „Cassiodor“ für den Orden verfasste, und bringt diese in Zusammenhang mit seiner sonstigen publizistischen Tätigkeit. Simons richtet den Fokus auf Rudolph Zacharias Becker, der den Orden temporär zur Unterstützung seines Projektes einer Preisstiftung nutzte – ein an seine Jugendzeitschrift gekoppeltes Projekt. Der Orden erhielt hier die Chance, verdeckt als Themensteller und Juror nach außen zu wirken, scheiterte jedoch in seinem Bemühen, die Einsendungen massiver zu beeinflussen. Der ostentative Versuch, im Sinne der Aufklärung zu wirken, unterlag hier am Ende gegenüber öffentlichen Debatten, die sich ihrerseits gerade Freiräume von der Bevormundung suchten. Der ‚freiere‘ Essay setzte sich in der Publizistik durch, der Aufsatz fand im Schulsystem seinen entscheidenden Entfaltungsort. Die zentrale Frage, die wir uns über die spezifische Praxis des Illuminatenordens hinaus bei der Konzeption der Konferenz hinsichtlich des zu explorierenden Problemfeldes stellten, galt jedoch nicht dem Scheitern des Aufsat32 Vgl.

etwa Eberhard Schmitt, Geleitwort, in: Manfred Agethen, Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, München 1984, 9–13. 33 Siehe dazu auch die erziehungswissenschaftliche Dissertation der Verfasserin: Peggy Pawlowski, “… sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken.“ Der Beitrag Johann Adam Weishaupts zur Pädagogik des Illuminatismus, Diss. phil., Jena 2004 (online abrufbar unter der URL: http://www.db-thueringen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-3064/Pawlowski.pdf, 22.11.2016).



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zes als vorübergehender Leitgattung der Aufklärung, als die sie im Licht der diesbezüglichen Ordenspraxis und des zeitlich parallelen Zeitungswesens der Spätaufklärung erscheinen mag.34 Wir erhofften uns von der Konferenz vielmehr Aufschluss über die Genese dieser Praktiken und der aus ihr resultierenden, sie möglicherweise insgeheim so attraktiv machenden Problemlage. Die aus heutiger Sicht nächstliegende Antwort schloss sich absehbar von vornherein aus. Einfach hätten die Dinge gelegen, hätte der Orden seine Mitglieder schlicht auf die Schulbank zurückgeworfen. Nahe hätte das liegen können, da sich annähernd alle Aspekte der illuminatischen Aufsatzpraxis mitsamt ihren einander widerstrebenden didaktischen und pädagogischen Plädoyers bezüglich der hehren Ziele im modernen Schulunterricht mit seinen Lehrplänen und didaktischen Handreichungen wiederfinden. Allerdings widersprach diese Annahme offensichtlich dem bisherigen Stand der Aufsatzforschung, demzufolge der Aufsatz erst zeitgleich mit der illuminatischen Praxis im Schulwesen eingeführt wurde. Der vorliegende Band bestätigt mit seinen beiden Beiträgen zur schulischen Prüfungspraxis grosso modo die Chronologie, wie sie Otto Ludwig 1988 umriss:35 Dem Aufsatz voran geht noch weit in das 18. Jahrhundert hineinreichend der Rede-Actus, insbesondere in seiner Form der Abschlussprüfung vor dem Publikum der Stadt und des Hofes. Erst im ausgehenden 18. Jahrhunderts weicht die rhetorische einer stärker auf die schriftliche Leistung ausgerichteten Prüfungsleistung. Die beiden den Band eröffnenden Beiträge von Jens Nagel und Michael Rocher befassen sich von ihren zwei chronologisch einander gegenüberstehenden Ausgangspunkten mit diesem Prozess. Jens Nagel untersucht auf einer wohl einzigartig dichten Materialgrundlage die Praktiken des Rede-Akts als zentraler Leistungsanforderung des gymnasialen Unterrichts zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In den behandelten Themen stehen die 119 ausformulierten Valediktionsreden, die 1707/08 von Absolventen des Eisenacher Gymnasium Illustre gehalten wurden, den Illuminatenaufsätzen aus dem späten 18. Jahrhundert gar nicht einmal fern. Die auf den lateinischen Vortrag coram publico mit starker rhetorischer Demonstration ausgelegte Praxis verfolgt jedoch offenbar ganz andere Anliegen als der ‚modernere‘ schriftliche Aufsatz. Mit der Rede stehen Repräsentation, die Fähigkeit, öffentlich auftreten zu können, und die sichtbare Demonstration der gesellschaftlichen Position des Redners im Vordergrund der Prüfungs- oder besser Abschlusspraktiken einer Gesellschaft, die in erster Linie ständische Stabilität reproduzieren will. Michael Rochers Beitrag führt am Beispiel reformorientierter Musterschulen des ausgehenden 18. Jahrhunderts mitten in die Orientierungsphase der schuli34 Siehe

dazu die entsprechenden Schlussfolgerungen am Ende des Beitrags von Olaf Simons in diesem Band. 35 Ludwig, Schulaufsatz (wie Anm. 13), bes. 94 ff.

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schen Adaption von Aufsatzpraktiken hinein. Maßnahmen einer nunmehr kollektiven Ausrichtung des Verhaltens an gemeinsamen Idealen werden hier in neuartigen Verfahren der öffentlichen Zurschaustellung von Leistungen und Tugenden (wie von Verfehlungen) erprobt. Der Schulaufsatz steht dabei nicht sogleich in seiner späteren Form als breite Plattform zur Verfügung; kleine Übungen in Stil- und Moraldemonstration arbeiten ihm vor. Wenn deshalb, so Rochers Plädoyer, hier ein Fluss von Techniken zu beobachten ist, dann eben gerade nicht vom Schulunterricht in andere gesellschaftliche Bereiche wie die Freimaurerei und den Illuminatenorden hinein. Im Gegenteil: Wenn, dann geht dieser Einfluss eher von diesen Gesellschaften und ihren sozialen Praktiken aus, denen die führenden Pädagogen der Zeit – häufig selbst Mitglieder dieser und anderer Sozietäten – aufgeschlossen gegenüberstehen. Nächst dem Schulwesen liegt es nahe, in dem Illuminatenorden verwandten Gesellschaften nach einer vor den 1780er Jahren bereits fest etablierten Aufsatzpraxis zu suchen. Infrage kommen hier vor allem die Freimaurerlogen – der Illuminatenorden der 1780er Jahre durchdringt und infiltriert ja im Wesentlichen die deutschsprachige Freimaurerei auf der Suche nach einer breiten Mitgliederbasis, die auf die geheime Organisation vorbereitet ist – sowie andere paramasonische Geheimbünde dieser Zeit wie der Orden der Gold- und Rosenkreuzer.36 Markus Meumann wirft in seinem Beitrag Schlaglichter auf den Stellenwert des Sprechens und Schreibens über vorgegebene Themen in diesen geheimen Gesellschaften. Auch wenn einzelne Logen schon früh an einer Schärfung ihres intellektuellen Profils interessiert waren und Reden und Vorträge durchaus bereits im frühen 18. Jahrhundert als Teil der Logenarbeit und nicht nur des geselligen Lebens betrachtet werden müssen, lässt sich eine Aufsatzpraxis im eigentlichen Sinn auch in der Freimaurerei erst in den 1770er und 1780er Jahren, also zeitlich parallel zum Illuminatenorden, nachweisen. Die Herausgabe eines freimaurerischen Journals wie im Fall der Wiener Loge „Zur wahren Eintracht“ konnte hier ein institutioneller Nucleus sein, um den herum sich genau wie bei nicht-arkanen Sozietäten wie der weiter oben genannten „Prüfenden Gesellschaft“ in Halle oder der im Beitrag von Nina Hahne behandelten „Deutschen Gesellschaft“ in Leizig fast 50 Jahre zuvor eine Aufsatzpraxis etablieren konnte – als öffentlich 36 Ein kurzfristig gewonnenes Tagungsreferat von Renko Geffarth (Halle) zur Aufsatzpraxis im Orden der Gold- und Rosenkreuzer konnte leider nicht in die vorliegende Publikation eingehen. Wie Geffarth anhand von Quellen vor allem aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin zeigte, waren die Bearbeitung von Aufgaben und das Verfassen von Aufsätzen auch bei den Gold- und Rosenkreuzern zentraler Bestandteil der Ordensarbeit. Die Ordensmitglieder legten darin ihre Fortschritte in der Lektüre alchemistischer und theosophischer Schriften dar, die anschließend in den Zirkeln vorgetragen wurden, beantworteten Fragen, die der Erforschung des eigenen Selbst dienen sollten, oder legten in der Hoffnung auf Aufklärung und Belehrung durch die Ordensoberen selbstmotiviert Rechenschaft über ihre Gedanken und Kenntnisse ab.



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sichtbar agierende, nur hinsichtlich ihres Arkanums geheime Organisationsform konnte die Freimaurerei hier anders auftreten als der im Verborgenen agierende Illuminatenorden. Die Praxis, die sich Ende des 18. Jahrhunderts mehr oder weniger zeitgleich im Illuminatenorden, in der Freimaurerei und in der Reformpädagogik manifestiert, hat, das legt das Vorbild der nicht-arkanen Gesellschaften nahe, offenkundig Wurzeln außerhalb aller drei institutionellen Felder – gemeinsame Wurzeln, wie man in Anbetracht all der Verschränkungen zwischen Freimaurerei, Illuminatenorden und Reformpädagogik der Ära annehmen muss. Offensichtlich ist hier, wie eben bereits bemerkt, die Publizistik ein Schrittmacher – namentlich das Journal und die neuen, rascher agierenden, mehrmals pro Woche den Kontakt zum Publikum suchenden Blätter propagieren neue Formen der Interaktion mit der breiten Öffentlichkeit und einer sich herausschälenden Intellektuellenschicht. Die Beiträge unseres Bandes, die den Periodika des späteren 18. Jahrhunderts gelten, liegen diesbezüglich am Ende dicht beieinander. Martin Mulsow zeigt auf, dass die Gothaer Illuminatengruppe, die Kernzelle der letzten Ordensphase, tatsächlich ein bestehendes publizistisches Projekt ersetzte, wenn nicht aus ihm hervorging: Ein Kartell Gothaer Journalisten traf sich zwischen 1778 und 1783 regelmäßig, um die Artikelarbeit zu koordinieren, sich wechselseitig zu kritisieren und zu inspirieren – und dieses Kartell ging entscheidend in der Gothaer Gruppe auf und führte dort seine bisher erprobten Praktiken fort, nunmehr allerdings im Rahmen der von Weishaupt etablierten Aufsatzpraxis des Illuminatenordens. Rudolph Zacharias Becker entfaltete kurz darauf, wie bereits dargestellt, von Gotha aus eine lebhafte publizistische Tätigkeit und machte den Orden dabei zu einer Plattform seiner Publizistik; im selben Moment bot er seine Zeitschriften dem Orden an, der von hier aus Preisfragen lancieren und damit Aufsatzthemen der breiten Öffentlichkeit vorlegen konnte, ohne als Geheimorden sichtbar zu werden. Andreas Golobs Untersuchung der Grazer Bauernzeitung offenbart, dass die Gothaer Projekte vom Illuminatenorden durchdrungen gewesen sein mochten – singulär waren sie jedoch nicht. Der Tagesjournalismus des 18. Jahrhunderts zeigte sich interessiert an einem intensiven Austausch mit seiner Leserschaft. Aufsätze zu schreiben und sie in den Zeitungen drucken zu lassen, war hier ein Geschäft mehrseitigen Nutzens: Publizistische Organe kamen an Content im Interesse der Leser, die wiederum die Blätter als ihre eigene Plattform nutzen konnten. Die Aufsatzpraxis von Journalen und anderen Periodika wurde, das zeigen die bisher genannten Beiträge, häufig von dahinterstehenden Gesellschaften getragen – von geheimen bzw. semi-geheimen wie den Illuminaten oder den Freimaurern ebenso wie vor allem von nicht geheimen. Dies gilt in noch weit größerem Maße als für das späte 18. Jahrhundert für dessen erste Hälfte. Hier waren vor allem die Akademien des 17. und frühen 18. Jahrhunderts und die ihnen um die Jahrhundertmitte nachfolgenden gelehrten Gesellschaften mit ihrer spezifischen

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Verflechtung mit dem journalistischen Bereich Träger und Multiplikatoren einer sich ausbreitenden Aufsatzpraxis. Das Zeitschriftenwesen des 17. Jahrhunderts war in der ersten Gründungswelle der 1660er und 1670er Jahre ein Vorstoß namhafter Akademien, zentrale, die zunehmende wissenschaftliche Produktion bewertende Medien in der Publikationsflut zu verankern. Ähnliches gilt für viele Periodika des frühen 18. Jahrhunderts, die im Umfeld gelehrter oder ‚deutscher‘ Gesellschaften entstanden und um die herum sich Praktiken der Bewertung und kollektiven Überprüfung eingereichter Beiträge entwickelten, die nicht von ungefähr an die heute noch in der Wissenschaft üblichen, ihre Tradition allerdings häufig zugunsten einer vermeintlichen Modernität und eines vorgeblichen Kulturtransfers („peer review“) verleugnenden Regularien erinnern. In der noch ungeschriebenen Geschichte des Aufsatzes erweisen sich somit der Wissenschaftsbetrieb und die Ausbreitung gelehrten Fachwissens als modellbildend. Dies zeigen anschaulich die Beiträge von Martin Urmann und ­Sebastian Kühn, die sich mit den Anstrengungen frühneuzeitlicher Wissenschaft auseinandersetzen, ihre eigenen Ergebnisse intern zu verarbeiten und zugleich nach außen hin über eine Praxis prämierter Preisfragen mit der Öffentlichkeit in Austausch zu treten. Wir finden hier ausgefeilte Erwägungen über den Status der individuellen Beobachtung gegenüber der konkurrierenden respektive der prinzipiell möglichen kollektiven Wahrnehmung, die im Moment neuer Erkenntnisse Revisionen verlangt. Wie wird die Beobachtung im Experiment oder auf einer Forschungsreise als tatsächlich von einem Individuum gemachte reklamiert? Welches Recht wird der gemachten Beobachtung gegenüber bestehenden Sichtweisen gegeben? Wie gewinnt die individuelle Sicht des Experimentators Recht auf Beachtung? – unter anderem dadurch, dass sie exakt protokolliert ist, und dass damit das gesamte Experiment universell nachvollziehbar wird. Aufsätze und Briefe erscheinen hier, so zeigt es der Beitrag Sebastian Kühns zu den naturforschenden Akademien um 1700, vor allem als Praktiken der Validierung im Kontext der sich formierenden Naturwissenschaft. Zugleich macht Kühn mit der dichten Beschreibung des komplexen Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in diesen Praktiken deutlich, dass es bei der Etablierung schriftlicher Aufsatzpraktiken keineswegs um die lineare Ersetzung oder Ablösung von Mündlichkeit durch Schriftlichkeit ging. Vielmehr waren, wie auch viele der anderen Beiträge mehr oder weniger explizit aufzeigen, Aufsatzpraktiken im 18. Jahrhundert fast immer durch eine gleichzeitige mündliche Komponente geprägt, sei es die vorausgehende Rede oder aber der spätere Vortrag. Interessant wäre in diesem Zusammenhang ein vergleichender Blick auf die Praktiken der im Laufe des 18. Jahrhunderts in London entstehenden Debating Societies gewesen, ein Beitrag dazu ließ sich jedoch im Rahmen dieses Bandes nicht realisieren.37 37 Vgl.

stattdessen Mary Thale, London Debating Societies in the 1790s, in: The Historical



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Der Beitrag, der die bisher vorwiegend am Ende des 18. Jahrhunderts beobachteten Praktiken in der Chronologie der Entwicklungen am weitesten zurück verlagert, ist derjenige Martin Urmanns, der den öffentlichen Preisausschreiben der großen französischen Akademien gilt. Mit den öffentlich ausgeschriebenen Wettbewerben der Académie française, aber auch verschiedener Provinzakade­ mien seit den 1670er und 1680er Jahren wurde nicht nur immer wieder die ganze Nation, wenn nicht die gesamte europäische Öffentlichkeit angesprochen, Aufsätze einzureichen. Bahnbrechend erscheinen im Rückblick vor allem die Rahmenbedingungen, die die Veranstalter mit ihren Ausschreibungen publik machten. Um sicherzustellen, dass die Juroren die Inhalte der eingesandten Schriften unparteiisch und objektiv beurteilten, wurden komplexe Maßnahmen der vorübergehenden Anonymisierung der Einsendungen implementiert. Frauen und Einsender niederen Standes gewannen so zuweilen Wettbewerbe. Mindestens so erstaunlich wie diese Form der auf die Gesellschaft ausgreifenden Republikanisierung des Betriebs der respublica literaria sind die Zahlen, die Urmann liefert: 2.300 Wettbewerbe mit insgesamt 12.000 bis 15.000 Teilnehmern für Frankreich bis 1794. Sie machen klarer, weshalb Zeitschriften und Gesellschaften sowie im späteren Verlauf auch, aus dem Geheimen heraus, der Illuminatenorden Preisausschreiben zu eigenen Kommunikationsplattformen im Austausch mit der Öffentlichkeit ausbauten. In deutlich kleinerem Maßstab wirkten aber auch die Gelehrten bzw. Deutschen Gesellschaften des früheren und mittleren 18. Jahrhunderts in Deutschland als Katalysatoren und Multiplikatoren einer sich entfaltenden Aufsatz- respektive Essaypraxis. Wie Nina Hahne in ihrem Beitrag zum „Rede-Essay als Selbsttechnik“ am Beispiel der Leipziger „Deutschen Gesellschaft“ zeigt, ermöglichte dies ebenso wie die französische Praxis des anonymisierten Wettbewerbs auch weiblichen Mitgliedern, sich mit eigenen Reden am Leben der Gesellschaft zu beteiligen und diese auch in schriftlicher Form anschließend zu publizieren. Von den Akademien des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts über die „Deutsche Gesellschaft“ und die von Martin Mulsow in seinem Beitrag behandelte „Gemeinnützige Privatgesellschaft“ in Gotha bis hin zur Wiener Loge „Zur wahren Eintracht“, die ihrerseits wie eine gelehrte Gesellschaft oder Akademie agierte und auch von außen als solche betrachtet wurde, zieht sich wie ein roter Faden eine Beobachtung, die sich mit etlichen, hier nicht behandelten Beispielen wie dem der berühmten, von 1783 bis 1798 bestehenden Berliner Mittwochgesellschaft fortführen ließe38 und letztlich zumindest parJournal 32/1 (March 1989), 57–86; Donna T. Andrew (Hg.), London Debating Societies, 1776– 1799, London 1994. 38 Es ist den Herausgebern trotz nachdrücklicher Bemühungen nicht gelungen, Beiträge zu einigen als Desiderat empfundenen bzw. erkannten Feldern und Beispielen von Aufsatzpraktiken zu gewinnen. Kurze Hinweise zur Praxis der Berliner Mittwochsgesellschaft finden sich aber in den Beiträgen von Markus Meumann und Martin Mulsow. Neben dieser und der oben

24 Einleitung

tiell auch für die Aufsatzpraktiken des Illuminatenordens zutrifft: Gelehrte (in einem weiten Wortsinn) Sozietäten und die von diesen unterhaltenen und mit den Produkten ihrer Aufsatz- und Vortragspraktiken alimentierten, in der Regel periodischen Publikationen boten originär gelehrten Erzeugnissen einen zunehmend öffentlichen Raum und popularisierten diese damit. In diesem Konnex ist somit zweifellos eine wesentliche Quelle für die Entstehung und Ausbreitung von Aufsatzpraktiken im 18. Jahrhundert zu sehen. Der von Nina Hahne im Rückgriff auf Foucaults späte Schriften zur Hermeneutik des Subjekts betonte Aspekt des Essays als Medium der Subjektivierung deutet darüber hinaus auf einen Aspekt außerhalb gelehrter, ‚wissenschaftlicher‘ Praktiken hin, der die im späten 18. Jahrhundert im Illuminatenorden wie im Schulwesen zu beobachtenden Ansprüche an die Veränderung des Individuums durch das Verfassen von Aufsätzen zu prägen scheint. Konfessionelle Praktiken der Selbstvergewisserung und Selbstrechtfertigung spielen in die aufgeklärte Pädagogik am Ende des 18. Jahrhunderts überall dort hinein, wo Aufsatzpraktiken zum Thema werden. Markant wird das insbesondere dort, wo sich diese auf Interaktionen zwischen zentralen Organisationen und Individuen mit einem hohen Interesse an der moralischen Dimension bezeigter Individualität ausrichten. Es gehört zum Schulaufsatz wie zum Aufsatz, der im Illuminatenorden oder der Freimaurerei verfasst wird, dass er von der Gesinnung und der moralischen Integrität seines Verfassers zeugen soll – eines Verfassers, der anbei garantieren muss, dass dieser Beitrag seine persönliche Sicht widerspiegelt, mithin das Ergebnis eines eigenständigen individuellen Denkprozesses ist, auch wenn die Themen nun nicht mehr spiritueller, sondern zunehmend säkular moralischer, historischer und gesellschaftlicher Natur sind.39 Die interessanten Fragen bezüglich dieser Traditionslinie lauten: Wie organisierten die christlichen Konfessionen individuelle Bekenntnisprozesse im Verlauf der frühen Neuzeit? Welche Rolle spielte dabei das schriftliche (ebenso wie das coram publico vorgetragene mündliche) Bekenntnis? Inwieweit hatten diese Praktiken eine gemeinschaftsbildende oder auch kontrollierende Funktion? Wurden dabei auch grundsätzliche ethische und religiöse Fragestellungen thematisiert? Welche Linie führt, verkürzt gesprochen, vom affirmativen erwähnten „Prüfenden Gesellschaft“ zu Halle (wie Anm. 27) ist die von Joachim Georg Darjes in den 1750er Jahren gegründete „Geschlossene Gesellschaft“ ein weiteres interessantes Beispiel einer mit einem Journal, der Jenaischen Philosophischen Bibliothek, verbundenen Sozietät. Siehe dazu Günter Dörfel, Joachim Bauer, Gelenkte Kommunikation – Die geschlossene Gesellschaft des Joachim Georg Darjes und ihr Kommunikationsorgan, die jenaische philosophische Bibliothek, in: Klaus-Dieter Herbst, Stefan Kratochwil (Hg.), Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main u. a. 2009, 253–271. 39 Dies gilt offensichtlich auch für die Aufsätze der Gold- und Rosenkreuzer, in denen die Mitglieder aufgefordert waren, eigenständige Sichtweisen auf alchemistische Anleitungen zu entwickeln (vgl. Anm. 36).



Aufsatzpraktiken (nicht nur) im 18. Jahrhundert 25

religiösen Bekennen zum ‚Besinnungsaufsatz‘ als intendiertem Instrument der Charakterbildung?40 Der vorliegende Band stellt sich diesen Fragen mit zwei Beiträgen aus dem protestantischen Bereich, genauer aus dem Umfeld religiöser Gemeinschaften, die sich von den Amtskirchen lossagten und von daher verstärkt auf die Kommunikation von Anschauungen, Konversions- und Bekenntnissituationen setzten. Lucinda Martin untersucht in diesem Zusammenhang Netzwerke der philadelphischen Bewegung des frühen 18. Jahrhunderts, die in besonderem Maße auf die briefliche Kommunikation setzten, die einerseits der Bestärkung und Selbstvergewisserung der Gemeinschaft diente, in der aber andererseits auch Konflikte und Abgrenzungen ausgetragen wurden. Barbara Becker-Cantarino nimmt die Praxis des Verfassens von Lebensberichten in herrnhutischen Gemeinschaften in Nordamerika in den Blick. Diese weisen deutliche Zeichen der redaktionellen und lenkenden Eingriffe der Führungen in den Exilgemeinschaften auf. Man sorgte dafür, dass die persönlichen Lebensberichte die anvisierte Ausrichtung gewannen und damit die Glaubensfestigkeit ihrer Verfasserinnen und Verfasser dokumentierten, und half nötigenfalls bei deren Abfassung steuernd nach. Noch deutlicher wurden diese Aspekte wahrscheinlich in schriftlich abgefassten Konversionsberichten, in denen die Konvertierten ihre Gründe – äußere wie innere – für diesen Schritt darlegen mussten. Trotz intensiver Bemühungen ist es uns jedoch nicht gelungen, einen eigenen Beitrag für den tieferen Einblick an dieser Stelle zu gewinnen. Dasselbe gilt für die Unterrichtspraxis der Societas Jesu, die im Kontext dieses Bandes nicht nur von Interesse gewesen wäre, weil der Gründer des Illuminatenordens, Adam Weishaupt, das jesuitische Bildungswesen durchlaufen hatte und nachweislich viele jesuitische Elemente – darunter womöglich auch den Aufsatz? – übernommen hatte, sondern weil die Wettbewerbspraktiken, die wir in der Aufsatzpraxis der Akademien seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert beobachten können und die in der Spätaufklärung sowohl in der Preisfrage als auch im Schulaufsatz virulent werden, bereits in der Ratio Studiorum der Jesuiten von 1599 erwähnt sind und – darauf macht Martin Urmann in Anlehnung an Jeremy Caradonna in seinem Beitrag aufmerksam41 – in den Klassen der Jesuiten und Oratorianer in Frankreich im 17. Jahrhundert weit verbreitet waren.

40 Die

Rede vom „Besinnungsaufsatz“ geht zurück auf die nationalsozialistisch gefärbte Pädagogik der 1930er und 40er Jahre, vgl. dazu Ludwig, Schulaufsatz (wie Anm. 13), 363–415, bes. 375 ff. und 391–398. 41 Jeremy L. Caradonna, The Enlightenment in Practice: Academic Prize Contests and Intellectual Culture in France, 1670–1794, Ithaca, London 2012.

26 Einleitung

IV. Vom Concours académique zu Quora – Überlegungen zur einer erst noch zu schreibenden Geschichte der institutionellen Ausgestaltung moderner Aufsatzpraktiken Am Ende verweist der vorliegende Band somit vorwiegend auf Forschungs­ desiderate. Seine Beiträge bieten eher einen Ansatz zur aufgefächerten, auf die Traditionen der Praktiken ausgerichteten Genealogie von Aufsatzpraktiken im 18. Jahrhundert als deren Geschichte im Sinne einer genauen historischen Rekonstruktion. Dass der Fluss der Praktiken indes besteht, das legt das thematische Cluster am Ende dieses Bandes mit seinen sehr dezidierten Nachweisen von Traditionsübernahmen und Weitergaben rund um den Illuminatenorden mehr als nahe. Bestenfalls antippen kann dieser Band die Fragen, die sich im Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert von hier aus stellen. Die Beiträge versammeln, ohne dass dies intendiert war, Perspektiven auf Problemstellen. Der Aufsatz macht, das dürfte an dieser Stelle ein Fazit sein, das einen eigenen theoretischen Ansatz verlangt, von Anfang an Karriere als eine fragwürdige Praxis, eine Praxis inhomogener, wenn nicht widersprüchlicher Zielsetzungen und unterschiedlicher Stellschrauben, die sehr unterschiedliche Justierungen erlauben. Zugleich dürfte sich die gesamte Praxis gerade deswegen den Bildungssystemen in ihrem Wettstreit um Konzepte der Bildung, der Erziehung und der Charakterentwicklung angepriesen haben. Wir begegnen hier einer von Anfang an reparatur- und reformbedürftigen Praxis, die komplexe Rollenverteilungen und breite soziale Interaktionen zulässt. Rollen sind dabei nicht nur die des Schreibenden und die des Themenstellers. Zum Aufsatz gehört die interne und externe Öffentlichkeit, die Institutionen sehr unterschiedlich herstellen – Schulaufsätze wie universitäre Seminararbeiten verbleiben regulär unter einem Schutz der Privatsphäre zwischen ihren Verfassern und den jeweiligen Bewertern. Sekundäre Diskurse produzieren Bildungsansprüche und Forschungsfragen. Expertendiskurse, wie die Didaktik und die Pädagogik, die Wissenschaftstheorie und die politische Theorie produzieren Lehrpläne und Zielvorgaben, wenn nötig in internationalen Abstimmungsprozessen zwischen nationalen und föderalen Bildungsanbietern – doch ebenso oft in einem großen Wettbewerb der Systeme um die Unterstützung des sich hier artikulierenden Individuums. Wir begegnen also einer Praxis, die über das 18. Jahrhundert hinaus mit einer eminenten – über die Schulsysteme sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung präsenten wie ihr gleichzeitig entzogenen – Produktion fortlebt. Noch kaum untersucht in ihrer Beziehung zum Aufsatz sind dagegen die neuen produktiven Internetplattformen. Wikipedia, die Onlineenzyklopädie, verweigerte sich dem Aufsatz geradezu systemisch, wenn sie auf dem enzyklopädischen Artikel bestand, der keinen nominellen Autor hat, keine eigenständige Forschung aufweist und keine individuelle Perspektive zeigen darf – die interne „Neutral Point of



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View“ (NPOV) Vereinbarung. Man produziert kollektiv Artikel, deren enzyklo­ pädischer Relevanz ein eigenes großes internes Regelwerk Rechnung trägt. Plattformen, in denen der Aufsatz fröhliche Urstände feiert, etablierten sich – bislang weitgehend unvermerkt – am Rande der Enzyklopädie. Ein guter Teil der Wikipedia-Autorschaft profiliert sich gleichzeitig auf der 2010 gegründeten Plattform Quora (www.quora.com), die gerade der individuellen Beantwortung der beliebigen Frage größte kollektive Beachtung schenkt – primär die Beachtung eines Binnenkollektivs, das die Plattform zu diesem Zweck in einen internen Austausch versetzen und bis zu einem gewissen Grad füttern muss, etwa mit der Einführung spektakulärer Gastautoren. Die Mitspieler können hier entweder Fragen stellen oder im kollektiven Wettbewerb beantworten. Sie können Darlegungen positiv oder negativ bepunkten, doch hinterlassen auch ihre „views“, ihre effektiven Lektüren, ein Ranking. Die Aufgabe des Geheimordens bzw. des ‚Unbekannten Oberen‘ übernehmen im Computerzeitalter Algorithmen und von den namhaften Social Media entlehnte Erfolgsrezepte: Interessante Autoren können Tausende an ‚Followern‘ gewinnen, die ihrerseits sodann Bewertungen verschieben. Geheimen Algorithmen müssen solchen Verzerrungen gegensteuern, um sicherzustellen, dass auch neue interessante Antworten noch privilegiert sichtbar werden können. Die Themen, die sich die Community im Interesse der möglichst spannenden und kontroversen, aber auch immer wieder der fachlich instruktiven Information stellt, reichen von Politik und Gesellschaft, Religion und Atheismus über persönliche und intime Erfahrungsbereiche bis zu all den Themen, die offenbar in internationalen Schul- und Universitätssystemen soeben gestellt werden. Massive verdeckte Optimierungsstrategien griffen in den vergangenen sechs Jahren in das virtuelle Gefüge ein: Wie stellt man sicher, dass dieselben Fragen nicht laufend wieder gestellt werden? Wie garantiert man, dass die Fragen an die gelangen, die die interessantesten Antworten auf sie geben? Wie stellt man sicher, dass die Website interessante Antworten unter zuweilen hunderten prominent platziert? Wie weit gelingt es denen, die die Website betreiben und ihre Spielregeln unter der Hand festlegen, eine sich selbst erhaltende und erweiternde Community aufzubauen, deren Interaktion am Ende den Marktwert der Plattform ausmacht, an dem hinter den Kulissen permanent gearbeitet wird? Die Stellschrauben, an denen sie arbeiten, sind nicht neu – sie sind die alten Stellschrauben, die Wettbewerb generieren, zur Selbstoffenbarung in einer Erörterung von Fragen Anlass geben, eine Balance zwischen interner und externer Öffentlichkeit herstellen, Befriedigung herstellen im organisierten komplexen Interessengefüge. Der Aufsatz ist, das könnte das weiter ausgreifende Fazit dieses Bandes sein, weniger eine Textgattung denn eine sich auf das Individuum und öffentlich gehandhabte Themen ausrichtende Praxis, die einen neuen Kontrakt inszeniert: den Kontrakt, den moderne, tendenziell demokratische Konsumgesellschaften mit dem Individuum schließen, wo ihre Vorgänger sehr viel eher auf Kollektiv-

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kontrakte mit Konfessionen und Ständevertretungen setzten. Produktivität und die Bereitschaft, persönlich verantwortlich Stellung zu beziehen, werden Parameter der neuen Praxis, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen im Interesse deutlich unterschiedlicher Rollengefüge und deutlich unterschiedlicher sozialer Wahrnehmungen unterschiedlich entfaltet. Dass der Aufsatz von Anfang an eine bedrohte, in ihren praktischen Organisationsformen bedrohliche Leistungsanforderung ist, disqualifizierte ihn offenbar nicht. Vielmehr privilegierte es ihn – in seiner unbehaglichen Zweischneidigkeit zwischen objektivierbarer sachorientierter Darlegung und persönlichem Bekenntnis – zu seiner Karriere in Organisationsgefügen, die produktiv sein wollen und sich der Reform laufend stellen müssen. Die Gattung, die unter diesen Bedingungen vor allem in den Bildungssystemen Karriere machte, die Praktiken und Leistungsdruck relativ unangefochten implementieren können, verlor mit der Wende ins 19. Jahrhundert an Anspruch. Der Essay und der beliebige Artikel des Journalisten oder Bloggers überleben in den freien öffentlichen Debatten, die sich außerhalb der aufklärerischen Bildungsansprüche emanzipieren. Hier weist der vorliegende Band am Ende auf die sich früh abzeichnenden Aspekte des partiellen Scheiterns der erfolgreichen Praxis hin, ohne diesen weiter nachgehen zu können – liegen diese doch jenseits des 18. Jahrhunderts respektive der Aufklärung. * * *

Am Schluss ist es uns ein Anliegen, Dank zu sagen: Der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Ernst-Abbe-Stiftung für die großzügige Förderung der Konferenz, aus deren Beiträgen dieser Band im Wesentlichen hervorging, sowie der Forschungsbibliothek Gotha und deren Freundeskreis, die uns dabei ihre Gastfreundschaft bewiesen. Dankbar sind wir sodann den Herausgebern der Aufklärung für die Möglichkeit, die Tagungsbeiträge in einen Schwerpunkt des Jahrbuchs zu überführen. Ein besonders herzlicher Dank gilt im Anschluss daran Marianne Willems für die sorgfältige Redaktion der Beiträge und ihre Geduld, die von den Herausgebern auf eine harte Probe gestellt wurde. Die Erforschung des Illuminatenordens wurde, bevor sie vor einigen Jahren in Gotha eine neue und hoffentlich dauerhafte Heimat fand, zuletzt vor allem in Halle am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung unter der Leitung von Monika Neugebauer-Wölk vorangebracht, die von 2002 bis 2010 zum Herausgeberkreis der Aufklärung gehörte. Es ist daher aus unserer Sicht ein schöner Zufall, dass dieser Band des Jahrbuchs, der in mehreren Beiträgen die Aufsatzpraxis der Illuminaten beleuchtet, nur wenige Wochen, nachdem Monika Neugebauer-Wölk ihren 70. Geburtstag beging, erscheint. Er sei ihr daher zu diesem Anlass nachträglich gewidmet. Markus Meumann, Olaf Simons

A BH A N DLU NGEN

Jens Nagel Schulrhetorik an Gymnasien um 1700 Die öffentlichen Redeakte zwischen Meritokratie und Repräsentation

„Daß er ohne Ansehen der Person die discipulos […] treulich informire“.1

Am 3. April des Jahres 1709 standen sieben Schüler des Eisenacher Gymnasiums im Auditorium des ehemaligen Dominikanerklosters, welches seit der Reformationszeit als Schulgebäude diente, bereit, an der Inszenierung des finalen Auftritts ihres Schülerlebens, dem actus valedictorius, teilzunehmen. Jeder einzelne von ihnen hatte im Vorfeld eine eigene Rede zu einem vorgegebenen Thema ausgearbeitet und auswendiggelernt. Geleitet hat die Veranstaltung der Direktor der Schule Christian Juncker (1668 – 1714), ein gefragter Gelehrter mit einer Vorliebe für politische Zeitgeschichte und hervorragenden Kontakten nicht nur zu den sächsischen Fürstenhöfen in Eisenach, Gotha, Zeitz, Römhild und Meiningen,2 sondern auch den führenden Köpfen der res publica literaria.3 Jahr für Jahr zur Osterzeit führte er mit den Kollegen des Eisenacher Gymnasiums diese auch an anderen Schulen üblichen, ‚Valediktionsakt‘ genannten Zeremonien durch, um der Öffentlichkeit die Leistungsfähigkeit seiner Schule zu demonstrieren und eine Gruppe von Schülern aus der Schule zu entlassen. Die Schüler, die sich an diesem Aprilmittwoch, zwei Tage nach Ostern, präsentieren durften, stammten aus allen Schichten der Gesellschaft. Neben drei Söhnen von Hof- und Geheimräten aus dem gesamten mitteldeutschen Raum 1 Aus der Dienstanweisung für den Schuldirektor Christian Juncker, 1707. Stadtarchiv Eise­ nach, Bestand B XXVI, C 11 Bd. 1, 9. 2 Juncker wurde regelmäßig zu stündlichen Audienzen bei den Fürsten dieser Häuser eingeladen. Vgl. Anonymus, Das Ehren-Gedächtnis des berühmten Polyhistoris Hn. Christian Junckers Dresdensis weyland Hochfürstl. Sächs. gesammten Historiographi Des Fürstl. Gymnasii zu Altenburg Directoris Der Königl. Preuß. Societät der Wissenschaften wie auch Societatis Caritatis & Scientiarium Mit-Glied in welchen dessen Gelehrsamkeit Leben Tod und Schriften kürtzlich entworffen von einem ietztberührter Societ. Caritat. & Scientiar. Adjuncto. Schleusingen [nach 1714], 10 f. 3 Zu seinen Briefkontakten zählten u. a. Leibniz, Hiob Ludolf (1624 – 1704), Andreas Lazarus von Imhof (1656 – 1704), Valentin Ernst Löscher (1673 – 1749), Tobias Pfanner (1641 – 1716), Johann Christoph Wagenseil (1633 – 1705), Burkhard Gotthelf Struve (1671 – 1738) und Wilhelm Ernst Tentzel (1659 – 1707). Vgl. Anonymus, Ehrengedächtnis (wie Anm. 2), 10, 17.

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128

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hatten auch ein Pastorensohn, ein Zimmermannssohn sowie die Sprösslinge einer lokalen Händlerfamilie und eines Bauern das Recht – oder die Pflicht –, ihre auf der Schule erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten auf der Rednertribüne unter Beweis zu stellen. Mit Hilfe von gedruckten Schulprogrammen und wahrscheinlich ausgiebiger Mundpropaganda hatte der Schuldirektor die höchsten Würdenträger der Eisenacher Stadtgesellschaft sowie des Fürstenhofes über die bevorstehende Zeremonie in Kenntnis gesetzt und „unterthänig, dienstfertig und wohlgeneigt“4 eingeladen, daran teilzunehmen. Zwar kann nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden, dass all diese „Mäzene, Gönner und Patronen der schönen Künste“5 auch kamen, wahrscheinlich ist aber, dass sie sich durchaus für derartige Veranstaltungen interessierten. Denn viele von ihnen waren nicht nur potentielle Arbeitgeber auf der Suche nach fähigem Nachwuchs oder die Finanziers von Schule und Schülerstipendien, sondern auch die stolzen Eltern der Schüler, selbst ehemalige Schüler oder vielleicht sogar all dies gleichzeitig. In einer mittleren Residenzstadt wie Eisenach erfüllten die gymnasialen Rede­ akte eine wichtige soziale und schulische Funktion. Nur zu wenigen Gelegenheiten im Jahresverlauf des städtischen Lebens saßen adelige, bürgerliche und klerikale Eliten so einträchtig im selben Saal beisammen wie hier, wo es die Entwicklung des Nachwuchses zu begutachten galt. Für die Schüler selbst – so eine vorläufige These – konnte ihr Auftritt über Wohl und Wehe des zukünftigen Karrierewegs entscheiden. Gleichzeitig waren sie aber in eine hierarchische Gemeinschaft eingebunden, die beständig nach Repräsentation und Festigung ihrer sozialen Ordnung strebte. Es stellt sich daher die Frage, in welchem Verhältnis sich diese beiden parallel nebeneinander bestehenden Systeme, Beförderung nach Leistung und Patronage, die Waage hielten, welche Karrierewege offen standen und welche vorgezeichnet waren. Im Kontrast zu der hier skizzierten Bedeutung der Redeakte für die Gesellschaft der Frühen Neuzeit steht ein vergleichsweise dürftiger Forschungsstand. Mit dem Themenfeld der Rhetorik der Frühen Neuzeit allgemein hat sich zwar die Literaturwissenschaft mittlerweile ausgiebig auch in umfangreichen Monographien beschäftigt,6 doch über die tatsächlichen Praktiken, Inhalte, Funktionen und Kontexte des öffentlichen Redens, und insbesondere über die Schulrhetorik, gibt nur eine kleinere Zahl von Aufsätzen Auskunft. Zu den ältesten Arbeiten über Schülerreden gehören die bereits in den Jahren 1907, 1908 und 1909 vom Gothaer Schuldirektor Max Schneider vorgelegten Zu4 Submisse,

perofficiose amiceque. Christian Juncker, [Schulprogramm] IX. Miscellanea Cvriosa ex Historia Ciuili Gallica nostri temporis, Eisenach 1709, Titelseite. 5 Mecoenates omnes, Patronos Fautoresque bonarum litterarum, ebd. 6 Immer noch maßgeblich: Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970. Außerdem: Dietmar Till, Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2004.



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sammenstellungen der Themen der Schülerreden am gothaischen Gymnasium illustre Ernestinum.7 Schneider beschränkte dabei seine eigenen Ausführungen auf ein Minimum und konzentrierte sich auf die bloße Nennung der Themen, die er den ihm verfügbaren gedruckten Einladungsprogrammen entnommen hatte. Tatsächlich ausformulierte Schülerreden und andere Quellen, die eine Kontextualisierung seines Materials erlaubt hätten, standen Schneider anscheinend nicht zur Verfügung. Für weiterführende Forschungen dennoch interessant ist seine Erkenntnis, dass nach dem Ausscheiden des pietistischen Direktors Gottfried Vockerodt (1665 – 1727) aus dem Dienst im Jahr 1727 ein erheblicher Wandel in der Themenauswahl stattfand, was Schneider als „gewaltigen Fortschritt“8 wertet. Unter dem neuen Rektor Johann Heinrich Stuß (1685 – 1775) habe sich der Schwerpunkt der Inhalte in Richtung Naturwissenschaft und Geschichte, „namentlich der Zeitgeschichte und zwar aller Kulturländer,“9 hin verlagert. Erst im Jahr 2013 konnte dann Andreas Lindner doch noch 26 handschriftliche Schülerreden aus dem Gothaer Gymnasium ausfindig machen.10 In seinem Beitrag über „Bildungsfrüchte“ im Ausstellungskatalog „Gotha macht Schule“ behandelt er dieselben als den „einzige[n] öffentliche[n] Reifenachweis von Abgängern“.11 Hinweise darauf, dass es sich bei den Schülerreden um eine verbindliche Form der Abschlussprüfung gehandelt haben könnte, nennt er allerdings nicht. Denn gegen Schüler, die frühzeitig von der Schule abgehen wollten, „drohte die Gothaer Ordnung […] mit keinerlei Sanktionen“.12 Einige Schritte über die von Schneider geleistete bloße Erfassung der Themen hinaus ging Arthur Gerstenhauer, der 1907 die Schulrhetorik der Naumburger Stadtschule zwischen ca. 1600 und 1800 untersuchte.13 Gerstenhauer erkennt einen Vorläufer der Valediktionsreden in den Schulkomödien, die bis zu ihrer   7 Max

Schneider, Die Themata der öffentlichen Schülerdisputationen am Gymnasium Illustre zu Gotha im 17. Jahrhundert, in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungsund Schulgeschichte 18 (1907), 142 – 148. Ders., Die Themata der von Schülern des Gymnasium Illustre zu Gotha 1693 – 1727 öffentlich gehaltenen lateinischen Reden, in: Mittteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 19 (1908), 13 – 24. Ders., Die Themata der von Schülern des Gymnasium Illustre zu Gotha 1728 – 1765 öffentlich gehaltenen Reden, in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 19 (1909), 1 – 15.   8 Schneider, Themata 1728 – 1765 (wie Anm. 7), 2.   9 Ebd. 10 Andreas Lindner, Bildungsfrüchte. Valediktionen als Spiegel des Selbstverständnisses schulischer Bildung, in: Sascha Salatowsky (Hg.), Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke, Gotha 2013, 32 – 39, hier 35. 11 Ebd. 12 Lindner, Bildungsfrüchte (wie Anm. 10), 34. 13 Arthur Gerstenhauer, Die Geschichte der ehemaligen Ratsschule zu Naumburg a. S. Themata von Schülerreden nebst Einleitung über Schulkomödien und Redeaktus, in: Beilage zum Jahresbericht des städtischen Realgymnasiums mit Realschule zu Naumburg a. S., Naumburg 1910, 1 – 36.

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Ablösung um 1700 die Hauptgelegenheit für öffentliche Auftritte der Schüler geboten hätten, und macht für deren Niedergang den Pietismus verantwortlich.14 Es sei die Zeit gewesen, „da der Pietismus voll fanatischen Hasses gegen weltliche Vergnügungen jeder Art loszog“.15 Darüber hinaus bezweifelt Gerstenhauer, „ob der Nutzen der öffentlichen Redeübungen wirklich dem darauf verwandten Fleiß von Lehrern und Schülern entsprach“,16 und meint, dass die Reden „oft wenig selbstständig gewesen“ seien, sondern dass vielmehr die Rektoren bei der Abfassung „gewiß viel“ nachgeholfen hätten.17 Wie Gerstenhauer behandelt auch Walther Ludwig Schultheater und Valediktionsaktus als funktionsverwandte Aufführungsformen.18 Ludwig konnte bei seinen Recherchen auf einen bislang einzigartigen Quellenbestand zurückgreifen: Im Stadtarchiv der freien Reichsstadt Schwäbisch-Hall fand er u. a. die Protokolle des Scholarchats, der ‚obersten Schulaufsichtsbehörde‘, in denen die Mitglieder dieses Gremiums ihre Beobachtungen und Bewertungen zu den Valediktionen niederschrieben.19 Der Bestand stammt aus den Jahren 1614 bis 1701. Nach Analyse dieser Handschriften zweifelt Ludwig nicht an der Funktionalität der Schülerreden. Er hält sie für eine Form der Abschlussprüfung,20 sieht in ihnen sogar ein Instrument der „Gesinnungsschulung“21 und folgert: „Wer um 1700 das Haller Gymnasium nach einer erfolgreichen oratio valedictoria verließ und vom Scholarchat ‚dimittirt‘ wurde, um eine Universität aufzusuchen, war daran gewöhnt, lateinische Reden zu hören, zu verfassen und memoriter vorzutragen“.22 Dankenswerterweise hat Ludwig seiner Darstellung auch umfangreiche Quellenexzerpte beigefügt, die interessante Einblicke in die Bewertungspraxis der Abschlussreden zulassen. Hauptsächlich mit den Gestaltungskriterien der Schulrhetorik am Zürcher Collegium Carolinum hat sich Robert Seidel beschäftigt. In seiner 2012 erschienen Studie „Konservative Reformer“23 untersucht er zwei Anfang des 18. Jahrhunderts erschienene Rhetoriklehrbücher und vergleicht ihren Aufbau mit eini­ 14 Ebd., 15 Ebd.

16 Ebd.,

8.

12. 11. 18 Walther Ludwig, Deklamationen und Schuldramen im 17. Jahrhundert – das Beispiel des Gymnasium der Reichsstadt Schwäbisch-Hall, in: Bianca Jeanette Schröder, Jens-Peter Schröder (Hg.), Studium declamatorium. Untersuchungen zu Schulübungen und Prunkreden von der Antike bis zur Neuzeit, München, Leipzig 2003 (Beiträge zur Altertumskunde 176), 335 – 372. 19 Stadtarchiv Schwäbisch-Hall, Ev. Dekanat Archivinventar Nr. 22, Bd. 1: 1614 – 1656, Bd. 2: 1657 – 1701. Zitiert nach Ludwig, Deklamationen (wie Anm. 18), 336, die Exzerpte: 350 – 365. 20 Ludwig, Deklamationen (wie Anm. 18), 344. 21 Ebd., 349 22 Ebd., 350. 23 Robert Seidel, Konservative Reformer – Johann Heinrich Hirzel, David Holzhalb und der Rhetorikunterricht am Zürcher Collegium Carolinum zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Hans17 Ebd.,



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gen traditionelleren Publikationen. Seine abschließende These lautet, dass die Autoren mit ihren ‚Innovationen‘ eher versucht hätten, die traditionelle OfficiaSystemrhetorik der antiken Tradition wiederherzustellen und an die didiaktischen Bedürfnisse des neuen Jahrhunderts anzupassen, als ein wirklich neues rhetorisches System zu erschaffen; nicht einmal eine auch nur „partiell avantgardistische Tendenz des gelehrten Unterrichts“ sei „in Bezug auf Rhetorik und Poetik am Carolinum zu erkennen“.24 Dass es sich bei der Schulrhetorik um einen Vorgänger des Schulaufsatzes handelt, ist plausibel und scheint in der derzeitigen Forschung allgemein akzeptiert. Im Artikel „Aufsatztheorie“ des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik heißt es hierzu, dass der Aufsatzunterricht mit dem „Einüben von Sachverhaltsdarstellungen“ die „Tradition der Schulrhetorik“ fortsetze; allerdings sei „der Adressatenbezug von Sachverhaltsdarstellungen im Zuge der Ablösung des Deutschunterrichts von der Schulrhetorik zunehmend vernachlässigt worden“.25 Einschränkend fügt der Autor noch hinzu: Die rhetorische Überlieferung ist weder die einzige Tradition, an die sich das schriftsprachliche Gestalten in der Schule anschließt, noch bleibt die Funktion von Inhalten und Methoden des rhetorischen Unterrichts bei der Übertragung auf das schriftliche Gestalten im muttersprachlichen Unterricht erhalten. […] Die Schulrhetorik ist der Vorläufer des Aufsatzes. Jedoch sind nicht alle Formen der Rhetorik in die Aufsatzlehre übernommen worden und nicht alle Prämissen des schriftlichen Aufsatzes stammen aus der Rhetorik.26

Eine Sonderform des Schulaufsatzes im 19. und 20. Jahrhundert bildet der Abituraufsatz. Da die Valediktionsrede nach Haueis ein Vorläufer desselben war, bislang aber nicht geklärt wurde, ob sie auch all seine Funktionen erfüllte, stellt sich die Frage, ob man in den Schülerabschiedsreden der Frühen Neuzeit auch eine Art Abschlussprüfung sehen kann, die einem Schüler den sozialen Aufstieg durch eigene Leistung ermöglichte. Mit anderen Worten: Es fragt sich, ob dem Schulwesen der Epoche auch ein ‚meritokratischer‘ Zug innewohnte. Diese Frage konnte bislang aufgrund der schlechten Quellenlage nicht beantwortet werden, da die Quellengattungen, die erhalten geblieben sind, von Archiv zu Archiv variieren – wie auch der sehr spezielle Fund von Walther Ludwig gezeigt hat. Die systematische Analyse einer größeren ‚Bildungslandschaft‘ und die Verknüpfung der unterschiedlichen Erkenntnisse wäre allein schon wegen dieser variablen Quellenlage wünschenswert, denn in großer Zahl überliefert sind nur die gedruckten Ankündigungen der öffentlichen Redeakte, RhetorikPeter Marti, Karin Marti-Weissenbach (Hg.), Reformierte Orthodoxie und Aufklärung. Die Züricher Hohe Schule im 17. und 18. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2012, 165 – 188. 24 Ebd., 188. 25 Eduard Haueis, Artikel ‚Aufsatzlehre‘, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tübingen 1992, 1251. 26 Ebd.

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lehrbücher und Lektionsverzeichnisse. Was bisher fehlte, sind dagegen Quellen, die es erlauben, die Schülerreden mit der konkreten Biographie der Schüler oder zumindest ihrer sozialen Herkunft in Verbindung zu setzen. Ein einzigartiger Quellenbestand des Stadtarchivs Eisenach bietet daher nun eine hervorragende Ergänzung der bisherigen Forschungen, die es erlaubt, diesen weiterführenden Fragekomplex an die Schülerreden heranzutragen. Der Bestand enthält in fünf Archivkartons insgesamt 119 handschriftlich ausformulierte Reden Eisenacher Schulabgänger; dazu sind Lektionsverzeichnisse, verschiedene obrigkeitliche Erlasse und die gesamte Matrikel der Schule erhalten.27 In letzterer sind – und dies ist ein besonderer Glücksfall der Überlieferung – auch das Alter, die Herkunft und sogar der Beruf des Vaters verzeichnet. Allerdings umfasst dieser Bestand nur die Jahre 1707 – 1713, die Zeit also, in der Christian Juncker Schuldirektor war. Das liegt daran, dass Juncker in einem ziemlich einzigartigen Akt der absichtlichen Überlieferung persönlich dafür gesorgt hatte, dass all seine Unterlagen dauerhaft in der Schulbibliothek aufbewahrt wurden, von wo aus sie später in das Stadtarchiv gelangten. Auf die Innenseite des Kartondeckels des ersten Bandes hat er mit eigener Hand notiert: Nota: Dieses Volumen Actorum Gymnasii Isenacensis verbleibet dem Gebrauch der Nachkommen, in specie eines iedesmahligen Rectoris desselben, eigen, dahero es auch zu desto gewißern Verwahrung der Bibliothecae publicae des Gymnasii übergeben wird, mit dem bedinge, daß es werde niemandem, Hohe Obrigkeit & Patronos Ordinarios außgenommen, gezeiget, viel weniger zu einigem Gebrauch außer der Rectorats- oder Bibliothec- Stube iemandem communicirt werde.28

Dank des ungewöhnlichen Überlieferungswillens Junckers, von dem es in seiner Lebensbeschreibung heißt, dass sein „Haupt-Studium die Historia“29 gewesen sei, können wir nun die historischen Schülerreden in einen wesentlich breiteren Kontext einordnen und insbesondere der Frage nach ihrem ‚meritokratischen‘ Charakter intensiver nachgehen. Das geschieht im Folgenden in fünf Schritten. Als erstes gilt es zu beschreiben, in welchem organisatorischen Rahmen Schülerreden stattfanden, den funktionalen Status des Eisenacher Gymnasiums zu benennen und die Sozialstruktur der Schule, die die Eisenacher Stadtgesellschaft widerspiegelt, zu erhellen. Dabei spielt die Personalie Christian Juncker eine wichtige Rolle. Im zweiten Abschnitt folgt eine kontroverse Diskussion darüber, inwieweit Schülerreden als Prüfung im Sinne eines ‚Berechtigungswesens‘ bezeichnet werden können. Der dritte Abschnitt behandelt die Gestaltungskriterien unter der Fragestellung, inwiefern in Eisenach eine Befreiung aus dem engen Korsett antiker rhetorischer Reglementierung zu erkennen ist. 27 Stadtarchiv

Eisenach, Bestand B XXVI C11 Bde. 1 – 5. Eisenach, Bestand XXVI C11, Bd. 1. 29 Anonymus, Ehren-Gedächtnis (wie Anm. 2), 9. 28 Stadtarchiv



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Viertens werde ich die Verteilung der überlieferten Reden auf verschiedene Themenbereiche untersuchen und Überlegungen darüber anstellen, nach welchen Prämissen die Themen verteilt wurden. Dass viele der Themen, vor allem jene aus den Bereichen der Moral, Ethik, Philosophie und Religion im Sinne des vorliegenden Themenschwerpunkts als Mittel zu ‚Menschenführung und Charakterbildung‘ verstanden werden können, ist unstrittig. Allerdings entziehen sich einige Themen auch dieser Einordnung, weshalb sie hauptsächlich im Kontext des spezifisch ‚barocken‘ Repräsentationsbedürfnisses beschrieben werden sollen. Im fünften Abschnitt soll schließlich die Aufführungspraxis im Mittelpunkt stehen, wobei besonders darauf zu achten ist, ob die Schulen lediglich eine Inszenierung der bestehenden Sozialstruktur ablieferten, oder ob sie bei der Auswahl und Anordnung der Redner während der Zeremonien auch auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung bestanden. I. Der soziale und schulische Kontext der Redeakte Das Schuljahr eines illustren Gymnasiums bot mehrere Gelegenheiten für einen öffentlichen Redeakt. Die Valediktion, jene Zeremonie, mit der sich eine Gruppe von Schülern verabschiedete, wurde in Eisenach in der Regel zur Osterzeit anberaumt. Zum zweiten Prüfungstermin des Jahres im Hochsommer fanden ebenfalls Redeakte statt, bei denen sich aber keine Schüler von der Institution verabschiedeten. Außerdem präsentierte man sich noch zu Weihnachten, Jubiläen, Inaugurationen sowie einmal zur Hochzeit des Herzogs Johann-Wilhelm von Sachsen-Eisenach (1666 – 1729).30 Auch als demselben Herzog gerade ein Sohn geboren worden war, nutzte man die Gelegenheit für eine panegyrische Übung.31 Meistens hatten Schüler, die im Frühjahr mit einer Rede Abschied nahmen, bereits zu einem der übrigen Termine das öffentliche Auftreten geübt. Ein Vergleich mit anderen Gymnasien zeigt allerdings, dass die Termine in verschiedenen Schulen unterschiedlich platziert wurden. In Gotha hat es nur einen wichtigen Prüfungstermin im Hochsommer gegeben; die meisten Schülerreden, die Max Schneider verzeichnet, haben Abgänger der Schule im Juli oder August gehalten.32 Dazu kamen die üblichen Jubiläums- und Feiertagsreden. In Naumburg nutze die Schulverwaltung noch „Bußtage“ und ein jährliches Reformationsfest als Gelegenheiten für Redeakte.33 Gerstenhauer behauptet zwar, die Schüler hätten „zu jeder Zeit des Jahres“ abgehen dürfen,34 aber da diejenigen Abschied nahmen, die er im Einzelnen auflistet, aus den Monaten März und 30 Stadtarchiv

Eisenach, Bestand XXVI C11, Bd. 1, 389 – 402. 344 – 365. 32 Schneider, Themata 1693 – 1727 (wie Anm. 7), 12. 33 Gerstenhauer, Ratsschule zu Naumburg (wie Anm. 13), 8. 34 Ebd., 8 f. 31 Ebd.,

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April stammen, ist anzunehmen, dass in Naumburg wie in Eisenach hauptsächlich zur Osterzeit valedikiert wurde. Die gedruckten Einladungsprogramme, die zu jedem der Redeakte erschienen, sind eine Publikationsform, die noch viel zu wenig auf ihre mediale Funktion hin untersucht wurde. Denn interessanterweise führen diese wenige Seiten langen Schriften bei weitem nicht immer in das gemeinsame Thema des Abends ein. Im Gegenteil: Oft behandeln sie ein Thema, das überhaupt nichts mit auch nur einem der von den Schülern besprochenen Gegenstände gemein hat. Es scheint vielmehr so, als hätten die als Verfasser auftretenden Direktoren – allesamt ambitionierte Gelehrte – hier ein nach den Maßstäben der Zeit leicht verfügbares Massenmedium genutzt, um ihre eigenen Entwürfe einem breiteren gebildeten Publikum bekannt zu machen. Dafür spricht auch die weite Verbreitung dieser Drucke, von denen sich bis heute in allen größeren Bibliotheken zahlreiche Exemplare erhalten haben. Von den Titeln der Schulprogramme lässt sich also nur selten auf die Themen und Inhalte der eigentlichen Reden schließen. Was die zeitliche Eingrenzung des Phänomens Valediktionsrede betrifft, so stimmen die bisherigen Untersuchungen weitgehend miteinander überein: Ungefähr seit der Mitte des 17. Jahrhunderts gehen Disputationen und Schulkomödien zurück und die öffentlichen Deklamationen (Reden) nehmen zu, bis sie ab Mitte des 18. Jahrhunderts nachlassen und gegen Ende desselben endgültig ihre Bedeutung verlieren.35 Allerdings haben Untersuchungen auch gezeigt, dass an einigen Schulen überhaupt keine Deklamationen, sondern durchweg nur Disputationen durchgeführt wurden.36 In Eisenach sind dagegen zwischen 1707 und 1713 neben den 119 Reden nur drei Disputationen überliefert, eine davon ausgerechnet über die Grenzen des Disputationswesens.37 Das Verhältnis von Deklamationen und Disputationen, die Frage, warum manche Schulen die einen bevorzugten und andere die anderen, wäre eine eigene Untersuchung wert, kann hier aber vorläufig nicht geklärt werden. Der Hang zum symbolisch bedeutungsvollen Zeremoniell, den der Schultyp eines illustren Gymnasiums an den Tag legte, steht im Einklang mit dem gehobenen sozialen Rang der Berufsziele, die seine Schüler anstrebten. Wer die Oberklassen (Prima oder Selekta) eines Gymnasium illustre absolvierte, wollte höher hinaus: Ein Universitätsstudium mit Stipendium, ein Lehr- oder Pfarramt oder eine Beraterstelle bei Hofe waren die Posten, um die hier konkurriert wurde. Zunehmend bildeten die illustren Gymnasien aber auch die mittlere 35 So

dargestellt u. a. bei Gerstenhauer, Ratsschule zu Naumburg (wie Anm.13), 12 f. scheint besonders für die reformierten Gymnasien Westfalens zu gelten. Vgl. u. a. Kai-Ole Eberhardt, Zur Rekonstruktion zentraler Inhalte des Theologieunterrichts am Gymnasium Hammonense 1656 – 1703, in: Hans-Ulrich Musolff, Stephanie Hellekamps (Hg.), Lehrer an westfälischen Gymnasien in der Frühen Neuzeit, Münster 2014. 37 Christian Juncker, [Schulprogramm] De Limitibus Disputationum Scholasticarum, Eise­ nach 1711. 36 Dies



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Verwaltungsebene im wachsenden Beamtenstaat aus; ein Heer von Schreibern, Sekretären und Postbediensteten ging aus ihnen hervor. Einige Schulen strebten dagegen sogar mehr oder weniger erfolgreich selbst nach dem Status einer ‚Hohen Schule‘, einer kleinen Landesuniversität, die es dem Fürstentum ermöglichen sollte, den eigenen Nachwuchs auszubilden, ohne seine Kinder außer Landes schicken zu müssen.38 Seit 1707 gehörte auch das Eisenacher Gymnasium der Gruppe dieser illustren Gymnasien an, von denen in den kleineren Fürstentümern des mitteldeutschen Raumes bereits im 17. Jahrhundert eine größere Anzahl durch Erhebung, Ernennung und/oder Übernahme von städtischer in fürstliche Trägerschaft entstanden war. Bislang ist nicht klar, ob damit immer auch eine Verbesserung über den äußerlichen Prestigegewinn hinaus eintrat. Bei einigen Schulen mag dies der Fall gewesen sein, wenn die zuständige Landeshoheit den Willen und die Mittel dazu aufbrachte. Dies zeigen die Beispiele des Gothaer Gymnasiums unter Herzog Ernst dem Frommen (1601 – 1675) und des Gymnasium illustre Augusteum in Weißenfels unter Herzog August von Sachsen-Weißenfels (1614 – 1680).39 In Bezug auf das Eisenacher Gymnasium sind dagegen Zweifel angebracht. Denn in den Akten des Eisenacher Stadtarchivs ist die Geschichte der Erhebung der „Stadt- und Landschul[e]“, wie die Einrichtung bis dahin hieß, überliefert.40 Da diese Episode auch bei der Beurteilung der gesellschaftlichen Funktion der Valediktionsreden hilft, verdient sie, hier etwas ausführlicher wiedergegeben zu werden: Bereits 1704 hatte Johann Wilhelm (1666 – 1729) von Sachsen-Eisenach in Zusammenarbeit mit dem Stadtrat die Schule ein wenig aufgewertet und eine Klasse ‚Selecta‘ über die Klasse Prima gesetzt, um die besten Schüler gezielter fördern zu können; außerdem gründete man ein „theologisches Seminar“, das die Vorbereitung auf künftige Aufgaben in der Kirche verbessern sollte.41 Zum Zeitpunkt der Ereignisse im Jahr 1707 war das Rektorat der Schule ‚erledigt‘, das heißt der alte Rektor Christian Zeidler war verstorben und ein neuer Schulleiter musste gewonnen werden. Die Wahl des Herzogs fiel auf Christian Jun­ cker, dem bereits 1707 der Ruf eines herausragenden, auch politisch versierten 38 Ein

Beispiel für einen gescheiterten Versuch ist das Gymnasium Illustre Augusteum in Weißenfels, dessen Rektor Christian Weidling (1660 – 1731) für das Durchführen von Magisterund Doktorpromotionen sogar von kursächsischem Militär verhaftet und ins Gefängnis nach Leipzig verbracht wurde. Vgl. Otto Klein, Gymnasium Illustre Augusteum zu Weißenfels, Bd. 1, Weißenfels 2003, 70. 39 Obwohl es den Status einer Hochschule nicht erreichte, verbesserte sich das Bildungsangebot seit 1664 durch die Einführung von Vorlesungen und die Anwerbung renommierter Gelehrter deutlich. Vgl. Klein, Gymnasium Illustre Augusteum (wie Anm. 38). 40 Stadtarchiv Eisenach, Bestand XXVI, C11, Bd. 1, 1r – 5v. 41 Christian Juncker, Discours vom Ersten Jubel-Fest des Fürstlichen Gymnasii zu Eisenach, benebst dem Abriß der allerersten Sächsischen Schul-Medaille, Eisenach 1707, 9.

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Gelehrten vorausgeeilt sein muss, obwohl er damals nur der Konrektor des etwas kleineren Gymnasiums in Schleusingen war. Jedoch empfahlen der Titel eines Hofhistoriographen von Sachsen-Henneberg sowie eine Anzahl einschlägiger Publikationen Christian Juncker mit Nachdruck als jemanden, der in der Lage war, Schüler aus höheren Kreisen anzulocken und somit dem Eisenacher Hof zusätzlichen Glanz zu verleihen. Christian Juncker seinerseits muss um seinen Marktwert gewusst haben, denn er erlaubte es sich, dem Stadtrat, mit dem er in Verhandlung stand, eine Bedingung für seinen Wechsel nach Eisenach zu stellen: Man müsse das Gymnasium in den Status eines illustren Gymnasiums erheben, damit er dann den Titel eines Rektors einer solchen Einrichtung führen könne. Herzog Johann-Wilhelm, der sich in die Verhandlungen einschaltete, stimmte ohne längeres Zögern zu. In seiner Jubiläumsschrift zum hundertjährigen Bestehen des Gymnasiums zitiert Juncker die fürstliche Verordnung nicht ohne Stolz;42 auch scheint das Autoritätsgefühl des Herzogs durch den aggressiven Verhandlungsstil Junckers keinen Schaden erlitten zu haben. In einem Sendschreiben vom 26. Oktober 1707 wird aus dem Handel denn auch kein Hehl gemacht. Der Herzog schreibt dort an seine „lieben Getreuen“ im Eisenacher Stadtrat, er habe erfahren, was maßen ihr nicht allein zu dem bey hiesiger Stadt- und Land-Schule erledigten Rectorat den Conrectorem des gesamten Gymnasii zu Schleusingen, Christian Junckern, unmaßgebl[ich] denominieret, sondern auch, daß der selbe, auf beschehene sondierung angeregte Stelle zu acceptiren sich erklähret, jedoch, daß er als Rector Gymnasii vociret werden möchte. Nachdem Wir nun mit angeregter denomination zufrieden sind, auch obberührte Stadt- und Land-Schule aus einigen hierzu bewegenden Ursachen krafft dieses zu einem Gymnasio gnädigst declariren.43

Bei der Ernennung der Eisenacher ‚Stadt- und Landschule‘ zu einem illustren Gymnasium spielten also offensichtlich pädagogische Reformideen oder der Wille zur Volksaufklärung weniger eine Rolle als das soziale Prestige und die Titulatur des neuen Direktors. Dieses Bedürfnis der Frühen Neuzeit nach Repräsentation der Hierarchien wirkte sich, wie wir später noch sehen werden, auch auf die Inszenierung der Schülerauftritte aus. Nach seiner Ernennung zum Direktor in Eisenach nahm Junckers Karriere einen rasanten Aufschwung. Bald erhielt er „von sämtlichen Hochfürstl [ichen] Durchlauchtigkeiten“ den Titel „eines sächsischen Historiographi“,44 man nahm ihn 1711 in die Preußische Akademie der Wissenschaften auf und trug ihm zahlreiche weitere Ämter an, darunter auch die Professur für Geschichte und Metaphysik der Universität Altdorf, die er ausschlug.45 Angenommen hat er 42

Ebd. 9 f.

43 Stadtarchiv

44 Anonymus, 45 Ebd.,

12.

Eisenach, Bestand XXVI C11, Bd. 1, 1 r – 1v. Hervorhebung im Text: J. N. Ehren-Gedächtnis (wie Anm. 2), 11.



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schließlich erst 1713 – nur ein Jahr vor seinem Tod – das Rektorat des Gymnasiums in Altenburg, doch auch das erst, nachdem man dasselbe zu einem illu­ stren Gymnasium erhoben hatte.46 Junckers Lieblingsfach war, wie der anonyme Autor seines „Ehren-Gedächtnisses“ berichtet, die Geschichte. Aber auch als Rhetoriklehrer ging er über das zu erwartende Maß hinaus. Bereits 1698, als Konrektor in Schleusingen, gründete er mit einigen Gymnasiasten eine kleine interne Gesellschaft, die sich auch außerhalb des regulären Unterrichts in Poesie und Redekunst üben wollte.47 Die Schüler, mit denen Juncker es in seinem Rhetorikunterricht zu tun hatte, stammten aus allen sozialen Schichten. Das liegt darin begründet, dass das Eisenacher Gymnasium – wie viele andere Gymnasien auch – als Mischform zwischen einer Fürsten- und eine Stadtschule entstanden war. Viele Fürsten hatten nämlich zwar das Bedürfnis nach rein standesspezifischer Bildung, aber konnten sich (aus finanziellen oder sonstigen Gründen) nicht für die Gründung einer Ritterakademie entscheiden. Das gilt zum Beispiel für die Schulreformen Ernsts des Frommen, der stattdessen einige Adelige am Gothaer Hof erziehen und gleichzeitig das Gymnasium ausbauen ließ;48 so war auch die höchste Schule der Stadt Eisenach vor ihrer Erhebung offiziell nicht mehr als eine größere städtische Lateinschule, in der die Kinder der Handwerker und Händler gemeinsam lernten. Herzog Johann Wilhelm beließ sogar auch für die Folgezeit das „jus patronatus“ beim Stadtrat, der damit nach wie vor erhebliche Entscheidungsbefugnisse in schulischen Angelegenheiten behielt.49 Wahrscheinlich kamen fortan lediglich einige Adelskinder mehr nach Eisenach, um zur Schule zu gehen, während sich der traditionelle Betrieb nur geringfügig änderte. Analysen der Sozialstruktur von Schulen bleiben nach wie vor ein Desiderat der bildungsgeschichtlichen Forschung. Der Anteil an Adelsschülern im Vergleich zu dem von Kindern aus niederen Ständen mag von Schule zu Schule vari­iert haben. In den Eisenacher Matrikeln, in denen leider nur für den Zeitraum von 1707 – 1713 der Beruf der Väter überliefert ist, zeigt sich, dass hier in der Regel nur ein geringer Anteil dem Adel und der höheren höfischen Funktionselite (Hof- und Geheimräte) entstammte. Die breite Masse der Schüler rekrutierte sich offenbar aus Familien von Handwerkern, Bürgern, Geistlichen und manchmal sogar Bauern. Die Berufsbezeichnungen bilden das gesamte Spektrum einer frühmodernen Stadtgesellschaft ab: Es gab Söhne von Händlern (mercatori fil.), Zimmermännern (carpentarii fil.), Bäckern (panific. fil.), Leichenträgern (vespillon[is fil.]), Tagelöhnern (operarii fil.), Notaren (praef[ecti] tabel[lionis]. fil.), Soldaten bzw. Söldnern (mercenarii fil.) und zahlreichen anderen. Und jeder 46 Ebd.

47 Ebd.,

11 f. (Fußnote f). Andreas Klinger, Der Gothaer Fürstenstaat. Herrschaft, Konfession und Dynastie unter Herzog Ernst dem Frommen, Husum 2002, 244 – 247. 49 Stadtarchiv Eisenach, Bestand XXVI C11, Bd. 1, 1v. 48 Vgl.

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von ihnen – das zeigen die Quellen sehr deutlich – konnte bei entsprechender Befähigung das Gymnasium bis zu jenem letzten Auftritt auf der Rednertribüne durchlaufen. Dass diese Auftritte einen repräsentativen Akt darstellten, der die Leistungsfähigkeit der Schule demonstrieren und zur Übung dienen sollte, hat die Forschung bereits mehrfach festgestellt.50 Welche Auswirkungen sie jedoch auf die Karriere der Schüler hatten, ist bislang nicht ausreichend geklärt worden. II. Reden als schulische Prüfungsform? 1. Argumente gegen eine Prüfungsfunktion der Reden Zunächst spricht vieles dagegen, in den Valediktionszeremonien Vorläufer der modernen Abiturprüfung zu sehen. So etwas wie eine ‚allgemeine Hochschulzugangsberechtigung‘ kannte die Frühe Neuzeit nicht, die europäischen Universitäten verlangten von ihren Anwärtern nicht mehr als einen feierlich geschworenen Eid und eine Gebühr.51 Wahrscheinlich ist, dass man mit einem Empfehlungsbrief eines Schuldirektors, eines Adeligen oder eines Professors besser voran kam, dienten doch solche Testimonia genannten Schreiben vor der Einführung eines rechtsverbindlichen Zeugniswesens ab dem Ende des 18. Jahrhunderts als bevorzugter Nachweis der Eignung zum Studium.52 Von einem modernen Berechtigungswesen fehlte noch jede Spur. In Zeiten mangelnder bürokratischer Verbindlichkeit gelang es den Lehrern und Schulbehörden denn auch nicht, die Valediktionen zu einer verbindlichen Institution zu erheben. Sicherzustellen, dass sich alle Schüler auf die Bühne holen ließen, war unmöglich, vielleicht noch nicht einmal erwünscht. Immer wieder gab es von Seiten der Kollegien und Schulbehörden Klagen über einen verfrühten Abgang auf die Universität.53 Am 14. März 1677 sah sich auch das Eisenacher Konsistorium deshalb genötigt, ein Dekret zu erlassen, das es den Schülern verbat, „ohne Uhrlaub, Abschied und Testimonio davon zuziehen“.54 Als Konsequenz bei Zuwiderhandlung drohte das Konsistorium mit dem Ver50 Barner

nennt zusätzlich noch die Möglichkeit der Gehaltsaufbesserung durch Eintrittsgelder. Vgl. Barner, Barockrhetorik (wie Anm. 6), 292. 51 Maria Rosa di Simone, Chapter 7 „Admission“, in: Walter Rüegg, Hilde de Ridder-­Symoens (Hg.), A History of the University in Europe, Bd. 2: Universities in Early Modern Europe (1500 – 1800), Cambridge 1996, 285. 52 Vgl. Erdmut Jost, Eintrittskarte ins Netzwerk. Prolog zu einer Erforschung des Empfehlungsbriefes, in: Erdmut Jost, Daniel Fulda (Hg.), Briefwechsel. Zur Netzwerkbildung in der Aufklärung, Halle (Saale) 2012, 103 – 143, hier 128 (Kleine Schriften des IZEA 4). 53 Das Beispiel des Gymnasiums in Breslau nennt Barner, Barockrhetorik (wie Anm. 6), 293, das Beispiel Erfurt Lindner, Bildungsfrüchte (wie Anm. 10), 33. 54 Juncker, Jubel-Fest (wie Anm. 41), 18 f.



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lust des Stipendiums sowie dem Ausschluss der Betroffenen von jeder „Beförderung“, also von der Ämtervergabe im Herzogtum.55 Christian Juncker verzeichnete daher sehr genau die abgehenden Schüler, stets mit dem Hinweis, ob sie valedikiert hatten oder nicht. Eine größere Anzahl von Schülern erfüllte die Anforderung, eine Abschiedsrede zu halten, auch „privatim“, das heißt in der Stube des Direktors eventuell unter Anwesenheit weiterer Lehrer. In den Verzeichnissen der Schulabgänger ist mitunter auch von einer Flucht derselben die Rede.56 Mehrmals notiert Juncker, dass ein Schüler mit umgebundenem Degen bei ihm erschienen sei, um sich auf die Universität zu verabschieden, ohne der Valediktionspflicht nachgekommen zu sein. Als Juncker bei einer solchen Gelegenheit dem Schüler den (wohl sarkastisch gemeinten) Befehl gab, er solle „mit Mantel zurückkehren“, verließ dieser die Rektorenstube und kam nicht mehr wieder.57 Um sich der Valediktionspflicht zu entziehen, wandten manche Schüler auch verschiedene Tricks an. Wenn sie nicht schlicht verschwanden und sich auf einer Universität einschrieben, verließen sie häufig die Schule frühzeitig und versprachen dabei, sich von einem Privatlehrer zur Universitätsreife bringen zu lassen. Nicht selten war hier auch der Wille der Eltern maßgeblich, die ihre Kinder mit Hilfe von Briefen an den Direktor aus der Schule zu entfernen versuchten. Zwei Schüler aus der Oberklasse Selecta haben dieses Mittel sogar missbraucht, indem sie gefälschte Briefe ihres Vaters58 bzw. ihres Onkels vorlegten.59 Beide flogen allerdings auf, verließen die Schule ohne ordentlichen Abschied und blieben in schlechter Erinnerung. Juncker vermerkte sie, wie andere flüchtige Schüler auch, als fortan unerwünschte Personen. Außerdem kosteten die Valediktionen Geld. Über das Gymnasium in Naumburg berichtet Gerstenhauer, dass manche „Abiturienten […] auch ohne öffentliche Valediktion“ abgingen, „offenbar um die Kosten zu ersparen, und [sie] sagten nur dem Rektor und den Kollegen Dank“.60 Deshalb auch war der dortige Rektor verpflichtet, bei der Valediktion ärmerer Schüler ein mindestens einseitiges Schulprogramm kostenlos herzustellen.61 Der von Schule zu Schule unterschiedliche Umgang mit der Valediktionspflicht weist darauf hin, dass ein 55 Ganz ähnlich lesen sich die Drohungen, die 1755 der Ephorus des Erfurter Ratsgymnasiums gegen unordentliche Schulabgänger aussprach: Lindner, Bildungsfrüchte (wie Anm. 10), 33. 56 Dafür gibt es mehrere Beispiele: u. a. Stadtarchiv Eisenach, Bestand XXVI C 11 Bd. 4, [unpaginiert] in der Auflistung der ‚discedentes‘, und ebd., Bd. 4 [unpaginiert], Auflistung der ‚discedentes‘. 57 Die vollständige Notiz lautet: Ludwig Georg Christoph Juncker, ingratus erga Rectorem & inepti Spiriti homo, gladioq[ue] se alligans, cum valedicere vellet Rectori, cum pallio redire iussus, non rediit, abiit Jenam. Der Nachnahme ist nur durch Zufall der gleiche wie der des Rektors. Stadtarchiv Eisenach, Bestand XXVI C 11, Bd. 3 [unpag.], Auflistung der ‚discedentes‘. 58 Stadtarchiv Eisenach, Bestand XXVI C 11, Bd. 2, [unpag.], Auflistung der ‚discedentes‘. 59 Stadtarchiv Eisenach, Bestand XXVI C 11, Bd. 4, [unpag.], Auflistung der ‚discedentes‘. 60 Gerstenhauer, Ratsschule zu Naumburg (wie Anm. 13), 10. 61 Ebd., 9 f.

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verbindliches Berechtigungswesen nicht existierte. Von einer Prüfung im eigentlichen Sinne kann man aber erst sprechen, wenn es für den Prüfling etwas zu gewinnen gibt, wenn mit dem erfolgreichen Abschluss ein Übergang auf eine höhere Stufe, in ein Amt oder eine höhere Bildungsinstitution erlangt werden kann. In den meisten bisher von der Forschung untersuchten Schulen – mit Ausnahme von Schwäbisch-Hall62 – gibt es aber bislang keine Anhaltspunkte dafür, dass die Abschiedsrede an irgendeine Form von Berechtigung oder finanzieller Zuwendung geknüpft wurde. Das wirft natürlich die Frage auf, welche Druckmittel die Schulen überhaupt einsetzen konnten, um ihre Anforderungen durchzusetzen. 2. Argumente für eine Prüfungsfunktion Wenn man den Prüfungscharakter der Valediktionsreden untersucht, muss man sich als erstes vergegenwärtigen, dass die Rhetorik noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein das übergeordnete Bildungsziel der gesamten Schullaufbahn darstellte. Während im modernen schulischen Prüfungssystem eine große Anzahl verschiedener Fachleistungen aus den Bereichen der Naturwissenschaften, Sprachen und Gesellschaftswissenschaften abgefragt wird, kann man das für die Frühe Neuzeit nicht voraussetzen. Heute schreiben die Abiturienten in jedem Fach eine Klausur, deren Ergebnis die Prüfer schließlich in Form einer Zahl ausdrücken. Die Ziffern aus allen Klausuren erscheinen später in einer Liste, werden nach einem komplexen Schlüssel zu einem Durchschnittswert verrechnet und ergeben so die Endnote im Abiturabschlusszeugnis. In der Frühen Neuzeit war so etwas weder möglich noch notwendig, denn der gesamte Unterricht in den Fächern Grammatik, Syntax, Etymologie, lateinische Autorenlektüre, sogar der in den Fächern Logik, Dialektik, Philosophie lief auf ein einziges Ziel hinaus: die Redekunst. Sicher gab es auch andere Prüfungsformen: Stilübungen und mündliche Abfragen von Fakten und Merkversen. Die Valediktionen fanden oft im Rahmen von ganzen Prüfungswochen statt,63 bei denen verschiedene, bisher kaum erforschte Prüfungsformen praktiziert wurden. Sie alle galten aber letztendlich nur als vorbereitende Übungen zur Redekunst. Friedrich Paulsen schreibt in seiner Geschichte des gelehrten Unterrichts: Den Schulklassen fällt […] als ihre wesentliche Aufgabe die Eloquenz zu, das ist die Fähigkeit des sprachlich richtigen, sachlich angemessenen, logisch durchsichtigen und rednerisch wirksamen Vortrags. Diesem Zweck dienen zunächst die drei formalen Disziplinen, die artes dicendi, Grammatik, Dialektik, Rhetorik; sie beherrschen den ganzen Schulunterricht.64 62 Vgl.

Ludwig, Deklamationen (wie Anm. 18). Themata 1693 – 1727 (wie Anm. 7), 12. 64 Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und 63 Schneider,



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Angesichts der bis weit ins 18. Jahrhundert hinein ungebrochenen Bedeutung der Rhetorik als Krönung der Schullaufbahn verwundert es kaum, dass die Abschiedsreden nicht bloß als eine weitere Übung und als repräsentativer Akt, sondern auch als Prüfung eingesetzt wurden. Das bereits zitierte Dekret das den Schülern verbietet, „ohne Abschied und Testimonium“65 die Schule zu verlassen zeigt, dass die Eisenacher Schüler erst nach der Valediktion ein Testimonium (Empfehlungsschreiben) erhielten, in dem Aussagen zu ‚Ingenium‘ und Charakter des jeweiligen Schülers getroffen wurden.66 Ein Schüler hätte also schon allein deshalb eine Rede halten müssen, um das Wohlwollen des Direktors zu gewinnen. Die Auswirkungen, die es für Karrieren haben konnte, wenn ein Schuldirektor seine persönlichen Netzwerke für einen Schüler aktivierte, sollten nicht unterschätzt werden. Christian Juncker z. B. wurde, wie eingangs erwähnt, regelmäßig zu Audienzen bei verschieden Fürsten eingeladen,67 und er stand mit den einflussreichsten Persönlichkeiten der Eisenacher Stadtgesellschaft sowie mit Professoren und Hofgelehrten im ganzen mitteldeutschen Raum in Kontakt. Wer dagegen als persona non grata die Schule verließ, landete nicht selten beim Militär. Neben dem persönlichen Empfehlungswesen war das wichtigste Mittel, die Schüler zu einer Abschlussrede zu zwingen, das Stipendium. Aber auch hier gab es nur selten verbindliche Regeln, die sich auch dauerhaft durchsetzen ließen. In seiner Jubiläumsschrift beschreibt Juncker die Geschichte des Eisenacher Schulstipendienwesens, das in diesem Zusammenhang einige interessante Erkenntnisse zulässt: So habe man beispielsweise im Jahr 1676 die Vergabepraxis „auf einen unanständigen Mißbrauch abzielender Umstände halber“ ändern müssen.68 Und zwar dahingehend, dass „man zwar die Stipendien-Gelder richtig Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, Bd.1, Leipzig ²1919, 292. 65 Siehe Anm. 54. 66 Die Geschichte der Testimonia wurde bislang kaum erforscht; es können daher auch keine belastbaren Aussagen zum Inhalt solcher Schreiben sowie zur Praxis von Schülerempfehlungen getroffen werden. Allerdings legt die Rezension einer Geschichte der Landesschule Pforta aus der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung (JALZ) von 1815 nahe, dass der Unterschied zwischen den Testimonia der Frühen Neuzeit und den (damals) modernen Abiturzeugnissen darin bestand, dass die ältere Zeugnisform um eine je individuelle Darstellung des Schülers und seiner Fähigkeiten bemüht war („Jeder [erhielt] ein ihn schilderndes und für ihn passendes Zeugnis“), während die neuere nach standardisierten Vorgaben abgefasst wurde („nach einem dreyfachen, nur durch wenige Beywörter unterschiedenen Schema“). Vgl. Anonymus, [Rezension von], Die Landesschule Pforte, ihrer gegenwärtigen und ehemaligen Verfassung nach dargestellt von M.Karl Christian Gottlieb Schmidt und Friedr. Karl Kraft, Lehrern am königl. und herzogl. sächs. gemeinschaftl. Gymnasium zu Schleusingen. Mit einem Kupfer, Schleusingen 1814 (JALZ 208), November 1815, 225 – 231, hier 231. Für diesen Hinweis danke ich herzlich Frau Dr. Erdmut Jost. 67 Vgl. Anm. 2. 68 Juncker, Jubel-Fest (wie Anm. 41), 18. Hervorhebung im Text: J. N.

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zahlete, jedoch dieselbigen durch den Rectorem in Verwahrung nehmen, und nach Befinden an einige arme, und theils publice valedicirende, Scholaren in gewissen Posten bezahlen liesse“.69 Zu Beginn des nachfolgenden Jahrhunderts sah man sich erneut zu einer Verschärfung der Regeln gezwungen: Anno 1702 aber hat man […] die jährlich fallende 165 Fl. solchergestalt zu verteilen angefangen, daß die Helffte an 82 Fl. 10 gl. 6 pf Meißn. oder 110 Fl. Eisenacher Marckwährung, am letzten Tage des Examinis, zu der Schüler Nothdurfft baar gereichet, die andere Helffte aber an gleicher Summa den Stipendiaten auffgehoben worden, biß sie die Academischen Studia, nach vorhergehenden Wohlverhalten, antreten können.70

Der recht uneindeutige Begriff des „vorhergehenden Wohverhaltens“ schloss sicher die Valediktionsrede mit ein. In diesem Zitat wird deutlich, dass – zumindest für unbotmäßige Schüler – der Universitätsbesuch auf dem Spiel stand. Bereits im Jahr 1607 hatte sich nämlich Herzog Johann Ernst von SachsenEisenach (1566 – 1638) durch Bezahlung das Recht erworben, acht Stipendia­ ten jährlich auf die Universität Jena zu senden. Zusätzlich sorgten Freitische, Legate und Armenstipendien dafür, dass auch Kinder aus schlechter bestellten Elternhäusern ohne Hunger zu leiden die Schule besuchen konnten. Trotz alledem erscheinen die Maßnahmen, die man in Eisenach ergriff, um Leistung an Gegenleistung, Valediktion an Stipendien zu binden, noch eher experimentell und wenig dauerhaft. Die einzigen bislang bekannten Quellen, die eindeutiger dafür sprechen, dass Valediktionsreden als Abschussprüfungen dienten, sind jene, die Walther Ludwig seinem Aufsatz beigefügt hat.71 Aus ihnen geht hervor, dass Vertreter des Scholarchats regelmäßig an den Valediktionszeremonien teilnahmen, um die Leistung der Schüler zu beurteilen und zu entscheiden, ob man ihnen den Universitätsbesuch gestatten wollte. Ein Ausschnitt aus einem zu einer solchen Gelegenheit angefertigten Protokoll illustriert die Vorgehensweise sehr deutlich: Hierüber wird nach geendigtem Actu von der Herren Scholarchen – die waren all zugegen […] – deliberirt und von Herrn Directore proponirt: Ob diese beiden Peroranten [Redner] könnten dimittirt [fortgeschickt auf die Universität] werden. Die Majora Vota fielen dahin aus, es köndte sein, wan sie Ihrer Declamation Authores wären, davon soll Ihrer Rector gehört werden: Herr Rector würd herein gelassen u. berichtet: Er hielt die für qualifiziert gnug auf die Universität zu reysen, daneben wären sie Authores, außer daß er Ihnen die Materiam [ge]geben, die Disposition gewiesen, u. wie sie manches finden können, gezeiget: Concludiert: daß der Engelhard [der geprüfte Schüler] habe Eloquium promptum, cum gravitate mixtum. 72 69 Ebd.

70 Ebd.,

20. Anm. 19. 72 „Eine gewandte Ausdrucksweise, vermischt mit Würde/Erhabenheit“. Stadtarchiv Schwäbisch Hall, Ev. Dekanat Archivinventar Nr. 22, 37r, zitiert nach Ludwig, Deklamationen (wie Anm. 18), 354. 71 Vgl.



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Als erstes wird an dieser Notiz deutlich, dass man die Erlaubnis zum Universitätsbesuch direkt an die Qualität der Abschiedsrede knüpfte. Der offen geäußerte Verdacht, die Schüler könnten nicht „Authores“ ihrer eigenen Rede sein, weist darauf hin, dass man sich in dieser Sache nicht sicher sein konnte. Auch Wilfried Barner weist darauf hin, dass einige Schulordnungen darauf bestehen mussten, „daß die Schüler ihre Texte selbst verfassen“,73 und vermutet, dass einige Rektoren aus Gründen der Repräsentation die Reden selbst schrieben. Das ist allerdings – zumindest in Bezug auf die Valediktionen – nur bedingt wahrscheinlich. Die damaligen Schulrektoren waren, zusätzlich zu ihrer eigenen Publikationstätigkeit, derart mit Aufgaben überhäuft, dass die meisten wohl nur Hilfe bei der Themenfindung und „Disposition“, also Strukturierung der Rede, sowie einen Korrekturgang leisteten. Das Problem der Valediktionsreden als Prüfungsform könnte zum Teil auch ein Problem der Quellenlage sein. Nur, weil nicht aus allen Schulen Quellen wie die aus Schwäbisch-Hall bekannt sind, heißt das nicht, dass keine Beurteilung der Reden stattgefunden hat. Im Fall des gut dokumentierten Eisenacher Gymnasiums sieht es allerdings tatsächlich so aus, als habe es dort wirklich keine offizielle Leistungskontrolle gegeben. Stattdessen finden sich Hinweise auf den nicht zu unterschätzenden performativen Aspekt der Leistungsbewertung in der Frühen Neuzeit. In einem Verzeichnis der Schulabgänger aus dem Jahr 1699 sind auch die Namen der Schüler notiert, die „publice“ Abschied genommen hatten. Bei drei von sechs Schülern hat der Schreiber am Rand die Anmerkung „cum applausu“ notiert.74 Wir können davon ausgehen, dass es sich dabei nicht um eine zeugnismäßige Floskel wie ‚cum laude‘ handelt, sondern dass hier echter, physischer Beifall geklatscht wurde. Ein Schüler, der mit seiner gesamten Persönlichkeit zu überzeugen vermochte, verbesserte seine Aufstiegschancen erheblich. Bewertet wurden nicht nur die Leistung in der Textgestaltung, sondern das gesamte persönliche Auftreten des Schülers, sein Charakter, seine Artikulation und seine Körperhaltung. Manche Rhetoriklehrbücher empfahlen ihren Lesern sogar Tanzunterricht zu nehmen, um ein guter Redner zu werden.75 Die Zeitgenossen begriffen das Halten von Reden als schauspielerische Leistung auf dem „Theater der Welt“,76 und das Publikum in den Schulauditorien bestand aus Personen, die Kontakte zu vermitteln und Ämter zu vergeben hatten. Darüber 73 Barner,

Barockrhetorik (wie Anm. 6), 296 f. Eisenach, Bestand 10 10 städtische Akten bis 1885, Nr. 556, 203. 75 Christian Weise, Freymüthiger und höfflicher Redner, das ist, ausführliche Gedancken von der Pronunciation und Action, was ein getreuer Informator darbey rathen und helffen kann, bey Gelegenheit gewisser Schau-Spiele allen Liebhabern zur Nachricht, Leipzig 1693, Kap. LXI, c5. 76 Zum Reden als Auftritt im „Theater der Welt“ vgl. Barner, Barockrhetorik (wie Anm. 6), 86 – 131. Bereits Cicero (De oratore 1, 156) hat gesagt, man könne den öffentlichen Redeauftritt beim Komödienspieler lernen. Hierzu Wilfried Stroh, Declamatio, in: Bianca Jeanette Schröder, Jens-Peter Schröder (Hg.), Studium declamatorium (wie Anm. 18), 5 – 34, hier 5. 74 Stadtarchiv

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hinaus konnte die Fähigkeit, öffentlich zu reden, auch im späteren Leben, nach der Schulzeit, nützlich sein – es handelt sich mithin um eine Schlüsselqualifikation der Frühen Neuzeit. So wurden z. B. in Schwäbisch-Hall auch die Lehramtsanwärter auf dieselbe Weise geprüft wie ihre Schüler, bevor sie ein Amt erhielten.77 Erst als die Schulen ihre Curricula um andere, wichtiger werdende Schul­ fächer erweiterten wurden die Valediktionsreden nach und nach obsolet,78 und man musste bald ein System der Leistungskontrolle installieren, das einzelne Fachleistungen beurteilte. Der wesentliche Unterschied, der zwischen dem frühneuzeitlichen und dem modernen Bewertungssystem entsteht, ist der zwischen einem subjektiv-persönlichen und einem objektiv-normierten und numerischen. Dass das in der Frühen Neuzeit verwendete System eine Form von Chancen­ ungleichheit erzeugte, weil wahrscheinlich auch die soziale Herkunft des Schülers miteinbezogen wurde, und dass die Objektivität der Moderne möglicherweise ein Selbstbetrug ist, weil sie die individuelle Leistung, die sie zu prüfen vorgibt, durch die starke Vereinheitlichung dem Bereich des Darstellbaren entzieht, stellt eine Problemlage dar, mit der sich nicht Historiker, sondern Päda­ gogen beschäftigen sollten. Aus historischer Perspektive steht jedoch fest, dass das ältere Bewertungssystem deutlich stärker an den individuellen Eigenschaften des Prüflings orientiert war als das moderne. In der Frühen Neuzeit wurde ein Schüler nach seinem gesamten, ganzheitlichen Auftritt und seiner sozialen Herkunft beurteilt. Heute verschwinden die Persönlichkeiten hinter einer Zahl, von der angenommen wird, sie könne die Qualität eines Individuums zum Ausdruck bringen. 3. Regeln und Freiheiten der Textgestaltung Das Thema der Textgestaltungsnormen der frühneuzeitlichen Rhetorik ist bislang vor allem von der Literaturwissenschaft aufgegriffen worden. So beschäftigte sich beispielsweise Dietmar Till (2004) mit der Theorie der Rhetorik im 17. und 18. Jahrhundert.79 Wilfried Barner (1970) hat dagegen seiner Habilita­ tionsschrift auch einen langen Abschnitt über die Verankerung der Rhetorik im Bildungswesen, speziell auch in den protestantischen Gelehrtenschulen hinzugefügt.80 Wenn auch den Ausführungen Barners noch heute nur wenig entgegenzusetzen ist, so sind sie doch in einem wesentlichen Aspekt zu ergänzen: Wie den meisten, die sich mit Schulrhetorik auseinander gesetzt haben, standen Barner als Quellen nur Schulordnungen und Lehrbücher zur Verfügung. Das heißt, 77 Ludwig,

Deklamationen (wie Anm. 18), 348. dargestellt u. a. bei Gerstenhauer, Ratsschule zu Naumburg (wie Anm. 13), 12 f. 79 Vgl. Anm. 6. 80 Barner, Barockrhetorik (wie Anm. 6), 258 – 321. 78 Treffend



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seine Ausführungen mussten sich weitgehend auf die Gestaltungsnorm und die Verankerung in den Lehrplänen konzentrieren. Die Eisenacher Schülerreden erlauben nun erstmals Aussagen, wie mit diesen Normen umgegangen wurde. Faszinierend dabei ist die Bandbreite verschiedenster Strukturierungsarten, die auf eine wesentlich freiere und selbstständigere Anverwandlung von Normen schließen lässt, als die Rhetorikforschung das bisher feststellen konnte. Doch zunächst erfolgt eine Verortung des Eisenachischen Schulrhetorikbetriebes im Kontext der bisherigen Rhetorikforschung. Die Literaturwissenschaft konzentrierte sich häufig auf Fragen nach der Unterrichtssprache, der Bestimmung des frühneuzeitlichen Rhetorikunterrichts durch die Vorgaben der Antike und nach der Entwicklung einer progressiven politisch-galanten Rhetorik als Konterpart gegen erstarrte Traditionalismen. Außerdem wurden nicht selten das kontroverse Verhältnis der Pietisten zur Rhetorik sowie ein Niedergang der Rhetorik im 18. Jahrhundert insgesamt diskutiert, vor allem im Zusammenhang mit Frühaufklärung und Pietismus. Die Verankerung des Rhetorikunterrichts in der Tradition repräsentiert wie kaum ein anderes Werk das Lehrbuch von Gerhard Johannes Vossius (1577 – 1649).81 Zurecht identifiziert Barner es als eines der beliebtesten Schulkompendien, das bis ins 18. Jahrhundert hinein die rhetorische Ausbildung junger Gelehrter an vielen Schulen in die Wege leitete.82 Es galt als mustergültige Zusammenfassung der antiken Vorbilder, die man immer noch in Cicero, Quintilian und Aphtonius verehrte. Einen Ausbruch aus dieser Traditionsgebundenheit versuchten die politisch-galanten Pädagogen. Gallionsfigur dieser Bewegung war der Zittauer Schuldirektor Christian Weise (1642 – 1708), der in der Forschung nicht nur als herausragender Schreiber von Schulkomödien, sondern auch als Reformator des deutschen Gymnasiums bekannt ist.83 Über seinen Ansatz für den Rhetorikunterricht schreibt Barner: Während die Humanisten nicht gewagt hatten, die Rhetorik ‚extra scholam limina proferre‘ [über die Grenzen der Schule hinauszutragen], ging es Weise darum, einerseits dem höfischen Element eine solidere humanistische Basis zu geben, andererseits die traditionelle rhetorische Pädagogik im Zeichen „politischer“ Zwecke dem Leben nutzbar zu machen.84

Probleme mit dieser Art der Nutzbarmachung für politische Zwecke hatten hauptsächlich die Pietisten.85 Das ‚Politische‘ trug in der Sprache der Zeit eine 81 Gerhard

Johannes Vossius, Rhetorices contractae, sive Partitionum oratoriarum libri quinque, Leiden 1606. Bis weit ins 18. Jahrhundert erschienen zahlreiche Neuauflagen. 82 Barner, Barockrhetorik (wie Anm. 6), 265 – 274. 83 Vgl. Arno Horn, Christian Weise als Erneuerer des deutschen Gymnasiums im Zeitalter des Barock, Weinheim/Bergstraße 1966. 84 Barner, Barockrhetorik (wie Anm. 6), 211 f. 85 Zur pietistischen Kritik an der übermäßigen Verfolgung weltlicher Karrieren und Kritik

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gewisse Konnotation von machiavellischer Unmoral.86 Es stand außerdem dem ‚Galanten‘ nahe, was einige Zeitgenossen zusätzlich an sittliche Devianz denken ließ. Trotzdem konnten auch die Pietisten nicht als reine Bewahrer einer überkommenen Tradition auftreten, denn das Wort vom ‚Pedantismus‘ als Schimpfbezeichnung für Gelehrte, die sich nicht den Herausforderungen des öffentlichen Lebens stellten, galt auch ihnen als Vernichtungsurteil. Deshalb etablierten die Pietisten am Pädagogium der Franckeschen Stiftungen zu Halle bald eine eigene rhetorische Unterrichtstradition, die in den Schulbüchern des Inspektors Hieronymus Freyer kulminierte.87 Obwohl von den Eisenacher Quellen keine endgültigen Antworten zu diesen hochkomplexen Themen zu erwarten sind – was zum Teil auch an der Unterschiedlichkeit der illustren Gymnasien untereinander liegt –, so liefern sie doch einige interessante neue Einsichten. Denn in vielerlei Hinsicht stellt der Rhetorikunterricht unter Christian Juncker eine Art Sonderweg dar. Wenig überraschend ist zunächst die Beobachtung, dass auch in Eisenach noch der größte Teil der Reden in lateinischer Sprache abgefasst wurde. Es finden sich einige wenige deutsche, noch weniger altgriechische Deklamationen. Das entspricht in etwa dem, was Barner auch für andere Gelehrtenschulen feststellen konnte.88 Innerhalb der von der Forschung (re)konstruierten tripolaren pädagogischen Diskurslage zwischen Tradition, Pietismus und politischgalanter Pädagogik ist Christian Juncker offensichtlich im unmittelbaren Umkreis des letzteren Orientierungspunktes zu verorten. Seine persönliche Nähe zu Christian Weise wird auf verschiedene Weise greifbar. Juncker, der ungefähr eine Generation jünger war als Christian Weise, gab noch zu dessen Lebzeiten einige von Weises Schriften neu heraus. In Junckers Vorwort zu den neu herausgegebenen Curieuse[n] Gedanken von den Nouvellen oder Zeitungen heißt es, die Edition sei „mit eingehohlter Permission Ehrenerwehnten Herrn Weisens“ geschehen.89 Junckers ehemaliger Kollege am Gymnasium in Schleusingen, am Hofleben vgl. August Hermann Francke, Ordnung und Lehr-Art, Wie selbige in dem Paeda­ gogio zu Glaucha an Halle eingeführet ist, Halle 1702, 17. 86 Vgl. Anonymus, Art. Politicus, in: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 28 (1741), 1528. 87 Hieronymus Freyer, Oratoria in tabulas compendiarias redacta et ad usum iuventutis scholasticae accomodata, Halle 1745. Zum Rhetorikunterricht am Pädagogium der Franckeschen Stiftungen Björn Hambsch, „…ganz andre Beredsamkeit. Transformationen antiker und moderner Rhetorik bei Johann Gottfried Herder, Tübingen 2007, 18 – 20. 88 Barner, Barockrhetorik (wie Anm. 6), 295 – 296. 89 Christian Weise, Christian Juncker (Hg.), Herrn Christian Weisens Curieuse Gedancken von den Nouvellen oder Zeitungen denen, ausser der Einleitung, wie man Nouvellen mit Nutzen lesen solle, beygefüget sind: Der Kern der Zeitungen, vom Jahr 1660 biß 1706. Eine kurtz gefaßte Geographie, eine Compendieuse Genealogie aller in Europa regierenden Hohen Häuser, und dann ein sehr dienliches Zeitungs-Lexicon, also verfasset und anietzo zum andern mahl vermehret von Christian Junckern, Leipzig, Coburg 1706, 3.



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Gottfried Ludovici (1670 – 1724), war außerdem einer der häufigsten Briefpartner Christian Weises,90 sodass anzunehmen ist, dass die drei zum zentralen Teil eines gelehrten Netzwerkes gehörten. Juncker machte auch ausgiebigen Gebrauch von Weises Büchern im Unterricht.91 Als eine seiner ersten Amtshandlungen als Rektor in Eisenach änderte er das vorgeschriebene Lehrbuch für den Rhetorikunterricht, interessanterweise aber nicht zugunsten einer der zahlreichen in Frage kommenden Publikationen Weises. Stattdessen wählte er den Wohlinformierten Redner, das Werk eines jüngeren ‚galanten‘ Pädagogen namens Erdmann Uhse (1677 – 1730),92 der zur selben Zeit als Rektor in Merse­ burg tätig war. 93 Bis 1707, kurz vor Junckers Amtsantritt, hatte man in Eisenach noch das Kompendium Rhetoricae Rudimenta94 von Johannes Kirchmann (1575 – 1643) verwendet.95 Kirchmanns Buch kann ebenso wie das von Vossius als ausgesprochen weitverbreitet und in der antiken Tradition verwurzelt gelten, nur ist es deutlich kürzer. Wahrscheinlich wurde es gerade aus diesem Grund von einigen Schulen für den Anfängerunterricht bevorzugt. Kirchmann hat sein Buch in drei Teile gegliedert, die den überlieferten officia oratoris,96 den Ämtern bzw. Aufgaben des Redners entsprechen: 1. De inventione (Themenfindung) 2. de dispositione (Gliederung/Strukturierung) und 3. de elocutione (Ausformulierung). Ebenfalls zu den antiken Aufgaben des Redners gehörten traditionell die memoria (Auswendiglernen) und die pronunciatio (Aufführung/Aussprache). Sie erscheinen bei Kirchmann nur als kurze Kapitel am Ende des dritten Abschnitts. Erdmann Uhses Wohlinformierter Redner von 1704 geht dagegen neue Wege. Das Buch stellt einen so deutlichen Kontrast zu der traditionellen Rhetorikschule dar, das es verdient, hier länger beschrieben zu werden. Bereits in seinem kurzen Vorwort bekundet Uhse, seine Methode sei „natürlich und nützlich“,97 womit er sich einerseits als Pragmatiker der Weise-Schule offenbart und andererseits eindeutig in der Debatte natura vs. ars positioniert, 90 Barner,

Barockrhetorik (wie Anm. 6), 215. Altenburg nutzte er z. B. Weises „Der Kluge-Hoffmeister“ für den Geschichtsunterricht. Christian Juncker, Indicem lectionum privatarum habendarum, favente Numine, pro Discipulis superiorum Ordinum, in Illustri Gymnasio Friedericiano Altenburgi per aestiuum semestre Anni MDCCXIV […], Altenburg 1714. 92 Erdmann Uhse, Wohl-informirter Redner, worinnen die Oratorischen Kunst-Griffe vom kleinesten biß zum grösten durch Kurtze Fragen Und ausführliche Antwort vorgestellet werden, Leipzig ²1704, Erstausgabe nicht identifizierbar. 93 Schon im Jahr 1708 wird als Lehrbuch für die Klassen Prima und Selecta der Wohlinformierte Redner angegeben. Stadtarchiv Eisenach Bestand XXVI C11, Bd. 1, 15. 94 Johannes Kirchmann Rudimenta, Rhetoricae pro captu Scholae Lubecensis, Lübeck ²1633. Zahlreiche Auflagen bis ins 18. Jahrhundert verfügbar. 95 Stadtarchiv Eisenach, Bestand 10, 10 Städtische Akten bis 1885 Nr. 556, 450v. 96 Hauptquelle für die Überlieferung der officia ist Cicero, De oratore. 97 Uhse, Wohl-informirter Redner (wie Anm. 92), Vorrede. 91 In

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und das im Gegensatz zu Christian Weise, dem zumindest von der Nachwelt vorgeworfen worden ist, er sei noch ein reiner Vertreter einer ‚künstlichen‘ Rhetorik.98 Somit steht Uhse zwischen den Zeitstufen dessen, was Dietmar Till als ‚galante Rhetorik‘ und ‚Rhetorik der Frühaufklärung‘ unterscheidet.99 Außerdem dürfte der Beginn der Debatte über den Widerspruch zwischen Kunst und Natur angesichts von Uhses Lehrbuch gut 20 bis 30 Jahre früher anzusetzen sein, als Till dies anhand seiner Quellenlage tun konnte.100 Die Gattung ‚frühaufklärerische Rhetorik‘, die die „Privilegierung der natura“ propagiert, ist laut Till dadurch gekennzeichnet, dass sie die antike officia-Systemrhetorik zerlegt.101 Die inventio wird dem Bereich der Philosophie zugeteilt, die Aspekte memoria, dispositio und pronunciatio/actio in verminderteter Ausführlichkeit behandelt. Das lässt sich auch beim Wohlinformierten Redner beobachten. Seinen pragmatischen, fast ausschließlich der elocutio verpflichteten Zugang proklamiert Uhse in markigen Worten: „In der Oratorie bekümmere ich mich [nur] um zwey Stücke: Als um Worte und um Verknüpfung der Worte“.102 Großen Wert legt Uhse nun auf ‚lebensnahe‘ und eingängige Beispiele, und im Gegensatz zur herkömmlichen Systemrhetorik geraten seine Lehrstücke eher zur Demonstration von Möglichkeiten der Variation als zu strengen Gestaltungsrichtlinien. Dabei erkennt man an vielen Stellen den oft derben Humor, der für die galante Bewegung kennzeichnend ist. Sein Beispiel für die Variation von Sätzen mittels Hinzufügung verschiedener Wortarten (Adjection) lautet folgendermaßen: Propositio Die Musikanten lieben den Trunck. Adde Adjectiva Die mühsamen Musikanten seuffzen nach einem frischen Truncke. Adde Substantiva Der krafftlose Mund und die abgematteten Finger eines eifrigen Sängers und andern bemüheten Instrumentalisten tragen ein grosses Verlangen nach der Hertz labenden Erquickung eines guten Bier- oder Wein-Glases. Adde Adverbia Wer die beliebte Vocal- oder Instrumental-Music fleißig exerciret, sehnet sich sehr nach dem stärckenden Reben- und Gersten-Saffte. Adde Verba […]   98 Till,

Transformationen der Rhetorik (wie Anm. 6), 347 – 348. 341. 100 Ebd., 347 – 352 101 Ebd., 342. 102 Dieses Zitat fehlt in der Ausgabe von 1704 und erscheint erst in den Ausgaben ab 1709. Uhse, Wohl-informirter Redner (wie Anm. 92), Leipzig ³1709, „ordentlicher Inhalt“.   99 Ebd.,



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Adde Synonyma Wofern sich einer der edlen Music gäntzlich wiedme, seine erlangte Qualitäten darinne begierig sehen lässet, und sich in solchem Exercitio eifrig aufführet, so wird er freywillig gestehen müssen, daß er bey dieser Profession ohne Bier und Wein nicht gar wohl fortkommen könne, auch wol gar crepiren müsse.103

Natürlich kann auch Uhse nicht anders, als die antike Tradition als Grundlage zu benutzen. Er tut dies jedoch stets mit kritischer Distanz und mit der Absicht, zu einer freieren Redekunst hinzuleiten. Die kanonische Struktur einer Chrie nach den Vorgaben des spätantiken Autors Aphtonius gibt Uhse zwar wieder,104 aber nur um sie letztlich zu verwerfen: Was ist nun von solchen Chriis Aphtonianis zu halten? Sie sind zwar in etlichen Fällen gut genug, allein, das ist zu beklagen, daß man sich so sclavisch verhalten und allemahl 8 partes gebrauchen soll. Und so wird die Chria Practica weit grössern Nutzen geben, und einem freyen Gemüthe viel besser anstehen.105

Die antagonistische Gegenüberstellung einer „sclavischen“ Traditionsgebundenheit mit „einem freyen Gemüthe“ sowie das Schlagwort des Praktischen sind Reizthemen im pädagogischen Diskurs der Zeit um 1700, der zwischen Althumanisten, politischen Pädagogen, Pietisten und Frühaufklärern ausgefochten wurde. Eine eindeutige Lagerzuordnung ist dabei nur selten möglich. Das Beispiel Uhse zeigt z. B. erneut, dass das Galant-Höfische und die Frühaufklärung nicht so einfach voneinander zu trennen sind und ‚Aufklärung‘ nicht so eindeutig einer ‚bürgerlichen‘ Sphäre zuzuordnen ist. Die Befreiung von der strengen Normgebundenheit, die Christian Juncker seinen Schülern mit dem Lehrbuch seines Merseburger Kollegen zu ermöglichen versuchte, hat offensichtlich Wirkung gezeigt. Denn die Eisenacher Schülerreden offenbaren eine enorme Bandbreite. Bei vielen der Reden kann man die Strukturplanung nachvollziehen, weil die dispositio vor der eigentlichen Rede mit eingetragen worden ist, andere Autoren haben die Strukturpunkte als Marginalien im laufenden Text notiert. Man erkennt schnell, dass keine dispositio der anderen gleicht. Zwar kommen bestimmte kanonische Redeteile wie exordium, captatio benevolentiae, narratio, propositio, tractatio, conclusio/prologus in den meisten Reden vor, jedoch in sehr unterschiedlicher Anordnung. Nur zwei Beispiele seien hier noch genauer beschrieben: Johann Valentin Schramms (17) am 27. März 1713 gehaltene Abschiedsrede zum Thema von „Nutzen und Notwendigkeit der Historischen Skepsis“106 und Johann Daniel Winters (19) 103

Ebd., 8 f. aphtonianische Chrie bestand Uhse zufolge aus acht Teilen: 1. Laus autoris, 2. Paraphrasis, 3. Causa, 4. Contrarium, 5. Parabola, 6. Exemplum, 7. Testimonium, 8. Epilogus. Uhse, Wohl-informirter Redner (wie Anm. 92), 182 – 191. 105 Ebd., 192. 106 Stadtarchiv Eisenach, Bestand XXVI C 11, Bd. 5, 309 – 317. 104 Die

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Ausführungen über den Wahlspruch Vigilanter et constanter107 des regierenden Herzogs Johann Wilhelm von Sachsen-Eisenach.108 Schramms Rede ist nach einem einfachen und übersichtlichen Schema strukturiert: I. Exordium I. Thesis II. Ratio II. Propositio III. Tractatio I. Thesis I.  Paraphrasis II.  Ratio III. Amplificatio II. Thesis IV. Conclusio Dagegen zergliedert Winter sein Redemanuskript bis zur totalen Unübersichtlichkeit. Allein die dispositio der am 27. Juli 1712 gehaltenen Rede zieht sich als Baumdiagramm über fünfzehn Quartseiten. Erst dann beginnt die eigent­ liche Ausarbeitung. Zahlreiche Durchstreichungen und Korrekturen erschweren den Überblick. Möglicherweise haben Respekt und Furcht vor der höchsten Landesautorität diesen schulischen Übereifer in Gang gesetzt, auf jeden Fall zeigt das Beispiel aber, wie sehr die Strukturierung auch von der Kreativität der Schüler abhängig war. Dass Christian Juncker als Ghostwriter für seine Schüler fungiert hat, ist deshalb wenig wahrscheinlich. Dafür sprechen auch die unterschiedlichen Handschriften und zahlreichen Korrekturen in allen überlieferten Manuskripten.109 Alle Eisenacher Reden ausführlich zu analysieren und detailliert in den Kontext der „Transformationen der Rhetorik“ (Till) einzuordnen, wäre eine verdienstvolle Arbeit für eine längere Studie, zumal die Rhetorik­ geschichtsschreibung bislang ohne tatsächlich ausgearbeitete Exemplare auskommen musste. Vorläufig müssen wir uns jedoch mit der Feststellung begnügen, dass die Schüler des Eisenacher Gymnasiums, in Übereinstimmung mit den Prämissen des Lehrbuchs, das sie verwendeten, über erhebliche Gestaltungsfreiheit verfügten. Die Regelwerke der Antike funktionierten für sie nach einem Baukastensystem, aus dem man sich frei bedienen konnte. Wie einflussreich die Regeln und Freiheiten der Textgestaltung an anderen Schulen waren, an denen noch die Tradition herrschte, ob wirklich strengere Regeln dort galten, wo noch die Lehrbücher von Vossius, Kirchmann, Dieterich und Weise auf dem Lehrplan 107 „Wachsam

und beständig“. Eisenach, Bestand XXVI C 11, Bd. 5, 87 – 102. 109 Auch Lindners Befunde suggerieren die Selbstständigkeit der Schüler. Lindner, Bildungsfrüchte (wie Anm. 10), 35. 108 Stadtarchv



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standen, kann so lange nicht geklärt werden, wie keine zuverlässigen Quellenbestände aus weiteren Schulen auftauchen. 4. Die Wahl des Themas Während es also bei der Strukturierung der Texte Freiheiten gab, war dies bei der Wahl der Themen nicht unbedingt der Fall. Vielmehr weist alles darauf hin, dass die Themen von den Rektoren vorgegeben wurden. Aber nach welchen Prämissen verteilten diese die Themen? Zunächst gilt es zu differenzieren zwischen Themen, die im Rahmen einer Valediktionszeremonie vergeben wurden, und solchen, die einen Festtag oder eine Amtseinführung zum Anlass hatten. Zu letzterer Kategorie gehörte gleich der erste von Juncker organisierte Akt am 6. März 1708, der sehr deutlich die solchen Zeremonien inhärente Metaphorik und Symbolik veranschaulicht. Das Oberthema an diesem Tag lautete „Vom großen Interregnum“.110 Sieben Schüler sprachen unter anderem zum Begriff des Interregnums, zum großen deutschen Interregnum,111 zu den Gefahren eines Interregnums für den Staat und von Heilmitteln gegen ein solches. Auch eine Biographie Rudolphs I. von Habsburg (1218 – 1291), des Überwinders des Interregnums, ist vertreten. Die Gelehrten der Frühen Neuzeit liebten diese Art der historischen Metaphorik: Christian Juncker vergleicht sich hier – ohne es freilich direkt zu sagen – mit Rudolph I. Die königslose Zeit, die Zeit ohne Schuldirektor war nun vorbei. Ein neuer erster Mann im Staate war gekommen, um diesen zurück zur Ordnung zu führen. Seine Zuhörer hätten den Wink mit Sicherheit verstanden; die Metapher war geläufig. Christian Weise, den Juncker bewunderte, hatte in seiner publizierten Abschiedsrede vom Gymnasium in Weißenfels die Schule mit einem Staats­wesen verglichen, in dem der Direktor wie ein Fürst über seine Untertanen herrschte.112 Wenn ein Redeakt der Repräsentation diente, wählte man die Themen also dem Anlass entsprechend aus. Sie waren dann weder Prüfung noch Mittel zur Selbsterforschung oder ‚Charakterbildung‘, allenfalls zur ‚Menschenführung‘, denn in ihnen führte man den Schülern die soziale Ordnung vor Augen. Anders verhielt es sich, wenn der Redeaktus der Valediktion diente. Zu diesen Gelegenheiten gab es kein gemeinsames, für alle Redner bindendes Oberthema. 110 Christian

Juncker, [Schulprogrammm] II. Ad audiendas publice sex orationes quibus totidem selectae classis in Gymnasio Isenacensi Discipuli de Interregno Magno, quod, antequam eligeretur ab ordinibus Imperator, Rudolphus Habsburgicae Comes, horrendum in modum Germaniam adflixit, verba facient ex prompta memoria, Eisenach 1708. 111 Die Zeit der schwachen Königsherrschaft zwischen der Absetzung des Staufers Friedrich II. und der Wahl Rudolph I. von Habsburg zum römisch-deutschen König (1245 – 1273). 112 Christian Weise, Oratio I. de Statista Scholastico, in: Orationes duae quarum altera Statistam Scholasticum, altera Gymnasii Rectorem describit, Zittau 1678, B2v.

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Das zeigt sich auch an Junckers erster Valediktion am 11. April 1708, bei der fünf der sechs Schüler sprachen, die einen Monat zuvor „das große Interregnum“ behandelt hatten. Beginnen durfte der Schneidersohn (sartoris filius) Heinrich Christoph Göhring (21) 113 mit einer Rede über schicksalhafte Bedeutungen von Namen berühmter Persönlichkeiten.114 Nach ihm kam Johann Adam Knoll (21), der Sprössling eines Bäckers (panificis fil.), an die Reihe. Er verglich den Studenten der schönen Künste mit einer Biene.115 Der Metzgersohn (lanionis fil.) Johann Michael Rudolph (21) folgte und ›bewies‹ das allgemeine Sprichwort, die Morgenröte sei die Freundin der Musen.116 Johann Friedrich Reinhard Looß (23), dessen Vater Pfarrer war (pastoris fil.), hielt anschließend eine griechische Rede über die Heilmittel gegen die Armut.117 Den Abschluss machte der Bürgersohn (civis. fil.) Gottfried Keyser (19) mit einem Thema aus der ‚Technikgeschichte‘; er behandelte die Geschichte des Buchdrucks.118 Themen, die schulische Tugenden wie Frühaufstehertum und Fleiß propagierten, waren nicht ungewöhnlich, auch die Verbindung des allgemein ethischen Themas der „Heilmittel gegen die Armut“ in Verbindung mit Dank für ein Stipendium überrascht kaum. Das letzte Thema, über die Erfindung des Buchdrucks, entstand wahrscheinlich aus Christian Junckers persönlicher Vorliebe für alles Historische.119 Der Fall des Pastorensohns Looß, der über Heilmittel gegen die Armut sprach, legt darüber hinaus nahe, dass Themen auch gezielt bestimmten Schülern zugeordnet wurden. Sowohl das Thema selbst als auch die griechische Sprache, die man hauptsächlich für die Lektüre des Neuen Testaments benötigte, gehören zum Wissenshorizont eines Geistlichen, nicht aber eines Hofbeamten, Mediziners, Händlers oder Handwerkers. Wahrscheinlich erwartete man von Looß, dass er denselben Karriereweg wie sein Vater einschlagen würde. Das heißt die Themen, die die Schüler bearbeiteten, hatten nicht selten 113 Alle

Altersangaben nach der im Februar 1708 niedergeschriebenen Matrikel, Bd. 1, 20 v. eo, quod fatale dicitur in quibusdam nominibus. Stadtarchiv Eisenach, Bestand XXVI C11, Bd. 1 158r – 168v. Zum Beispiel wurde es als schicksalhaft betrachtet, dass ein Augustus am Anfang und ein Augustulus (460 – 476) am Ende des Römischen Reiches regierte. 115 de comparatione apis cum studioso bonarum litterarum. Stadtarchiv Eisenach, Bestand XXVI C 11, Bd. 1 169 – 174. 116 Oratio valedictoria contines demonstrationem proverbii: Aurora Musis amica. Stadt­ archiv Eisenach, Bestand XXVI C 11, Bd. 1, 175 – 183. 117 de Remediis Paupertatis, unacum Gratiarum actione. Stadtarchiv Eisenach, Bestand XXVI C 11, Bd. 1, 184 – 194. 118 Oratio Valedictoria explicans Queastionem de Primo Omnium Librorum Typis Impresso moderante. Stadtarchiv Eisenach, Bestand XXVI C 11, 195 – 207. 119 Im Schulprogramm kündigt Juncker alle Schüler mit nur einer Zeile an, aber das Thema des Buchdrucks nimmt er zusätzlich mit einer ganzseitigen historischen Abhandlung aus eigener Feder vorweg. Vgl. Christian Juncker, [Schulprogramm]: Dum crastino Die, qui erit d. XI. Aprilis Anni huius MDCCVIII. Qvinqve Discipuli Classis Selectae publicum Valedicere secum constituerunt, Eisenach 1708. 114 de



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einen gewissen Bezug zu den Berufszielen, die sie verfolgten (oder verfolgen sollten). Oder allgemeiner formuliert: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Themenzuordnung und der retrospektiven und präsumptiven Biographie des Schülers. Looß ist dabei nur ein Beispiel von vielen; so behandelten die Kinder von Hofräten überdurchschnittlich häufig Themen aus Zeitgeschichte oder Genealogie; Wissen, das sie benötigten, um eine Karriere im säkularen Hofdienst zu durchlaufen. Diese beiden Beispiele für einen repräsentativen und einen Valediktionsakt illustrieren recht gut das Gesamtbild der zwischen 1708 und 1713 unter Jun­ckers Rektorat gehaltenen Reden. Die 119 Reden aus dieser Zeit verteilen sich auf insgesamt acht Valediktionsakte im März oder April, fünf Redeakte zur Sommerhalbjahresprüfung im Juli oder August, vier repräsentative Akte zur Weihnachtszeit im Dezember, den oben genannten Akt zur Amtseinführung Junckers und einen weiteren zum 120-jährigen Jubiläum der Eisenacher Schulbibliothek am 19. November 1709. Letzterer galt anscheinend als Ersatz für einen Weihnachtsakt, da ein solcher aus dem Jahr 1709 nicht überliefert ist. Außerdem sind eine kleinere Anzahl Einzelreden erhalten, von denen eine zur Hochzeit des Herzogs (24. August 1708), eine andere zur Geburt eines herzoglichen Prinzen (7. April 1713) und die übrigen (wahrscheinlich) zur ‚privaten‘ Valediktion in der Stube des Rektors gehalten wurden. Insgesamt können die Reden den folgenden Fächern bzw. Oberthemen (in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit) zugeordnet werden: 1. Geschichte (30), 2. Moral und Ethik (19), 3. schulische Tugenden und didaktische Fragen (17), 4. Philosophie (15), 5. Theologie, Religion und Kirchengeschichte (13), Gelegenheits­ reden (11), Genealogie (8), Politik (5). Die behandelten Gegenstände waren vielfältig: Zu den historischen Themen zählen beispielsweise neben dem großen Inter­regnum und der Geschichte des Buchdrucks die Spanische Inquisition, die Kreuzzüge, eine Erörterung der Gründe für den Untergang des Römischen Reiches und die Geschichte der Eisenacher Schulbibliothek. Im Bereich Moral und Ethik ging es demgegenüber z. B. um die üble Nachrede und ihre Heilmittel, über die Demut und über die Güte bzw. das Wohlwollen (De benevolentia). Der Bereich Schulische Tugenden und didaktische Fragen widmete sich seinerseits Dingen wie dem Vergleich des Schülers mit einer Biene, dem Sonnenaufgang als Freund der Musen, aber auch Gefahren eines zu frühen Abgangs auf die Universität sowie der Notwendigkeit, die Muttersprache einzuüben. Philosophische Themen waren unter anderem der rechte Gebrauch der menschlichen Vernunft, der Unterschied zwischen Philosophie und Weisheit und die Gemütsruhe, während die Redner im Bereich Theologie, Religion und Kirchengeschichte z. B. über die Augsburgische Konfession, über die Notwendigkeit des Gottvertrauens und die Frage, ob ein Esel und ein Ochse bei der Krippe Christi standen, sprachen. Anlässe für Gelegenheitsreden waren ferner Glückwünsche, Jubiläen und Danksagungen (etwa für Stipendien); das Thema Genealogie wurde beinahe

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vollständig in einem einzigen Redeakt (26. Juli 1712) über die Wahlsprüche der sächsischen Kurfürsten abgehandelt. Im Fach Politik schließlich kamen Reden über die Notwendigkeit der Verwaltung in Kirche und Staat oder über den Zustand eines glücklichen Staatswesens auf die Bühne. Die offensichtliche Dominanz des Historischen am Eisenacher Gymnasium könnte man einzig der persönlichen Vorliebe von Direktor Juncker zuschreiben, wenn nicht die Forschungsergebnisse Max Schneiders über das Gymnasium in Gotha ein ähnliches Ergebnis hervorgebracht hätten. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, stieg auch in Gotha die Anzahl der historischen Themen massiv an, als 1727 der pietistische Rektor Gottfried Vockerodt gestorben war.120 Möglicherweise kann man also die Lust am Historisieren durchaus als Epochentrend identifizieren. Dies bestätigt auch indirekt Walther Ludwig für SchwäbischHall, wenn er bemerkt, dass dort „Reden über moralische und christliche Werte“ zwar etwas häufiger gewesen seien als „Reden über historische Ereignisse“, man jedoch zunehmend „jetzt aktuelle [=zeithistorische] Ereignisse gerne zum Anlass“ für Reden genommen habe.121 Ludwigs Quellenkorpus umfasste freilich nur die Zeit bis 1701; sein Befund weist mithin allenfalls auf den späteren Aufschwung des Historischen voraus. 5. Zwischen Leistungsschau und Patronage. Zur Aufführungspraxis der Valediktion Die frühneuzeitliche Gesellschaft zelebrierte ihre Ordnung zu allen nur denkbaren Gelegenheiten. Nicht nur bei Hofe herrschte ein strenges Zeremoniell, auch für Beerdigungen galt eine hierarchische Prozessionsordnung, und die Plätze in den Kirchen wurden nach ständischen Gesichtspunkten vergeben. Angesichts dessen wäre es naiv zu glauben, dass ausgerechnet die schulischen Repräsenta­ tions­akte ohne eine symbolische Demonstration der sozialen Ordnungsansprüche ausgekommen wären. Auch beruhte die Gesellschaft der Frühen Neuzeit sehr stark auf persönlichen Netzwerken und Patronage; und so war auch das Schulwesen offen für Praktiken, die buchstäblich ‚Vetternwirtschaft‘ beinhalteten, die aber weder illegal waren noch als illegitim betrachtet wurden. Der Vorteil der Eisenacher Quellen ist nun, dass man die Aufführungspraxis, insbesondere die Anordnung und Form der Ankündigung der Redner, mit deren sozialer Herkunft in Beziehung setzen kann. Dabei ergibt sich ein ziemlich eindeutiges Bild von einer Kultur der Bevorzugung wichtiger, reicher und adeliger Schüler.

120 Schneider, 121 Ludwig,

Themata 1693 – 1727 (wie Anm. 7), 2. Deklamationen (wie Anm. 18), 349.



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Der genaue Ablauf einer Valediktionsveranstaltung lässt sich aus den Eise­ nacher Akten nur schwer herleiten. Wahrscheinlich ist, dass mit einem Gebet und einer Ansprache des Rektors begonnen wurde; die Reihenfolge der Redner dagegen geht aus den gedruckten Schulprogrammen hervor. Dabei fällt zunächst auf, dass die Kinder von Hofräten, Adeligen und höher gestellten Geistlichen besonders hervorgehoben werden. Bei ihnen weist man eigens auf berühmte Vorfahren hin, während bei allen anderen lediglich eine kurze Formel wie civis fil. (Sohn eines Bürgers) steht. Gleich bei dem oben genannten ersten Akt zur Amtseinführung Junckers am 6. März 1708 wird die Bevorzugung der Nobilität deutlich: Ernst Wilhelm Rosa, der erst sechzehnjährige Sohn eines Eisenacher Hofrates, sprach als erster und hatte das Recht, seine – obwohl deutlich älteren – Mitschüler anzukündigen und ihre Reden kurz vorzustellen. Bei der kurz darauf folgenden Valediktion am 11. April 1708 sprachen dieselben Schüler, dieses Mal allerdings ohne Rosa, der erst ein Jahr später, am 3. April 1709, öffentlich Abschied nahm. Wieder durfte Rosa hier als erster sprechen. Auch war er derjenige Schüler, dem die Ehre zu Teil wurde, am 24. August 1708 die Glückwunschrede zur Hochzeit des Herzogs zu halten. Obwohl Christian Jun­ cker in seiner Dienstanweisung dazu verpflichtet worden war, sein Amt „ohne Ansehung der Person“122 auszuüben, war es offensichtlich nicht möglich, das Schulwesen zu einem Refugium zu machen, in dem die sozialen Hierarchien keine Rolle spielten. Am 21. Dezember des Jahres 1708 feierte das Gymnasium dementsprechend nicht nur Weihnachten, sondern auch die gesamte Ordnung der frühneuzeitlichen Gesellschaft: Den um die Geburt Christi herum angeordneten Themenkomplex123 eröffnete Georg Nötzel, Sohn eines Landadeligen, nach ihm sprach Johann Heinrich Wilhelm von Förster, Sohn eines sachsengothaischen Hof- und Justizrates. Die Mitte bestritt der einzige Bürgersohn der Gruppe, Johann Michael Schmoller, es folgten der Bruder Ernst Wilhelm Rosas, Heinrich Wilhelm Rosa, und Heinrich August von Zapff, dessen Vater in Gotha Hofrat war. Den Abschluss bildete der Nachkomme eines Pfarrers namens Heinrich Christoph Mehlich. Damit standen an Weihnachten fast alle Angehörigen der höheren Stände auf der Bühne, die zu dieser Zeit das Gymnasium besuchten. Auch verwandtschaftliche Beziehungen wurden am Eisenacher Gymnasium selbstverständlich zum persönlichen Vorteil genutzt. So befanden sich zur Zeit Christian Junckers zwei Schüler mit dem Nachnahmen Zapff auf der Schule, Heinrich August Zapff und dessen Vetter Christian Salomo Zapff. Bei 122 Vgl.

Anm 1. Juncker, [Schulprogramm] VII. De falsis non dubiis quibusdam Circa Nativitatem Servatoris hominum Jesu Christi, ad diem XXI. Decembr. A MDCCVIII Sex Discipuli Classis Selectae in Ill Gymnasi Isenacensi disserent ex prompta memoria Germanice, Latine, Graeceque, Oratione soluta pariter & adstricta numeris. Eisenach 1708. 123 Christian

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den Zapffs handelte es sich um eine weit verzweigte Familie von hochrangigen Hofbeamten,124 die auf Umwegen auch mit Christian Juncker verwandt waren.125 Heinrich August Zapff stammte aus Altenburg, wo sein Vater Nicolai Zapff als Hofrat diente; Christian Salomo war Sohn des Merseburger Geheimrats Salomo Zapff. Die beiden Jungen nun werden im Schulprogramm derart pompös angekündigt, dass sie im Kontrast zu ihren Mitschülern fast als Ehrengäste erscheinen. Das Programm listet neben den Vätern weitere illustre Verwandtschaftsbeziehungen auf: den Leibarzt der sächsischen Kurfürstin, Wilhelm Zapff, den gothaischen Hofrat Nicolai Zapff sowie einen zweiten Nicolai Zapff, General-Superintendent in Sachsen-Weimar. Letzterer nun war nicht nur der Großvater der beiden Schüler, sondern auch der Großvater von Christian Junckers Ehefrau (geb. Maria Elisabetha Wagner).126 Offensichtlich nahm niemand Anstoß an dieser öffentlichen Zurschaustellung von familiären Netzwerken in einem Schulprogramm. Christian Juncker gibt sich deshalb auch keine Mühe, die Angelegenheit zu verschleiern, offen, sogar stolz schreibt er über die berühmten Verwandten, sie seien „sanguine etiam nobis coniunctus“.127 Man darf erwarten, dass der Applaus, die performative Belohnung für eine gute Abschlussrede, bei den jungen Zapffs besonders üppig ausgeteilt wurde. Analysiert man die Redneraufstellung auch bei den übrigen Akten zwischen 1708 und 1713, so setzt sich der bisherige Eindruck fort. In der Regel sprach der Adel zuerst, aber nicht immer; so kamen etwa bei einer Valediktion am 27. März 1713 zwei Hofratssöhne aus Sayn-Wittgenstein an mittlerer (Ernst Helwig Avemann) und letzter Stelle (Johann Wilhelm Fabarius). Bei einigen Zeremonien trat überhaupt kein Adel auf, was aber daran liegen dürfte, dass zu diesem Zeitpunkt gerade keine valediktionsfähigen Mitglieder der Oberschicht die Schule besuchten. Einen meritokratischen Zug hatte das frühneuzeitliche Schulwesen folglich nur dann, wenn die Kinder der Bürger, Handwerker und Bauern unter sich waren. Für ein gewisses Spektrum an Berufen, zu denen wahrscheinlich mittlere und niedere Beamte, Pfarrer, Schreiber, Sekretäre sowie Haus- und Schullehrer gehörten, galt also (bedingt) das Leistungsprinzip. Insgesamt jedoch war die (Schul-) Gesellschaft bestrebt, ihren Mitgliedern die bestehende Rangordnung immer wieder vor Augen zu halten.

124 Alle

Informationen zu den Verwandtschaftsbeziehungen der Zapffens aus: Christian Jun­ cker, [Schulprogramm] IX. Miscellanea Curiosa ex Historia Ciuili Gallica nostri temporis, Eisenach 1709. 125 Anonymus, Ehren-Gedächtnis (wie Anm. 2), 31. 126 Ebd. 127 „Auch [sind sie] mit uns verwandtschaftlich verbunden“ Vgl. Juncker, Miscellanea Curiosa (wie Anm. 124).



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Epilog Was wurde aus den Schülern, die am 3. April des Jahres 1709 im Auditorium des ehemaligen Dominikanerklosters in Eisenach ihre Abschiedsreden hielten? Erfüllten sie im späteren Berufsleben die Erwartungen ihrer Eltern und Lehrer? Schafften Kinder aus den unteren Schichten vielleicht sogar den sozialen Aufstieg? Gerade letztere hatten sich viel vorgenommen: Johann Anton Munck aus einer lokalen Händlerfamilie z. B. plante, auf die Universität Jena zu gehen.128 Gleiches gilt vermutlich für Jakob Kallenbach, den Sohn eines „ehrlichen Bauern“, der sich, der Ankündigung seiner Rede nach, von Kindheit den Studien verschrieben hatte, und zwar gegen den Willen des Vaters (invito patre) [!].129 Bei Johann Michael Mühm schließlich, dem Sohn eines Eisenachischen Hofzimmermanns, war Juncker seinerseits überzeugt, dass dieser nach einem Studium auf der Universität Leipzig für sein Vaterland von großem Nutzen sein würde.130 Leider lassen sich diese Fragen zum heutigen Zeitpunkt nicht beantworten. Bei ersten kursorischen biographischen Recherchen (Biographieportal, ADB, NDB, biographische Lexika) konnte nicht einer der Eisenacher Schüler aus dem Jahrgang 1709 wiedergefunden werden. Was sie nach ihrer Schulzeit taten, ob sie erfolgreich studierten, eine Pfarrstelle oder ein Hofamt erhielten oder Lehrer wurden, ist nicht feststellbar. Ein ähnlich unbefriedigendes Resultat ergab die Nachforschung über die anderen Jahrgänge zwischen 1708 und 1713. Nur durch eine tiefergehende, sehr aufwändige Biographieforschung könnte also geklärt werden, wie weit ein Schüler wirklich kommen, was die rednerische Leistung im Schulauditorium ihm wirklich einbringen konnte. Außerdem wäre eine wesentlich breitere empirische Quellenbasis nötig, um valide Aussagen darüber zu treffen, welche Formen von sozialer Mobilität das Schulwesen ermöglichte. Insgesamt fällt die Antwort auf die Frage, welche Position die Valediktionspraxis zwischen Repräsentation und Patronage auf der einen und der durchaus als Ideal vorhandenen Bevorzugung des Leistungsprinzips auf der anderen Seite einnimmt, also zwiespältig aus. Einerseits schrieb der Valediktionsakt mit seiner hierarchischen Abfolge der Redner und der Zuordnung von Themen gemäß ihrem Stand die herrschende Ordnung fest. Seine Schüler tatsächlich „ohne Ansehen der Person“131 zu behandeln, ist Juncker vielleicht nie wirklich in den Sinn gekommen. Andererseits aber konnten sich auch ärmere Schüler aus niederen Ständen mit einer guten Redeleistung ein Stipendium verschaffen und die 128 Der

Titel seiner Rede lautete bezeichnenderweise „De studio peregrinandi“. Juncker, Miscellanea Curiosa (wie Anm. 124) 129 Sein Redethema dürfte Analogien zu seiner eigenen Biographie aufweisen: „De admirandis quibusdam circa infantes ac pueros“. Kallenbach spricht darin über Beispiele von Waisenkindern, die durch Glück, Gott und große Gönner zu höherer Bildung gelangt sind. Ebd. 130 Ebd. 131 Vgl. Anm. 1.

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Universität besuchen, und die Obrigkeiten schrieben das Leistungs- und Gleich­ behandlungsprinzip in den Schulordnungen fest. Die Valediktion beseitigte somit zwar nicht die soziale Ungleichheit der Ständegesellschaft, aber sie bildete ein – wenn auch kleines – Ventil, durch das einige wenige hindurchschlüpfen und Karriere machen konnten. Obwohl die Rhetorik der Frühen Neuzeit in ihrer Theorie bereits relativ gut erforscht ist, fehlt es bislang noch an Studien, die sich mit konkreten Praktiken des öffentlichen Redens beschäftigen. Der Beitrag nimmt daher die Schulrhetorik an Gymnasien um 1700 anhand eines umfangreichen Quellenbestandes aus dem Stadtarchiv Eisenach in den Blick, insgesamt 119 handschriftlich ausformulierten Reden von Schülern des Eisenacher Gymnasiums aus den Jahren 1707–1713. In der Forschung unbestritten ist die Tatsache, dass die Schulrhetorik dieser Zeit weiter einen Vorläufer zu Schulaufsätzen, speziell dem Abituraufsatz, darstellte. Ungeklärt blieb allerdings, ob die Reden auch dieselben Funktionen als Leistungsabfrage bzw. Schulprüfung erfüllten, wie ihre späteren Pendants. Um dieser Frage nachzugehen, stellt der Beitrag die Eisenacher Reden in ein Spannungsfeld zwischen Meritokratie und Repräsentation. Dabei erörtert er Argumente für und gegen eine Funktion als Prüfung, diskutiert die Bedeutung der Themenwahl, Regeln sowie Freiheiten der Textgestaltung und analysiert zuletzt die Aufführungspraxis. So zeigt sich gerade am Beispiel der Inszenierung von schulischen Redeakten, dass sie als eine Mischung aus meritokratischer Prüfung, zeremonieller Repräsentation und Festigung der bestehenden Gesellschaftsordnung betrachtet werden müssen. Despite great scholarly interest in early modern rhetorical theory, researchers have devoted relatively little attention to actual practices of public speaking in the Early Modern period. A body of 119 handwritten texts from 1707–1713 held in the municipal archive of Eisenach helps to address this lacuna by revealing how rhetoric was practiced in early modern schools. While there is no doubt among scholars that pupils’ speeches were predecessors to the modern German school essay (Aufsatz), it remains uncertain whether the speeches fulfilled the same functions as the later essays, in, for example, serving as examinations. This contribution investigates the tension between meritocracy and representation in the pupils’ speeches and lays out the arguments for and against considering them as a form of examination by looking at factors such as the choice of theme, the rules for shaping the text (and the degree of leniency allowed in adhering to rules) as well as actual practices of delivery. This last part in particular leads to the conclusion that school speeches were a mixed form, combining meritocratic testing, ceremonial representation and the consolidation of existing social hierarchies. Jens Nagel M. A., Johannesstraße 3a, 99867 Gotha, E-Mail: [email protected]

Michael Rocher „Fleiß ist die halbe Tugend schon – Liebet ihn: herzlich ist sein Lohn.“ Schülerarbeiten und Aufsätze des späten 18. Jahrhunderts als ‚neues‘ moralisches Erziehungsinstrument?

Als besonderes Kennzeichen der Pädagogik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gilt ihr Programm der Bildung der Schüler hin zu einer nie ganz erreichbaren Vollkommenheit. Wie Ulrich Hermann es ausdrückt: „Die pädagogische Reformbewegung der Philanthropen – ‚Menschenfreunde‘ – besaß ihre historische Identität im Glauben an die Vervollkommnung (‚Perfektibilität‘) und Versittlichung des Menschen durch die Allmacht der Erziehung“.1 Doch wie und woran machte sich dieser Glauben an die Perfektibilität des Menschen im Schulwesen der Zeit eigentlich bemerkbar? Lässt sich der von der Forschung konstatierte Anspruch der Pädagogen auf Vervollkommnung und Versittlichung durch Erziehung in der schulischen Praxis nachweisen, etwa anhand der Einführung neuer Unterrichtsmethoden? Zur Beantwortung der Frage, worin sich die Idee einer anzustrebenden Vollkommenheit im Schulwesen des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts, der sogenannten „Spätaufklärung“, konkret manifestiert, möchte ich im Folgenden durch die Untersuchung von schriftlichen Schülerarbeiten aus mehreren höhe­ren Schulen beitragen. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung stehen dabei Quellenfunde aus den Archiven des Königlichen Pädagogiums in Halle, des Philanthropins in Dessau und der Erziehungsanstalt Schnepfenthal des Zeitraums von 1770 bis 1800. Gab es überhaupt eine erkennbare Veränderung in der Schulpraxis zu Ende des 18. Jahrhunderts – insbesondere bei den überlieferten Schülerarbeiten –, und wie verweist ein möglicher Paradigmenwechsel auf einen neuen Anspruch an eine erzieherische Versittlichung der unterrichteten Kinder? Welche Rolle spielte Schriftlichkeit in Schulen am Ende des 18. Jahrhunderts und welches Erziehungsziel sollte damit erreicht werden? 1 Ulrich

Hermann, Aufklärung und Erziehung. Studien zur Funktion der Erziehung im Konstitutionsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Und 19. Jahrhundert in Deutschland, Weinheim 1993, 99.

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128

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Generell ist an den Schulen dieses Zeitraumes eine am Gedanken einer Vervollkommnung orientierte Praxis erkennbar: An vielen Schulen dieser Zeit setzt plötzlich eine minutiöse Beurteilungs- und Bewertungspraxis ein. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit es sich dabei um eine singuläre beziehungsweise originär schulische Entwicklung handelte. Zeitlich parallel dazu hatten nämlich auch arkane Sozietäten und Geheimbünde ihre Hochphase und deren Beobachtungs- und Disziplinierungsmethoden ähneln mitunter stark der Bewertungspraxis des Schulwesens. Ich werde daher in einem zweiten Untersuchungsschritt die Schulpraxis der Praxis der geheimen Sozietäten gegenüberstellen und damit der Frage nachgehen, ob es eine Wechselwirkung zwischen der Schulpraxis und der Erziehungspraxis in geheimen Sozietäten gegeben haben könnte. Ein besonderer Fokus wird hierbei auf dem 1776 gegründeten Illuminatenorden liegen, der sich mehr noch als andere Geheime Sozietäten eine Art Erziehungsprogramm zur Verbesserung der Menschheit als Utopie auf die Fahnen geschrieben hatte.2 Das Ziel des Ordens, wie es dessen Gründer Adam Weishaupt (1748–1830) formulierte, erinnert bis in die Wortwahl hinein an die eingangs zitierte Charakteri­ sierung der pädagogischen Konzepte der Zeit in der bildungsgeschichtlichen Forschung: Immer wachsende Vollkommenheit und Entwicklung des menschlichen Geschlechts, Vermehrung der Sittlichkeit, als die einzige Quelle aller wahren Menschenglückseligkeit, als der Grund aller dauerhaften Reformen, Unterordnung der Zwecke, innere Vollkommenheit als das höchste Gut des Menschen.3

Diese Untersuchung gilt also zum einen der Frage nach Schriftlichkeit und Schule im Allgemeinen sowie deren Entwicklung im gewählten Zeitraum. Des Weiteren soll nach der pädagogischen Praxis von Geheimbünden gefragt und ein möglicher Einfluss von Geheimbünden auf das Bildungssystem im späten 18. Jahrhundert nachvollziehbar werden. I. Schriftlichkeit und Schulunterricht im späten 18. Jahrhundert Das Verhältnis von Schriftlichkeit und Schule wurde in seiner historischen Perspektive in der Bildungsforschung bislang eher selten thematisiert. Bei den meisten Arbeiten zur allgemeinen Bedeutung von Schriftlichkeit an Schulen ging es 2 Vgl.

dazu Peggy Pawlowski, „…sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken“. Der Beitrag Johann Adam Weishaupts zur Pädagogik des Illuminatismus, Diss. phil.. Jena 2004 (online abrufbar unter der URL: http://www.db-thueringen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-3064/Pawlowski.pdf, 23. 10. 2014), Manfred Agethen, Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, München 1984. 3 Zit. nach Pawlowski, „… sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken“ (wie Anm. 2), 97.



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auch nicht um das Erlernen der Schriftsprache, sondern vielmehr um den Schulaufsatz als konkreter Form von Schriftlichkeit. Hintergrund dieser Fokussierung ist die Bedeutung des Aufsatzes als Form der Abiturprüfung ab ca. 1800 und damit als Schulabschluss, der erst zum Besuch von Universitäten berechtigte. Alle Untersuchungen hierzu kommen aus den Erziehungswissenschaften oder der Germanistik und betrachten den Aufsatz nur beiläufig in seiner historischen Dimension; viele dieser Arbeiten ringen mit der Bedeutung des Mediums Aufsatz in ihrer jeweiligen Entstehungszeit.4 Erschwerend kommt hinzu, dass Aufsätze erst mit ihrer Aufwertung als Schulabschlussprüfung, wie beispielsweise ab 1788 in Preußen, zunehmend archiviert wurden. Die flächendeckende Umsetzung konnte Preußen nicht sofort gewährleisten, und wie sich in anderen deutschsprachigen Gebieten vergleichbare Abschlussprüfungen durchsetzten, ist im Moment nicht hinreichend erforscht.5 Schriftliche Formen von Schülerarbeiten vor den 1780er Jahren sind in jedem Fall äußerst selten erhalten und wurden deshalb auch bisher kaum in der Forschung thematisiert.6 Literatur, die sich mit Schulaufsätzen und generell schriftlichen Schülerarbeiten in historischer Perspektive beschäftigt, findet sich am häufigsten auf in der Germanistik und besonders im Bereich der historischen Erforschung der Entstehung des Deutschunterrichts. In diesen Arbeiten werden Schülerarbeiten des 18. Jahrhunderts meistens innerhalb längsschnittartiger Untersuchungen eher am Rande behandelt. In eine solche Kategorie fällt beispielsweise Otto Ludwigs Der Schulaufsatz. Seine Geschichte in Deutschland aus dem Jahr 1988. Doch im Gegensatz zu allen anderen Forschungsarbeiten vor ihm liefert Ludwigs Studie das wohl umfassendste Bild zu diesem Thema und ist deshalb bis heute als eine der aktuellsten Arbeiten auf diesem Gebiet zu bezeichnen. Ludwig stellt ausgehend von der Antike die Entwicklung des schriftlichen Unterrichts dar, der besonders am Ende des 18. Jahrhunderts den hohen Stellenwert des Mündlichen ersetzt habe. Ludwigs Thesen hierzu lauten:

1. Es gab eine allmähliche Entwicklung weg von einer ‚absoluten Latinität‘, die noch im 15. Und 16. Jahrhundert herrschte, hin zu mehr Anteilen der deutschen Sprache im Unterricht zu Ende des 18. Jahrhunderts. 2. Mit dieser Entwicklung sei auch eine Abwertung des Mündlichen gegenüber dem Schriftlichen einher gegangen; zuvor sei das Mündliche bedeutender als die Schriftlichkeit gewesen. 4 So

zum Beispiel: Eduard Haueis, Die theoretische Grundlegung des gegenwärtigen Aufsatzunterrichts, Essen 1971. Juliane Eckhardt, Hermann Helmers, Reform des Aufsatzunterrichts. Rezeption und Produktion pragmatischer Texte als Lernziel, Stuttgart 1980. 5 Zitiert in der Literatur wird immer wieder die Einführung in Preußen: So etwa von. Heinrich Bosse, Bildungsrevolution 1770 – 1830. Mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari, Heidelberg 2012, 197: „eingeführt von 1788 bis 1834“. Bei Ludwig „endgültig“ ab 1812. Otto Ludwig, Der Schulaufsatz. Seine Geschichte in Deutschland, Berlin – New York 1988, 5. 6 Ludwig, Der Schulaufsatz (wie Anm. 5), 5.

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3. Ab etwa 1770 habe sich eine neue Form von Schülerarbeiten entwickelt, der selbstständige Schüleraufsatz, welcher mit sich brachte, dass sich im Schriftlichen immer mehr Stilformen verbreiteten und so das Primat der Schriftlichkeit gegenüber der Mündlichkeit verstärkt wurde.7 Ein Problem bei Ludwigs Studie bleibt die teils stark teleologische Ausrichtung seiner Arbeit. Die von ihm behauptete Entwicklung des Schulaufsatzes vollzieht sich in seiner Darstellung nahezu geradlinig. Damit einher geht auch, dass Ludwig kaum Quellen aus dem 18. Jahrhundert ausgewertet hat, was er zwar selbst in der Einleitung zugibt, was aber dennoch zur Folge hat, dass er seine Thesen ohne prüfende Hinzuziehung der Praxis aufgestellt hat.8 Eine aktuellere Arbeit zur Entwicklung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Schulunterricht des 18. Jahrhunderts stellt Heinrichs Bosses Bildungsrevolution 1770–1830 aus dem Jahr 2012 dar. Im Kapitel „Dichter kann man nicht bilden. Zur Veränderung der Schulrhetorik nach 1770“ beweist Bosse anhand von Zitaten und Quellenbelegen aus Schulprogrammen des Jahrhunderts umfangreich die Veränderung des Rhetorikunterrichts nach 1770 und stellt dazu Bezüge zur Bedeutung desselben im 17. und zu Anfang des 18. Jahrhunderts her. Damit beschreibt er zugleich die Bedeutungszunahme der Schriftlichkeit und im Speziellen der Schulaufsätze in den Schulen. Allerdings fehlen auch bei ihm die Quellenbelege anhand von Schülerarbeiten.9 Bosse zeigt jedoch auf, wie verschiedenartig diese „Bildungsrevolution“ lokal erfolgte. Bis in die 1760er Jahre (regional auch später) sei die Valediktionsrede – die Abschlussrede des Schülers – der Akt gewesen, mit dem der Schüler feierlich von der Schule entlassen wurde. Die Rede war also der Endpunkt der schulischen Ausbildung. Keine zwanzig Jahre später sei die Abschlussrede allenfalls noch Schmuckwerk gewesen und in ihrer Bedeutung stark hinter dem Abschlussaufsatz zurückgetreten.10 Generell habe sich der Fokus in dieser Zeit verschoben: Es gilt nicht mehr Dichter und Redner auszubilden, es gilt den schriftlichen Ausdruck zu schulen. […] Die Schriftlichkeit ist zum hervorstechenden Merkmal der öffentlichen Mitteilung geworden. In diesem Bereich, im Diskurs, der Interessen und Ideen, Wirklichkeit und Sprache miteinander in Beziehung setzt, werden die Verhältnisse zwischen Autor, Empfänger und Text neu bestimmt.11  7 Diese

Gliederung stellt von mir so verstandene Zusammenfassung von Ludwig dar. Ebd., 23 – 4 4 und 84 – 122.  8 Ludwig führt nur Quellen aus der Hohen Karlschule, einer Militärakademie, an. Diese Belege widersprechen seinen Thesen jedoch bereits zum Teil, da die Übergänge in der Pädagogik regional sehr verschieden waren. Ebd., 4 f. und 94 – 104.  9 Zum generellen Quellenproblem bei der Untersuchung der Schulpraxis des frühen 18. Jahrhunderts vergleiche den Aufsatz von Jens Nagel in diesem Band. 10 Bosse, Bildungsrevolution (wie Anm. 5), 193 – 236. 11 Ebd., 197 und 199.



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Gegen Ende des 18. Jahrhunderts nahm also die Bedeutung von Schriftlichkeit in Schulen zu, was darin kulminierte, dass der Schulaufsatz sich allmählich als Form des Abschlusses der höheren Schullaufbahn gegenüber der Rede durchsetzte. II. Schülerarbeiten in den Archiven in Halle, Dessau und Schnepfenthal Die drei von mir untersuchten Schulen waren Internate von überregionaler Bedeutung mit weitem geographischem Einzugsgebiet der Schülerschaft.12 Die älteste dieser drei Einrichtungen stellt das Pädagogium Regium der Franckeschen Stiftungen in Halle dar, welches bereits 1695 gegründet wurde und bis ins 19. Jahrhundert existierte. Das Philanthropin in Dessau wurde 1774 gegründet, bestand aber nur bis 1793, die Erziehungsanstalt Schnepfenthal wurde 1783/84 gegründet und existiert – nach mehreren Veränderungen – bis heute. Die überlieferten Schülerarbeiten des Pädagogiums stammen allesamt aus der Zeit nach 1770. Es sind Probearbeiten der abgehenden Schüler aus den den Jahren 1773 bis 1816 erhalten, des Weiteren Preisschriften aus den Jahren 1785 und 1786. Teil dieser Probearbeiten sind auch fiktive Briefe von Schülern. Dazu kommen noch Prüfungsakten, deren Überlieferung ab 1789 einsetzt und bis in die 1790er Jahren hineinreicht. All diese Quellen habe ich für diesen Aufsatz stichprobenartig auf ihren Inhalt hin untersucht und werde hierzu einige Beispiele ausführen. Erwähnenswert sind zudem aber auch einige erhaltene Redeübungen, deren Überlieferung ab 1782 einsetzt, deren Umfang jedoch tatsächlich eher gering ist. Von zusätzlicher Bedeutung in diesem Kontext ist die Reform des Pädagogiums durch August Hermann Niemeyer in den Jahren 1785/86, deren Auswirkungen auf die dortige Schulwirklichkeit bisher kaum erforscht wurden.13 Die offene Frage an dieser Stelle bleibt, warum die Überlieferung von Arbeiten und Prüfungen der Schüler des Pädagogiums erst so spät einsetzt. Schon 12 Das beweisen die Schülerverzeichnisse der jeweiligen Schulen. Bisherige Aufsätze und Publikationen hierzu: Peter Menck, Das Pädagogium der Franckeschen Anstalten in Halle an der Saale, in: Andreas Hoffmann-Ocon u. a. (Hg.), Dimensionen der Erziehung und Bildung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Margret Kraul, Göttingen 2005, 29 – 48. Bernhard Basedow, Untersuchung über die Entwicklung des Dessauer Philanthropinums und des Dessauer Erziehungsinstitutes 1775 bis 1793, in: Jahrbuch für Erziehungs- und Schulgeschichte 23 (1983), 30 – 61. Johannes Ludolf Müller, Die Erziehungsanstalt Schnepfenthal 1784 – 1934. Festschrift aus Anlass des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Anstalt, Schnepfenthal 1934, 206 – 211 (Verzeichnis sämtlicher Schnepfenthaler Zöglinge). 13 Die aktuellste Arbeit zu dieser Thematik: Brigitte Klosterberg, Krise und Neubeginn. Niemeyer – der zweite Gründer der Franckeschen Stiftungen, in: B. K. (Hg.), Licht und Schatten. August Hermann Niemeyer, ein Leben an der Epochenwende um 1800, Katalog zur Ausstellung, Halle 2004, 110 – 139.

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August Hermann Francke schrieb in der II. Fortsetzung der Wahrhaften und umständlichen Nachricht vom Waysen-Hause 1706 über die Ausbildungsziele des Pädagogiums: Nebst dem Grunde des wahren Christenthums, welchen man ihnen wohl zu includieren trachtet, werden sie unterrichtet in der Lateinischen, Griechischen, Hebräischen und Französischen Sprache, wie auch einen guten Teutschen Aufsatz zu machen, anbey eine feine Hand zu schreiben […].14

Schriftliche Arbeiten, auch in der deutschen Sprache, müssen also auch schon zuvor in der Praxis des Pädagogiums eine Rolle gespielt haben. Quellen hierzu fehlen im Archiv der Franckeschen Stiftungen, jedoch geht ein älteres Narrativ der Forschung davon aus, dass die Franckeschen Stiftungen zusammen mit der zur gleichen Zeit gegründeten Universität Halle nicht mehr dem alteuropäischen Gelehrsamkeitsideal einer lateinisch-eloquenten Bildungseinrichtung verpflichtet gewesen wären und neue Akzente im Unterricht der Muttersprache setzten. Dieser Narrativ findet sich beispielsweise in einem Aufsatz von Detlev Kopp. In der neueren Forschung wird dies allerdings relativiert.15 Einen Hinweis auf den Anteil der deutschen Sprache im Unterricht des Päda­ gogiums liefert eine bisher wenig beachtete Schrift von Hieronymus Freyer: Verbesserte Methode des Paedagogii Regii zu Glaucha vor Halle. Freyer geht in dieser Schrift bezüglich des vom Umfang her wichtigsten Unterrichtsfaches, dem Lateinunterricht, explizit auf den Anteil der deutschen Sprache im Unterricht ein; so spielte Deutsch noch bis in die dritthöchste Klasse des Unterrichts, der Tertia, eine nicht unwichtige Rolle.16 Inwiefern die Konzeption auch der Praxis entsprach, ist noch nicht erforscht, Freyers Ausführungen können aber beweisen, dass die deutsche Sprache durchaus eine Rolle in der Schulpraxis der 1720er Jahre am Pädagogium spielte. Die Bestände an erhaltenen Schülerarbeiten in den Archiven in Dessau und Schnepfenthal sind weitaus geringer, als dies in Halle der Fall ist. In Dessau sind einige kleine Schreibübungen und kürzere Aufsätze von meist jüngeren Schülern erhalten. Prüfungsakten, Preisschriften oder ähnliche schriftliche Arbeiten sind nicht überliefert. Dafür befinden sich einige fiktive und eventuell auch ei14 Aus

der II. Forstsetzung der Wahrhaften und umständlichen Nachricht vom WaysenHause und übrigen Anstalten zu Glaucha vor Halle, den 14. November Anno 1706, zitiert nach: August Hermann Francke, Segensvolle Fußstapfen, hg. von Michael Welte, Gießen 1994,187. 15 Detlev Kopp, (Deutsche) Philologie und Erziehungssystem. In: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 1994, 669 – 741, hier 672 ff.; Dagegen spricht: Marianne Taatz-Jacobi, Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrich-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik – Motive, Verfahren, Mythos (1680 – 1713), Berlin 2014, bes. 20 – 25. 16 Hieronymus Freyer, Verbesserte Methode des Paedagogii Regii zu Glaucha vor Halle, Halle 1721, 6 – 42. Diese Schrift ist auch online abrufbar: https://lhhal.gbv.de/DB=1/SET=5/ TTL=1/SHW?FRST=1 (03. 07. 2016).



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nige echte Briefe in den Beständen. In Schnepfenthal gibt es nur zwei erhaltene Schülerarbeiten aus dem 18. Jahrhundert. Zum einen handelt es sich um einen Briefwechsel eines Schülers mit seinem Vater, zum anderen um ein Tagebuch des Schülers Johann Wilhelm Ausfeld. Es wird mir im Folgenden nicht darum gehen, Unterschiede zwischen den drei Einrichtungen herauszuarbeiten, dies würde ein zu umfangreiches Unterfangen darstellen. Die vorgestellten Schülerarbeiten sollen vielmehr zunächst generell als Zeugnisse der Schulwirklichkeit zu Ende des 18. Jahrhunderts dienen. Ich werde daher alle hier präsentierten Arbeiten zunächst in Kategorien einordnen und sie anschließend analysieren. 1. Glauben und Wissen Die ersten beiden Kategorien sind Glauben und Wissen als die Bereiche, die wohl am wenigsten spezifisch für das Schulwesen des 18. Jahrhunderts sind. Kinder zur Gottesfurcht anzuhalten, war meistens Aufgabe der Lehrer in den unteren Schulklassen. Am Pädagogium finden sich Probearbeiten aus den 1770er Jahren, welche den Schülern in der Mitte des Schulhalbjahres als Vorbereitung auf die jeweiligen Kursabschlussprüfungen am Ende des Semesters dienten. Es handelt sich hier vorwiegend um Übersetzungsaufgaben, bei denen die Aufgabe für die Schüler darin bestand, von den Lehrern ausgewählte Texte in deutscher Sprache ins Lateinische oder Französische zu übersetzen. Besonders in den unteren Klassen finden sich Ausgangstexte, die sich mit Fragen des (christlichen) Glaubens und Gottesbildes auseinandersetzen. Dass kleineren Kindern eher solche Aufgaben gegeben wurden, korrespondiert dabei durchaus mit Schulprogrammen aus dem Anfang und der Mitte des Jahrhunderts, welche für kleinere Kinder zunächst die Einführung in den christlichen Glauben durch Gesang, Gebete sowie Danksagungen und den entsprechenden Unterricht in Luthers Katechismus vorsahen.17 So ging es bei der Übersetzungsaufgabe der Quarta Lateinklasse im Jahre 1773, also der zweitniedrigsten Lateinklasse, um folgendes Thema: Vernunft und Schrift beweisen, daß Gott sey, welcher die Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen hat, daß Sie glücklich seyn möchten. Er hat verheißen, daß er ihnen den Himmel geben wolle, wenn Sie seine Gebote beobachten, und den Glauben an Jesum Christum bis ans Ende behalten würden. Glücklich ist der, der von Gott in dieser und in jener Welt gesegnet wird.18 17 Hier

könnten mehrere Schulprogramme der Zeit als Beispiel dienen. Eines des Direktors des Lyzeums Riga, Johann Loder aus dem Jahre 1729: Latvijas Valst vestures arhivs (Historisches Staatsarchiv Lettlands), Fond 4038, Findbuch 2, Akte 1003, Blatt 6 – 8. 18 Archiv der Franckeschen Stiftungen (abgekürzt mit AFSt), Schularchiv (abgekürzt S), C,

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Selbstverständlich spielte der Glaube an Gott auch in höheren Klassen, wie der zweithöchsten Lateinklasse, eine – wenn auch wesentlich abstraktere – Rolle. Texte in diesen Klassen umfassen zusätzlich bereits Grundsätze und Orientierungshilfen zur Lebensführung. Das folgende Beispiel stammt ebenfalls aus dem Jahr 1773 und ist eine Übersetzungsvorlage für eine Lateinübersetzung: Amynt liebt sein Leben, weil ers als Geschenke der Vorsehung ansieht, das er geniessen und nützen soll. Er flieht die Unmäßigkeit und alle stürmischen Leidenschaften, als Feindinnen der Gesundheit und des Lebens. Er beschäftigt sich nützlich und stärkt dadurch seine Kräfte. Die Gelassenheit, welche die Arzeney seines Geistes ist, wird auch die Arzeney seines Körpers. Er wünschet den Tod nicht, und wünschet ihn nicht zitternd. Er hält sein Leben für rühmlich angewendet, wenn ers nach den Befehl Gottes anwendet. Der Fleiß und Eifer, Gutes zu thun, belohnet ihn mit einem inneren Beyfalle, der ihn über den Verlust des Lebens erhebt, Verliehrt er dasselbe in edlen Thaten, in Sorgen und Bemühungen für die Seinigen, seine Freunde, sein Vaterland, und die Nachwelt, so hat ers in seiner Bestimmung glücklich verlohren. Ein einziger Tag, an dem man Tugendhaft und weißlich gelebt, derjenige glaubt er, ist mehr werth, als eine ganze in Sünde verbrachte Ewigkeit.19

Ein Schüler, der dies ins Lateinische übersetzen musste, bekam also eine ganze Reihe an Hinweisen zu einer guten Lebensführung mit auf den Weg. Die Schüler werden zu einem tugendhaften Leben angehalten, bei dem der Tod nicht gefürchtet werden soll. Die Rolle von Gott und Glauben stellt in diesem Beispiel eher einen allgemeineren Bezugsrahmen von ‚tugendhafter‘ Handlung dar. Anhand der Bestände des Pädagogiums lassen sich zudem Ludwigs und Bosses eingangs gestellte Thesen hinsichtlich der Entwicklung der Bedeutung von Aufsätzen bestätigen. Finden sich in den 1770er und 80er Jahren noch keine von Schülern selbst verfassten Schriftsätze, so sind aus dem Jahr 1793 erste Abschlussprüfungen der Prima (also der höchsten Klasse) erhalten, welche in der Form von Aufsätzen verfasst sind. In den Prüfungsarbeiten, welche in diesem Fall für das Fach Geschichte angefertigt wurden, mussten die Schüler jeweils zwei kürzere Texte auf Französisch und Latein verfassen und anschließend einen längeren Aufsatz in deutscher Sprache schreiben sowie einzelne Fragen zur Geschichte, ebenfalls auf Deutsch beantworten.20 Das Thema wurde vom Lehrer vorgegeben und lautete „Über das Entstehen des Nordamerikanischen Freistaates“: Es ist gewiß eine der vorzüglichsten und nützlichsten Beschäftigungen des menschlichen Verstandes, dem Ursprunge mächtiger Reiche nachzuforschen, und ihn dann in seiner Vervollkommnung von Stufe zu Stufe zu folgen; dis wird uns gewiß bei ­iedem V, 201, sub examine vernale, Classis VI Latinae, deutscher Ausgangstext (Quelle nicht paginiert). 19 AFSt, S, C, V, 201, examine sub vernale, Ordine Latinae II superior, deutscher Ausgangstext (Quelle nicht pagniert). 20 AFSt, S, C, V, 178.



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ietzigen Staate möglich sein. Die meisten noch so mächtigen Reiche entstanden durch einen sehr kleinen Anfang, und haben sich dann almählig bald schneller bald langsamer entwickelt, bis sie die Stufe erreicheten, auf welcher wie sie im höchsten Flor sahen, oder noch ietzt erblicken. […] Es verdient aber gewiß kein Staate, der in der älteren, noch neueren Geschichte unserer Aufmerksamkeit und Bewunderung mehr, als der nordamerikanische Freistaat: deßen Heranwachsen gewiß die Aufmerksamkeit eines ieden, der von dergleichen Sachen Intreße findet, auf sich gezogen hat, und künftig noch auf sich ziehen wird. Es wird also nicht von geringen Nutzen sein, ihn von seiner Entstehung an, bis auf die Zeit als er unabhängig wurde zu verfolgen. […]21 [es folgt eine sechsseitige Ausführung der Geschichte der Entstehung. M. R.]

Der deutschsprachige Aufsatz wurde von den Schülern selbstständig geschrieben, obwohl sich ein ähnlicher Aufbau in allen erhaltenden Prüfungen erkennen lässt und die Schüler wohl schriftlichen Stil im Unterricht gelehrt bekamen.22 Am Beginn stand immer eine Einleitung, die die Bedeutung der Erforschung der Geschichte hervorhob, danach folgte ein Überblick über große Imperien in der Geschichte, um schlussendlich zur eigentlichen Thematik zu kommen und die historische Ereigniskette wiederzugeben.23 Im Nachlass des Philanthropins Dessau sind ebenfalls Schülerarbeiten erhalten, welche historische Themen behandeln. Allerdings sind diese wesentlich kürzer und ihre genaue Funktion ist schwer zu deuten. Im Katalog des Archivs lautet die Überschrift dieser Bestände ‚Übungen‘. Auch in welcher Zeit sie entstanden sind, lässt sich nicht genau bestimmen. Es ist aber anzunehmen, dass sie aus den späten 1770er oder frühen 1780er Jahren stammen.24 Der Schüler Krebs verfasste folgendes Schriftstück: Heinrich der Vierte König in Frankreich, sagte kurz vor seinem Tode zu dem spanischen Abgesandten, daß er sich entschloßen habe mit seinen Kriegesherrn in Italien einzudringen, zu Mayland wolle er frühstühcken, hernach zu Rom die Meße hören; und endlich zu Neapolis das Mittagsmal einnehmen, Worauf der spanische Gesande ihm folgende sinreiche Antwort gab. Wenn euer Majestät so geschwinde reisen wollen, daß sie am Morgen zu Mayland und zu Mittag in Neabel umdrehen wollen, so können sie zur Vesperzeit in Sicilien seyn.25

Eine mögliche Funktion lässt sich hier jedoch erahnen: historische Begebenheiten möglichst mehrschichtig mit einem gewissen Humor erlernen zu können. Denn der spanische Gesandte kontert hier den Wunsch Heinrichs IV. von Frankreich, die Spanier innerhalb eines Vormittages aus ihren Besitzungen auf der 21 AFSt,

S, C, V, 178, Schüler Ebmeyer. Der Schulaufsatz (wie Anm. 5), 132 – 139. 23 Eine genauere Auswertung der Stilistik kann ich in diesem Artikel nicht vornehmen, da dies eine genauere Untersuchung der Lehrbücher des Zeitraums beinhalten müsste. 24 Von 1776 bis 1788 gab es die meisten Schüler an der Schule, später wurden kaum noch Schüler aufgenommen. Zu sehen an den Zeittafeln bei: Basedow, Untersuchung über die Entwicklung des Dessauer Philanthropinums (wie Anm. 12), 53 – 61. 25 Nachlass des Philanthropins: Reliquiae Philantropini (abgekürzt Rel. Phil.), III, 14, 1, Blatt 33. 22 Ludwig,

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italienischen Halbinsel vertreiben zu wollen, mit der Anspielung auf die sogenannte sizilianische Vesper, eine Erhebung des Jahres 1282, durch die die Herrschaft des damaligen französischen Königs Karl I. über Sizilien beendet wurde. 2. Fleiß und Disziplin Schülerarbeiten sollten das gesamte 18. Jahrhundert hindurch der Steigerung der Disziplin und des Fleißes der Schüler dienen. Der Unterschied zwischen dem Anfang und dem Ende des Jahrhunderts liegt jedoch in der Systematik, wie Fleiß und Disziplin angeregt werden sollten. Diese Systematik werde ich am Ende dieses Artikels ausführlicher behandeln. Im Hinblick auf konkrete schriftliche Übungen der Schüler im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts fällt auf, dass gerade für junge Schüler besonders kurze Merkverse Teil des Unterrichts waren. Solche kurzen Sätze finden sich vorwiegend in den Beständen des Philanthropins Dessau und der Erziehungsanstalt Schnepfenthal. Der Titel der vorliegenden Abhandlung „Fleiß ist die halbe Tugend schon …“ stammt beispielsweise aus einer einfachen Schreibstilarbeit offensichtlich noch jüngerer Schüler am Philanthropin.26 Diese Übung ist von mehreren Schülern in unterschiedlichsten Schriftarten erhalten geblieben. Auch wenn nur dieser Merkvers zur Erlernung der Handschrift in Dessau erhalten geblieben ist, zeigt dies recht deutlich die Verbindung von reinem Praxisbezug (Schreiben lernen) und gleichzeitiger moralischer Disziplinierung. Ein ähnliches Prinzip ist im Tagebuch eines der ersten Schüler der Erziehungsanstalt Schnepfenthal, Johann Wilhelm Ausfeld, aus dem Jahr 1783 zu sehen: Neben den Spalten „Wörter“ und „Sachen“ lautet der Name der dritten Spalte „Geschicklichkeit und Erfahrungen“. Neben unterschiedlichen Beobachtungen in der Natur notierte dort Ausfeld auch moralische Merksätze wie: „Ich habe erfahren, das ich mich nach vollbrachter Arbeit sehr wohl befinde“. Oder: „Wenn man beständig ist, so bringt man eine Sache schneller fertig als sonst“. Dem damals achtjährigen Ausfeld sollte also früh mit auf dem Weg gegeben werden, dass sich Fleiß und Beständigkeit auszahlen würden.27 In den Quellenbeständen des Pädagogiums finden sich keinerlei solche Merksätze, obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie trotzdem Teil des Unterrichts an dieser Schule waren. Es sind aber Schülerarbeiten überliefert, die auch an die Fleißbereitschaft der Schüler appellieren. In einer Probeaus­arbei­ tung aus dem Jahre 1787 sollten die Schüler einen Brief an einen – fiktiven – Freund schreiben: 26 Rel.

Phil., Karton III, 14, Blatt 1 u. 2. Schnepfenthal, Tagebuch von Johann Wilhelm Ausfeld, angefangen am 18. 09. 1783. 27 Schulmuseum



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Theurster Freund! Wie viel haben Sie mich nicht erinnert, mich mit Ihnen über [die] ernsten Sachen zu unterhalten, und meinen Verstand dadurch zu üben. Vergeben sie meine Nachlässigkeit, ich will Ihnen auch gleich zum Beweise meines Gehorsams eine von mir gefertigte Ausarbeitung zuschicken, und mir Ihre Beurteilung über dieselbe erbitten. Das Thema zu meiner Ausarbeitung ist folgendes. Ist es nicht höchst schädlich seine Arbeiten bis auf den letzten Augenblick aufzuschieben, und welches ist der Vortheil und welches der Schaden der aus diesem Aufschub entstehen kann […]. [Anderer Schüler:] Wäre es mir wohl jetzt erlaubt vor den schädlichen Folgen zureden, welche von der Aufschiebung der Arbeit entsteht […].28

In diesen Texten sollten sich die Lernenden also mit den Konsequenzen des „Aufschiebens von Arbeit“ argumentativ auseinandersetzen. Im Fokus stand dabei natürlich eher die Schädlichkeit dieses Handelns. Diese Probeausarbeitung entstand in der Secunda des Rhetorikunterrichts – die Schüler wurden also darin geübt, argumentativ andere Menschen zu überzeugen. Da es sich um bereits ältere Schüler handelte, könnte die Praxis des Pädagogiums mit denen der anderen beiden untersuchten Schulen korrespondieren. Jüngere Schüler dieser Zeit wurden demnach meistens noch mit einfach zu merkenden Sätzen zu mehr Fleiß und Disziplin angehalten, während sich die älteren bereits ‚aktiver‘ mit dem Schreiben eines Briefes mit dieser Thematik auseinandersetzen sollten. Schüler des Pädagogiums bekamen aber auch fiktive Briefe ‚ihres‘ Vaters als Übersetzungsaufgabe von den Lehrern: Mein Sohn! Wollte doch Gott, daß du einmal anfängest fleißig und ordentlich zu seyn, und von dem liederlichen Leben abließest, welches du bisher geführet hast. Ich habe dir zwar von Zeit zu Zeit väterliche Ermahnungen gegeben; es [fehlet] aber daran daß du ihnen gefolget wärest, daß du sie vielmahls in den Wind geschlagen und dich allen Lastern ergeben hast. Je mehr ich dich lieb gehabt habe, desto mehr hast du dich meiner Liebe unwürdig gemacht. Beßere dich daher, oder nenne mich nicht mehr deinen Vater. Ich sage dir, daß ich, wenn du mir ferner ungehorsam sein wirst, weder deine Entschuldigungen, noch deine Bitten annehmen will. Denn so lieb du mir auch immer seyn magst; so will ich doch nicht, daß du meine Güte misbrauchst. Für dieses Mahl schicke ich dir noch die 100 Thaler, worum du mich die vergangene Woche gebeten hast. Wende einen Theil davon zur Bezahlung deiner Schulden, die sich vielleicht auf 60 Thaler belaufen, wie auch zur Einlösung deiner versetzten Sachen an; das übrige aber zur Anschaffung derjenigen Bücher, die du noch haben mußt […].29

Dieser Text musste von allen Schülern dieser Klasse übersetzt werden und stellt recht eindrücklich eine väterliche Moralpredigt dar, welche durch Andro28 AFSt,

S, C, V, 206, Probeausarbeitungen Johannisexamen – zweite oratorische Klasse (Quelle nicht paginiert). 29 AFSt, S, C, V, 202, examine vernale gallica II 1775.

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hung des Entzugs der finanziellen Unterstützung, Verbesserungen herbeizuführen wünscht. Briefe wie dieser hatten vermutlich bereits ihre stilistischen Vorläufer im Schulbetrieb, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen.30 Besonders zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden Forderungen laut, den Schülern ein besseres Schreiben von Briefen beizubringen, da sie diese Fähigkeit in ihren späteren Berufen dringend benötigen würden.31 Eine Untersuchung über die Bedeutungszunahme von Briefen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts steht zur Zeit noch aus, vermutlich spielen aber die Argumente über die Nützlichkeit dieses Lernstoffes vor 1750 auch eine Rolle bei der Aufwertung der Schriftlichkeit in den Schulen am Ende des Jahrhunderts. Neben den angeführten Beispielen schriftlicher Übungen wurde in allen drei hier untersuchten Schulen aber noch wesentlich mehr in der Praxis des Unterrichts getan, um die Schüler zu mehr Fleiß anzuhalten. Am halleschen Pädagogium wurden in den 1790er Jahren sogenannte Censurenbücher eingeführt, die für jeden Schüler eine ausführliche Beurteilung zum jeweiligen Halbjahr enthielten. Wohlgemerkt: Keine Noten, wie wir sie heute kennen. Mitgeteilt wurden dort Fleiß und Verhalten des Schülers bis hin zur körperlichen Pflege, beispielsweise wie oft die Kleidung gewechselt wurde.32 Das Philanthropin in Dessau und auch die Erziehungsanstalt Schnepfenthal gingen hier noch wesentlich weiter: In die Flure der Schulen wurden sogenannte Meritentafeln gehängt, auf denen die Fleißbillets der einzelnen Schüler eingeschlagen wurden. Fleißbillets waren kleine goldfarbene Nägel, die ein Schüler für bewältigte Aufgaben bekam. Außerdem gab es auch schwarze Nägel für schlechtes Betragen. Von den Lehrern wurden zudem ausführliche Meritenbücher über jeden einzelnen Schüler geführt, in denen teilweise Beurteilungen für einzelne Unterrichtsfächer und Stunden notiert wurden.33 In Schnepfenthal sind dann weitere Formen von Disziplinierungsmechanismen überliefert. Sobald die Schüler dort 50 Fleißbillets gesammelt hatten und der Lehrer- und Erziehungssenat der Schule zustimmte, wurde ihnen der ‚Orden des Fleißes‘ verliehen. Diese Verleihung war ein Fest für die gesamte Einrichtung mit höchst komplexem Ritus: Dieses genau geplante Ritual zeigt deutliche Parallelen zu einigen mystischen Elementen der Freimaurerei, besonders zum Initiationsritus. Dazu gehören das symbolische Wandern, auch Reisen genannt, das die zukünftigen Rechte und Pflichten des Geweihten aufzeigt, und das Ritual der Kettenbildung, das die Verbrüderungsidee veranschaulicht. […] Der sehr begehrte ‚Orden des Fleißes‘ war die höchste Auszeichnung der Erziehungsgemeinschaft, denn er zeugte vom Reifegrad der sittlichen 30 Ludwig,

Der Schulaufsatz (wie Anm. 5), 60 f. Deutsche Philologie (wie Anm. 15), 674 f. 32 AFSt, S, A, I, 199, Schülerbeurteilungen aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. 33 Rel. Phil. I, 2 (das Meritenbuch). Hanno Schmitt, Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropistischen Erziehungsbewegung, Bad Heilbrunn 2007, 188 f. 31 Kopp,



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Entwicklung des Besitzers und brachte bedeutende Vorteile. So räumte Salzmann den ‚Ordensrittern‘ die Möglichkeit der Mitsprache bei wichtigen Entscheidungen ein, gleichzeitig leisteten sie auch Überzeugungsarbeit bei der Umsetzung der Beschlüsse.34

Schüler, welche ein der Schulleitung genehmes Verhalten an den Tag legten, bekamen also neben Lob und Ansehen auch zusätzliche Kompetenzen. In der Praxis der drei untersuchten Schulen gab es mehrere solche Disziplinierungsmechanismen; in ihrer Systematik und Konsequenz erreichten sie in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts eine völlig neue Qualität. 3. Selbstbeurteilung und Beobachtungsgeist Neben diesen zahlreichen neuen Disziplinierungsmechanismen, die an den untersuchten Schulen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Einzug hielten, gab es aber noch einen weiteren Aspekt der Lehrpraxis, den ich anhand der Quellen aufzeigen möchte. In den Schülerarbeiten der Archive der drei Schulen finden sich nämlich auch Ausarbeitungen, die bezeugen, dass auch die Schulung der Reflexion und des Beobachtungsgeistes der Schüler ein pädagogisches Ziel dieser Zeit war. So lautete die Aufgabenstellung einer Übersetzungsaufgabe für Schüler des Pädagogiums 1773, folgenden Zeitungsartikel aus dem Deutschen ins Französische zu übertragen: Paris, den 7. December, Ein junger Mensch wurde neulich in einer kleinen Straße angehalten. Man forderte von ihm die Börse oder sein Leben. Ein muthiges und empfindsames Herz unterscheidet die Stimme eines Unglücklichen, den das Elend zum Verbrecher treibt, sehr gut von der Stimme des Bösewichts, der aus Rücksichtslosigkeit ein Verbrecher wird.35

Ich kürze das Zitat ab – im weiteren Verlauf kommt heraus, dass der Räuber zur ersteren Kategorie der Unglücklichen zählt und zudem ein armer Schüler ist; der junge Mann beginnt ein Gespräch mit ihm und versucht ihn moralisch zu bessern, was sich schlussendlich natürlich als die richtige Lösung der Situation herausstellt. Auch dieser Text berührt also mehrere Reflexionsebenen, die interessanteste ist dabei zweifelsohne, dass sich das Bedrohliche der Situation rasch auflöst, der ‚Verbrecher‘ menschliche Züge annimmt und die Situation in einer moralischen Verbesserung kulminiert. Hier ist der Akzent auf die moralische Vervollkommnung gesetzt, welche die Umwelt des Einzelnen mit einschließt.

34 Christiane

Schaubs, Die Erziehungsanstalt in Schnepfenthal im Umfeld geheimer Sozie­ täten, Nordhausen 2005, S. 325 f. 35 AFSt, S, C, V, 201, examina vernale, classis Gallica I.

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Die Schüler sollten aber nicht nur, wie in diesem Beispiel, ihre Umgebung reflektieren und einschätzen lernen – eines der wichtigen Ansinnen blieb die Selbstreflexion: Ich bin im Französischen nicht alzu weit gekommen. Lesen kann ich noch nicht recht, und auch noch nicht alles übersetzen. Im Rechnen bin ich in der Regula di Tri in gebrochenen Zahlen; Ortographisch schreiben kann ich auch so ziemlich. Und meine Lehrer sind auch so ziemlich mit mir zufrieden. Und ich hätte auch große Lust ein Seminarist zu werden, daß ich einmahl ein Schulmeister werden könnte.36

Der Autor dieses Schreibens war der am Philanthropin 1781 neu aufgenommene Schüler Mayländer, der hier in einem Brief an seine Eltern, etwa einen Monat nach seiner Ankunft, realistisch einschätzen sollte, was er bereits gelernt hat. Da sich dieses Schreiben noch im Nachlass des Philanthropins befindet, könnte es sich auch um eine Übung zum Erlernen des Briefeschreibens handeln. Die Beobachtungen zur Reflexion und Selbstreflexion decken sich mit den Grundzügen der neuen Konzeption schriftlicher Aufsätze im letzten Drittels des 18. Jahrhunderts, die Ludwig – Peter Villaume und Johann Christian Dolz auswertend – zusammenfasst: Es kam nicht so sehr darauf an, Stoffe zu finden, als vielmehr Gedanken entstehen zu lassen, Wissen zu schaffen, kurz: zu erkennen. Sammelte der Schüler früher Stoffe für seine Aufsätze, so sah er sich jetzt auf sein Denk- und Erkenntnisvermögen verwiesen.37

Die Schüler wurden also mehr als in vorherigen Zeiten dazu angehalten, ihren eigenen Verstand auszubilden – Wissen selbst zu erkennen – und Zusammenhänge zu reflektieren. Auch die Übung des Beobachtungsgeistes wird in der Praxis dieser Einrichtungen geschult.38 Hier ergibt sich möglicherweise eine Schnittstelle zwischen den pädagogischen Zielen in Schulen und geheimen Sozietäten, auf die ich im Folgenden eingehen werde. III. „Erziehungsraum Geheime Sozietät“ Die zunehmende Bedeutung der Schriftlichkeit im Schulalltag hatte ihre Entsprechung in der Praxis Geheimer Sozitäten. Auch Begrifflichkeiten überschneiden sich. Nach dem vorherigen Blick in die Quellen ist nun zu fragen, wo sich Überschneidungen ergeben haben könnten, ob es eine Ähnlichkeit bei der Ver36 Rel.

Phil. 14, 2, Blatt 3 – 4. Der Brief trägt das Datum 04. August 1781, Mayländer wurde Mitte des Jahres 1781 im Philanthropin aufgenommen. Basedow, Untersuchung über die Entwicklung des Dessauer Philanthropinums (wie Anm. 12), Zeitafel 1, 53. 37 Ludwig, Der Schulaufsatz (wie Anm. 5), 113. 38 Bosse, Bildungsrevolution (wie Anm. 5), 213.



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mittlung von Inhalten gegeben hat und wo das Schulwesen wie auch die Sozietäten, insbesondere der Illuminatenorden, das gleiche Bildungsziel verfolgten. Geheimbünde, zu denen der Freimaurerorden wie auch der Illuminaten­orden zählten, hatten ihre mitgliederstärksten Jahre im deutschsprachigen Raum etwa im Zeitraum von 1775 bis 1780 und nach 1790. Sie verfügten deutschlandweit über 15.000 bis 20.000 Mitglieder. Die zweitgrößte geheime Gemeinschaft nach den Freimaurern war der Illuminatenorden, der zu seinen Hochzeiten um die Jahre 1783 bis 1785 etwa 1500 Mitglieder zählte.39 Hinzu kommen noch die zahlreichen anderen Sozietäten, deren Mitglieder zu großen Teilen auch Mitglieder in Geheimbünden sein und so zu einer weiteren Netzwerkwirkung beitragen konnten.40 Geheimbünde im Allgemeinen wie auch Freimaurerlogen im Speziellen wurden in der Forschung verschiedentlich thematisiert, allerdings bisher nur selten in Bezug zu Bildungs- und Schuleinrichtungen gesetzt.41 Für meine hier behandelte Thematik ist insbesondere die jüngere Forschung interessant, welche sich näher mit dem Illuminatenorden befasst hat, der stärker als andere Geheimgesellschaften einen Erziehungszweck verfolgte. Im „Erziehungsraum Geheime Sozietät“ ging es laut Christine Schaubs um eine naturnahe Erziehung, die die moralischen Qualitäten der Unterrichteten planvoll und systematisch verbessern würde. Damit der Einzelne als solcher befähigt würde, Glück zu empfinden, würde er sich, so die Theorie, in seinem Wirken auf seine Umwelt immer weiter multiplizieren.42 Dabei sei noch einmal auf das eingangs erwähnte Programm der Erziehung hin zu einer unerreichbaren Perfektion hingewiesen. Wie die pädagogischen Ansprüche in die Praxis umgesetzt werden sollten, wird von Peggy Pawlowski in ihrer Studie zur Pädagogik von Adam Weishaupt – beziehungsweise des Illuminatenordens – behandelt.43 Das Weishauptsche Erziehungsmodell sah unter anderem folgenden Dreischritt vor: Präparation – Beobachtung – Unterricht. Alle drei Begriffe betreffen den ‚Lehrer‘, der 39 Schaubs,

Die Erziehungsanstalt in Schnepfenthal (wie Anm. 34), 45 – 47. Zaunstöck, Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999, 139 – 271. 41 Schaubs’ Studie ist hier eine der ersten. Sie verweist auf die Bedeutung der Logen als Erziehungsinstitute für Erwachsene – einzig in den öffentlich in den ‚philanthropistischen‘ Schulen sieht sie Geheimgesellschaften in der Praxis wirken. Schaubs, Die Erziehungsanstalt in Schnepfenthal (wie Anm. 34), 48 f. Schaubs zitiert in diesem Rahmen Manfred Agethen, der erste Bezüge zwischen Philanthropismus und Illuminatismus herstellen konnte. Agethen, Geheimbund und Utopie (wie Anm. 2), 167 – 175. Agethen geht jedoch nicht auf die Praxis einzelner Schulen ein und stellt nur lose die Verbindung von Personen der philanthropistischen Bewegung dar, die zugleich Mitglieder des Illuminatenordens waren. 42 Schaubs, Die Erziehungsanstalt in Schnepfenthal (wie Anm. 34), 132 f. 43 Pawlowski, „… sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken“ (wie Anm. 2). 40 Holger

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den ‚Zögling‘44 ausbildet. Er sollte den Zögling möglichst gut führen – wobei zu betonen ist, dass der Zögling, sofern er den Wünschen des Lehrers entsprechen konnte, selbst diese drei Kriterien beachten musste, da es in der Praxis des Ordens um die ‚sittliche Vervollkommnung‘ ging. Jeder erzieht also jeden, sofern er aus Sicht der (meist verborgenen) Oberen dazu geeignet ist. Pawlowski schreibt dazu: Der Begriff der sittlichen Vollkommenheit repräsentiert das übergreifende Prinzip und Anliegen der Bildung im Orden, die Vollkommenheit des Menschen: ‚Immer wachsende Vollkommenheit und Entwicklung des menschlichen Geschlechts, Vermehrung der Sittlichkeit, als die einzige Quelle aller wahren Menschenglückseligkeit, als der Grund aller dauerhaften Reformen, Unterordnung der Zwecke, innere Vollkommenheit als das höchste Gut des Menschen.‘ Bildung und Entwicklung sollten dem Menschen größtmögliche Glückseligkeit zu verschaffen. Daß Weishaupt sich diesem Ziel von Beginn an verpflichtet fühlte, belegt die frühe Bezeichnung des Ordens als Bund der ‚Perfectibilisten‘.45

In der Praxis sollte dies weitgehend durch schriftliche Aufsätze beziehungsweise Berichte eingelöst werden. Die Hauptkommunikation zwischen ‚Lehrer/ Regent‘ und ‚Zögling/Adept‘ stellten Quibus Licet – Berichte und sogenannte Reprochen dar. Die Quibus-Licet Berichte waren laut Pawlowski eher ein Tätigkeitsbericht in der Form eines Tagebuchs. Die Adepten legten in diesen schriftlich dar, mit was sie sich gerade beschäftigten. Darauf bekamen sie von den Regenten als Antwort Reprochen, die teilweise Belehrungen, aber auch Ermutigungen beinhalteten, sich weiter mit eingesandten Themen zu beschäftigen. Die Berichte der Adepten wie auch die Antworten der geheimen Oberen waren verpflichtend.46 Entsprechend spielte das mündliche Element auf den Versammlungen der Loge eine eher untergeordnete Rolle, überwiegend wurden dort Aufsätze verlesen.47 Speziell zur besseren Beobachtung fertigten die ‚Lehrer‘ conduite-Tabellen über ihre ‚Zöglinge‘ an, in welchen neben dem – physiognomischen – Aussehen der moralische Charakter, Fähigkeiten und Leidenschaften sowie auch die Eltern der Ordensmitglieder erfasst wurden. Diese Tabellen dienten insbesondere der – für die Mehrzahl der Mitglieder verborgenen – Ordensführung um Weishaupt als Übersicht. Weitere praktische Mittel bildeten pensa, bei denen es sich um 44 Die Begriffe ‚Lehrer‘ und ‚Zögling‘ werden von Pawlowski oft benutzt – in der Praxis des Ordens wurden auch die Begriffe ‚Regent‘ und ‚Adept‘ verwendet. Ich bleibe jedoch weitest­ gehend bei ersteren Begriffen. 45 Pawlowski, „… sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken“ (wie Anm. 2), 97. 46 Ebd., 133 – 146. 47 Siehe hierzu den Eintrag „Protokolle der Versammlungen der Minervalkirche Gotha“, in: The Gotha Illuminati Research Base, Protokoll vom 25. 02. 1785 (https://projekte.uni-erfurt.de/ illuminaten/SK15-021, 12. 09. 2016). In der Liste der Protokolle, die wohl neben Magistratsversammlungen auch die Versammlungen der unteren Mitglieder erfasst, sind meist weniger als zehn Anwesende angegeben.



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monatlich zu erfüllende Aufgaben handelte, die aber auch als Preisfragen an den gesamten Orden gestellt werden konnten, und konkrete Leseempfehlungen der ‚Lehrer‘ an ihre ‚Zöglinge‘.48 Nun fällt grundsätzlich auf, dass sich die Sprache Weißhaupts aus der Begrifflichkeit der damaligen Schulpraxis bediente. Nicht nur, dass er grundsätzlich von ‚Lehrern‘ und ‚Zöglingen‘ sprach, auch pensa und conduite-Tabellen finden sich im Schulwesen der Zeit. So gab es beispielsweise ähnlich wie in Geheimbünden in der Praxis des Pädagogiums Preisschriften, welche von Schülern verfasst wurden. Unter den Schülern verschiedener Klassen wurden Themen von den Lehrern ausgeschrieben; abschließend wurden die besten Aufsätze prämiert. Diese Texte dienten zugleich als Halbjahresprüfung. Für das Osterexamen 1785 lautete zum Beispiel das Thema: „Von dem Einfluß, den die Wissenschaften auf unsern Verstand und auf unser Herz haben“. Der Aufsatz, der damals prämiert wurde, war der des Schülers Mühlenfeld. Ein Jahr später war das Thema: „Das durch Erfindungen berühmte Jahrhundert. An deutsche Jünglinge [im Sinne von für diese geschrieben]“. Die Preisschriften 1785 wurden in den beiden oberen oratorischen Klassen verfasst, 1786 schrieben die Schüler die Aufsätze in der ersten poetischen Klasse. Alle Aufsätze waren auf Deutsch abgefasst.49 Diese Form der Ausarbeitungen gleicht der Praxis der pensa als Preisschrift innerhalb des Illuminatenordens. Das pensum war eine monatliche Aufgabenstellung der Oberen an ihre Schüler.50 Der Begriff des ‚pensums‘ bezeichnete im Schulwesen der Frühen Neuzeit ein Lernen in gut bemessenen Einheiten, das für die Franckeschen Stiftungen seit Beginn des 18. Jahrhunderts nachweisbar ist.51 Insofern kommt dieser Begriff nachweislich aus der Zeit um 1700 und hat seine Wurzeln im Schulwesen. Ein anderes, bereits oben erwähntes pädagogisches Mittel Weißhaupts und des Illuminatenordens, welches ich in dieser Bedeutung auch in Schularchivbeständen, z. B. des Stadtgymnasium Reval (heutiges Tallinn), zu Ende des 18. Jahrhunderts fand, sind die conduiten-Listen. Im Stadtgymnasium Reval wurden diese Listen zu Ende der Regierungszeit Katharina der II. eingeführt und verzeichneten etwas weniger detailliert als die conduiten-Listen im Illuminatenorden, ob ein Schüler ‚ungesittet‘, ‚unaufmerksam‘ im Unterricht war oder aber auch ‚abwesend‘ blieb, beziehungsweise ‚zu spät zum Unterricht‘ erschien.52 Eine weitere mögliche Verbindung zwischen Geheimbünden und Schul­wesen stellen zweifelsohne die Lehrer und ihr Verhältnis zu Geheimen Sozietäten dar. 48 Pawlowski,

„… sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken“ (wie Anm. 2), 147 – 160. S, C, V, 203 – 207. 50 Pawlowski, „… sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken“ (wie Anm. 2), 151 – 155. 51 Axel Oberschelp, Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert. Lernen und Lehren im Kontext einer frühneuzeitlichen Bildungskonzeption, Tübingen 2006, 69 f. 52 Tallinna Linnaarhiiv (Tallinner Stadtarchiv), 230.1.Bp. 13, Conduiten-Listen. 49 AFSt,

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Diese Frage kann ich an dieser Stelle jedoch nur grob skizzieren, da dazu eine umfangreiche Datenerhebung in mehreren historischen Einrichtungen nötig wäre. Zu dem angesprochenen Beispiel des Gymnasiums Reval existiert eine Studie von Hennig von Wistinghausen, der einzelne Lehrer als Mitglieder der lokalen Isis-Loge aufführt.53 Die bereits zitierte Arbeit von Manfred Agethen geht in dem Kapitel „Philanthropismus und Illuminatismus“ auf die zahlreichen Mitgliedschaften führender Lehrerpersönlichkeiten der philanthropistischen Bewegung im Illuminatenorden kursorisch ein.54 Weitere Studien werten die ­Sozialund Berufsstrukturen von Geheimbünden in unterschiedlichen Regionen aus, gehen dabei aber nur am Rande auf die Mitgliedschaften von Lehrern in Geheimbünden und Sozietäten ein.55 Schaubs bereits angeführte Studie bildet hier eine Ausnahme, da sie eine Schuleinrichtung des späten 18. Jahrhunderts gezielt auf Verbindungen zu den Freimaurern und zum Illuminatenorden hin untersucht. Allerdings interessieren sie diese Verbindungen nur im Zusammenhang der Rekrutierung der Schüler der Erziehungsanstalt. Dabei stellt sie fest, dass 29 der ersten 100 Zöglinge der Einrichtung Väter hatten, welche Mitglieder in Freimaurerlogen waren, nur vier hatten Väter, die auch im Illuminatenorden aktiv waren. Somit vermutet sie, dass zumindest bei der Suche nach Schülern die Netzwerke innerhalb der Freimaurerlogen, weniger des Illuminatenordens, eine Rolle spielten.56 IV. Schlussbetrachtungen Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts spielte die Schriftlichkeit an allen drei untersuchten Schulen eine viel bedeutendere Rolle als zuvor. Erst für diesen Zeitraum gibt es eine breite Überlieferung, was auf den neuen Stellenwert der Schriftlichkeit im damaligen höheren Schulwesen schließen lässt. Zudem zeigte sich, dass die überlieferten Texte sich in ihrer Form im Zeitraum von 1770 bis in die 1790er Jahre veränderten. Waren es zunächst noch einfachere Übersetzungsaufgaben, die als Probearbeiten überliefert sind, finden sich am Ende des 53 Henning von Wistinghausen, Freimaurer in Estland. Ihre Sozialstruktur am Beispiel der Revaler Loge ‚Isis‘ 1773 – 1820, in: Otto-Heinrich Elias (Hg.), Zwischen Aufklärung und Baltischem Biedermeier, Lüneburg 2007, 177 – 210. 54 Agethen, Geheimbund und Utopie (wie Anm. 2), 170 – 175. 55 Diese Studien haben eine Untersuchung der Mitgliedschaften von Lehrern in Sozietäten auch nicht zum Ziel. Zaunstöck, Sozietätslandschaft (wie Anm. 40), 179 – 189. Eva Huber, Zur Sozialstruktur der Wiener Freimaurerlogen im Josephinischen Jahrzehnt, in: Helmut Reinalter (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur im 18. Jahrhundert, München 1989, 173 – 188. 56 Schaubs, Die Erziehungsanstalt in Schnepfenthal (wie Anm. 34), 292 – 304.



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Jahrhunderts breitangelegte schriftliche Prüfungsverfahren, die sich allmählich zu einem Aufsatztext entwickelten. Was den Bildungszweck dieser schriftlichen Aufgaben betrifft, so ist an der Vielfalt der hier dargestellten Arbeiten erkennbar, dass sich zum einen vermutlich ältere Muster weiter tradierten. So wurde beispielsweise sichtbar, dass besonders jüngere Schüler zur Gottesfurcht angehalten werden sollten. Bei älteren Jugendlichen konnte sich dieser Themenbereich in den Texten schon durchaus abstrakter ausgestalten und war teilweise einem klassischen Bildungsideal verpflichtet. Interessant sind die ersten Formen von Aufsätzen, die offensichtlich bereits in den späten 1780er Jahren einem neuen stilistischen Schema folgten, wie es bei den Aufsätzen „Zur Entstehung des nordamerikanischen Freistaats“ sichtbar wurde. Was die Kategorie Fleiß angeht, so waren auch hier ältere Traditionen in den schriftlichen Aufgabenstellungen sichtbar, wie zum Beispiel der „Böse Vater-Brief“ belegt, aber auch neue Formen wurden erkennbar, bis hin zur Selbstbeurteilung der Schüler, die besonders deutlich machte, dass hier auf Selbstvervollkommnung gezielt wurde. Dies zeigt sich auch in den Aufsätzen zur Thematik „Über das Aufschieben von Arbeit“, die auf Reflexion des eigenen Verhaltens und moralische Selbstkorrektur abzielten. Auch die Beispiele aus Dessau und Schnepfenthal, in denen die Schüler selbst ihren Lernfortschritt beschrieben und ihren Eltern postalisch zustellten beziehungsweise ein eigenes Lerntagebuch führen sollten, bezeugen die Zielsetzung der Selbstvervollkommnung. Jedoch lässt sich die Funktion der schriftlichen Arbeiten als Mittel des Versuchs der Menschenführung bis hin zur moralischen und sittlichen Vollkommenheit erst vollständig aus der Schulpraxis der Zeit erschließen, wenn auch die Praktiken rund um den Unterricht ins Blickfeld geraten: Mit den zusätzlichen Maßnahmen zur Disziplinierung und Beurteilung der Schüler, wie den Zeugnissen und Beurteilungen am Pädagogium und den Meritentafeln und -büchern des Philanthropins Dessau und der Erziehungsanstalt Schnepfenthal wird eine stärkere moralische Führung durch die Leitung und die Lehrer der Schule sichtbar. Hat aber all dies nun mit der zunehmenden Ausbreitung und dem Bedeutungsgewinn von Geheimgesellschaften in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu tun? Laut den Quellenbefunden sollte bei der Beantwortung dieser Frage wohl eher von einer Wechselwirkung gesprochen werden. Ich konnte aufzeigen, dass sich einige Begriffe überschneiden, aber in der Praxis meistens von den Geheimbünden aus dem Schulwesen übernommen wurden und nicht umgekehrt. Eine Bewegung hin zu mehr Perfektibilität wird im Schulwesen besonders deutlich, da immer mehr Leistungen und Erziehungsergebnisse „messbar“ gemacht werden sollen. Wie mir scheint, war dies eine gesamtgesellschaftliche Tendenz der Zeit, die ihren Ausdruck auch in Geheimen Sozitäten fand. Genau diese „Messbarkeit“ ist aber das, was das Schulwesen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausmacht und was sich auch beispielsweise in der Praxis des

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Illuminatenordens wiederfindet. Dass sich aber gerade die Praxis dieses Ordens auf das Schulwesen der Zeit übertrug, ist unwahrscheinlich. An einigen Schulen, wie der Erziehungsanstalt von Schnepfenthal, wird jedoch auch eine deutlichere Beeinflussung durch freimaurische Riten und Netzwerke sichtbar. Auf Seiten der Forschung fehlt es an weiteren Studien, insbesondere zu Lehrern in Geheimen Sozietäten und deren Netzwerkbildung in einem abgegrenzten sprachlichen oder geographischen Raum. Zusammenfassend ist feststellbar, dass die Zunahme von Schriftlichkeit an Schulen auch ein Ausdruck dafür ist, die Schüler messbarer und kontrollierter zu erziehen, wobei hier noch weitere Studien nötig wären. Des Weiteren ist es meiner Ansicht nach wenig hilfreich, eine solche Untersuchung anhand nur einer geheimen Sozietät vorzunehmen, da es hierbei leicht zu einer Übergewichtung des Einflusses derselben kommen kann, was hier am Beispiel des Illuminatenordens deutlich wurde, der selbstverständlich von seinem zeithistorischen Kontext her gesehen werden muss. Die Freimaurerbewegung als Ganzes kann jedoch durchaus Einfluss auf einige Schulen der Zeit gehabt haben, wie es das Beispiel Schnepfenthal zeigen konnte, allerdings mit der Einschränkung, dass diese Bewegung in den erzieherischen zeitlichen Kontext eingeordnet werden muss, dessen Zielrichtung, wie hier dargestellt, eine messbare Erziehung des Individuums zur Perfektibilität war. Ende des 18. Jahrhunderts bekam die Schriftlichkeit an höheren Schulen, besucht von Adels- und Bürgersöhnen aus vermögenden Elternhäusern, eine wesentlich größere Bedeutung als sie zuvor hatte. Neue Formen von Schriftlichkeit entwickelten sich, insbesondere der Aufsatz als Textgattung, in der die Schüler eigene Gedanken entwickeln sollten. Diese Entwicklung der Schriftlichkeit ist mit ein Ausdruck dafür, dass die Leistungen, der Fleiß und die charakterlichen Eigenschaften der Schüler „messbar“ gemacht werden sollten, um sie zu einer sittlichen und moralischen Vollkommenheit zu führen. Eine Parallele hierzu bietet die Praxis von Geheimen Sozitäten, die sich teilweise der Methoden der Pädagogen bedienten. Zudem lässt sich an einigen Einrichtungen auch ein Einfluss von Geheimbünden feststellen, der bisher wenig erforscht ist. At the end of the 18th century, written language became much more important than it had been previously. At schools of higher education attended by pupils of noble and bourgeois birth, new forms of written language emerged, in particular the essay, in which pupils were expected to develop their own theses. This development was one expression of a new tendency to make the achievements, diligence and personal characteristics of students “measurable” and thus to lead pupils to moral perfection. A parallel development occurred in the practices of secret societies, which deployed pedagogical methods toward their own goals. Moreover, these same societies exerted an influence on some schools, a phenomenon that has been little researched. Michael Rocher M.A., Barfusstr. 9, 13349 Berlin, E-Mail: [email protected]

Sebastian Kühn Feder-Mund-Auge-Ohr Soziale und epistemische Logiken von Aufsätzen in den naturforschenden Akademien um 1700

I. Aufsätze als Teil in Handlungsketten Schrift scheint konstitutiv für Wissenschaft zu sein; entsprechend wäre das Schreiben die Hauptbeschäftigung der Gelehrten und Wissenschaftler. Nur durch die Schrift, so könnte man meinen, wäre Wissen fixierbar, über Ort und Zeit hinweg kommunizierbar und überprüfbar.1 In der Wissenschaftsgeschichte wurde dem Schriftlichen ganz folgerichtig viel Aufmerksamkeit zuteil. Besondere Beachtung erfuhren vor allem Aufsätze, diese kürzeren, thematisch konzentrierten Beschreibungen von Beobachtungen und Gedankengängen, die sich meist gedruckt in Zeitschriften finden.2 Folgt man diesen Thematisierungen von Aufsätzen in den Wissenschaften, so scheinen mit Gründung der wissenschaftlichen Akademien im 17. Jahrhundert und in deren Gefolge mit der schnellen Etablierung von Zeitschriften zumindest die Naturwissenschaften zu der ihnen angemessenen Form im Aufsatz gefunden zu haben – bis heute. Man ahnt es schon, dass diese Fortschrittsgeschichte, diese Genealogie heutiger Wissenschaft, so nicht zutreffen kann – weder für die heutigen wissenschaftlichen Praktiken,3 noch für die des 17. und 18. Jahrhunderts. Schreiben, und erst Recht das Schreiben von Aufsätzen, so die Grundthese dieses Beitrags, 1 Zentral dazu Jack Goody, The Domestication of the Savage Mind, Cambridge 1977. Ders., The Interface between the Oral and the Written, Cambridge 1987. Vgl. auch David R. Olson, Literacy and Objectivity. The Rise of Modern Science, in: David R. Olsen, Nancy Torrance (Hg.), Literacy and Orality,Cambridge 1991, 149 – 164. 2 So etwa Alan G. Gross, Joseph E. Harmon, Michael Reidy, Communicating Science. The Scientific Article from the 17th Century to the Present, Oxford 2002; Charles Bazerman, Shaping Written Knowledge. The Genre and Activity of the Experimental Article in Science, Madison 1988; Frederic L. Holmes: Argument and Narrative in Scientific Writing, in: Peter Dear (Hg.), The Literary Structure of Scientific Argument, Philadephia 1991, 164 – 181. 3 Siehe etwa Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001, oder Catelijne Coopmans, ­Janet Vertesi, Michael Lynch, Steve Woolgar (Hg.), Representation in Scientific Practice Revisited, Cambridge/Mass., London 2014.

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128

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umfasste nur einen kleinen Teil gelehrter Beschäftigung. Aufsätze waren gewiss nicht unwesentlich, aber bei Weitem nicht die Hauptsache der Gelehrten, und mitunter nicht einmal das Zentrum der Wissenschaften. In zwei Schritten soll diese Einschränkung der Wirksamkeit von Aufsätzen skizziert werden – eine Einschränkung, die sich aber schnell als Erweiterung erweist. Denn zunächst ist darauf zu verweisen, dass es zahlreiche Formen des Schreibens gab und diese keineswegs durch Aufsätze abgelöst oder abgedrängt worden sind. Vor allem aber wenn man Schreiben nicht per se als Hauptleistung von Gelehrten und Zentrum von Wissenschaft betrachtet und als isoliertes, a-soziales Handeln, dann kann das Schreiben von Aufsätzen als ein Bestandteil in Handlungsketten mit zahlreichen Akteuren in komplexen sozialen Situationen gesehen werden.4 Daraus ergibt sich eine Reihe von sozialen, epistemologischen und historischanthropologischen Fragen, die im Folgenden nur angedeutet werden können. Die Umgangsweisen mit Aufsätzen in den Akademien um 1700 bieten hier reiches Anschauungsmaterial. Konkret handelt es sich um die naturforschenden Akademien, d. h. die Academia Naturae Curiosorum/Leopoldina (gegründet 1652 in Schweinfurt als korrespondierende Akademie von Ärzten), die Royal Society in London (1660), die Académie des Sciences in Paris (1666) und die Berliner Societät der Wissenschaften (1700). Inhaltlich geht es damit nur sehr vermittelt um „sittliche“ Fragestellungen – diese waren sogar meist (wie auch politische und religiöse Fragen) ausgeschlossen. In den Akademien sollte es um die Dinge der Natur gehen. Doch wie wurde über diese Dinge der Natur kommuniziert, wie konnte man sich darüber verständigen? Diese Frage nach den Kommunikationsweisen in der Naturforschung impliziert dann auch, wie noch genauer zu sehen ist, Fragen nach dem guten Zusammenleben – in der Gemeinschaft der Gelehrten und in der Gesellschaft allgemein. Wenn nun nach Kommunikationsweisen gefragt wird, schließt das Produktions- und Rezeptionsvorgänge mit ein. Damit erklärt sich der vielleicht etwas kryptisch anmutende Titel, denn ich gehe zunächst von Äquivalenzpaaren aus, die die Kommunikationsweisen zu strukturieren schienen: auf Produktionsseite – Feder oder Mund (man könnte auch sagen: Schreiben oder Sprechen, schriftlich oder mündlich); auf Rezeptionsseite – Auge oder Ohr (alternativ: Sehen oder Hören). Das sind gewiss nicht die einzigen Äquivalenzpaare, aber zumindest sehr wirkmächtige in der Wissenschaftsgeschichte, mit entsprechenden Wertungen versehen, normativ aufgeladen, sozial und epistemisch höchst folgenreich.5 4 Vgl.

zu diesem Ansatz grundlegend Bruno Latour, Steve Woolgar, Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, London 1979. Von literaturwissenschaftlicher Seite Joseph Vogl, Für eine Poetologie des Wissens, in: Karl Richter, Jörg Schönert, Michel Titzmann (Hg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770 – 1930, Stuttgart 1997, 107 – 127. 5 Siehe zur Differenz von Schreiben und Reden etwa Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, 241 – 275. Zur Favorisierung des Auges Jonathan Crary, Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century, Cambridge 1990.

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Mit diesen Äquivalenzpaaren (Schreiben-Reden, Sehen-Hören) soll keinesfalls die Vielfalt möglicher Handlungsweisen dualistisch reduziert werden; doch bieten sie einen ersten Anhaltspunkt für Hierarchisierungen sinnlicher Handlungen in den Wissenschaften, die vielfältig miteinander verknüpft sein konnten. Aufsätze, so also eine erste, eigentlich ganz banale Annahme, lassen sich nur im Zusammenhang mit einer Vielzahl anderer Handlungen verstehen, eben nicht nur mit Schreiben oder Lesen. In den Akademien wurden sie zahlreich produziert, verlesen, kommentiert, experimentell nachgestellt, vielleicht gedruckt, wieder gelesen – schon hier deuten sich sehr verschiedene Verwendungsweisen an. Ähnliches gilt für die Produktionsweisen: was ging bei dem Verfassen von Aufsätzen vor sich; was wurde ihnen vor- und ausgelagert, worauf bezogen sie sich; wie waren das Sehen und das Schreiben aufeinander bezogen? Kurz, es wird im Folgenden um verschiedene Kulturtechniken gehen, in die Aufsätze sich einbetteten; es geht um die Handlungsketten, in denen Aufsätze erst Sinn ergaben und Wirkung entfalten konnten. Analog zum Vorschlag Igor Kopytoffs, eine Biografie der Dinge über verschiedene Verwendungsregimes zu verfolgen,6 steht hier im Hintergrund auch die (soziale und epistemische) Biografie eines Textes, eines Aufsatzes in verschiedenen Verwendungsregimes. Und das sind genau die Situationen, die im Folgenden an Aufsätzen als Medien interessieren und nur kurz skizziert werden können. Diesen Situationen, diesen Verwendungsregimes von Aufsätzen, so die Annahme, wohnt eine je eigene Logik inne. Deutlich werden müsste das dann an den Übergängen, den Scharnierstellen, Verknüpfungen, an denen Aufsätze in andere Verwendungsweisen überführt werden. Sie wurden geschrieben, verlesen, gehört, verändert, diskutiert, vielleicht sogar mit Abbildungen versehen zum Druck befördert, wieder gelesen und gesehen, sollten auf Gesehenes verweisen, regten zu weiteren Nachforschungen an etc. Was wurde durch die dadurch jeweils neu geschaffenen Situationen verändert? Gefragt wird also nach den sozialen Figurationen, die mit diesen unterschiedlichen Situationen verbunden sind, und nach den epistemischen Veränderungen, die dadurch hervorgerufen werden. Vorausgesetzt dabei ist 1), dass diese Situationen (Sehen, Hören, Schreiben, Sprechen) bei Weitem nicht vollständig sind und nur sehr holzschnittartig hier angedeutet werden, als eine erste Annäherung an dieses Thema. Mit Aufsätzen kann man auf sehr verschiedene Weise umgehen; man kann sie etwa kopieren, schenken, zerreißen, makulieren, kompilieren, auf sie verweisen, ihnen Abbildungen beigeben, sie als Handlungsanleitungen verstehen etc. 2) Diese Situationen haben keinen gesetzmäßigen, „natürlichen“ Ablauf, sie sind nicht gerichtet, etwa: erst Sehen, dann Schreiben, dann Lesen und Hören; oder: erst 6 Igor

Kopytoff, The Cultural Biography of Things. Commoditization as Process, in: Arjun Appadurai (Hg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, 64–91.

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Reden und Hören, dann Schreiben etc. Sondern: sie können ganz unterschiedlich zusammengesetzt und gewichtet werden oder gar einzeln stehen – das Interesse richtet sich hier in keinster Weise auf eine Erkenntnisteleologie. Es werden also in Teil IV, rein exemplarisch, drei solcher Verknüpfungen kurz umrissen, um zumindest anzudeuten, in welchem Feld man sich bewegt. II. Einheit und Disparität gelehrten Handelns um 1700 Historisch präzisieren lässt sich die Problemstellung, wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Stellung das Auge, das Ohr, die Feder und der Mund in den Vorstellungen zumindest einiger prominenter Akademiker hatten. Als eines der bekanntesten Beispiele darf vielleicht das berühmte Motto gelten, das sich die Royal Society selbst gab: Nullius in verba. Das war explizit gegen die Autorität des antiken, an Universitäten gelehrten Wissens gerichtet, wendete sich im weiteren Sinne aber auch gegen das Hörensagen, gegen die bloßen, unüberprüfbaren Worte. Allein das Auge sollte Wahrheit garantieren können, nicht das gesprochene Wort, das Ohr oder die (fremde) Feder. Eine generelle Ablehnung der Kommunikation war damit aber nicht impliziert, eher eine Ablehnung der Transformation durch Kommunikation. Denn der Anspruch des Nullius in verba war verbunden mit der Behauptung, nur die richtige Kommunikation – die allerdings eine eigene Rhetorik hervorbrachte, einen eigenen literarischen Stil der ‚virtuellen (Augen-)Zeugenschaft‘ schuf – würde die visuell erlangte Wahrheit unverfälscht wiedergeben können. Allein das Auge, die Autopsie der Natur, kann Erkenntnisse über sie unverfälscht, wahrhaft gewinnen lassen – daher die Betonung der Experimente und die Militanz für einen ‚einfachen Stil‘ (ohne Rhetorik, wie man meinte), der das Gesehene direkt in Worte übertrug und nachvollziehen ließ.7 Das Auge und die Feder waren hier, zumindest dem Anspruch nach, zur Deckung gebracht, Mund und Ohr nicht thematisiert, implizit aber mit eingeschlossen: Das (Ver-)Lesen und Hören von Aufsätzen war in virtueller Zeugenschaft dem Sehen gleichgestellt. Der Anspruch an Form und Stil von Aufsätzen, aber auch an ihre Verwendungsweisen, war damit außerordentlich hochgesteckt. Nur die Augenzeugenschaft vertrauenswürdiger Zeugen und ein entsprechender ,natürlicher‘ Sprachstil sollten gesicherte Erkenntnis garantieren können – was gleichzeitig auch eine Methode der Konfliktreduktion sein sollte in einer Zeit der Restauration, in der die gelehrten wie politischen und religiösen Konflikte sehr lebendig waren.8 Das kann als erster Hinweis darauf 7 Werner

Hüllen, Style and Utopia: Sprats Demand for a Plain Style Reconsidered, in: Hans Aarsleff u. a. (Hg.), Papers in the History of Linguistics, Amsterdam 1987, 247 – 262. 8 Steven Shapin, Pump and Circumstance. Robert Boyle’s Literary Technology; in: Social Studies of Science 14 (1984), 481 – 520; Peter Dear, Totius in Verba: Rhetoric and Authority in the Early Modern Royal Society; in: Isis 76 (1985), 141 – 161.

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gelten, wie die Fragen um die Kommunikationsweisen mit sittlichen und allgemeingesellschaftlichen sozialen und politischen Fragestellungen zusammenhingen, gerade in der frühen Naturforschung. Konfliktvermeidung durch Kongruenz sinnlicher Kommunikationsweisen – so ließe sich vielleicht auch der Anspruch an der Pariser Académie des Sciences umreißen. Hier allerdings kommen noch weitere Handlungen mit ins Spiel – alle wiederum zu einem kohärenten Ganzen zusammengefügt. 1676 erschienen die Mémoires pour servir à l’histoire des plantes, und gleich zu Beginn des Textes findet sich eine Kupfervignette, die für unsere Fragestellung außerordentlich aufschlussreich ist. In einer idealisierten Zusammenstellung werden die zahlreichen Arbeitsgänge bis zur Fertigstellung dieser ersten Publikation der noch jungen Akademie dargestellt. In der Bildmitte sitzen oder stehen die Gelehrten um einen Tisch, an dem verschiedene Arbeitsschritte durchgeführt werden. Ihre Augen richten sich darauf – einer weist zudem mit der Hand auf das zu Sehende –, und sie scheinen sich darüber zu unterreden. Der rechts Sitzende bestimmt Aussehen, Geschmack und Geruch wohl der Flüssigkeit, die aus den Pflanzen gewonnen worden ist. Dieser Vorgang ist im rechten Bildabschnitt, getrennt von den Gelehrten, dargestellt: Ein knieender Diener betreut das gleichmäßig zu haltende Feuer. Links, hinter einer Glastür, sind die Proben der vergangenen Experimente aufbewahrt. Im Durchblick durch das Fenster rechts erscheint der Garten, in dem die Pflanzen kultiviert wurden. Doch zurück zum Zentrum der Abbildung: Am Tisch sitzend schreibt ein Akademiker mit der Feder in der Hand wohl das Protokoll der Akademiesitzung nieder; ein anderer hält ein Buch und liest daraus vor – wohl das Protokollbuch der Académie, in das auch die verlesenen Aufsätze kopiert wurden. Vermutlich solch ein kürzerer Aufsatz, vielleicht die Beschreibung einer chemischen Analyse von Pflanzen, wird hier nochmals in Erinnerung gerufen. In dieser Abbildung werden alle Sinne angesprochen – das Auge, das Ohr, der Mund (redend und schmeckend), aber auch die Nase, die Hand. Die Gelehrten sehen und reden, sie schmecken und riechen, sie fassen an und verweisen, sie schreiben, lesen laut und hören und sie lassen Andere körperlich arbeiten mit den Dingen im Garten, Labor und Repositorium. Doch auch hier wird das Auge, die Autopsie der Natur, offensichtlich favorisiert: Die abgebildeten Gelehrten und ihre Helfer sind mit Experimenten beschäftigt, ihre Augen richten sich vor allem darauf, einer verweist mit der Hand auf das zu Sehende. Dem Auge (nicht dem hörenden Ohr, nicht der die Substanzen riechenden Nase, nicht dem sie schmeckenden Mund oder der fühlenden Hand) wird wahrheitsgenerierende Qualität zugesprochen. Doch die Feder bleibt unerlässlich, es soll ja niedergeschrieben werden, es muss sogar. Die verschiedenen Sinneswahrnehmungen (nicht nur das Sehen) müssen in geschriebene Sprache überführt werden. Und daher protokolliert ein anderer Gelehrter das Geschehen mit der Feder, beäugt

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und bezeugt (wie das Gesehene bezeugt werden musste durch mehrere Gelehrte, so auch das Geschriebene) durch dahinter Stehende. In diesem Bild ist das Schreiben dem Sehen untergeordnet, kommt allerdings gleich an zweiter Stelle. Die bezeugte und immer wieder an das Auge rückgebundene Feder (und nicht etwa der redende Mund) vermittelt die unmittelbaren Sinneseindrücke durch Auge, Nase, Geschmack. Erst dann, auf Grundlage der so authentifizierten Schrift, kann das Mündliche auch seinen Platz beanspruchen – etwa, indem aus Aufsätzen vorgelesen wird, die schon einmal vorgetragen worden waren. Eine deutliche und klare Hierarchie, ein gerichteter Vorgang, eine Kette aufeinander aufbauender, voneinander abhängiger Handlungen der Übertragung von Wissen wird in dieser Vignette deutlich: 1) Sehen (oder auch durch Sehen beglaubigtes Riechen und Schmecken) validiert den wahrheitsgemäßen Ursprung des Wissens. 2) Das Niederschreiben dieser unmittelbaren Sinneseindrücke erfolgt unter Augenzeugenschaft, die für die Kongruenz von Feder und Auge bürgen soll – so können die Protokolle der chemischen Versuche Wahrheit beanspruchen. 3) Diese Protokolle und auch verlesene Aufsätze wer-

Sébastien Leclerc: Kupfervignette, 1676; in: Dodart, Denis: Mémoire pour servir à l’histoire des plantes, Paris 1676, S. 1.

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den später nochmals verlesen. Die schon Schrift gewordenen Sinneseindrücke, ihre Umwandlung nicht nur in Sprache, sondern in eine besondere Schriftsprache der gelehrten Chemie, werden nicht still gelesen, sondern in Gemeinschaft verlesen, erreichen die Ohren – das Mündliche hat seinen Platz, aber nur als Verlautbarung von Schrift. 4) Das Hören aber kann immer wieder rückgebunden werden an die im Labor, Repositorium und Garten zu sehenden (riechenden, schmeckenden) Dinge. Der Kreis schließt sich wieder, das Hören verweist auf das Sehen. Sehen – Schreiben – Verlesen – Hören – Sehen. Und auch innerhalb dieser Verweiskette ist jede Stufe an das Auge zurückgebunden. Hier, in dieser kleinen Kupfervignette, wird ein komplexer Vorgang der Authentifizierung und kollektiven Beglaubigung von Wissen konstruiert, der Einheit und Geschlossenheit, eine durchgehende Kette der Verweise suggerieren soll, die zwar alle Sinne einschließt, wesentlich aber auf dem Auge und, nachgeordnet, auf der Schrift beruht. Veränderungen durch Ort, Zeit, Personen und Handlungsweisen sind ausgeschlossen. Sehen und Hören, Schreiben und Sprechen sind in dieser fiktiven Darstellung des Geschehens an der Académie des

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Sciences gleichzeitig und räumlich untrennbar miteinander verbunden dargestellt. Diese Kupfervignette gibt nicht die Realität einer Sitzung wieder, sondern vereint verschiedene Orte und Zeiten miteinander, verweist sie aufeinander. Die Gelehrten sehen hier und verweisen darauf, was sie eigentlich nicht sehen können an ihrem Versammlungsort in der Bibliothèque du Roi: den Garten (im Jardin du Roi), die Labore (einige Stockwerke tiefer), die Laborprodukte.9 In dieser künstlerischen Zusammenstellung steckt ein gewaltiger Anspruch: Dass auch im Schreiben (der Protokolle und Laborergebnisse, dann auch der Aufsätze), und in deren (Ver-)Lesen, im Reden und Diskutieren darüber immer die Augenzeugenschaft Wahrheit verbürgt und zwischen diesen unterschiedlichen Zeiten, Orten, Handlungen und beteiligten Personen kein Unterschied besteht. Ein Anspruch der Einheit und Einheitlichkeit artikuliert sich hier, der offenbar für notwendig erachtet wurde: Das Auge nur und danach die Feder versprechen primär Geltung der Erkenntnis; alle anderen Kommunikationsweisen von Wissen, der Mund und das Ohr, aber auch die zurichtende Hand, die riechende Nase, die schmeckende Zunge etc., ordnen sich dem unter. Wenn nun im Folgenden genau diese anderen Kommunikationsweisen thematisiert und zumindest analytisch auf gleicher Ebene angesetzt werden, so geschieht das in mehrfacher Hinsicht: 1. Die dahinterstehende Favorisierung des Auges und der Schrift soll hinterfragt werden. 2. Es interessieren dabei die Praktiken, die zur Aufrechterhaltung dieses Anspruches bei zugestandener Notwendigkeit anderer Kommunikationsweisen (Sprechen, Lesen, Hören) zur Anwendung kamen. 3. Die Transformationen von Wissen in diesem Prozess durch Sehen, Hören, Schreiben, Lesen/Sprechen werden analysiert. 4. Damit wird gegen die Ideologie der ursprungsgebundenen Einheit und Einheitlichkeit von Wissen die These der Wandelbarkeit und Uneinheitlichkeit von Wissen gestellt. In Frage steht damit letztlich, wie es gelingen konnte, disparate Wissensbestände aus unterschiedlichen Kulturtechniken (Sehen, Hören, Sprechen, Schreiben) so miteinander zu verknüpfen, dass zumindest im Anspruch (auf der Kupfervignette, wie auch explizit und programmatisch) der Eindruck der Einheitlichkeit und verbürgten Ursprünglichkeit des Wissens entstehen konnte. Man sollte meinen, dass dieser ungeheure Anspruch vor allem durch Form und Stil der Aufsätze erreicht werden sollte: Orte und Zeiten, Personen und Handlungen mussten synchronisiert werden. Aufsätze hätten somit diskursiv die Disparitäten der verschiedenen Erarbeitungsstufen und Verwendungsweisen vereint – eine gewaltige Anstrengung, deren Mühen wir weiter unten näher beleuchten wollen. Aber noch etwas ist auffällig an der Kupfervignette: Aufsätze stehen hier nur an untergeordneter Stelle. Die Feder, das Schreiben selbst, ist zwar prominent platziert, gleich nach dem Auge. Aber Aufsätze kommen nur 9 Vgl.

Guy Meynell, The Académie des Sciences at the rue Vivienne, 1666 – 1699, in: Archives Internationales d’Histoire des Sciences 55 (1994), 22 – 37.

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in der Verweisstruktur auf unterer Ebene vor: Derjenige, der aus einem Buch vorträgt, liest vermutlich den (veränderten) Aufsatz vor, der in einer vorigen Sitzung zu anderen Experimenten im Labor verlesen worden war. Zwei Punkte fallen daran auf: Zum einen, dass Aufsätze nur verlesen werden, und auch nur im Kollektiv, als soziale Handlung. Aufsätze werden hier nicht mit der Feder assoziiert (die Feder im Bild schreibt das Protokoll der Sitzung auf, nicht den Aufsatz zum chemischen Experiment), sondern mit dem Mund und den Ohren der Anwesenden. Zum anderen sind diese zweimal verlesenen Aufsätze (einmal im Verlesen der vergangenen Sitzung, dann, eingetragen im Protokollbuch der Akademie, nun nochmals zum Vergleich vorgetragen) nur als Verweis in einer Kette anderer Handlungen abgebildet. Sie sind nicht das Zentrum und nicht das Ziel der dargestellten wissenschaftlichen Handlungen, sondern nur eine Fixierung zweiter Ordnung. Sie sind ein Zwischenschritt der Wissensarbeit, vergleichbar mit den abgebildeten Substanzen aus der chemischem Analyse und den Pflanzen, die unter dem Tisch liegen; aber noch unterhalb der Ebene der Pflanzenabbildungen, die in einer Mappe am Stuhl lehnen (und dem Buch, den Mémoires pour servir à l‘histoire des plantes, beigegeben sind). Auch im Text zur histoire des plantes, verfasst von Dodart, wird auf diese Aufsätze nur verwiesen – sie sind nur ein Zwischenschritt der eigentlichen Arbeit, vermitteln nur zwischen den vor allem visuell beglaubigten Dingen und den Überlegungen und Beschreibungen Dodarts. – Offenbar sah man Aufsätze als ein kleines Element in Handlungsketten, aber eben in einheitlichen, klar hierarchisierten Handlungsketten. III. Schreiben an den Akademien Geschrieben wurde viel an den Akademien. Aufsätze stellten nur eine von vielen möglichen Formen dar, wie wissenschaftliche Wahrheitsansprüche über die Natur schriftlich dokumentiert, verbreitet und stabilisiert werden konnten. Sie bilden kein einheitliches Genre, weder wissenschaftlich noch literarisch, sondern eine Misch- und Sammelform dessen, was Gianna Pomata als „epistemische Genres“ bezeichnet.10 Doch auch das haben sie mit anderen wissenschaftlichen Schreibformen gemein. Sie betten sich ein in einen großen Reichtum an Schreibmöglichkeiten, die in- und außerhalb der Akademien zur Anwendung kamen. Zugleich sei damit nur angedeutet, dass diese unterschiedlichen Schreibformen je spezifische Handlungspfade in Handlungsketten implizieren.11 10 Gianna

Pomata, The Recipe and the Case. Epistemic Genres and the Dynamics of Cognitive Practices, in: Kaspar von Greyertz (Hg.), Wissenschaftsgeschichte und Geschichte des Wissens im Dialog – Connecting Science and Knowledge, Göttingen 2013, 131 – 154. 11 Vgl. etwa die sehr genauen sozialen Analysen der jeweiligen Schreibformen und -stile bei Christian Licoppe, La formation de la pratique scientifique. Le discours de l’expérience en France et en Angleterre (1630 – 1820), Paris 1996; Paula Findlen, Controlling the Experiment.

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Ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist zunächst an Schreibformen12 zu denken, die sich auf den ersten Blick klar von der Form des Aufsatzes abgrenzen. Eine Monografie, beispielsweise die schon erwähnten Mémoires pour servir à l’histoire des plantes, war durchaus nicht ungewöhnlich im akademischen Umfeld. Als längeres Werk meist eines Verfassers zu einem Thema ist die Grenze zu einem längeren Aufsatz allerdings kaum zu bestimmen. Inhaltlich war eine Monografie oftmals kompilativ ausgerichtet, sammelte Wissen aus anderen Publikationen.13 Sie (und damit auch Aufsätze) konnte aber auch einen oder mehrere Elemente der folgenden Formen annehmen. Als Polemik beispielsweise reiht sie sich in einen Konfliktverlauf ein,14 wie auch die zahlreichen Satiren.15 Der Dialog ist zwar ebenso polemisch ausgerichtet, schuf aber durch die Form ganz eigene epistemische Situationen, die nicht nur für die Wissenspopularisierung (etwa Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes, 1686), sondern auch in der Diskussion neuer Theoreme genutzt werden konnten (von Galileos Dialogo, 1632 bis zu Boyles The Sceptical Chymist, 1661).16 Auch wenn die universitäre disputatio nur ein mögliches Modell für Dialoge bot, prägte die frühneuzeitliche Universität mit der sich aus der Disputation herausschälenden Form der dissertatio auch Schreibgewohnheiten von Monografien oder Aufsätzen.17 Doch finden sich noch weitere Schreibformen, die sich mehr oder weniger von ihrem didaktischen Ursprungskontext lösen und auch für die Beschreibung Rhetoric, Court Patronage and the Experimental Method of Francesco Redi, in: History of Science 31 (1993), 35 – 64; Simon Schaffer, The Leviathan of Parsonstone. Literary Technology and Scientific Representation, in: Timothy Lenoir (Hg.), Inscribing Science. Scientific Texts and the Materiality of Communication, Stanford 1998, 182 – 222. 12 Vgl. allgemein zu verschiedenen Schreibformen und Genres, mit weiterführender Litera­ tur R. W. Serjeantson, Proof and Persuasion, in: Katharine Park, Lorraine Daston (Hg.), The Cambridge History of Science, vol III: Early Modern Science, Cambridge 2006, 132 – 175. 13 Siehe zur didaktischen Tradition in der Chemie etwa Owen Hannaway, The Chemists and the Word. The Didactic Origins of Chemistry, Baltimore/London 1975. Zur Kompilation allgemein Martin Gierl, Kompilation und die Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert; in: Helmut Zedelmaier, Martin Mulsow (Hg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001, 63 – 94. 14 Zur Polemik siehe Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 129). 15 Vgl. etwa Marian Füssel, Die Experten, die Verkehrten? Gelehrtensatire als Expertenkritik in der Frühen Neuzeit, in: Björn Reich, Frank Rexroth, Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne, München 2012 (Historische Zeitschrift, Beihefte 57), 269 – 288. 16 Zum Dialog siehe etwa Fabrice Chassot, Le Dialogue scientifique au XVIIIe siècle. Postérité de Fontenelle et vulgarisation des sciences, Paris 2011. 17 Hanspeter Marti, Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert; in: Marion Gindhart, Ursula Kundert (Hg.), Disputatio 1200 – 1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur, Berlin 2010, 63 – 85.

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von Naturbeobachtungen genutzt werden konnten: Kompendien, Kommentare, Glossen oder die Form der gebündelten Essays, etwa bei Bacon, Boyle oder Hobbes. Auch literarische Kurzformen, eher Situationen der Mündlichkeit nahe stehend, fanden ihren Weg in Monografien: Listen, Aphorismen, Anekdoten und Bonmots, (medizinische) Rezepte18 oder loci communes etwa.19 Die ersten Niederschriften einer Beobachtung oder eines Experiments bedienten sich häufig dieser Kurzformen: Protokolle, Tagebücher, Schmierzettel und -bücher, loci communes, Listen, auch Tabellen oder Skizzen und Zeichnungen hatten einen eigenen epistemischen und sozialen Wert, der nicht zwangsläufig auf das spätere Verfassen eines Aufsatzes oder anderer Schreibformen gerichtet sein musste.20 In diesem Kontext, dem Mündlichen nahe, war es dann auch nicht unbedingt das Auge, das Wahrheitsansprüche explizit generierte, sondern durchaus der Mund und das Ohr, das Hörensagen, das dann aber durch Angabe von (vertrauenswürdigen) Zeugen abgesichert wurde. Der Pariser Mediziner Vallant notierte so etwa ganz typisch: „Mr. de la Chaise m’a dit le 9e. avril 1681 que Mr. Dodart medecin de messieurs les Princes de Conty luy avoit dit le iour precedent qu’il avoit verifié une cuisson pour les viandes que Mr. Boile avoit decouuerte depuis peu en Angleterre“.21 Diese und ähnliche Eintragungen befinden sich vermischt mit Notaten zu Gesehenem und schriftlich berichteten Beobachtungen, Experimenten, medizinischen Rezepten. Angesichts dieser hier nur angedeuteten Bandbreite der Schreibmöglichkeiten muss also die zentrale Bedeutung des wissenschaftlichen Aufsatzes relativiert werden. Dennoch: Er spielte eine Rolle und konnte Elemente dieser verschiedenen Formen aufnehmen. Das trifft insbesondere auch auf den Brief zu, der zwar in seiner kommunikativen Struktur deutlich vom Aufsatz unterschieden zu sein scheint; doch waren Aufsätze (ob in den Akademien verlesen oder in Journalen gedruckt) häufig Briefausschnitte, meist nur gekürzt um die rein epistolären Passagen.22 Damit sind wir also schon bei Schreibformen, die einen engen Bezug zum Aufsatz haben können. Dazu gehören dann auch Gutachten, 18 Zu

medizinischen Rezepten Elaine Leong, Making Medecines in the Early Modern Household, in: Bulletin in the History of Medecine 82 (2008), 145 – 168. 19 Vgl. etwa zu den loci communes in der Naturforschung Richard Yeo, Notebooks, English Virtuosi, and Early Modern Science, Chicago, London 2014. 20 Vgl. hierzu Frederic L. Holmes, Jürgen Renn, Hans-Jörg Rheinberger (Hg.), Reworking the Bench. Research Noteboks in the History of Science, Dordrecht, Boston, London 2003. Speziell zur Bedeutung des Mündlichen darin Claire Doquet-Lacoste (Hg.), Écritures scientifiques. Carnets, notes, ébauches; Themenheft von langage & société 127 (2009), 5 – 81. Zum Münd­ lichen im Umfeld der Akademien: Sebastian Kühn, Saturn – „als ein rundes Küglein in einer Schüssel“. Spuren mündlicher Kommunikation in naturforschenden Aufzeichnungen um 1700; in: Jahrbuch für europäische Wissenschaftskultur / Yearbook for European Culture of Science 7/2 (2012/2014), 83 – 106. 21 Bibliothèque Nationale de France (BNF), fonds français (f. f.) 17054, fol. 259r. 22 Vgl. etwa Rob Iliffe, Butter for Parsnips. Authorship, Audience, and the Imcomprehensi-

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die etwa für Gerichte oder andere obrigkeitliche Institutionen verfasst wurden.23 Vor allem in der Medizin, allerdings auch in anderen Wissensbereichen, haben sich Fallgeschichten (curationes) als Einzelbeobachtung oder auch in Serie entwickelt.24 Als observationes wurden sie im Verlauf des 17. Jahrhunderts, so Gianna Pomata, zur vorherrschenden literarischen Form in der Medizin.25 Die observatio entspreche dabei der neuen, auch epistolar begründeten Kommunikationskultur in der Gelehrtenrepublik, indem begrenzte, vorläufige Einzelerfahrungen unter Gelehrten ausgetauscht wurden: „ich sah“, „ich machte“ usw. Fabian Krämer sieht das Modell der observationes unter dem Einfluss der Zeitschriften schlechterdings als das vorherrschende des wissenschaftlichen Schreibens im Umfeld der Akademien.26 Die Einzelbeobachtung sei durch den Autor selbst beglaubigt (nicht durch Hörensagen, durch Verweis auf andere Texte oder allgemeine Erfahrung); ihr komme daher Autorität zu. So habe erst wissenschaftliche Autorschaft entstehen können. Einzuwenden ist hier allein, dass es zwar einen Anstieg der observationes gab, diese aber keineswegs die anderen Schreibformen verdrängten. Aufsätze an den Akademien zeichnen sich also dadurch aus, dass sie vom Verfasser Beobachtetes in begrenzter Form berichten; sie verbinden singuläre Erfahrung, personalisierte Autorität und wissenschaftliche Autorschaft miteinander. Dabei wurde meist das Modell des Briefes oder der observatio bemüht; die narrative Gestaltung blieb aber erstaunlich offen. Die große Bandbreite literarischer und argumentativer Ausdrucksweisen sorgte für zahlreiche Anschlussmöglichkeiten und Verwendungsweisen. Eingebettet zugleich in die gelehrte Kommunikationskultur des Austauschs prinzipiell gleicher Gelehrter und in eine zumindest formal durch die Organisationsstruktur hierarchisierte Institution der Akademie, konnten sie sowohl auf die Initiative der Verfasser selbst zurückgehen oder vorgegeben worden sein. Das prägnanteste Beispiel in dieser Hinsicht bietet die Academie Naturae Curiosorum,27 deren Gründungsordnung vorsah, bility of the Principia; in: Biagioli, Mario/Galison, Peter (Hg.): Scientific Authorship. Credit and Intellectual Property in Science, New York, London 2003, 33 – 65. 23 Vgl. etwa Tal Golan, Laws of Men and Laws of Nature: The History of Scientific Expert Testimony in England and America, Cambridge/Mass. 2004. 24 Vgl. dazu etwa Stefanie Retzlaff, Einzelfall und Serie. Zur Epistemologie und Darstellungslogik medizinischer Fallsammlungen; in: Silke Förschler, Nina Hahne (Hg.), Methoden der Aufklärung. Ordnungen der Wissensvermittlung und Erkenntnisgenerierung im langen 18. Jahrhundert, München 2013, 105 – 116. Johannes Süßmann, Susanne Scholz, Gisela Engel (Hg.), Fallstudien. Theorie, Geschichte, Methode, Berlin 2007. 25 Gianna Pomata, Observation Rising. Birth of an Epistemic Genre, ca. 1500 – 1650; in: Lor­ raine Daston, Elizabeth Lunbeck (Hg.), Histories of Scientific Observation, Chicago 2011, 45 – 80. 26 Fabian Krämer: Ein Zentaur in London. Lektüre und Beobachtung in der frühneuzeit­ lichen Naturforschung, Affalterbach 2014, v. a. Kap. IV. 27 Uwe Müller, Die Leopoldina unter den Präsidenten Bausch, Fehr und Volckamer (1652 – 1693), in: Benno Parthier, Dietrich von Engelhardt (Hg.), 350 Jahre Leopoldina. Anspruch und

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dass der Präsident den Mitgliedern halbjährlich ein zu bearbeitendes Thema vorgab. Offenbar innerhalb eines medizinisch-enzyklopädischen Gesamtprojekts wurden in dieser Form aber nur einige Arbeiten vor allem kompilatorischer Art verfasst. Eine weitere Parallele bestand zu Aufsätzen in didaktischen Kontexten: die Arbeiten wurden als nützlich, edel und als „regium exercitium“ bezeichnet. Spätere Versionen der Leges sahen vor, dass die Mitglieder sich selbst ein Thema suchen und auch kürzere Beobachtungen für die gedruckten Ephemeriden einsenden konnten – eine Vorgabe, die mehr Anklang fand. Auch an der Académie des Sciences gab jedes Mitglied an, mit welchem Thema es sich zu beschäftigen gedachte. Zumindest zeitweise war eine Selbstverpflichtung auch an der Royal Society und der Societät der Wissenschaften anzutreffen.28 Berichtet wurde davon in den Sitzungen dann häufig in Form von verlesenen Aufsätzen. IV. Scharnierstellen der Wissenskommunikation 1. Auge oder Ohr? – Die Akademiesitzungen Diese Praxis des Verlesens von Beobachtungen und durchgeführten Experimenten scheint den Hauptteil der Akademiesitzungen bestritten zu haben – überraschend angesichts der programmatischen Betonung des Auges. Schaut man sich die Sitzungsprotokolle der Akademien an, so finden sich erstaunlich selten Experimente. So beispielsweise das Treffen der Royal Society am 6. April 1687.29 Zunächst berichtet ein Gelehrter davon, dass der Akademiker Martin ­Lister neue Landmuscheln entdeckt habe. Dann wurden Briefe verlesen: von den Leipziger Herausgebern der Acta Eruditorum, die sich für ein Buchgeschenk bedankten, und schließlich von dem Leidener Botaniker Antoni van LeeuwenWirklichkeit. Festschrift der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, 1652 – 2002, Halle 2002, 45 – 93; ders., Die Leges der Academie Naturae Curiosorum 1652 – 1872, in: Richard Toellner, Uwe Müller, Benno Parthier, Wieland Berg (Hg.), Die Gründung der Leopoldina – Academia Naturae Curiosorum – im historischen Kontext. Johann Laurentius Bausch zum 400. Geburtstag, Halle 2008 (Acta Historica Leopoldina, Bd. 49), 243 – 263. 28 Ein offizielles Règlement wurde in Paris erst 1699 verabschiedet: Histoire de l’Académie royale des sciences, année 1699, avec les mémoires de mathématique et de physique pour la même année, Paris 1702, 3 – 11. Vgl. Christiane Demeulenaere-Douyère, Éric Brian (Hg.), Règlement, usages et science dans la France de l’absolutisme, Paris 2002. Zur offenbar schon vorher praktizierten Selbstverpflichtung der Mitglieder siehe etwa Archiv der Académie des Sciences, Registres des Analyses faites par Mr. Bourdelin, carton II, Heft VII, fol. 105 f. Zur Royal Society Michael Hunter, The Royal Society and its Fellows 1660 – 1700. The morphology of an early scientific institution, Oxford 21994; British Library, Ms. Add 4441: Papers relating to the royal society, fol. 26. Zur Berliner Societät Adolf von Harnack, Geschichte der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 1,1, Berlin 1900. 29 Archiv der Royal Society, Journal Book Original, VIII, fol. 136 f.

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hoek. Dessen Beschreibung winziger Tiere in Austern gab Anlass, den Diener der Society zu bitten, zur nächsten Sitzung auch Austern bereitzustellen, um die Aussagen des Niederländers zu überprüfen. Verlesen wurde auch ein Aufsatz eines Dubliner Gelehrten zur Sonnengröße – dessen Angaben sollten ebenso nachgeprüft werden. Schließlich wurden noch die Erbsen verkostet, die der angestellte Demonstrator Denis Papin monatelang im Vakuum bewahrt und von denen er behauptet hatte, sie wären noch genießbar – was sich bestätigte. Hörensagen und das Verlesen verschriftlichter Beobachtungen stehen hier auf gleicher Ebene – sie müssen auf einen vertrauenswürdigen Gelehrten zurückführbar sein. Experimente, der visuelle Beweis, dienen primär nicht der Wissensherstellung, sondern der Validierung von Wissen. Die Sitzungen an der Académie des Sciences waren noch deutlicher auf das Verlesen von Aufsätzen ausgerichtet. Das Protokoll vom 26. Februar 1698 vermerkt die Lektüre der Beschreibung von zwei chemischen Experimenten, die Akademiker durchgeführt hatten; die Sitzung wurde beendet mit dem Vortrag eines weiteren Akademikers über die Struktur von Zähnen.30 Ähnlich wie an der Royal Society ging es auch in Berlin zu. In der medizinischen Klasse der Societät kam man beispielsweise am 14. Februar 1712 zusammen, und auch hier wurde das Verlesen zweier Schreiben aus Jena und Petersburg protokolliert, die über merkwürdige medizinische Fälle berichteten. Anschließend gaben drei Akademiker ebensolche Fälle zu Protokoll, die sie meist vom Hörensagen kannten.31 Die Tätigkeiten innerhalb der Akademien waren eher diskursiv ausgerichtet als experimentell. Man hörte mehr als man sah; der Mund und das Ohr bestimmten die Sitzungen mehr als das Auge oder gar die Hand. Berichtet und (vermutlich) diskutiert wurde hier aber auch über Dinge, Experimente, Beobachtungen. Experimente wurden nur zur Validierung durchgeführt, nicht zur Herstellung von Wissen. Die Akademien waren, ähnlich den naturgeschichtlichen Sammlungen, weniger ein zentraler Ort von Experiment und Beobachtung, sondern boten den Rahmen für vielfältige Begegnungen, Diskussionen, Austausch und die Inszenierung von gelehrtem Selbstverständnis. Wesentlich dabei war die Umgangsweise mit den eingelaufenen Briefen, Aufsätzen oder auch Büchern. Adrian Johns hat am Beispiel der Royal Society ein vierstufiges Ritual rekonstruiert, das die Kongruenz der Schrift mit den Dingen überprüfte und autorisierte.32 Zunächst wurde die Schrift (oder ein Instrument, ein Naturgegenstand, eine Zeichnung) von einem eher prominenten Mitglied präsentiert. Das Präsentieren war ein öffentlicher Akt innergelehrter Patronage, der Anlass für weitere Handlungen bot: das Verlesen, eine Antwort, die Diskus30 Archiv

der Académie des Sciences, Procès Verbaux 17 (1697 – 98), fol. 112 – 114. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, I-IV-36, fol. 8v f. 32 Adrian Johns, Reading and Experiment in the Early Royal Society; in: Kevin Sharpe, Steven N. Zwicker (Hg.), Reading, Society and Politics in Early Modern England, Cambridge 2003, 244 – 271. 31 Archiv

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sion des Textes, das Antragen der Mitgliedschaft etwa. Als zweiter Schritt folgte meist das Lesen – häufig delegiert. Eingesandte Bücher wurden so an Mitglieder weitergereicht, die der Society von deren Inhalt in späterer Sitzung berichten sollten. Die oben erwähnten (lateinischen) Briefe Leeuwenhoeks sollten zunächst übersetzt werden; kürzere Texte wurden gleich verlesen. In einem dritten Schritt wurde die eingegangene Schrift registriert, um die Prioritätsrechte der Autoren zu schützen. Gleichzeitig waren diese Register der eingegangenen Papiere, Briefe und Vorträge ein Archiv der beglaubigten Entdeckungen und gelehrter Ansprüche.33 Viertens folgte die Zirkulation der Schriften außerhalb der Akademie – sei es durch den Druck etwa in den Philosophical Transactions oder durch weitere Korrespondenzen. Gewiss kann dieses vierstufige Ritual der Umgangsweisen mit Texten nicht verallgemeinert werden. Es liefert aber wichtige Hinweise auf die verschiedenen Umgangsweisen mit Texten. Die Tätigkeiten während der Akademiesitzungen konzentrierten sich so meist darauf, die verschiedenen Verwendungsweisen von Schrift zu organisieren; sie waren um Kulturtechniken des Umgangs mit Schrift organisiert: Lesen, Verlesen, Kopieren, zum Druck befördern, Beantworten, Kommentieren usw. Dennoch beharrte man auf der Favorisierung des Auges – hergestellt etwa durch die literarische Technik der virtuellen Zeugenschaft. Die grammatische Struktur der Berichte („ich machte“, „ich sah“) wurde im mündlichen Vortrag bestärkt und machte die Zuhörer zu Partnern, zu virtuellen Zeugen einer Autopsie, die an anderem Ort schon stattgefunden hatte. Ebenso aber konnte die Überprüfung eines Experiments angeordnet werden. In der Praxis der Akademiesitzungen kam das Lesen und Hören der Schrift vor dem Auge – ganz im Gegensatz zum programmatischen Anspruch. Dabei waren diese programmatische Bevorzugung des Auges und der Experimente weder alternativlos noch unumstritten. In der Vorgeschichte der Gründung der Académie des Sciences findet sich die Académie de Montmor. 1663 hielt deren Sekretär, Samuel Sorbière, dort eine Rede, die die praktischen und organisatorischen Unzulänglichkeiten dieser Akademie thematisiert.34 Es habe seit Beginn der Treffen Streit gegeben, ausgehend von denen, die ausschließlich Experimente durchgeführt haben wollten und in den verlesenen discours keinen wissenschaftlichen Wert sahen. Diese Kontroverse um das Wissenschafts- und Wahrheitskonzept war verbunden mit einer analogen in England, wo Thomas 33 Siehe

die sehr unterschiedlichen Archivierungssysteme im Archiv der Royal Society, in den Early Letter Books, den (kopierten, mitunter gekürzten) Letter Books, den Register Books, den Papers read before the Society (Ms. 703 f), den Classified Papers. 34 Guillaume Bigourdan, Les premières sociétés scientifiques de Paris au XVIIe siécle, in: Comptes rendus hebdomadaires des scéances de l‘Académie des Sciences 164 (1917), 159 –162, 216–220. Zu Sorbière und zum Folgenden, mit weiterer Literatur, siehe Sebastian Kühn, „Anthropométrie“ einer Gelehrtenrepublik. Samuel Sorbière (1615 – 1670), in: Jahrbuch Aufklärung 26 (2015), 101 – 119.

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Hobbes in den 1660er Jahren der Royal Society und Robert Boyle die alleinige Favorisierung der Experimente vorwarf.35 1661 hatte er seinen darüber handelnden Dialogus physicus keinem anderen als Sorbière gewidmet. Was damit skizziert ist, sind drei Möglichkeiten, das Auge oder eben Ohr zu favorisieren, um letztlich Konflikte zu reduzieren. Die Verteidiger des ausschließlichen Experiments sahen darin die Möglichkeit, endlosen Streit um Worte zu verhindern. Was alle sehen, kann nicht mehr bestritten werden. Dies war in der Konsequenz die radikalste Position, bedeutete sie doch ein generelles Misstrauen gegenüber den Worten. Die Verteidiger der discours (verlesene Aufsätze) beharrten darauf, dass aber nur philosophische Vorannahmen dem Gesehenen Bedeutung zuschreiben, man mithin darauf gar nicht verzichten könne. Um dennoch Streit zu vermeiden, müssten aber bestimmte Höflichkeitsregeln im Umgang miteinander eingehalten werden. In der Praxis wurden dann pragmatisch Lösungen zwischen diesen beiden Polen erprobt, lokal und zeitlich sehr verschieden. Durch den Schreib- und Redestil mit Schaffung der virtuellen Zeugenschaft konnte immer wieder auf das Auge rekurriert werden; validierende Experimente sicherten ebenso Wahrheitsansprüche ab wie die sozialen Regeln der Beglaubigung. Ebenso wurden Höflichkeitsregeln formalisiert. An der Académie des Sciences etwa scheint zeitweise die Regel etabliert gewesen zu sein, dass Aufsätze vollständig zu lesen seien. Die Hinweise darauf finden sich seltener in den geschönten procès verbaux, in den Entwürfen dazu aber ist etwa zu lesen, dass eine Schrift wieder verlesen wurde, weil sie unterbrochen worden sei.36 Das vollständige Lesen suggeriert nicht nur einen geschlossenen Gedankengang, sondern erfordert intellektuelle Disziplin und Aufmerksamkeit und habituelle Askese von Vortragendem wie Zuhörern. Dass diese verschiedenen Formen des Umgangs mit Sprache allgemein gesellschaftliche und politische Implikationen zumindest in der Frühzeit der Etablierung der Akademien hatte, ist aufgezeigt worden und zeigt sich auch an Sorbière: Er, der mit Hobbes gegen die Favorisierung des Auges die discours verteidigte, sah zwar die Gefahren einer Potenzierung der Streitanlässe, entwickelte aber gerade deshalb auch eine Vorstellung der Gestaltung gelehrten Zusammen­lebens, die hierarchisch und zentral organisiert und dem königlichen Willen untergeordnet war. So lautet zumindest sein aus der Rede von 1663 resultierender Vorschlag der Gründung einer königlichen Akademie an Colbert, verbunden mit einer Widmung an Louis XIV. Und auch seine politische Philosophie ist analog dazu gestaltet: um den Frieden zu erhalten, Konflikte zu vermeiden, ist ein nahezu despotischer Absolutismus nötig. – Die Frage, ob das Auge oder Ohr favorisiert wurde, war und blieb sozial, epistemologisch und politisch höchst brisant. 35 Steven

Shapin, Simon Schaffer, Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the experimental life, Princeton 1985. 36 Archiv der Académie des Science, Pochette de Scéances 1717, Sitzung zum 5.06.1717.

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2. Aufsätze verlesen und Aufsätze drucken: Sébastien Vaillant Fast alle Aufsätze im Umfeld der Akademien wurden zunächst geschrieben, um verlesen zu werden; erst nach dem Sprechen und Hören wurden sie dann gegebenenfalls in den Journalen gedruckt. Henry Oldenburg etwa, der Sekretär der Royal Society, erhielt meist Briefe von seinen Korrespondenzpartnern, deren beschreibenden Teil (eines Phänomens, eines Experiments) er in der Sitzung dann verlas und in den Philosophical Transactions drucken ließ. Wir haben hier also eine Verknüpfung von Schreiben, Verlesen/Reden, Hören, Drucken, Lesen vor uns. Welche Unterschiede durch diese Übergänge in andere Verwendungsweisen hervorgerufen werden können, soll folgendes Beispiel zeigen, das aber nur einen kleinen Ausschnitt aus einer solchen Verkettung darstellt: 1717 hat Sébastien Vaillant, Botaniker, in Vertretung des berühmten Antoine de Jussieu die jährliche Eröffnungsrede am Jardin du Roi halten dürfen.37 Er stellte darin sein neues taxonomisches System vor, basierend auf den Geschlechtsmerkmalen der Pflanzen. So man den wenigen Mitteilungen über dieses Ereignis glauben kann, muss es ein großartiger Erfolg gewesen sein. Ihm sei geraten worden, das Werk zu drucken, er wurde von Studenten gebeten, doch häufiger die Eröffnungsrede zu halten. Vaillant hatte schon andere Reden gehalten, doch diese scheint besonders erfolgreich gewesen zu sein. Das liegt sowohl am Inhalt, an dem Redestil, aber auch an der spezifischen Redesituation. Die Eröffnungsreden waren zuvor von Jussieu gehalten worden, gelehrte botanische Reden, die die Studenten aber nicht so stark begeistert hatten. Vaillant hingegen schlug zunächst eine andere botanische Taxonomie vor – was ein Affront gegen die bestehende Pariser Botanikerzunft war, die sich an dem 10 Jahre zuvor verstorbenen Pitton de Tournefort orientierte. Vaillant war nun in Paris der erste, der aus diesem älteren System und der Verehrung für diesen Meister ausbrach und etwas anderes bot. Vielleicht noch wichtiger für den Erfolg war aber der Sprachstil der Rede. In Unterstreichung seines Ansatzes, die Pflanzen nach den Geschlechtsmerkmalen zu ordnen, wählte er eine Sprache der Geschlechtlichkeit, die den Zeitgenossen nur aus anderen literarischen Angeboten bekannt war – er wählte einen fast pornografischen Beschreibungsstil. Die geschlossene Blüte bezeichnete er als das „Ehebett“, um dann in der Beschreibung der „Liebesübungen“ fortzufahren, die sich v. a. vormittags, in dem „Schäferstündchen“ der Pflanzen beobachten lassen: 37 Siehe

hierzu Jacques Rousseau, Sébastien Vaillant. An Outstanding 18th Century Botanist, in: P. Smit, R. J. Ch. V. ter Laage (Hg.), Essays in biohistory, Utrecht 1970 (Regnum Vege­ tabile 71), 195 – 228. Zu dem Konflikt genauer: Sebastian Kühn, Wissen, Arbeit, Freundschaft. Ökonomien und soziale Beziehungen in den Akademien von London, Paris und Berlin um 1700, Göttingen 2011 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, Bd. 10), 206 – 230.

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La tension ou le gonflement des organes masculins […] se fait si subitement, que les lobes du bouton, cedant a leur impetuosité, s’ecartent ça & là avec une celerité surprenante. Dans cet instant, ces fougueux qui semblent ne chercher qu’a satisfaire leurs violents transports, ne se sentent pas plustôt libres, que faisant brusquement une décharge générale, un tourbillon de poussiere qui se repand, porte partout la fecondité […].38

Dieser Beschreibungsstil unterstreicht nun nicht nur den taxonomischen Ansatz und verstärkt ihn, sondern fügt sich ein in eine Tradition gerade von öffentlichen, feierlichen Schluss- oder Eröffnungsreden an höheren Lehreinrichtungen, die schon seit dem Mittelalter bekannt sind und offenbar auch dem Publikum im Jardin du Roi nicht unvertraut war: die akademischen Scherzreden. Diese quaestiones quodlibeticae oder minus principales waren häufig lustig, ironisch, mokierend, parodistisch; sie sind als Genre vor allem an deutschen Universitäten des Humanismus bekannt, aber auch in Paris oder Prag nachzuweisen.39 Die Rede Sébastien Vaillants kann in dieser Tradition gesehen werden; er näherte sich damit der Studentenkultur an, gleichzeitig auch einem literarisch liberti­ nären Publikum, das diese Redeweise zu schätzen wusste, gerade auch im Sinne des gelehrten Scherzes.40 Ein Jahr darauf, 1718, erschien diese Rede im Druck, und Vaillant hatte acht darauf gegeben, dass sie nicht in Frankreich/Paris erschien und schon gar nicht in den Bänden der seit 1699 erscheinenden offiziellen Akademiezeitschrift Histoire & Mémoires, sondern in Holland. Damit umging er die Zensur der Académie, die die Prüfung der Werke ihrer Mitglieder ausübte. Während die Rede im Jardin du Roi keine weiteren Spuren in der gelehrten Welt hinterließ, rief der Druck dieser Rede in Holland einen handfesten Skandal hervor. Claude-Joseph Geoffroy, ebenso Botaniker, trug in zwei Sitzungen der Académie seine Gegendarstellung vor und forderte von Vaillant Genugtuung für die erlittenen Beleidigungen. Allerdings griffen bei aller Heftigkeit der Entgegnung auch hier die Höflichkeitsregeln: Geoffroy hatte ursprünglich viel schärfer formuliert – dieser Aufsatz wurde nicht verlesen, sondern erst eine etwas gemäßigtere Version.41 – Die Feder musste für das Ohr domestiziert werden. 38 Sebastien

Vaillant, Discours sur la structure des fleurs, leurs differences et l’usage de leurs parties, Prononcé a l’Ouverture du Jardin Royal de Paris, le Xe. jour du mois de Juin 1717, Leiden 1718, 5 – 8. 39 Johannes Klaus Kipf, „Ludus philosophicus“. Zum medialen Status der akademischen Scherzreden des 15. und 16. Jahrhunderts; in: Gindhart/Kundert (Hg.), Disputatio 1200 – 1800 (wie Anm. 16), 203 – 230. 40 Vgl. Martin Mulsow, Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kom­ munikation in der Frühen Neuzeit, Stuttgart, Weimar 2007. Zur epistemischen Bedeutung des gelehrten Scherzes und Spiels: Paula Findlen, Jokes of Nature and Jokes of Knowledge. The Playfulness of Scientific Discourse in Early Modern Europe, in: Renaissance Quarterly 43 (1990), 292 – 331. 41 Muséum d’histoire naturelle, MS 1274.

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Gewiss haben die Pariser Akademiker auch von der Rede Vaillants etwas mitbekommen, sie reagierten aber erst auf den Druck, fühlten sich nur von der gedruckten Rede beleidigt. Die Rede als scherzhafte gelehrte Eröffnungsrede einer Lehreinrichtung war akzeptabel. Derselben Rede im Druck, die sich durch typografisches Erscheinungsbild und Titel, in lateinischer und französischer Sprache ganz als gelehrte Publikation gab, musste entgegnet werden. Nun war die nach Geschlechtsmerkmalen geordnete Pflanzenwelt nicht mehr als gelehrter Scherz, als vielleicht übertriebene Analogie von Mensch und Pflanzen, als scherzhaftes Element oraler Kultur an Lehrinstituten zu verstehen, sondern musste als gelehrte Einlassung ernst genommen werden als Angriff auf die herrschende botanische Meinung. Und mit dem dezidiert gelehrten Druck war eine andere Öffentlichkeit angesprochen, in der es nahezu die Verpflichtung zur Entgegnung gab, wenn man sich in der Ehre angegriffen fühlte. Mündliche Rede und schriftlicher Druck dieser Rede sind hier stark getrennt, sowohl in der sozialen Konstellation als auch in der epistemischen Bedeutung. Und auch in sittlicher Hinsicht unterscheiden sich die Beurteilungen des Autors und Redners: Vaillant als Redner war ein gefeierter Rhetoriker, glänzender Gelehrter, geschätzter Lehrer; Vaillant als Autor des gelehrten Druckes der Rede war mit seinen „termes de la galanterie la plus decriée“, mit seinen „peintures obscenes“ ein „Caractere indigne d’un honneste homme, d’un vrai sçavant, d’un parfait academicien“, wie Geoffroy in seinem ersten Entgegnungsentwurf bemerkte. 3. Die Konstruktion wissenschaftlicher Autorschaft An den Akademien, so ist deutlich geworden, wurde fast immer etwas verlesen. Doch der Weg zu diesem verlesenen Aufsatz war lang. Nur selten haben sich Vorformen davon erhalten, Notizen, Entwürfe, Bearbeitungen; aber aus einigen überkommenen lässt sich die beständige Arbeit am Formulieren, das Aushandeln des Schreib- und Sagbaren, erahnen. Und wiederum sind damit in verschiedenem Maße Situationen des Mündlichen verknüpft. Um noch einmal zur Kupfervignette aus der Académie des Sciences zurück zu kommen, zur Histoire des plantes,42 so ist ein Teil dieses kollektiven Projekts das chemische Experiment, die mitunter wochenlange Destillation bei möglichst gleichmäßiger, geringer Temperatur, in deren Ergebnis chemische Substanzen stehen, die dann weiter nach Gewicht, Farbe, Geruch, Geschmack etc. bestimmt werden konnten. Mit der Durchführung dieser chemischen Laborarbeit war 42 Vgl.

dazu ausführlicher Sebastian Kühn, Experimente im Tagebuch. Serielle Experimentbeschreibungen im 17./18. Jahrhundert, in: Michael Gamper, Martina Wernli, Jörg Zimmer (Hg.), „Es ist nun einmal zum Versuch gekommen“. Experiment und Literatur I. 1580–1790, Göttingen 2009, 255 – 276.

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Claude Bourdelin beauftragt, der allerdings zahlreiche Helfer hatte. Er notierte zunächst nur die Ergebnisse auf einem Schmierzettel, die für Außenstehende kaum verständlich waren. Der eigentliche Bericht wurde später geschrieben, im Hinblick auf den Vortrag in der Akademie, in Anwesenheit derer, die nur selten ein Labor betraten, weshalb ausführlich die Experimentalanordnung beschrieben wurde. Hier erst finden wir eine narrative Struktur, die den Zuhörenden das Geschehen im Labor nachvollziehbar machen sollte. Bourdelin – dies nun der dritte von zeitlich, räumlich und sozial getrennten Schritten – trug dann diese Beschreibungen regelmäßig bei den Treffen vor. Diese in den Sitzungen verlesenen Experimentbeschreibungen wurden mit einer Raute (#) markiert und zusätzlich als von der Académie geprüft gekennzeichnet: „Veu et Verifié Ce 26 avril 1673“ steht dann etwa darunter, mitunter noch mit den Namen derer versehen, die maßgeblich an der Überprüfung beteiligt waren: „Cest oignon de narcisse sauuage a esté examiné et Corrigé par Messieurs Perrault, Duclos, Dodart et Borelly le mercredy 26e avril 1673“.43 Die sprachliche Gestaltung ist bemerkenswert: In der Sitzung wurde ein Experimentbericht verlesen; die Hörenden überprüften diesen nur in Ausnahmefällen am Objekt selber. Die Überprüfung und Korrektur bezog sich entsprechend auf die Beschreibungsebene, die aber gleichzeitig negiert wurde: „Cest oignon […] a esté examiné et Corrigé“, „Vue et vérifié“. Gesehen und bewahrheitet – obwohl nichts gesehen worden war, sondern man hörte das Verlesen der Beschreibungen von Experimenten, die z. T. lange zurück lagen. „Vue et verifié“ verweist auf das Sehen, um so mit Macht den Anspruch des Sehens aufrecht zu erhalten. Man hörte und ging damit die Authentifizierungskette umstandslos wieder hinauf: im Hören bestätigte man das Verlesen, das das Schreiben beglaubigte, welches das Sehen und damit den Ursprung des Wissens authentifizierte. Nur daher konnte man „vue et verifié“ schreiben, weil man im Hören auch sah – es gab keinen Unterschied zwischen Sehen und Hören. Noch mehr: durch das Hören griff man auch ein in das Schreiben, ja in das Sehen (Riechen, Schmecken) selbst. So veränderte („verbesserte“, in der Logik der Akademiker) man einzelne Worte der Laborprotokolle, die das ursprünglich Erfahrene angemessener beschreiben sollten. Hörend sah man, und man sah (schmeckte, roch) besser als die Akteure im Labor. Die Narration des Berichts und der Eingliederung in die Akademiesitzung verdrängte die zeitlichen, ört­ lichen und sozialen Trennungen zwischen den Situationen im Labor und im Sitzungszimmer, indem die Spitze der sozialen Hierarchie des Gemeinschaftsprojekts die letztgültige Beschreibungsebene für sich reklamierte. Die Hörenden nahmen narrativ an der Autopsie teil. Mitunter wurde dann auch die Wort43 Archiv

der Académie des Sciences, Registres des Analyses faites par Mr. Bourdelin, carton I, Heft 1, fol. 26 f. Einige Kurznotizen z. B. in der Bibliothèque Nationale de France, Ms. n. a.f. 5133, fol. 20 – 28.

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wahl entscheidend verändert, um zu nachprüfbaren und unverwechselbaren Ergebnissen zu gelangen: „a troublé le sublimé“ ist durchgestrichen zu Gunsten der genaueren Angabe „a troublé legerement et en long tems le sublimé“, oder „Lassemblée a Convenu qu’on se serviroit dodeur de pain Bis, au lieu de [odeur corrompue]“.44 Oft sind den Protokollen Bourdelins auch Bemerkungen von anderer Hand hinzugefügt, die aus den Experimenten Schlüsse ziehen, die angewendeten Methoden evaluieren und die Experimente miteinander vergleichen. Denis Dodart schließlich, der Kopf des Gemeinschaftsprojekts der Histoire des plantes, gab konkrete Anweisungen vor, wie die anderen Akademiker vorgehen sollten und auf welche Informationen in den Experimentberichten zu achten sei. Mündliche Kommunikationssituationen ohne zwangsläufige Autopsie bestimmten hier also darüber, wie die schriftliche Fixierung von vergangener Beobachtung auszusehen hatte. In den schließlich offiziell gesammelten Experimentbeschreibungen ist davon nichts mehr zu merken, diese präsentieren sich aus einem Guss, eine (gar nachträgliche, nicht durch Autopsie verifizierte) Bearbeitung kommt gar nicht in den Sinn. Doch auch nach der eigentlichen sprachlichen Gestaltung erfahren die chemischen Experimentbeschreibungen weitere Transformationen. Denis Dodart ordnete die Experimentberichte nicht mehr chronologisch, sondern systematisch auf der Suche nach Gesetzmäßigkeiten. Weitere Kopien stammen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, über 50 Jahre nach den Experimenten wurden sie erneut sortiert, nun alphabetisch.45 Jenseits der programmatisch (wie in der Kupfervignette) und narrativ behaupteten Rückbindung an das Auge wurden die Experimentberichte immer neu genutzt, ihnen dabei ein neuer Sinn zugesprochen. Möglich war das auch durch eine sprachliche Gestaltung, die die Gesamtheit der Akademie – und das heißt vor allem die Hörenden und Lesenden – zu Sehenden macht. Bourdelin hatte in den ersten Protokollen noch nach dem bekannten Muster der observationes formuliert: „J’ay fait […] j’ay vu“. Das war dann durchgestrichen zu Gunsten eines kollektiven „on a fait […] on a vu“.46 Die Gemeinschaft der gesamten Akademie gibt dann auch die kollektive Zeugenschaft an, bei der nicht mehr unterschieden werden muss, wer mit dem Auge und wer mit dem Ohr „sah“. Versucht man genauer die Verteilung der Handlungen zu eruieren, ist häufig unklar, wer was tat: die Gemeinschaft der Akademie, Bourdelin, seine Helfer, Dodart? Im kollektiven „on“ wird eine Einheit von Autor, Erzähler und Sehendem/Tuendem suggeriert, deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Drei zentrale Instanzen frühneuzeitlicher Wissensgenerierung, die sich zudem auf viele Personen verteilen, werden hier vereinigt: die 44 Archiv

der Académie des Sciences, carton I, Heft 1, fols. 56r und 310r. Kopien Dodarts im Archiv der Académie des Sciences, carton III; die Kopien von 1749: ebd., Ms. 1 J 18. 46 Deutlich wird dieser Wandel in den Korrekturen der Experimentberichte Bourdelins in der Bibliothèque Nationale de France, Ms. n. a.f. 5133, fol. 1 ff.; 5147, fol. 4r. 45 Die

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beglaubigende Autorschaft („vérifié“), die narrative Autopsie („on a vu“) und die handelnde Ausführung („on a fait“). Hierarchien, Unterschiede, auch Meinungsverschiedenheiten wurden in der Kollektivform des „on“ aufgehoben – ein rhetorisches Mittel der Konfliktbeseitigung, in dem die Herrschaftsmittel nicht mehr diskursiv aussagbar sind. So singulär diese kollektive Autorschaft an der Pariser Académie auch zu sein scheint – diese sozio-narrative Technik verweist auf durchaus analoge Verhältnisse in den anderen Akademien, die weiterhin (wie dann auch die Académie des Sciences nach 1699) individualisierte Narrative bevorzugten. So wurde an der Berliner Societät der Wissenschaften 1707 ein Nordschein beschrieben.47 Der Astronom Gottfried Kirch tritt als Autor, Sehender und Handelnder auf: Als ich nun zu abends um 8 Uhr aus meinem Tubum im Süden Jovem observirte, […] erinnerte mich eine gewisse Person nach Norden zu sehen, weil sich allda etwas ungewöhnliches am Himmel sehen ließe. Als ich nun dahin kam, fand ich, gegen Norden einen hellen weißen Schein.

Gottfried Kirch ist der Entdecker, der zwar auf etwas Ungewöhnliches hingewiesen wird, aber er allein kann die Beobachtung angemessen deuten und beschreiben. Es findet sich allerdings auch eine andere Version des Geschehens, verfasst von Maria Kirch, der Ehefrau Gottfrieds: Zu abends um 8 Uhr, da […] mein lieber Mann gegen Süden zu observirte: sahe ich mich nach Norden um, und ward gleich eines weiß hellen Streiffs, oder Bogens gewar […]. Als wir nun etliche Minuten, mit Verwunderung den hellen Bogen betrachteten […].

Nun ist Maria Kirch die Entdeckerin, schließt in das Sehen aber schnell ihren Mann als stützende Autorität ein („wir“). Weitere Versionen existieren, in denen der gesamte Haushalt mit Kindern und Dienern, einem Lehrling und einem benachbarten Pastor als Teilnehmende der Beobachtung genannt werden. Im offiziellen Bericht (im Übrigen in der Handschrift Maria Kirchs) firmiert unter dem Autorennamen Gottfried Kirchs nur ein singuläres „ich“, dem diese Vielfalt der Instanzen und beteiligten Personen nicht anzumerken ist. V. Fazit Es zeigt sich: Die Produktion von Aufsätzen im Umfeld der Akademien war mit erheblichem Aufwand verbunden. In der praktischen Arbeit waren verschiedene Arbeitsformen, Zeiten, Räume, Akteure und Instrumente zu koordinieren, um dann in der schriftlichen Fixierung die Illusion von personalisierter auctori47 Archiv

Nr. 124.

der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Kirch,

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tas in Autorschaft zu erzeugen. Die sich neu herauszubildende Gattung der Zeitschriften-Aufsätze war ganz wesentlich darauf bezogen, dass der Schreiber identisch mit dem Sehenden ist. Nur so war die singuläre Erfahrung als Autorität wirksam; nur so konnte überhaupt so etwas wie wissenschaftliche Autorschaft entstehen – ob kollektiv, wie zumindest bis 1699 an der Pariser Académie des Sciences, oder individuell, wie sonst meist. Diese Einheit von Tuendem, Sehendem, Schreibendem und Autor erweist sich aber als immer wieder erst mühsam Herzustellendes, das auf einer vor allem häuslichen, hierarchisch strukturierten Arbeitsorganisation beruhte. Die Vereinheitlichung auf das Auge des einen Sehenden geschah dann erst im Prozess der Verschriftlichung in einer Sprache, die heute als Urform wissenschaftlicher Aufsätze gelten kann, wesentlich aber auf jener hierarchischen Arbeitsorganisation in Haushalt und Akademie beruhte. Vielleicht kann man sogar die These aufstellen, dass der wissenschaftliche Aufsatz in der Form der observatio überhaupt erst in einer historischen Situation ermöglicht wurde, in der Haushalte zwar nach wie vor primäre Produktionsorte von Wissenschaft waren, in der man aber davon zunehmend abstrahieren konnte durch die steigende Bedeutung wissenschaftlicher Kommunikation in rein männlich-gelehrten Gemeinschaften: das konnten Briefnetzwerke ebenso sein wie dann fester institutionalisierte Akademien.48 Diese wären dann zu Umschlagorten von Haushaltsarbeit geworden, in denen man sich in Form von Aufsätzen über die Dinge austauschte, die im Haushalt getan worden waren, ohne die Haushaltsarbeit dabei thematisieren zu müssen. Insofern mag die These von Monika Mommertz zur „Schattenökonomie“ des Haushalts in den Wissenschaften zutreffen.49 Methodisch resultiert aus diesen Überlegungen, dass gerade die den observationes nahestehenden wissenschaftlichen Aufsätze eine Einheit von Autor, Redner, narrativem Ich und referentiellem Akteur suggerieren: „Ich sehe“ heißt: ich, der ich euch das sage, der ich das niedergeschrieben habe, der ich gemacht und der ich gesehen habe. Diese Einheit und Homogenität wird sprachlich suggeriert, ist aber kaum in der sozialen Praxis gegeben. Narrativ und sozial kann diese Einheit auf sehr verschiedene Weise hervorgebracht werden: durch die Technik der virtuellen Zeugenschaft etwa an der Royal Society; durch die Organisation und sprachliche Gestaltung der Gemeinschaftsprojekte an der Académie des Sciences; durch die haushaltsbezogene Produktionsweise im Fall der die Überlegungen zur Kongruenz vom Aufstieg der medizinischen observationes mit neuen Kommunikationsmodellen und Vergemeinschaftungsformen bei Gianna Pomata, Sharing Cases. The Observationes in Early Modern Medecine, in: Early Science and Medecine 15 (2010), 193 – 236, hier 221 – 226. 49 Monika Mommertz, Schattenökonomie der Wissenschaft. Geschlechterordnung und Arbeitssysteme in der Astronomie der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Theresa Wobbe (Hg.), Frauen in Akademie und Wissenschaft. Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700 – 2000, Berlin 2002, 31 – 63. 48 Vgl.

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Berliner Astronomenfamilie Kirch. Die Wissensgenerierung spaltet sich auf in sehr verschiedene Situationen und Akteure. Ähnlich der Kupfervignette von Sébastien Leclerc, die die Arbeit der Pariser Académie des Sciences am Pflanzenwerk illustrieren sollte, mussten auch die Aufsätze zahlreiche zeitlich und räumlich getrennte Vorgänge, Akteure und Arbeitsweisen miteinander vermitteln und zu einer Einheit formen. Das Auge, auf das immer wieder rekurriert wird, (und erst recht die zurichtende Hand) erweist sich häufig als ein geborgtes, usurpiertes. Die schreibende Feder, der vorlesende Mund, das hörende Ohr der Gelehrten waren machtvolle Instrumente dieser Aneignung der Augen, der Münder, der zurichtenden Hände vieler. Die Autorität verbürgende Einheit der im Ich oder Wir verbundenen Instanzen, der Rekurs auf das ursprüngliche Sehen ist eher eine Vereinnahmung der Tätigkeit anderer, die als Unerwähnte eben nicht zur Akademie gehören, sozial und sprachlich ausgegliedert werden: die Diener, die Familienangehörigen und die anderen Mitarbeiter etwa.50 Immerhin ist erstaunlich, dass einer dieser Helfer mit abgebildet wurde auf der Darstellung der Académie – als einziger kniend am Boden. Entgegen der Annahme, dass Schrift für die moderne Wissenschaft Voraussetzung ist, plädiert der Beitrag für die Bedeutung auch anderer Kommunikations- und Konstitutionsweisen von Wissen: dem Sprechen und Hören, dem Sehen und Tun. Aufsätze zeigen sich als Teil vielfältiger Handlungsketten, verbinden Mündliches und Schriftliches untrennbar miteinander. Im Umfeld der naturforschenden Akademien um 1700 werden so soziale und epistemische Logiken von Aufsätzen untersucht. Wie konnte mit ihnen umgegangen werden? Wie waren dabei die Kultur- und Wissenstechniken des Sehens, Schreibens, Hörens und Sprechens miteinander verknüpft? Welche Praktiken sicherten die Autorität des in Aufsätzen präsentierten Wissens ab? Dann erst können scheinbar banale Fragen gestellt werden: Wer schrieb eigentlich, wer sprach, wer sah, wer hörte – und wer richtete die Experimente zu? Contrary to the assumption that writing is the sine qua non of modern science, this contribution argues for the importance of other forms of communicating and constituting knowledge: speaking and hearing, seeing and doing. The Early Modern scientific article emerge as part of complex of actions, interlinking aspects of literacy and orality. This essay, focusing on scientific academies, analyses the social and epistemic logics of the scientific article at the turn of the 18th century. How were they dealt with? In the process, in what manner were the cultural and knowledge techniques such as seeing, writing, listening and speaking interlinked? What practices secured the authority of knowledge presented in scientific articles? Only then can we address seemingly trivial questions: Who was writing, who was speaking, who was seeing, who was listening – and who was executing the experiments? Dr. Sebastian Kühn, Leibniz-Universität Hannover, Historisches Institut, Im Moore 21, 30167 Hannover, E-Mail: [email protected] 50 Steven

Shapin, The Invisible Technician, in: American Scientist 77 (1989), 554 – 563.

Martin Urmann Zwischen „prix de dévotion“, Wissensreflexion und Reformdiskurs Die Preisfragen der französischen Akademien als literarische und ­epistemische Gattung und die Frage nach dem „Jugement du Public“ an der Akademie von Besançon aus dem Jahr 1756

I. Lob der Preisfragen – Lob des Aufsatzes? Nos combats sont bien plus tranquilles. Minerve en dicta le projet; Nobles, intéressans, utiles, L’esprit en est l’âme et l’objet. À le former nos jeux aspirent, Ils nous enflamment, nous inspirent; Chaque instant hâte les succès: La règle instruit, l’exemple pique, L’esprit au loin se communique, Tout se ressent de ses progrès. […] L’Éloquence et la Poésie, Nos jeux les ravirent aux cieux: D’un noble feu l’âme saisie, Nous parlons la langue des Dieux. Mais j’admire d’autres merveilles. Nul secret n’échappe à nos veilles, Les voiles tombent devant nous. Prodige obscur, hardi système, Tout s’arrange, l’Olympe même De nos lumières est jaloux.1 1 Die

dieser Arbeit zugrunde liegenden Forschungen sind in dem an der Freien Universität Berlin angesiedelten DFG-Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung“ entstanden und dort im Teilprojekt A07 „Erotema. Die Frage als epistemische Gattung im Kontext der französischen Sozietätsbewegung des 17. und frühen 18. Jahrhunderts“ verortet. Monsieur d’Ardène, L’utilité des prix académiques, in: Œuvres posthumes, Marseille 1767,

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128

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So heißt es in einem besonders markanten poetischen Produkt der Preisfragengattung in Frankreich, der Ode, mit welcher der Verfasser Monsieur d’Ardène den Wettbewerb der Académie des Belles-Lettres de Marseille zur „Utilité des prix académiques“ für das Jahr 1733 gewann. Zu diesem Zeitpunkt erfreute sich die Institution des „concours académique“ bereits einer längeren Bestehensgeschichte und rasch wachsender Beliebtheit unter den sich etablierenden wie den etablierten Mitgliedern der république des lettres. Fast zwei Jahrzehnte vor dem wohl berühmtesten concours, der Rousseau 1750 in Dijon triumphieren ließ, wurde die Preisfragengattung mit dem Lob ihrer Nützlichkeit sich selbst zum Thema. Dabei war, wie in der Ode ausdrücklich hervorgehoben, zu den tradierten Disziplinen des Genres, „éloquence“ und „poésie“, mit den „autres merveilles“ die neue Kategorie der naturwissenschaftlichen Preisfragen (speziell der Académie Royale des Sciences) als besonderes Faszinosum hinzugetreten. Zur wachsenden Fülle von Themen aus diesen verschiedenen Bereichen appellierten die französischen Akademien mit den Prestige verheißenden – und zugleich ihre eigene Hochschätzung fördernden – prix, wie sie die Ode von d’Ardène besingt, entsprechend geartete schriftliche Antworten einzureichen. Wenn ich mich in einem ersten Schritt den Preisschriften2 an den französischen Akademien mithilfe des Begriffs des ,Aufsatzes‘ annähere, so wird dieser nicht in gattungsgeschichtlicher Absicht verwendet – der Anachronismus ist evident –, sondern zu analytischen Zwecken. Aufsätze meinen im Anschluss an die Perspektive der Herausgeber schriftliche Ausarbeitungen zu bestimmten Themen, die in einem gegebenen institutionellen und diskursiven Kontext von dritter Seite gestellt werden. Dieser definitorische Ansatz hat als heuristischer den Vorteil, eine Reihe von verschiedenen Praktiken und Formen des Schreibens zueinander in Beziehung setzen zu können, die nicht nur die literarisch freieren Gattungen des Essays und der Bekenntnisse, sondern auch Denkschriften, wissenschaftliche Fachabhandlungen und didaktischere Formate (wie etwa Übungsbriefe) einschließen, welche in unterschiedlichsten institutionellen Kontexten von gelehrten Sozietäten bis hin zu Logen und Geheimbünden ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allesamt rasch wachsende Verbreitung erfuhren. Der spezielle Akzent dieses Definitionsansatzes auf dem Umstand, dass gegebene Themen innerhalb bestehender institutionell-diskursiver Ordnungen anderen zur Bearbeitung übertragen werden, rückt historisch einen Aspekt der Praxis des Erstellens von Aufsätzen ins Zentrum, der für die akademiBd. 2, 203–206, hier 204 f. Bei Quellenzitaten werden hier wie im Folgenden die Originalschreibungen durchgängig beibehalten. 2 Zur terminologischen Klärung ist darauf hinzuweisen, dass mit dem Ausdruck Preisschriften im Folgenden nicht nur die gekürten Eingaben (die ausdrücklich als solche apostrophiert werden), sondern alle zur Beantwortung einer Preisfrage im Rahmen des concours académique eingereichten Texte bezeichnet werden. Auch wird der Begriff Preisfrage mitunter stellvertretend für das schriftliche Format des concours académique insgesamt verwendet.



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schen Preisschriften eminent charakteristisch ist und das Format nachhaltig prägt. Dies gilt seit den Anfängen des concours académique schon im späten 17. Jahrhundert, die auf diese Weise in den Blick gelangen und mit ihnen die rhetorischen Traditionen, aus denen das Genre ursprünglich hervorgegangen ist. Hieran ist jedoch bereits die erste medienhistorische These zu den Preisfragen geknüpft, deren gattungsgeschichtliche Spezifika und epistemischer Status alles andere als geklärt sind in der immer noch recht raren Forschung zu diesem bemerkenswerten Phänomen der république des lettres.3 Ziel der folgenden Überlegungen ist es, die Preisfragengattung an den französischen Akademien in ihren konstitutiven Voraussetzungen und ihrer Entwicklung zu untersuchen und dabei insbesondere über die formal nicht weiter spezifizierte Definition des Aufsatzbegriffs hinaus die prägenden Merkmale des Genres herauszuarbeiten. Anhand ausgewählter Preisschriften aus unter3 Für

den französischen Kontext ist in sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Perspektive nach wie vor die Erschließung der Preisfragen durch Daniel Roche grundlegend: Le siècle des lumières en province. Académies et académiciens provinciaux, 1680–1789, 2 Bde., Paris 1978, Bd. 1, hier 324–355. Die umfassendste monographische Behandlung des concours académique und eine unverzichtbare, detailgenaue Arbeitsgrundlage bietet aktuell Jeremy L. Caradonna, The Enlightenment in Practice: Academic Prize Contests and Intellectual Culture in France, 1670–1794, Ithaca, London 2012. Den analytischen Hauptfokus der Studie bildet allerdings die Rolle der Preisfragen in der kritischen Öffentlichkeitssphäre der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Generell sind die bisherigen Untersuchungen zu den Preisfragen der französischen Akademien primär thematisch auf bestimmte Gegenstände des concours fokussiert wie bei Hans-Jürgen Lüsebrink, Pragmatismus und utopischer Diskurs. Die akademischen Preisschriften über das öffentliche Erziehungswesen in französischen Provinzakademien des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 25 (2001), 25–35. Ferner existieren Analysen zur Entwicklung der Themen des concours an bestimmten Akademien wie bei Christian Desplat, L’Académie royale de Pau au XVIIIème siècle. Un milieu socio-culturel provincial, Pau 1971. Im Falle der ob des Laureaten Rousseau schon früh erforschten Preisfrage der Akademie von Dijon von 1750 kam auch das organisatorische Prozedere des concours in den Blick. Vgl. Marcel Bouchard, L’Académie de Dijon et le Premier Discours de Rousseau, Paris 1950. Auch im deutschen Kontext dominieren in den Studien zur Berliner Akademie der Wissenschaften die thematisch orientierten Zugriffe in den historischen bzw. philosophischen Untersuchungen von Avi Lifschitz, Language and Enlightenment. The Berlin Debates of the Eighteenth Century, Oxford 2012, Cordula Neis, Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache, Berlin 2003, und Cornelia Buschmann, Die philosophischen Preisfragen und Preisschriften der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Förster (Hg.), Aufklärung in Berlin, Berlin 1989, 165–228. Wenn weiterführende Überlegungen zum Gattungsstatus und medialen Format der Preisfrage unternommen werden, so sind sie wie im seltenen Fall von Gunhild Berg von der teleologisch ausgerichteten Gegenüberstellung von universitärer Disputatio und der sie ‚ersetzenden‘ akademischen Preisfrage überformt. Vgl. Gunhild Berg, Sind Preisfragen die aufklärerisch-öffentliche Form der disputatio? Ein Antwortversuch am Beispiel der Berliner Volksbetrugs-Frage von 1780, in: Marion Gindhart, Ursula Kundert (Hg.), Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur, Berlin 2010, 167–199.

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schiedlichen Entwicklungsphasen des concours académique ist zu fragen, was die besonderen Kennzeichen dieser Art von themengebundener schriftlicher Ausarbeitung sind, von welchen rhetorischen Mustern der Textproduktion und Argumentation sie bestimmt ist und welche Vorläufer und Vorbilder sie besitzt. Dabei wird ebenfalls zu klären sein, ob der Ausdruck ,Aufsatz‘ abgesehen von der heuristischen Funktion des Terminus der adäquate Begriff für das Phänomen der akademischen Preisschriften ist, welche historisch dem Aufsatz als einem der rhetorischen Überlieferung entwachsenen Format vorausgehen. Die einschlägigen Quellenbezeichnungen für die Preisfragen lauten „discours“ und „mémoire“, wie wir sehen werden, und verweisen auf andere Traditionen als „essai“ oder etwa „article“. Um den leitenden Fragen nachzugehen, werden zunächst die institutionellen und organisatorisch-formalen Voraussetzungen der Preisfragen betrachtet, die an den französischen Akademien bereits vor dem 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielten. Sodann wird der Blick auf die Frühgeschichte der Gattung gerichtet mit dem Ziel, die prägenden Themen und dominanten rhetorischen Argumentationsmuster auszumachen. Vor diesem Hintergrund wird der Wandel greifbar, den der concours académique in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchläuft, hin zu neuen, verstärkt an der aufklärerischen Öffentlichkeit orientierten Fragestellungen. Das zuletzt analysierte Beispiel des concours der Akademie von Besançon zum „Jugement du Public“ aus dem Jahr 1756 zeigt zudem, wie die Preisfragen sich schließlich zu einem Medium der öffentlichen Reformdebatte in der Spätaufklärung entwickelten,4 welche zunehmend in Form von Aufsätzen geführt wurde. Außerdem stoßen wir mit dem concours von Besançon auf eine in der Forschungsdiskussion um die Konstitution der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert bisher übersehene Quelle, die hier erstmals eingehender untersucht wird. II. Eine prosperierende Gattung und ihre institutionellen Voraussetzungen Der concours académique wurde an der Académie française im Jahr 1670 eingerichtet, als jeweils zweijährlich vergebener prix de poésie und prix d’éloquence, und bald darauf auch an den neu gegründeten Akademien in der Provinz verliehen (1682 in Arles, 1687 in Angers und 1694 in Toulouse an der Société des Lanternistes neben den dort seit dem Spätmittelalter bestehenden „Jeux Floraux“). Er entwickelte sich rasch zu einem der zentralen, mit großem materiellen und zeitlichen Aufwand betriebenen Tätigkeitsbereiche der Akademien. Neben den 4 Siehe

dazu bereits Lüsebrink, Pragmatismus und utopischer Diskurs (wie Anm. 3), und Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), insb. 143 ff.



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ursprünglichen Disziplinen „éloquence“ und „poésie“ bildeten zudem Preisfragen in den Kategorien „sciences“ (seit 1719 an der Académie Royale des Sciences, fünf Jahre zuvor jedoch bereits an der Académie de Bordeaux) und „histoire“ (seit 1733 an der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres) die maßgeblichen Felder des concours académique.5 Die Preisfragen avancierten mit der zweiten Phase von Akademiegründungen in Frankreich seit 1715 zu einem äußerst prominenten und, gerade mit Blick auf die sozial ungewöhnlich heterogene Teilnehmerschaft, äußerst populären Medium der république des lettres. Unter den Laureaten finden sich neben Rousseau so berühmte Autorinnen und Autoren wie Mademoiselle de Scudéry, Fontenelle und Marmontel sowie die großen naturwissenschaftlichen Forscher des 18. Jahrhunderts von Jean Bernoulli und seinen Söhnen bis zu Euler und Lavoisier. Schließlich sind auch so bedeutende sozialreformerische Intellektuelle der Aufklärung wie der Abbé Grégoire und Brissot vertreten.6 Zugleich ist die Geschichte des concours académique jedoch vor allem auch die Geschichte von unbekannten beziehungsweise erst infolge des concours zur Berühmtheit gelangten Autoren und Gelehrten, die an dieser meritokratischen Veranstaltung der französischen Akademien und ihrem über die Landesgrenzen hinausreichenden symbolischen Kapital teilhaben wollten.7 Die rasant zunehmende Strahlkraft des prix académique lässt sich auch an einigen Zahlen zur Verbreitung der Preisfragen seit ihrer Etablierung im Jahr 1670 unmittelbar ablesen. Waren es im ersten Jahrzehnt der Ausschreibung noch 48 Wettbewerbe und wurde der concours nach dem Ausscheiden der frühen Provinzakademien8 bis 1715 im Wesentlichen von vier großen Institutionen getragen – der Académie française, den Jeux Floraux (seit 1694 als Akademie) sowie den Poesie-Wettbewerben der sogenannten „Palinods“ in Rouen und Caen –, war die Zahl in der Dekade von 1740 bis 1750 bereits auf 190 Preisausschreiben angewachsen. Dies ist speziell auf die in der Zwischenzeit gegründeten Provinzakademien und die von ihnen verliehenen prix (Bordeaux 1715, Pau 1724, Marseille 1728, Villefranche 1741, Dijon 1742, Montauban 1744, Rouen 1746, Toulouse [Académie des Sciences et Belles-Lettres] 1748) zurückzuführen, mit denen die Menge der ausgelobten Preisfragen signifikant anstieg. In der Höchst5 Siehe

hierzu Roche, Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, 326 f., sowie Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 40 ff., zusammen mit der Auflistung der von den Akademien, gelehrten Sozietäten und Landwirtschaftsgesellschaften in Frankreich ausgeschriebenen Preisfragen und der korrespondierenden Laureaten zwischen 1670 und 1794 im digitalen Appendix F der Monographie, abrufbar unter: http://www.jeremycaradonna.com/ appendix-f, 05.01.2016. 6 Vgl. ebd., 2 f. und Roche, Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, 337 f. 7 Diese Dimension des concours betont besonders Caradonna. Siehe auch ders., Prendre part au siècle des Lumières. Le concours académique et la culture intellectuelle au XVIIIe siècle, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales 64/3 (2009), 633–662. 8 An den Akademien von Arles und Angers bricht der concours nach 1689 bzw. 1694 ab, an der Société des Lanternistes nach 1704.

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phase in den 1780er Jahren belief sie sich schließlich auf 476 Ausschreiben, mithin beinahe das Zehnfache verglichen mit der Gründungsdekade ab 1670. Insgesamt wurden in Frankreich bis 1794 an den Akademien, gelehrten Sozietäten und Landwirtschaftsgesellschaften („Sociétés d’agriculture“) über 2.300 Preisfragenwettbewerbe abgehalten, wobei die Wiederholungen identischer Ausschreibungen (mangels kürenswerter Eingaben) nicht miteingerechnet sind.9 Etwa ein Drittel davon fand an den Pariser Akademien, der überwiegende Rest in der Provinz statt. Die Teilnehmerzahlen am concours académique liegen nach den neuen Schätzungen Caradonnas bei zwölf- bis fünfzehntausend Personen während der gesamten Epoche. Allein der numerische Vergleich mit der Zahl von Akademiemitgliedern in Frankreich im 18. Jahrhundert, die sich im Ganzen auf ca. 6.000 beläuft, zeigt die enorme Ausweitung der Öffentlichkeitswirkung an, die für die Akademien mit den Preisfragen einherging.10 Neben dem handfesten Eigeninteresse der Akademien, der Steigerung ihrer öffentlichen Wirkmacht und insbesondere dem Anspruch, mit der Kür des Siegers Autorschaft zu generieren und die Standards ehrwürdiger Gelehrsamkeit und innovativer Forschung zu definieren, sind es vor allem zwei Faktoren, welche die immense Resonanz des concours académique bei seinem stetig wachsenden Publikum bedingen. Einerseits ist die tiefe Verankerung dieses agonalen Formats in der alteuropäischen Wissenskultur, in den Gepflogenheiten der Gelehrsamkeit in Frankreich im Besonderen, zu betonen; andererseits sind die speziellen institutionellen Voraussetzungen der Preisfragengattung zentral. Was erstere anbelangt, so kreuzen sich im concours académique mehrere einflussreiche Überlieferungslinien gelehrter, aber auch ästhetischer Praxis.11 Unverkennbar nimmt das gemeinschaftliche Ringen um die beste Antwort zu einer ausgelobten Frage Anleihen bei der Tradition der Dichterwettstreite. Diese in der griechischen Antike begründete Form des Agons fand in Frankreich seit dem Spätmittelalter eine aktive Fortschreibung in den bereits erwähnten Jeux   9 Für

diese Zahlen vgl. Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 43–45 und 227 f (Appendix A). Dabei variieren auch in diesem Fall die einzelnen Angaben stark mit der zugrunde gelegten Quellenbasis. So bezieht sich Roche anders als Caradonna nur auf die Akademien, nicht auf andere gelehrte Sozietäten und damit auch nicht auf die kirchlich bzw. universitär organisierten Palinods in Rouen und Caen, die vor allem in der Frühphase des concours numerisch ins Gewicht fallen. Zudem nimmt Roche die Wiederholungen einzelner concours in seine Kalkulation mit auf und kommt daher trotz der geringeren Institutionenzahl auf etwa die gleiche Gesamtmenge von Preisausschreibungen wie Caradonna im 18. Jahrhundert, wobei er für die Dekade von 1780–1790 618 Wettbewerbe (gegenüber 476 bei Caradonna) verzeichnet. Vgl. Roche, Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, 325–336. 10 Vgl. Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 45. Die geringer veranschlagte Gesamtteilnehmerzahl in der Geschichte des concours académique bei Roche ist vor allem der Konzentration auf die Akademien sensu stricto und dem Ausschluss der zahlreichen Sociétés d’agriculture geschuldet. 11 Siehe hierzu bereits Roche, Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, 327.



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Floraux des Consistoire du Gai Savoir in Toulouse (seit 1323) sowie den Palinods der Confrérie de l’Immaculée Conception in Rouen (seit 1486 als „Académie“ tituliert) und den Spielen in Caen, wo der Wettbewerb seit 1527 von der Universität ausgetragen wurde. Neben der ästhetischen ist eine epistemische Traditionslinie für die Preisfragengattung grundlegend, und zwar jene der Behandlung der Frage in Rhetorik und Dialektik. Dabei kommt der Disputation, die auf der scholastischen quaestio basierte und seit dem Spätmittelalter einen prägenden Modus der Wissensverhandlung darstellte, maßgebliche Bedeutung zu. In prononciert agonaler Form wird in diesem Verfahren eine These durch die Refutation der gegen sie vorgebrachten Angriffe verteidigt.12 Wie sich zeigen wird, bleiben der dialektische Debattenmodus sowie die rhetorischen Formen der Frageverhandlung bis weit ins 18. Jahrhundert hinein für die Anlage der Preisschriften basal. Eine weitere Wurzel der Preisfragengattung mit großer praktischer Prägekraft bilden schließlich bereits auf dem Schulniveau die schriftlichen Wettbewerbe in Vers- und Prosaform, die in Frankreich in den Klassen der Jesuiten und Oratorianer besonders regelmäßig zur Anwendung kamen, samt der Prämierung der besten Arbeiten in Lateinisch und Griechisch vor den anderen Eleven.13 Mit Blick auf die Verbreitung all dieser Formen des intellektuellen Agons, so lässt sich festhalten, herrschte in Frankreich schon vor dem 18. Jahrhundert eine veritable Kultur des concours, mit der die Gelehrten in aller Regel seit der Schulzeit vertraut waren.14 Die andere Quelle der großen Resonanz des concours liegt in den organisatorisch-formalen Bedingungen der Preisfragenwettbewerbe an den französischen Akademien begründet. Der concours wurde seit seiner Einrichtung an der Académie française im Jahre 1670 nach einem standardisierten Prozedere abgehalten, das durch das gesamte 18. Jahrhundert hindurch in seinen wesentlichen Statuten gleich blieb und auch für die Provinzakademien verbindlich wurde. Allerdings orientierte man sich bei der Einführung des Verfahrens maßgeblich am Modell der Jeux Floraux in Toulouse, wo die konstitutiven Regularien bereits Mitte des 14. Jahrhunderts etabliert waren.15 Was dem prix académique einen singulären Status innerhalb der Debatten- und intellektuellen Austauschformen 12 Zur

Disputatio in ihren epistemischen Voraussetzungen und ihrer praktischen Vollzugsform siehe insb. Anita Traninger, Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus, Stuttgart 2012, insb. 242 ff. Siehe ferner Marion Gindhart, Ursula Kundert (Hg.), Disputatio 1200–1800 (wie Anm. 3) sowie Marion Gindhart, Hanspeter Marti, Robert Seidel (Hg.), Frühneuzeitliche Disputationen. Polyvalente Produktionsapparate gelehrten Wissens, Wien, Köln, Weimar 2016. 13 Als solche finden sich diese Wettbewerbe auch in der Ratio Studiorum der Jesuiten von 1599 angeführt. Laurence W. B. Brockliss, French Higher Education in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. A Cultural History, Oxford 1987, 163 ff. 14 Von einer „concours culture“ spricht auch Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 42. 15 Vgl. ebd., 21, 25 und 42.

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der république des lettres verlieh, ist die Kombination dreier für die Gattung der Preisfragen prägender Verfahrensprinzipien: allgemeine öffentliche Zugänglichkeit, Anonymität und Publizität. Der concours académique war offen für alle, insofern es keinerlei formalregulatorische Exklusionen über Stand, Geschlecht – auch Frauen konkurrierten und reüssierten bei den prix –16 oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Korporation oder sonstigen Bildungsinstitution gab. „Toute sorte de personnes de quelque qualité qu’elles soient, seront reçues à prétendre à ce prix“, heißt es in den Bestimmungen der Académie française zum ersten Eloquenz- und Poesie-Preis von 1671.17 Pekuniäre Beschränkungen, die offiziell und informell eine enorme Rolle auch im universitären Bildungsparcours spielten,18 fanden ebenfalls nicht statt – vielmehr winkte den Siegern ein stattliches Preisgeld.19 Der concours war also auch für Personen geringeren Standes zugänglich, bis hin zu den Handwerkern, Händlern und mitunter sogar Bauern, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei den praktisch-technologisch ausgerichteten Preisfragen an den Provinzakademien mitmachten.20 Mit anderen Worten, alle, die schreiben konnten, und das heißt natürlich vor allem, die Französisch schreiben konnten – denn die Förderung der Nationalsprache gegenüber dem beim concours zwar noch immer zugelassenen, aber rapide abnehmenden Latein war von Anfang an eines der maßgeblichen Ziele dieses Formats – bildeten potentiell das Publikum des concours académique. Diesem Publikum waren zudem de jure keine nationalen Grenzen gesetzt, wie die Preisfragenwettbewerbe im Laufe des 18. Jahrhunderts dann auch de facto immer mehr zeigen sollten. 16 Die

schwer zu ermittelnde Zahl der weiblichen Teilnehmerinnen in der Geschichte des concours académique ist – inklusive der 24 Laureatinnen – nach Caradonna bei insgesamt ca. 100 anzusetzen. Dies mag prozentual gering erscheinen, muss aber vor dem Hintergrund der totalen Exklusion von Frauen an Universitäten und Akademien und ihres äußerst eingeschränkten Zugangs zu anderen Debatten- und Diskussionsforen wie Kaffees, Clubs oder Lesegesellschaften bewertet werden. Vgl. ebd., 107–116 und 229–231 (Appendix B). 17 Recueil de plusieurs pièces d’éloquence et de poésie, présentées à l’Académie Françoise pour les prix de l’année 1671, Paris 1696, VII–XI, hier VIII (Art. III). Ausgeschlossen waren lediglich „les Quarante de l’Académie Françoise qui en doivent être les Juges“, ebd. Damit war auch von der Exklusion von Juden, Moslems und Exkommunizierten, die die Jeux Floraux in ihren ursprünglichen Satzungen noch erwähnt hatten, nicht mehr die Rede. Vgl. Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 25. 18 Etwa in Form der beträchtlichen Kosten, die an eine Disputation geknüpft waren, bis hin zu jenen der Feier samt Bankett nach dem Disputationsakt. Vgl. hierzu Berg, Sind Preisfragen die aufklärerisch-öffentliche Form der disputatio? (wie Anm. 3), 183. 19 An der Académie française war dieses mit 300 livres etwa so hoch bemessen wie das Jahresgehalt eines Handwerkers zu dieser Zeit. Bei bestimmten von Privatpersonen gestifteten concours, speziell in den Naturwissenschaften, konnte das Preisgeld sogar um über das Zehnfache höher ausfallen. Vgl. dazu mit diversen Beispielen Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 46–50. 20 Vgl. Roche, Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, 341 f.



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Seine besondere meritokratische Stoßkraft entfaltete dieses Statut in der Verbindung mit der Anonymität des prix académique. Sowohl die Einreichung der Preisschrift als auch deren Bewertung durch die Akademie erfolgten auf der Basis der nicht bekannten Identität des Verfassers.21 Der concours lief somit systematisch ,ohne Ansehen der Person‘ ab, das heißt ohne Ansehen der Standesperson des Autors, welches den Umgang auch in der république des lettres, wenngleich nach den stärker funktionalen Belangen der Gelehrsamkeit, regelte und den Rang des Autors als Teil der nicht rein ständischen, aber eben auch nicht kategorisch egalitären Gemeinschaft der Gebildeten bestimmte.22 Stattdessen wurde die Leistung des Konkurrenten in den Mittelpunkt des Verfahrens gerückt – wie sie nach den herrschenden Sach- und Stilkriterien der akademischen Juroren bemessen wurde. Praktisch bedeutete das Anonymitätsgebot, dass die Teilnehmer eines concours zusammen mit ihrer Preisschrift einen versiegelten Brief beim Secrétaire der Akademie einreichten, der zur (lateinischen) Devise zu Beginn des jeweiligen Textes den Namen des Verfassers angab.23 Erst nach der Auswahl des siegreichen Manuskripts wurde der Brief geöffnet und die Identität des Autors festgestellt.24 War die Anonymität des Schreibens zwar bereits seit Beginn der Jeux Floraux als Verfahrensmodus etabliert (der schulische concours der Jesuiten verlief übrigens ebenfalls nach dieser Regel25), gewann sie jedoch angesichts der nicht nur de jure gegebenen allgemeinen Zugänglichkeit des concours académique einen ganz anderen Stellenwert. Im Unterschied zu den Dichterwettbewerben in Toulouse respektive in Rouen und Caen, die praktisch innerhalb einer Gruppe bekannter bzw. wiedererkennbarer Autoren stattfanden, wurde das erweiterte Teilnehmerfeld des prix académique durch die nicht geklärte Identität der Verfasser tatsächlich zu einem anonymen. Damit ermöglichte diese Verfahrensregel eine genuine Beurteilung in der Sache, ohne die herkömmlich waltende Referenz der Person.26 21 Vgl.

Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 25 und 50 f. Verfasstheit der spezifischen Soziabilität der république des lettres vgl. Françoise Waquet, Qu’est-ce que la république des lettres? Essai de sémantique historique, in: Bibliothèque de l’école des chartes 147/1 (1989), 473–502, und Herbert Jaumann, Respublica litteraria/Republic of Letters. Concept and Perspectives of Research, in: H. J. (Hg.), Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus, Wiesbaden 2001, 11–19. 23 Zur praktischen Handhabung der Anonymität des concours siehe auch die entsprechenden Regelungen der Académie française, in: Recueil de plusieurs pièces d’éloquence et de poésie (wie Anm. 17), IX (Art. VII). 24 Wie die Forschungen Caradonnas ergeben haben, wurde die Anonymität als Verfahrensprinzip des concours mit nur einigen wenigen Ausnahmefällen von den Akademien tatsächlich streng eingehalten. Vgl. Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), insb. 78–87. 25 Vgl. mit Verweis auf die einschlägigen Bestimmungen in der Ratio Studiorum: ebd., 25. 26 Diesen Aspekt betont besonders: Mary Terrall, The Uses of Anonymity in the Age of 22 Zur

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Der concours académique ist mithin als dezidierte Öffnung der Akademien zu einem breiteren gelehrten Publikum zu bewerten. War dies auch dem Eigeninteresse der Institution und der intendierten Steuerung der Wissensproduktion geschuldet,27 führte der concours doch im Vergleich zu den herkömmlichen Einrichtungen und Debattenformaten der république des lettres zu einer signifikanten Ausweitung des Kreises derer, die am gelehrten Diskurs partizipierten. Der Blick auf die Soziologie der Teilnehmerschaft bestätigt und präzisiert dieses Bild.28 Vor diesem Gesamthintergrund erscheinen die Preisfragen der Akademien in Frankreich und bald darauf der anderen europäischen Sozietäten in der Tat als ein einzigartiges intellektuelles Forum der Gelehrtenrepublik, dessen zentrales Substrat eine spezifische Form von Aufsätzen war. Darüber hinaus sind die Preisfragen speziell mit Blick auf ihre Entwicklung seit den 1730er Jahren geeignet, einen bisher unterschätzten Aspekt der Aufklärungskultur stärker ins Zentrum der Interpretation zu rücken, wie vor allem Caradonna am französischen Beispiel betont hat: ihre genuin partizipatorische Dimension.29 Die Preisschriften waren – das führt uns zum letzten Aspekt der institutionellen Voraussetzungen der Gattung – das Herzstück des prix académique als eines auf Publizität gegründeten Verfahrens, sie standen im Fokus des öffentlichen Interesses. Schon die Themenstellung der jeweils aktuellen Preisfrage wurde nach ihrer Ankündigung bei der séance publique über die zahlreich verteilten „programmes“ der Akademien, über öffentliche Aushänge („affiches“), vor allem aber über die kurze Zeit vor der Etablierung des concours académique entstandene periodische Presse publik gemacht.30 Noch wichtiger im VerfahReason, in: Mario Biagioli, Peter Galison (Hg.), Scientific Authorship. Credit and Intellectual Property in Science, New York, London 2003, 91–112, hier 92–97. 27 Diese zuerst von Ludwig Hammermayer angeführten strategischen Interessen bleiben wichtige Aspekte zur Differenzierung der allgemeinen Rede von der „Liberalisierung der Wissenskommunikation“ durch die Preisfragen (Berg, Sind Preisfragen die aufklärerisch-öffentliche Form der disputatio? [wie Anm. 3], 182). Vgl. Ludwig Hammermayer, Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation. Formen, Tendenzen und Wandel in Europa während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Erik Amburger, Michal Ciesla, László Sziklay (Hg.), Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Wissenschaftliche Gesellschaften, Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Berlin 1976, 1–84, hier 11 f. 28 Laut den Untersuchungen von Roche entstammten in der Geschichte des concours académique – in der Provinz – nur 9,5 Prozent der Teilnehmer dem Adel (womit ihr Anteil noch geringer ist als der Anteil von Adeligen unter den Akademiemitgliedern), wohingegen 70 Prozent vor allem dem Klerus (darunter eine große Zahl von Schul- und Collège-Lehrern) und dem Rechtswesen angehörten beziehungsweise zum medizinischen und Bildungsbereich zählten, mit steigendem Anteil der „hommes de lettres“ ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Den Rest machten vor allem seit der Spätphase des concours Handwerker, Arbeiter und Landwirte aus. Vgl. Roche, Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, 336–339. 29 Siehe Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), insb. 88 ff. und 220 ff. 30 So wurden im 1665 begründeten Journal des Sçavans, der ersten wissenschaftlichen Fachzeitschrift in Europa, und in dem seit 1672 erscheinenden Mercure galant Annoncen für die prix



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ren freilich war die Veröffentlichung der gekürten Preisschriften, die nicht nur während der séance publique vor dem anwesenden Publikum verlesen, sondern im Druck herausgegeben wurden. Die renommierten (und finanzstarken) Akademien richteten dafür eigene, regelmäßig erscheinende Publikationsformate ein, wie etwa die Recueils de plusieurs pièces d’éloquence et de poésie, présentées à l’Académie Françoise pour les prix de l’année […].31 Ähnliche Reihen bzw. Sammlungen unterhielten die Jeux Floraux in Toulouse, die Akademie von Marseille und natürlich die Académie Royale des Sciences. Wo solche Publikationsmedien nicht existierten, trugen die Akademien dafür Sorge, dass die gekürten Preisschriften, mindestens in Exzerpten, in den gelehrten Journalen erschienen. Und schließlich gingen die Laureaten bald dazu über, im Falle nicht gegebener akademischer Eigenformate sich selbst einen Verleger für ihr ausgezeichnetes Werk zu suchen, dem sie mit der stehenden Titelformel „Discours qui a remporté le prix à l’Académie […]“ bzw. „Discours qui a été couronné par l’Académie […]“ die notwendige Aufmerksamkeit verschaffen konnten.32 Dass schließlich gar der Vermerk der bloßen Beteiligung am Verfahren zur publizis­ tischen Distinktion gereichte, zeigt, dass der prix académique im Laufe des 18. Jahrhunderts nicht nur zu einer etablierten Gattung, sondern auch zu einer renommierten Marke auf dem Buchmarkt wurde.33 Ein weiterer prägender Faktor des concours académique war die Struktur des Bewertungsverfahrens. Der gesamte Vorgang stellte sich von der Ausschreibung der Preisfragen ab als ein komplexes institutionalisiertes Prozedere dar, das auf die Mehrheitsentscheidungen kollektiver Gremien und deren interne Transparenz und Unparteilichkeit ausgerichtet war. So bildeten die Akademiemitglieder spezielle Auswahlkommissionen, die an den gemischten Akademien des Typs sciences, belles-lettres et arts auf die jeweilige Disziplin des concours spezialisiert waren, und legten ihre begründete Entscheidung der gesamten Sozietät oder repräsentativen Ausschüssen zur Abstimmung vor. Unübersehbar ist dabei das – zeitintensive – Bemühen, die Urteilsinstanz, die über die Fragen zunächst vor allem der Académie française und der Jeux Floraux geschaltet, bevor im Laufe des 18. Jahrhunderts dann auch die neu entstandenen Journale in der Provinz (wie das Journal de Provence, das Journal de Nancy oder die Affiches d’Angers etc.), mit entsprechenden regionalen Schwerpunkten, über die rasch zunehmenden Preisausschreibungen der Akademien in Frankreich informierten. Vgl. ebd., 55 f. 31 Vgl. ebd., 71. Die Recueils wurden seit 1696 periodisch bei Coignard, dem mit dem königlichen Privileg ausgestatteten Verleger der Académie française, veröffentlicht. 32 Vgl. ebd., 72 33 Siehe etwa den Discours qui a concouru pour le prix de l’Académie de Soissons, sur la question proposée pour l’année 1747: „Un Auteur, doit-il toujours se conformer au goût du siècle dans lequel il écrit?“, in: Mercure de France, Juni 1747, Bd. 2, 28–47. Für weitere Beispiele für diese Publikationsgepflogenheit, auch außerhalb von Journalen, siehe Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 72.

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der Gelehrsamkeit entschied, auszuweiten und auf eine möglichst unparteiliche Grundlage zu stellen.34 Was angesichts des Bewertungsverfahrens und der herausgestellten meritokratischen Offenheit der Preisfragen allerdings nicht übersehen werden darf, sind die auch in dieser institutionell gebundenen Gattung wirksamen Mechanismen der Kontrolle, ja der expliziten Zensur. Gemäß den Satzungen der Académie française waren Dieu, le Roi, les mœurs kategorial der Diskussion entzogen, und diese leitenden Grundprinzipien des französischen „académisme“ waren selbstredend auch für den concours verbindlich.35 Strittige Themen der Theologie sowie der Jurisprudenz waren insofern vom Verfahren ebenso ausgeschlossen wie kritische Fragen zur Politik des französischen Staates (erst recht zur Person des Monarchen). Einschlägige Aussagen in den Preisschriften sowie Kritik an den moralischen Grundlagen des zivilen Miteinanders, als deren Garanten sich die Akademiker verstanden, wurden von den zuständigen Jurys zensiert.36 An der Académie française war zusätzlich dazu die Kontrolle an zwei Theologen der Sorbonne delegiert, denen qua Reglement des concours37 sämtliche Eingaben zu einer Preisfrage vorab vorgelegt werden mussten.38 Ferner kam es auch zu externen Interventionen von kirchlicher und staatlicher Seite, wenn einzelne Ausschreiben der Akademien, etwa zur Reform der Provinzverwaltung an der Akademie von Châlons-sur-Marne (1779) oder zur Eloge Rousseaus an der Akademie von La Rochelle (1780), für politisch oder moralisch unangemessen

während der Hälfte der ca. 25 séances privées pro Jahr waren die Akademiker in der Regel mit dem Auswahl- und Bewertungsprozess der Preisfragen beschäftigt, wie die Register der Akademien zeigen. Zu diesem Verfahren siehe ebd., 53–65. Von der Vermeidung der Parteilichkeit („esprit de partialité“) ist explizit auch in den die Verfahrensgerechtigkeit und gleichen Wettbewerbschancen betonenden Ankündigungen der Akademien die Rede. Siehe hierfür etwa die Annonce der Akademie von Dijon für den prix von 1750, in: Bouchard, L’Académie de Dijon (wie Anm. 3), 46 f. 35 Siehe hierzu insb. auch Daniel Roche, Académies et académisme: le modèle français au XVIIIème siècle, in: Mélanges de l’École française de Rome. Italie et Méditerranée 108/2 (1996), 643–658, hier 650–652, und ders., Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, 137 ff. 36 Zum einen wurden die gekürten Preisschriften vor der Publikation Gegenstand entsprechender redaktioneller Eingriffe, viele der eingereichten strittigen Texte wurden aber auch ganz vom Verfahren ausgeschlossen. Mitunter wurden die für eine Auszeichnung in Frage kommenden Autoren auch zu – unerlässlichen – Änderungen aufgefordert. Vgl. dazu Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 63 und 81 f. 37 Vgl. Recueil de plusieurs pièces d’éloquence et de poésie (wie Anm. 17), IX (Art. VI). 38 Gleiches gilt für die Akademie von Montauban, die ebenfalls zwei Doktoren aus der theologischen Fakultät mit hinzuzog. Vgl. Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 51 f. Als diese Regelung an der Académie française in den 1760er Jahren obsolet zu werden schien, wurde sie infolge der skandalumwitterten Preisschrift von La Harpe zur Eloge auf Féne­ lon (1771) vom Erzbischof von Paris und schließlich von Ludwig XV. selbst mit Nachdruck wieder eingefordert. Vgl. ebd., 76 f. 34 Fast



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befunden wurden.39 Abgesehen von diesen Mechanismen griff bei allen eingereichten Texten des prix académique auch die implizite Kontrolle in Form der stilistischen Kriterien (inklusive der Lesbarkeit und Sauberkeit der Handschrift), die die akademischen Juroren ihrer Bewertung der Preisfragen zugrunde legten. Klarheit des Ausdrucks, Stringenz der Argumentation und Eleganz der Diktion lauteten die ebenso klassisch normierten wie im einzelnen, abgesehen von Houdar de La Mottes im Namen der Académie française verfass­tem „Discours sur les prix“ (1714) kaum weiter explizierten Stilprinzi­pien.40 Trotz der wirksamen Kontrollmechanismen wird man bilanzierend sagen müssen, dass die Preisfragen grundsätzlich ein offenes Medium des intellektuellen Austausches waren, insofern sie innerhalb bestimmter Grenzen und unter Absehung von bestimmten (direkt adressierten) Themen eine freie Diskussion mit Spielräumen für Kritik gewährten.41 Hierzu ist nun aber ein genauerer Blick auf die thematische und formale Entwicklung der Gattung seit 1670 notwendig. III. Die Frühphase des concours académique und die wissensgeschichtlichen Grundlagen der Preisfragen Das Thema des prix d’éloquence an der Académie française für das Jahr 1673 lautete wie folgt: „De la Science du Salut opposée aux vaines et mauvaises connoissances, et aux curiosités blâmables et défendues, suivant les paroles de l’Écriture: Abscondisti haec a sapientibus, et revelasti ea parvulis“.42 Noch vor ihrem Gegenstand samt der bibelgestützten Wendung gegen die profane Erkenntnis ist die Form der Preisfrage frappant. Diese ist als These formuliert, die zu einer kontroversen Problemstellung Position bezieht und auf eine ihr initial zugrunde liegende Entscheidungsfrage verweist. Die Preisfrage ähnelt in der Tat der dialektischen thesis in den zeitgenössischen Universitätsdisputationen, zumal es hinsichtlich des erhobenen Geltungsanspruchs hier ebenfalls um die argumentative Prüfung der Probabilität einer Behauptung geht. Auf jeden Fall zeugt der prix d’éloquence der Académie française für das Jahr 1673 von der 39 Im

Zuge dessen erfolgte die Modifizierung oder auch die komplette Reformulierung der behördlich monierten Preisfragen. Für die erwähnten und weitere Beispiele, die in die Spätphase des sich sukzessive politisierenden concours académique seit 1770 fallen, siehe ebd., 82–85. 40 Antoine Houdar de La Motte, Discours sur les prix, in: ders., Œuvres, Bd. 8, Paris 1754, 365–380. Von den Bewertungsmaßstäben zeugen abseits von de La Mottes allgemeinen Ausführungen vor allem die einschlägigen Urteile in den „rapports de jury“ und ex negativo die dortigen kritischen Anmerkungen zu den Preisschriften. Siehe dazu mit exemplarischen Zitaten Roche, Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, 340 f. 41 So auch der Tenor bei Roche und die Einschätzung bei Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 85–87. 42 Recueil de pièces d’éloquence, présentées à l’Académie françoise pour les prix qu’elle distribue, Bd. 1, 1671 – 1685, Amsterdam 1750, XII.

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Persistenz der epistemischen Entscheidungsfrage (bzw. der Gegenüberstellung von Alternativen) als tradiertem Verhandlungsmodus von Wissen. Dem dialektisch-agonalen Schema folgend, liefert der gekürte „discours“ des Abbé de Melun de Maupertuis die prononcierte Verteidigung dieser These durch die Refutation der von den einschlägigen (antiken philosophischen) Autoren vorgebrachten Argumente beziehungsweise weiterer möglicher Gegen­ argu­mente.43 Stilistisch betrachtet wird dabei ein moralphilosophisches Thema vorgetragen, wie es im genus demonstrativum seit der Antike, vor allem aber seit dem Humanismus üblich war: als kontrastierende Diskussion von Normen, Werten und Ideen im Modus des Lobs bzw. Tadels.44 Dieses wird nach den klassischen rhetorischen Regeln der elocutio und mit den traditionellen Mitteln des ornatus ausgestaltet. Auf der inhaltlichen Ebene unternimmt die siegreiche Preisschrift einen Frontalangriff auf die pagane antike Philosophie und die neuen wissenschaftlichen Entwicklungen ihrer eigenen Zeit. Hierzu stützt sich der Verfasser in einem einfach strukturierten Argumentationsgang primär auf tradierte christliche Autoritäten und Bibelzitate und schließt seine weniger um Eleganz denn vor allem um rhetorische Eingängigkeit bemühte Abhandlung mit einem „Prière à Jésus-Christ“ ab.45 Just ein solches sahen die Regularien der Eloquenz-Preisfragen an der Académie française, des sogenannten „prix de dévotion“, für die Peroration der eingereichten Schriften vor.46 Der gekürte discours von 1673 ist in der Traditionsgebundenheit wie auch der Schlichtheit seiner Erörterungs- und Stilmuster tatsächlich keine Ausnahme in der Reihe der rhetorischen Preisfragen an der Académie française, zu denen auch die Kommentierung allbekannter Bibelstellen gehörte.47 Der Blick auf die Argumentationsformen der prämierten Abhandlungen während der Frühphase des concours im 17. Jahrhundert verdeutlicht vielmehr, dass dies der repräsentative Standard war und die initiale Auszeichnung von Mademoiselle de Scudéry („De la gloire“, 1671) und später von Fontenelle („De la patience“, 1687) exzeptionell erscheinen muss – nicht umgekehrt. Wie der Vergleich mit den zeitgenössischen Eloquenz-Wettbewerben an den Provinzakademien mit ihren ganz ähnlich gearteten Auswahlpräferenzen zeigt,48 liegt die Ursache hierfür 43 Discours

qui a remporté le prix d’éloquence, au jugement de l’Académie françoise en l’année MDCLXXIII, in: ebd., 130–154. 44 Zu dieser Traditionslinie s. Traninger, Disputation, Deklamation, Dialog (wie Anm. 12), 111 ff. 45 Discours qui a remporté le prix d’éloquence en l’année 1673 (wie Anm. 43), 153 f. 46 Vgl. dazu den Artikel IV der Preisstatuten, in: Recueil de plusieurs pièces d’éloquence et de poésie (wie Anm. 17), VIII. 47 Siehe nur den prix de dévotion für das Jahr 1681: „Discours sur ces paroles que l’Ange dit à la Vierge: Ave gratia plena, Dominus tecum“, in: Recueil de pièces d’éloquence, présentées à l’Académie françoise (wie Anm. 42), 352 ff. 48 Siehe Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 30–32, sowie die einschlä­ gigen Angaben im Appendix F. Dabei ist anzumerken, dass unter den frühen rhetorischen



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auch nicht einfach in den besonderen Umständen der Einrichtung des prix de dévotion an der Académie française, den Guez de Balzac an seinem religiös gestimmten Lebensabend gestiftet hatte.49 Festzustellen ist mithin eine große Nähe der frühen Preisfragen an den französischen Akademien zur rhetorisch-dialektischen Tradition der Wissensverhandlung an der Universität bzw., wie die dominanten Themen und Argumentationsmuster des prix de dévotion nahelegen, an den Collèges. Dieser Befund ist in mehrfacher Hinsicht erstaunlich. Die Kontinuität der Entscheidungsfrage und der dialektischen Verhandlungsform von Wissen, deren prägendes Muster die universitäre Disputation ist, steht in direktem Gegensatz zur Selbstdarstellung der Akademien. Diese traten als Institutionen einer neuen Wissenskultur in offener Absetzung von der Universität auf und schufen mit dieser Selbstbeschreibung ein Bild, das lange auch von der modernen, zu sehr auf die naturforschenden Akademien fixierten Wissenschaftsgeschichte befördert wurde.50 Auch wenn die Akademien mit dem concours die epistemische Technik der Frage unter neuen institutionellen und medialen Bedingungen refunktionalisierten, rückten sie mit ihr in eine von der scholastischen quaestio und überkommenen rhetorischen Formen geprägte Langfristtradition ein, die in der Praxis der Wissensverhandlung des concours vielfältig wirksam blieb. concours der Provinzakademien thematisch primär die Jeux Floraux (seit 1694) der Académie française korrespondierten, wohingegen in Arles und Angers die Eloquenzpreise zur Eloge des Königs ausgeschrieben waren, der in Paris die prix de poésie (seit 1670) dienten. Im agonalkontrastierenden Argumentationsmodus, den stilistischen Darstellungsformen sowie der Anlage im genus demonstrativum weisen jedoch alle Eloquenz-Preisschriften große Ähnlichkeiten auf. 49 Ursprünglich bereits für das Jahr 1654 geplant, konnte der prix de dévotion „à cause de divers obstacles“ (Recueil de plusieurs pièces d’éloquence et de poésie [wie Anm. 17], VII) schließlich erst 16 Jahre nach dem Tod Balzacs zum ersten Mal ausgeschrieben werden. Der große Rhetor des französischen Klassizismus hatte als Zeichen seiner wiedergewonnenen Frömmigkeit aus seinem privaten Vermögen 2000 livres für insgesamt zehn im Zweijahresrhythmus zu verleihende Eloquenz-Preise zur Verfügung gestellt und zudem die verschiedenen Themenstellungen (inklusive dem obligaten Schlussgebet „à Jésus-Christ“) entlang ausgewählter Bibelstellen bestimmt. Nach deren Ausschöpfung im Jahr 1690 entschied die Académie française, den Eloquenzpreis als prix de dévotion mit neuen Themen weiterzuführen, welchen sie formal erst 1758 in die von da ab übliche jährliche éloge überführte. Zu den Umständen der Preiseinrichtung vgl. auch Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 23 f., 26 f. und 29. 50 Siehe für diese breite Forschungstendenz exemplarisch Jürgen Voss, Die Akademien als Organisationsträger der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 231 (1980), 43–74, James E. McClellan, Science Reorganized. Scientific Societies in the Eighteenth Century, New York 1985, und Roger Hahn, The Age of the Academies, in: Tore Frängsmyr (Hg.), Solomon’s House Revisited. The Organization and Institutionalization of Science, Canton 1990, 3–12. Ein anderes Bild der naturforschenden Akademien entwirft mit Blick auf die konkreten materialen und diskursiven Praktiken der Wissensverhandlungen hingegen Sebastian Kühn in seiner wegweisenden Studie: Wissen, Arbeit, Freundschaft. Ökonomien und soziale Beziehungen an den Akademien in London, Paris und Berlin um 1700, Göttingen 2011.

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Der Selbstdarstellung der Akademien gegenläufig ist auch die Agonalität des an die Entscheidungsfrage beziehungsweise ihre thetische Beantwortung geknüpften Wissensmodus. Die Werte der „honnêteté“ und der „conversation civile“, Leitbild für die auf Kooperation im Kollektiv ausgerichtete Gelehrtenkultur der Sozietäten nicht nur in Frankreich,51 sind in der Preisfragengattung zwar nicht grundsätzlich suspendiert. Doch angesichts der kontrastierenden Darstellungslogik, die die eigene Position affirmiert, indem sie die Gegenargu­ mente refutiert, sind Anlage und Ton der Debatte dem von den Akademikern eigentlich abgelehnten scholastischen Disput in Preisschriften wie jener gegen die „curiosités blâmables et défendues“ von 1673 so fern nicht.52 Dass die Académie française diesem und ähnlichen discours ihre „médaille d’or“ verlieh, verdeutlicht, dass dort noch anders normierte Verhandlungsformen von Wissen geschätzt wurden als die des kollektiv verbindlichen rationalen Diskurses. Die Preisfragen müssen in ihrer rhetorisch-dialektischen Tradition und spezifischen Agonalität folglich als Indikatoren einer anderen Debattenpraxis an den Akademien gelten. Dies zeigt sich auch am Binnendiskurs der Akademiker im Rahmen des Concours-Verfahrens. Tatsächlich ist just eine Preisfrage, der prix de poésie für das Jahr 1675 an der Académie française, Anlass für eine der äußerst seltenen, auch in den Registern verzeichneten Dokumentierungen von Dissens innerhalb der Akademie.53 So manifestiert sich gerade auch in der Bewertungspraxis der Preisfragen, die für gewöhnlich nur über die archivierten „rapports de jury“ bzw. die Anmerkungen der Gutachter auf den eingereichten Manuskripten rekonstruierbar ist, dass die Einstimmigkeit und zwingende Evidenz der rationalen Entscheidungsfindung, welche die öffentliche Selbstdarstel51 Siehe

Roche, Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, insb. 166 ff. und 189 ff. Ferner erörtert die Rolle der „civility“ im Hinblick auf die experimentelle Naturphilosophie in England und die diskursiven Voraussetzungen ihrer Evidenzerzeugung: Steven Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago, London 1994. 52 Dies fällt umso mehr ins Gewicht, wenn man bedenkt, dass mit „civilité“ nicht nur ein normativer idealistischer Diskurs, sondern eine maßgebende Soziabilitätsform der république des lettres als einer auf Tausch angelegten Gelehrtengemeinschaft bezeichnet ist, in der wechselseitig bindende Höflichkeitsformen eine eminente praktische Bedeutung besaßen. Siehe hierzu insb. Kühn, Wissen, Arbeit, Freundschaft (wie Anm. 50), 163–177. Vgl. ferner Anne Goldgar, Impolite Learning. Conduct and Community in the Republic of Letters 1680–1750, New Haven, London 1995, 12 ff. 53 „[…] chacun de Messieurs a marqué les fautes et les perfections qu’il trouvoit en chacune […]. Toutes ces remarques ayant esté entendues et considérées, il y a eu quatre avis différens“, heißt es über vier zu jenem concours eingereichte Gedichte im Sitzungsprotokoll vom 17.08.1675. Die finale Kür erfolgte daraufhin in einer späteren Sitzung. Les registres de l’Académie françoise 1672–1793, Bd. 1 (1672 – 1715), Paris 1895, 118 f. Auf dieses Beispiel weist hin: Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 60.



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lung der Akademien bestimmten,54 nur einen Teil der herrschenden Diskus­ sions­formen abbildeten. Was jedoch besonders auffällig bleibt, ist die große Nähe des prix de dévotion zur Schulrhetorik, und dies durchaus im engeren institutionellen Sinne. In der Tat gemahnen die einschlägigen Preisschriften mit ihren gängigen Argumentationsmustern und dem traditionellen Autorenkanon55 an die schriftlichen Rhetorikübungen, die bereits im Collège, wohlgemerkt im Sekundarschulwesen,56 den Schülern zu ähnlichen Themenstellungen aufgegeben wurden. Wie die Rekonstruktion der Geschichte des Schulaufsatzes in Deutschland von Otto Ludwig zeigt (sowie die Beiträge von Jens Nagel und Michael Rocher in diesem Band), war diese Form der Schreibübung zeitgenössisch nicht nur an den französischen Collèges und bei den Jesuiten weit verbreitet.57 Sie prägte über Landes- und Konfessionsgrenzen mit ihren rhetorischen Maßgaben ähnliche Formen der Textproduktion aus. Ihre Wurzeln lassen sich bis in die Antike zu den progymnasmata, den rhetorischen Vorübungen für den elementaren Schulunterricht, wie sie im Hellenismus institutionalisiert wurden, zurückverfolgen.58 Mit Blick auf diese Traditionslinie lässt sich auch die formale Struktur der Preisfragengattung in ihrer Frühgeschichte näher bestimmen. Von den verschiedenen klassischen Elementen der Rede, die den Aufbau der Preisschriften kennzeichnen, sind so, innerhalb der grundsätzlich thetischen Anlage (mit den konstitutiven Bestandteilen der confirmatio und/qua refutatio), die sententia und die chreia besonders prägend. Gerade die Chrie, also die Behandlung der Wahrheit eines Spruches bzw. der Güte einer Handlung, war dabei in ihrem mehrstufigen argumentativen Schema samt exempla und Zitationen klassischer Autoren für die Schulrhetorik des 17. Jahrhunderts ein wichtiges Muster.59 Von 54 „Le monde académique refuse d’exprimer ses désaccords, et ses procès-verbaux se con­ tentent d’enregistrer l’existence des discussions sans préciser les positions antagonistes“, so ­Roche prägnant zur demonstrierten Konsenskultur der französischen Akademien, Roche, Académies et académisme (wie Anm. 35), 651. 55 Für ein weiteres Beispiel siehe etwa auch den gekürten discours „Sur la pureté de l’esprit et du corps“ aus dem Jahr 1677 sowie die in den recueils abgedruckten, nicht-prämierten Eingaben zu diesem Preis, in: Recueil de pièces d’éloquence, présentées à l’Académie françoise (wie Anm. 42), 239 ff. Auch solche Themenstellungen werden freilich im üblichen dialektischen Schema behandelt. 56 Zur institutionellen Zwischenstellung des Collège zwischen sekundärem und tertiärem (universitären) Bildungssektor vor deren Ausdifferenzierung vgl. Rudolf Stichweh, Der früh­ moderne Staat und die europäische Universität, Frankfurt am Main 1991, 232 ff. 57 Otto Ludwig, Der Schulaufsatz. Seine Geschichte in Deutschland, Berlin, New York 1988, 53 ff. Siehe auch bereits Donald L. Clark, The Rise and Fall of Progymnasmata in Sixteenth and Seventeenth Century Grammar Schools, in: Speech Monographs 19 (1952), 259–263. 58 Siehe Ludwig, Der Schulaufsatz (wie Anm. 57), 7–22; ferner Ruth Webb, The Progymnasmata as Practice, in: Yun Lee Too (Hg.), Education in Greek and Roman Antiquity, Leiden, Boston, Köln 2001, 289–316. 59 Selbst für einen rationalistischen Reformer wie Christian Weise war die Chrie, die in sei-

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diesem zeugen noch die Preisschriften des prix de dévotion, bei dem die Absolventen der Collèges es wieder zur Anwendung bringen konnten. Gewiss wird den publizierten Preisschriften dieses concours als gekürten Ergebnissen eines öffentlichen, anonym abgehaltenen Akademieverfahrens mit kollektiven Bewertungsinstanzen ein anderer Geltungsstatus zuteil als den Antworten in den vergleichbaren dialektischen Formaten an der Universität und den Collèges. Es handelt sich dabei jedoch vor allem um eine institutionell garantierte Geltung. Der epistemische Status der Devotionsschriften ist angesichts der Debatten, die an der Académie française ungefähr zeitgleich zur Querelle des Anciens et des Modernes geführt wurden, und der Diskurse in der Gelehrtenrepublik an der viel beschriebenen wissensgeschichtlichen Epochenschwelle um 1700 ein traditioneller.60 Hier wird von einer Institution der französischen Monarchie öffentlich ein überkommener Text- und Themenkanon gepflegt.61 Die beschriebenen Kontinuitätslinien in der Preisfragengattung sind bemerkenswert. Überhaupt wird man, auch mit Blick auf die anderen Beiträge in diesem Band, betonen müssen, wie stark die diversen ‚Aufsatz‘-Formen durch die verschiedenen institutionellen, konfessionellen und nationalen Kontexte hindurch von den rhetorisch-dialektischen Mustern der Textproduktion bestimmt sind und als wie langlebig sich hier gewisse bis in die Antike zurückreichende Traditionsformen erweisen, bevor sich schließlich freiere, dem Essay ähnlichere Arten des Schreibens in der breiten Praxis durchsetzen konnten. Ein weiteres zentrales Charakteristikum der frühen Exemplare der Preisfragengattung ist ihre ideale Mündlichkeit. Zwar ist der concours académique realiter ein Verfahren, das von der Ankündigung ab, gestützt auch auf die peri­ odische Presse, wesentlich im Medium der Schrift verläuft und auf einen genem System als Grundform aller weiteren Typen der Rede behandelt wurde, anschlussfähig. Ihr klassisches Schema in der antiken Rhetorik sah u. a. folgende Elemente vor: die Paraphrase des einschlägigen Aphorismus (expositio), die kurze Verteidigung dieser Meinung, ihre Stützung durch die Widerlegung der gegenteiligen These, die Erläuterung durch Vergleiche, exempla und testimonia und die abschließende Bestätigung (epilogus). Siehe Ludwig, Der Schulaufsatz (wie Anm. 57), 17 f., 54 f. und 58. 60 Siehe dazu besonders pointiert die Beiträge in: Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger, Jörg Wesche (Hg.), Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt, Tübingen 2004. Siehe ferner die Einleitung der Herausgeber in: Frank Grunert, Friedrich Vollhardt (Hg.), Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2007, VII–XI. 61 Hinzuzufügen ist jedoch, dass die Académie française nicht ausnahmslos konventionelle Preisschriften prämierte, sondern, Ausdruck ihres „conformisme ouvert“, eben auch Mademoiselle de Scudéry und Fontenelle auszeichnete. Roche, Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, 349 (Hervorhebung durch den Verfasser). Zudem reüssierten bei den parallel vergebenen prix de poésie auch die bedeutendsten Vertreter der galanten Literatur von Mme Deshoulières bis zu Houdar de La Motte, wobei sie thematisch freilich in die hier absolut herrschende Panegyrik auf Ludwig XIV. einstimmen mussten.



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schriebenen Text ausgelegt ist, der als gekürter im Druck verbreitet wird. Die maßgebende Situation, auf die hin die sogenannten discours62 entworfen sind, ist jedoch nicht die Kommunikation auf Distanz, sondern das Gespräch unter Anwesenden, der Vortrag vor der versammelten (akademischen) Hörerschaft. Tatsächlich wird diese ideale Sprechsituation beim prix académique auch noch in Szene gesetzt, in Form der Verlesung des siegreichen discours bei der zeremoniellen séance publique am 25. August, dem Gedenktag Ludwigs des Heiligen, unter Anwesenheit des Erzbischofs von Paris (bzw. in der Provinz der höchsten lokalen Würdenträger) und aller Akademiemitglieder.63 Die verfassten Preisschriften selbst bezeugen sowohl strukturell als auch in ihren einzelnen Stilfiguren – von der kontinuierlichen Wiederholung der leitenden These und des Diskussionsstands, der direkten Adressierung sowohl der Akademiemitglieder als auch des Gegners bis hin zu den Antithesen, Exklamationen und rhetorischen Fragen – das Ideal der Präsenzkommunikation,64 auch wenn es freilich ein inszeniertes, beziehungsweise durch die Schrift vermitteltes ist. Schließlich wird auch die Länge der Eingaben zum concours über die Dauer ihrer Verlesung bemessen: „Les Discours ne seront tout-au-plus que de demy-heure de lecture“.65 Der medial schriftliche, konzeptionell jedoch mündliche Charakter des prix académique, der bis weit ins 18. Jahrhundert bestimmend bleibt, korrespondiert nicht nur mit dem auf Oralität ausgerichteten Selbstbild, sondern auch mit den praktischen Abläufen der Wissenskommunikation an den (französischen) Akademien, die so massiv vom Verlesen von Schriftstücken (Berichten, Korrespondenzen, Abhandlungen etc.) gekennzeichnet sind.66 62 Die

Preisschriften wurden auch als „mémoires“ bezeichnet (etwa in der Ankündigung der Akademie von Dijon für den prix von 1750, in: Bouchard, L’Académie de Dijon [wie Anm. 3], 46 f.), doch begegnet dieser Ausdruck in den Concours-Ausschreibungen und Ankündigungen weniger häufig. Vgl. dazu auch die Auflistung der ausgeschriebenen Themen im Appendix F bei Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 335 ff. 63 Zum rituell gestalteten Ablauf der séance publique und ihrer Öffentlichkeitswirkung siehe Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 65–71. Der feierliche Anlass war schon in der Frühgeschichte des prix académique Gegenstand der journalistischen Berichterstattung im Mercure galant und wurde im 18. Jahrhundert auch an den Provinzakademien von der regionalen Presse farbenfreudig geschildert. Des Charakters der Veranstaltung als öffentliches Ritual war man sich zeitgenössisch wohl bewusst. 64 Siehe hierfür etwa den gekürten discours von 1701: „Que la négligence dans les petites choses conduit insensiblement dans des grands désordres“, in: Recueil de pièces d’éloquence, présentées à l’Académie françoise, Bd. 2 (1687 – 1705), 313–327, insb. 318 f. und 324–326. 65 Recueil de plusieurs pièces d’éloquence et de poésie (wie Anm. 17), VIII (Art. IV). Diese Vorgabe galt bis zum Ende des concours auch an den Provinzakademien, mit der Ausnahme von Besançon, wo Einreichungen von bis zu 45 minütiger Lektürezeit zugelassen waren. Vgl. Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 52. 66 Siehe dazu den Beitrag von Sebastian Kühn in diesem Band sowie ders., Wissen, Arbeit, Freundschaft (wie Anm. 50), 293 ff.; ferner Roche, Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, insb. 174–178 und 365 f., sowie zur gelehrten Kommunikation im 18. Jahrhundert

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IV. Die Entwicklung des concours académique im 18. Jahrhundert und der prix d’éloquence der Akademie von Besançon zum „Jugement du Public“ Die rhetorischen Preisfragen blieben bis in die 1730er Jahre thematisch wie sti­ lis­tisch von den Mustern geprägt, die sich beim prix de dévotion an der Académie française ausgebildet hatten. Sodann jedoch setzte, ausgehend von den Provinzakademien, allmählich ein Wandel auch dieses Genres ein, in dem sich die veränderte Entwicklungsdynamik im Gesamtgefüge des concours académique meldet. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang der bereits erwähnte rapide Anstieg der Zahl der ausgeschriebenen Wettbewerbe seit der zweiten Phase der Akademiegründungen, vor allem jedoch die Erschließung neuer Sachgebiete und Gegenstandsbereiche durch die naturwissenschaftlichen Preisfragen der Académie Royale des Sciences seit 1720 (bzw. der Akademie von Bordeaux seit 1715), schließlich auch durch die historischen concours, zunächst an der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres (seit 1734). Insbesondere die naturwissenschaftlichen Preisfragen müssen dabei als genuine Instrumente der Forschung gelten, die neues Wissen generierten.67 Nicht nur neue Themen standen bei diesen concours zur Debatte, sondern eine ganz andere epistemische Grundlage kam hier zum Tragen, der Wissensmodus der Beobachtung und der empirischen Tatsachenermittlung,68 wie er seit Galilei und Newton bzw. im Zeichen des Methodenideals Descartes’ das neue Fundament der akademischen Wissenskultur neben ihrer rhetorisch-poetischen Traditionslinie als Sprachakademien dar­stellte.69 Auch die geschichtlichen Preisfragen, die ganz auf die exakte Quellenkritik ausgerichtet waren, wie sie von Mabillon und der benediktinischen Schule der historischen Hilfswissenschaften begründet worden war, zeigten sich dem Modell des empirischen Faktenwissens verpflichtet.70 allgemein Françoise Wacquet, Le paysage oral des Lumières, in: Hans Erich Bödeker, Martin Gierl (Hg.), Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive, Göttingen 2007, 49–69. 67 Schon die Liste der Laureaten, unter denen sich die renommiertesten Naturwissenschaftler des 18. Jahrhunderts finden, dokumentiert dies eindrücklich. Siehe das Verzeichnis der Preisträger an der Académie Royale des Sciences bei Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), Appendix F, 380 ff. 68 Siehe dazu insb. Gianna Pomata, Observation Rising: Birth of an Epistemic Genre, 1500–1650, in: Lorraine Daston, Elizabeth Lunbeck (Hg.), Histories of Scientific Observation, Chicago, London 2011, 45–80. Pomata hat auch den Begriff der epistemischen Gattung stark gemacht als „standardized textual format […] handed down by tradition for the expression and communication of [certain] content […] primarily cognitive in character“, ebd., 48. 69 Vgl. Kühn, Wissen, Arbeit, Freundschaft (wie Anm. 50), 23 ff. 70 Zum epistemischen Status und der thematischen Entwicklung der historischen Preisfragen im Kontext der akademischen Geschichtsschreibung vgl. Daniel Roche, Les républicains des lettres: gens de culture et lumières au XVIIIème siècle, Paris 1988, 172 ff.



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Zudem ist das quantitative Verhältnis der einzelnen Concours-Disziplinen zu bedenken: Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erreichten die naturwissenschaftlichen und technologischen Preisfragen numerisch die Oberhand über die rhetorischen und poetischen Themen. Bei der Abschaffung des prix académique machten sie 60 Prozent der insgesamt ausgeschriebenen Wettbewerbe seit 1670 aus.71 Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts traten dabei vor allem die technisch-pragmatisch orientierten Preisfragen in den Vordergrund, die praktisches Wissen zur Lösung wirtschaftlicher, sozialer und schließlich auch politischer Probleme hervorbringen sollten, speziell an den Provinzakademien.72 Zielten die korrespondierenden Preisschriften auch auf ein zunehmend technokratisches Wissen ab, waren sie nichtsdestoweniger von einer großen Fortschrittserwartung und der ihr eigenen Rhetorik getragen. Der progressistische Überschuss dieser Abhandlungen, Ausdruck einer auf den Nutzen der Gesellschaft und das innerweltliche Glück ausgerichteten „science de l’homme“,73 zeigt sich nicht zuletzt in den sich offen politisierenden Preisfragen seit den 1770er Jahren.74 Sie sind ebenfalls im Kontext dieses utilitaristischen Trends zu sehen und stellen den gewichtigen Beitrag des concours académique zum öffentlichen Reformdiskurs der Spätaufklärung in Frankreich dar. Wegweisend hierfür war, auf dem Boden der Eloquenzpreis-Tradition, die gleich genauer zu analysierende Frage zum „Jugement du Public“ (1756) an der Akademie von Besançon. Darüber hinaus wurden in den 1770er Jahren, dies ist speziell mit Blick auf den Aspekt der „Charakterbildung“ erwähnenswert, in Paris und der Provinz auch die sogenannten „prix de vertu“ eingerichtet, bei denen tugendhafte Taten und ihre schriftliche Bezeugung ausgezeichnet wurden.75 In diesem Preis 71 Vgl.

Roche, Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, 343. Der Anteil der rhetorischen und poetischen Preisfragen lag demnach insgesamt bei 30 Prozent, ein Zehntel der Themen stellten die historischen Wettbewerbe dar. 72 Die Fragestellungen der einschlägigen concours, etwa in Lyon, Besançon, Rouen, Caen und Metz, um nur einige Beispiele zu nennen, richteten sich dabei auf so verschiedene, unmittelbar problemorientierte Themen wie Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft, die Steigerung des Weinertrags, Methoden der Straßenbeleuchtung oder Fragen des Städtebaus und des Schiffsverkehrs. Vgl. dazu Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 180 ff., samt der Auflistung der Themen im Appendix F, 435 ff. 73 Roche, Les républicains des lettres (wie Anm. 70), 199 ff. 74 Siehe hierfür den wichtigen Beitrag von Lüsebrink zu den Preisfragen über das öffentliche Erziehungswesen an den Provinzakademien, Pragmatismus und utopischer Diskurs (wie Anm. 3). Weitere Themen waren etwa die Sklaverei, die Bekämpfung sozialer Armut, Fragen zur Strafrechtsreform und zur Verbesserung der Stellung der Juden. Vgl. dazu Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), insb. 143 ff. Selbst an einer traditionellen Sprachakademie wie den Jeux Floraux wurde im Jahr 1775 eine Preisfrage zum „rétablissement du Parlement“ möglich, 1784 schließlich zur „Grandeur de la révolution dans l’Amérique Septentrionale“. Vgl. ebd., Appendix F, 344 f. mit Anm. 4 und 5. 75 Im Jahr 1777 an der Akademie von Montauban eingeführt, seit 1782 jedoch ebenfalls an der Académie française und schließlich auch an der stark naturwissenschaftlich geprägten Aka-

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kommt die moralisch-pädagogische Dimension am stärksten zum Ausdruck, die dem concours académique von Beginn an auch inhärent war; freilich nicht im unmittelbar präskriptiven Sinne, sondern, dem unterrichtsaversiven Selbstverständnis der Akademien gemäß, als „diffusion […] d’un idéal humain“.76 Überhaupt ging es bei dem auf Emulation und Ehrerwerb angelegten Wett­ bewerb immer schon (und weiterhin) um mehr als nur epistemische Belange. Die eingangs zitierte Ode des Monsieur d’Ardène ist hierfür nur der markanteste Beleg. Trotz der verschiedenen Refunktionalisierungen des Preisfragenformats und der Tendenz zu einem sich spezialisierenden technokratischen Wissen im Zeichen der sozialen Nützlichkeit77 blieb die Tradition der Eloquenz-Preisfragen auch im Verlauf des 18. Jahrhunderts eines der Fundamente des concours académique. Die Preisfragen erwiesen sich mithin als ein epistemisch und darstellungstechnisch äußerst flexibles Medium, das für eine Vielzahl verschiedener Gegenstandsbereiche und Zielsetzungen in Anspruch genommen werden konnte. Mehr noch: Die Entwicklung der Gattung ist von einem signifikanten Transfer gekennzeichnet, insofern hier einerseits tradiertes Wissen re-kontextualisiert wurde, andererseits neue Wissensbereiche und Debattenformen erschlossen wurden.78 Dies hatte Rückwirkungen gerade auch auf den Status der ‚alten‘ rhetorischen und poetischen Preisfragen. Der epistemische Transfer innerhalb des concours académique lässt sich bereits hinsichtlich der sich wandelnden Bewertungspraxis ausmachen, wie sie sich in der auffälligen Häufung des „Accessit“-Prädikats, also der Auszeichnung weiterer Preisschriften neben der gekürten Siegerschrift, manifestiert.79 demie von Bordeaux (seit 1786) verliehen, honorierten die prix de vertu durchaus verschiedene Tugendmanifestationen bis hin zur langjährigen Pflichterfüllung von Hausbediensteten, worin die Ausrichtung dieses Preises auf unterständische Schichten besonders offenkundig wurde. Anders als bei den sonstigen Concours-Formen erging die Auszeichnung mit der schriftlich bezeugenden und der praktisch aktiven an beide beteiligte Parteien. Ansonsten griff vom Ausschreibungs- und jurybasierten Auswahlprozedere bis zur festlichen Siegerkür bei der séance publique dasselbe Verfahren wie bei den rein preisschriftbasierten (Wissens-)Wettbewerben. Siehe dazu Caradonna, Jeremy L., The Monarchy of Virtue: The Prix de Vertu and the Economy of Emulation in France, 1777 – 1791, in: Eighteenth-Century Studies 41 (2008), 443 – 458. 76 Roche, Académies et académisme (wie Anm. 35), 653. Vgl. auch ders., Le siècle des lumières en province (wie Anm. 3), Bd. 1, 153 f. und 166 ff. 77 Diesen Entwicklungstrend sowohl des concours als auch der allgemeinen akademischen Wissenskultur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unterstreicht nachdrücklich Roche, ebd., 340 ff. und 381 ff. 78 Zu den Prämissen dieses relationalen epistemischen Transferbegriffs und seinen institutionstheoretischen Implikationen vgl. Eva Cancik-Kirschbaum, Anita Traninger, Institution – Iteration – Transfer. Zur Einführung, in: dies. (Hg.), Wissen in Bewegung. Institution – Iteration – Transfer (Episteme in Bewegung. Beiträge zu einer transdisziplinären Wissensgeschichte, 1), Wiesbaden 2015, 1–13. 79 Mitunter wurden auch zwei Preisträger ausgewählt. Zu diesen Bewertungspraktiken und



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Darüber hinaus wurden sogar gegenteilige Positionen zu einer Preisfrage mit dem ersten Platz und dem accessit ausgezeichnet,80 womit der Bewertungsmaßstab der eindeutigen Entscheidbarkeit der Frage noch mehr in Richtung einer Zusammenschau verschiedener Standpunkte verschoben scheint.81 Angesichts der Auswahl durch kollektive Gutachtergremien und der Anonymität des concours rückt die regelmäßig erscheinende (gekürte oder nur zweit- und drittplatzierte) Preisfragenliteratur somit jedoch auch in die Nähe zum gelehrten Journalismus. Auch wenn vor voreiligen Gleichsetzungen von Preisschriften mit Zeitschriftenartikeln zu warnen ist, müssen die Preisfragen, anders als in der bisherigen Forschung, im mediengeschichtlichen Zusammenhang mit den periodisch publizierten Formaten des Wissensdiskurses in der république des lettres betrachtet werden,82 in dessen Rahmen sich seit dem späten 17. Jahrhundert selbst die Dissertationen – als gedruckte Textsammlungen – medial und funktional neu konfigurierten.83 ihrer zunehmenden Verbreitung vgl. Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 93 und 103 f. 80 So etwa im berühmten concours von Dijon 1750, bei dem der Abbé Talbert die Frage nach der Verbesserung der Sitten durch Wissenschaften und Künste anders als Rousseau (und der zweitplatzierte Du Chasselat) positiv beantwortet hatte. Siehe dazu die Erklärung, die die Akademie von Dijon nach ihrer so umstrittenen Entscheidung im Mercure de France (November 1750, 82–97) publizieren ließ. 81 Den Fluchtpunkt dieser Entwicklung stellt die sogenannte „Volksbetrugsfrage“ an der Berliner Akademie von 1780 dar, bei der die affirmative und die negative Antwort mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurden. Vgl. Berg, Sind Preisfragen die aufklärerisch-öffentliche Form der disputatio? (wie Anm. 3), 191 ff. 82 Zumal die Beiträge zu den gelehrten Journalen, gerade abseits der Naturwissenschaften, sich auch im 18. Jahrhundert noch aus heterogenen rhetorischen Quellen speisten und nicht im sachlichen Faktenartikel aufgingen. Siehe dazu insb. Herbert Jaumann, Historia literaria und Formen gelehrter Sammlungen, diesseits und jenseits von Periodizität, in: Grunert, Vollhardt (Hg.), Historia literaria (wie Anm. 60), 103–111, hier 108 f. Im Fall der naturwissenschaft­lichen Preisschriften, die, wie erwähnt, genuine Forschungsbeiträge leisteten, ist die Analogie zum Format des wissenschaftlichen Aufsatzes, wie er mit dem Journal des Sçavans und den Philosophical Transactions mit ihren ebenfalls kollektiven Redaktionsgremien aufgekommen war, deutlicher gegeben. Zu diesen Zeitschriften und den dort erscheinenden „scientific papers“ siehe McClellan, Science Reorganized (wie Anm. 50), 52–54. Zur Anonymitätspraxis im gelehrten Journalismus und ihren – eigenen – wissenstheoretischen und pragmatischen Quellen siehe Kirill Abrosimov, Aufklärung jenseits der Öffentlichkeit. Friedrich Melchior Grimms Correspondance littéraire (1753–1773) zwischen der république des lettres und europäischen Fürsten­ höfen, Ostfildern 2014, 191 ff. 83 Siehe dazu Martin Gierl, Korrespondenzen, Disputationen, Zeitschriften. Wissensorganisation und die Entwicklung der gelehrten Medienrepublik zwischen 1670 und 1730, in: Richard van Dülmen, Sina Rauschenbach (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln, Weimar, Wien 2004, 417–438, sowie Hanspeter Marti, Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert, in: Gindhart, Kundert (Hg.), Dispu­ tatio 1200–1800 (wie Anm. 3), 63–85.

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Besonders greifbar wird der Transferprozess an den rhetorischen und speziell den moralphilosophischen Preisfragen („prix de morale“) der Akademien von Pau, Marseille, Dijon und Montauban seit den 1730er Jahren – und nicht zuletzt dem concours zum „Jugement du Public“ in Besançon. Diese Preisfragen setzen sich wesentlich stärker als die um Konfliktvermeidung bemühten Wettbewerbe an der Académie française mit den philosophisch virulenten Themen der Zeit, wie etwa der Entwicklung der Sitten, den Regeln des Geschmacks, der Rolle der Öffentlichkeit und insbesondere der gewandelten Stellung der Wissenschaften und Künste selbst, auseinander.84 Deutlich von den aufklärerischen Diskursen in der république des lettres beeinflusst, weisen diese Preisfragen zunehmend thematische und reflexive Implikationen auf, die von der Tradition nur noch bedingt gedeckt sind. Der von Rousseau 1750 gewonnene prix der Akademie von Dijon „Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer les mœurs?“ ist hierfür nur das prominenteste Beispiel. Was sich an diesen concours beobachten lässt und was die bisherige Forschung zu den Preisfragen in Frankreich nicht in den Blick genommen hat, ist die paradoxe Rückkehr der Philosophie an die Akademien.85 Paradox ist diese Rückkehr insofern, als die Akademien doch eigentlich die konfliktträchtigen Disziplinen und Themen aus ihrem Programm bewusst ausschließen wollten und sich mit Bacon gerade gegen die Spekulationen der Philosophen gewandt hatten.86 Zudem erfolgt die Rückkehr aus dem Geiste der – sich wandelnden – Rhetorik, denn nach deren Maßgaben werden die moralphilosophischen Themenstellungen der Provinzakademien behandelt, nicht aus dem genuin philosophischen Autorenkanon heraus und vor allem nicht ‚more geometrico‘. Vielmehr erweisen sich die einschlägigen Preisschriften als Reflexionsmedien des Wissens. In Anbetracht der grundlegenden Transformation der Gelehrtenrepublik im Zeichen der Periodizität und der Schriftlichkeit nehmen sie die Diskussion über die gewandelten Bedingungen der Wissensproduktion und -rezeption auf.87 Gerade 84 Sogar

der Status des Naturrechts wurde diskutiert in der Preisfrage der Akademie von Dijon für das Jahr 1743: „La loi naturelle, peut-elle porter la société à la perfection, sans le secours des lois politiques?“. Vgl. Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), Appendix F, 425. 85 Diesem Zusammenhang möchte ich am Beispiel der Preisfragen der erwähnten Provinzakademien im Zeitraum zwischen 1730 und 1760 bald ausführlicher nachgehen. 86 Siehe dazu McClellan, Science Reorganized (wie Anm. 50), 48 f. 87 Dies zeigt sich explizit an Fragen, die mit der Entwicklung des Wissens selbst beschäftigt sind, wie etwa der concours der Akademie von Pau (1754): „Si la multiplicité des ouvrages en tout genre est plus utile que nuisible aux progrès des sciences et des belles-lettres?“, aber auch implizit an Bearbeitungen zu Themenstellungen wie jener der Akademie von Soissons aus dem Jahr 1747: „Un auteur doit-il toujours se conformer au goût du siècle dans lequel il écrit?“. Bemerkenswert ist dabei insbesondere, dass sich in den einschlägigen Preisschriften eine Reflexion auf die Spezifik des rhetorischen Wissensmodus in Abgrenzung zum Beobachtungsmodell der neuen Wissenschaften verfolgen lässt.



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für diese Art der Reflexion, die aus der traditionellen Form der Entscheidungsfrage Spielräume für ein grundsätzlicheres Nachdenken über Wissensaushandlungen gewinnt, wird mit der Dominanz der utilitaristisch und progressistisch ausgerichteten concours ab den 1770er Jahren kein Platz mehr sein. In diesen Kontext fällt auch der prix d’éloquence der Académie des Sciences, Belles-Lettres et Arts de Besançon aus dem Jahr 1756. Zugleich führt uns die Themenstellung: „Pourquoi le Jugement du Public est-il ordinairement exempt d’erreur et d’injustice?“ mit ihrer bemerkenswerten Positionierung zugunsten der Urteilsinstanz des Publikums insofern zum Fundament aller aufklärerischen Reformdebatten der zweiten Jahrhunderthälfte, als hier der Status der öffentlichen Sphäre selbst verhandelt wird. Als siegreichen „discours“ krönte die akademische Jury das mit der Ordnungsziffer „n˚ 3“ versehene Manuskript, als dessen Autor sie einen gewissen Durey d’Harnoncourt identifizierte über das symptomatische Motto „Plus vident oculi quam oculus“.88 Die Abhandlung, in sehr ansehnlicher und ebenmäßiger Handschrift verfasst, setzt nach einer kurzen Hinführung zum Thema mit einer elementaren definitorischen Abgrenzung ein: „il ne s’agit point icy de ces opinions momentanées, de ces rumeurs soudaines, semblables aux flots de la mer“. Das „Jugement du Public“ ist für den Autor vielmehr unwiderruflich, „sans appel“.89 Hieran schließt sich die positive Bestimmung dieser Urteilsinstanz über ihre elementaren Qualitäten als „le fruit de la reflexion, la combinaison de toutes les idées, le resultat des divers sentimens“ an.90 Sodann folgt die Beantwortung der Frage in zwei (Groß-)Thesen, deren Ausführung, wie vom Autor angekündigt, den weiteren, klaren Aufbau des in zwei Teile zerfallenden Textes bestimmt.91 Dieser bedient sich damit des typischen Gliederungsschemas, das den Großteil der Preisschriften schon der prix de dévotion an der Académie française bestimmt. Zum einen vertritt der Verfasser die Position, „que les lumières du public sont moins bornées et plus pures que celles des particuliers“; zum anderen, „que ses vues sont moins interessées et plus libres“.92 Bemerkenswert an den Argumenten des Autors, warum das „Jugement du Public“ von Fehlern und Ungerechtigkeit ausgenommen ist, erscheint dabei insbesondere der ebenso klare wie kühne Akzent auf der Verschiedenheit der Mei88 BM de Besançon, Fonds de l’Académie, dossier 17, fol. 182/184–198, hier fol. 198 (abrufbar unter: http://memoirevive.besancon.fr/ark:/48565/a011322745099JMxf4Z/1/1, 05. 01. 2016). In der bisherigen Forschungsliteratur findet sich dieser concours nur bei Caradonna kurz erwähnt, der die einschlägige These des gekürten Manuskripts zitiert. Vgl. Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 147. 89 BM de Besançon, dossier 17, fol. 182/184 r (unpaginierte Rückseite). 90 Ebd. 91 Diese sind, ungefähr gleich lang bemessen, schlicht mit „I. Partie“ (ebd., fol. 185–191 r.) und „II. Partie“ (fol. 191 r. – 198) überschrieben. 92 Ebd., fol. 182/184 r. – 185.

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nungen und Standpunkte, die am Grunde des öffentlichen Urteils und seines Formierungsprozesses liegen. Dies wird an anderer Stelle noch pointierter erläutert: „la diversité, l’opposition même […] ne fait que rendre leur décision [= „des hommes éclairés“] plus infaillibles (sic), parce qu’elle donne lieu à un examen plus serieux et plus mûr“.93 Denn, wie der Autor in Anlehnung an Boileau mit aphoristischer Prägnanz hinzufügt: „Du Choc des Idées sort la lumière“.94 So stellt sich der Standpunkt der Öffentlichkeit als „resultat heureux de toutes les idées particulières raprochées, combinées, corrigées les unes par les autres“ dar.95 In einer kaum weniger richtungweisenden Wendung wird das Urteil der Öffentlichkeit zudem mit den zentralen Attributen der Universalität und Souveränität seiner Entscheidungsmacht versehen, für die keiner anderen Instanz, nicht einmal den gekrönten Häuptern, Rechenschaft zu leisten ist: Le Public est un Juge souverain qui ne craint point que ses arrêts soient reformés. C’est un espèce de Monarque universel qui ne peut être comptable a personne de ses jugemens; C’est un censeur intrépide qui va prendre jusque sur leurs thrônes les heros et les Rois, pour les placer, selon leur rang, au temple de la Gloire ou dans la région de la honte et de l’opprobre.96

Hiermit ist bereits das Schlüsselargument des zweiten Teils von d’Harnoncourts Preisschrift genannt, in dem die größere Unparteilichkeit und Freiheit des öffentlichen Urteils dargelegt wird („que ses vues sont moins interessées et plus libres“). So ist diese Instanz für den Verfasser ungetrübt von verzerrenden persönlichen Interessen und insbesondere nicht den Leidenschaften des Herzens, weder Hass noch übergroßer Freundschaft, ausgesetzt. Die vernünftige Entscheidungsfindung steht vielmehr im Zentrum des Prozesses: Le Public est incapable de partialité. Il ne tient a personne et ne peut être l’ami que du vrai mérite. […] Le Public ne hait personne, ou sa haine, s’il peut en avoir, a pour fondement la raison et l’équité. […] Il use avec sang froid du droit qu’il a de juger. Il examine, il compare, il prononce. […] Ses Jugements sont l’Ecole de la Raison; comme ses lumières sont celles d’une multitude de têtes […] judicieuses, elles sont moins bornées que celles des particuliers.97

Für die gesteigerte Freiheit in den Entscheidungsfindungen wird schließlich ein pragmatisches Machtargument angeführt, wonach die Öffentlichkeit gerade in ihrer Vielstimmigkeit unangreifbar ist. An der ihr eigenen Anonymität prallt der Zugriff „de la puissance“ ab, so wie sich aus der Menge der gegen „acclamations“ gefeiten Stimmen („voix“) ihre Macht speist.98 93

Ebd., fol. 188.

94 Ebd.

95 Ebd.,

fol. 188 r. fol. 192 r. 97 Ebd., fol. 194, 196 und 197–197 r. 98 Ebd., fol. 193. Siehe auch die weiteren Ausführungen ebd., fol. 194 r.–195. 96 Ebd.,



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Die gekürte Preisschrift von d’Harnoncourt führt somit zentrale Argumente an, die im Aufklärungsdiskurs über den Status des espace public von Marmontel über Malesherbes bis zu Kant – freilich mit ganz anderer konzeptioneller Stringenz und grundsätzlicherem Deutungsanspruch – vorgetragen wurden.99 In diesem Zusammenhang ist vor allem d’Harnoncourts Umwertung des partikularen und nicht auf Wahrheit ausgelegten Publikumsbegriffs des 17. Jahrhunderts zu betonen, insofern er das „Jugement du Public“ als kollektiv-rationale und universelle Entscheidungsinstanz begreift, gebildet aus den versammelten Standpunkten von „particuliers“, unabhängig von der Staatsgewalt; ferner sein Fokus auf der Divergenz der verschiedenen Meinungen als Motor des Konstitutionsprozesses des öffentlichen Urteils. Bemerkenswerterweise waren der­artige Positionen im concours von 1756, wie die anderen eingereichten Preisschriften zeigen, bei weitem keine Einzelerscheinung.100 Dennoch ist mit Blick auf die insgesamt 17 Manuskripte dieses (damit durchaus rege angenommenen) Wettbewerbs101 zu konstatieren, dass die Mitglieder der Akademie von Besançon die in ihrer Konzeption des Öffentlichkeitsurteils avancierteste (und stringenteste) Abhandlung gewählt haben. Trotz der prononciert aufklärerischen und in ihren politischen Implikationen durchaus brisanten Positionen d’Harnoncourts darf jedoch nicht übersehen werden, dass sein discours zum „Jugement du Public“ an vielen Stellen auch von traditionellen Sichtweisen und Argumentationsformen getragen bleibt. So ist die maßgebende Domäne, aus der der Verfasser seine Beispiele für die gelungenen  99

32 ff.

Siehe dazu Roger Chartier, Les origines culturelles de la Révolution française, Paris 1990,

100 So

ist die Konzeption des „Jugement du Public“ als souveräne und universelle Entscheidungsinstanz der argumentative Ausgangspunkt auch der eingereichten Manuskripte n˚ 2 (BM de Besançon, dossier 17 (wie Anm. 88), fol. 200–209), n˚ 5 (fol. 166–176 r.), n˚ 7 (fol. 145–160), n˚ 16 (fol. 45–57) und n˚ 17 (fol. 33–44). Dabei wird es in Manuskript n˚ 7 in besonders prägnanter Form als „corps fictif“ beschrieben, dessen „membres [sont] épars en mille et mille endroits“ (fol. 155 r.). Die Vielzahl der verschiedenen Standpunkte am Grunde des öffentlichen Urteils betonen vor allem die Manuskripte n˚ 5 („une infinité de personnes qui pensent differemment“, fol. 173) und n˚ 16 („ce corps animé de tant d’opinions différentes“, fol. 51 r.). Als auch gegenüber den höchsten Autoritäten des Staates gültig sehen mehrere der Preisschriften die Sprüche dieser Instanz (so die Manuskripte n˚ 7 (fol. 156), n˚ 16 (fol. 52 r.–53) und n˚ 17 (fol. 40 r.–41 r.), andere umgehen diese brisante Frage. In fast allen Eingaben herrscht Konsens darüber, dass sich das „Jugement du Public“ durch seine besondere „équité“ bzw. sein „désintéressement“ auszeichnet, wobei diese Qualität in einigen Preisschriften unmittelbar aus seiner intrinsischen Rationalität abgeleitet wird (so in den Manuskripten n˚ 2, n˚ 7, n˚ 17), mitunter auch unter Rekurs auf Descartes (vgl. Manuskript n˚ 5, fol. 169 r.). Eine der Preisschriften geht kurzerhand sogar von der Identität von „public“ und „multitude“ aus (so einzig Manuskript n˚ 15, fol. 68 r.–71 r.). 101 Auch wenn die Zahlen zwischen den einzelnen Akademien mitunter stark schwanken, liegt die durchschnittliche Eingabemenge für die Eloquenzpreise der Provinzakademien bei etwa einem Dutzend Manuskripten. Vgl. Caradonna, The Enlightenment in Practice (wie Anm. 3), 56 und 123.

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öffentlichen Urteile bezieht, die der historischen exempla und der bleibenden literarischen Werke. Gleich zu Beginn wird die zentrale Referenzebene genannt, auf die das „Jugement du Public“ ausgerichtet ist, „le Temple de Mémoire“.102 Seine Pforten öffnet oder verschließt der Spruch der Öffentlichkeit, und so geht ihm der Autor wiederholt über Phänomene des Schönen und des goût nach. Sodann erscheint die Rede von „le Public“ wieder dicht an ihrem ästhetischen Begriffskern gelagert und die Argumentation vor allem mit dem (Geschmacks-) Urteil des Publikums beschäftigt.103 Darüber hinaus werden die Regeln dieser Urteilsfällung nicht nur als Ergebnis rationaler Diskussion, sondern auch als im wahren „sentiment“ und seinen klassischen Ausdrucksformen seit der Antike verankert dargestellt, wie die zahlreichen Exkurse in die Literatur der Alten und die Parteinahme für die „Anciens“ in der Querelle verdeutlichen.104 Ferner ist die den gesamten Text durchlaufende Emphase auf das „génie“ durchaus geeignet, die Kraft der sich auf den pluralen Diskussionsprozess beziehenden Argumentation einzuschränken.105 Am stärksten wirkt das Erbe der Tradition schließlich in der rhetorisch-dialektischen Struktur des Textes. Diese meldet sich nicht nur in den einschlägigen Stilmitteln, sondern immer wieder auch in der thetischen Diskussion in Oppositionen bzw. dem Aufrufen konträrer Positionen. Auch wenn die Preisschrift von d’Harnoncourt das „Jugement du Public“ als Prozess der wechselseitigen Korrektur der verschiedenen Ideen und Meinungen beschreibt, entsteht so zugleich der Eindruck, dass dieses Urteil auf die definitive Entscheidung strittiger Fragen ausgerichtet ist, dass es die „succès éphemères“ vom „vrai beau“ zu sondern trachtet.106 Diese Diskrepanz ist jedoch weniger als Inkonsistenz denn als gattungsgeschichtlich symptomatisch zu bewerten. Tatsächlich ist die Entwicklung der Preisfragen an den französischen Akademien durch die hybride Überlagerung von unterschiedlichen Aushandlungsweisen des Wissens, durch die Spannung zwischen tradierten und neuen Formen der Argumentation gekennzeichnet. Dieser Wissenstransfer bekundet sich im concours zum „Jugement du Public“ der Akademie von Besançon aus dem Jahr 1756 besonders prägnant. Zugleich zeigt dieser Wettbewerb, wie die Preisfragengattung – die ob ihrer Wurzeln in der rhetorisch-dialektischen Tradition nur im heuristischen Sinne als ‚Aufsatz‘ zu bezeichnen sinnvoll ist – zu einem wichtigen Medium des Reformdiskurses in der französischen Spätaufklärung wurde. 102 BM

de Besançon, dossier 17 (wie Anm. 88), fol. 182/184 r. dazu insb. ebd., fol. 189–190 r. 104 Zur Querelle vgl. ebd., fol. 189–189 r. 105 Siehe dazu die sich über mehrere Seiten erstreckenden Textpassagen des ersten Teils, die mit der wiederholten Formel: „il est dans le public des hommes […]“ eingeleitet werden, ebd., fol. 185 r.–188. 106 Ebd., fol. 197. 103 Siehe



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Der Aufsatz beschreibt die Entwicklung der Preisfragen an den französischen Akademien von ihrer Etablierung an der Académie française im Jahr 1670 bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Er fragt insbesondere nach den konstitutiven Merkmalen, die diese spezielle Gattung gelehrter Diskussion in der république des lettres formal und inhaltlich prägen. Nach einer Rekonstruktion der Frühgeschichte der Preisfragen, die deren Verankerung in tradierten rhetorischen und dialektischen Mustern der Fragebehandlung aufweist, wird der Wandel untersucht, den der concours académique in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchläuft, hin zu neuen, verstärkt an der aufklärerischen Öffentlichkeit orientierten Themenstellungen. Das zuletzt betrachtete Beispiel des concours zum „Jugement du Public“ an der Akademie von Besançon aus dem Jahr 1756 zeigt zudem anhand einer in der Forschung bisher nicht weiter analysierten Quelle, wie die Preisfragen sich schließlich zu einem Medium der öffentlichen Reformdebatte in der französischen Spätaufklärung entwickelten. The article describes the development of the prize questions at the French academies from their establishment at the Académie française in 1670 up to the second half of the 18th century. It focuses on the specific characteristics of this particular genre of learned debate in the Republic of Letters. As a first step, it analyses the early history of the prize questions and reveals their roots in the rhetorical and dialectical traditions. Against this backdrop, it explores the changes in the concours académique during the first half of the 18th century towards new subjects influenced by Enlightenment discourse. Finally, the article examines for the first time, in depth, the concours on the “Jugement du Public” at the Academy of Besançon from 1756. This example demonstrates how prize questions eventually evolved into a medium of the late Enlightenment debate on public reform. Dr. Martin Urmann, Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung“, Freie Universität Berlin, Schwendenerstraße 8, 14195 Berlin, E-Mail: [email protected]

Lucinda Martin Noch eine „res publica literaria“? Die Briefe der Unsichtbaren Kirche als diskursiver Raum1

I. Einleitung Im Jahr 1718 veröffentlichte der Göttinger Professor und Polyhistor Christoph August Heumann seinen Conspectus Reipublicae literariae, der acht Auflagen erlebte und über weite Strecken des 18. Jahrhunderts das Standardwerk zur Geschichte der Gelehrsamkeit an deutschen Universitäten war.2 In einer Auflage des Buches von 1726 ergänzte Heumann einige aufschlussreiche Erläuterungen zu seiner Benutzung des Terminus „res publica literaria“: Die Gelehrtenrepublik ist hinsichtlich ihrer Gestalt der Unsichtbaren Kirche am ähnlichsten. Wie es in dieser keinen Monarchen und keine zivile Herrschaft gibt, sondern die höchste Freiheit waltet und allein die Heilige Schrift herrscht, so herrscht in jener allein die Vernunft und keiner hat die Rechtshoheit über irgendeinen anderen. Und genau diese Freiheit ist die Seele der Gelehrtenrepublik […].3

Heumanns Aussagen weisen auf strukturelle Parallelen, ja sogar großteilige Überschneidungen zwischen zwei Gemeinschaften hin: der Gelehrtenrepublik und der Unsichtbaren Geistkirche der in allen Konfessionen verstreuten „wahren Gläubigen“. Beide Gruppen strebten nach universeller Verbesserung, die sie durch eine ebenso universelle, wie nationale und konfessionelle Grenzen überwindende Vereinigung zu erreichen suchten. Jedoch verfolgten beide Gemeinschaften nicht nur ähnliche Ziele und nutzten ähnliche Strategien, oft waren es Für die vielfältige Unterstützung bei der Entstehung dieses Beitrags danke ich herzlich Erik Liebscher. 2 Christoph August Heumann, Conspectus reipublicae literariae sive via ad historiam litte­ rariam iuventuti studiosae aperta, Hannover 1718. 3 „Resp. literaria ratione formae simillima est Ecclesiae invisibili. Vti hic nullus monarcha, nullum ciuile imperium, sed summa libertas, sola regnante S. Scriptura; sic illic sola regnant Ratio, nec quisquam in alterum quicquam habet iuris ciuilis. Ac libertas ista adeo est reip. lite­ rariae anima […]“ (Christoph August Heumann, Conspectus reipublicae literariae sive via ad historiam litterariam iuventuti studiosae aperta, 2. Aufl., Hannover 1726, 198). Der (grammatikalisch falsche) Plural in „regnant“ wurde in den folgenden Auflagen zum (richtigen) Singular korrigiert. 1

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128

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sogar ebendieselben Protagonisten, die sich mit ebendenselben Fragen auseinandersetzten. Insbesondere Inhalte wie Bibelkritik,4 Geschichte5 und Toleranz6 waren für Gelehrte und religiöse Reformer gleichermaßen zentral. Trotz der geradezu offensichtlichen Affinitäten wurden die Schnittmengen zwischen beiden Gruppen bislang nur wenig untersucht, da solche Symbiosen nicht nahtlos in das traditionsreiche Paradigma passen, demzufolge „Moderne“ und „Wissenschaft“ die abergläubischen Kräfte der Religion zurückgedrängt haben, um schließlich in der Aufklärung zu triumphieren.7 Eine Fülle in jüngerer Zeit erschienener Publikationen hat diese immer noch sehr einflussreiche These abgeschwächt, indem sie gezeigt haben, dass Aufklärer ihre Impulse häufig durch die Religion erhielten.8 Nachdem diese Studien den etablierten Konfessionskirchen einen Platz in der Erforschung und Erklärung der Moderne gesichert 4 Eine

der besten Darstellungen zu den Wechselwirkungen zwischen der Gelehrtenrepublik und der Unsichtbaren Geistkirche ist: Andreas Nikolaus Pietsch, Isaac La Peyrère: Bibelkritik, Philosemitismus und Patronage in der Gelehrtenrepublik des 17. Jahrhunderts, Berlin 2012. 5 Jetze Touber, Religious Interests and Scholarly Exchange in the Early Enlightenment Republic of Letters: Italian and Dutch Scholars, 1675–1715, in: Rivista di Storia della Chiesa in Italia 50/2 (2014), 411–436. Toubers Studie zeigt, wie Gelehrte aufgrund konfessioneller Einstellungen um Entdeckungen wetteiferten, die ihre eigenen religiösen Anschauungen bestätigten. 6 Jan Schillings, Toleranz und die Gelehrtenrepublik zwischen 1675 und 1750, in: Horst Lade­ macher, Renate Loos, Simon Groenveld (Hg), Ablehnung – Duldung – Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, Münster 2004, 254–272. Schillings untersucht die Erfolge und das Versagen des Toleranzideals innerhalb der Gelehrtenrepublik. Er folgert, Gelehrsamkeit war oft „nicht mehr als die Arena, in der der Religionsstreit auf dem Papier fortgesetzt werden konnte“ (259). Während Persönlichkeiten wie Jean le Clerc und John Locke betonten, dass die Grundwerte von „Christianisme & de l’Humanité“ (le Clerc) identisch seien, teilten andere ihr Ziel einer ethischen und undogmatischen Kirche nicht (266 f.). Hans Schneider hat argumentiert, dass der bedeutendste soziale Beitrag „radikaler Pietisten“ in ihrer Rolle als Verfechter religiöser, sozialer und literarischer Toleranz bestand. Sie lehnten traditionelle Hierarchien, die auf Geschlecht und sozialem Rang basierten ab und weigerten sich an den Ritualen der Staatskirche teilzunehmen, wodurch sie halfen, deren soziale Kontrollfunktion aufzubrechen. (Hans Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, in: Martin Brecht u. a. (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert, Göttingen 1995, 107–197, hier 169). 7 Peter Gays Arbeit ist nach wie vor der Ausgangspunkt für viele Autoren: Peter Gay, The Enlightenment, 3 Bde., New York 1967–1969. 8 Einen hilfreichen Überblick über die Publikationen der letzten Jahre bietet: Simon Grote, Review-Essay: Religion and Enlightenment, in: Journal of the History of Ideas 75/1 (2014), 137– 160. Grote weist darauf hin, dass ein Grund für die Haltbarkeit dieser These in der Überfokussierung auf das Fallbeispiel Frankreich bestand. Wie sein Essay deutlich macht, zeigt sich auf internationaler Ebene eine wesentlich größere Vielfalt. Zwar verweist Grotes Forschungsbericht auf dutzende Arbeiten, im Zentrum stehen aber die folgenden: David Sorkin, The Religious Enlightenment. Protestants, Jews, and Catholics from London to Vienna, Princeton 2008; Jeffrey D. Burson, The Rise and Fall of Theological Enlightenment: Jean-Martin de Prades and Ideological Polarization in Eighteenth-Century France, Notre Dame 2010; Ulrich Lehner, Enlightened Monks: The German Benedictines 1740–1803, Oxford 2011; Thomas Ahnert, Religion and the



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hatten, war es unvermeidlich, dass sich andere Historiker nun den „Sektierern“ zuwandten, die bis dahin von vielen als nicht untersuchungswürdige Randfiguren angesehen wurden. Sie erkannten, dass eben diese Andersdenkenden zu den Ersten gehörten, welche bestimmte, für gewöhnlich mit der Aufklärung assoziierte Ideale einforderten, insbesondere Toleranz.9 Die Beziehung zwischen der Gelehrtenrepublik und der Unsichtbaren Geistkirche muss als eine weitere Facette dieser komplexen Geschichte verstanden werden, die es auszuarbeiten gilt. Genau wie Akteure in der Gelehrtenrepublik korrespondierten Mitglieder der Unsichtbaren Geistkirche nationenübergreifend mit ihresgleichen, um über Anschauungen zu debattieren, Veröffentlichungen zu diskutieren oder Projekte zu planen.10 Obwohl die Angehörigen weit auseinandergehende Ansichten zu verschiedenen Lehren vertraten, stimmten alle in dem zugrundeliegenden Projekt überein: dem Versammeln einer Unsichtbaren Geistkirche. Der nach Pennsylvania ausgewanderte deutsche ‚Radikale‘ Johannes Kelpius beschrieb diese Bewegung als einen Strom, der sich in viele kleinere Rinnsale geteilt habe, erinnert aber daran, dass „[those] Rivulets […] derive their Emanation from one Spring and tend to the same end“.11 Gemäß Kelpius erfolgte diese ‚Revolution‘ in der römischen Kirche unter der Bezeichnung Quietismus, in der protestantischen Kirche aber „under the Name of Pietism, Chiliasm, and Philadelphianism“.12 Origins of the German Enlightenment. Faith and the Reform of Learning in the Thought of Christian Thomasius, Rochester 2006.   9 Siehe beispielsweise Kristine Hannak, Geist=reiche Critik. Hermetik, Mystik und das Werden der Aufklärung in spiritualistischer Literatur der Frühen Neuzeit, Berlin 2013. Hannak konzentriert sich auf Autoren wie Sebastian Franck, Valentin Weigel und Jacob Böhme. Bis in die Gegenwart hat die stark konfessionsbezogene Kirchengeschichte solche Personen als „Häretiker“ oder „Fanatiker“ abgestempelt, während „säkulare“ Historiker sie schlicht ignoriert haben. Für eine Reihe einzelner Fallstudien, die radikale Religiosität und wissenschaftliche Leistungen verknüpfen, siehe Friedrich Vollhardt (Hg.), Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur, Bad Langensalza 2004. 10 Donald F. Durnbaugh, Communication Networks as One Aspect of Pietist Definition: The Example of Radical Pietist Connections between Colonial North America and Europe, in: Jonathan Strom, Hartmut Lehmann, James van Horn Melton (Hg.), Pietism in Germany and North America 1680–1820, Burlington 2009, 33–49. Hartmut Lehmann, Vorüberlegungen zu einer Sozialgeschichte des Pietismus im 17./18. Jahrhundert, in: Pietismus und Neuzeit 21 (1995), 74 f. 11 „But rather you being one among thousands in Juda, who sees how since that glorious Primitive Church of Christ Jesus the Apostacy hath run in a continual current till this very day, and though this Stream hath divided itself in many smaller Rivulets, under several Names of more reformed Purity, yet you are not ignorant how they derive their Emanation from one Spring and tend to the same end“ (Kelpius an Steven Momfort, 11.12.1699, zitiert nach: The Diarium of Magister Johannes Kelpius, in: Julius F. Sachse (Hg.), The Pennsylvania-German Society, Proceedings and Addresses […], Bd. 25 (1914), Lancaster, PA 1917, 1–100, hier 47. 12 „If now this late Revolution in Europe (not to speak of that in other parts) which in the Roman Church goes under the Name of Quietism, in the Protestant Church under the Name of Pie­ tism, Chiliasm, and Philadelphianism“ (The Diarium of Magister Johannes Kelpius, 48). Auch Gegner bemerkten die Verbindungen zwischen diesen internationalen Gruppierungen: Ehregott

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Die Idee einer Unsichtbaren Kirche der wahren Gläubigen speiste sich aus einer langen Tradition der Kirchenkritik, die bis in die Antike zurückreicht.13 Ein Hauptargument der Reformation war, dass die sichtbare Römische Kirche und die Versammlung der wahren Gläubigen nicht übereinstimmten, aber bald gab es ähnliche Vorwürfe gegen die protestantischen Reformer. Schon zu Luthers Lebzeiten haben Kritiker behauptet, die Konfessionskirchen seien allesamt „Mauerkirchen“, die Zeremonien und einen äußerlichen Glauben betonten. Dieser kritisierten Vorstellung wurde das Ideal einer unsichtbaren „Herzenskirche“ der Liebe gegenübergestellt. Während des Dreißigjährigen Krieges und in dessen Folge erlebte die Idee einen weiteren Aufschwung. Dutzende von Andachtstexten, verfasst von Theologen wie Johann Arndt, Friedrich Nicolai und Martin Moller, stellten die Missbräuche in den sogenannten „Mauerkirchen“ dar. Auch wenn diese Kirchenmänner eine Verbesserung der bestehenden kirchlichen Institutionen erhofften, suggerierte ihre Kritik, dass die „wahre“ Kirche eine spirituelle Kirche ohne Mauern sei.14 Diesem Narrativ zufolge sorgten sich Pastoren mehr um theologische Argumente als um das Wohlergehen ihrer ‚Herden‘; die Kirchgänger wiederum galten diesen Autoren überwiegend als oberflächliche „Scheinchristen“, welche die Kirche besuchten und – sofern es das Gesetz erforderte – an Ritualen teilnahmen, in ihrem Inneren ansonsten aber unverändert blieben. Jene Texte hallten bei der Leserschaft nach und avancierten zu den ‚Bestsellern‘ der Zeit.15 Sowohl Pastoren als auch Kirchgänger erkannten eine riesige Kluft zwischen den Idealen der Kirche und der Wirklichkeit des kirchlichen Lebens (und des Alltags). Einige glaubten, dass die protestantische Reformation vollendet werden müsse, andere hingegen behaupteten, dass sie gänzlich gescheitert sei. Darüber hinaus hatten die Religionskriege dieser Ära deutlich gezeigt, dass keine Konfession über ein Wahrheitsmonopol verfügte: Wer gegenwärtig Lutheraner war, konnte – abhängig von der politischen Situation – morgen Calvinist und in naher Zukunft Katholik sein. Kirchenkritische Autoren führten folglich aus, dass unter den Mitgliedern der korrupten, sichtbaren Kirchen jene Daniel Colberg, Das Platonisch-Hermetische Christenthum […] Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten/ Weigelianer/ Rosencreutzer/ Quäcker/ Böhmisten/ Wiedertäuffer/ Bourig­ nisten/ Labadisten/ und Quietisten. Vgl. Hartmut Lehmann, Hans-Jürgen Schrader, Heinz Schilling (Hg.), Jansenismus, Quietismus, Pietismus, Göttingen 2002. 13 Das theologische Konzept basiert vor allem auf Mt. 7, 21–27, Mt. 13, 24–30 und Mt. 24, 29–51. Schon Augustin äußerte sich über den Unterschied zwischen einer sichtbaren Kirche und einer unsichtbaren Kirche der wahren Gläubigen. 14 Udo Sträter, Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1995. Sträter gibt einen Überblick über die verschiedenen Theorien zu dieser Unzufriedenheit, 30–34. 15 Beispielsweise wurden drei der insgesamt elf Schriften Martin Mollers jeweils 42 Mal aufgelegt, hinzu kamen noch Übersetzungen ins Lateinische und andere europäische Sprachen.



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Gläubigen verstreut seien, für die Religion eine Bedeutung besaß, die weit über die „äußerlichen“ Zeremonien und wechselnden politischen Positionen einer Staatskirche hinausginge. Gottfried Arnold, der große Historiker des „radikalen Pietismus“, schrieb: „Der Leib Christi [ist] in einem Geist, unter dem sichtbaren Hauffen aller Secten verstecket“.16 Für Arnold bezog sich der Begriff „Secten“ auf Konfessionen im Allgemeinen und schloss die Staatskirchen ebenfalls ein. Aber selbst eine wesentlich etabliertere Persönlichkeit wie Philipp Jacob Spener, der an die Notwendigkeit der sichtbaren Kirche zur Erteilung der Sakramente glaubte, hegte nichtsdestoweniger die Vorstellung von einer Unsichtbaren Geistkirche. Seiner Anschauung gemäß wies diese durchaus Schnittmengen mit der ‚sichtbaren‘ Kirche auf, war allerdings nicht mit ihr identisch: „Da gestehe ich, daß eine unsichtbare kirche seye, die alle wahre Kinder Gottes in sich fasset […] Diese ist der wahre geistliche leib Christi […]“.17 Für Arnold und Spener bildete die unsichtbare Geistkirche gleichermaßen den Kern der wahren Kirche.18 Während Spener die pragmatische Entscheidung traf, an der Verbesserung der lutherischen Kirche zu arbeiten, widmete sich Arnold der Niederschrift einer Geschichte der Unsichtbaren Geistkirche. Von der Mitte bis zum Ende des 17. Jahrhunderts nahm das schriftlich fixierte Konzept der Unsichtbaren Kirche der wahren Gläubigen konkrete, soziale Formen an. Explosionsartig entstanden Sozietäten, Sekten und Konventikel (mit unterschiedlich stark ausgeprägten Verbindungen zu den etablierten Kirchen) und starteten Versuche, der Unsichtbaren Kirche eine sichtbare Gestalt zu geben. In Zusammenkünften, die in den Häusern der Führungspersonen abgehalten wurden, lasen die Teilnehmer gemeinsam Texte, veranstalteten private Gottesdienste, bereiteten Publikationen vor und diskutierten eine Reihe von Projekten. Es gibt viele Forschungsarbeiten zu neuen Formen der Vergesellschaftung im 18. Jahrhundert,19 für das 17. Jahrhundert – eine Zeit in der „Religion“ und „Gelehrsamkeit“ in den Köpfen der Zeitgenossen untrennbar verbunden waren – ist dies nicht der Fall, obwohl die Personen, die nach einer Gelehrtenrepublik strebten und diejenigen, die eine Unsichtbare Geistkirche herbeisehnten, in denselben Kreisen verkehrten.20 16 FB

Gotha Chart A 420, 329–334. Jacob Spener, Theologische Bedencken und andere Briefliche Antworten […], Band 4/4, Halle 1715, 688–690. Ich habe Speners Schreibweise beibehalten. 18 Eine Untersuchung zu Speners Konzept der „ecclesiola in ecclesia“ könnte sich in diesem Kontext als fruchtbar erweisen. 19 Dazu beispielsweise Markus Meumann, Holger Zaunstöck (Hg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003. 20 Siehe dazu Richard van Dülmen, dessen Studie über die Stadt Nürnberg sehr viele Überschneidungen zwischen humanistischen und religiösen (oft nonkonformistischen) Kreisen aufdeckt. Richard van Dülmen, Sozietätsbildungen in Nürnberg im 17. Jahrhundert, in: Gesellschaft 17 Philipp

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Das Ziel dieser neuen Gemeinschaften war kein geringeres als eine universelle „Reformation“. Im Fall der Unsichtbaren Kirche versuchte man die Rechtgläubigen zu vereinen, um eine Reform der „Welt“ – der korrupten, umgebenden Gesellschaft – herbeizuführen. Folglich wurde „die Welt“ zur Kontrastfolie, anhand derer sich die Reformerinnen und Reformer selbst definierten.21 Viele belebten ältere Reformationsdebatten über sogenannte „Mitteldinge“ oder „Adiaphora“ wieder und begannen teure Kleidung und „weltliche“ Unterhaltung abzulehnen, im Glauben, sich durch dieses nonkonformistische Verhalten gegenüber der umgebenden, sündhaften Welt abzugrenzen.22 Auf diesem Weg hofften sie, die Unsichtbare Kirche sichtbar zu machen. In Abhängigkeit von ihrem konfessionellen Hintergrund als Lutheraner, Calvinisten, Quietisten, Anglikaner oder Angehörige kleinerer, neuerer religiöser Gemeinschaften wie den Labadisten hingen die selbsterklärten Mitglieder der Unsichtbaren Geistkirche unterschiedlichen theologischen Lehren an. Genau wie die „res publica literaria“ strebte die Unsichtbare Geistkirche nach Überwindungen der durch die Reformation hervorgerufenen Spaltungen. Freilich ging es den „Kindern Gottes“ hauptsächlich um eine Union unter Protestanten, auch wenn die ‚Radikalsten‘ unter ihnen sogar Pläne für Bündnisse mit Juden schmiedeten. Tatsächlich gehörten viele Nonkonformisten mehr als nur einer religiösen Gemeinschaft an, ohne darin einen Widerspruch zu sehen.23 Trotz der vielfältigen religiösen Hintergründe nahmen die Mitwirkenden einen gemeinsamen Habitus an: Sie lasen die gleiche Literatur, teilten die gleiche religiös aufgeladene Sprache und tauschten sich in ausgedehnten, sich überlagernden Korrespondenznetzwerken aus. Briefe waren das Bindemittel, das diese Gemeinschaften zusammenhielt. und Herrschaft. Forschungen zu sozial- und landesgeschichtlichen Problemen vornehmlich in Bayern, München 1969, 153–190. 21 Johann Arndts Unterteilung zwischen „wahren Christen“ und „der Welt“ war besonders einflussreich. Johann Arndt, Sechs Bücher Vom Wahren Christenthum; Nebst desselben Para­ dies-Gärtlein […], Bd. 1, Magdeburg 1610. Arndts Bücher gehörten zu den populärsten der frühen Neuzeit. 22 Zu Adiaphora im Allgemeinen siehe den älteren aber weiterhin wichtigen Beitrag: Johannes Gottschick, „Adiaphora“, in: Realenzyklopaedie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 1 (1896), 168–179. Zu den „Mitteldingen“ während der Reformationszeit siehe Irene Dingel, Der Adiaphoristische Streit (1548–1560), Controversia et Confessio, Bd. 1, Göttingen 2012. Die Adiaphora-Debatten entbrannten erneut in den 1680er Jahren, wobei besonders Oper und höfische Unterhaltung im Zentrum der Kontroversen standen. Siehe dazu Hans Leube, Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien, hg. von Dietrich Blaufuß, Bielefeld 1975; Ryoko Mori, Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert, Tübingen 2004. 23 In jüngster Zeit beschäftigen sich mehrere Konferenzen und Forschungsprojekte mit religiösem Pluralismus oder religiöser Ambiguität in der Frühen Neuzeit. Siehe beispielsweise Andreas Pietsch, Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Konfessionelle Ambiguität: Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2013.



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All jene, welche die Unsichtbare Geistkirche versammeln wollten, erhoben den Anspruch, „unpartheyisch“, also nicht an eine spezielle Konfession gebunden, zu sein. Gottfried Arnolds Unparteyische Kirchengeschichte war in dieser Hinsicht programmatisch: Arnold zufolge hatten die Konfessionellen – also die „Partheyen“ – sich durch Macht korrumpiert; sie haben dann die Anhänger der „wahren Kirche“ als Häretiker verfolgt und unterdrückt. Die „unpartheyische“ Kirche habe im Untergrund als eine Unsichtbare Geistkirche der Gläubigen überdauert.24 Wenngleich viele Zeitgenossen sich selbst als ein Glied in Arnolds heroischer Genealogie und somit als „unpartheyisch“ betrachteten, bedeutete dies indes nicht, dass sie alle Positionen als gleichwertig anerkannten. Tatsächlich waren die reine Lehre und korrekte Praktiken in den Korrespondenzen religiöser Reformer Gegenstand intensiver Debatten. „Unpartheyisch“ bedeutete in ihrem Denken lediglich, dass nicht eine bestimmte Konfession im Besitz der ganzen Wahrheit war. Genau wie in der Gelehrtenrepublik kam es zu Spannungen zwischen dem größeren, vereinigenden Projekt und den Untergruppierungen mit ihren jeweils spezifischen Ansichten. Diese Spannungen zwischen der ausgedehnten andersdenkenden Gemeinschaft und ihren Untergruppen hat in der Historiographie des religiösen Nonkonformismus zu erbittert ausgetragenen Debatten geführt. Fachleute streiten über Bezeichnungen für diese Bewegungen und haben dabei Termini wie „Pietisten“, „radikale Pietisten“, „Spiritualisten“ oder gar – wenig wissenschaftlich – „Sekten“ geprägt, sodass allein diese Terminologie-Debatten ganze Bände füllen. Historiker vertreten verschiedenste Ansichten bezüglich der Theologie, Geographie und sogar der Wirkungszeit dieser reformerischen Bewegungen. Manche Wissenschaftler sehen „Pietismus“ als etwas spezifisch Deutsches an, wohingegen andere, einschließlich der meisten anglo-amerikanischen Forscher, die Verknüpfungen zwischen verschiedenen europäischen Reformerinnen und Reformern hervorgehoben haben.25 Festzuhalten bleibt, dass im späten 17. Jahrhundert kein Mensch, der in derartige Kreise eingebunden war, solche Etikettie24 Gottfried

Arnold, Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie […], 2 Bde., Frankfurt am Main 1699–1700. 25 So schließt das englischsprachige Standardwerk über pietistische Theologen neben französischen Quietisten, englischen Nonkonformisten und Calvinisten ebenso deutsche Lutheraner wie Spener ein: Carter Lindberg (Hg.), The Pietist Theologians. An Introduction to Theology in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, Oxford 2005. Ebenfalls einflussreich: William R. Ward, The Protestant Evangelical Awakening, Cambridge 1992. Die deutsche Wissenschaft hat die Diskussionen überwiegend in der Zeitschrift Pietismus und Neuzeit in vielen Beiträgen ausgetragen. Einen hilfreichen Überblick über diese Debatten liefern die zwei folgenden Texte: Douglas H. Shantz, An Introduction to German Pietism: Protestant Renewal at the Dawn of Modern Europe, Baltimore 2013, 1–14; Jonathan Strom, Problems and Promises of Pietism Research, in: Church History 71/3 (2002), 536–554.

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rungen nutzte.26 Vielmehr wurden diese Termini oft von der Gegnerschaft dieser Reformer geprägt und dann später von Historikern aufgenommen und weitergeführt. Außerdem stützten sich die Reformbewegungen des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts auf eine lange und kontinuierliche, bis in die Reformationszeit und weiter zurückreichende Tradition solcher Erneuerungen, weshalb es angemessen erscheint, schlicht von Kreisen protestantischer Reformer zu sprechen.27 In den deutschen Territorien wählten diese Gruppen Eigenbezeichnungen wie „die Wiedergeborenen“, „wahre Christen“, „Zion“, „Philadelphier“ oder – dies war die häufigste Variante – „Kinder Gottes“.28 Die Verwendung des Terminus „Unsichtbare Geistkirche“ darf ebenfalls nur mit Vorsicht erfolgen: Zwar wurde er von Reformern zuweilen als Eigenbezeichnung genutzt, zumeist diente er jedoch dazu, ihr Ziel auszudrücken. Unberührt von den wissenschaftlichen Debatten über die konstituierenden Merkmale eines „Spiritualisten“, „Pietisten“ oder „Radikalpietisten“ beteiligte sich ein breites Spektrum von Reformgesinnten an internationalen Korrespondenznetzwerken und sah sich selbst als Teil eines gemeinsamen, universellen Projektes. Jene Reformgesinnten des 17. Jahrhunderts, die das Versammeln einer Unsichtbaren Geistkirche anstrebten, waren multi- oder überkonfessionell, international, sowohl männlich als auch weiblich und vertraten verschiedenste Ansichten. Für gewöhnlich fokussiert sich aber die Geschichtsschreibung auf Amtsträger in traditionellen Institutionen (Kirchen, Regierungen, Universitäten). Die grenzübergreifenden, internationalen Briefnetzwerke der Unsichtbaren Geistkirche brechen aus diesem Paradigma aus. Während in Geschichtsbüchern zu religiösen Reformen in den frühneuzeitlichen deutschen Territorien hauptsächlich dogmentreue, deutsche Lutheraner auftreten, verfolgten die Reformer ganz andere Ziele – nämlich die „Kinder Gottes“ aus allen Konfessionen, Nationen und Ständen zu vereinigen. Demgemäß strebten jene religiösen Denker nach einer neuen Form des Universalismus, für die sie die verschiedenen Bezeichnungen „Wahre Kirche“, „Zion“, das „Neue Jerusalem“ oder „Philadelphia“ wählten. All diese Namen deuten auf biblische Prophezeiungen hin, die vom Versammeln der Rechtgläubigen im Angesicht der Endzeit handeln.29 Im Folgenden werde ich zunächst die Korrespondenzen religiöser Reformer im Allgemeinen betrachten, bevor ich mich einem dieser nach der Unsichtbaren Geistkirche strebenden Sub-Netzwerke zuwende. Es handelt sich um jene Ge26 Vgl.

August Hermann Francke: „Niemand hat bis diese Stunde eine wahrhaffte Definition geben können / was denn der Pietismus sey / [...]“ (Francke, Antwort=Schreiben an einen Freund zu Regenspurg geschrieben den 25. Febr. 1706 [...], Halle 1707, gedruckt in: August Hermann Francke, Streitschriften, hg. von Erhard Peschke, Berlin, New York 1981, 217–230, hier 225–226). 27 Veronika Albrecht-Birkner, „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ – ein historiografischer Problemaufriss, in: Pietismus und Neuzeit 41 (2015), 126–153. 28 Joh. 2, 15–16. 29 Offb. 2; 3,1–13; Offb. 21.



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meinschaft, die der Idee von „Philadelphia“, einer endzeitlichen Gemeinschaft der brüderlichen Liebe, anhing. Die durch Europa und Nordamerika verstreuten Teilnehmer dieses Netzwerks setzten ihren Korrespondenzraum ein, um Gleichgesinnte in ihre Gemeinschaft zu integrieren und Fähigkeiten zu fördern, die für die anstehenden Arbeiten im Dienst der Unsichtbaren Kirche notwendig waren. Ebenfalls nutzten sie den durch Briefe dargebotenen diskursiven Raum, um Bücher, religiöse Grundsätze und ethische Probleme zu diskutieren – alles mit dem finalen Ziel, die Welt zu verbessern.30 Wie meine Fallstudie zu den Philadelphiern zeigen wird, wurden einige der für die Gelehrtenrepublik und die Aufklärung wichtigsten Themen und Praktiken bereits von religiösen Nonkonformisten aufgegriffen und vorweggenommen. II. Nonkonformistisch-protestantische Briefnetzwerke Im Jahr 1674 erwähnt Philipp Jakob Spener 50 unbeantwortete Briefe, die seiner Aufmerksamkeit bedürften.31 20 Jahre später war dieser Stapel auf 600 bis 700 Briefe angewachsen und Spener ging davon aus, gerade einmal jeden zwanzigsten beantworten zu können.32 Dabei war Briefeschreiben eine von Speners Haupttätigkeiten. Generell pflegten reformorientierte Protestanten über ein breites Spektrum theologischer Ansichten hinweg ausgedehnte, sich teils über­ lagernde und überschneidende Korrespondenzen. Zeitgenossen wandten sich auf der Suche nach Trost und Rat nicht nur an Spener, sondern ebenso an andere in den Kreisen Andersdenkender anerkannte Autoritäten, darunter August Hermann Francke, Johann Georg Gichtel und Antoinette Bourignon,33 womit nur drei der bekanntesten erwähnt seien. 30 Zur

Diskussionskultur in der Gelehrtenrepublik, vgl. Anne Goldgar, Impolite Learning. Conduct and Community in the Republic of Letters, 1680–1750, New Haven 1995. 31 Brief an Elias Veiel in Ulm, in: Philipp Jakob Spener, Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666– 1691, Bd. 1 (1666–1674), hg. von Johannes Wallmann, Tübingen 2003, 732–735, hier 732. 32 Johannes Wallmann, Vorrede, in: Spener, Briefe aus der Frankfurter Zeit (wie Anm. 31), X f. 33 Das „Francke Portal“ beinhaltet nahezu 2000 von Francke verfasste Briefe, die in Halle, Berlin und Gotha aufbewahrt werden, sowie 1000 weitere an Francke adressierte, die über zahlreiche Archive verstreut sind. http://digital.francke-halle.de/mod5. Ausgaben von Gichtels Korrespondenz erschienen 1700, 1701, 1708 und 1710, hinzu kommt eine undatierte Edition. Einige Ausgaben trugen den Titel Erbauliche Theosophia practica. In diesem Beitrag zitiere ich überwiegend aus der umfangreichsten Ausgabe von 1722, die 883 Briefe enthält: J. G. Gichtel, Theosophia practica: Halten und Kämpfen […], 7. Bd., [Leyden] 1722. Die Anordnung der Briefe folgt keiner Chronologie und es ist unklar, welches Ordnungsprinzip zugrunde liegt. Band 7 ist eine von einem seiner Anhänger verfasste Biographie Gichtels. Die Biographie enthält Zitate aus zusätzlichen Briefen und umfasst einen Anhang mit Schreiben von Gichtel an Johann Wilhelm Überfeld („Zugabe zum Lebens=Lauf“, 367–468). Ich zitiere ebenso aus der Ausgabe von 1710, da sie einige Informationen enthält, die in späteren

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Während die ältere Forschung diese „pietistischen“ Briefe zumeist als „Trost und Bekenntnis“ verstanden hat,34 haben aktuellere Arbeiten aufgedeckt, dass die zentralen Figuren weitaus umtriebiger waren: Als Mentoren und Infor­ma­­ tionsüberträger vernetzten sie Mitglieder und kommunizierten für die nonkonformistische Gemeinschaft relevante Neuigkeiten.35 Jene „Trost und Bekenntnis“These ist der Tendenz geschuldet, sich auf die Korrespondenz des ordinierten Klerus zu fokussieren; tatsächlich aber machten Laien – Kaufleute, Ärzte, Handwerker, Hausfrauen usw. – den Hauptteil der Akteure in diesen Reformnetzwerken aus. In der Tat haben Historiker die Korrespondenz Philipp Jakob Speners weitaus intensiver untersucht als andere Briefbestände und sie somit zu einem Ausgangspunkt für nahezu jede Studie gemacht, die sich mit religiösen Briefen dieser Ära beschäftigt.36 In seinen frühen Briefen, die er als Frankfurter Hauptpastor verfasst hat, beschäftigte sich Spener mit einer Generalreform von Kirche und Gesellschaft. Zu diesem Zweck beantwortete er gleichermaßen theologische und praktische Fragen. Beispielsweise wies Spener Freunde an, keine neuen christlichen Diskussionsgruppen ins Leben zu rufen und stattdessen auf private Briefwechsel zu bauen, um so die „Priesterschaft aller Gläubigen“ auszuleben. Dies mutet paradox an, denn für gewöhnlich gelten unter Historikern die „collegia pietatis“ als Speners bedeutendste Leistung.37 Auflagen entfernt wurden: Gichtel, Erbauliche Theosophische Send-Schreiben, Bethulia [fiktiv] 1710. Im Folgenden verwende ich für die Theosophische Send-Schreiben von 1710 das Kürzel „TS“ und für die Theosophia Practica von 1722 „TP“, jeweils mit Nennung der Bandnummer. Nach Bourignons Tod stellte Pierre Poiret eine neunzehnbändige Ausgabe ihrer Briefe zusammen und brachte sie über Wetsteins radikal-religiöse Druckerei in Amsterdam heraus: Toutes les Œuvres de Mlle. Antoinette Bourignon […], Amsterdam 1679. Mirjam de Baar, Het spiritueel leiderschap van Antoinette Bourignon (1616–1680), Zutphen 2004. 34 Sukeyoshi Shimbo, Die innerpietistische Säkularisation des Bekenntnisbriefes, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), 198–224. 35 Andreas Deppermann, „Laßet unß gute correspondentz unterhalten“ – Das Korrespondenznetz des Pietismus in Frankfurt am Main, in: Udo Sträter (Hg.), Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie, Bd. 1/2, Tübingen 2009, 437–444; Katja Lißmann, Der pietistische Brief als Bildungs- und Aneignungsprozess. Anna Magdalena von Wurm in ihren Briefen an August Hermann Francke (1692–94), in: Juliane Jacobi u. a. (Hg.), Vormoderne Bildungsgänge. Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Frühen Neuzeit, Köln 2010; Lucinda Martin, Pietistische Briefe als Mittel der Erziehung in radikal-pietistischen 'Philadelphischen' Kreisen um 1700, in: Anne Conrad, Alexander Maier (Hg.), Erziehung als Entfehlerung: Zum Zusammenhang von Weltanschauung, Bildung und Geschlecht in der Neuzeit, Bad Heilbrunn 2016. 36 Aus dem von Johannes Wallmann begonnenen und noch fortlaufenden Spener Editionsprojekt sind bereits zahlreiche Bände hervorgegangen. Ein Überblick findet sich unter: https:// www.saw-leipzig.de/de/projekte/edition-der-briefe-philipp-jakob-speners. 37 Siehe z. B. Spener an Gottlieb Spizel, Augsburg, Frankfurt am Main, 5. Mai 1671, in: Spener, Briefe aus der Frankfurter Zeit (wie Anm. 31), Bd. 1, 412.



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In nonkonformistischen Kreisen nahmen ‚Broker‘ wie Spener eine Ausnahmestellung ein, doch selbst so zentrale Persönlichkeiten sahen sich mitunter durch ihren brieflichen Austausch veranlasst, ihre Anschauungen zu überdenken. Zunächst lehnte Spener Konventikel ab, revidierte aber seine Ansicht. Zum einen reagierte er damit auf die Argumente seiner Briefpartner, zum anderen auf die tatsächlichen Verhältnisse, denn die Leute gründeten aus eigenem Antrieb neue Gesellschaften, ohne seinen Warnungen Beachtung zu schenken. Solche Debatten wurden auch publizistisch weitergeführt: Speners Freund Ahasver Fritsch publizierte zum Thema neuer christlicher Sozietäten, allerdings trugen Spener und Fritsch ihre Diskussion über Vor- und Nachteile der Konventikel hauptsächlich in ihrer Korrespondenz aus.38 Zeitnah ging Spener dazu über, auf die Bildung derartiger Gruppen zu drängen, ihre biblische Rechtfertigung zu erläutern und die Anhänger seiner Netzwerke in der korrekten Umsetzung der Praktiken zu unterrichten. Obgleich Druckschriften und persönliche Gespräche mit Sicherheit eine Rolle spielten, wurden Diskussionen über „Collegia“, Konventikel, christliche Gesellschaften und andere neuartige Formen religiöser Vergemeinschaftung zumeist in einem ‚epistolary space‘, einem Korrespondenzraum ausgetragen, der weit über Speners unmittelbare Einflusssphäre Frankfurt am Main hinausreichte. Tatsächlich war eines der Hauptziele, die Spener mittels des Briefeschreibens verfolgte, seine Korrespondenznetzwerke so auszudehnen, dass sie ihm bei seinen Vorhaben nützten. Deshalb regte er adelige Patroninnen an, eine „christliche Korrespondenz“ mit anderen Edelfrauen zu beginnen. Viele dieser adeligen Damen wurden später zu Spenderinnen für pietistische Projekte. Prinzessin Anna Sophia (Prinzessin von Dänemark, seit 1666 Kurfürstin von Sachsen) und ihre Schwester Prinzessin Wilhelmine Ernestine von der Pfalz erwarben Land und leisteten andere wichtige Beiträge zum Aufbau der Franckeschen Stiftungen in Halle.39 In der Tat stellt die Rolle, die Patronage in beiden Gemeinschaften spielte, eine weitere Parallele zwischen der Gelehrtenrepublik und den Korrespondenznetzwerken religiöser Reformer dar. Speners Briefpartner der 1670er Jahre halfen ihm in den folgenden Jahrzehnten dabei, seine Vorhaben praktisch umzusetzen. Sie installierten Pastoren an Höfen und in Kirchen sowie Theologen an Universitätsfakultäten, sorgten für die Veröffentlichung und Verbreitung von Büchern und stellten Mittel für eine ganze Reihe von Projekten bereit. Noch 38 Fritsch

war ein sehr produktiver Autor, der viel zu diesem Thema veröffentlichte. Für einen Überblick siehe: Ernst Anemüller, "Fritsch, Ahasver", in: Allgemeine Deutsche Biographie 8 (1878), 108 f. 39 Die Schwestern unterstützten ebenfalls sogenannte Radikale wie Friedrich Breckling und die Petersens. Lucinda Martin, Öffentlichkeit und Anonymität von Frauen im (Radikalen) Pietismus – Die Spendentätigkeit adliger Patroninnen, in: Wolfgang Breul, Lothar Vogel, Marcus Meier (Hg.), Der Radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung, Göttingen 2010, 385–402.

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bedeutsamer war Patronage für Führungspersönlichkeiten wie Johann Georg Gichtel und Antoinette Bourignon, die als Laien freilich keine Kontrolle über die Vergabe kirchlicher und universitärer Ämter ausüben konnten und gerade deshalb noch dringender auf Unterstützung angewiesen waren – nicht allein zur Finanzierung von Projekten, sondern zur Sicherung ihres Lebensunterhalts. Bedeutsam erscheint, dass sich die Protagonisten einer Unsichtbaren Geistkirche und die einer Gelehrtenrepublik häufig dieselben Wohltäter teilten. Prinzessin Elisabeth von der Pfalz beispielsweise unterstützte eine Vielzahl von Nonkonformisten, aber auch bedeutende Gelehrte. Auf Drängen des QuäkerFührers William Penn hatte sich Elisabeth bereit erklärt, im Pfälzischen eine Quäker-Kolonie für Religionsflüchtlinge aller Couleur zu errichten. Jedoch fand dieses Unternehmen keine Unterstützung seitens ihrer männlichen Verwandten, sodass Penn seine Kolonie andernorts gründen musste – in Pennsylvania.40 Zudem gewährte Elisabeth Johann Georg Gichtel, Friedrich Breckling, Antoinette Bourignon und Anna Maria van Schurman finanzielle Unterstützung. Elisabeth und Schurman gehörten beide zu den sehr wenigen Frauen, denen es vergönnt war, Universitätsvorlesungen zu besuchen.41 Als Schurman später zu einer Führungsfigur in der im Exil lebenden Religionsgemeinschaft der „Labadisten“ wurde, ersuchte sie ihre Freundin Elisabeth um Hilfe. Elisabeth war eine vielseitige Persönlichkeit; sie unterstütze nicht nur religiöse Nonkonformisten, sondern auch eine Reihe von Gelehrten. Sie war die Patronin Descartes‘, und ihr Briefwechsel mit dem Philosophen trug zum Entstehen mancher seiner Theorien bei.42 Elisabeths bedeutendste intellektuelle Freundschaften waren jene mit Schurman und Descartes, obwohl beide sich gegenseitig vehement ablehnten, weil Schurman ihre früheren Ansichten revidierte und die höhere Bildung im Allgemeinen missbilligte. Für Elisabeth waren Religion und Gelehrsamkeit dagegen zwei Seiten einer Medaille – unterschiedliche Weisen, die Schöpfung zu verstehen – und sie ließ daher beiden finanzielle Unterstützung zukommen. Das von Elisabeth, Schurman und Descartes gebildete Dreieck illustriert die Spannungen innerhalb der Unsichtbaren Geistkirche ebenso wie jene zwischen 40 Elisabeth

korrespondierte mit zahlreichen Quäkern, nicht zuletzt mit dem ihr verwandten Quäker-Apologeten Robert Barclay. Im Jahr 1677 bewegte sie ihren Cousin James – den Herzog von York – dazu, Barclay und andere Quäker aus der Haft zu entlassen und 1680 überzeugte sie ihn, allen Quäkern in Schottland Immunität zu erteilen. Lucinda Martin, Female Reformers as the Gate-Keepers of Pietism: The Example of Johanna Eleonora Merlau and William Penn, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 95/1 (2003), 33–58. 41 Der Theologe Gisbert Voetius gestattete Schurman Vorlesungen aus einer Art Gitterkäfig heraus zu verfolgen, der sie gegen männliche Studierende „abschirmte“. Aufgrund ihres Standes war es Elisabeth möglich, Vorlesungen in Leiden als eine Art „Gasthörerin“ beizuwohnen. 42 Princess Elisabeth of Bohemia and René Descartes. The Correspondence between Princess Elisabeth of Bohemia and René Descartes, hg. und übers. von Lisa Shapiro, Chicago 2007.



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dieser und der Gelehrtenrepublik. Schurman und Elisabeth erlangten einen sehr hohen Bildungsgrad, der es ihnen später ermöglichte, sich für die Sachen zu engagieren, an die sie glaubten, sei es Wissenschaft oder Religion. Aber in den meisten Fällen war die Wirksamkeit von Frauen in der Gelehrtenrepublik wesentlich begrenzter als in den Kreisen religiöser Reformer. Historiker, die sich mit der Gelehrtenrepublik beschäftigen, ordnen Schurman und Elisabeth zumeist im Kontext von Debatten über „femmes savantes“ ein, manchmal wurden sie auch in einem Atemzug mit „Wunderkindern“ genannt.43 In der Unsichtbaren Geistkirche sorgte die Aktivität von Frauen hingegen kaum für Konflikte, da die Mitwirkenden zu der Überzeugung gelangt waren, dass Frauen dieselbe spirituelle Begabung wie Männer besaßen. Tatsächlich hatten Frauen in reformerischen Kreisen Schlüsselrollen inne und wirkten häufig als Initiatorinnen verschiedener Aktivitäten, beispielsweise als Veranstalterinnen von Konventikeln. Anna Maria van Schurman – mit Sicherheit eine der gelehrtesten Frauen der Frühen Neuzeit – verfasste eine einflussreiche Dissertation, in der sie sich für Frauenbildung einsetzte,44 wenngleich sie später ihre Kenntnisse der Heiligen Schrift und der biblischen Sprachen nutzte, um gegen Bildung im Allgemeinen zu argumentieren. In ihrer gelehrten Eukleria erklärt sie ihre Entscheidung, der labadistischen Gemeinschaft beizutreten, und drängt die Gläubigen, ihr Vertrauen nicht in irdisches Wissen zu setzen.45 Nichtsdestoweniger avancierte sie aufgrund ihrer Gelehrsamkeit und ihrer Betätigung als religiöse Anführerin zum Vorbild für gebildete Frauen, die sich an intellektuellen und religiösen Debatten beteiligen wollten. Eine weitere Denkerin in den reformorientierten Netzwerken war die flämische Kirchenkritikerin Antoinette Bourignon. Im Exil lebend und von Ort zu Ort ziehend, unterhielt sie eine umfangreiche Korrespondenz mit Persönlichkeiten in ganz Europa, zu denen nicht nur die religiösen Dissidenten Christian Hoburg und Petrus Serrarius, sondern auch Gelehrte wie Jan Swammerdam zählten.46 Unterstützung erhielt Bourignon dabei vom preußischen Diplomaten 43

„La Repubblica delle lettere fu una societá essenzialmente maschile“ (Hans Bots, Françoise Waquet, La Repubblica delle lettere, Bologna 2005 [1997], 136–141, hier 136). 44 A. M. Schurman, Amica Dissertatio inter Annam Mariam Schurmanniam et Andr. Rivetum de capacitate ingenii muliebris ad scientias, Paris 1638. Französische Übersetzung: Question célèbre, s’il est nécessaire ou non que les filles soient scavantes?, Paris 1646. Englische Übersetzung: The Learned Maid, Or Whether a Maid May Be a Scholar?, Leiden 1639. 45 A. M. Schurman, Eukleria, seu melioris partis electio, Altona 1673; Amsterdam 1685. Zum Misstrauen religiöser Reformer gegenüber der Gelehrsamkeit siehe Wolfgang Martens, Hallescher Pietismus und Gelehrsamkeit oder vom „allzu großen Mißtrauen in die Wissenschaften“, in: Sebastian Neumeister, Conrad Wiedemann (Hg.), Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1987, 487–534; und W. Gordon Marigold, Der Hamburger Klerus gegen Ende des 17. Jahrhunderts: Gedanken zum Brauch und Mißbrauch der Gelehrsamkeit, in: ebd., 485–496. 46 In vielen Beiträgen wird Bourignons Korrespondenz mit Robert Boyle erwähnt. Dies

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Freiherr Dodo von Knyphausen, der ihr auf seinem Besitz in Ostfriesland Zuflucht bot.47 Wie Prinzessin Elisabeth von der Pfalz unterstützte Knyphausen verschiedenste Andersdenkende, ohne dass er seine Hilfe von bestimmten Ansichten abhängig machte. Bourignon glaubte, zur Vereinigung einer „wahren Kirche“ aus Gläubigen aller Konfessionen berufen zu sein. Allerdings erlangte auch diese „wahre Kirche“ nie eine institutionalisierte Form, sondern existierte einzig als Briefnetzwerk. Viele der brieflich ausgetragenen Diskussionen der Unsichtbaren Geistkirche fokussierten sich, analog zur Gelehrtenrepublik, auf Veröffentlichungen – Gegenstand waren Debatten, die durch die neueste Literatur ausgelöst wurden, und die Planung von Büchern. Religiöse Reformer etablierten für diese Zwecke ebenfalls Periodika, allerdings blieb der briefliche Austausch von zentraler Wichtigkeit.48 Einige Führungsfiguren wie Gottfried Arnold, Friedrich Breckling oder Johann Wilhelm Petersen waren hochgebildet und sahen sich selbst als Träger einer Tradition christlich-humanistischer Tätigkeit. In ihren Briefen und Publikationen beriefen sie sich neben ihrer Kenntnis der biblischen Sprachen auf interpretative Traditionen und ebenso auf säkulare Geschichte. Obgleich etliche der Teilnehmer ein Theologiestudium absolviert hatten, ‚studierten‘ viele andere auf informellen Wegen. Zu nennen sind hier zahlreiche Frauen von Adel, die durch Privatunterricht ein beeindruckendes Maß an Bildung erlangt hatten. Für sie boten die Korrespondenznetzwerke ein Forum zum intellektuellen Austausch. Status basierte in nonkonformistischen Zirkeln mehr auf Belesenheit (und Inspiration) als auf Universitätsabschlüssen. Führungspersonen in den Netzwerken religiöser Reformer unterrichteten andere in dem (ihrer Meinung nach) rechten Glauben und in der korrekten Lebenspraxis. Sie betrachteten die Instruktion nicht als eine Innovation, sondern beruht wahrscheinlich auf einer falschen Zuschreibung bestimmter Briefe an Bourginon, die lediglich mit „R. B.“ unterzeichnet wurden. Die Adresse der Briefe ist auch eine, die nie mit Boyle in Verbindung gebracht wurde. Ich danke Michael Hunter für diesen Hinweis. Viel wurde über Pierre Bayles Kritik an Bourignon geschrieben. Siehe dazu den folgenden, weitere Quellen einschließenden Beitrag: Mirjam de Baar, Conflicting Discourses on Female Dissent in the Early Modern Period: The Case of Antoinette Bourignon (1616–1680), in: L’Atelier du Centre de recherches historiques: Revue électronique du CRH 04/2009: https://acrh.revues.org/1399. 47 Markus Matthias, „Preußisches“ Beamtentum mit radikalpietistischer „Privatreligion“: Dodo II. von Innhausen und Knyphausen (1641–1698), in: Breul, Meier, Vogel (Hg.), Der radikale Pietismus (wie Anm. 39), 189–210. 48 Zur Nutzung der Medien durch Nonkonformisten und deren Beitrag zur Gelehrtenkommunikation siehe Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung, Göttingen 1997. Hier die prominentesten Zeitschriften von religiösen Reformern: Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes (unter wechselnden Titeln), Frankfurt, Leipzig 1730–1760; Geistliche Fama: mittheilend einige neuere Nachrichten von göttlichen Erweckungen, Wegen, Führungen und Gerichten, Sarden, Philadelphia [i. e. Berleberg] 1733–1744; Theosophical Transactions of the Philadelphian Society […] for the Advancement of Piety and Divine Philosophy, London 1697.



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als eine Ausbreitung der protestantischen Lehre von der „Priesterschaft aller Gläubigen“.49 Ihr Vorbild waren die ersten Christen: Hatte nicht zuletzt Paulus mit frühen christlichen Gemeinden über Episteln kommuniziert? Folglich verstanden Reformer private, gegenseitige Erbauung nicht nur als das Recht eines Christen, sondern als Notwendigkeit zur Umgestaltung von Kirche und Gesellschaft.50 Besonders bedeutsam waren die Korrespondenznetzwerke zudem für die in ländlichen Gebieten lebenden Anhänger, da sie ihnen die Möglichkeit eröffneten, über ‚einsame‘ Aktivitäten wie Lesen, Beten oder Tagebuchschreiben hinauszugehen und sich mit anderen Reformgesinnten auszutauschen. Darüber hinaus konnten Nonkonformisten in ihren Briefen traditionelle Hierarchien unterlaufen. Es war ihnen beispielsweise möglich, einen örtlichen Pastor zu umgehen, der nicht mit ihren Ansichten sympathisierte. Ebenfalls konnten sich Frauen beteiligen, ohne die Anstandsregeln zu verletzen, durch die sie in ihrem öffentlichen Handeln eingeschränkt waren. Soziale Hierarchien verschwanden nicht, wurden aber eingeebnet: Stadtbewohner und Dörfler konnten ebenso wie Reiche und Arme teilnehmen, ungeachtet des jeweiligen Standes. Derartige Verletzungen traditioneller Hierarchien führten wiederholt zu Konflikten mit den Behörden.51 Nach Ansicht religiöser Nonkonformisten hatte Christus keine „weltlichen“ Unterschiede wahrgenommen.52 Sie gingen so weit zu behaupten, dass die Lehre vom „Priestertum aller Gläubigen“ ihnen das Unterlaufen von traditionellen Hierarchien abverlange. Des Weiteren argumentierten sie, dass ihre Briefwechsel privat und somit ungefährlich seien.53 Wie ‚privat‘ diese Briefe tatsächlich waren, erscheint indes fraglich. Oft wurden Briefe vervielfältigt und zirkulier49 Luther

und andere verwiesen insbesondere auf 1 Petr. 2, 5–9, um das durch Laien zu praktizierende „thätige Christenthum“ zu rechtfertigen. 50 Markus Matthias, „Mutua Consolatio Sororum: Die Briefe Johanna Eleonora von Merlaus an die Herzogin Sophie Elisabeth von Sachsen-Zeitz, in: Pietismus und Neuzeit 22 (1996), 69–102, hier 73. 51 Als Amtsträger in Leipzig Anklage gegen August Hermann Francke erhoben, befragten sie ihn, ob er einen Leinenweber als „Bruder in Christus“ bezeichnet habe und eine Korrespondenz mit dem Mann führe. Franckes Freundschaft und Briefwechsel mit der frommen Spitzenwäscherin Catherina Mey sorgte für noch mehr Stirnrunzeln. Siehe Leube, Orthodoxie und Pietismus (wie Anm. 22), 254. 52 Oft zitierten sie Passagen wie Gal. 3, 28: „Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christo Jesu“. 53 Johann Wilhelm Petersen reizte die Grenzen dieser Unterscheidung aus, indem er einen ‚privaten‘ Brief drucken und verbreiten ließ. Er argumentierte, dass sein Schreiben – obwohl es gedruckt war – für einen ausgewählten Freundeskreis bestimmt sei, was die Behörden jedoch nicht überzeugte. Johann Wilhelm Petersen. Send-Schreiben An einige Theologos und GOttesGelehrte / Betreffend die FRAGE Ob Gott nach der Auffahrt Christi […] sich offenbahren wolle […] Sampt einer erzehlten SPECIE FACTI Von einem Adelichen Fräulein […], o. O. 1691.

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ten in der reformwilligen Gemeinschaft, manchmal las man sie auf Zusammenkünften öffentlich vor. Da diese Briefe über private Netzwerke – oftmals die Verteilerkreise ‚radikaler‘ Buchhändler und Kaufleute – transportiert wurden, war es möglich, sie der Zensur vorzuenthalten. Deshalb äußerten sich Korrespondenten in Briefen häufig kühner als in gedruckten Veröffentlichungen. Die Mehrzahl derer, die in den Netzwerken religiöser Nonkonformisten aktiv waren, eignete sich die Wertvorstellungen der Gruppe in erster Linie über Briefe an. Korrespondenzen halfen die Gemeinschaften zu verbinden und den einzelnen Mitgliedern eine (gruppenbezogenene) Identität zu entwickeln. Den in diesen Korrespondenznetzwerken mitwirkenden Personen war bewusst, dass sie sich durch das Verfassen von Briefen in die Gemeinschaft der „Kinder Gottes“ einschrieben.54 III. Philadelphia im Exil Für gewöhnlich verbindet man „Philadelphia“ mit dem von London aus agierenden Zirkel um die prophetische Autorin Jane Leade.55 Diese Gruppe hat ihre Wurzeln in älteren theosophischen Lesekreisen, die 1702 auf Betreiben der in Oxford ausgebildeten Theologen Francis Lee und Richard Roach den Entschluss fassten, ihrem Unternehmen eine formelle Struktur zu geben: Sie nannten sich fortan die „Philadelphian Society“.56 Die Vorstellung von „Philadelphia“ geht auf eine Bibelauslegung zurück, welcher zufolge die sieben Kirchen im Buch der Offenbarung ihre Entsprechung in sieben Zeitaltern der Heils- und Weltgeschichte finden.57 Viele religiöse Nonkonformisten gelangten zu der Ansicht, dass sie im vorletzten Zeitalter der ‚sardischen Kirche‘, einer Periode der Kriege und der Korruption, lebten. Sie betrachteten es als ihre Aufgabe, bei der Herbeiführung des Zeitalters „Philadelphias“ zu helfen, einem Zeitalter, in dem sich die Rechtgläubigen der verschiedenen Nationen in einer Gemeinschaft der brüderlichen Liebe vereinigen würden. Innerhalb der Unsichtbaren Geistkirche konkurrierte eine Anzahl von Geschichtsentwürfen und biblischen Interpretationen miteinander. Als in den 54 Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.–19. Jahrhundert, Göttingen 2005, 123. Lißmann, Der pietistische Brief (wie Anm. 35), 68; Martin, Pietistische Briefe (wie Anm. 35). 55 Unter Wissenschaftlern herrscht Uneinigkeit bezüglich der Schreibweise ihres Namens und sie selbst scheint verschiedene Varianten genutzt zu haben. Ich übernehme die Schreibweise, die auf den Titelseiten ihrer Veröffentlichungen auftaucht: „Leade“. 56 Donald F. Durnbaugh, Jane Ward Lead (1624–1704) and the Philadelphians, in: Lindberg, The Pietist Theologians (wie Anm. 25), 128–147; Ariel Hessayon (Hg.), Jane Lead and her Transnational Legacy, New York 2016. 57 Offb. 2; 3, 1–13.



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1690er Jahren Übersetzungen der Texte Jane Leads den deutschen Buchmarkt überschwemmten und bei der Leserschaft einen tiefen Eindruck hinterließen, konnte sich das „philadelphische“ Konzept gegenüber anderen Vorstellungen behaupten.58 Forscher haben jedoch bisher kaum zur Kenntnis genommen, dass einige Reformer bereits fünfzig Jahre zuvor versucht hatten, eine philadelphische Endzeitgemeinde zu errichten. Ihre Inspiration zogen sie ebenso wie der Leade-Zirkel aus den Schriften des Görlitzer Philosophen und Mystikers Jacob Böhme.59 Böhme unterstrich das gemeinsame spirituelle Erbe aller Menschen, egal ob sie christlich, jüdisch, muslimisch oder „heidnisch“ waren. Obwohl er NichtChristen als „blind“ ansah, galten sie dennoch als Teil des göttlichen Plans, den Böhme in der Sequenz „ein Ieder wurd nach seiner Krafft glorificirtt“ fasst.60 Die Entdeckung der „Neuen Welt“ führte bei Böhme zu der Einsicht, dass die „Menschen einer fernen Insul“ das „Licht Christi“ in sich tragen müssten, selbst wenn sie kein direktes Wissen über die Heilige Schrift besaßen.61 In Böhmes Denken war Gott der Natur inhärent, und Erkenntnis Gottes konnte einerseits über Naturphilosophie, andererseits durch das Studium der Bibel erlangt werden. Frei von modernen Disziplingrenzen konzipierte er Theorien, die religiöses Wissen und die Kenntnis der natürlichen Welt vereinten. Folglich versuchten Böhmes Anhänger, das Universum zu verstehen, indem sie Alchemie, Astronomie und Mathematik mit Methoden biblischer Exegese verbanden. Böhme hatte vom Anbruch eines neuen Zeitalters geschrieben, ohne es dezidiert als „Philadelphia“ zu bezeichnen, aber bereits eine Generation nach seinem Tod verknüpften Teile seiner deutschen Leserschaft diese Ideen mit Böhme und trachteten danach, „philadelphische“ Gemeinschaften aufzubauen. Abraham 58 Hans Schneider hat wiederholt die Bedeutung philadelphischen Denkens für radikale Reformer in den deutschen Territorien herausgestellt. Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 6), 112–115. 59 Bis vor kurzem hat die deutsche Wissenschaft (vor allem die konfessionelle Kirchengeschichte) Böhme trotz seines überragenden kulturellen Einflusses als Randfigur behandelt. Im vergangenen Jahrzehnt erlebte die deutsche wie auch die internationale Forschung zu Böhme und seiner Rezeption einen enormen Aufschwung. Es wurden große Tagungen abgehalten, aus denen Publikationen hervorgegangen sind. Am wichtigsten dazu: Ariel Hessayon, Sarah Apetrei (Hg.), An Introduction to Jacob Boehme: Four Centuries of Thought and Reception, New York 2013; und Friedrich Vollhardt, Wilhelm Kühlmann (Hg.), Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2012. Auch die zurzeit in Vorbereitung befindliche Ausstellung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zum Denken Böhmes ist Ausdruck dieses neuen Interesses. Böhme selbst schrieb seinen Namen „Jacob Böhme“, einige Historiker hingegen verwenden für seinen Vornamen die Schreibweise „Jakob“. 60 Jacob Böhme, Aurora (Morgen Röte im auffgang, 1612). With a translation, introduction, and commentary by Andrew Weeks, and Fundamental Report (Gründlicher Bericht, Mysterium Pansophicum, 1620), hg. von Günter Bonheim, Leiden, Boston 2013, 102 f. Ich habe Böhmes Schreibweise beibehalten. 61 Vgl. Böhme, Aurora (wie Anm. 60), 84–86, 88, 98, 130.

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von Franckenberg, Freund und Biograph Böhmes, verweist auf theosophische, „philadelphische“ Lesezirkel und der Chiliast Paul Felgenhauer (1593 – ca. 1677) scharte nahe Bremen in den 1640 und 1650er Jahren eine „philadelphische“ Gemeinde um sich.62 Zwar teilten die durch Böhme inspirierten Reformer des späten 17. Jahrhunderts keine übereinstimmenden Vorstellungen darüber, was „Philadelphia“ sei oder wie es aussehen sollte, wirkten aber eine Zeit lang auf das gemeinsame Ziel hin, die „Kinder Gottes“ in einer hauptsächlich durch Briefe zusammengehaltenen Unsichtbaren Geistkirche zu versammeln. Lange bevor Jane Leade und die London „Philadelphian Society“ in den 1690er Jahren mit ihrer ausdrücklich auf das Überschreiten nationaler, konfessioneller und sozialer Grenzen hin ausgerichteten Theologie die Bühne betraten, überwanden die Briefnetzwerke religiöser Reformbewegungen bereits jene Schranken, die Nationen und Konfessionen voneinander trennten. Ein Grund, weshalb Briefe eine so entscheidende Rolle in den Netzwerken religiöser Dissidenten spielten, war der Umstand, dass viele der Akteure im Exil lebten.63 Tatsächlich beförderte die Exilsituation sogar die Vorstellung von einer Unsichtbaren Geistkirche und half diese umzusetzen.64 Religionsflüchtlinge unterschiedlicher Konfessionen und Nationalitäten versammelten sich an Zufluchtsorten. Amsterdam und Altona wuchsen aufgrund ihrer liberalen Religionspolitik rasch zu den wichtigsten Zentren für die Wiederansiedelung von deutschsprachigen Glaubensflüchtlingen. Bedeutende Publikationsorte wie Frankfurt, Leipzig und London dienten ebenso als Knotenpunkte für Reformbewegungen, jedoch entstammte die einflussreichste Literatur zumeist den Druckpressen, die man zum Dienste der Exilgemeinde im dänischen Altona oder in den Niederlanden, insbesondere in Amsterdam, eingerichtet hatte.65 Wichtige Vermittler in den Niederlanden ermöglichten die Verbreitung von Büchern und Briefen und boten neuen Flüchtlingen ein Refugium. Viele aus den deutschen Gebieten Vertriebene fanden zeitweise Zuflucht bei Friedrich Breckling, einem im Exil lebenden ehemaligen lutherischen Pastor, der hauptsächlich durch Jacob Böhme und Joachim Betke beeinflusst wurde und Listen 62 Vgl.

Hans-Jürgen Schrader, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ ,Historie der Wiedergebohrnen‘ und ihr geschichtlicher Kontext, Göttingen 1989, 375 f. 63 Vgl. Martin Mulsow, Exil, Kulturkontakt und Ideenmigration in der Frühen Neuzeit, in: Herbert Jaumann (Hg.), Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, Berlin 2011, 441–464. 64 Vgl. Anne Goldgar, Singing in a Strange Land: The Republic of Letters and the Mentalité of Exile, in: Herbert Jaumann (Hg.), Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter des Konfessionalismus, Wiesbaden 2001, 105–125, Mulsow, Exil, Kulturkontakt und Ideenmigration (wie Anm. 63). 65 W. Heijting, Hendrick Beets (1625?–1708), publisher to the German adherents of Jacob Bohme in Amsterdam, in: Quaerendo 3 (1973), 250–280.



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der so bezeichneten „Zeugen der Wahrheit“ aufstellte, die er überall in der Geschichte und in allen Konfessionen aufzuspüren versuchte. Später dienten diese Listen Gottfried Arnold als Ausgangspunkt für seine Unparteyische Kirchengeschichte.66 Die traumatische Erfahrung, ausgewiesen worden zu sein, überzeugte Breckling, dass die Zeit Philadelphias / Zions / des Neuen Jerusalems anbräche. Da es ihm nicht länger möglich war, seinen Lebensunterhalt als Pastor zu verdienen, schlug er sich als Übersetzer und Kopist durch, fand dann aber bald seine Berufung: Die Mitwirkung beim Aufbau der Unsichtbaren Geistkirche. Breckling trug eine äußerst umfangreiche Bibliothek aus Büchern und Manuskripten zusammen – die zu einem begehrten Reiseziel frommer Besucher wurde – und verteilte Kopien derartiger Handschriften in radikalen Kreisen, wodurch er sich den Titel „Bibliothekar Gottes“ verdiente.67 Solcherart half Breckling, die Texte Jane Leades zu verbreiten und die Autorin in seinen Netzwerken bekannt zu machen. Zudem beherbergte er zahlreiche Deutsche auf deren Reisen nach London, wo sie sich mit Jane Leade und ihrer Philadelphian Society vertraut machen wollten. Als bedeutendster Beitrag Brecklings ist anzusehen, dass er Leade mit Freiherr Dodo von Knyphausen vernetzte, dem hohen preußischen Staatsbeamten, der sich zum wichtigsten Patron der Londoner Gruppe entwickelte.68 In den frühen 1690er Jahren fanden Breckling und andere Gleichgesinnte, welche ebenfalls die Unsichtbare Geistkirche vereinen wollten, Gefallen an der Vorstellung „Philadelphias“, aber Differenzen, besonders im Hinblick auf die Ansichten Leades, veranlassten viele von ihnen, diese Bezeichnung nicht weiter zu verwenden. Im Jahr 1697 war Breckling Lead gegenüber schließlich desillu­ sioniert und schrieb, dass die deutschen Anhänger von Leades Gruppe betrogen worden seien, „weil sie nun in Deutschland die Subtielheit dieser falschen Geister und Christussen mit ihrer falschen Philadelphia nicht kennen“.69 Im folgenden Jahr verkündete er, dass „die rechte Philadelphische Gemeinte“ in der 66 Guido

Naschert, Breckling als Netzwerker des protestantischen Nonkonformismus, in: Brigitte Klosterberg, G. N. (Hg.), Friedrich Breckling (1629–1711). Prediger, ‚Wahrheitszeuge‘ und Vermittler des Pietismus im Niederländischen Exil, Halle 2011, 3–18; siehe auch Guido Naschert, „Zur Rettung derer bißher unter dem Nahmen des Vnkrauts unschuldig verfolgeten Kinder Gottes“: Friedrich Brecklings Rettungen von ‚Wahrheitszeugen‘ im Kontext von Toleranzdiskurs und Ketzergeschichte, in: Michael Multhammer (Hg.), Verteidigung als Angriff. Apologie und Vindicatio als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs, Berlin, Boston 2015, 95–120. 67 Breckling vermachte seine Bibliothek den Franckeschen Stiftungen in Halle. 68 Theodor Wotschke, Der Philadelphier Johann Dithmar in Neuwied, in: Monatshefte für Rheinische Kirchengeschichte 28/2 (1934), 33–57, hier 33 f. Wotschke bindet umfangreiche Zitate aus der philadelphischen Korrespondenz ein, allerdings enthalten seine Transkriptionen zahlreiche Fehler und Eingriffe. 69 FB Gotha Chart A 297, 415b; vgl. FB Gotha Chart B 195, 207–242 (02. 09. 1697 an August Hermann Francke).

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Fürsorge für Schwache und Arme bestehe. Dadurch war es Breckling möglich, Martin Luther selbst als einen „Philadelphier“ zu bezeichnen.70 Eine der Personen, die Breckling zunächst ebenfalls unterstützte, mit der er sich aber später überwarf, war der gleichfalls im Exil lebende Johann Georg Gichtel, ein weiterer begeisterter Böhmist, der wie viele andere die Rechtgläubigen in einer Unsichtbaren Geistkirche zu vereinen suchte. Zu Erreichung dieses Ziels versammelte Gichtel eine Gruppe frommer Gelehrter in einer Hausgemeinschaft in Amsterdam. Seine sogenannten „Engelsbrüder“ verpflichteten sich dem Zölibat und widmeten ihr Leben der Arbeit und dem Gebet.71 Obwohl der Familienmensch Böhme nie das Zölibat oder die Bildung neuartiger Gemeinschaften befürwortet hatte, folgten auch andere Böhme-Inspirierte Gruppierungen mit ähnlichen Vorhaben. Diese neuen protestantisch-monastischen Bewegungen erreichten ihren Höhepunkt in William Penns religiösem Freistaat Pennsylvania mit dem sogenannten Ephrata Cloister, das überwiegend aus deutschen Glaubensflüchtlingen bestand.72 Die von Gichtel angeführte Amsterdamer Gruppe verschrieb sich der Edition und Herausgabe von Böhmes gesammelten theosophischen Werken – ein monumentales Vorhaben.73 Vor dem Erscheinen von Gichtels Böhme-Ausgabe im Jahr 1682 wurden einzelne Texte veröffentlicht, aber diese Bücher waren für gewöhnlich in den deutschsprachigen Territorien zensiert. Diese Drucke und handschriftliche Kopien derselben erreichten viele deutsche Leser über klandestine Netzwerke.74 Auch Gichtel leitete ein großes Briefnetzwerk aus Anhängern, die ihm schrieben, um seine Expertise in theologischen Angelegenheiten einzuholen.75 Gichtel stützte sein Denken hauptsächlich auf Böhme, aber er plädierte auch für viele 70 FB

Gotha Chart B 195, 8–10 (27. 09. 1698, an August Hermann Francke). Gichtels Lebenszeit befand sich die Struktur der Gruppe im Fluss. Nach Gichtels Tod übernahm sein Gefährte Johann Wilhelm Überfeld die Führung und etablierte eine feste Gemeinschaft, eine Art religiösen Orden, dessen Niederlassungen sich von Dänermark bis in die Schweiz erstreckten. Die Gemeinschaft strebte nach der Reinheit der Engel (Mt. 22, 30). 72 Einen Überblick über diese Gemeinschaften bietet: Lucinda Martin, Jacob Boehme and the Anthropology of German Pietism, in: Hessayon, Apetrei (Hg.), An Introduction to Jacob Boehme (wie Anm. 59), 131–134. Zur Ephrata-Gemeinschaft siehe: Jeff Bach, Voices of the Turtledoves. The Sacred World of Ephrata, Philadelphia, Göttingen 2003. 73 Des Gottseeligen Hoch-Erleuchteten Jacob Böhmens Teutonici Philosophi Alle Theosophische Wercke, Amsterdam, 1682–1683. 74 Zur komplexen Verbreitungs- und Überlieferungsgeschichte siehe: Frank van Lamoen, Spread­ i ng the word. The earliest editions of Jacob Böhme: http://www.ritmanlibrary.com/ collection/mysticism/spreading-the-word-the-earliest-editions-of-jacob-bohme. Siehe ebenfalls: The­o­dor Harmsen (Hg.), Jacob Böhmes Weg in die Welt, Amsterdam 2007. 75 Vgl. Gertraud Zaepernick, Johann Georg Gichtels und seiner Nachfolger Briefwechsel mit den hallischen Pietisten, besonders mit A. M. Francke, in: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), 74–118. 71 Während



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Ansichten, die denen des Görlitzer Theosophen fern waren. Böhme brachte Martin Luther größte Wertschätzung entgegen und gehörte zeitlebens der lutherischen Kirche an. Zugleich bekämpfte er „Sekten“ (Konfessionen), da er die Vorstellung von einem universellen spirituellen Vermächtnis hegte. Auch Gichtel schwebte eine suprakonfessionelle Form des Christentums vor, jedoch war er überzeugt, dass diese durch „Auserwählte“, zu denen er sich selbst zählte, herbeigeführt werden müsse. Damit weicht Gichtel deutlich von den Ansichten Böhmes und der meisten Reformer ab, die sich, durchaus demokratisch gedacht, als „Brüder und Schwestern in Christus“ betrachteten.76 Wie Breckling kopierten, druckten und verteilten auch Gichtel und seine Männer radikale Literatur, und sowohl Breckling als auch Gichtel spielten Schlüsselrollen in einem internationalen klandestinen Postsystem, dessen sich die religiösen Nonkonformisten bedienten. Die offizielle Post war nicht nur recht unzuverlässig und für Diebstähle oder Unglücke anfällig, sondern zudem den Zensoren ausgeliefert.77 So bemerkte der als Übersetzter der Philadephian Society fungierende Loth Fischer, dass manche Briefe offensichtlich von den Gegnern der Philadelphier „aufgefangen“ wurden78 – dies ist einer der Gründe, weshalb die Korrespondenten oft Tarnnamen benutzten.79 Die Behausungen der Verteiler wie Breckling und Gichtel dienten in diesem Schattenpostsystem als Poststellen; Buchhändler und Kaufleute transportierten die Briefe. Viele der im Buchhandel Tätigen agierten nicht nur selbst in nonkonformistischen Kreisen, sondern waren auf das Einkommen angewiesen, welches sie mit dem Verkauf ‚radikaler‘ Literatur verdienten. Jane Leades Philadelphian Society war in der Lage, an die bereits bestehenden Geflechte aus Verlegern, Vertreibern und Händlern von Untergrundliteratur anzuknüpfen, die schon lange vor den 1690er Jahren existiert hatten. Im Zentrum dieses Netzwerkes stand lange Zeit der Amsterdamer Verleger Heinrich Betke, ein ‚Adoptivsohn‘ des mystisch-pazifistischen Authors Joachim Betke – seinerseits Anhänger Böhmes.80 Teil dieser klandestinen Organisation waren ebenfalls der Frankfurter Advokat und Buchvertreiber Johann Jakob Schütz und der in Rotterdam lebende Quäker-Kaufmann Benjamin Furly.81 Diese Männer 76 Deshalb

begannen die Briefe der Reformer typischerweise mit Grußformeln wie „Bruder in Christo!“ 77 Wolfgang Behringer, Thurn und Taxis: Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen. München, Zürich 1990. 78 FB Gotha Chart A 297, 105. 79 Oft nutzten sie die Namen biblischer Vorbilder. 80 Das Haus von Joachim Betke in Linum war auch Zufluchtsort für deutsche Glaubensflüchtlinge wie Friedrich Breckling und Christian Hoburg. 81 Zu Schütz und Betke siehe: Andreas Deppermann, Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 2002, 341–349. Zu Furly und seinen Netzwerken siehe Sarah Hutton (Hg.), Benjamin Furly 1646–1714: A Quaker Merchant and his Milieu, Firenze 2007.

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kümmerten sich um Verkauf und Vertrieb spiritualistischer Literatur, beherbergten Nonkonformisten auf Reisen und stellten deren Briefe zu. Aus diesem Netzwerk heraus gelang es dem Böhme-Verehrer Loth Fischer, eine internationale Karriere zu starten. Der Notar und Schulmeister aus Nürnberg nahm an Jacob-Böhme-Lesezirkeln teil, und in den 1670er Jahren begann er mit dem Verkauf und der Verbreitung ‚radikaler‘ Literatur, die in den Niederlanden veröffentlicht und über Frankfurt eingeschleust wurde. Er verbreitete die verbotenen Bücher überall in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz, aber seine nonkonformistischen Betätigungen blieben nicht ohne Konsequenzen: 1680 wurde Fischer von den Behörden aus Nürnberg ausgewiesen. Rasch fand er Zuflucht bei Johann Georg Gichtel in Amsterdam82 und eine Zeit lang arbeitete der sprachkundige Fischer als Übersetzer und Kurier für den zurückgezogen lebenden Gichtel. Im Auftrag von Gichtel verbreitete Fischer Briefe und ‚radikale‘ Literatur zwischen Leiden, Rotterdam, Utrecht, Amsterdam, Frankfurt, Nürnberg, Zürich und London. Als Freiherr Dodo von Knyphausen anbot, Jane Leades Schriften in deutscher Sprache zu publizieren, engagierte Gichtel Fischer als Übersetzer. Kurz darauf überwarfen sich Gichtel und Fischer, weshalb der letztere sich Leades Gruppe in London anschloss. Bald beförderte Fischer nicht bloß Briefe und Traktate für die Philadelphier, sondern übersetzte diese auch. In den Verhandlungen zwischen Leade und Deutschen, die an der Vereinigung einer philadelphischen Gemeinschaft interessiert waren, spielte er als Übersetzer eine Schlüsselrole. Er prägte im Wesentlichen das deutsche philadelphische Vokabular und leistete einen großen Beitrag zum Soziolekt des deutschen Pietismus, der sogenannten „Sprache von Kanaan“, welche große Spuren in der deutschsprachigen Literatur hinterlassen sollte.83 All dies machte Loth Fischer zum idealen Repräsentanten der Philadelphian Society. Er besaß nicht nur die notwendigen linguistischen Fähigkeiten, um Jane Leades Schriften in eine den deutschen Nonkonformisten verständliche sprachliche Form zu bringen, sondern war auch mit allen wichtigen Figuren der nonkonformistischen Kreise zwischen England und der Schweiz bekannt. Um das Projekt der Philadelphier – ein Bündnis der „Kinder Gottes“ – zu befördern, war es Fischer möglich, auf seine alten klandestinen Netzwerke zurückzugreifen, in denen spiritualistische Literatur veröffentlicht, vertrieben und ge82 Fischer

war mit einem von Gichtels engsten Mitstreitern, Johann Gottfried Pronner, verwandt. Vgl. Zaepernick, Johann Georg Gichtels und seiner Nachfolger Briefwechsel (wie Anm. 75), 115. 83 Lucinda Martin, The ‚Language of Canaan‘: Pietism’s Esoteric Sociolect, in: Aries. Journal for the Study of Western Esotericism 12 (2012), 237–253; Hans-Jürgen Schrader, „Die Sprache Canaan“. Pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung, in: Martin Brecht u. a. (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004, 404–429.



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lesen wurde.84 In diesem Milieu verkaufte Fischer Subskriptionen, um dadurch Leades Gruppe zu unterstützen. Im Gegenzug erhielten die Besteller Literatur, wurden regelmäßig über Neuigkeiten unterrichtet und bekamen mitunter einen wertvollen, von Jane Leade selbst verfassten Brief übersandt. Unter Besinnung auf die Botschaft des Universalismus wurde ein System ausgearbeitet, in dem sich die Höhe der zu zahlenden Beiträge nach den jeweiligen finanziellen Mitteln der Subskribenten des Untergrundnetzwerkes richtete. Dadurch wurden die Texte Leades und Böhmes allen, sogar den Ärmsten, zugänglich gemacht (ob sie deren komplexe Inhalte verstehen konnten oder nicht). Dieses Distributions­ system wies noch eine weitere soziale Komponente auf: Weil Fischer aus Nürnberg ausgewiesen worden war und daher als ‚verfolgt‘ galt, diente ein Teil der Erlöse aus diesen Verkäufen zur Finanzierung seines Lebensunterhalts. IV. Philadelphische Korrespondenznetzwerke als Diskursive Räume Die Funktionen religiöser Briefnetzwerke beschränkten sich nicht auf die Vernetzung der Reformer und die Weitergabe ihrer Texte, sondern eröffneten gleichermaßen pädagogische und diskursive Räume, in denen die Anleitung von Novizen erfolgte und in denen nach einem Konsens über Lehrsätze gesucht wurde. Diese Funktionen treten vielleicht nirgends so deutlich hervor wie in der Korrespondenz Johanna Eleonora Merlaus, die als Suchende Zutritt zu diesen Briefnetzwerken erhielt und sich schließlich zu einer bedeutenden Anführerin in reformerischen Zirkeln entwickelte. Sie und ihr Ehemann, Johann Wilhelm Petersen, wurden zu den wichtigsten Fürsprechern philadelphischen Denkens auf dem Kontinent.85 Merlaus erster wichtiger spiritueller Briefpartner war der bereits erwähnte Johann Jakob Schütz. Wenngleich er 1690, also zwölf Jahre vor der offiziellen Gründung der Londoner Philadelphian Society starb, war er dennoch maßgeblich für die Beförderung eines philadelphischen Kirchenideals in nonkonformistischen Kreisen.86 Historiker haben Schütz zumeist als den ‚Helfer‘ Philipp Jakob Speners in Frankfurt betrachtet, wohingegen viele Zeitgenossen die Bedeutung des Erstgenannten hervorhoben, indem sie die dortigen religiösen Non84 Kaspar

Bütikofer, Der frühe Zürcher Pietismus (1689–1721). Der soziale Hintergrund und die Denk- und Lebenswelten im Spiegel der Bibliothek Johann Heinrich Lochers (1648–1718), Göttingen 2009, 398 ff. 85 Ruth Albrecht, Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus, Göttingen 2005; Markus Matthias, Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692, Göttingen 1993. 86 Andreas Deppermann hat auf die Wichtigkeit von Schütz’ Schriften hingewiesen, in denen er die Trennung von der Staatskirche zugunsten eines „philadelphischen“ Kirchenideals forderte. Siehe Deppermann, Johann Jakob Schütz (wie Anm. 81), 203 ff.

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konformisten als „Schützianer“ bezeichneten.87 Zwar hatte Spener als Hauptpastor die wichtigste theologische Funktion in der Stadt inne, jedoch waren Schütz‘ Verbindungen zu internationalen Netzwerken von Andersdenkenden – zu denen Quäker, Quietisten, Labadisten, Böhmisten, Rosenkreuzer und anderen Strömungen gehörten – weitaus stärker. Während Spener versuchte, die lutherische Kirche zu reformieren, förderte sein Freund Schütz ein Netzwerk von überkonfessionellen „Kindern Gottes“ und unterrichtete die ihm darüber verbundenen Korrespondenten sowohl in theologischen als auch in praktischen Fragen. Diese Form der Unterweisung besaß in besonderem Maße für Frauen und andere Personen große Bedeutung, denen der Zugang zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen verwehrt blieb.88 In den 1670er Jahren wurde Schütz zum Mentor Johanna Eleonora Merlaus. In einem Brief an den Quäker William Penn, der Frankfurt 1677 besuchte, schildert Merlau, wie eine zufällige Begegnung mit Schütz zu einer tiefen Seelenfreundschaft führte.89 Schütz teilte ihren Kummer wegen des sündhaften Lebens bei Hofe und drängt sie, ihre Stellung als Hofdame aufzugeben und ein Dasein zu führen, welches sie später als „Beruff in Christo“ bezeichnete.90 Schütz brachte Merlau in Frankfurt im Heim einer betagten Witwe unter und sandte sogar einen Helfer, der sie beim Einzug in den sogenannten „Saalhof“ unterstützte. Dort veranstalteten Schütz und Merlau Konventikel, in welchen sie die Erkenntnisse internationaler Besucher wie William Penn, Anna Maria van Schurman und Pierre Poiret aufgriffen und verbreiteten.91 Während ihrer Frankfurter Jahre korrespondierte Merlau mit führenden Reformern und Reformerinnen in ganz Europa, zu denen neben Schurman beispielsweise auch Antoinette Bourignon zählte. Ein Traktat der Letztgenannten übersetzte Merlau sogar ins Deutsche.92 Merlaus Korrespondenz mit William 87 Siehe

beispielsweise Spener, Briefe aus der Frankfurter Zeit (wie Anm. 31), Bd. 1, Nr. 61 (13. 8. 1677), Z. 308. 88 Ich habe ausführlicher über die Bildungsaspekte dieser Korrespondenzen geschrieben: Martin, Pietistische Briefe (wie Anm. 35). 89 Forscher dachten lange Zeit, dass Philipp Jakob Spener der große Lehrer sei, den Merlau in ihrer Autobiographie erwähnt, aber ein Brief aus Schütz’ Nachlass belegt, dass nicht Spener sondern Schütz ihr Mentor war. Senckenbergische Bibliothek, Schütz Nachlass M330. Die Originale gingen in den letzten Jahren verloren, aber die Bibliothek verfügt über Fotokopien. Der Brief ist das früheste überlieferte Dokument Merlaus. Zur Merlau-Penn-Korrespondenz siehe Martin, Female Reformers (wie Anm. 40). 90 Johanna Eleonora Petersen, Leben Frauen Joh. Eleonora Petersen / Gebohrnen von und zu Merlau, […] Von Ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet, […], o. O. 1718, 29. 91 Deppermann, Johann Jakob Schütz (wie Anm. 81), 107–117. 92 Mirjam de Baar, Internationale und interkonfessionelle Netzwerke: Zur frühen lutherisch pietistischen Rezeption von Anna Maria van Schurman und Antoinette Bourignon, in: Ulrike Gleixner, Erika Hebeisen (Hg.), Gendering Tradition: Erinnerungskultur und Geschlecht im Pie­ tismus, Korb 2007, 85–101.



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Penn zeigt, dass sie auch von den Quäkern wichtige Impulse erhielt.93 Im Hinblick auf Merlaus Entwicklung ist jedoch ihrem Briefwechsel mit Schütz die größte Bedeutung beizumessen.94 Mit seinen Schreiben führte Schütz Merlau in „das tätige Christentum“ ein. Er übersandte ihr Texte, erläuterte deren Bedeutung und ermutigte Merlau, selbst andere Personen anzuleiten. Beide diskutierten ‚wissenschaftliche‘ Themen, wie die Autorschaft des Hebräerbriefes und die Berechnung der „Endzeit“, beschäftigten sich aber auch mit den religiösen Dimensionen sozialer Probleme. Wie diese Briefe offenbaren, wandte sich Merlau bereits in den 1670er Jahren der Frage zu, ob Juden, Muslime und „Heiden“ die ein ethisches Leben führten, für die Ewigkeit verdammt wären.95 Schütz wiederum erhielt durch Merlau Zugang zu höfischen Kreisen und wurde zum Mentor einer Reihe adeliger Frauen, die er auf gleiche Weise anleitete. Er agierte als Anwalt für Merlaus Familie sowie deren Freunde und half, Merlaus Heirat mit Johann Wilhelm Petersen im Jahr 1680 anzubahnen – eine Partnerschaft, die es Merlau erlaubte, ihre Betätigungen weiter zu intensivieren. Das Ehepaar arbeitete gemeinsam an theologischen Abhandlungen, veranstaltete Konventikel und unternahm Reisen, um seine Ansichten zu verbreiten. Des Weiteren berieten und verteidigten sie andere Nonkonformisten, insbesondere Prophetinnen, welche durch ihre Aktivitäten – so glaubten die Petersens – den nahenden Anbruch des philadelphischen Zeitalters verkündeten.96 Ein weiterer Briefpartner Merlaus war Johann Georg Gichtel, mit dem sie über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren korrespondierte. Über 40 Briefe von Gichtel an Merlau sind erhalten und lassen erkennen, dass er ebenfalls zu ihren Mentoren zählte, wenngleich bereits die frühesten, zwischen 1677 und 1679 entstandenen Nachrichten von den unterschiedlichen Ansichten der beiden zeugen.97 Während Gichtel, der ein Leben im Zeichen des „Verzichts“ verlangte, alle unnötigen sozialen Kontakte einschließlich der Konventikel ablehnte, glaubte Merlau, dass Christen eigens dazu aufgefordert seien, nach außen hin zu wirken und ihre Mitmenschen zu unterrichten. Für die folgende Dekade, 93 Martin,

Female Reformers (wie Anm. 40). Briefe an Schütz haben nicht überdauert, sodass es nötig ist, auf die von ihm verfassten Briefe zurückzugreifen. 95 Schütz’ Brief an Merlau zu diesem Thema ist nicht überliefert, einzig die seine Antwort an Merlau betreffenden Notizen liegen vor. Seine Erklärung basiert auf Offb. 20. Vgl. Deppermann, Johann Jakob Schütz (wie Anm. 81), 111. 96 Joël 2, 28–29. 97 Gichtels Briefe an Merlau sind in der Ausgabe seiner Korrespondenz enthalten. Ihre Antworten an ihn haben nicht überlebt. Ich habe bereits über einige Aspekte dieses Briefwechsels geschrieben: Lucinda Martin, ‚God’s Strange Providence’: Jane Lead in the Correspondence of Johann Georg Gichtel, in: Ariel Hessayon (Hg.), Jane Lead and her Transnational Legacy (wie Anm. 58), 187–212; siehe auch Ruth Albrecht, Zum Briefwechsel Johann Georg Gichtels mit Johanna Eleonora Petersen, in: Breul, Meier, Vogel (Hg.), Der radikale Pietismus (wie Anm. 39), 327–360. 94 Merlaus

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also den Zeitraum zwischen 1680 und 1690, sind keine Briefe der beiden überliefert. Womöglich sind diese verloren gegangen, aber es ist ebenfalls eine andere Erklärung denkbar: Der im Zölibat lebende Gichtel hatte seine Kontakte zu Gottfried Arnold abgebrochen, als dieser heiratete und es ist vorstellbar, dass er in gleicher Weise auf die Eheschließung der Petersens reagierte. Jedenfalls nahm Gichtel seine Korrespondenz mit den Petersens 1691 wieder auf, also genau zu jenem Zeitpunkt, an dem das Paar ins Zentrum der religiösen Debatten in Deutschland rückte. Johann Wilhelm Petersen hatte gerade öffentlich bekannt, die Prophetin Juliane Rosamunde von der Asseburg zu unterstützen. Dies war nur eines in einer ganzen Serie von Ereignissen, die zur Verhaftung zahlreicher nonkonformistischer Reformer in Mitteldeutschland führten und Petersen schlussendlich seine Stellung kosteten.98 In seinem wiederbelebten Briefwechsel richtet sich Gichtel manchmal an beide Eheleute, mitunter nur an Merlau, aber die Schreiben lassen klar erkennen, dass er beide als Mitglieder seiner Gemeinschaft, die an der Vereinigung der „Kinder Gottes“ mitarbeiteten, betrachtete. In einem 1693 verfassten Brief an Gichtel äußert Merlau erneut Bedenken, die sie bereits Jahre zuvor mit Schütz diskutiert hatte: Es handelte sich um die Frage, wie es möglich sei, dass ein liebender Gott Sünder für die Ewigkeit bestrafe, wobei sie auch geborene Juden, Muslime oder „Heiden“ in ihre Überlegungen einschloss.99 Merlau glaubte Bibelpassagen gefunden zu haben, die belegen, dass diese Menschen, ja die gesamte Menschheit, Erlösung finden würde. Gichtel warnte sie daraufhin vor der Widersprüchlichkeit der Heiligen Schrift und empfahl stattdessen, Rat in Böhmes Schriften zu suchen (nach Ansicht der Petersens vertraute Gichtel zu sehr auf Böhme). Zwar glaubte auch Gichtel an eine mögliche Rettung der Unbekehrten nach dem Tod, jedoch konnte diese seiner Überzeugung nach nur durch die Fürbitte von „Engeln“ erfolgen, zu denen er sich selbst zählte. Dennoch hielt Merlau ihre Ansicht aufrecht, dass Gottes grenzenlose Liebe zu einer Allversöhnung führen müsse. Im folgenden Jahr, 1694, unmittelbar nach dem Erscheinen von Jane Leades Himmlischer Wolcke,100 sandte Gichtel ein Exemplar des Buches an das Ehepaar Petersen.101 Er zeigte sich begeistert von dieser ihm bisher unbekannten Autorin, deren Schriften seine eigenen Lehren zu bestätigen schienen. Folglich war Gich  98 Matthias,

Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen (wie Anm. 85), 301–331. Januar 1693: TP III, 1917–29, insbes. 1924; TS III, 54–65, insbes. 61. 100 Jane Leade, Die Nun brechende und sich zertheilende Himmlische Wolcke: So wol auch des Herrn Christi Auffarths-Leiter […], Amsterdam 1694. 101 Nils Thune behauptet in seiner als Standartwerk geltenden Studie über die „Philadelphian Society“, dass Gichtel Leade erstmalig 1695 erwähnt. Wie aber meine Forschungen zeigen, muss es sich bei der anonymen Autorin, die Gichtel 1694 in seinen Briefen preist, um Leade handeln. Nils Thune, The Behmenists and the Philadelphians. A Contribution to the Study of English Mysticism in the 17th and 18th Centuries, Uppsala 1948, 111 f.   99 27.



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tel bemüht, ihre Texte in seinem Netzwerk bekannt zu machen. Bislang haben Historiker die Anfänge philadelphischen Denkens in Deutschland auf das Jahr 1695 datiert, in welchem die Petersens ein Manuskript Leades von Knyphausen erhielten – ein Ereignis das beide Eheleute in ihren Autobiographien festgehalten haben.102 Jedoch zeigen weitere Briefe, dass die Petersens nachträglich versuchten, die Geschichte zu revidieren. Sie beabsichtigten, sich selbst und die gesamte philadelphische Bewegung mit dem hochangesehenen Diplomaten und Reichsfreiherrn Knyphausen in Verbindung zu bringen und gleichzeitig Distanz zu Gichtel herzustellen, der in dem Ruf stand, eine seltsame und schwierige Persönlichkeit zu sein. Deshalb behaupteten die Petersens, Knyp­hausen hätte sie mit Jane Leade bekannt gemacht, obwohl Gichtel bereits ihre Aufmerksamkeit auf die Prophetin gelenkt hatte, bevor sie besagtes Manuskript durch Knyphausen erhielten.103 Auf Grundlage der Autobiographien der Petersens sind Historiker bisher von einem viel zu simplen, einseitigen Transfer „philadelphischen“ Denkens von England nach Deutschland ausgegangen. Gichtels Briefwechsel, der teilweise veröffentlicht wurde und teilweise zerstreut in verschiedenen Bibliothek liegt, belegt dagegen – zusammen mit Briefen von Nonkonformisten, die in der Forschungsbibliothek Gotha aufbewahrt werden –, dass Kernelemente der „phila­ delphischen“ Lehren in einer polyzentrierten Konversation zwischen Gichtel, dem Ehepaar Petersen, Leade und anderen Gleichgesinnten ausgearbeitet wurden – ein Prozess, der bereits vor der Übersendung des Manuskripts durch Knyphausen begonnen hatte. Insbesondere gab es eine rege Diskussion um die „philadelphische“ Lehre von der „Wiederbringung“ (apokatastasis panton), eine Lehre, die man bisher immer Jane Leade allein zugeschrieben hat. Jene in der Antike wurzelnde Doktrin, die besagt, dass alle Wesen, einschließlich des Satans, von der ewigen Verdammnis verschont bleiben, war eines der zentralen Anliegen Merlaus. Bereits in den 1670er Jahren hatte sie Schütz dazu befragt und 1693 griff sie dieses Thema in ihrer Korrespondenz mit Gichtel erneut auf. Zwei Jahre darauf, 1695, ließ Gichtel den Petersens drei weitere Traktate Leades zukommen, welche sie in ihren Briefwechseln diskutierten. Gichtel teilte mit, dass er sich entschieden habe, Leades Schriften ins Deutsche übersetzen zu lassen, und verfasste einen Brief, aus dem hervorgeht, was er über Leades Biographie wusste.104 Dass Leades Schriften Bekanntheit erlangten, sah er als

102 J. E.

Petersen, Leben (wie Anm. 90), 56 ff.; J. W. Petersen, Das Leben Jo. WILHELMI

PETERSEN , Halle 1717, 297. 103 Es

gibt noch Hinweise auf andere, frühere Verbindungen zwischen Leade und den Petersens, die hier aber nicht diskutiert werden können. 104 TS II, 126–33; at 132–33. TS II, 136–43, at 142.

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einen göttlichen Akt an, prognostizierte aber zugleich, dass einige, die ihr zunächst folgten, sich schließlich gegen sie wenden würden.105 In der Tat änderte Gichtel innerhalb von zwei Monaten seine Einstellung gegenüber Leade grundlegend. In einem ausführlichen Brief an Loth Fischer aus dem Oktober 1695 kritisiert er Leades Konzeption von der Rolle des Bösen im Universum.106 Obwohl sich in den Briefen des Jahres 1694 kein Anzeichen dafür findet, dass Merlau oder Gichtel Leades Ansichten als anstößig empfanden, zeigte sich Gichtel nun erzürnt über Leades Auffassung, der gemäß die Verdammnis weder ewig andauern noch universell sein könne. Vergebung für den Teufel war für Gichtel eine abscheuliche Vorstellung. In einer Reihe von Briefen brachte er vielfältige theologische und alchemische Argumente gegen Leade in Anschlag. Er argumentierte folgendermaßen: Sofern das Böse durch Gott wirklich zu einem inhärenten Bestandteil der Schöpfung gemacht worden wäre, hätte Christus einen monströsen „Schlangen-Leib“ anziehen müssen, da er ja einen menschlichen Körper annahm, um für die Sünden zu büßen.107 Zudem warnte Gichtel davor, auf weibliche Visionen zu vertrauen, da die „weibliche Tinctur“ wechselhaft, schwach und leicht auszulöschen sei.108 Im Laufe des Sommers 1695 hatten Leades Ansichten in nonkonformistischen Kreisen rasch an Zugkraft gewonnen und Gichtels Briefpartner überhäuften ihn mit Nachfragen, wie denn Leades Lehren durch Böhme zu rechtfertigen seien.109 Es wird ersichtlich, dass Gichtel erst durch diese Briefe auf die Widersprüche zwischen Leade und Böhme aufmerksam wurde.110 Zwar glaubte Böhme, dass die Reumütigen ihre ‚paradiesischen Körper‘ wiedererlangen würden, aber er dachte nicht, dass jene, die nicht bereuten, gerettet werden könnten. Gichtel war aufgebracht, da er dies als einen „Verrat“ Leades an Böhme empfand. Zudem betonte Gichtel, dass er sich bereits lange vor Leade mit diesem Problem befasst und es durch die Lektüre Böhmes gelöst habe.111 Gegenüber zahlreichen Briefpartnern behauptete Gichtel, Leade durch Fischer eine Liste von Fragen übermittelt zu haben, welche die Prophetin dazu bewegt hätten, einige ihrer Behauptungen zu ändern.112 Tatsächlich war Leade in ihrem Traktat Ewi105 TS

II, 136–43, at 142. I, 221–30 (3. Oktober 1696). 107 TP I, 221–30; TP VII: 328; TP V: 3131; TP I, 227–30; TP I, 230–32. 108 TP I, 231–32. 109 TP I, 221–30 (3. Oktober 1696); cf. TP VII, 328. Siehe besonders den Brief an seinen engen Mitstreiter Pronner, TP I, 325 (11. September 1697). 110 Böhme nahm an, Teufel und reuelose Sünder würden am Ende der irdischen Zeit in ein „Reich der Teufel“ gesperrt, die Reuigen hingegen in Engelskörpern wiederhergestellt. Somit glaubte er an eine begrenzte „Wiederbringung“ und nicht, dass Teufel und Reuelose errettet werden könnten. Siehe beispielsweise Böhme, Aurora (wie Anm. 60), 168. 111 Siehe den Brief an Pronner, TP I, 325 (11. September 1697). 112 Gichtel hat diese Behauptung oft wiederholt: TP V, 3699–3712 (29. Dezember 1705); TP V, 3731–34 (4. Februar 1707); TP V, 3784–92, besonders 3787–88 (6. Januar 1708). 106 TP



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ges Evangelium bemüht, Antworten auf Gichtels Bedenken zu finden.113 Da­ rüber hinaus unternahm sie in Briefen, die von Loth Fischer ins Deutsche übersetzt wurden, Annäherungsversuche in Richtung Gichtel, um so die „Kinder Gottes“ beisammen zu halten. Jedoch waren diese Versuche für Gichtel einzig der Beweis, dass Leade eine Hochstaplerin sei, die ihre Ansichten in Abhängigkeit zu den Reaktionen anderer änderte.114 In einem Brief aus dem Jahr 1706 teilte Gichtel einem weiteren Korrespondenten mit, dass Leades Schriften eine vom Teufel ausgelegte Falle seien. Laut Gichtel begann alles, als „der Leade zwey erste Büchlein“ in die Hände des leicht zu beeindruckenden Loth Fischer gelangten.115 Gichtel streute die Behauptung, dass die Engelsbrüder Leade nur deshalb unterstützt hätten, weil es Loth Fischer gelungen sei, die Gemeinschaft zu täuschen. Nach Gichtels Aussage konnte Fischer die Gruppe davon überzeugen, dass Leades Schriften mit dem „verborgenen Glaubens-Weg“ der Engelsbrüder übereinstimmten und diesem dienlich wären. Da Gichtel nicht in der Lage war, Leades englische Texte zu lesen, habe er ihm geglaubt.116 Gichtel gestand ein, erst nach Publikation der Leade-Texte Fischers wahre Ziele erkannt zu haben: Anhänger und Geld.117 Des Weiteren behauptete Gichtel, Fischer habe ihm per Brief die finanzielle Hilfe Knyphausens versprochen, sofern die Engelsbrüder Leade unterstützen würden – genauso hätte es der Baron im Fall der Petersens getan. Tatsächlich lebte das Ehepaar Petersen seit dem Stellenverlust Johann Wilhelm Petersens von der Wohltätigkeit mitfühlender Unterstützer, zu denen auch Knyphausen zählte.118 Nach Aussage Gichtels, wiesen er und seine Gefolgsleute „diese Braut“ (Leade) ab und gaben Fischer zur Antwort, dass sie Christus nicht um des Geldes Willen folgten.119 Gemäß der Annahme, dass Gott seine Anhänger versorgen würde, lehnte Gichtel bezahlte Arbeit ab und lebte einzig von der Unterstützung durch Patroninnen und Patrone. In einem an eine seiner Wohltäterinnen, Prinzessin Elisabeth von der Pfalz, gerichteten Brief argumentiert Gichtel gegen andere religiöse Ansichten und erklärt ihr, weshalb sie nicht Quäker, Mennoniten, halle­sche 113 Jane

Leade, Eine Offenbarung der Bottschafft des EWIGEN EVANGELII , Amsterdam, 1697; eine Übersetzung von J. Leade, A Revelation of the Everlasting Gospel Message, London, 1697. 114 TP VI, 1463 (Gichtel an George Vechtmann, 25. Februar 1702); TP VI, 1667 (25. Februar 1707); TP III, 2444–48 (Gichtel an Friedrich Andreae, 3. Januar 1708); TP VII, 328; TP V, 3739–42 at 3741 (1 April 1707); TP V, 3644–53, v.a. 3650 (17. Juli 1708). 115 Bei den Büchern handelt es sich um Eight Worlds und The Revelation of Revelations. TP V, 3540–41 (24. Dezember 1706). 116 TP V, 3536–44, at 3541 (24. Dezember 1706). 117 TP VII, 328. 118 J. W. Petersen, Leben (wie Anm. 102), 219; 235 f. 119 TP V, 3536–44, auf 3541 (24. Dezember 1706); TP V, 3650 (17. Juli 1708); TP VIII, 329.

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Pietisten oder andere Strömungen unterstützen solle.120 Wettbewerb um Patronage spielte in diesen Diskussionen definitiv eine Rolle. Dementsprechend übte Gichtel in Briefen an die Angehörigen seines Netzwerks Kritik an Leade, da diese Gelder einwarb, um ihre Texte zu veröffentlichen, anstatt im stillen Gebet zu leben, wie Gichtel es empfahl.121 Gichtel beschwerte sich bitterlich, „wenn der B[aron] K[nyphausen] nicht so reichlich contribuiret, und dem L[oth] F[ischer] 400. R[eichs] T[aler] jährlich zugeleget hätte, sollte L[oth] F[ischer] mit seiner Translation seyn stecken geblieben“. Anfänglich hatte Gichtel sogar geholfen, die deutschen Fassungen von Leades Texten zu korrigieren, aber dann gerieten er und Fischer wegen der Kosten in Streit. Letztendlich ließ Fischer „die 6. Tractätlein cum Diariis, &.c“ ohne Gichtels Zustimmung in Utrecht drucken.122 Gichtel tröstete sich mit dem Wissen, dass Gott Babel zerstören würde.123 1695 begann Gichtel, Kritik an Leade zu üben und nach 1701 brach er öffentlich mit ihr und den Petersens. Allerdings zeigen in Gotha aufbewahrte Briefwechsel, dass Loth Fischer noch 1703 von Gichtel abgefasste Briefe an Leade übersandte, Briefe, deren „gifftige“ Schreibart Fischer hervorhebt.124 Der Kreis um Leade hoffte weiter auf eine Versöhnung, aber Fischer bezweifelte, dass Gichtel, der „sich in solche Höhe setz[t]e“ und über eine eigene Anhängerschaft verfügte, bereit sei, sich herabzulassen und sich [der Philadelphian Society] anzuschließen.125 Den fortlaufenden Konversationen zum Trotz traten sich die involvierten Parteien in der Öffentlichkeit zunehmend feindselig gegenüber. In seiner Theosophia Practica gedachte Gichtel der Londoner Gesellschaft als einer neuen „Sekte“ und beschuldigte die Petersens, sich zu prostituieren, als sie die finanzielle Unterstützung Knyphausens akzeptierten. Das Ehepaar verteidigte sich aggressiv gegen die Attacken. In seiner Autobiographie teilte Johann Wilhelm Petersen mit, dass vielmehr Gichtel und seine Engelsbrüder arglistig mit Spenden umgingen und eine neue „Sekte“ ins Leben gerufen hätten.126 Er versuchte ebenfalls, die Debatte über die Allversöhnung richtig zu stellen, indem er berichtete, dass Gichtel dieser Lehre früher offensichtlich zugestimmt und sich gar

120 Es kann nicht überraschen, dass diese Briefe nicht in Gichtels Korrespondenzband veröffentlich wurden. Archiv der Franckesche Stiftungen in Halle: AFSt/H D 60, 101 ff., insbes. 107r–08v. Martin, Jacob Boehme and the Anthropology of German Pietism (wie Anm. 72), 124. 121 TP V, 3699–3712 (29. Dezember 1705). 122 TP V, 3784–92, insbesondere 3787 (6. Januar 1708). 123 TP V, 3739–42, at 3741–2 (1. April 1707). An anderer Stelle erwähnt Gichtel 400 Gulden: TP VII, 328. 124 FB Gotha Chart A 297, 101. 125 Ebd., 107. 126 J. W. Petersen, Leben (wie Anm. 102), 338.



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bemüht hatte, sie durch Bibelzitate zu belegen.127 Gichtels Briefwechsel zeigt, dass seine Einwände gegen die Allversöhnung ein nachträglicher Einfall waren. Letztendlich ging es weniger um Leades „teuflische Theologie“, vielmehr waren es psychologische und praktische Faktoren, die Gichtel zum Bruch mit der englischen Prophetin und den Petersens veranlassten – Eifersucht, wer nun der rechtmäßige ‚Erbe‘ Böhmes sei, Spannungen wegen religiöser Standpunkte und Konkurrenz im Ringen um die Gunst von Patroninnen und Patronen. Obwohl Johann Wilhelm Petersen ein universitär ausgebildeter Theologe war, wurde die Entwicklung und Veröffentlichung der umstrittenen Ansichten des Paares zur Allversöhnung unter Führung von Merlau vorangetrieben. Johann Wilhelms Mysterion Apokatastaseōs Pantōn128 aus dem Jahr 1701 ist heute die bekannteste Veröffentlichung der Petersens zu diesem Thema, aber die erste diesbezügliche Arbeit war Merlaus 1698 erschienenes Ewiges Evangelium.129 Der Name des Traktats war durch Jane Leades ähnlich betiteltes Werk inspiriert, welches wiederum unter anderem von Gichtel attackiert worden war.130 Trotz des anonymen Erscheinens wussten Zeitgenossen, dass eine(r) der Petersens, wenn nicht beide für den Text verantwortlich waren.131 Merlaus Evangelium erregte riesige Aufmerksamkeit – nicht nur in den Kreisen der Reformer, in denen vielfältige Meinungen darüber kursierten, sondern auch seitens der empörten lutherischen Orthodoxie und vieler Fürsten, die das Werk der Zensur unterwarfen.132 Der Text wurde drei Mal aufgelegt, und 1701 schrieb Merlau einen weiteren anonym veröffentlichten Text, der den vorangegangenen verteidigte. Das Traktat rief Reaktionen in Form dutzender weiterer, teils zustimmender, teils ablehnender Schriften hervor.133 In der Öffentlichkeit beteuerte das Ehepaar Petersen, keine Notwendigkeit zur Gründung einer neuen Gemeinschaft, die das Zeitalter „Philadelphias“ herbeiführte, zu sehen. Allerdings zeigt sowohl die Titelseite von Merlau Petersens Evangelium als auch die ihrer Bewährung des 127 Gichtel diskutierte zwar die Idee und unterstützte sie mit Bibelzitaten, doch schließlich entschied er, die Frage aufgrund eigener Unsicherheiten unbeantwortet zu lassen. TP III, 1897– 98 (Gichtel an Christoph Krausemarck, 8. Februar 1696); J. W. Petersen, Leben (wie Anm. 102), 336 f. 128 Johann Wilhelm Petersen, Mysterion Apokatastaseōs Pantōn, Das ist: Das Geheimniß Der Wiederbringung aller Dinge […], Pamphila [i.e. Offenbach] 1701. Petersen erweiterte das Werk auf drei Bänder [Teil 2: 1703; Teil 3: 1710]. 129 [J. E. Petersen], Das Ewige Evangelium der Allgemeinen Wiederbringung, o. O. 1698. Zu den Debatten über die Allversöhnung in diesen Kreisen vgl. Daniel Pickering Walker, The Decline of Hell. Seventeenth-Century Discussions of Eternal Torment, Chicago 1964, 218–264. 130 Leade, Bottschafft des EWIGEN EVANGELII (Übersetzung von Everlasting Gospel) (wie Anm. 113). 131 Ruth Albrecht konnte beweisen, dass Merlau die Autorin war, siehe Albrecht, Johanna Eleonora Petersen (wie Anm. 85), 274–295, insbes. 279 f. 132 Albrecht, Johanna Eleonora Petersen (wie Anm. 85), 293 f. 133 [J. E. Petersen], Bewährung des Ewigen Evangelii, o. O. 1701.

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Ewigen Evangelii aus dem Jahr 1701 ein Kryptogramm, welches die Verfasserin als „Mitglied der Philadelphischen Gemeinde“ ausweist.134 V. Schluss Die Zeitschrift Unschuldige Nachrichten nahm 1710 mit Schadenfreude zur Kenntnis, dass Leade, Gichtel und die Petersens sich untereinander bekämpften, anstatt in „Philadelphia“ zu leben.135 Das Sprachrohr der lutherischen Kirchen im Alten Reich hatte die drei lange Zeit als zusammenwirkende Verschwörer gesehen und tatsächlich hatten sie zeitweise kooperiert, um eine internationale Gemeinschaft der „Kinder Gottes“ zu versammeln.136 Jedoch erzählen ihre Briefe die Geschichte einer Auseinandersetzung wegen zweier unterschiedlicher Vorstellungen davon, wie Philadelphia – also die Unsichtbare Geistkirche – aussehen sollte: Wollte man eine elitäre Gemeinschaft mit spezifischen Ansichten zu biblischen und gesellschaftlichen Debatten, oder stattdessen eine Sphäre für den offenen Diskurs über umstrittene Themen? Dieses Ringen um die korrekte Form – ein offener diskursiver Raum oder eine Institution mit festen Ansichten – ist nur eine der Parallelen zwischen den Netzwerken der Gelehrtenrepublik und denen der Unsichtbaren Geistkirche. Die Ziele, Strategien und Praktiken dieser beiden Gemeinschaften gleichen sich auf vielen Ebenen. Briefe, Manuskripte und Gelder flossen oft über dieselben Kanäle. Die Teilnahme an den Netzwerken half Gruppenidentität zu entwickeln und zu festigen. Beide Gruppen nutzten Briefwechsel, um über Bücher, Geschichtsauffassungen und gesellschaftliche Probleme zu diskutieren. Beide beruhten auf neuen Formen informeller Zusammenkünfte und griffen auf ähnliche Patronatsstrukturen zurück. Auch geographisch gab es Überschneidungen – die Niederlande waren für religiöse Reformer und Gelehrte gleichermaßen bedeutend, als neutraler, geistiger Raum und Zuflucht für Exilanten. Geheime Netzwerke und sogar typologische Pseudonyme spielten in beiden Gemeinschaften eine Rolle und standen gleichzeitig im heftigen Widerspruch zu den universellen Zielen dieser Verbindungen, da geheimes Wissen und Geheimhaltung elitäres Denken in einigen Kreisen erstarken ließen.137 134 Im

Ewigen Evangelium: „Mit-Gliede D. Ph. G.“ In Bewährung des Ewigen Evangelii, taucht dies auf als „E.M.G.D.P.G.“ = ein Mitglied der Philadelphischen Gemeinde. 135 Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen, Leipzig 1710, 569–574, 641–650. 136 Ebd., 574. 137 Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen waren beispielsweise Mitglieder des Pegnesischen Blumenordens, der sie 1705 als „Petrophilus Stein-Eppich“ („Steinpeterlein“) und „Phoebe Mondenkraut“ aufnahm. Protokolle von Konventikeln belegen, dass sie und andere Beteiligte Namen nach biblischen Vorbildern zugeordnet bekamen. Zu diesen Praktiken in ge-



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Die Gelehrtenrepublik und die Unsichtbare Geistkirche waren beide aus dem Wunsch heraus entstanden, die religiöse Trennung, also die protestantische Reformation und die folgende Zersplitterung des europäischen Protestantismus zu überwinden. Eine Art von Projektcharakter war beiden Netzwerkformen immanent. Gelehrte und religiöse Reformer strebten beide nach Verbesserung durch eine universelle, überkonfessionelle Vereinigung. Viele ihrer Theorien erhoben gleichermaßen einen universellen Anspruch darauf, entweder die ganze Weltgeschichte oder die ganze natürliche Welt zu erklären. Trotz dieser Überschneidungen und Ähnlichkeiten ist kaum versucht worden, die Beziehungen zwischen beiden Bereichen zu erklären. Wo überschneiden sich Gelehrtenkultur und religiöse Kultur und wo laufen sie auseinander? Welche Gewohnheiten und Bräuche teilten sie? Was ist der Ursprung gemeinsamer Annahmen und Praktiken? Waren die Gelehrtenrepublik und die Unsichtbare Geistkirche einfach zwei Produkte des herrschenden Zeitgeistes oder bedingte eine Gemeinschaft den Aufstieg der anderen? Welchen Einfluss hatte religiöse Kultur auf die Aktivitäten von Gelehrten und umgekehrt? Günstige Ausgangspunkte, um die Beziehungen zwischen beiden Gemeinschaften zu untersuchen, wären Stellen, an denen Disziplinen ineinandergreifen. Zum Beispiel ist die Verbreitung von Ideen in Manuskripten zu wenig erforscht, hauptsächlich weil es einfacher ist, Publikationsgeschichten nachzuvollziehen, als dem Weg eines handschriftlichen Textes, der in Korrespondenznetzwerken verbreitet wurde, zu folgen. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein machten religiöse Texte die Mehrheit der produzierten Literatur aus.138 Kursierten gelehrte Texte als Anhängsel religiöser Literatur – quasi ‚Huckepack‘ – in den Netzwerken, vielleicht sogar in denselben Briefen?

lehrten Kreisen siehe Martin Mulsow, Practices of unmasking: Polyhistors, correspondence, and the birth of dictionaries of pseudonymity in seventeenth-century Germany, in: Journal of the History of Ideas 67 (2006), 219–250; zu biblischen Namen in nonkonformistischen Kreisen siehe Ruth Albrecht, Konzepte einer elitären geistlichen Priesterschaft im Umfeld des Pietismus unter Berufung auf Melchisedek, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 113 (2015), 157–167. 138 Schrader schätzt, dass um 1740 rund dreiviertel aller gedruckten Bücher religiösen Inhalts waren: Hans-Jürgen Schrader, „Pietismus“, in: Literaturlexikon, hg. von Walther Killy, 15 Bde., Bd. 14: Begriffe, Realien, Methoden, hg von Volker Meid, München 1993, 208–216, hier 210. Vgl. Olaf Simons, Von der Respublica Literaria zum Literaturstaat. Überlegungen zur Konstitution des Literarischen, in: Marian Füssel, Martin Mulsow (Hg.), Gelehrtenrepublik, Hamburg 2015 (Aufklärung 26 [2014] 291–330, 314–317). Simons schätzt, dass circa vierundvierzig Prozent der in den deutschen Messekatalogen gelisteten Bücher für 1712 theologisch oder religiös waren (für London waren es zweiundfünfzig Prozent der angebotenen Bücher in 1700). Natürlich hatten viele historische, philosophische, und „chymische“ Bücher auch eine starke religiöse Perspektive. Gottfried Arnold war Professor der Geschichte und seine Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie wurde wie die meisten seiner Texte als Geschichtsbuch verkauft.

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Allen Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zum Trotz gibt es bedeutende Unterschiede zwischen jenen Akteuren, die sich selbst als Teil einer „res publica literaria“ sahen, und denen, die nach einer Unsichtbaren Geistkirche strebten. Zum einen banden religiöse Nonkonformisten Frauen und Laien in weit größerem Umfang ein, als dies in der Gelehrtenwelt der Fall war. Während die Angehörigen der Gelehrtenrepublik nahezu ausnahmslos universitäre Bildung genossen hatten, akzeptierten religiöse Reformer andere ‚Qualifikationsformen‘, wie private Bildung und „Inspiration“.139 In Konventikeln und Briefnetzwerken entwickelten die Andersgläubigen eigene Bildungsstrukturen, die als Alternative zu denen der öffentlichen Sphäre dienten. Mentoren unterrichteten Initianden, aber gaben ihr Wissen nicht einfach weiter. Ihre rege Anteilnahme an ethischen Debatten, wie der über das Schicksal tugendhafter Nicht-Chris­ ten, förderte die Entwicklung der Teilnehmenden, die sich selbst zu Mentoren bzw. Mentorinnen fortbildeten und sich somit selbst die Möglichkeit erarbeiten konnten, ihre eigenen Positionen in der Gemeinschaft der Andersdenkenden zu vertreten. Damit nahmen Nonkonformisten aufklärerische Praktiken und Strukturen vorweg, aber im Gegensatz zu Gelehrten-Gruppierungen existierte in reformerischen Kreisen erheblicher Widerstand gegen formale Bildung. Einige betrachteten höhere Bildung als ein Mittel, Gott zu dienen, andere dagegen waren der Meinung, dass zu viel Bildung ein Ausdruck von „Eitelkeit“ sei.140 Diese Ambivalenz gegenüber „weltlichem“ Wissen gab es in der Gelehrtenrepublik nicht. Die Einstellung gegenüber der „Welt“ und ihren Institutionen ist vermutlich der größte Unterschied zwischen beiden Gemeinschaften. Die ‚Bürger‘ der Gelehrtenrepublik hatten oft Ämter in öffentlichen Institutionen wie Kirchen und Universitäten inne oder bekleideten eine angesehene Stellung bei Hofe. Und falls sie keine derartige Position besaßen, so hofften sie doch darauf, schnellstmöglich eine solche zu erlangen. Im Gegensatz dazu waren diejenigen, die eine Unsichtbare Geistkirche zu versammeln gedachten, häufig ohne Anstellung.141 Aufgrund ihrer Gegnerschaft zu etablierten Institutionen lebten sie manchmal im Exil oder wurden aus offiziellen Ämtern entlassen, da sie abweichende An139 In

diesem Kontext erscheint interessant, dass viele Nonkonformisten göttliche Inspiration als eine Art ‚Empirie‘ verstanden haben. Sie kontrastierten diese Unmittelbarkeit ihrer Erfahrungen mit ‚unzuverlässigem‘ Wissen, das man aus zweiter Hand, aus Büchern bekam. 140 Diese Spannung zeigt sich sogar an einzelnen Personen: Der Buchhändler Johann Jakob Schütz behauptete, dass man nur die Bibel lesen müsse, und Gottfried Arnold, der größte ‚pietis­ tische‘ Historiker, legte seine universitären Ämter nieder, um „Babel“ zu entkommen. 141 Auch Peter van Rooden bemerkt: „Some kind of recognition by the public authorities was an absolute condition for taking part in the Republic of Letters“ (Rooden, Sects, Heterodoxies, and the Diffusion of Knowledge in The Republic of Letters, in: Hans Bots, Françoise Waquet [Hg.], Commercium litterarium, 1600–1750: la communication dans la République des Lettres, Maarssen 1993, 51–64, hier 63 f.)



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sichten vertraten. In vielen Fällen gaben sie ihre kirchlichen Ämter freiwillig auf, da sie nicht Teil eines ‚korrupten‘ Systems sein wollten. Die Frage der institutionellen Zugehörigkeit hat auch die Historiographie zu religiösen Nonkonformisten und Gelehrten beeinträchtigt. Ob eine spezifische Person als Mitglied der Gelehrtenrepublik oder als ein „Sektierer“ zählt, scheint nicht nur eine Frage der individuellen Aktivitäten zu sein, sondern ebenso der Stellungen in den Polemiken des 17. Jahrhunderts. Viele im holländischen Exil lebende hugenottische Theologen wurden als Mitglieder einer (es versteht sich – von Katholiken) verfolgten Minderheit in der Gelehrtenrepublik schnell in die Gelehrtenrepublik aufgenommen.142 Hingegen wurden exilierte deutsche, lutherische Theologen, die man als Bedrohung für die etablierten Kirchenstrukturen betrachtete, als „Fanatiker“ abgestempelt.143 Zu oft haben Historiker Kategorien übernommen, die in einem mehr als 300 Jahre zurückliegenden polemischen Schlagabtausch geprägt wurden. Die Auswirkungen der damaligen Polemik auf die Geschichtsschreibung werden durch das Beispiel der „Radikalpietisten“ belegt, die, weil sie von der Staatskirche verfolgt wurden, Deutschland in Richtung Nordamerika verließen. Die deutsche Forschung hat sie lange als Randfiguren beiseitegeschoben, weil sie (in Deutschland) keine dauerhaften Institutionen aufbauen konnten. Manchmal nannten Historiker sie gar „Fanatiker“, die keiner wissenschaftlichen Aufmerksamkeit wert wären.144 Während diese Art der konfessionsbezogenen Argumentation nicht länger als gültiger akademischer Stil akzeptiert wird, haben die daraus hervorgegangenen Kategorien weiterhin Bestand. So gilt Francis Daniel Pastorius in der deutschen Forschung als ein „Radikalpietist“. Pastorius nahm an den SaalhofKonventikeln in Frankfurt teil und wurde Agent einer Gruppe von Investoren, die Land in Pennsylvania erwarb. Auch das Ehepaar Petersen und der führende „Engelsbruder“ Johann Wilhelm Überfeld gehörten dieser „Frankfurter-LandKompagnie“ an, die für den Fall, dass die Verhältnisse für Nonkonfomisten in Europa unerträglich werden sollten, deren Emigration plante.145 Pastorius unter­ 142 Paul Hazard, The European Mind 1680–1715, übers. von J. Lewis May, Cleveland 1968, und Goldgar, Singing in a Strange Land (wie Anm. 64), 106–108, mit zahlreichen anderen Hinweisen zur Schlüsselrolle von Hugenotten in der Gelehrtenrepublik. 143 Martin Mulsow hat bemerkt, solche Kategorien haben oft mehr mit Macht und Prestige als mit Inhalt zu tun: „Nebenbei ergibt sich dadurch eine wissensgeschichtliche transformierte Sicht auf die gängige ideengeschichtliche Einteilung in radikale, moderate und orthodoxe Strömungen. Nicht die Klassifikation von Überzeugungen steht im Zentrum, sondern nun geht es um den Status der Wissensträger“ (Mulsow, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012, 19). 144 Eine Diskussion über die Verwendung pejorativer Bezeichnungen in der Forschung zum „Radikalen Pietismus“ bietet Hans Schneider, Der radikale Pietismus in der neueren Forschung, in: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), 15–42. 145 In den meisten Dokumenten ist die Rede von einer „Pennsylvania Company“, da Pasto-

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nahm tatsächlich diesen Schritt und wurde zum Mitgründer von Germantown. Gleichgesinnte und Mitstreiter fand er unter den dortigen Quäkern, die sich ebenfalls durch das Ideal einer Unsichtbaren Geistkirche angezogen fühlten – deshalb trägt die Hauptstadt von Pennsylvania den Namen „Philadelphia“.146 Als Pastorius in Amerika ankommt, tauscht er seinen deutschen Vornamen „Franz“ gegen das angelsächsische „Francis“. Dies ist nicht die einzige „Transformation“ die er mit seiner Auswanderung durchmacht, denn in der amerikanischen Geschichtsschreibung gilt er nicht als „Radikalpietist“, sondern von nun an als innovatives Mitglied der Gelehrtenrepublik.147 Pastorius‘ „pietistische“ Vergangenheit wird quasi als eine Phase seiner Jugend behandelt.148 Dagegen gilt die Aufmerksamkeit eher seinem Interesse für klassische Autoren, seinen juristischen Schriften sowie seiner Mehrsprachigkeit (alles Interessen und Fähigkeiten, denen er schon in Deutschland nachging). Vor allem zu Pastorius‘ sogenanntem Beehive (Bienenstock), seinem umfangreichen „Commonplace Book“, gab es vielfältige Untersuchungen.149 Folglich erweist sich das Beispiel Pastorius in vielerlei Hinsicht als interessant. Seine Lebensgeschichte macht klar, dass es nicht nur Hugenotten waren, die halfen, eine paneuropäische Gelehrtenrepublik zu festigen. Deutsche Glaubensflüchtlinge leisteten ebenfalls einen Beitrag und etablierten, gemeinsam mit anderen, die eine Unsichtbare Geistkirche aufbauen wollten, diese Gemeinschaft frommer Denker in der neuen Welt. Der Traum einer Unsichtbaren Geistkirche resultierte in einer transatlantischen intellektuellen Gemeinschaft. Das Fehlen von kontrollierenden Institutionen – die, wie in Deutschland, Andersdenkende auswiesen oder [allein durch die bloße Möglichkeit restriktiver Maßnahmen] abschreckten – erlaubte es Persönlichkeiten wie Pastorius, sich zu entfalten. Der hochgebildete Pastorious besaß vielfältige Interessen, jedoch bestimmte Religion als eine Art Meister-Diskurs seine Aktivitäten. Wissen aus anderen Bereichen musste sich in das religiös ausgerichtete Weltbild einfügen, nicht umgekehrt. Obwohl Historiker religiöse Kreise und Gelehrtenkreise meistens als getrennte Phänomene betrachten, existierten derartige disziplinäre Grenzziehungen in den Vorstellungen der Zeitgenossen nicht. rius die Gruppe aber „Frankfurt Company“ nannte, haben Forscher seine Bezeichnung übernommen. 146 Rüdiger Mack, Franz Daniel Pastorius: Sein Einsatz für die Quäker, in: Pietismus und Neuzeit 15 (1989), 132–171. 147 Anthony Grafton, The Republic of Letters in the American Colonies: Francis Daniel Pastorius Makes a Notebook, in: American Historical Review (Feb. 2012), 1–39. 148 Grafton schreibt lediglich, er sei von Spener inspiriert worden, dessen Beteiligung an radikaleren Kreisen erwähnt er nicht. 149 Francis Daniel Pastorius, His Hive, Melliotrophium Alvear or, Rusca Apium, Begun Anno Do[mi]ni or, in the year of Christian Account 1696, UPenn Ms. Codex 726. On-line: http:// dla.library.upenn.edu/dla/medren/pageturn.html?id=MEDREN_2487547. Grafton zitiert aus der Fülle der Forschungsliteratur zum „Beehive“.



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Dieser Aufsatz begann mit einem Zitat, in dem Christoph August Heumann die Gelehrtenrepublik mit der Unsichtbaren Geistkirche verglich. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu wissen, dass Heumann, als er eine Bildungsreise in die Niederlande unternahm, mit Gelehrten und mit religiösen Nonkonformisten gleichermaßen zusammentraf.150 Dass sich beide Gemeinschaften überschnitten, geht aus Heumanns Reisetagebuch deutlich hervor: Oft waren es dieselben Mitwirkenden, Verleger und Patrone, die sich mit denselben Themen beschäftigten. Das wirft folgende Frage auf: Inwieweit kann man die Gelehrtenrepublik und die Unsichtbare Geistkirche überhaupt voneinander trennen? Der Aufsatz untersucht die Parallelen zwischen der Gelehrtenrepublik und der sogenannten Unsichtbaren Kirche. Beide Gemeinschaften sind aus dem Wunsch entstanden, die Teilungen der Reformation und die folgenden Zersplitterung des Protestantismus in weitere Konfessionen zu überwinden. Religiöse Reformer und Gelehrte teilten auch ähnliche universelle Ziele: die Verbesserung der Gesellschaft und der Welt. Geschichte, Bibelkritik und Toleranz galten als zentrale Interessen beider Gruppen. Internationale Korrespondenznetzwerke waren das Bindemittel, das diese virtuellen Gemeinschaften zusammenhielt. Beide setzten zudem ähnliche Strukturen der Patronage und Kommunikation ein. Nach einem Vergleich der zwei Gemeinschaften im Allgemeinen analysiert der Aufsatz die Korrespondenz einer Sub-Gruppe innerhalb der Unsichtbaren Kirche, den „Philadelphiern“, um zeigen zu können, wie diese ihre Korrespondenznetzwerke als einen diskursiven Raum nutzten – und zwar in einer Weise, die die Praktiken der Gelehrtenrepublik widerspiegelt. Die Philadelphier, deren wichtigste Führungspersonen im deutschsprachigen Raum Johann Wilhelm Petersen und Johanna Eleonora Petersen waren, hatten eine gewaltige Wirkung auf Nonkonformisten von London bis Zürich. Die Briefe der Gruppe zeigen, dass die zentrale Lehre der apokatastasis panton oder Allversöhnung in einer mehrstimmigen Konversation in Briefen ausgearbeitet wurde. Diese Doktrin ebnete den Weg für eine „aufgeklärte“ Einstellung zur Religion, die nicht auf ewiger Verdammnis basierte. Darüber hinaus diente der Briefwechsel der Gruppe als eine alternative Form der Ausbildung für Partizipierende. Schließlich hinterfragt der Aufsatz die Praxis mancher Historiker, die für gewöhnlich einige Individuen als „Gelehrte“ und andere als religiöse „Radikale“ etikettieren. Oft haben diese Bezeichnungen hauptsächlich mit dem institutionellen Status der Person zu tun. „Radikale Pietisten“ die vor Verfolgung flohen und nach Nord Amerika übersiedelten, dienen hier als Beispiel. Solange sie die deutsche Staatskirche ablehnten, wurden sie als Randfiguren angesehen, aber einmal in Nord Amerika angelangt, konnten einige als „Gelehrte“ neu kategorisiert werden. Angesichts solcher Widersprüche und der vielen Überschneidungen zwischen den zwei Gemeinschaften stellt der Aufsatz eine strikte Trennung zwischen der Gelehrtenrepublik und der Unsichtbaren Kirche in Frage. 150 Kasper

Risbjerg Eskildsen, Exploring the Republic of Letters. German Travellers in the Dutch Underground, 1690–1720, in: Scientists and Scholars in the Field. Studies in the History of Fieldwork and Expeditions, Aarhus 2012, 101–122, hier 106–114.

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The essay explores the parallels between the Republic of Letters and the so-called Invisible Church. Both communities arose from the desire to overcome the divisions brought about by the Reformation and the splintering of Protestantism into further confessions. Religious reformers and scholars thus shared similar universal goals: the betterment of society and the world. Central interests for both were history, biblical criticism and tolerance. International correspondence networks were the glue that held these virtual communities together and both relied on similar structures of patronage and communication. After comparing the two communities in general, the essay analyses the correspondence of one sub-group within the Invisible Church, the Philadelphians, to illustrate how they used correspondence networks as a discursive space in ways that paralleled practices in the Republic of Letters. The Philadelphians, whose most important leaders in the German territories were Johann Wilhelm Petersen and Johanna Eleonora Petersen, had a massive impact on nonconformists from London to Zurich. The letters of the group show that the key doctrine of apokatastasis panton or universal salvation was worked out in a multi-party conversation in letters. The doctrine paved the way for a more „enlightened“ approach to religion that did not center on eternal damnation. The group’s correspondence also served as an alternative site of education for participants. Finally the essay questions the way that historians have traditionally labelled some individuals as „scholars“ and others as religious „radicals“. Often these designations have mainly to do with the individuals‘ institutional status. „Radical Pietists“ who fled persecution and settled in North America provide an example. So long as they were in opposition to the German state church, they were labelled as fringe figures, but upon arrival in North America some could be re-categorized as „scholars“. In light of such contradictions and of the many overlaps between the two communities, the essay calls into question a strict division between the Republic of Letters and the Invisible Church. Dr. Lucinda Martin, Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt, Schloss Friedenstein, 99867 Gotha, E-Mail: [email protected]

Barbara Becker-Cantarino Rechenschaft und Kontrolle Herrnhuter Lebensläufe aus der ‚Indianermission‘ in Nordamerika ca. 1760 – 1800

„Ich bin geboren 1718 d. 2ten Oct. zu Lauban in der Oberlausitz“, so beginnt der Lebenslauf des Bischofs Nathaniel Seidel aus der ersten Generation der in den englischen Kolonien Nordamerikas tätigen Herrnhuter Siedler und Missio­nare; Seidel hat „seinen Lebenslauf bis zu seiner erstmaligen Ankunft in Bethlehem [1742] schriftlich hinterlassen“.1 Dieser Lebenslauf wurde später um die Lebensleistungen dieses prominenten Moravian2 erweitert und ergänzt und nach seinem Tode 1782 im Diarium von Bethlehem (Pennsylvania), dem offiziellen Tagebuch der Brüdergemeine, wo Ankunft, Abreise von Mitgliedern, reli­giöse Veranstaltungen, Geburten, Todesfälle und Hochzeiten registriert wurden, mit anderen Personalia eingetragen. Solche Personalia, später Lebensläufe genannt, dokumentieren das Leben und Werk eines jeden Herrnhuters, eine Praxis, die sich bis heute insgesamt in dieser Religionsgemeinschaft erhalten hat. Das Uni1 Nathaniel Seidel, Bethlehm Digital History Project [im Folgenden: BDHP]: http://bdhp. moravian.edu/personal_papers/memoirs/seidel/seidel.pdf, abgerufen am 26. Dezember 2015. Nathaniel Seidels ereignisreiches Leben von der Kindheit als Sohn Böhmischer Emigranten aus der Oberlausitz bis zum Bischof der Herrnhuter und Obersaufseher über die Brüdermissionen in Nordamerika, die er auf zahlreichen, abenteuerlichen Missionsreisen während des Siebenjährigen Krieges (French Indian War, 1756 – 1764) und des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges visitiert und beraten hat, ist in diesen Personalia verzeichnet. – Dank des Bethlehem Digital History Project 2000 (BDHP) (http://bdhp.moravian.edu/about/about.html) konnte ich aus den Moravian Archives in Bethlehem, Pennsylvania, deutschsprachige Lebensläufe auswerten, die zwischen 1758 und 1831 (Sterbedaten) aufgezeichnet wurden. Bei diesen Autografen handelt es sich zumeist um säuberliche, relativ gut lesbare, vermutlich zeitgenössische und auch spätere Abschriften (vielfach mit später eingefügter Datierung und kurzen Notaten). Die vom BDHP bereitgestellten deutschsprachigen Quellentranskripte sind allerdings gelegentlich fehlerhaft (so steht z. B. „Laubau“ statt Lauban) und wurden daher von mir, wenn nötig, korrigiert. 2 Die Herrnhuter Gemeinden in England und Amerika werden in der anglo-amerikanischen Geschichtsschreibung als Moravians, nach der Abstammung vieler Migranten aus der ersten Generation aus Mähren (Moravia), bezeichnet; die religiöse Gemeinschaft heißt Unitas Fratrum (Brüdergemeinde) oder Moravian Church. Ich bezeichne die in Nordamerika tätigen Herrnhuter im Text meiner Untersuchung durchgehend als Moravians.

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128

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tätsarchiv in Herrnhut umfasst einen Bestand von mehr als 30.000 Lebensläufen, die über einen Zeitraum von ca. 300 Jahren entstanden sind. Diese Lebensläufe repräsentieren eine seit Mitte des 18. Jahrhunderts geschriebene biografische Kurzprosa, eine Sonderform autobiografischer Texte, die gelegentlich auch als „Aufsatz“ bezeichnet wurde: so etwa „Das Leben des seligen Bruder Johann Böhner wie es aus seinem eigenen Aufsatz, den man gefunden, genommen worden“, das den wechselvollen Lebenslauf des Missionars Johann Böhner, geboren 1710 in Grünberg, Mähren, gestorben1785 in Neuhut auf St. Croix (heute Virgin Islands), anschaulich erzählt und nach seinem Tode aufgezeichnet wurde.3 Den ,Lauf durch diese Zeit aufsetzen‘ war die formelhafte Bezeichnung für diese Praxis, auf die ich im Folgenden mit Blick auf eine spezifische Gruppe von Herrn­huter Lebensläufen eingehen möchte, nämlich auf die Personalia der Moravians aus der ‚Indianermission‘ in Nordamerika von ca. 1750 – 1800. Diese bislang vornehmlich als religiöse Zeugnisse betrachteten Lebensläufe möchte ich im Rahmen der Thematik „Aufsätze als Medien der Charakterbildung und Menschenführung“ als historische Dokumente einer Form von Verschrift­lichung gelebten Lebens, einer Form des im 18. Jahrhundert beginnenden Biographismus, unter dem Aspekt von individueller Rechenschaft und kommunaler Kontrolle vorstellen und analysieren. I. Die Personalia im historischen und kulturellen Kontext der Mission der Moravians in Nordamerika Die ersten Herrnhuter kamen als Missionare nach Nordamerika, als im Zuge der Armenhaus- und Gefängnis-Reformen durch James Oglethorpe unter Georg II. die Kolonie Georgia etabliert wurde.4 Der Lebenslauf Böhners berichtet von den Anfängen: [1735] sollten Colonisten nach Georgien geschickt werden. Es wurde bekannt gemacht, daß wer Lust dahin hätte sich melden sollte. Ich kriegte auch einen Trieb, u[nd]. dachte dabey, es würde beßer mit mir gehen. Es wurde in Ueberlegung genommen, ob es mit mir Zeit dazu sey? und es war Ja. Am 5ten August trat ich die Reise an. Von Altona wo die ganze Reise-Gesellschaft 23 an der Zahl, zusammen kam, gingen wir über London u[nd]. kamen 1736 im Febr y . zu Savanna in Georgien an, wo wir die 8 Brüder fanden, die das Jahr vorher gegangen, u[nd]. die schon ein Haus 3 Johann

Böhner, BDHP: http://bdhp.moravian.edu/personal_papers/memoirs/bohner/bohner. html. 4 James Oglethorpe (1696 – 1785) studierte in Oxford, diente unter Prinz Eugen im Türkenkrieg, wurde wie sein Vater Mitglied des House of Commons und führte in den 1730er Jahren eine Re-organisation der Schuldner-Gefängnisse durch, indem er die Insassen in die neu zu gründende Kolonie Georgia bringen ließ. Oglethorpe war der erste Gouverneur Georgias, das als militärischer Pufferstaat zu der spanischen Kolonie Florida diente und Siedler brauchte.



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unter Dach gebracht hatten. [Nach der Aufnahme in die Gemeine] kam ich auch ins Stunden-Gebet, und gieng mit Br[uder]. Anton Seifert nach Ireene [Schule] zu den Indianern, um die Sprache zu lernen.5

Schon 1740 mussten die Herrnhuter Georgia verlassen6 und zogen in das QuakerTerritorium Pennsylvania, wo bei einem Besuch Zinzendorfs 1742 Bethlehem als Zentrale für die Mission in Amerika bestimmt und als Kolonie nach Herrnhuter Vorbild mit der Verpflichtung auf eine gemeinsame Ordnung („Gemeinordnung“) und Sozialstruktur („Chöre“)7 organisiert wurde. Unter Zinzendorfs Leitung trat der „Gemein-Rat“ erstmals am 24. Juni 1742 zusammen, bestimmte, dass der Sabbath von allen, auch den „bekehrten Wilden“, als Ruhetag von der Arbeit gefeiert werden sollte, nicht als „Geboth, sondern als eine Wohlthat“, mit Bettag und Abendmahl, was “durch unanimia Vota beschlossen“ wurde.8 Brüder und Schwestern wurden befragt „wer sich zur äußerlichen Arbeit bey der Ortsgemeine zu Bethlehem oder zum Dienst an die Seelen und Kindern in den Townships appliciren wolle, weil beydes nöthig“.9 Diese Einteilung in „HausGemeine“ und „Pilger-Gemeine“ und ein kommunales Wirtschaftssystem, die Gemein-Ökonomie, die bis 1762 bestand, waren nötig, um Kolonisierung und Missionierung wirtschaftlich zu ermöglichen, Bethlehem zu erweitern und neue Missions-Siedlungen im abgelegenen Hinterland zu gründen. Gottesdienst und Arbeit waren das Zentrum des kolonialen Lebens: „Brüder sollen ohne Noth unter der Frühstunde [Morgenandacht] nicht arbeiten, sondern lieber die Versammlung fleißiger besuchen, und sich angelegen seyn laßen ordentlicher zu kommen als bisher“10 wurde protokolliert; „es gab viel u[nd]. schwere Arbeit“11 Unter Zinzendorfs Führung verstanden die Herrnhuter ihre Kolonisierung im 18. Jahrhundert als Missionsarbeit für und mit den ‚Heiden‘, also der indigenen   5 Johann

Böhner (wie Anm. 3). Herrnhuter gerieten in Konflikt mit der englischen Kolonialverwaltung, weil sie sich weigerten Waffen zu tragen; Kontakte mit Indianern wurden ihnen verboten und ihre Siedlung konnte sich wirtschaftlich und organisatorisch nicht halten. Zwar hatte das Parlament in einem (umstrittenen) Gesetz die Mitglieder der Unitas Fratrum vom Kriegsdienst im Britischen Imperium ausgenommen, doch ihre pazifistische Haltung wurde von allen Seiten misstrauisch als Verrat, Spionage oder Gegnerschaft ausgelegt.   7 Nach der neuen Herrnhuter Sozialordnung lebten die Brüder und Schwestern in Gruppen, „Chöre“ (von corpus) später „Banden“ genannt, die nach Alter, Geschlecht und Familienstand gebildet waren: Jungen, Mädchen, ledige Frauen, ledige Männer, verheiratete Männer, verheiratete Frauen, Witwen und Witwer.   8 Diarium von Bethlehem, 24. Juni 1742, BDHP: http://bdhp.moravian.edu/community_ records/bethlehem_diary/6241742source.html.   9 Ebd. Vgl. Katherine Carté Engel, The Evolution of the Bethlehem Pilgergemeine, in: Jona­ than Strom, James Melton (Hg.), Pietism in Two Worlds, New York 2009, 163 – 181. 10 Protokoll der Helfer-Conferenz, Bethlehem, 7. August 1742, BDHP: http://bdhp.moravian. edu/community_records/bethlehem_diary/871742.html 11 Johann Böhner (wie Anm. 3).   6 Die

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Bevölkerung in nicht-christlichen, außereuropäischen Ländern.12 Die im radikalreformerischen Protestantismus verbreitete Vorstellung eines ,Neuen Jerusalem‘, eine religiös-utopische Vorstellung von einer zukünftigen, heiligen Gottes-Stadt, die aus den Scherben der jetzigen Welt durch die Erneuerung der Menschen entstehen würde, gab den Impetus zur Kolonisierung (zur Etablierung eigener Gemeinden) und zur Gründung von Missionsorten, in denen Mis­sionarsehepaare gemeinsam mit den von ihnen christianisierten Indianern lebten, deren Sprache erlernten und für sie christliche Schlüsseltexte übersetzten. Ihre Erfahrungen und Arbeit hielten sie in Berichten (Diarien, Briefen, Reisejournalen) fest, die dann durch Biografien einzelner Brüder ergänzt wurden. Die neue Ausrichtung auf Missionstätigkeit seit Mitte der 1730er Jahre schuf Siedlungsraum für die rasch anwachsende Gemeinde der Herrnhuter, die in Deutschland und Holland angefeindet, teilweise ausgewiesen wurden (Zinzendorf war von 1737 bis 1749 aus Sachsen verbannt). Wichtiger noch: die Ausrichtung auf aktive Mitarbeit in der Missionstätigkeit gab den Brüdern und Schwestern eine gemeinsame Aufgabe, eine Rolle in der religiösen Gemeinschaft und eine Lebensaufgabe. Das wird in allen – heute erhaltenen – Lebensläufen der Moravians deutlich und mit Zufriedenheit thematisiert. Aktive Mitarbeit im Sinne des Zinzendorfschen Missionsprogramms wurde schon in der Vorbereitung auf die Missionstätigkeit eingefordert. Die Missionstätigkeit war freiwillig, einzelne Brüder wurden von Herrnhut aus (von Zinzendorf, wohl auch auf Vorschlag von Ältesten oder Chorpflegern) dazu ausgewählt: Der Lebenslauf Seidel berichtet: „Im Herbst 1741 schickte der selige Jünger [Zinzendorf] eine Liste von Brüdern und Schwestern (aus London zurück) die er nach Pennsil­vanien begehrte, darunter war auch mein armer Name mitgenennt, und als es mir angetragen wurde, war ich gleich willig und fertig“.13 Dann wurde der jeweilige ‚Dienst‘ jedem zugewiesen; mehrfacher, sogar häufiger Orts- und ‚Geschäfte‘-Wechsel waren die Norm. So erhielt z. B. David Nitschmann (1676 geb. in Zauchenthal, Mähren, gest.1758 in Bethlehem, PA), den „Beruf […] zu der damals angehenden Arbeit unter den Negern in S. Thomas und Crux“ zu dienen, nach dreieinhalb Jahren (1737) „retournirte“ er nach Herrnhut, zog bald darauf nach Pilgerruh, wurde dann (1740) mit seiner Tochter Anna nach Pennsylvania geschickt, wo er in „harter u[nd]. unermüdeter Arbeit“ Bethlehem miterbaute, ließ „sich 12 Vgl.

Carola Wessel, „Es ist also der Predigtsuhl des Heilands so weit und groß als die ganze Welt“. Zinzendorfs Überlegungen zur Mission, in: Martin Brecht, Paul Peucker (Hg.), Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung, Göttingen 2005, 163 – 173. Zinzendorf gab keine konkreten Instruktionen, machte jedoch Vorschläge, dass man z. B. nur willige, interessierte Menschen zu bekehren versuchen solle. Aus der praktischen Arbeit entstanden dann Spangenbergs Von der Arbeit der evangelischen Brüder unter den Heiden (Barby 1783) und Unterricht für die Brüder und Schwestern, welche unter den Heiden dem Evangelio dienen (Barby 1784). 13 Nathaniel Seidel (wie Anm. 1); mit „seliger Jünger“ wurde Zinzendorf bezeichnet, der bei der Abfassung dieser Personalia 1782 bereits verstorben war.



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naturalisiren,14 welches der Gemeine sehr zu statten gekommen“; Nitschmann spielte eine wichtige Rolle in „Gemein-Gelegenheiten“.15 Bethlehem wurde zum Zentrum der Nordamerika-Mission und Hauptsitz der Moravian Church ausgebaut, was sich auch an dem Lebenslauf des überaus aktiven, von böhmischen Emigranten abstammenden Nathaniel Seidel ablesen lässt: Seidel kam 1739 nach Herrnhut, um Soldaten-Werbern zu entgehen, wurde bald Chor-Diener (Gehilfe beim Abendmahl) der Ledigen Brüder in Herrnhaag, dann Ältester der Ledigen Brüder in Bethlehem, Pilger-Ältester (Vorsteher der Missionare in Bethlehem), Presbyter der Bruderkirche, dann Orts-Gemein-Jünger (auf einer Rückreise nach Herrnhut), dann Oeconomos (Vorsteher in Bethlehem). 1758 wurde er schließlich zum Bischof ernannt. Die aktiven, wohl besser gebildeten Brüder wurden gefördert, zu unterschiedlichen Tätigkeiten herangezogen, zumeist mehrfach zum Predigen und zu Visitationen anderer Gemeinden abgeordnet und hin und hergeschickt. Das reflektieren die Personalia besonders der ersten Generation. Manchmal findet sich an selbstverfasster Stelle ein Seufzer, aber ohne Kritik: „Es war von allen Reisen die ich gethan die schwerste, ich verließ mich aber doch ganz auf die durchhülfe des l[ieben]. H[ei]l[an]ds“,16 berichtet die Missionarsfrau Margarethe Jungmann über ihre Erfahrungen im Ohiogebiet 1778. Aussagen wie „nun sahe ich mich in die bitterste Armuth versezt; gar manchen Tag wußten wir kaum, wo wir etwas zu essen finden würden“ kennzeichnen die schwierigen Lebensbedingungen in den Missionssiedlungen.17 In den Missionsgemeinden wurden die Indianer im Sinne der Brüdergemeinde von Missionsehepaaren christlich unterrichtet, Statuten für ein friedliches, christlich fundiertes Zusammenleben erarbeitet, und das Zusammenleben wurde auf kommunaler Grundlage gestaltet. Aber schon während des French and Indian War (also des Siebenjährigen Krieges) 1756 – 1763 gerieten die Moravians in die Territorialkonflikte zwischen den Kolonisten Neuenglands und Neufrankreichs, die mit mehreren unterschiedlichen Indianerstämmen als VerbünNaturalization Act (1740) des britischen Parlaments stellte Protestanten aus anderen Ländern nach sieben Jahren eines fortlaufenden Aufenthalts in den Kolonien den englischen Kolonisten rechtlich gleich (,Papisten‘ – Katholiken - waren ausgenommen), um Einwanderung nach Nordamerika, das zum Land religiöser Freiheit und wirtschaftlichen Aufstiegs deklariert wurde, zu fördern; man brauchte Siedler als Arbeitskräfte zur Kolonisierung. 15 „Ein kurzgefaßtes Promemoria […] Unsers lieben Alt-Vaters und venerablen Senioris David Nitschmanns“, BDHP: http://bdhp.moravian.edu/personal_papers/memoirs/dnitschmann/ dnitschmann.pdf. David Nitschmann war der Vater von Anna Nitschmann (1715 – 1760), der zweiten Frau von Zinzendorf, und der Onkel des ersten Bischofs der Moravian Church David Nitschmann (1695/6 – 1772). 16 Moravian Archives, Memoirs Diary Bethlehem, Bd. 37, 474 – 487, hier 481, transkribiert in: http://katiefaull.com/moravian-materials/umgang-mit-dem-heiland-lebenslaufe-bethlehemerschwestern/margarethe-jungmann-1721 – 1793/. 17 Ebd., 482. 14 Der

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deten die Kolonialkriege – Stellvertreterkriege für die Kolonialmächte England, Frankreich und Spanien – führten. Aus der Perspektive der Kolonisten (und der Kolonialmächte) waren die Indianer und deren deutsche Missionare eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit, sie fürchteten die Angriffe der überaus starken aber vergleichsweise kleinen indianischen Gruppen.18 Die Kolonisten und Landspekulanten beanspruchten das Land für sich und wollten es nicht den als minderwertig angesehenen ‚Wilden‘ überlassen.19 Nach der Staatsgründung der USA 1788 durften keine neuen Missionssiedlungen mit Indianern mehr angelegt werden und die Missionsarbeit wurde reduziert. In den kriegerischen Konflikten zwischen den von der Ostküste vertriebenen und im Ohiogebiet ansässigen Indianern, den Kolonisten und den Truppen der Kolonialverwaltung standen die Missionsorte zwischen allen Fronten. Dazu kam nach der Staatsgründung der USA ein starker Siedlungsdruck durch die schnell wachsende, vor allem aus West- und Mitteleuropa einwandernde Bevölkerung und durch das fast unkontrollierte Squatting (illegale Landaneignung durch Siedler). Das beschleunigte den Prozess der fast vollständigen Auslöschung vieler Indianerstämme, der spätestens mit dem Indian Removal Act von 1830 begann und sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hinzog. 20 Die Herrnhuter Missionsorte als religiöse „Gemeine“ mit christianisierten Indianern waren ein interkulturelles Kolonialmodell, das nicht überlebensfähig war.

18 Zum

Indianeraufstand im Ohiogebiet, vgl. u. a. Stephen F. Dowd, A Spirited Resistance. The North American Indian Struggle for Unity 1745 – 1815, Baltimore 1992. Die Indianerstämme wurden von den Kolonialmächten nicht als souveräne Nationen und Vertragspartner anerkannt. 19 Mit der Staatsgründung der USA 1786 wurden Pläne für eine ,Zivilisierung‘ und ‚Assimilierung‘ der Indianer entworfen; wichtig wurde diese Politik unter Thomas Jefferson, dem dritten Präsidenten (1801 – 1809). Man wollte den Indianern das ,Licht der Zivilisation‘ bringen, indem man die Männer in landwirtschaftlichen Tätigkeiten, die Frauen in häuslichen Verrichtungen und Webarbeiten unterrichtete und beschäftige. 20 Der Indian Removal Act schuf – allerdings unter großer Opposition, das Repräsentantenhaus stimmte ihm nur mit 102 zu 97 Stimmen zu – die gesetzliche Grundlage für die Ausweisung der Indianer aus den östlich des Mississippi gelegenen Bundesstaaten. – In der Zeit zwischen dem Indian Removal Act von 1830 und dem Bürgerkrieg War (1861 bis 1865) wurden 50 Stämme aus ihren Wohngebieten zwangsweise entfernt. Weit über 50.000 Menschen zogen westwärts, von ihnen starb weit mehr als ein Viertel. Die Überlebenden trafen auf völlig neue klimatische und landschaftliche Bedingungen, die ihre Lebensgrundlage zerstörten.



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II. Funktion und Form der Personalia als Lebensläufe, ihre AutorInnen und besondere Aspekte: Migration, Mission und Fremderfahrung. Wie im Herrnhuter Diarium von 1747 protokolliert wurde, ordnete Zinzendorf die Abfassung von Lebensläufen an: es solle „künftig in der Singstunde eine kurtze Nachricht von dem Br[uder] oder Schw[ester], die heimgegangen, der Gem[eine] mitgetheilt u[nd] ihrem Seelgen ein Vale nachgeschickt werden, gleich als wenn man ihnen […] fare wel sagte“.21 Zinzendorf gab als Beispiel eine Kurzbiografie eines kürzlich verstorbenen, aus Norwegen stammenden „Jüngers“, der „zur Gemeine gekommen war“ und im Garten von Marienborn gearbeitet hatte. Die frühen Herrnhuter Lebensläufe aus den 1750er Jahren bestanden teilweise aus Protokollnotizen, die bei der Ankunft in Herrnhut gemacht wurden, und enthielten Daten und Stationen in der Biografie mit nur teilweise selbstverfassten Aussagen der Person, die dann von dritter Hand zu fremdverfassten kleinen Biografien ergänzt wurden. Erst später wurden die Herrnhuter Lebensläufe als Aufsätze zu selbstverfassten Zeugnissen über den „Gang durch die Zeit“ mit Gott und zu Gott weiterentwickelt. Als narratives Genre standen die Lebensläufe „in der Tradition von pietistischer Biografik, von Leichenpredigten wie auch von Exempelgeschichten der Erbauungsliteratur“22 und wurden dann ein “wichtiges Medium der Vergemeinschaftung“.23 Sie förderten Zusammenhalt und Identität der Gruppe, etablierten Abgrenzungen von anderen konkurrierenden religiösen Gruppen.24 Die in engem Kontakt mit Herrnhut stehende Missionssiedlung Bethlehem übernahm die Lebenslauf-Praxis und rechtfertigte in den Aufsätzen die Arbeit der einzelnen Brüder bei der Kolonisierung und Missionsarbeit. Es war ebenfalls üblich, nach dem Tod eines Gemeindemitglieds dessen Lebenslauf bei der Beerdigungszeremonie zu verlesen.25 21 Zitiert

nach Christine Lost, Das Leben als Lehrtext. Lebensläufe aus der Herrnhuter Brüdergemeine, Baltmannsweiler 2007, 9. 22 Pia Schmid, Herrnhuter Lebensläufe (Moravian Memoirs) als erziehungshistorische Quelle, in: Pietismus und Neuzeit 38 (2012), 119 – 135, hier 120. 23 Pia Schmid, Bildungsgänge sub specie religionis. Herrnhuter Lebensläufe des 18. Jahrhunderts, in: Juliane Jacobi, Luc Le Cam, Hans-Ulrich Musolff (Hg.), Vormoderne Bildungsgänge. Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2010, 85 – 96, hier 84. 24 Jonathan Strom, Pietist Conversion Narratives and Confessional Identity, in: David M. Luebke u. a. (Hg.), Conversion and the Politics of Religion in Early Modern Germany, New York, Oxford 2012, 135 – 152. Strom weist auf die zahlreichen in den 1730er und 1740er Jahren publizierten Personenbiografien hin, die besonders von protestantischen Theologen verfasst wurden, um doktrinäre Standpunkte zu propagieren und damit konfessionelle Identität zu schaffen. 25 Einen Eindruck von der Beerdigungszeremonie in Bethlehem gibt die ausführliche Schilderung im Lebenslauf des Ältesten David Nitschmann von 1758 (wie Anm. 15): „Seine respectable Leiche wurde […] in unserm Leichen-Capellgen von den Geschw. fleißig besucht und mit naßen Augen angesehen. […] Abends um 5 Uhr kam man zuerst auf dem Gemein-Saal zu dem

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In den Moravian Archives in Bethlehem, PA, haben sich Lebensläufe/Personalia in großer Anzahl erhalten.26 Die Texte aus den ersten Generationen bis etwa 1820 sind zumeist in deutscher Sprache verfasst; es sind fremdverfasste Narrative mit autobiographischen Passagen, die die Aufbaujahre aus der Per­ spektive einzelner, oft wichtiger Personen unterschiedlicher Herkunft reflektieren, die im Diarium aufgezeichnet wurden. Handschriftliche Kopien des Diariums gingen nach Herrnhut und wurden für die „Gemeinnachrichten“ exzerpiert, die zu anderen Missionsorten und Gemeinden der Brüder (zunächst in handgeschriebenen Teilkopien) geschickt wurden. Diese Lebenslauf-Praxis gehört somit in das umfassende Berichtssystem der Herrnhuter, sie ist Teil der Verschriftlichung des religiösen und praktischen Lebens dieser Religionsgemeinschaft. Die in Bethlehem überlieferten Manuskripte sind keine Autografen und die als Personalia bezeichneten Texte stellen eine Mischform aus Protokoll und Autobiographie dar, die unterschiedlich starke spätere Eingriffe und Selektionen erfahren haben. Wie der Archivleiter in Bethlehem Paul Peucker dargelegt hat, wurde in den Unitätsarchiven nach Zinzendorfs Tod, in der sogenannten Sichtungsperiode zwischen 1760 und 1810, von speziell ernannten „Revisoren“ in viele Dokumente selektiv eingegriffen oder sie wurden „cassirt“ (vernichtet), wenn sie nicht in das veränderte Selbstverständnis der Herrnhuter passten. Das betraf besonders vertrauliche, persönliche Briefe und Zeugnisse.27 Die Revisio­ nen sollten die Lutherische Ausrichtung der Herrnhuter betonen und jegliche Spuren des radikalen Pietismus und der „Erweckung“ (enthusiasm) ausmerzen. 1789 wurde Bischof Ettwein damit beauftragt, die Personalia in Behtlehem durchzusehen, davon Inhaltsangaben anzufertigen und unliebsames Material Ende zusammen“. Gesang, Posaunenchor, Gebete, Predigt werden berichtet, dann folgt nochmals eine Kurzfassung seines Lebens. „Dann ging man in einer ansehnlichen schönen Procession auf den Gottes-Acker. […] Auf dem Gottesacker selber witterte ein sehr angenehmes Gefühl als man die abgelegte Hütte unter Br. Petri schönen Liturgie […] mit der Hofnung beerdigte, daß sie, sobald sie sie geklärt, die Seele wieder holen wird“. Darauf wird der Leichenzug, ein Spiegel des gegliederten, geordneten Gemeindelebens, ausführlich beschrieben und mit den herrnhutischen religiösen Werten verbunden. 26 Vgl. BDHP http://bdhp.moravian.edu/about/about.html. – Die aus den Moravian Archives von Katherine Faull, Moravian Women’s Memoirs. Their Related Lives, 1750 – 1820, Syracuse 1997, veröffentlichten Lebensläufe sind nur in englischer Übersetzung und ohne Quellenkritik publiziert worden. 27 Paul Peucker, Selection and Destruction in Moravian Archives Between 1760 and 1810, in: Journal of Moravian History 12,2 (2012), 171 – 215, hier 195 f. Bischof Ettwein fand nicht die Zeit, alle Lebensläufe durchzusehen, dennoch wurden viele Dokumente ausgesondert. ­Peucker konzentriert sich auf die Überlieferung von Zinzendorf betreffende Dokumente. – Für die Herrnhuter bedeutete ihr Archiv eine Art Fortsetzung der Bibel, der Geschichte der Kinder Gottes, deshalb wurde dem Archiv besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Synodaldokumente konnten nicht vernichtet werden, daher wurden sie sequestriert und die Archive lange geschlossen gehalten.



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auszusortieren. Deshalb ist auch die textuelle Verfasstheit wichtig, wenn es um die Aussagefähigkeit als individuelle Selbstzeugnisse geht. Die Lebensläufe der Moravians wurden nicht als Autographen niedergeschrieben, sondern immer von dritter Hand aufgezeichnet. Wohl finden sich in vielen Personalia als ‚selbst verfasst‘ gekennzeichnete Passagen in der IchForm; diese sind zumeist relativ kurz, erscheinen als Mitteilung für den Schreiber und geben den Anschein von Authentizität für die Gemeinde. Vielfach wurden Krankheits- und immer auch die Todesumstände dem Lebenslauf von dritter Hand hinzugefügt. Die Lebensläufe sind hybride Texte mit einer Art von kollektiver Autorschaft, keine subjektiven, individuell differenzierten Selbstaussagen. Es handelt sich um Berichte Dritter mit eingeflossenen individuellen Aufzeichnungen der Subjekte. Wie die Selbstthematisierung heute zu lesen ist, sei es als Konfession, Rechenschaftsbericht oder als Beschreibung religiöser bzw. ethnischer Identität, kann nur mit Blick auf einzelne Texte annähernd zu bestimmen versucht werden. Es sind keine Autobiografien im modernen Verständnis, die sich als Selbstzeugnisse eines expliziten Ichs darstellen. Abgesehen von (unterschiedlichen) zensurartigen Eingriffen, denen die frühen Herrnhuter Lebensläufe (nicht nur in Bethlehem) unterlagen, fand auch inhaltlich eine Modifikation, eine Art von Kontrolle des jeweiligen Lebens durch die Herrnhuter Frömmigkeit und Ethik statt: im religiösen Unterricht, in (täglichen) Andachten und Singstunden, in Gesprächen (im Chor und mit Chorführern), mit einer täglichen „Losung“ (Bibelversen) und „Lehrtexten“.28 Diese hatten den Zweck, für das Leben Orientierung zu bieten, „sie sollten ‚Leben’ beeinflussen“ und korrigieren.29 Religiös und ethisch betrachtet waren die hybriden, fremdverfassten Lebensläufe und die autobiografischen Passagen dennoch „innerhalb eines gemeinsamen kommunikativen Feldes angesiedelt“. 30 Die Eckpunkte bei allen Texten sind Geburtsdatum und -ort sowie eine Nachricht über den Tod mit Sterbedatum. Die chronologisch angelegten Texte zeigen dasselbe, je nach Personendaten variierte Grundmuster, eine Gliederung in Namen und Herkunft und Eltern, frühe religiöse Anbindung oder Konfession, Kindheit und Erziehung oder Schule, (sündhaftes) Leben, Migration nach Amerika, Weg zur Brüdergemeine (ausgesprochene Bekehrungserlebnisse sind allerdings selten), Arbeit und Rolle bei den Brüdern, Ehe und Kinder, Reisen und Missionstätigkeit, Lebensende mit Lebensalter (oft mit Krankheitsverlauf und 28 Die

,Losungen‘ wurden seit 1728 für ein Kalenderjahr (ab 1812 nur aus dem Neuen Testament) ausgelost, nach einigen Jahren wurden zusätzlich ergänzende Textstellen hinzugefügt, die seit 1763 als ,Lehrtexte‘ bezeichnet wurden. 29 Lost, Das Leben als Lehrtext (wie Anm. 21), 7. 30 Pia Schmid, Frömmigkeitspraxis und Selbstreflexion. Lebensläufe von Frauen der Herrnhuter Brüdergemeine aus dem 18. Jahrhundert, in: Sonja Häder (Hg.), Der Bildungsgang des Subjekts. Bildungstheoretische Analysen, Weinheim 2004 (Zeitschrift für Pädagogik. 48. Beiheft), 48 – 57, hier 52.

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seligem Sterben). Diese Stationen sind unterschiedlich vollständig und breit in den Lebensläufen der Moravians beschrieben; eine Vielfalt von erlebten Episoden wird in einer eher sachlichen Berichterstattung dargeboten. Die religiösen Passagen werden gefühlvoll, oft breit und betont hervorgehoben, zumeist mit Versatzstücken aus Lehrtexten dargestellt. Es sind indes keine Erweckungsoder detaillierten Bekehrungs-Geschichten, der Bußkampf ist ersetzt durch das Ideal der Selbstaufgabe und ein kindliches Vertrauen in die Liebe des verwundeten, leidenden Heilands.31 So wird über den Drang nach der eigenen Seligkeit der (aus Salzburg stammenden) Katholikin Marie Werner und ihre stufenweise Zulassung in der dritten Person berichtet: Es fügte sich, daß sie zu Leuten kam, wo die sich familien-weise des Nachts versamleten, in Dr. Luthers Postilla u[nd]. in der Bibel lasen u[nd]. auch dergl[eichen]. Lieder sungen, denen sie mit beywohnete, u[nd]. ihr dabey wohl war, und dieses veranlaßete Sie mit den übrigen Exulanten ao. 1731 aus ihrem Vaterlande zu gehen […] und thats mit solcher freudigkeit, daß weder ihr Vater noch die Herrschaft, welche ihr besonders gute worte gaben, Sie zum bleiben bereden konnten, weil sie glaubte, solche Leute unter den Lutheranern anzutreffen, die so lebten, wie sie hatte verlesen hörte, und es glükte ihr auch, daß, da sie sie um Lichtmeß nach Augspurg kam, sie gleich von Geschw[ister]. Siers […] in diensten genommen wurde, welche Sie als ein Kind in ihrem Hause hielten, auch alle Tage eine halbe stunde Information zum lesen lernen, bey ihren kindern genießen ließen.32

Nach der Konfirmation erfolgte dann die Aufnahme, die Abendmahl-Zulassung und die Aufnahme ins Stundengebet. Die Darstellungen der psychischen Verfassung, wie etwa ein Bekenntnis von Sünden oder Reue, sind manchmal in Ich-Passagen abgefasst, oft werden sie auch als Anlass für den Weg zu den Herrnhutern beschrieben, bevor die Person in die Mission abgeordnet wird. Jedoch erscheinen formelhafte Wendungen („unser seliger Bruder“) in religiösen Passagen, um das Christus-zentrierte Leben mit den spezifischen Herrnhuter Formulierungen („ein Liebes=Brand gegen die Geschw.[ister] in mir entstund“) zu thematisieren. 33 Einer der frühesten Lebensläufe ist das (bereits erwähnte) „Promemoria […] Unsers lieben Alt-Vaters und venerablen Senioris David Nitschmanns“ von 1758, das, obwohl explizit als „kurzgefaßt“ bezeichnet, mit zwölf Manuskriptseiten zu 31 Anders als die Methodisten waren die Moravians mehr quietistisch, weniger kämpferisch, mehr mit der Hingabe an den leidenden Christus als verwundeten Geliebten und Bräutigam beschäftigt als mit dem eigenen emotionalen Befinden; ihre Narrative waren stärker von der Liturgie, die sich an Zinzendorf orientierte, geprägt. Vgl. Bruce D. Hindmarsh, Poor Sinnership: Moravian Narrative Culture, in: B. D. H., The Evangelical Conversion Narrative. Spiritual Autobiography in Early Modern England, Oxford 2005, 162 – 192. 32 Marie Werner, BDHP: http://bdhp.moravian.edu/personal_papers/memoirs/werner/werner.html. 33 So bei dem Matrosen Andreas Schout, BDHP: http://bdhp.moravian.edu/personal_papers/ memoirs/schout/schout.pdf.



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den längsten gehört. Als „Promemoria“ wird der Memorialcharakter angesprochen; der (vielleicht vom Protokollanten des Diariums verfasste oder redigierte) Lebenslauf erinnert eher an eine Leichenpredigt und betont – nach wichtigen Details über die Leistungen dieses Gründervaters – seine religiöse Haltung. Dann werden die Trauerrituale- und Feierlichkeiten bei dem Begräbnis breit beschrieben. Mit der Schilderung des Begräbnisses dürfte dieser Lebenslauf eine Vorgabe für weitere Bestattungszeremonien geliefert haben. Darüber hinaus erscheint er als Dank der Brüdergemeinde und Hinweis auf ein erfülltes, erfolgreiches Leben in ihrem Dienst. Er wurde wohl auch mit Blick auf Herrnhut verfasst, wohin man die Missionserfolge zu berichten hatte. Der Bericht über den Indianer Michael (gest. 1758) aus demselben Jahr wie Nitschmanns erfüllt in der von Zinzendorf anempfohlenen Kürze die Funktion der Personalia: Unser bruder Michel der seit 2 monath krank war und von Zeit zu Zeit schwächer wurde mit dem gieng um 8 Uhr eine veränderung vor das mann sahe er wirde es nicht lange mehr machen. Und auf sein sterbensleben zu mittag um 12 Uhr verlies. Hier folgen einige Personalia von ihm. Er hat sein Alter auf etlich und 70 Jahr gebracht. Von der Mennesinger Nation. […] Anno 42 ward er bey der großen erweckung in Checomeco vom heil[an]d. ergriffen und auch noch selbiges Jahr den 24ten December in den todt Jesu getauft. und daß folgende Jahr von den ersten mit Zur heiligen Commonion admitirt. Er kriegte gleich einen tiefen ein druck vom heil[and]d. wunden ins herz der ihm bis an sein ende geblieben ist.34

Die ungelenke Sprache und Orthografie sind charakteristisch für frühe, wohl von einem Chorbruder (nicht von Predigern oder dem offiziellen Protokollanten) verfasste Berichte. Die (von derselben Hand am Rand des Manuskriptblattes eingefügte) Nota zeigt, wie anders die – als ,Heiden‘ oder auch ‚Wilde‘ bezeichneten – zu bekehrenden Indianer den Missionaren erscheinen mussten und wie ,wunderbar‘ in ihren Augen die Bekehrung erfolgte: Nota: Er soll in seiner Jugend ein großer kriegsmann gewesen seyn, wie gewöhnlich unter den wilden, u[nd]. soll einmal in einem Gefecht von 6 - 8 Stunden lang ausgehalten haben. da wohl bis 20 kugeln in den baum geschoßen wurden, bey dem er stund, u[nd]. lud. Er hatte auch (wie man noch an den sehr alten Ind[ianern]. sieht,) sein gesicht mit figuren bemahlt mit Schies-Pulver, so daß es nicht mehr ausgieng, u[nd]. sein vergnügter blick im Sarge mit den Figuren gab einen artigen Aspect. Die figuren, die er im gesicht hatte, waren auf der rechten Seite am Schlaf eine große Schlange, u[nd]. bey der Lippe fieng eine Stange an, die zwischen dem Aug u[nd]. der Nase durch u[nd]. bis über die Stirn hinauf aufs haupt, an welcher Stange alle 4tel Zoll so eine Runde- figur war wie ein scalp. Auf dem linken backen hatte er 2. Spiese creutzweise über einander, u. am Lienbacken einen wilden Schweinskopf alles sehr nett gemacht.35 34 Michael,

BDHP: (http://bdhp.moravian.edu/personal_papers/memoirs/michael/michael.

html). 35 Die Nota ist auf dem Seitenrand vermerkt (ebd.).

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Michael wurde abschließend als „gewiß die Crone von allen unsern getaufften Indianer in dem welt theil“ bezeichnet; seine Vita legte exemplarisch Rechenschaft über den Erfolg der Missionsarbeit ab. Ein „permanenter pädagogischer Zustand‘,36 wie er für die Herrnhuter Lebensläufe insgesamt reklamiert wird, trifft weniger für die vielfach alltäglichlebensnahen Texte der Moravians zu, die in der Erzählung ,äußerlicher‘, lebensweltlicher Episoden bunt und vielfältig sind. Die zahlreichen Herkunftsorte und unterschiedlichen Berufe der Personen fallen auf: Viele stammen aus Mähren (u. a. die Zeisbergers, die Nitschmanns) und Böhmen (Catharina Huber, Nathanael Seidel) und kommen über Herrnhut nach Pennsylvania; andere Moravians stammen aus Württemberg, aus Hugenottenfamilien, aus der Pfalz, Franken, Salzburg, Holland, Kopenhagen, aus der Schweiz; in der nächsten Generation tauchen mehr Geburtsorte in England und Nordamerika auf. Vielfältig sind auch die Berufe und Arbeitsgebiete. Soweit ersichtlich, waren unter den Moravians kaum Akademiker (ein Studium wird in keinem der Lebensläufe erwähnt), sondern Handwerker, viele konnten lesen und schreiben (oder wurden im Unterricht, in den täglichen Andachten, Singstunden und Bettagen zum Lesen gebracht). Erstaunlich ist die Bandbriete der Berufe und Beschäftigungen; ein Verzeichnis von 1759 für Bethlehem nennt 62 Berufssparten für Männer von Arzt bis Nachtwächter, darunter sind 28 traditionelle Handwerksberufe wie Drechsler, Schreiner oder Buchbinder. Die enorme Aufbauarbeit der Kolonisierung spiegelt sich darin. Auch finden sich ausgesprochene Abenteurergestalten, wie der ehemalige Soldat, dann Matrose und Steuermann Andreas Schout (1700 – 1762), in dessen (bis zum Dienstbeginn bei den Herrnhutern 1744 selbstverfassten) Lebenslauf sich allerhand abenteuerliche Episoden finden. 37 Bei „Andrew, der Mohr“ (1727/9 – 1779), der seit 1746 in Bethlehem lebte, erzählt der fremdverfasste deutsche Lebenslauf dessen Weg, der aus Nigerien in die Sklaverei und schließlich zu den Moravians führt, die ihn nach seiner Freilassung auf seinen eigenen Wunsch (und Drängen) hin als volles Mitglied aufnahmen.38 Auch bei dem ehemaligen Soldaten Peter Rose (1733 – 1814), der als Nachtwächter, Totengräber und Brücken-Zolleinnehmer einfache Arbeiten verrichtete, berichtet der Lebenslauf bunte lebensweltliche Details, die den Weg zu den Moravians einleiten und im Narrativ dann mit den oft (späteren) Zeichen seiner Frömmigkeit verbunden werden.39 36 Lost,

Leben als Lehrtext (wie Anm. 21), 5 und 7. Schout (wie Anm. 33) diente als Steuermann bei Johann Nitschmann, Bruder Garrison und Bruder Jacobsen bei Transatlantiküberquerungen und anderen Schiffsreisen. 38 Vgl. Daniel B Thorpe, “Chattel with a soul”: The Autobiography of a Moravian Slave, in: Pennsylvania Magazine of History 112 (1988), 433 – 451. 39 Lebenslauf, Br. Peter Rose, BDHP: http://bdhp.moravian.edu/personal_papers/memoirs/ rose/rose.pdf. Der fremdverfasste Lebenslauf ist in säuberlicher Abschrift mit geglätteter Sprache erhalten. 37 Andreas



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Die Lebenslauf-Praxis der Herrnhuter enthält auch noch eine weitere Besonderheit für das 18. Jahrhundert: Etwa die Hälfte der Personalia enthalten Lebensläufe von Frauen, die für das Jahrhundert in dieser Vielfalt und sozialen Breite sonst nicht vorhanden sind.40 Frauen wurden bei den Herrnhutern aktiv an der Sozialstruktur beteiligt und arbeiteten auf allen Gebieten und Ebenen mit, bei den Moravians waren sie unentbehrliche Partner bei der Kolonial- und Missionsarbeit. Sie wurden in der Regel per Los – auf Anraten der Ältesten – mit einem Bruder verheiratet, lebten und arbeiteten aktiv auch als Chorpflegerinnen in ihrem Chor mit. So war z. B. die aus Salzburg stammende Marie Werner (1711 – 1759) „die erste led.[ige] Schwestern Pflegerin in diesem Lande [Pennsylvania], muste aber ihre Pflege-Kinder oder Chor Verwandten hie und zerstreudt aufsuchen und bedienen“; sie wurde „zu dem Pilger-Rade mitverordnet, das nebst ihr die Geschw[ister] Kohns u. Br[uder] Gottlieb formirte, das einige Jahre das Land durch zog und die Sache des Heilands wo es hinkam, zu dienen suchte“, und wurde dann Vorstand der „Nurserie“.41 Frauen arbeiteten in der Haus- und Landwirtschaft, als Diakonissen, Lehrerinnen, betreuten Kinder, Kranke und ihre Ehemänner. Als Missionars(ehe)frauen versorgten sie die Missionare, kümmerten sich um die Indianerfrauen und -kinder und lernten Indianersprachen. Missionarsfrauen wurden sorgfältig ausgewählt und vorbereitet. Ihre Lebensläufe verzeichnen verstärkt die Entbehrungen und Gefahren: Die Diakonin Susanna, die 1781 mit dem 35 Jahre älteren David Zeisberger, der über 60 Jahre lang als Indianermissionar tätig war, verheiratet wurde, berichtet aus der Missionssiedlung Schönbrunn (Ohio) im selbstverfassten Teil ihres Lebenslaufes von ihrer Gefangennahme: Mit einem fürchterlichen Todengesang wurden wir ins Lager gebracht. Nachmals aber wurde mir doch Erlaubniß gegeben meinen David zu besuchen. Ihm waren ebenfalls die Kleider vom Leib gerißen worden […] Das war ein Gruß mit Thränen als wir zusammen kamen. Selbst die Wilden wurden erweicht. Unsre Gefühle bleiben unausgedrückt. – Aus dem Schoos der Gemeine heraus – ohne Speise und Trank, ohne die nothdürftigste Bedeckung! – 42

40 Vgl.

hierzu den Überblick bei Christine Hucho, Weiblich und fremd. Deutschsprachige Einwandererinnen im Pennsylvania des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2005, 428 – 464; Katherine Faull, The American Lebenslauf: Women’s Autobiography in Eighteenth-Century Moravian Bethlehem, in: Yearbook of German-American Studies 27 (1992), 23 – 48; und Faull, Moravian Women’s Memoirs (wie Anm. 26). 41 Marie Werner (wie Anm. 32). Der fremdverfasste Lebenslauf nennt sie als „treue Gehülfin des Br[uders]. Christ. Werners“, die lutherische Formulierung für die Ehefrau als Gehilfin des Mannes. 42 Susanna Zeisberger, BDHP: http://bdhp.moravian.edu/personal_papers/memoirs/zeisberger/zeisberger.html. Dieser Bericht ist mit „schreibt sie selbst“ eingeleitet und nach ihrem Tod 1824 (45 Jahre nach dem hier beschriebenen Ereignis) aufgezeichnet worden.

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Gefühle der Angst und der Freundschaft gegenüber den Indianern als Ausdruck für die Fremderfahrung der anderen, unbekannten Kultur sind typisch in den Lebensläufen; europäische Überheblichkeit fehlt jedoch. Die Ängste vor Gewalttaten (der Indianer und der kolonialen Milizen) werden von den pazifistischen Moravians in ihren Lebensläufen deutlich artikuliert und geduldig („mit stiller Ergebenheit“) mit großem Vertrauen auf Christus („ganz auf den Heiland gerichtet“) ertragen. Das Leben der Moravians wird als „Dienergang“ bezeichnet und erhält Sicherheit durch die Gewissheit „im Schoos der Gemeine“ zu leben. Die Lebensläufe vieler Frauen zeigen, dass sie – trotz hoher Arbeitsanforderungen, primitiven Lebensbedingungen und erheblicher Müttersterblichkeit – ein hohes Alter von 60 bis zu 95 Jahren erreicht haben.43 Über ein langes und bewegtes Leben gibt es viel zu berichten; die Lebensläufe sind jedoch immer auch von der religiösen Perspektive der Herrnhuter bestimmt. Außerdem ist bei dieser bunten Vielfalt der Subjekte, deren religiöse Einkleidung jedoch sehr homogen ist, festzuhalten, dass die Verfasser der Lebensläufe keine Schulbildung erhalten hatten. Sie waren auch keine sozial homogene Gruppe wie etwa die Schüler einer Lehranstalt oder Mitglieder einer Loge oder professionelle Theologen, sondern religiöse Laien und Migranten. III. Rechenschaft und Kontrolle: Die Lebensläufe der Moravians als Texte für Charakterbildung, ­Menschenführung und Vergemeinschaftung Christine Lost hat kürzlich die Herrnhuter Lebensläufe insgesamt in ihrem religiösen und konfessionellen Kontext umfassend untersucht und dabei auch die rituellen, die historischen, die praktischen und die kommunikativen Aspekte berücksichtigt.44 Aus der Innenperspektive der Herrnhuter spricht Dietrich Meyer im Vorwort zu dieser Untersuchung von der geistig-lebenspraktischen Verortung [in den Lebensläufen], da sie sich einerseits der Moderne und der im 18. Jahrhundert beginnenden Autobiografisierung des eigenen Lebens mit dem Ich im Zentrum anschließen, andererseits das Ich im Kontext eines

43 Anna

Rosina Schlegel (1761 – 1831) wurde 70, BDHP: http://bdhp.moravian.edu/personal_papers/memoirs/schlegel/schlegel.html; Elisabeth Horsfield (1754 – 1836) wurde 82, BDHP: http://bdhp.moravian.edu/personal_papers/memoirs/horsfield/horsfield.html; Catherine Huber (1703 – 1798), deren Leben die Tochter aufgezeichnet hat, wurde 95 Jahre, BDHP: http://bdhp. moravian.edu/personal_papers/memoirs/huber/huber.html. 44 Lost, Das Leben als Lehrtext (wie Anm. 21), 21. „Das Leben als Lehrtext“ ist die zentrale und von Ulrich Herrmann (Professor für Allgemeine und Historische Pädagogik in Tübingen) übernommene These Losts, die fünf Funktionen des Lebenslaufes betont: die rituelle, die historische, die praktische, die kommunikative und die pädagogische Funktion.



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religiös und gemeinschaftlich orientierten Lebens im Blick auf Gott thematisieren und reflektieren.45

Diese Wertung gilt sicher besonders für Herrnhuter Lebensläufe aus dem 19. und 20. Jahrhundert, in denen subjektive religiöse Erlebnisse und Überzeugungen in der Modellierung des Individuums autobiografisch rekapituliert, erinnert, moduliert und versprachlicht werden. Den geographisch lokalisierten Bestand aus der Herrnhuter Siedlung Neudietendorf (Thüringen) hat jetzt Stephanie Böß aus ethnographischer Perspektive als Erinnerungskultur mit großer Detail- und Textkenntnis in spezifisch brüderischen „ausgewählten Leitlinien des Erinnerns“ vorgestellt.46 Sie betont die Exempelfunktion der Lebensläufe, die von ihren Verfassern und der Gemeine, in der sie gemeinschaftlich gelesen wurden, als wichtige Bereicherung des eignen Lebens empfunden wurden und als Bindungsgedächtnis, als Medien des kollektiven Gedächtnisses dienten.47 Pia Schmid hat pädagogische Aspekte in ausgewählten Lebensläufen aus dem 18. Jahrhundert als „Bildungsgänge sub specie religionis“48 sehr differenziert herausgearbeitet und in ihrer pädagogischen Funktion untersucht. Dabei werden sie besonders „als vormoderne Bildungsgänge“ verstanden, ihre Verbindungen zu Autobiografie und Individualisierung werden hervorgehoben. 49 Die Lebensläufe der Herrnhuter geben Auskunft über die Rechenschaft des Individuums vor sich selbst, vor Gott, vor der Gemeinde und vor der Geschichte50. Sie „formulieren gelungenes Leben im Hinblick auf Gott sowie die Selbstverortung und das Engagement in der Gemeine und sichern über diese kommunikative Tradierung das historische Bewusstsein und die Kontinuität der religiösen Organisation“.51 Für die aus dem 18. Jahrhundert überlieferten Personalia der Moravians ist hier zu differenzieren. Sicherlich war die Religionsgemeinschaft bestimmend und entscheidend für die biografische Schreibpraxis in dem Sinn, dass die Chris­tologie Herrnhutischer Prägung die religiöse Mitte für die verschrift45 Vorwort

zu Lost, ebd., X–XV, hier XIV. Böß, Gottesacker-Geschichten als Gedächtnis. Eine Ethnographie zur Herrn­ huter Erinnerungskultur am Beispiel von Neudietendorfer Lebensläufen, Münster 2015 (Studien zur Volkskunde in Thüringen, 6), 125 – 259: Wege in eine „himmlische Welt‘, Stationen auf dem Weg zur Brüdergemeine, brüderisch leben und sich in die „gehörigen Ordnungen finden“, Stufen der Gemeindisziplin, Ordnung der Erinnerung, brüderisch glauben, Umgang mit dem Heiland, Heilandserscheinungen, brüderisch sterben, Verfügungen für Tod und Begräbnis. 47 Ebd., 119. 48 Schmid, Bildungsgänge sub specie religionis (wie Anm. 23), 85 – 96. 49 Juliane Jacobi, Geförderte Lebensläufe? Werdegänge Hallensischer Waisenkinder 1695 – 1730, in: Jacobi, Le Cam, Musolff (Hg.),Vormoderne Bildungsgänge (wie Anm. 22), 115 – 130. 50 Siegfried Bayer, Zeugnis und Vermächtnis an die Gemeinde. Die Bedeutung des Lebenslaufs in der Brüdergemeinde, in: Mitteilungen aus der Brüdergemeine 464 (1988), 8 – 11, hier 9. 51 Nicole Welter: Rezension von: Lost, Das Leben als Lehrtext (2007), in: EWR 7,1 (2008), (veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383400149.html. 46 Stephanie

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lichten Lebensläufe der Moravians im 18. Jahrhundert darstellen. Dazu kommt die gemeinschaftliche Sozialordnung mit den Anforderungen der Mission und Kolonisierung, die die Personalia reflektieren. Sie sind jedoch das Produkt einer besonderen Art von Gemeinschaftsarbeit und –leben in einem gemeinsamen frommen Lebensentwurf, was den Inhalt der erzählten Leben strukturiert und ausfüllt. Quellenkritisch betrachtet, sind es keine Autografen, sondern fremdverfasste und von dritter Hand niedergeschriebene Biografien, viele haben Einschübe, die besagen, das Subjekt habe sie selbst verfasst oder mündlich diktiert. Manchmal heißt es, dieser Lebenslauf wurde von einem Bruder aufgezeichnet, auch der Ehemann und die Tochter werden als Schreiber erwähnt. Wichtig waren auch Gespräche und andere mündliche Vorstufen, etwa das Sprechen in den Chören („Banden“), vertraulicher Austausch („Herzensgespräche“) mit Freunden und Vertrauten, die in die Lebensläufe mit eingegangen sind. Im „ Lebenslauf der am 20ten Dec. 1831 selig entschlafenen led[igen]. Schwester Elisabeth Lewis“, die ihren „Lauf durch diese Zeit schriftlich aufgesetzt“ hat, heißt es: „Im Schwestern Haus in Fulnec fand ich was ich gehofft hatte, u. die vertraulichen Herzens Gespräche mit den Schwestern in meiner Stube gereichten mir täglich zum größten Nutzen“; die Hoffnung dieser 1743 in London geborenen Schwester war gewesen, „aus dem Gerausch der Erden an ein stilles Plätzgen zu kommen“.52 Dieser späte Lebenslauf von 1831 der damals 89jährigen Schwester, die dreißig Jahre lang kränkelte, ist ganz im Zeichen quietistischer Frömmigkeit geschrieben; es ist eine persönlich gehaltene, gefühlvolle Darstellung der frommen Schwester im „stille[n] Umgang mit dem Schmerzens Mann“; dazu bemerkt der fremdverfasste Schlusstext, „ebenso gern diente u. half sie in äußeren Angelegenheiten“. Dieser 1831 verfasste Lebenslauf stellt ein exemplarisches, erfülltes Leben dar, mit einem Minimum an „äußeren“ Episoden, wie sie die aus den ersten Generationen mitteilen, und dürfte die (Selbst)Kontrolle durch die Gemeine widerspiegeln. Direkte Instruktionen, schriftliche Vorgaben oder Instruktionen zur Abfassung der Lebensläufe sind nicht überliefert. An den Manuskripten sind manchmal Korrekturen, Streichungen sichtbar. Diese hybriden Texte sind zumeist noch in Abschriften überliefert, diese Abschriften können weitere Kürzungen, Glättungen, sprachliche Überarbeitungen enthalten. Redaktionelle Eingriffe und Korrekturen der Biografie vermutlich von Angehörigen, Chorpflegern oder Gemeinhelfern sind nicht vollständig textlich greifbar, aber stellenweise nachweisbar und vielfach zu vermuten. Auffallend viele geläufige brüderische Ausdrücke und Sprachformen wurden eingefügt.53 Die Biografien enthalten auch (oft vage) Hinweise auf politische Aspekte, auf historische und auf brüderische Ereignisse. 52 Elisabeth

Lewis, BDHP: http://bdhp.moravian.edu/personal_papers/memoirs/lewis/lewis2.

html. 53 Böß, Gottes-Acker Geschichten (wie Anm. 46), 79.



Rechenschaft und Kontrolle 189

So können diese schriftlich (zumeist in deutscher Sprache) fremdverfassten und von dritter Hand aufgezeichneten Lebensläufe aus dem 18. Jahrhundert kaum als subjektive Selbstzeugnisse im modernen Sinn bezeichnet werden, die selbst individuell Rechenschaft abgeben über ihr eigenes Leben. Die Lebensläufe der Moravians stellen vielmehr Ergebnisse einer (Selbst)Kontrolle des dargestellten Individuums durch das Leben in der Gemeine dar. Als Verschriftlichung gelebten Lebens sind es hoch interessante, vielseitige hybride Texte, denen jedoch allen Leitlinien wie ein Grundmuster gemeinsam sind: Stationen auf dem „schmalen Weg des Lebens“54 in die Brüdergemeine und brüderisch glauben, leben und sterben. Die Personalia der Moravians der ersten Generationen spiegeln die Vielfalt und Heterogenität der Mitglieder, ihren (Überlebens)willen, vielfach starke Gesundheit und Lebensklugheit, Unternehmungsgeist und Findigkeit. Die Unitas Fratrum -Brüdergemeine (mit Regeln, Disziplin und Organisation) bildeten das Rückgrat, verhalfen den einzelnen zu Stabilität und dienten der Vergemeinschaftung bei der Kolonisierung. Die Missionssiedlungen wurden wiederum von der Arbeitskraft, praktisch-gesundem Menschenverstand und Experimentierfreude aufgebaut und erhalten. Das zentralisierte Bericht-System, in das auch die Lebenslauf-Praxis eingebunden war, diente als Rechenschaftsbericht (nach innen und nach außen) und der Kontrolle über Kolonisten und Missionare, einer Art Selbstvergewisserung und gemeinschaftsstärkende Praxis im Sinne einer Autopoiesis des Systems Brüdergemeine. Im Rahmen der Thematik „Aufsätze als Medien der Charakterbildung“ wird eine spezifische Gruppe von Herrnhuter Lebensläufen, die Personalia der Moravians aus der ‚Indianermission‘ in Nordamerika von ca. 1750 – 1800, als historische Dokumente einer Form von (gelenkter) Verschriftlichung gelebten Lebens unter dem Aspekt von individueller Rechenschaft und kommunaler Kontrolle vorgestellt. Diese Lebensläufe repräsentieren eine seit Mitte des 18. Jahrhunderts geschriebene, biografische Kurzprosa, eine hybride Sonderform autobiografischer Texte mit starken Eingriffen Dritter. Im historischen und kulturellen Kontext der Mission der Moravians (Herrnhuter) in Nordamerika (von der Gründung Bethlehems/Pennsylvania, 1741/1742 bis zum Indian Removal Act von 1830) spiegeln die Personalia der Moravians der ersten Generationen die Vielfalt und Heterogenität der Mitglieder, deren Migration, Mission und Fremderfahrung. Die Unitas Fratrum (Brüdergemeine) mit ihren spezifischen Regeln, ihrer Disziplin und Sozialorganisation bildete das Rückgrat der Siedlungen, verhalf dem Einzelnen zur inneren Festigung und diente der Vergemeinschaftung bei der Kolonisierung. Das zentralisierte herrnhutische Bericht-System, in das auch die LebenslaufPraxis der Moravians eingebunden war, diente als Rechenschaftsbericht (nach innen und nach außen) wie auch der Kontrolle über Kolonisten und Missionare, einer Art Selbstvergewisserung und gemeinschaftsstärkender Praxis im Sinne einer Autopoiesis des Systems Brüdergemeine. 54 Ebd.,

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Within the frame-work „The Essay as a Medium for Character Development“, this article analyzes a specific group of autobiographies, Moravian memoirs (Herrnhuter Lebensläufe) from the first generations of missionaries to the Indians in the British colonies of North America. Considered as historical documents, these memoirs are a hybrid form of short prose biographies and represent a type of life-writing that served as a means of self-examination and as a tool of communal control and identity. Within the cultural context of Moravian missionary work in North America (from the foundation of Bethlehem, PA in 1741 – 42 to the Indian removal Act of 1830), these memoirs show an amazing diversity and heterogeneity among the members, their migration experience, missionary work, and intercultural encounters. The Brethren as religious organization (with rules, discipline, and social organization) provided the common core, enabled each member’s development, and fostered community development during the colonizing period. The centralized system of communication by which the Moravian memoirs were also sent selectively to Herrnhut and disseminated among member communities served as a justification for the missionary work as well as a control mechanism for its members. Prof. Dr. Barbara Becker-Cantarino, PhD, Professor Emerita, Ohio State University, E-Mail: [email protected]

Nina Hahne Der Rede-Essay als Selbsttechnik in Deutschen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts

I. Subjektivierung in der Essayistik der Aufklärung und die Aufwertung der Beredsamkeit Im frühen 18. Jahrhundert entstehen, bevorzugt in Universitätsstädten, die ersten sogenannten Deutschen Gesellschaften mit einer poetischen und sprachpflegerischen Ausrichtung. In den zumeist wöchentlichen Zusammenkünften ihrer häufig akademisch ausgebildeten Mitglieder erfährt auch die Kunst der Beredsamkeit eine wesentliche Aufwertung.1 Die gelehrten Poeten sind aufgefordert, ihre Befähigung nicht nur beim Abfassen poetischer Texte, sondern auch auf dem Felde des überzeugenden und ergreifenden Redens unter Beweis zu stellen.2 Diese Entwicklung ist Teil einer zunehmenden Selbstorganisation des gebildeten städtischen Bürgertums und der Etablierung einer literarischen Öffentlichkeit. Angeregt und getragen werden die Deutschen Gesellschaften von der liberalen und fortschrittsoptimistischen Philosophie der Frühaufklärung, die sich programmatisch gegen Aberglauben und Vorurteile richtet und die Glückseligkeit ihrer Mitglieder durch die Ausbildung von Tugend und Vernunft anstrebt. Die Akteure dieser Vergesellschaftungsform, die sich an Universitäten, in Privatwohnungen, Kaffeehäusern und Salons begegnen, handeln auf den ersten Blick unpolitisch, sehen sich jedoch selbst als Mitgestaltende an einer nationalen Identität.3 1 Vgl.

Detlef Döring, Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Von der Gründung bis in die ersten Jahre des Seniorats Johann Christoph Gottscheds, Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 70), VIII. Döring gibt an, dass es Deutsche Gesellschaften im 18. Jahrhundert „nachweisbar in 18 Orten gegeben“ habe (ebd.). 2 Zur Aufwertung der Kunst der Beredsamkeit im 18. Jahrhundert vgl. Peter Philipp Riedl, Öffentliche Rede in der Zeitenwende. Deutsche Literatur und Geschichte um 1800, Tübingen 1997 (Studien zur deutschen Literatur 142). Vgl. außerdem: Gert Ueding, Rhetorik und Popularphilosophie, in: Rhetorik 1 (1980), 122 – 134. 3 Die unterschiedlichen Vergesellschaftungsformen des Bürgertums in der Aufklärung und ihre Rolle bei der Annäherung von Bürgertum und Aristokratie beschreibt Ulrich Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982, v. a. 218 – 225.

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128

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Im Zuge der Bestrebungen, ein verbindliches bürgerliches Wertesystem auszuhandeln, rücken auf dem Gebiet der Literatur Praktiken charakterlicher Selbstbildung ins Zentrum des Interesses, deren Tradition bis in die Antike zurückreicht. Diese textbasierten Praktiken bedienen sich spezieller Textsorten wie Brief, Autobiografie oder Essay, die sich literaturwissenschaftlich als automediale Formen bezeichnen lassen, um die Hervorbringung des sich äußernden Ichs durch den Text zu beschreiben.4 Das Zusammenspiel der Produktion und Rezeption solcher Texte kann mit einer kultursoziologischen Ausrichtung als textbasierte Selbsttechnik untersucht werden. Denn automediale Formen entwerfen und verhandeln modellhaft Subjektformen, deren Analyse es ermöglicht, kulturelle Transformationen und gesellschaftliche Umbrüche an der Schnittstelle von institutionalisierten Machtbeziehungen und dem Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst nachzuvollziehen.5 Als Subjekt wird dabei, anschließend an die späten Untersuchungen Michel Foucaults zur Hermeneutik des Subjekts und an die Kulturgeschichte der Subjektformen von Andreas Reckwitz, eine kulturelle Form verstanden, die sich ein einzelner Mensch unbewusst oder auch bewusst aneignet.6 Schriftlich fixierten Texten, die als automediale Form in Erscheinung treten, kommt die Aufgabe zu, musterhafte Selbstbildungsprozesse rhetorisch zu inszenieren und dabei zwischen dem Verfasser oder der Verfasserin der Texte und dem Lesepublikum zu vermitteln. In einer solchen Mittlerfunktion können die Texte kursieren, sich gegenseitig kommentieren, ergänzen oder widerlegen und ein Identitätsgefühl stiften, das die mangelnde politische Teilhabe an den Geschicken des Landes nicht gestattet. Als besonders breitenwirksam erweist sich dabei der Essay, da er durch seine Kürze sehr gut dafür geeignet ist, in journalistische Publikationsformate integriert oder mündlich in Form einer Rede präsentiert zu werden. Darüber hinaus zeichnet ihn aus, dass er den Selbstbildungsprozess selbst zum Thema machen kann und ihn in diesem Fall direkt ausführt, während er ihn zugleich theoretisch reflektiert. Diese Ebene kritischer Reflexion auf unterschiedliche Möglichkeiten, Subjektivität zu formen, zeichnet die Essayistik des 18. Jahrhunderts aus. Die Praxis des Verfassens und 4 Jörg

Dünne, Christian Moser, Automedialität: Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien, Paderborn 2008. 5 Als Beispiel einer solchen interdisziplinären Untersuchung von Subjektformen können angeführt werden: Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver (Hg.), Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung, Wiesbaden 2012; Andreas Gelhard, Thomas Alkemeyer, Norbert Ricken (Hg.), Techniken der Subjektivierung, München u. a. 2013. 6 Vgl. Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/82), aus dem Französischen übersetzt von Ulrike Bokelmann, Frankfurt am Main 2009; Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006; ders., Subjekt, Bielefeld 2009.



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der (stillen oder gemeinschaftlichen) Lektüre essayistischer Texte soll nicht nur einer Einübung konkreter Einstellungen dienen, sondern auch zur Mündigkeit gegenüber diesen Einstellungen befähigen.7 Als Reden eingerichtet werden Essays vor den Teilnehmern der Deutschen Gesellschaften vorgelesen und zu einem späteren Zeitpunkt – gegebenenfalls überarbeitet – für das größere Publikum abgedruckt. Somit verweisen die Reden in ihrer Anlage bereits auf ihre spätere Bestimmung, veröffentlicht zu werden, und die gedruckten Texte tragen noch deutliche Kennzeichen ihres mündlichen Vortrags. Dieses Wechselverhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit ist für die Situation der Essayistik im 18. Jahrhundert charakteristisch. Die RedeEssays, die in den Deutschen Gesellschaften gehalten werden, veranschaulichen in noch stärkerem Maße als ausschließlich gedruckte Essays die Erkenntnis ihrer Verfasserinnen und Verfasser, dass individuelle und kollektive Identität auf grundlegenden Formen von Subjektivität basieren, die sich beschreiben, gemeinschaftlich einüben und modifizieren lassen, sobald sie dem aktuellen Stand wissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnis nicht mehr entsprechen. Bei der essayistischen Charakterbildung kommt jedoch nicht nur einer ratio­ nal organisierten Rhetorik, sondern auch der Ästhetik eine Schlüsselfunktion zu. Die Bedeutung der ästhetischen Bildung wird bereits in demjenigen Musterwerk exemplarisch ausgeführt, das die Entdeckung der Gattung Essay im deutschsprachigen Raum erst ermöglicht: in der Londoner Zeitschrift The Spectator, die 1711 – 1714 von Joseph Addison und Richard Steele herausgegeben wird und den Grundstein für die unglaubliche gesamteuropäische Ausbreitung der Moralischen Wochenschriften und ihrer Essayistik im 18. Jahrhundert bildet. Die Moralischen Wochenschriften werden auch für die Rede-Essays in den Deutschen Gesellschaften zu einer zentralen Inspirationsquelle und zu thematischen und formalen Musterbüchern. Zahlreiche Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum behaupten über ihre gattungstypische Verfasserfiktion, dass sie Publikationsorgane einer Gesellschaft seien, so zum Beispiel die ‚Gesellschaft der Mahlern‘ in den Züricher Discoursen der Mahlern von 1721 – 1723 oder die ‚Gesellschaft der Geselligen‘ in der Halleschen Wochenschrift Der Gesellige von 1748 – 1750.8 Häufig sind diese Gesellschaften fiktiv, manchmal jedoch auch real (wie die ‚Gesellschaft der Mahlern‘ um Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger in Zürich). Sind sie fiktiv, so be7 Zur

Geschichte des Essays der Aufklärung als dialektischer Gattung vgl. John A. M ­ cCarthy, Crossing Boundaries. A Theory and History of Essay Writing in German 1680 – 1815, Philadelphia 1989. 8 Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger, Die Discourse der Mahlern, vier Teile in einem Band, Hildesheim 1969 (Nachdruck der Ausgabe Zürich: Lindinner 1721 – 1723); Samuel Gotthold Lange, Georg Friedrich Meier, Der Gesellige. Eine Moralische Wochenschrift, sechs Teile in drei Bänden, hg. von Wolfgang Martens, Hildesheim, Zürich, New York 1987 (Nachdruck der Ausgabe Halle: Gebauer 1748 – 1750).

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legt gerade diese Fiktion, wie sehr sich Essayistik im 18. Jahrhundert über den Kontext mündlicher Beredsamkeit legitimiert und dass der Essay erst als Anlass und Produkt gemeinschaftlicher Diskussion seine tatsächliche Aufgabe erfüllt.9 Die Essayistik der Wochenschriften in der Nachfolge des englischen Spectator fordert eine Subjektivierung ein, in der einer Ausbildung der Vernunft auf der Basis des Naturrechts und der christlichen Religion die ästhetische Ausbildung komplementär an die Seite gestellt wird. Die Schulung der Verstandeskräfte (verbunden mit einer Disziplinierung der Leidenschaften) ist dabei an ein persuasives Rhetorikmodell gekoppelt, das sich an Cicero orientiert. Ästhetische Bildung bedeutet einerseits die Schulung kunstkritischer Fertigkeiten, andererseits jedoch auch eine Stärkung der Kraft der Phantasie (verbunden mit einer Kultivierung der Leidenschaften), die bereits im Spectator einen hohen Stellenwert einnimmt. Das allseitig ausgebildete Subjekt, das auf diese Weise entstehen soll, kann als idealer Repräsentant eines festgelegten Sets bürgerlicher Werte beschrieben werden: Vorurteilsfreiheit, Nächstenliebe, Geselligkeit, Mäßigung und die Ausübung einer Betätigung mit gesellschaftlichem Nutzen sind einige wichtige davon. Kommt es zu einem Missverhältnis dieser Eigenschaften untereinander, so muss der Einzelne auf sich selbst therapeutisch einwirken, um das Gleichgewicht erneut herzustellen.10 Im Spectator und den Wochenschriften, die seinem Vorbild folgen, wird diese ideale Subjektform durch den oder die fiktiven Verfasser repräsentiert. Die reflektierende und erzählende Instanz in diesen Zeitschriften, welche die einzelnen Texte sinnvoll miteinander verbindet, tritt als moralische Instanz auf, die beurteilt und richtet. Im Zentrum des einzelnen Essays steht daher die Sprecherinstanz, das essayistische Ich, das aus seiner Perspektive und auf der Basis seiner Wertanschauungen die Welt beschreibt. Das frühe 18. Jahrhundert, wel 9 Im

Hof versteht die Wochenschriften als direkte Publikationsorgane poetischer Gesellschaften, weniger als primär literarische Unternehmungen (vgl. Im Hof, Geselliges Jahrhundert [wie Anm. 3], 139). Häufig schreibt jedoch auch ein Verfasser unter dem Namen mehrerer fiktiver Personen, sodass die Gesellschaft nur auf dem Papier existiert. Es muss also immer im Einzelfall ermittelt werden, als wie glaubwürdig die Angaben der Herausgeber hinsichtlich einer tatsächlichen gesellschaftlichen Aktivität einzuschätzen sind. 10 Die beschriebenen Werte werden teils von fiktiven Herausgeberfiguren vorgetragen, die diese Werte selbst idealtypisch verkörpern (z. B. durch den ‚Biedermann‘ in Johann Christoph Gottscheds gleichnamiger Wochenschrift von 1728 – 1729 oder die ‚Gesellschaft der Geselligen‘ in der oben genannten Halleschen Wochenschrift), teils jedoch auch von skurrilen Gestalten in der Nachfolge des Sokrates oder sogar des kynischen Diogenes, die sich besonders gut für die satirische Verspottung des unvernünftigen Verhaltens ihrer Mitmenschen eignen. Diogenes als Sprachrohr verwendet beispielsweise der Leipziger Spectateur: Anonymus, Der Leipziger Spectateur, welcher die heutige Welt der Gelehrten und Ungelehrten, Klugen und Thorhafften, Vornehmen und Geringen, Reichen und Armen, Verehlichten und Unverehlichten, so wohl männliches als weibliches Geschlechts, Leben und Thaten, auch wohl Schrifften, beleuchtet und ihnen die Wahrheit saget, Frankfurt u. a. 1723.



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ches das Ich-Sagen an sich erst erlernt, entdeckt dabei das essayistische Ich, das bereits von Essayisten wie Seneca, Marc Aurel, Michel de Montaigne und Francis Bacon höchst individuell ausgeformt wurde, als ein sprachliches Instrument zur Kodierung von Subjektformen.11 Für das Gebiet der Narratologie hat bereits Franz Karl Stanzel in seiner Theorie des Erzählens (1979) als bedeutendsten Fortschritt die Erkenntnis benannt, dass der Erzähler eines Textes mit dem Verfasser nicht identisch ist.12 Wie die Narratologie zwischen unterschiedlichen Erzählsituationen unterscheidet, muss auch für den Essay immer berücksichtigt werden, dass die Sprecherinstanz völlig frei und fiktiv gestaltet werden kann wie die Figur in einem Roman.13 Damit können die Äußerungen des essayistischen Ichs theoretisch von den Ansichten des tatsächlichen Verfassers völlig unterschieden sein. Im Falle der Essayistik der Aufklärung geht die Unterscheidung jedoch nur soweit, dass das essayistische Ich die Eigenschaften einer Subjektform trägt, die sich der oder die Sprechende aneignen will. Nur so ist es möglich, den Essay zur Charakterbildung einzusetzen, da das essayistische Ich die Möglichkeit bietet, sich bestimmte Einstellungen und Fähigkeiten quasi zu ‚erschreiben‘, sie auf dem Papier zu entwerfen und dann durch Einübung in die Lebenswirklichkeit zu übertragen. Das essayistische Ich philosophiert über ein Thema und ordnet dabei sein Wissen und seine Argumente entsprechend einem bestimmten Wahrheitsverständnis neu. Die Selbsttechnik des Essays funktioniert also so, dass das jeweilige essayistische Ich über sein Wahrheitsverständnis und die entsprechend geordnete Reflexion ein Verhältnis zu sich selbst herstellt. Es handelt sich – mit den Worten Foucaults – um eine „Wahrheitspraxis“, das heißt „eine Art und Weise […], das Subjekt an die Wahrheit zu binden“.14 Bereits die Essays in den ersten deutschsprachigen Moralischen Wochenschriften, zum Beispiel in den Discoursen der Mahlern, zeigen, dass sich ihre Verfasser der Tatsache bewusst sind, dass eine solche Sprecherinstanz verwendet werden kann, um entweder feststehende ‚ewige‘ Wahrheiten zu erforschen und dann auszusprechen (wie es in der Absicht Francis Bacons lag), oder um eine skeptisch relativierte und gegebenenfalls sogar ironisierte Weltsicht im Sinne Michel de Montaignes zu entwerfen. Während die durch die christlich-rational geprägte Philosophie der Frühaufklärung beeinflusste Wochenschriften-Essay­ istik in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts von der Allgemeingültigkeit ihrer Wahrheiten überzeugt ist und dementsprechend auf eine repräsentative 11 Die

Essayistik dieser Vorläufer und Begründer des Essays als eigenständiger Textform wird ausführlich in ihrer Eigenschaft als Selbsttechnik untersucht von: Christian Moser, Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne, Tübingen 2006. 12 Vgl. Franz Karl Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen 1979. 13 Den Möglichkeiten der Charaktergestaltung bei der Sprecherinstanz im Essay widmet sich vor allem Carl H. Klaus, The made-up Self. Impersonation in the Personal Essay, Iowa City 2010. 14 Foucault, Hermeneutik des Subjekts (wie Anm. 6), 389.

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Subjektivität setzt, wird die Selbstreflexion ab der Mitte des 18. Jahrhunderts komplexer und skeptischer und führt den Modus der (ironischen) Brechung in die Essayistik ein, wobei sie immer stärker auf genuin literarische Verfahrensweisen setzt. Die Beschäftigung mit Subjektformen und die Verwendung des essayistischen Ichs werden grundsätzlich experimentell und damit ergebnisoffen. Durch die Entstehung eines ästhetischen Wahrheitsverständnisses wird nicht mehr dem repräsentativen Beispiel, sondern dem individuellen Einzelfall das größte Erkenntnispotential zugesprochen. Der Essayist wird zum introspektiven, autobiografischen Beobachter seiner selbst im Sinne der anthropologisch ausgerichteten Essayistik Montaignes. Aus dieser geänderten Grundsituation heraus können dann neue Subjektformen wie das genialische Individuum des Sturm und Drang in den 1770er Jahren mit seinem exemplarischen Charakter oder die romantische Subjektform um 1800 entstehen.15 Den Essays wird im gesamten 18. Jahrhundert die Funktion zugeschrieben, sowohl auf den Schreibenden als auch auf die Leserinnen und Leser eine einstellungs- und handlungsverändernde Wirkung auszuüben.16 Die lektürebasierte Selbsttechnik, wie sie der deutschsprachige Essay im 18. Jahrhundert ausbildet, ist somit dadurch gekennzeichnet, dass sich die Sprecherinstanz im Essay auf sich selbst gezielt durch das Schreiben und auch durch das Wiederlesen des Textes in ihrem Denken und Handeln beeinflussen will. Die Selbstbeeinflussung fungiert dabei als ein Modell, das sich die Leserinnen und Leser aneignen sollen. Daher repräsentiert die Sprecherinstanz im Essay eine bestimmte als ideal verstandene Subjektform, die individuelle und kollektive Zielvorstellungen formuliert. Aus diesem Zusammenhang wird die unmittelbare Notwendigkeit einer Kunst der Beredsamkeit für den schreibenden und den vortragenden Essayisten deutlich. Da der Essay genetisch ‚von der Rede her‘ kommt, kann er seine Funktion und Wirksamkeit in besonders eindrücklicher Weise dann erfüllen, wenn das essayistische Ich tatsächlich eine Stimme erhält und seine Präsenz über den Vortragenden entfaltet, der ihm seine Stimme leiht. Es entsteht ein prozessuales Wechselverhältnis zwischen dem unmittelbaren Selbstbezug des Sprechenden, seiner Ansprache des Publikums und dem ge15 Eine

ausführliche Analyse der Aufklärungsessayistik in ihrer Funktion als Selbsttechnik, dargestellt anhand einer historischen Typologie des essayistischen Ichs, findet sich in meiner Dissertation: Nina Hahne, Essayistik als Selbsttechnik. Wahrheitspraxis im Zeitalter der Aufklärung, Berlin, Boston 2015 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 53). 16 Diese gattungstheoretische Debatte über den Essay der Aufklärung, die in der Regel von den Essayistinnen und Essayisten selbst geführt wird, lässt sich aus zeitgenössischen Essays und Essaysammlungen erschließen, die ihre eigene Verfahrensweise reflektieren (vgl. Hahne, Essayistik als Selbsttechnik [wie Anm. 15], Kap. I.2.). Mit diesem Vorgehen habe ich mich dem Ansatz einer Sammel-Poetik oder „collective poetics“ des Essays angeschlossen, wie sie Carl H. Klaus und Ned Stuckey-French 2012 vorgeschlagen und auch mit einer Textsammlung begonnen haben (vgl. Carl H. Klaus, Toward a Collective Poetics of the Essay, in: C. H. K., Ned StuckeyFrench (Hg.), Essayists on the Essay. Montaigne to Our Time, Iowa City 2012, xv – x xvii).



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meinsamen Bezug auf die abwesenden und noch zu erreichenden Leserinnen und Leser eines Textes, der zum Zeitpunkt des Vortrags den Status eines work in progress hat und in den die Diskussion erst noch einfließen muss. Indem die Gesellschaft sich ein bestimmtes ästhetisches und gesellschaftliches Programm gibt und sich damit als gesellschaftliche Avantgarde definiert, wird die Selbsttechnik des Rede-Essays noch einmal verstärkt: Die Treffen und Diskussionen der Gesellschaft sind bereits selbst eine Praxis der wechselseitigen Ausbildung, innerhalb derer der Vortrag des Rede-Essays noch einmal einen Kulmina­tions­ punkt darstellt. Wenn dann die Reden publiziert werden, kann der gesamt­ gesellschaftliche Erneuerungsprozess angestoßen werden. Im Umfeld der Deutschen Gesellschaften kann man ganz allgemein drei Arten von Rede-Essays unterscheiden: Zunächst gibt es die eigentlichen Reden, die in den Gesellschaften von den Autoren vorgetragen und dann veröffentlicht werden. Sie haben im Abdruck einen deutlich erkennbaren Redecharakter, und die Texte tragen häufig den Hinweis „in der N. N.-Gesellschaft abgelesen“. Dieser Hinweis autorisiert die Texte und kann als eine Art Gütesiegel verstanden werden. Daneben gibt es Reden, die von ihren Verfassern an eine Gesellschaft geschickt und von einem Stellvertreter in der Gesellschaft vorgetragen werden. Diese sind als Briefe oder Sendschreiben eingerichtet. Und drittens gibt es Rede-Essays, die im näheren Umfeld der Gesellschaft unter ihren Mitgliedern kursieren und vorgetragen werden, jedoch im offiziellen Programm der Gesellschaft keine Rolle spielen. Teilweise werden solche Texte auch ausschließlich abgedruckt, sind jedoch wie Reden mit persönlicher Anrede (in der Regel „Meine Herren“ o. ä.) eingerichtet, sodass man am einzelnen Text nicht unmittelbar erkennen kann, ob er mündlich vorgetragen wurde oder nicht. Durch das gezielte Einstreuen solcher Redesignale kann der einzelne Essay auch indirekt – quasi fiktiv – an der Autorität der Deutschen Gesellschaften partizipieren. Wie Ulrich Im Hof dargestellt hat, entwickeln sich ab dem 17. Jahrhundert in Europa zwei Typen von Gesellschaften: staatlich geförderte und institutionalisierte wie beispielsweise die 1635 gegründete Académie française in Paris, die Londoner Royal Society (1660) oder die Kurfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften (1700), und privat organisierte Gesellschaften, die vor allem in der föderalistischen Schweiz und den deutschsprachigen Kleinstaaten entstehen.17 1697 wird das Görlitzer Collegium Poeticum gegründet, das 1717 unter dem neuen Namen Teutschübende Poetische Gesellschaft und ihrem Präsidenten Johann Burkhard Mencke nach Leipzig übersiedelt.18 Dort wird die Gesellschaft 1727 von Johann Christoph Gottsched übernommen und in die Leipziger Deutsche Gesellschaft umgeformt, zu einer Zeit, die man als Etablierungsphase Deutscher Gesellschaften bezeichnen kann. Detlef Döring 17 Im

Hof, Geselliges Jahrhundert (wie Anm. 3), 112 – 123. Döring, Deutsche Gesellschaft (wie Anm. 1).

18 Vgl.

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verweist darauf, dass Gottsched die Poesie aus dem neuen Namen der Gesellschaft verbannt, um prosaische Texte gegenüber der Poesie aufzuwerten, da die Beherrschung der Prosa einen größeren gesellschaftlichen Nutzen verspreche.19 Die besondere Bedeutung, welche die neu aufgestellte Gesellschaft der Beredsamkeit zuspricht, wird auch aus den abgedruckten Antrittsreden ihrer Mitglieder deutlich. So schreibt beispielsweise der Berghauptmann Hans Karl von Kirchbach 1727: So muß denn ein Gelehrter, der die Wahrheit andern zum Besten erfindet, untersuchet und ausbreitet, einen auserlesenen Vorrath an Worten besitzen, derselben eigentlichen und uneigentlichen Verstand genau wissen, ihrer rechten Begriffe und Neben-Bedeutungen kundig seyn, und durch geschickte und wohl lautende Verbindung derselben, seinen Sinn, so zu reden, in des Zuhörers Gemüthe einpfropfen können. Hat er diese Geschicklichkeit nicht, so ist seine Erkenntniß ein vergrabener Schatz, ein unter dem Scheffel brennendes Licht, oder eine im Luftleeren Raume anschlagende Glocke.20

Auch die Leipziger Deutsche Gesellschaft steht mit der Essayistik der Moralischen Wochenschriften in enger Verbindung, da Gottsched zeitgleich mit seiner Neuausrichtung der Gesellschaft zwei Wochenschriften in Leipzig herausgibt (Die vernünfftigen Tadlerinnen von 1725 – 26 und Der Biedermann von 1728 – 1729).21 Döring gibt an, dass die Gesellschaft innerhalb von vier Jahren 38 neue Mitglieder gewonnen habe, von denen 17 adliger Herkunft gewesen seien. Dies habe Gottscheds Plan einer „Aufwertung der Sozietät zu einer Akademie nationaler Bedeutung“ entsprochen.22 Von Beginn an zeichnet sich die Gesellschaft durch eine besonders progressive und liberale Aneignung aufklärerischen Denkens aus. Hierzu ist vor allem die Tatsache zu zählen, dass sich zwei Frauen im Kontext der Gesellschaft betätigen können und mit ihren RedeEssays zur Aushandlung bürgerlicher Identität und individueller Charakterbildung beitragen. Es handelt sich dabei um Christiana Mariana von Ziegler und Luise Adelgunde Victorie Gottsched. 19 Ebd.,

223. Karl von Kirchbach, Die nöthige Verbindung der Beredsamkeit mit der Gelehrsamkeit, bey der Aufnahme in die Deutsche Gesellschaft zu Leipzig, den 27. Sept. 1727, in: Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig gesammelte Reden und Gedichte, welche bey dem Eintritte und Abschiede ihrer Mitglieder pflegen abgelesen zu werden, hg. von Johann Christoph Gottsched, Leipzig: Breitkopf 1732, 3 – 14, hier 4 – 5. 21 Des Weiteren arbeitet Gottsched zeitgleich auch in seinem Grundriß zu einer vernunfftgemäßen Redekunst (1729) und einer Ausführlichen Redekunst (1736) die theoretischen Fundamente der kritischen Beredsamkeit heraus (vgl. Gunter E. Grimm, Von der politischen Oratorie zur philosophischen Redekunst. Wandlungen der deutschen Rhetorik in der Frühaufklärung, in: Rhetorik 3 [1983], 65 – 96, hier 72). 1727 gründet Gottsched die Nachmittägliche Redner­ gesellschaft, 1735 die Vormittägliche Rednergesellschaft, in der er Studenten rhetorisch für ihre späteren gesellschaftlichen Aufgaben ausbildet. 22 Döring, Deutsche Gesellschaft (wie Anm. 1), 232. 20 Hans



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II. Die Rede-Essays Christiana Mariana von Zieglers und Luise Adelgunde Victorie Gottscheds im Kontext der Leipziger Deutschen Gesellschaft (1739): Emanzipation durch Persuasion Christiana Mariana von Ziegler (1695 – 1760), die Tochter des in Ungnade gefallenen und lebenslänglich inhaftierten Leipziger Bürgermeisters Franz Conrad Romanus, hat im Romanushaus einen Salon eingerichtet, in dem auch Gottsched seit seiner Ankunft in Leipzig zu Gast ist. Sie wird auf Betreiben Gottscheds am 15. November 1730 als ordentliches Mitglied in die Deutsche Gesellschaft aufgenommen, nachdem sie durch poetische Texte bereits zuvor Bekanntheit erlangt hat. An diesem Tag wird dementsprechend ihre Antrittsrede in der Gesellschaft verlesen, jedoch in ihrer Abwesenheit, da eine persönliche Teilnahme von Frauen an den Zusammenkünften einer Gesellschaft undenkbar ist. Die Antrittsrede und alle weiteren Reden Zieglers werden in den Veröffentlichungen der Gesellschaft abgedruckt. Die Antrittsreden in einer Gesellschaft sind – auch für die Selbsttechnik – von besonderer Bedeutung, da die neuen Mitglieder in ihnen darlegen müssen, wie sie sich zum Selbstverständnis der Gesellschaft positionieren und welche individuelle Perspektive sie einzubringen gedenken. 1739 publiziert Ziegler ihre Reden auch in einer Sammlung von poetischen und prosaischen Texten unter dem Titel Vermischete Schriften. Dies geschieht ein Jahr nach dem Bruch Gottscheds mit der Deutschen Gesellschaft 1738. Ziegler ist zu diesem Zeitpunkt nach wie vor Mitglied der Leipziger Gesellschaft. In ihrer Antrittsrede setzt sich Ziegler mit der Entscheidung der Mitglieder der Gesellschaft, sie als Frau offiziell aufzunehmen, auseinander und zeichnet einen Reflexionsprozess nach, der in einer abschließenden Stellungnahme mündet. Zu Beginn ihrer Rede bedankt sie sich nicht etwa für die erfolgte Aufnahme als Mitglied, sondern stellt die Situation so dar, als habe sie sich noch gar nicht entschieden, ob sie der Gesellschaft tatsächlich beitreten wolle. Die anstehende Kritik der Öffentlichkeit nimmt sie bereits vorweg: Sie, hochzuehrende Herren, rufen mich (welch ungewöhnlicher Wink!) in ihre gelehrte Gesellschaft, und fordern, daß ich einen weiblichen Namen mit in die Rolle männlicher Musen einzeichnen soll. Dieses wird unfehlbar der ohnedies zur Spötterey geneigten und sehr geschickten Welt neuen Stoff geben, ihre freymüthigen Glossen darüber zu machen.23

Ziegler gibt an, dass sie ihre eigenen Arbeiten noch zu unreif finde, um eine solche Ehre zu rechtfertigen und dass ihre „nur halb geschärfte Feder ganz anders gespitzet werden muß“, um an die Leistungen der anderen Mitglieder heranzu23 Christiana

Mariana von Ziegler, Antrittsrede in der Deutschen Gesellschaft zu Leipzig, abgelesen, in: C. M. v. Z., Vermischete Schriften in gebundener und ungebundener Rede. Göttingen: Univ.-Buchh. 1739, 381 – 389, hier 381 – 382.

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reichen.24 Daher vermutet sie, dass es der allgemeinen Galanterie zu verdanken sei, dass sie von Gelehrten solches Lob für ihre Werke erhalten habe, und sie scheint sich selbst in die Reihe der Kritiker weiblichen Schreibens einzureihen, wenn sie den Zuhörern geradezu droht: Mit was für ausbündigen Beweisgründen spricht man nicht hier und dar dem sämtlichen deutschen Frauenvolke die Fähigkeit und Geschicklichkeit, gelehrten Wissenschaften nachzuhängen, ernstlich ab? Beherzigen sie also wohl was sie thun, meine Herren!25

Auf diese Weise schafft Ziegler rhetorisch geschickt einen Spannungsbogen, bei dem sich den Zuhörern die Frage stellt, wie sie die Kritik auflösen wird. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen der performativen Ebene und dem Inhalt der Rede: In dem Moment, in dem Zieglers Rede verlesen wird, hat sie ihrer Aufnahme in die Gesellschaft bereits zugestimmt und wird durch den Akt des Vorlesens zu einem Mitglied. Dies negiert sie auf der inhaltlichen Ebene jedoch zugleich, indem sie den Zuhörern beinahe den Rat erteilt, das, was soeben geschieht, in letzter Sekunde noch zu verhindern. Im nächsten Argumentationsschritt löst die Rednerin diesen Widerspruch jedoch noch nicht auf, sondern setzt sich zunächst mit der Programmatik der Deutschen Gesellschaft auseinander. Das Bestreben, die hochdeutsche Sprache auszubilden und die Literatur von Anleihen an fremde Sprachen zu befreien, erachtet sie als „höchst rühmenswürdig“.26 Die Deutsche Gesellschaft habe die „Vormundschaft unsrer verweiseten Sprache“ angenommen.27 Ziegler erkennt darin ein eindeutiges Bestreben, eine sprachlich-kulturelle Einigung der deutschsprachigen Länder herbeizuführen, denn die Gesellschaft setze „aus dem bisher ganz zerrütteten und zerstückten deutschen Boden gleichsam ein neues Land zusammen, darauf man mit Sicherheit wohnen kann“.28 Im Folgenden greift Ziegler die Ausgangsproblematik wieder auf und verschärft sie noch dadurch, dass sie „des geheiligten Verbothes“ gedenkt, „welches dem Weibe in einer Gemeine schweigen heisset“.29 Indem sie diese Forderung des Apostels Paulus aus dem Neuen Testament [1 Kor 14] zitiert, überspitzt sie jedoch bereits die mögliche Kritik an ihrer Aufnahme als Mitglied. Sie kontras­ tiert das orthodoxe Redeverbot mit dem liberalen Geist der gelehrten Kreise, in denen sie sich innerhalb Leipzigs bewegt - vor allem natürlich in ihrem eigenen Salon. Die literarische Debatte in der Deutschen Gesellschaft wird als sakraler Vorgang dargestellt und Zieglers Beteiligung an ihr als Bruch eines Tabus, das 24 Ebd., 25 Ebd.,

382. 383.

27 Ebd.,

385.

29 Ebd.,

386.

26 Ebd. 28 Ebd.



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längst ins Wanken geraten ist. Auf diese Weise bereitet sie ihre anschließende, an den Werten der Aufklärung orientierte Verteidigung der Entscheidung vor. Die Deutsche Gesellschaft habe sich bei ihrer Entscheidungsfindung gewiss einfach an der „Erfahrung“ orientiert,30 da bereits in anderen Ländern, jedoch auch im deutschsprachigen Raum, zuvor weibliche Mitglieder in Gesellschaften aufgenommen worden seien. Hier erwähnt Ziegler beispielsweise die Italienerin Cornelia Piscopia, die in Gesellschaften in Rom, Siena, Padua und Venedig aufgenommen worden sei, und die Französin Madame de Scudery, die zwar kein offizielles Mitglied der Académie Française gewesen sei, jedoch „den König­lichen Preis der Beredsamkeit darinnen an dem Tage St. Ludwig erhalten“ habe.31 Somit nun bekennt Ziegler, dass ihre Aufnahme gar nichts Ungewöhnliches sei. Der rhetorische Kniff besteht darin, dass sie diese Verteidigung den Zuhörern in den Mund legt, als würden diese ihr die Verdienste anderer Frauen in Gesellschaften vortragen. Auf diese Weise kann sie ihre Zuhörer und über deren Rolle im Text das spätere Publikum belehren und erscheint zugleich als diejenige, die sich über vorgeblich allgemeinbekannte Tatsachen belehren lässt. Der letzte Punkt ist der Entscheidungsfindung gewidmet: „Zu was entschliesse ich mich nun?“32 Verweigere sie die Mitarbeit an den Veranstaltungen der Gesellschaft, so werde sie das Wohlwollen ihrer Mitglieder verlieren und die Kritiker weiblicher Gelehrsamkeit in ihren Vorurteilen bestärken. Stimme sie ihrer Aufnahme zu, so werde sie in der Folge ihre Schwäche in Diskussionen und Reden erweisen. Mit diesem Resümee überträgt Ziegler dann die Verantwortung für ihre Aufnahme an die männlichen Mitglieder der Gesellschaft, sich für den „durch ihre Wahl meinem Bedünken nach begangenen Fehler“ zu rechtfertigen.33 Sie versichert sich selbst darüber, dass sich ihre Fähigkeiten durch Übung nach und nach bessern werden und sie am Ende unter Beweis stellen könne, „ein nicht gar zu unwürdiges Mitglied ihrer rühmenswürdigen Gesellschaft gewesen“ zu sein.34 Betrachtet man diese Antrittsrede als Selbsttechnik, so wird deutlich, dass die Rednerin und ihre Zuhörer vor einem imaginären Tribunal agieren, dem Richterstuhl des Publikums, das in jedem Satz präsent ist. Zugleich wird aus der Rede jedoch auch deutlich, dass sich die Gesellschaft dem Publikum gegenüber überlegen fühlt und sich gezwungen sieht, dieses zu bestimmten Einstellungsänderungen zu ermutigen, die den aufgeklärten Gelehrten bereits hinlänglich bekannt sein müssen. Indem Ziegler ihre Antrittsrede als eine Selbstüberredung vor Publikum inszeniert, in der es darum geht, Selbstzweifel auszuräumen und sich von herkömmlichen Erwartungshaltungen der Gesellschaft zu emanzipie30 Vgl.

31 Ebd.

ebd.

32 Ebd.,

388.

34 Ebd.,

389.

33 Ebd.

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ren, entsteht ein Text, in dem sich auch das spätere Lesepublikum spiegeln kann. Ausgangspunkt der Rede ist die mahnende, spottende oder kritisierende Stimme einer Gesellschaft, die auf herkömmlichen Rollenverteilungen besteht. Das essayistische Ich bringt diese kritische Stimme durch eine Argumentation zum Schweigen, die auf den wohlwollenden und unterstützenden Kontext der Zuhörer angewiesen ist, der die Selbst- und Fremdüberredung erst ermöglicht. Die Sprecherin präpariert aus ihrem eigenen Denken somit zwei konträre Positionen heraus, von denen die eine als obsolet und unerwünscht, die andere jedoch als zukunftsweisend bewertet wird. Die vollständige Zurückweisung der ersten Position ist nur in dem geschlossenen Raum der Deutschen Gesellschaft möglich. Die Deutsche Gesellschaft repräsentiert in diesem Moment also einen utopischen Endpunkt gesellschaftlicher Entwicklung, der nur in ihrem Zusammenkommen besteht und von der Realität erst noch eingeholt werden muss. In der Leipziger Gesellschaft wird jede Antrittsrede durch eine Antwortrede ergänzt, wie man aus ihren 1732 veröffentlichten Antrittsreden erkennen kann. Die wohlwollende Antwortrede auf Ziegler hat Carl Heinrich Freiherr von Seherr-Thoß verfasst. Aus ihr erfährt man auch, dass Ziegler nicht persönlich an den Zusammenkünften der Gesellschaft teilnehmen wird.35 Diese Einschränkung zeigt, welchen Restriktionen Zieglers Mitgliedschaft unterliegt und dass es sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gesellschaft Personen gibt, die ihre Teilnahme nicht befürworten. Dies wiederum betont noch einmal den utopischen Raum, in dem das essayistische Ich in Zieglers Antrittsrede spricht. Nur über den Essay kann Ziegler eine Stimme in der Gesellschaft erhalten. Der Text und dessen mündlicher Vortrag werden zum Stellvertreter ihrer körperlichen Präsenz. Ein vergleichbares Vorgehen wählt Ziegler auch in weiteren Essays, die dem Kontext der Leipziger Gesellschaft zuzuordnen sind (vor allem in ihrer Abhandlung, ob es dem Frauenzimmer erlaubet sey, sich nach Wissenschaften zu bestreben von 1739).36 Bereits 1731 publiziert sie eine Essay-Sammlung, die sich an der therapeutischen Selbsttechnik der Moralischen Wochenschriften orientiert (Moralische und vermischte Send-Schreiben).37 Hier inszeniert sie sich selbst als sittliche Instanz in einem Netzwerk bürgerlicher und adliger Freunde und Freundinnen. Das essayistische Ich in Zieglers Sendschreiben erteilt in Form von Briefen vernünftige Ratschläge für alle Bereiche des täglichen Lebens. 35 Carl

Heinrich Freiherr von Seherr-Thoß, Antwort aufs vorhergehende, in: Gottsched (Hg.), Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig gesammelte Reden und Gedichte (wie Anm. 20), 296 – 301, hier 301. 36 Christiana Mariana von Ziegler, Abhandlung, ob es dem Frauenzimmer erlaubet sey, sich nach Wissenschaften zu bestreben? in der Deutschen Gesellschaft abgelesen, in: C. M. v. Z., Vermischete Schriften (wie Anm. 23), 394 – 399. 37 Christiana Mariana von Ziegler, Moralische und vermischte Send-Schreiben. An einige Ihrer vertrauten und guten Freunde gestellet, Leipzig: Brauns 1731.



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Mithilfe des essayistischen Ichs verleiht sich Ziegler in diesem (ganz oder teilweise fiktiven) Briefwechsel eine Autorität zur Repräsentation gesellschaftlicher Werte, die sie als Frau im gesellschaftlichen Alltag nicht erhalten kann. Auch in lyrischer Form übt Ziegler sich in der textbasierten Selbsttechnik zum Ziele der Charakterbildung. Sunka Simon hat bereits 1990 detailliert nachgewiesen, wie Ziegler in ihren Vermischeten Schriften in einem Gedicht mit dem Titel Als sie ihr Bildniss schildern sollte ironisch mit den Konventionen weiblicher Porträtbeschreibung spielt, um ein neues unabhängiges Selbstbild zu entwerfen, das sich den Klischees der Zeit entzieht.38 Indem Ziegler das essayistische Ich in ihren Rede-Essays immer auf ihre Situation als gelehrte Frau bezieht, macht sie außerdem deutlich, dass die essay­ istische Selbsttechnik des frühen 18. Jahrhunderts grundsätzlich von einem männlichen Ich ausgeht, auch wenn sich das essayistische Ich der gesamten moralistischen Essayistik im Umfeld der Wochenschriften als universell und damit geschlechtsneutral ausgibt. Ziegler kann deutlich machen, dass die Rechte und Pflichten, die sich aus einem auf Rationalität gegründeten Verständnis des idealen Bürgers ergeben, bei konsequenter Anwendung eigentlich keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen machen dürften. Damit tritt sie – vermittelt über die Demonstration ihrer individuellen Charakterbildung – deutlich für gesellschaftliche Gleichberechtigung von Mann und Frau ein. Dass Sprachpflege und Charakterbildung in der Leipziger Gesellschaft in unmittelbarem Verhältnis zueinander stehen, zeigt sich auch in den Rede-Essays Luise Adelgunde Victorie Gottscheds (1713 – 1762), die nicht nur als Übersetzerin des englischen Spectator und als Dramenautorin, sondern auch als Essayistin in Erscheinung getreten ist. 1739, also bereits im Alter von 26 Jahren, veröffentlicht sie den Triumph der Weltweisheit, eine Verteidigung der Philosophie gegenüber der Beredsamkeit in Form fiktiver Reden, nachdem sie zuvor den 1730 erschienenen Text Le Triomphe de l’Eloquence (Der Sieg der Beredsamkeit) von Madeleine-Angélique de Gomez übersetzt hatte. Im Anhang des Triumphes der Weltweisheit finden sich drei Reden, die ganz nach dem Muster der Reden in der Deutschen Gesellschaft eingerichtet sind, auch wenn sie wohl dort nicht offiziell vorgetragen wurden. Aus dem Briefwechsel Luise Gottscheds wird deutlich, dass sie eine dieser Reden, Das Lob der Spielsucht, nachweislich mündlich vorgetragen hat. Dies wird von ihrem Korrespondenzpartner Cölestin Christian Flottwell aus Königsberg verbürgt, der seit 1736 Mitglied der Leipziger Deutschen Gesellschaft ist. Flottwell erinnert sich in einem Brief an Luise Gottsched vom 2. Januar 1740 an seinen Besuch bei dem Ehepaar Gottsched im Jahre 1736. Bei dieser Gelegenheit habe Luise Gottsched bereits das Lob der 38 Vgl.

Sunka Simon, ‚Als sie ihr Bildniss schildern sollte‘. Die sprachliche Struktur der Innen- und Außenporträts in der Lyrik Christiana Mariana von Zieglers, in: Daphnis 19/2 (1990), 247 – 265.

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Spielsucht vorgetragen, das sie Flottwell nun zum Abschluss des Jahres 1739 in gedruckter Form übersendet habe. Der Beschenkte beschreibt den Vortrag folgendermaßen: Ich habe mich aller der vergnügten Stunden erinnert, die ich vor dreÿ Jahren in dem Hause unsrer klugen Gottschedin so beneidens-würdig zugebracht. Ich schmeichele mir, das Vorrecht vor allen Lesern zu haben, umb die sinnreiche Vertheÿdigung der Spielsucht zu bewundern, da ich meinem Gedächtniß denjenigen Tag wohl eingeschärft, an welchem ich den lebhaften mündlichen Vortrag Ew. HochEdelgebohrnen von dem damahls vorgelesenen Lobe der Spielsucht auf das anmuthigste bin überzeuget worden. Meine stumpfe Muse feÿerte diesen Götterdienst auf einem schönen Flügel durch Melodeÿen vor und nach der Rede. Und fürwahr, dieses in denen angenehmen Laubenhütten unsrer geschätzten Gottschedin gefeÿrete Fest wird mir ein erbaulicher Gedächtnis-Tag auf ewig heißen.39

Der Rede-Essay Das Lob der Spielsucht ist – wie der Titel bereits vermuten lässt – eine Satire, die sich gegen die Spielsucht richtet, indem sie diese vorgeblich zu einer außerordentlichen Tugend und Handlung von großem gesellschaftlichem Nutzen aufwertet. Interessanterweise thematisiert Luise Gottsched die Diskrepanz ihrer Sprecherposition als Frau und der männlichen Konnotation eines moralisierenden essayistischen Ichs in ihren Reden fast gar nicht. Stattdessen ist grundsätzlich „das menschliche Geschlecht“ ihr Referenzpunkt.40 Luise Gottsched erläutert eingangs, es sei „[d]ie Pflicht eines jeden Patrioten“, seine Mitbürger von den Vorzügen eines Dinges oder einer Handlung zu überzeugen, die man selbst durch intensives Nachdenken erkannt habe.41 Sie ordnet ihren Text damit in die Praxis einer wechselseitigen Bildung zum Zweck der Vermehrung der gesellschaftlichen Glückseligkeit ein. Indem Luise Gottsched die (vermeintlich) positiven Wirkungen der Spielsucht ausführt, kann sie ein satirisches Gesellschaftspanorama entwerfen, das sein Vorbild u. a. in Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit hat, wie die Rede auch explizit anführt.42 Das Kartenspiel nehme dabei den höchsten Rang in den möglichen Ausprägungen der Spielsucht ein. Da es zugleich von Männern und Frauen praktiziert wird, kann das essayistische Ich sich hier ohne weitere Komplikation als repräsentativ und universell inszenieren. Ein wahrhaft Spielsüchtiger könne allein beim Spiele „ein Mensch zu seyn scheinen“ und würde alle Beschwernisse auf sich nehmen, um seiner 39 Cölestin Christian Flottwell, Brief an Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Königsberg, 2. Januar 1740 (= Brief Nr. 103), in: Johann Christoph Gottsched, Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe. Unter Einschluß des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Bd. 6: Juli 1739-Juli 1740, hg. und bearbeitet von Detlef Döring u. a., Berlin, Boston 2012, 283 – 284, hier 284. 40 Vgl. Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Das Lob der Spielsucht, in: L. A. V. G., Triumph der Weltweisheit, nach Art des französischen Sieges der Beredsamkeit der Frau von Gomez, nebst einem Anhange dreyer Reden, Leipzig: Breitkopf 1739, 198 – 224, hier z. B. 199 oder 200. 41 Ebd., 198. 42 Vgl. ebd.



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Sucht ununterbrochen nachgehen zu können.43 In ihrer intensiven Ausprägung sei die Spielsucht „die Mutter aller Tugenden“.44 Sie mache gelassen, da das Vermögen des Einzelnen ständig in Gefahr sei und unverhofft verspielt werden könne, sie mache freigebig und befördere den Handel, indem sie dem Geld zur Zirkulation und den unterschiedlichsten Menschen zu ungeahntem Vermögen verhelfe. Zugleich wirke sie sich positiv auf die Kindererziehung aus, da sie spielsüchtige Eltern gänzlich davon abhalte, sich ihren Nachkommen zu widmen und diesen schlechte Eigenschaften zu vermitteln. Sie stifte glückliche Ehen, da sie unvernünftige Frauen und unvernünftige Männer gezielt zusammenbringe. Daher würde das essayistische Ich seinem Freunde jederzeit raten, sich besonders der Spielsucht zu widmen, „denn wer kann es leugnen, daß nicht ein wohl ausgeführtes Solo eine genugsame Anwendung einer vernünftigen Seele sey?“45 Abschließend fordert das essayistische Ich die Zuhörer auf, die geschilderten Vorzüge der Spielsucht zu beherzigen und selbst zu eigenem Nutzen Spielsüchtige zu werden: Ergeben sie sich der Spielsucht, meine Herren. Es ist durch dieselbe schon so mancher kleine Geist zu einem großen Manne geworden: Wie sollten sie nicht allerseits dadurch empor kommen, deren Verdienste mir schon seit langer Zeit zum innigsten Vergnügen Anlaß gegeben? Ja, meine Herren, die edle Spielsucht wird sie erheben! Sie wird ihren Beyfall nach Würden belohnen! Ich werde das Vergnügen haben, sie glücklich zu sehen! Ich bitte mir aber auch alsdann von ihnen die geneigte Erinnerung aus, daß ich dieselben zuerst dazu veranlasset habe.46

Die besondere Ironie des Essays besteht darin, zu erweisen, dass eine Eigenschaft wie die Spielsucht, die absolut betrachtet schädlich und unvernünftig ist, relativ betrachtet Wirkungen entfalten kann, die sich mit rationalen und aufklärerischen Maßstäben messen lassen (Beförderung des Handels, pädagogischer Nutzen oder gesellschaftlicher Zusammenhalt). Selbstverständlich wäre es absolut betrachtet notwendig, dass die spielsüchtigen Eltern ihre Zeit damit zubrächten, ihre Kinder zu verantwortungsvollen Menschen zu erziehen, doch geht der Essay davon aus, dass spielsüchtige Eltern zu einem solchen Verhalten grundsätzlich gar nicht imstande seien und die Spielsucht daher das größte Übel von den Kindern abwende. Auf diese Weise befähigt der Rede-Essay zu einer realistischeren Sicht auf absolute Werte einer rationalen Aufklärung und macht deutlich, wie auch untugendhaftes Verhalten einen Baustein im komplexen menschlichen Verhalten bildet. Der Essay relativiert also eine schlichte moralisierende Sichtweise, die schematisch zwischen Tugend und Untugend unterscheidet und veranlasst dazu, menschliches Handeln näher am Einzelfall und 43 Ebd.,

203. 215. 45 Ebd., 220. 46 Ebd., 224. 44 Ebd.,

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im Hinblick auf seine konkreten gesellschaftlichen Auswirkungen zu bewerten, ohne absolute moralische Werte als übergeordnete Ideale dabei zu suspendieren. Charakterbildung vollzieht sich somit in Luise Gottscheds Rede-Essay als eine kritische Überführung abstrakter Werte in die empirische Realität. Dabei wird das essayistische Ich sehr konsequent auf eine universalistische Weise verwendet, die Unterscheidungen zwischen männlichen und weiblichen Rollenverteilungen gerade dadurch überwinden will, dass sie diese gar nicht erst zum Thema macht. III. Die Rede-Essays von Jakob Michael Reinhold Lenz im Kontext der Straßburger Deutschen Gesellschaft (1776): Ästhetische Selbstbildung durch Sprachkritik Während die Leipziger Deutsche Gesellschaft ihre Bekanntheit auf das Wirken Johann Christoph Gottscheds gründet, verdankt die Deutsche Gesellschaft in Straßburg ihre Berühmtheit vor allem der vorübergehenden Mitgliedschaft und aktiven Beteiligung von Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe und Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 – 1792) zwischen 1770 und 1776. Dabei beginnt die Tätigkeit poetischer Gesellschaften in Straßburg bereits wesentlich früher. Nach Joseph Lefftz entsteht schon um 1743 eine Deutsche Gesellschaft zu Strassburg, gegründet durch den Arzt Georg Heinrich Behr.47 Hierbei gibt es nach Lefftz eine direkte Verbindung zur Leipziger Deutschen Gesellschaft, da Behr seit ca. 1730 mit Gottsched in Briefwechsel gestanden habe.48 Seit 1760 seien dann im Elsaß auch Moralische Wochenschriften publiziert worden (z. B. 1760 – 1761 in Straßburg Der Sammler), wobei viele Herausgeber von Wochenschriften zugleich Mitglieder poetischer Vereinigungen gewesen seien.49 In den 1760ern gründet schließlich der Aktuar Johann Daniel Salzmann die Gelehrte Übungsgesellschaft oder Tischgesellschaft, die Lenz 1771 kennenlernt.50 Auch hier wird die Einrichtung einer sprachpflegerischen Gesellschaft also durch eine essayistische Publikationstätigkeit mit nachweisbarer Breitenwirkung flankiert. Als Lenz der Tischgesellschaft im Frühjahr 1771 beitritt, zählen bereits Herder, Goethe und Johann Heinrich Jung-Stilling zu ihren Mitgliedern, wobei Herder nur wenige Monate zuvor bereits wieder abgereist ist.51 Nachdem Lenz 1772 47 Joseph

Lefftz, Die gelehrten und literarischen Gesellschaften im Elsass vor 1870, Heidelberg 1931 (Schriften der Elsass-Lothringischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, Reihe A, 6), 54. 48 Ebd., 55. 49 Ebd., 66. 50 Ebd., 69. 51 Vgl. Sigrid Damm, Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz, Frankfurt am Main, Leipzig 1992, 91.



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auf Reisen gewesen ist und in der Zwischenzeit als Ehrenmitglied Reden zum Vorlesen eingeschickt hat, kehrt er 1773 nach Straßburg zurück. Ende 1775 übernimmt er den Vorsitz der Salzmannschen Gesellschaft und richtet sie als Deutsche Gesellschaft neu auf.52 In den 1770er Jahren sind die poetischen Gesellschaften mit ihrem Auftrag einer Verbesserung und Erneuerung der deutschen Nationalsprache bereits fest etabliert. Die Deutsche Gesellschaft ist laut Lefftz auch die letzte tatsächliche Sprachgesellschaft in Straßburg.53 Einige ihrer Vorträge werden in der Straßburger Wochenschrift Der Bürgerfreund (1776 – 1777, bestritten u. a. durch Friedrich Rudolph Salzmann) abgedruckt. Am 2. November 1775 hält Lenz seine Antrittsrede, in der er das neue Programm der Gesellschaft verkündet. Der Unterschied zum Sprachpflegeprogramm der Leipziger Deutschen Gesellschaft besteht darin, dass es Lenz nicht mehr allein darum geht, ein elegantes und prägnantes Hochdeutsch auszubilden und ausländische Wörter durch deutschsprachige zu ersetzen, um dem Patriotismus Genüge zu tun und zu beweisen, dass in deutscher Sprache auch große Leis­ tungen erbracht werden können. Vielmehr wird die Ausbildung und Verwendung der eigenen Sprache als eine Praxis der individuellen Charakterbildung begriffen, die eng mit einem von Lenz postulierten Nationalcharakter verbunden sei. In seiner Antrittsrede Über die Bearbeitung der deutschen Sprache im Elsaß, Breisgau, und den benachbarten Gegenden will Lenz die Zuhörer davon überzeugen, dass die Sprecher des Deutschen ihr Potenzial bislang bei weitem nicht hätten ausnutzen können, da ihnen durch eine unzureichende Entwicklung der eigenen Sprache essentielle Formen des Gefühlsausdrucks und der Erkenntnisfindung verschlossen seien: Mir scheinen in unserer Sprache noch unendlich viele Handlungen und Empfindungen unserer Seele Namenlos, vielleicht weil wir bisher als geduldige Bewunderer alles Fremden uns mit auswärtigen Benennungen für einheimische Gefühle begnügt haben, die denn nicht anders als schielend ausgedruckt werden konnten.54

Das Rohmaterial der Sprache sei eine Schatzgrube, und es könne sinnvoll sein, sich der Hilfsmittel fortschrittlicherer Sprachen zu bedienen, um diesen Schatz zu heben. Besonders der dialektale Sprachschatz berge ungeahnte Möglichkeiten und lasse sich durch die Nähe zum Französischen bereichern:

52 Vgl.

Franz Blei, Anmerkungen, in: Jakob Michael Reinhold Lenz, Gesammelte Schriften, hg. von F. B., Bd. 4, München, Leipzig 1910, 392. 53 Vgl. Lefftz, Gesellschaften im Elsass (wie Anm. 47), 236. 54 Jakob Michael Reinhold Lenz, Über die Bearbeitung der deutschen Sprache im Elsaß, Breisgau, und den benachbarten Gegenden. In einer Gesellschaft gelehrter Freunde vorgelesen, in: J. M. R. L., Werke in zwölf Bänden. Faksimiles der Erstausgaben seiner zu Lebzeiten selbständig erschienenen Texte, hg. von Christoph Weiß, Bd. 10.: Flüchtige Aufsäzze, St. Ingbert 2001 (Nachdruck der Ausgabe Zürich: Füeßly 1776), 55 – 69, hier 61.

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Seh’n sie den unleidlich gedehnten Schwäbischen Dialeckt, der noch in diesen Gegenden herrschet, mit all seinen Provinzialwörtern und oft hier allein noch erhaltenen uralten Wortfügungen und Redegebräuchen als die Fundgrube an, aus der Sie mit Hülfe der geschliffenern Ausdrücke und Redearten der Franzosen als mit Werkzeugen unbezahlbare Schätze für unsere gesammte hochdeutsche Sprache herausarbeiten können. Hüten Sie sich aber, die Werkzeuge zu dem Sprach-Schatz schlagen zu wollen; hieraus würde ein deutschfranzösisch entstehen, das der Reinigkeit beyer Sprachen gleich gefährlich werden könnte.55

Lenz’ Schelte der Frankophilie mutet für die 1770er Jahre schon fast obsolet an. Dennoch vertritt er insofern eine Position, die wissenschaftlich auf der Höhe seiner Zeit ist, als er den Sprachgebrauch an kognitionspsychologische Fragestellungen knüpft und darauf aufmerksam macht, dass das Denken durch die Sprache bestimmt wird. Nach Lenz ist eine völlige Ausbildung des geistigen und charakterlichen Potenzials nur in der Muttersprache möglich, die Beherrschung von Fremdsprachen erweitere zwar den Horizont, bleibe aber letztlich etwas Äußerliches und habe lediglich instrumentellen Charakter mit dem Zweck der Verständigung und der Aneignung fremder Kulturen. In der Deutschen Gesellschaft soll die Verbesserung der Ausdrucksfähigkeit somit als eine Praxis individueller und damit auch nationaler Bildung angesehen werden. Damit erhält die Gesellschaft ein progressives Programm: Einzelne Wörter und Ausdrücke sollen in der Gesellschaft diskutiert und analysiert werden, alte Schriftsteller konsultiert, um in ihren Werken nach kongenialen deutschsprachigen Entsprechungen für französische Begriffe wie zum Beispiel kultivieren oder kompromittieren zu suchen.56 Sich auf den Wortschatz fremder Sprachen zu verlassen sei hingegen „eine Trägheit, die gar zu gern in sklavische Unterwürfigkeit ausartet, und den Adel der Seele tödet“.57 Die politische – und zwar republikanische – Dimension dieser Charakterbildung wird deutlich, wenn Lenz im Folgenden ausführt, wie die Umgestaltung der deutschen Sprache vorangetrieben werden müsste und welchen Zweck diese Umgestaltung zu erfüllen hätte. Auf der einen Seite müssten sich die Gelehrten und Repräsentanten der Provinzen und großen Städte vereinigen, um „einen nicht einseitigen despotischen, sondern Republikanischen Sprachgebrauch“ auszuhandeln.58 Zugleich müsse auch der Sprachgebrauch der „sogenannten gemeinen Leute“ erforscht werden, um zu lernen, „wie sich die Natur bey gewissen erheischenden Anlässen ausdrückt, die weder in der Grammatik noch im Wörterbuch stehen“.59 Durch diese Verbindung der unterschiedlichen Gesellschaftsschichten könnten sozial bedingte sprachliche Barrieren überwunden und ein 55 Ebd.,

57. ebd., 61 – 62. 57 Ebd., 62. 58 Ebd., 63. 59 Ebd., 66. 56 Vgl.



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Zustand herbeigeführt werden, in dem „sich die Leute ganz verst[ü]nden, und durch ein gewisses allgemeines Band näher zusammen gezogen würden!“60 Dass es hierbei nicht nur um theoretische Erwägungen geht, macht der Redner deutlich, wenn er anmerkt: „Überhaupt, M. H. muß man handeln um reden zu können“.61 Diese Andeutung verdeutlicht, dass Lenz seine Praxis essayistischer Selbstbildung als ein konstantes Wechselverhältnis von ästhetischer Rede und Diskussion auf der einen Seite und aktivem politischem Handeln auf der anderen Seite etablieren möchte. Eine Einstellungsänderung der Zuhörer zugunsten dieses Konzeptes soll erreicht werden, indem der Redner ein Bedrohungsszenario entwirft und „die gefährliche Klippe, an der unsere Sprache gegenwärtig schifft“ metaphorisch beschwört.62 Nur durch eine umfassende Spracherneuerung könne der kulturelle und nationale Verfall noch verhindert werden. Joachim Scharloth führt aus, wie sich dieses Konzept des Hochdeutschen von den Befürwortern des Obersächsischen in der Nachfolge Gottscheds abgrenzt: Durch Aktivierung älteren Sprachgutes, das sich im Sprachgebrauch der niederen Schichten bewahrt hatte, sollte eine deutsche Standard- und Literatursprache geschaffen werden, die der Natur der Dinge und dem Nationalcharakter der Deutschen gemäß war. Während Lenz von der Durchsetzung des Obersächsischen als Hochsprache eine weitere Erodierung des deutschen Nationalcharakters erwartete, verknüpfte er mit seinem alternativen Sprachkonzept die Hoffnung auf eine Rückgewinnung alter deutscher Sitten und auf eine der menschlichen Natur gemäßeren Lebensweise.63

In einer zweiten Rede vom 09. November mit dem Titel Über die Vorzüge der deutschen Sprache wird die Gründung der neuen Gesellschaft erst eigentlich thematisiert. Hier stellt Lenz als Regel auf, ausschließlich deutschsprachige Aufsätze zum Vortrag zuzulassen,64 eine Einschränkung, die er jedoch nicht lange durchsetzen kann.65 Er bemüht sich in seiner Rede anhand einer Reihe konkreter Beispiele und Formulierungsvergleiche zu zeigen, dass die deutsche Sprache „dem Geist mehr Freyheit läßt“ als die französische.66 Gegen diese einseitige Beschränkung auf das Deutsche muss er sich jedoch bereits kurz darauf in seiner Rede Über den Zweck der Neuen Straßburger Gesellschaft verteidigen, die auf eine anonyme Schrift reagiert, die in der Gesellschaft vorgetragen wird und Lenz – nach dessen eigener Aussage – „Despotismus oder Aristokratismus“ 60 Ebd.,

69. 67. 62 Ebd., 63. 63 Joachim Scharloth, Deutsche Sprache, deutsche Sitten. Die Sprachkonzeption von J. M. R. Lenz im Kontext der Sprachnormdebatte des 18. Jahrhunderts, in: Lenz-Jahrbuch 12 (2002/2003), 89 – 118, hier 118. 64 Jakob Michael Reinhold Lenz, Über die Vorzüge der deutschen Sprache, in: Lenz, Werke in zwölf Bänden (wie Anm. 54), Bd. 10, 70 – 79, hier 71. 65 Vgl. Lefftz, Gesellschaften (wie Anm. 47), 73 – 74. 66 Lenz, Vorzüge der deutschen Sprache (wie Anm. 64), 72. 61 Ebd.,

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vorwirft.67 Nun zieht sich Lenz auf reine Verständnisschwierigkeiten zurück, da möglicherweise nicht alle Mitglieder der Gesellschaft das Französische in ausreichendem Maße verstünden.68 Französische Texte werden jedoch bald zum Vortrag zugelassen. Dieser Vorgang zeigt, dass das Aushandeln gemeinsamer Werte und Regeln in der Gesellschaft von Anfang an nicht konfliktfrei verläuft. Der Disput wird jedoch immer im Modus der öffentlichen Rede und Gegenrede vollzogen, wobei offenbar auch die Möglichkeit des anonymen Vortrags besteht, möglicherweise um einen offenen Konflikt zwischen einzelnen Mitgliedern zu verhindern. Sein volles rednerisches Talent erweist Lenz jedoch erst bei der Abfassung seines Rede-Essays Von Shakespeares Hamlet, den er in stark überarbeiteter Fassung am 25. Januar 1776 unter dem Titel Über die Veränderung des Theaters im Shakespear vorträgt.69 Diese Rede unterscheidet sich von den bereits genannten völlig, da sie zum einen eine literarische – genauer gesagt eine dramentheoretische – Fragestellung behandelt und sich zum anderen durch eine viel größere argumentative Komplexität auszeichnet.70 Die Rede erscheint anschließend in den Flüchtigen Aufsäzzen von 1776.71 Der abgedruckte Text weist die Merkmale einer Rede gar nicht mehr auf, sondern besteht aus zwei separaten Teilen, verfügt über Fußnoten und enthält kaum direkte Anrede der Zuhörer bzw. Leser. Daher ist es wahrscheinlich, dass Lenz in der Deutschen Gesellschaft eine Version vorgetragen hat, die in ihrem Aufbau irgendwo zwischen der Ursprungsversion und der Druckfassung angesiedelt gewesen ist.72 Die ursprüngliche Rede-Version des Essays beginnt mit einer längeren ermahnenden Ansprache an die Zuhörer, die in der Druckfassung völlig fehlt. Es ist daher nicht mehr nachvollziehbar, ob Lenz diesen Passus in der Gesellschaft vorgetragen oder ob er ihn schon vorher ausgestrichen hat, vielleicht weil die Ermahnung zu viel Privates verriet. Der Redner will seine Zuhörer durch 67 Jakob Michael Reinhold Lenz, Über den Zweck der Neuen Straßburger Gesellschaft, in: Lenz, Gesammelte Schriften (wie Anm. 52), Bd. 4, 249 – 254, hier 249. 68 Ebd., 252. 69 Jakob Michael Reinhold Lenz, Von Shakespeares Hamlet, in: J. M. R. L., Gesammelte Schriften (wie Anm. 52), Bd. 4, 214 – 222. 70 Ähnliche Gedanken hat Lenz bereits in seinen 1774 erschienenen Anmerkungen über Theater formuliert, die nach Sigrid Damm seit Ende 1771 nach und nach in der Straßburger Tischgesellschaft vorgelesen worden sind (Jakob Michael Reinhold Lenz, Werke und Briefe in drei Bänden, hg. von Sigrid Damm, Bd. 2, München, Wien 1987, 907). Der Essay Über die Veränderung des Theaters im Shakespear zeigt jedoch noch einmal eine reflektiertere Auseinandersetzung mit genieästhetischen Vorstellungen. 71 Jakob Michael Reinhold Lenz, Über die Veränderung des Theaters im Shakespear, in: Lenz, Werke in zwölf Bänden (wie Anm. 54), Bd. 10, 86 – 95. 72 Damm weist darauf hin, dass die Handschrift zu dieser Druckfassung, die eventuell Auskunft über den Bearbeitungsprozess geben könnte, verlorengegangen ist (Lenz, Werke und Briefe [wie Anm. 70], Bd. 2, 933).



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die Ermahnung offenbar in eine bestimmte Disposition versetzen, die sie zur Aufnahme der folgenden dramentheoretischen Erörterungen geeigneter macht. Dazu beginnt er mit einem anekdotenhaft aufbereiteten Erfahrungsbericht, in dem er von den oft ungeahnten Strapazen einer Reise berichtet, auf die der Einzelne durch seine Mitmenschen nicht vorbereitet werde und die er aus Schamgefühl dann auch selbst häufig verschweige. Dass mit der Reise hier eigentlich das Leben an sich gemeint ist, wird daraus ersichtlich, dass der Redner von den „größeren Zwecken“ spricht, zu denen der Reisende gelangen möchte.73 Eine solche Erschwernis auf der Reise zu größeren Zwecken sei beispielsweise die Eigenschaft, das Unbekannte lächerlich zu machen oder satirisch zu verspotten, ohne es tatsächlich verstanden zu haben. Abschließend fügt das essayistische Ich hinzu: „Nehmen Sie, meine Herren, diese kleine Note als eine Grille aus meinem eigenen Reisetagebuch an, die hie oder da vielleicht manchem in ähnlichen Fällen Dienste tun kann“.74 Indem das essayistische Ich die kritisierte Verhaltensweise als seine eigene ausgibt, will es eigentlich die versammelten Zuhörer ermahnen, die eigene Unkenntnis nicht durch vorzeitigen Spott zu offenbaren. Im Folgenden kommt das essayistische Ich auf sein eigentliches Thema zu sprechen, für das es zuvor um unparteiische Aufmerksamkeit gebeten hat: die Frage, ob es besser sei, in einem Drama die Einheit des Ortes beizubehalten oder sie durch Szenenwechsel aufzubrechen. Entgegen der allgemeinen genieästhetischen Begeisterung der 1770er Jahre für das Drama der offenen Form formuliert das essayistische Ich die These, dass selbst Shakespeare, eigentlich der Meister der offenen Dramenform schlechthin, in seiner Tragödie Hamlet nur dann von Ortswechseln Gebrauch mache, wenn diese für die Entwicklung des Charakters unumgänglich und notwendig seien, um das Interesse der Zuschauer oder Leser am Stoff zu erregen. Als Beleg für diese These bietet das Ich ein Beispiel an, das sich jedoch als Beleg denkbar schlecht eignet: Es verweist auf Hamlets Reise nach England, die zu Hamlets Begegnung mit Fortinbras und seinen Truppen auf ihrem Weg in die Schlacht führe und Hamlets Entschluss zur Rache vorantreibe. Jedoch trifft Hamlet auf die Truppen des Fortinbras in Dänemark, nicht in England, womit der behauptete radikale Szenenwechsel gar nicht durchgeführt ist. In einem dritten Argumentationsschritt berichtet das essayistische Ich von einer Aufführung des französischen Dramas Der tugendhafte Verbrecher (1767) von Charles-Georges Fenouillot de Falbaire de Quingey. Hier beklagt es das Ausbleiben notwendiger Szenenwechsel, welche die Motivation der Haupt­ figuren erst begreiflich machten. Stattdessen werde die gesamte Vorgeschichte in Dialogen erzählt, und der Zuschauer müsse sie sich mühsam in seinem Kopf 73 Lenz, 74 Ebd.,

Von Shakespeares Hamlet (wie Anm. 69), 214. 216.

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zusammenreimen, was jede echte Rührung unmöglich mache. Das essayistische Ich schließt die Schilderung dieser Episode mit den emphatischen Worten: „Ein Mann aber sollte nimmer weinen wollen ohne Ursache“.75 Irritierend ist an dieser Darstellung die Reduktion des Tugendhaften Verbrechers auf ein reines Rührstück, da es sich bei diesem Drama eigentlich um ein sozialkritisches Stück handelt, das zeigt, wie ein unbescholtener junger Mann durch das Schicksal zum Galeerensträfling wird und sich der Verachtung der Gesellschaft ausgesetzt sieht, bis er seine Unschuld endlich beweisen kann. Es erscheint paradox, dass das essayistische Ich hier Szenenwechsel einfordert, um einen besseren Anlass zu gerührtem Weinen zu erhalten, da das Drama eigentlich unter dem Deckmantel der Rührung auf eine rationale Reflexion gesellschaftlicher Umstände hin ausgelegt ist. Ob Lenz sich in dieser ersten Version seines Rede-Essays des irritierenden Charakters seiner Argumentation aufgrund der scheinbar deplatzierten Beispiele bewusst ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. In der zweiten, abgedruckten Version hat er diese Irritationsmomente jedoch kunstvoll herausgearbeitet und dem gesamten Essay damit eine komplexe selbstironische Tiefenstruktur verliehen.76 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass in die Druckfassung auch Ergebnisse aus der kritischen Diskussion der beiden literarischen Texte (des Hamlet und des Tugendhaften Verbrechers) unter den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft eingeflossen sind, die Lenz zu erneuter Selbstreflexion motiviert haben könnten. Somit erweist Lenz seine einleitende Ermahnung, fremde Werke nicht vorschnell zu verurteilen, als unmittelbar handlungsleitend auch für sein eigenes Schreiben. In der gedruckten Version ist die Verurteilung des Tugendhaften Ver­brechers gar nicht mehr so eindeutig, wie sie in der Rede erscheint, vielmehr wird das negative Urteil dadurch ironisch gebrochen, dass die angelegten Beurteilungsmaßstäbe (Wahrscheinlichkeit vor Wahrheit, Vernunft vor Enthusiasmus, Sinnlichkeit und Einbildungskraft vor Gedächtnis) ständig durch Meta­ kommentare hinterfragt und relativiert werden. Am Ende bleibt dem Leser die Erkenntnis, dass diese dramentheoretischen Grundfragen nicht endgültig beantwortet werden können und daher auch die genannten begrifflichen Gegensätze einer festen Grundlage entbehren. Die Ursache dafür liegt jedoch nicht in den Texten, sondern im Subjekt selbst, das sich weder auf sein unmittelbares emotionales noch auf sein mittelbares reflektiertes Urteil wirklich verlassen kann und auf diese Weise in ein Misstrauensverhältnis zu seinen eigenen Entscheidungen gerät.77 Dieses Misstrauen zeigt sich zum Beispiel auch darin, dass Lenz die gesamte Kritik des Tugendhaften Verbrechers für seine Druckversion in einen 75 Lenz,

Von Shakespeares Hamlet (wie Anm. 69), 222. eine ausführlichere Analyse der beiden Essayversionen siehe Hahne, Essayistik als Selbsttechnik (wie Anm. 15), 229 – 237. 77 Darin äußert sich eine charakteristische „Verweigerung identitärer Sinnstiftungsangebote“, wie Christoph Schmitt-Maaß anhand zentraler Werke der nichtfiktionalen Prosa bei Lenz 76 Für



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als Anhang betitelten zweiten Teil des Essays verschoben hat. Dieser Anhang ist jedoch umfangreicher als der erste Teil und inhaltlich mindestens von gleicher Bedeutung, sodass die latent abwertende Bezeichnung Anhang nicht wirklich zum Bezeichneten passen will. Eine Unentschlossenheit bei der Bewertung des eigenen Geschriebenen wird so auch formal spürbar (gemacht). Somit markiert Lenz in einem hochgradig komplexen Rede-Essay die Grenzen der ästhetischen Selbstbildung und stellt auch hier die kritische Reflexion der Sprache als Träger und Konstituens von Anschauungen in den Mittelpunkt.78 Er bezeichnet damit einen qualitativen Höhepunkt und zugleich Endpunkt in der Entwicklung des Essays als Selbsttechnik im ausgehenden 18. Jahrhundert. IV. Schluss Die Vorstellung von Rede-Essays aus zwei Deutschen Gesellschaften der Aufklärung, der Leipziger Deutschen Gesellschaft in ihrer Entstehungszeit sowie der Straßburger Deutschen Gesellschaft in der Phase ihrer Etablierung, hat gezeigt, wie Essays im 18. Jahrhundert unter den verschiedensten Vorzeichen gezielt zur charakterlichen Selbstbildung eingesetzt werden. Das kommunikative Wechselverhältnis zwischen dem Redner oder der Rednerin, den Zuhörern und der nur implizit anwesenden literarischen Öffentlichkeit bildet das Gerüst dieser besonderen Selbsttechnik, in deren Zentrum der Essay als Text steht. Die Sichtbarmachung oder Unsichtbarmachung der Geschlechtsgebundenheit des essayistischen Ichs bei Christiana Mariana von Ziegler oder Luise Adelgunde Victorie Gottsched, die gezielte Einwirkung auf den Wortschatz der Muttersprache zur Entwicklung nationaler und individueller Identität oder die ironische Brechung eines ästhetischen Bildungsideals bei Lenz bilden ganz unterschiedliche Möglichkeiten ab, wie der Rede-Essay der Aufklärung in Gesellschaften eingesetzt werden kann. Es ist von größter Bedeutung, dass die Reden nicht auswendig vorgetragen oder aus dem Stegreif entworfen, sondern dass sie als im Vorfeld sorgfältig komponierte Texte vom Blatt abgelesen werden. So wird für die Selbsttechnik Schriftlichkeit in Mündlichkeit und dann wieder in Schriftlichkeit überführt, wodurch der Rede-Essay erst seine volle rhetorische Wirkung entfalten kann. Im Unterschied zu den officia oratoris der klassischen antiken Rhetorik werden nachweist (Christoph Schmitt-Maaß, „Unberühmt will ich sterben.“ J. M. R. Lenz’ Poetologie der Autorschaft, in: Lenz-Jahrbuch 15 (2008), 121 – 142, hier 138). 78 Dass Lenz zeitgleich experimentelle Praktiken der Selbstbildung auch in seinem Straßburger Tagebuch testet, zeigt Jörg Schönert (vgl. Jörg Schönert, Literarische Exerzitien der Selbstdisziplinierung. „Das Tagebuch“ im Kontext der Straßburger Prosa-Schriften von J. M. R. Lenz, in: Inge Stephan, Hans-Gerd Winter [Hg.], „Unaufhörlich Lenz gelesen …“. Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz, Stuttgart, Weimer 1994, 309 – 324).

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die Reden im Anschluss an ihre Ausarbeitung nicht memoriert, um durch den auswendigen Vortrag den Anschein des Spontanen zu erwecken und damit die Wirkung zu steigern. Die Redenden wollen den Anschein des Spontanen gerade vermeiden, da das Ablesen vom Papier ihrem Vortrag den Wert eines Bezeugens verleiht: Das für alle sichtbare beschriebene Blatt bezeugt die vorgängige Praxis der Selbsttechnik bei der Ausarbeitung des Essays und legitimiert damit den Vortrag im Kreis der Anwesenden. Der Artikel zeichnet nach, wie als Reden vorgetragene Essays in bürgerlichen Deutschen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts für eine Praxis individueller und kollektiver Charakterbildung eingesetzt wurden. Er resümiert die Funktion der Aufklärungsessay­ istik als Selbsttechnik in ihren historischen Erscheinungsformen und die Rolle des essayistischen Ichs dabei. Anhand von Rede-Essays aus den Kontexten der Leipziger Deutschen Gesellschaft in den 1730er Jahren und der Straßburger Deutschen Gesellschaft in den 1770er Jahren werden unterschiedliche Strategien der Charakterbildung in ihrem Wechselverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit vorgestellt. So greifen Christiana Mariana von Ziegler und Luise Adelgunde Victorie Gottsched in ihren Rede-Essays zur Strategie der Selbstüberredung, um das emanzipative Potenzial des Aufklärungsessays freizusetzen. Jakob Michael Reinhold Lenz wiederum proklamiert in seinen Rede-Essays die Individualbildung als nationalcharakterliche Bildung und demonstriert zugleich die Grenzen aufklärerischer ästhetischer Bildung, indem er die sprachliche Bedingtheit der Subjektbildung ironisch offenlegt. The article deals with essays presented as speeches in the German Societies of the 18th century and points out how they could be used as a practice of individual and collective character building. It sums up the function of Enlightenment essayistic writing as a technology of the self and explains the role of the essayistic “I” in this technology. The article analyses orally presented essays from the Leipzig German Society in the 1730s and the Strasbourg German Society in the 1770s and presents their rhetorical strategies in an interplay of speech and writing. While Christiana Mariana von Ziegler and Luise Adelgunde Victorie Gottsched use a strategy of self-persuasion to enhance the emancipatory potential of the Enlightenment essay, Jakob Michael Reinhold Lenz propagates individual character-building as a prerequisite for national character-building. Lenz at the same time demonstrates the limitations of Enlightenment aesthetic characterbuilding by ironically exposing the linguistic relativity of subjectivation. Dr. Nina Hahne, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Institut für Germanistik, Abt. II: Neuere deutsche Literaturwissenschaft, 40225 Düsseldorf, E-Mail: [email protected]

Andreas Golob „Schiken Sie mir zuweilen auch was Interessantes zum Anhang“1 Para- und metatextuelle Einblicke in Entstehung, Distribution und Wirkung der polyhistorischen Aufsätze im Anhang der Grazer Bauernzeitung

Michael Hermann Ambros, der Redakteur der Bauernzeitung, war keine Kreatur der Krone. Kein Vorrecht schützte sein Presseprodukt, wie dies bei den habsburgischen offiziösen ‚Landeszeitungen‘ der Fall war. Er konnte auch nicht auf ein Vermögen zurückgreifen. Druck und Vertrieb verschiedenster Medien waren für ihn daher nicht monopolistische Einkunftsquelle, nicht Zeitvertreib, sondern ein ständiger Kampf ums Überleben. Erfolgreich bewegte er sich im hochkompetitiven Umfeld der Josephinischen ‚erweiterten Preßfreiheit‘ nach nahezu zwei restriktiven Jahrhunderten.2 Seine Druckerpresse produzierte eine Handvoll Bücher und Kalender, Kupferstiche, insbesondere auch Formulare, also quasi das lukrative Tagesgeschäft im Josephinischen Bürokratismus.3 Sein Flaggschiff war jedoch unumstritten die Grazer Bauernzeitung.4 Dieses Rückgrat lieferte seine hauptsächlichen Erträge aus Abonnements und Annoncenverkäufen. Dementsprechend trachtete er danach, mit Alleinstellungsmerkmalen 1 Michael

Hermann Ambros, Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung, in: GBAZ Nr. 8 vom 26. Januar 1792, Anhang, 63 f., hier 64. 2 Andreas Golob, Dynamisierung und Erstarrung in der Steiermärkischen Presselandschaft, in: Harald Heppner, Nikolaus Reisinger (Hg.), Wandel einer Landschaft. Das „lange“ 18. Jahrhundert und die Steiermark, Wien, Köln, Weimar 2006 (Schriftenreihe der österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, 12), 411 – 431. Für einen biobibliographischen Überblick: Heinrich K. Caspart, Michael Hermann Ambros. Ein österreichischer Journalist zwischen Aufklärung und Reaktion. Ein Beitrag zur österreichischen Mediengeschichte, 2 Bde, Wien 1991 (Dissertationen der Universität Wien, 221). Vgl. zur Zensur: Thomas Olechowski, Die Entwicklung des Preßrechts in Österreich bis 1918. Ein Beitrag zur österreichischen Medienrechtsgeschichte, Wien 2004, 87 – 202. 3 Michael Hermann Ambros, An das Publikum, in: GBAZ Nr. 32 vom 21. April 1791, Anhang [4]; Michael Hermann Ambros, Tabellen-Ankündigung, in: GBAZ Nr. 64 vom 11. August 1791, Beilage [1 f.]. 4 Erschienen 1786 bis Mitte 1796, abgesehen vom Verbot vom 16. Februar bis 21. Mai 1792. 1792 bis Juni 1795 unter dem Titel Bauernzeitung, im zweiten Halbjahr 1795 Biedermann, in den letzten sechs Monaten schließlich Steyrischer Biedermann. Erhaltungsgrad: Jahrgänge 1791 und 1792, Januar 1794 bis Juni 1795, Oktober 1795 bis Juni 1796.

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128

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die Führung am regionalen und überregionalen Zeitungsmarkt zu übernehmen. Wie die Konkurrenz bezog er Informationen aus anderen Presseprodukten. Ambros hielt jedoch ungleich mehr Zeitungen und Zeitschriften, nutzte sie höchst systematisch und verglich die Informationen aus den unterschiedlichen Medien miteinander, um möglichst differenziert berichten zu können. Seine besonderen Bemühungen galten darüber hinaus allerdings dem Aufbau eines Korrespondenznetzwerks, den er erfolgreich vorantrieb und der schließlich in einem beachtlichen Resultat gipfelte, wie die Pressehistoriographie einhellig anerkannte.5 Zusammen mit den abonnierten Zeitungen entstand somit in erster Linie eine hochqualitative, zum Teil reportagehafte Zeitungsberichterstattung. Überdies entwickelte sich aber auch ein Austausch über wirtschaftliche, soziale, politische und moralische Diskurse der Zeit. Als Medium dieses Kommunikationsprozesses dienten erstveröffentlichte oder übernommene Aufsätze zu verschiedensten Themen im polyhistorischen Anhang der Zeitung. Sie florierten vor allem in Friedenszeiten, wenn sich die politischen und militärischen Ereignisse nicht überschlugen und wenn Zeitfenster sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption der Zeitung offenstanden und (Spalten-)Raum für Reflexion zur Verfügung gestellt werden konnte. Schließlich unterschied sich Ambros von seiner Konkurrenz durch seine höchst kommunikative Ader, die außergewöhnliche para- und metatextuelle Zeugnisse zeitigte und Einblicke in Produktion, Distribution und Rezeption erlaubt. Mehr oder weniger groß angelegte Werbebotschaften am Ende der Quartale entsprachen der üblichen Praxis der Zeitungs­ redakteure. Auch Kommentare und Räsonnements, die eher allgemein Gebildete zur Reflexion anregen als ungebildete Bauern bloß belehren sollten,6 sind am Ende des achtzehnten Jahrhunderts keine Seltenheit mehr. Außerdem können auch Einleitungen zu Originalbriefen genannt werden; sie sind schon spezifischer, weil sie Ambros’ Alleinstellungsmerkmal zelebrieren. Beachtlich sind letztendlich vor allem die regelmäßigen Rubriken, in denen Ambros durchaus 5 Erstmals:

Johann Winckler, Die periodische Presse Oesterreichs. Eine historisch-statistische Studie, Wien 1875, 42, 53. Zuletzt: Holger Böning, Grazer Bauernzeitung, in: H. B., Reinhart Siegert (Hg.), Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Teilband 2.1: Der Höhepunkt der Volksaufklärung 1781–1800 und die Zäsur durch die Französische Revolution, Stuttgart, Bad Cannstatt 2001, Sp. 427 f., hier 428. Auch: Peter Burke, Popular Culture in Early Modern Europe, Farnham, Burlington 32009, 364. Auch schon wahrgenommen von: Joachim von Schwarzkopf, Ueber Zeitungen. Ein Beytrag zur Staatswissenschaft, Frankfurt am Main 1795, 122 f. 6 Michael Hermann Ambros, Die – so betitelte Grazer Bauernzeitung, in: GBAZ Nr. 14 vom 17. Februar 1791, beidseitig bedruckte beiliegende Subskriptionsnachricht. Vgl. in dieser ersten erhaltenen Ankündigung (die aufgrund ihres Inhalts wohl eher in die zweite Jahreshälfte 1791 zu datieren ist und offensichtlich fälschlich der genannten Nummer beigebunden wurde) auch die allgemeinen Angaben.



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transparent von Praktiken hinter der Kulisse der Zeitungstexte sprach. Insbesondere seine „Erinnerungen“ zeigen zudem die semiöffentliche Interaktion mit Leserschaft und Korrespondenznetzwerk.7 Trotz Anonymität und trotz teils verklausulierter Botschaften sind sie höchst aufschlussreich. Durch die Angabe von Absatzorten öffnet sich der Blick auf die ungewöhnlich weite Verbreitung, die anders als bei den regional begrenzten Landeszeitungen die gesamte Habsburgermonarchie und an sie grenzende Gebiete umfasste. Durch die genannten Charakteristika wird die Bauernzeitung geradezu zu einem Schlüssel zum Mediensystem der Habsburgermonarchie und benachbarter Kommunikationsräume in allen Himmelsrichtungen. I. Die Bauernzeitung – ein Produkt ‚essayistischen Schreibens‘? Die inhaltliche Vielfalt der Aufsätze mit ihren soziokulturellen, sozioökonomischen, politischen und moralischen Stoßrichtungen ging mit verschiedenen konkreten Erscheinungsformen des Mediums Aufsatz einher. Daher erscheint es eingangs zweckmäßig, diesen Formenreichtum auszuloten und im Medium Zeitung, das politische Berichterstattung mit kommerziellen sowie administrativen Funktionen und mit allgemeinbildendem Impetus verband, zu kontextualisieren. Dabei kann zunächst eine basale und umfassende Typologie zugrunde gelegt werden, wie sie Otto Ludwig für den Schulaufsatz am Ende des 18. Jahrhunderts ausbreitet.8 Das Anzeigenblatt war naturgemäß die Domäne der Geschäftsaufsätze mit ihrer sachlich-kühlen Pragmatik, die als spezifische Aufsatzform nur kurz gestreift werden kann. Diese Erscheinungsform des Aufsatzes machte sich zwar zunehmend von der traditionellen Formelhaftigkeit frei, es fanden sich jedoch auch noch veraltete, sperrige, langatmige Ausformungen aus vielfach verschachtelten Sätzen, die in einem seiner Zeit vorauseilenden Medium geradezu anachronistisch wirken.9 Bezeichnenderweise konnten sich offensichtlich auch konservative ländliche Geister nicht mehr der Annehmlichkeit und der Macht der medialisierten Kommunikation entziehen. Die Verschriftlichung von sach7 Ambros, Erinnerungen (wie Anm. 1), insb. 63. Vgl. für Leserbriefe allgemein: Andrea Mlitz, Dialogorientierter Journalismus. Leserbriefe in der deutschen Presse, Konstanz 2008. Zum ‚Betriebssystem‘ der Bauernzeitung jüngst: Andreas Golob, Frühes Korrespondenzwesen. Michael Hermann Ambros und sein Grazer Zeitungsunternehmen, in: Matthias Karmasin, Christian Oggolder (Hg.), Österreichische Mediengeschichte, Band 1: Von den frühen Drucken zur Ausdifferenzierung des Mediensystems (1500 bis 1918), Wiesbaden 2016, 113 – 138. 8 Otto Ludwig, Der Schulaufsatz. Seine Geschichte in Deutschland, Berlin, New York 1988, 172 – 181. 9 Leopold Xavier Löw, Concov. der herrlich von Stubenbergischen Lehensvasallen, in: GBAZ Nr. 49 vom 19. Juni 1794, Anhang [4 f.]. Vgl. allgemein: Ludwig, Schulaufsatz (wie Anm. 8), 180 f.

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lichen Geschäftsprozessen in Geschäftsaufsätzen machte also auch nicht vor feudalistischen Nachzüglern halt. Geradezu essayistische Selbstbetrachtungen und moralinsaure Zivilisationskritik züngelten in einigen Exemplaren der Heiratsannoncen, die Ambros ebenfalls innovativ in den Anzeigenteil integrierte: Sonderbar mag es manchem der sich weise dünkenden Männer scheinen, wenn ein Mann von mehr als reifern Jahren noch auf Freiwerberei ausgeht, und äußerst lächerlich wird er erst in den Augen der zahllosen Menge der männlichen Zierrathen erscheinen, deren größter Stolz in der Rolle des auserkohrnen Schoßhündchens einer prunkenden Dame besteht, der sie mit der größten Selbstgenügsamkeit auf den Polstern des Divans ihre Künste vormachen müssen, während sie durch einen auf den breitschultrigen Livree-Bedienten schielenden Blik ihrer Göttin mitleidig belächelt werden; wenn dieser Mann dreust behauptet, daß, gegen manche seiner Erfahrungen, doch Redlichkeit, sanfte, theilnehmende Freundschaft und treue Anhänglichkeit noch häufiger unter dem schönen als unter dem männlichen Geschlechte gefunden werden, unter welchem besonders in gegenwärtiger Zeit der trozigste Egoismus herrschend zu werden beginnt. In dieser Uiberzeugung, unbekümmert um das höhnende Achselzuken jener, und das spöttische Lächeln dieser, macht Endesgezeichneter hier seine Wünsche ruhig bekannt.10

Auch die politische Berichterstattung in der eigentlichen, tagesaktuellen Zeitung trug zuweilen Züge von Introspektion und Subjektivität, die ohne Scheu öffentlich geäußert wurden. Der quantitativ und qualitativ überdurchschnittliche Korrespondent in Freiburg im Breisgau ließ tief in sein Inneres blicken, als er 1792 seine Berichterstattung beim Herannahen der französischen Truppen in einen selbstreflexiven Rahmen einschrieb: Nun endlich habe ich zum erstenmal in meinem Leben gesehen, wie es bei naher Feindesgefahr in wehrlosen Städten zuzugehen pflegt. […] Es ist wirklich für einen Beobachter sehr interessant, an einem Orte zu leben, wo es thätig wegen Feindesgefahr zugeht; denn man sieht so viel possirliches Zeug, welches man mit allem psychologischen Studium sich nicht zu erklären vermag.11

Enthalten schon diese ‚unverdächtigen‘ Fundorte Aufschlüsse über den spezifischen Typ des Geschäftsaufsatzes und über essayistisches Schreiben des selbstkritischen und journalistischen aufgeklärten Selbst, so muss der Schwerpunkt der folgenden Analyse doch auf den Anhängen der Zeitung liegen. Sie vereinten „Litteratur“, also Rezensionen respektive Buchbesprechungen, Histo­riographie, Innovationen aller Art, Ökonomisches, oft nicht zu trennen von „Bei­träge[n] 10 N. N.,

Nr. 19. Heurathsantrag, in: GBAZ Nr. 56 vom 14. Juli 1794, Anhang [2 – 4, hier 2]. Vgl. für Selbst- und Gesellschaftskritik mit kommunikativem Anspruch in der Aufklärung allgemein: John A. McCarthy, Crossing Boundaries. A Theory and History of Essay Writing in German, 1680 – 1815, Philadelphia 1989; jüngst: Nina Hahne, Essayistik als Selbsttechnik. Wahrheitspraxis im Zeitalter der Aufklärung, Berlin, Boston 2015 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 53). 11 N. N., Freiburg im Breisgau vom 29. Okt., in: GBAZ Nr. 63 vom 8. November 1792, Zeitungsblatt, 499 – 501, hier 500 f.



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zur Erhaltung der Gesundheit“; satirische Texte sorgten für Unterhaltung und Belehrung.12 Die Zeitung ragte in Form von politischen Dokumenten in den Anhang hinein. Andererseits reicherte der Redakteur auch das eigentliche Zeitungsblatt mit Abhandlungen und satirischen Versatzstücken an, wo dies passend erschien. Beachtung verdient schließlich die dezidierte Praxis, den Anhang in Friedenszeiten mit polyhistorischen Beiträgen zu füllen. In politischen und militärischen Wirren verdrängten Zeitungsberichte die „schönen Beiträge“13 – inter arma silent musae. Während sich die Streuung 1791 und 1792, wie die ersten beiden Diagramme demonstrieren, noch recht vielfältig gestaltete, beschränkte sich die Bauernzeitung demnach ab 1794, mitten in den Koalitionskriegen, hauptsächlich (zu 83 Prozent) auf Übernahmen aus der tendenziösen Neuwieder Zeitung,14 ergänzt um Baltasar Graciáns Maximen (im Ausmaß von neun Prozent) und ebenso wenige ökonomische Materien. Der ‚Rückgriff‘ auf die Maximen ist insofern bemerkenswert, als John A. McCarthy an Gracián eine der Wurzeln aufgeklärter deutscher Essayistik festmachen konnte.15 Zur Typologie der Aufsätze mag zuerst Ambros selbst befragt werden. Die namentlich einschlägigen Rubriken bieten insofern Auskunft, als sie das Pano­ rama auf die ‚materia mixta‘ des Anhangs eröffnen. Die explizit sogenannten „Aufsäze vermischten Inhalts“16 umfassten Reportageartiges, satirische Texte, praktische konkrete, teils rezeptartige Ratschläge, Charakterskizzen, die unter Dominanz des Typischen und Schablonenhaften auf Tugenden beziehungsweise Laster abzielten,17 bloße Darstellungen von Sachverhalten, argumentative Wissensvermittlung, ein Gespräch, längere Erzählungen, Fabeln und Introspektionen,18 die, ausgestattet mit sachlichen sowie fiktionalen Mitteln, zuweilen in den ausgreifenden und ausschweifenden Appellcharakter von Mo12 Ambros, 13 Michael

248.

14 Karl

Die – so betitelte Grazer Bauernzeitung (wie Anm. 6), avers. Hermann Ambros, [Ohne Titel], in: GBAZ Nr. 31 vom 19. Juli 1792, Zeitungsblatt,

d’Ester, Der Neuwieder. Ein vergessener Vorkämpfer für die Freiheit des deutschen Rheines, Neuwied 1930. 15 Vgl. den Beitrag in diesem Band sowie McCarthy, Crossing Boundaries (wie Anm. 10), 179. Vgl. auch: Sebastian Neumeister, Bildungsideal barock: Christian Thomasius liest Gracián, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge 52/1 (2002), 39 – 47. 16 In den folgenden Nummern des Jahrgangs 1792: 1, 4, 7, 11 – 14. Anfangs, 1791: „Aufsäze, Bearbeitungen und Anekdoten verschiedenen Inhalts“ (Nr.  84 f.), „Aufsäze satirisch-moralischen Inhalts“ (Nr. 86, 88 – 91, 96 f., 100 – 103). Vgl. vor der Einführung von festen Rubrikbezeichnungen 1791 sporadisch auch Nummer 5 („Aufsäze verschieden[en] Inhalts“) sowie die Nummern 15 f. („Anekdoten und Aufsäze verschiedenen Inhalts“). 17 Typisch für die Spätaufklärung laut: Ludwig, Schulaufsatz (wie Anm. 8), 175. Vgl. auch: Gunhild Berg, Erzählte Menschenkenntnis. Moralische Erzählungen und Verhaltensschriften der deutschsprachigen Spätaufklärung, Tübingen 2006 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 30). 18 Nach Ludwig am ehesten „Betrachtungen“, vgl. Ludwig, Schulaufsatz (wie Anm. 8), 176 f.

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Inhalte im Überblick 1791 und 1792, exklusive Buchbesprechungen (in Zeilen, n = 58.550) Aufklärung/Bildung/Erziehung 1.067 = 1,8 % Länder- u. Völkerkunde 2.343 = 4 %

Geschichte 11.633 = 19,9 %

Gesundheit 6.620 = 11,3 %

Naturgeschichte: 491 = 0,8 % Kunst: 243 = 0,4 %

Moral 14.475 = 24,7 %

Politik 13.621 = 23,3 %

Ökonomie 8.057 = 13,8 %

ralpredigten mündeten. Schließlich fanden sich nicht nur Prosaformen, sondern auch Lyrik in diesem Mikrokosmos, den Ambros mit dem Begriff „Aufsäze“ umschrieb. Typisch für die umfassende Begrifflichkeit mag letztlich auch ein argumentativer Text in der „Rubrik zum Vergnügen des schönen Geschlechts“, „[a]ufgesezt [!] von Marianne Ehrmann“19 erscheinen – Alles sozusagen aus Sätzen ‚Komponierte‘ bildete den breiten und letztlich zu unspezifischen Rahmen. 19 Marianne

Ehrmann, Einige Gedanken über das Ehrengefühl, in: GBAZ Nr. 7 vom 23. Januar 1792, Anhang, 53 – 55, Nr. 8 vom 26. Januar 1792, Anhang, 58 f., Nr. 9 vom 30. Januar 1792, Anhang, 66 – 68. Vgl. für die mit Ambros höchstwahrscheinlich nicht in persönlicher Korrespondenz stehende prominente Verfasserin dieser übernommenen Abhandlung: Britt-Angela Kirstein, Marianne Ehrmann. Publizistin und Herausgeberin im ausgehenden 18. Jahrhundert, Wiesbaden 1997.



„Schiken Sie mir zuweilen auch was Interessantes zum Anhang“ 221

Mikrokosmos Buchbesprechungen: Inhalte (nur in den Jahrgängen 1791 und 1792 Komponente im Anhang) (in Zeilen, n = 1995)

Länder- u. Völkerkunde 55 = 2,8 %

Zeitschriften: 41 = 2,1 % Naturgeschichte: 33 = 1,7 %

Jura 85 = 4,3 % Ökonomie 185 = 9,3 %

Geschichte 247 = 12,4 %

Belletristik 491 = 24,6 %

Aufklärung/Bildung/Erziehung 325 = 16,3 %

Religion 252 = 12,6 % Gesundheit 281  = 14,1 %

Um Halt in diesem Strudel zu finden, bieten sich auf der Metaebene die bloße „Beschreibung“, die „Schilderung“ sowie die „Abhandlung“ als Haupttypen zur grundlegenden Kategorisierung der nicht-fiktionalen Texte an.20 „Beschreibungen“ umfassten mit Gottsched ausformuliert „die Erwähnung der Eigenschaften einer Sache, derselben ganze Beschaffenheit“, die das Beschriebene „dem Zuhörer, oder Leser, gleichsam lebhaft vor die Augen malet“.21 Treffend sind außerdem Eschenburgs Definitionen:

20 Nach

Ludwigs Typologie: Ludwig, Schulaufsatz (wie Anm. 8), 173 – 179. Die folgenden Stellen wurden eingesehen und nach den Originalen zitiert. 21 Joh.[ann] Christ.[oph] Gottsched, Vorübungen der Beredsamkeit, zum Gebrauche der Gymnasien und größern Schulen, Leipzig 1754, 81.

222

Andreas Golob

Inhalte der Hauptaufsatztypen in Prozent 60 57,9

50

40

30,1

30,4

30

29,1

28,7

Beschreibung Schilderung

23,9

Abhandlung

20

17,1

18,0 11,7

11,6

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10

Die Schilderung der Charaktere selbst erfordert zuerst Treue und Richtigkeit, sowohl im Ganzen, als in ihren kleinsten Zügen und Aeusserungen; […] Eigentlich sind die Charaktere nur ein Theil jeder Geschichtserzählung, sie mag wahr oder erdichtet, vielbefassend, oder auf die Umstände einer einzelnen Person eingeschränkt seyn. Man kann sie aber auch als eine besondre prosaische Gattung betrachten, welche durch Schilderungen dieser Art moralischen Unterricht ertheilt, und lehrreiche Beispiele darstellt. Dieß kann entweder mit individuellen Charakteren, oder mit ganz gemeinschaftlichen Gattungen derselben geschehen.22 22 Johann

Joachim Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Zur Grundlage bei Vorlesungen, Berlin, Stettin, neue, umgearbeitete Ausgabe, 1789, 330.



„Schiken Sie mir zuweilen auch was Interessantes zum Anhang“ 223

Beitragsgattungen 1791/1792 (in Zeilen, n = 60.545)

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2. 37 0 2.5 16

Beschreibung 27.932 = 46,1 %

Abhandlung 10.358  = 17,1 %

Schilderung 10.635  = 17,6 %

*  Denkschrift/Deklaration/Rede/andere politische Dokumente

Als „Abhandlung“ bezeichnete er „einen zusammenhangenden prosaischen Aufsatz, worin eine gewisse, theoretische oder praktische, Materie, irgend ein wichtiger, wissenschaftlicher oder historischer, Hauptsatz weiter ausgeführt, erläutert, bewiesen, vertheidigt oder widerlegt wird. Der Inhalt einer solchen Abhandlung kann also von eben so mannichfaltiger Art seyn, als die Gegenstände mannichfaltig sind, die eine solche Behandlung vertragen“.23 Unter ‚Beschreibungen‘ können nun wissensvermittelnde Ausführungen aus diversen Fachgebieten subsummiert werden. Auch die anspruchsvolleren argumentativen Texte, die als ‚Abhandlungen‘ bezeichnet werden können, wurden von verschiedenen Themen durchzogen. Unter dem Dach der ‚Schilderung‘ finden schließlich vor allem Auseinandersetzungen mit menschlichem Verhalten in Geschichte und Gegenwart Platz. 23 Ebd.,

317.

224

Andreas Golob

Die drei relevanten Typen zeigen jedoch auch wahrnehmbare Schwerpunkte. ‚Beschreibungen‘ galten historischem wie aktuellem Geschehen, zudem dem Hand in Hand gehenden Komplex aus Wirtschaft und Gesundheit und schließlich der Länder- und Völkerkunde. ‚Schilderungen‘ dienten vor allem moralischen Zwecken, wandten sich aber auch ohne moralisierenden Unterton historischen und zeithistorisch-politischen Themen zu, während Naturschilderungen kaum ins Gewicht fielen. Diese beiden Typen entsprachen wohl auch am ehesten der volksaufklärerischen Stoßrichtung der Zeitung in materieller und ideeller Hinsicht. Bei den komplexeren ‚Abhandlungen‘ dominierten die praktischen Materien Ökonomie und Gesundheit, aber auch zeitgeschichtlich-politische und moralische Diskurse hoben sich ab. Die Verquickung von Wissensvermittlung mit dem Abwiegen von Argument und Gegenargument sowie mit einem Appellcharakter lassen diese letztgenannte diskursive Erscheinungsform in weiterer Folge in den Mittelpunkt rücken. Daneben werden auch Schilderungen aufgrund ihres moralischen Impetus interessieren. II. Produktion Nach dieser groben Typologisierung stellt sich nun die Frage nach den Entstehungsbedingungen der Aufsätze, nach ihrer Verbreitung und nach ihrem intendierten Sinn für das Individuum und die Gesellschaft. Dabei werden vorrangig para- und metatextuelle Versatzstücke als Quelle verwendet werden. Zunächst muss hervorgehoben werden, dass die Initiative von der politischen Zeitungs­ berichterstattung ausging. Als sich die Friedensverhandlungen nach dem letzten Österreichischen Türkenkrieg 1791 dem Ende zuneigten und die Bauernzeitung ihre Rolle als ‚Kriegszeitung‘ bravourös erfüllt hatte, ortete Ambros ungehobenes Potential unter seinen engagierten Korrespondierenden, die Mitteilungsund Publikationsdrang erkennen ließen: So viele gütige trefliche Gönner dieser Blätter entschuldigen sich, daß sie in ihren geschichtenleeren oder unbedeutenden Gegenden keinen Stof zu Zeitungsbeiträgen finden können. O diese brave[n] Männer werden da sicher Stof genug zum Anhang finden, nemlich allerhand interessirende Bemerkungen, Fragmente, Exzerpte, schöne Aufsäze verschiedenen Inhalts, Alterthümer- und Oerterbeschreibungen, Auszüge schöner Geschichten aus den Ortsarchiven, Karakterschilderungen edler und unedler Menschen, merkwürdige Biographien, medizinische oder ökonomische Beiträge, seltsame Berechnungen, Beobachtungen, u. dgl. m.24

Der multidisziplinäre Anhang erwies sich also als zweite Schiene, die von der vordergründigen Tagesberichterstattung abzweigte. Der konstatierte Wunsch, 24 Michael

Hermann Ambros, Einige Erinnerungen vom Verleger dieser Zeitung, in: GBAZ Nr. 56 vom 14. Juli 1791, Anhang [6 f., hier 7].



„Schiken Sie mir zuweilen auch was Interessantes zum Anhang“ 225

am ‚Projekt‘ Bauernzeitung teilzunehmen, mit dem Redakteur und mit der Leserschaft auch in weniger ereignisträchtigen Zeiten zu interagieren, muss­te lediglich kanalisiert werden. Daher forderte Ambros die Korrespondierenden konkret auf, ihr praktisches oder theoretisches Wissen zu teilen, und fügte teils präzisierend noch weitere Wissensgebiete als Desiderata hinzu, etwa Gegenstände „der schönen Wissenschaften, der Philosophie und Moral, der Menschengeschichte, der Naturgeschichte und Naturlehre, der Kunstgeschichte, der Geographie, der Statistik, der Völkerkunde, der Litteratur“; prinzipiell zeigte er sich bei dieser Gelegenheit auch offen für „Beiträge jeder Art“.25 ‚Bewerbungen‘ mussten neben einem sogenannten „Antragsbrief mit einem oder andern solcher Beiträge“ bestückt werden.26 Die Vorlieben und praktischen oder theoretischen Expertisen der Beitragenden sowie ihre lokalen Möglichkeiten bildeten also den breiten Rahmen für die Inhalte. Spezifisch ergänzte der Redakteur noch: Nebst Aufsäzen aus erwähnten Gegenständen wünschte ich vorzüglich, daß auch besondere Rüksicht auf […] nüzliche Unterhaltung des schönen Geschlechtes genommen würde. Diese Aufmerksamkeit bin ich den fühlenden Schönen vorzüglich schuldig, indem ich unter meinen Lesern keine geringe Anzal von Damen und anderm Frauenzimmer von Geschmak zu zählen die Ehre habe. Daher bitte ich unter anderm mich auch mit Karakterschilderungen und andern Zügen edler Handlungen von wirklich lebenden Frauenzimmern zu beehren.27

Eine erste konkrete Zuschrift nahm wenig später darauf Bezug und lieferte nach einem aktuellen Anlassfall die Schilderung einer mutigen jungen Frau, die unter dem Einsatz ihres Lebens an der Bekämpfung eines Brandes teilgenommen hatte. Ein dezidierter Aufruf zur Mitwirkung erfolgte an dieser Stelle auch noch an die „Leserinen selbst“, um das weibliche Potential zu aktivieren.28 Als Realist und Geschäftsmann sprach Ambros auch Materielles an. Die Verbindung mit der Zeitung brachte vorweg einen wichtigen praktischen Vorteil: alle „Zeitungssachen“ unterlagen nämlich günstigen Sonderkonditionen in Versand und Frankierung.29 Die Übersendung von der Produktionsstätte in die Redakteursstube war damit in der Regel gewährleistet.30 Zudem war sich der Redakteur aus eigener Erfahrung der Entstehungsbedingungen der Aufsätze 25 Michael Hermann Ambros, An Gönner dieses Blattes, in: GBAZ Nr. 82 vom 13. Oktober 1791, Zeitungsblatt [8]. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 N. N., Villach in Kärnthen, in: GBAZ Nr. 86 vom 27. Oktober 1791, Anhang [3]. 29 Vgl. Michael Hermann Ambros, An unsre Titl. Herren Leser, in: GBAZ Nr. 67 vom 22. August 1791, Zeitungsblatt [7 f., hier 7]. 30 Anders (über Fehlleistungen der Post und konkrete Verluste): Michael Hermann Ambros, Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung, in: GBAZ Nr. 9 vom 30. Januar 1792, Beilage [1 f., hier 1].

226

Andreas Golob

unter teils turbulenten Berufszwängen bewusst. Die Konkurrenz zu den Amtsgeschäften spiegelte sich etwa in der Erwiderung an einen Kaufmann aus Neusatz (heute Novi Sad, Serbien) wider: „Ihre Beiträge gehören unter die vorzüglichsten, bedaure nur, daß ihre Geschäfte ihnen so wenig Zeit dafür lassen“.31 Neben der hier evidenten Kaufmannschaft lassen sich als Metiers der Autoren auch zweifelsfrei der militärische, weltliche und geistliche Staatsdienst sowie die Ärzteschaft identifizieren.32 Explizite Namen weisen den Weg in die zweite Reihe der jeweiligen Berufsfelder. Frauen traten letztendlich selten in Erscheinung.33 Gelehrte Bauern spielten nur als beschriebene Vorbilder eine Rolle.34 Ambros regelte angesichts dieses Dilettantismus im besten Sinn des Wortes auch die Frage der Remuneration und gab seiner Einrichtung damit institutionelle Züge. Nach der hoch gelobten Abschaffung der Stempelgebühr für Zeitungen wurden sogenannte „besondere Belohnungen für köstliche Beiträge“35 im Ausmaß von zwei bis vier Gulden oder auch noch höheren Honoraren36 als monetärer Anreiz versprochen. Ausgelobte Preise im Sinne von Preisfragen kamen im Anhang allerdings nicht vor. Nach quantitativem Maßstab wurde für einen publizierten Bogen ein Zeitungsabonnement zur Verfügung gestellt. Als zusätzliche Sachremuneration diente die eindrucksvolle Ambros’sche Postlinien­ karte.37 Diese Maßnahmen setzte Ambros auch ausdrücklich mit den finan­ ziellen Grenzen der intellektuellen Arbeit in Beziehung: „Weil aber nicht jeder erudite Gönner in der Lage ist, unentgeltlich zu arbeiten; so erbiete ich mich hiemit zu einem anständigen Ersaz für die einliefernden Beiträge[r]“.38 Das Aufsatzschreiben sollte so also breiteren Schichten ermöglicht werden. Lohn drückte sich nicht nur immateriell in der persönlichen Befriedigung und in der öffentlichen Wirkung aus, sondern auch pekuniär. 31 Michael

Hermann Ambros, Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung, in: GBAZ Nr. 13 vom 13. Februar 1792, Beilage [1]. Für Ort und Profession: N. N., Versprochener Nachtrag zu der im 11ten Stük der G. B. Z. enthaltenen Nachricht von des Hrn. v. Folimonow verhinderten Schiffahrt, in: GBAZ Nr. 15 vom 21. Mai 1792, Zeitungsblatt, 115 f., hier 115. 32 Vgl. Anmerkungen 52, 56, 73: Scherer, Jenne, Schwitzen. 33 J. A. J–e, An die Mütter Deutschlands. Präserv. Mittel wider die Würmer der Kinder, in: GBAZ Nr. 97 vom 5. Dezember 1791, Anhang [4]. 34 N. N., Beitrag zur Geschichte der Wirkungen wahrer Aufklärung, in: GBAZ Nr. 15 vom 21. Mai 1792, Anhang, 115. Übernommen aus Lorenz Hübners Salzburger Intelligenzblatt: N. N., Kurzgefaste Geschichte des berühmten Bauers Kleinjogg, in: GBAZ Nr. 64 vom 12. November 1792, Anhang, 490 f., Nr. 65 vom 15. November 1792, Anhang, 496 f., Nr. 68 vom 26. November 1792, Anhang, 520 f. 35 Michael Hermann Ambros, An unsre Leser, in: GBAZ Nr. 75 vom 19. September 1791, Zei­ tungsblatt [8]. 36 Ambros, An Gönner dieses Blattes (wie Anm. 25). 37 Michael Hermann Ambros, Erinnerungen, in: GBAZ Nr. 4 vom 12. Januar 1792, Zeitungsblatt, 32. 38 Ambros, An Gönner dieses Blattes (wie Anm. 25).



„Schiken Sie mir zuweilen auch was Interessantes zum Anhang“ 227

Diese klaren Regeln standen im Widerspruch zur flexiblen Struktur des sogenannten „Zeitungskollegium[s]“. Diese „angenehme Bruderschaft der Bauernzeitung“ vereinte lose konservativ sogenannte ‚Gönner und Freunde‘.39 Mitglieder der vorwiegend virtuellen Vereinigung kamen und gingen. Kursorisch sprach Ambros allgemein von Männern und „wohl auch ein Paar Frauenzimmer[n]“ „von Kopf und Laune“ aus der gesamten Monarchie.40 Selbstzuschreibungen des Redakteurs als „Erz- oder Grossbruder“ und die Diktion von „wirkliche[m]“ Bruder (= Korrespondierender) und „Titularbruder“ (= Lesender) ließen Winckler an Anspielungen an die Freimaurerei denken.41 Eine gewisse Exklusivität forderte Ambros zugunsten des Kollegiumsgedankens jedoch ein, wenn er die gleichzeitige Versendung von Texten an andere Presseorgane als unstatthaft ansah. So fragte er coram publico einen anonymen Beiträger: „Warum schreiben [sic!] sie denn den an uns eingeschikten Beitrag auch andern zu?“42 Eindeutig regierte Ambros zudem als ‚primus inter pares‘. Er übernahm in jedem Fall die Endredaktion und vor allem die Auswahl. Beiläufig erwähnte er auch „Diskurs[e]“,43 die brieflich ausgetragen wurden. Die Beiträger brachten neben mehrfach dokumentierten Einzelvorschlägen durchaus auch Ideen von strategischer Relevanz ein. Grundsätzlich zeigte sich Ambros offen für die darauf abzielende Einrichtung neuer Rubriken und damit neuer Diskussionsforen. „[G]emeinnüzige Vorschläge würden“ „nach Thunlichkeit“ realisiert werden.44 Hymnisch begeisterte er sich am Ende des Jahres 1791 für einen Erweiterungsvorschlag: Der Verleger dieser Zeitung danket mit Wärme dem edelsten Gönner in Niederungarn, und jenem zu N. in Siebenbürgen für ihre göttlichen Vorschläge, dieses Blat Tausenden ganz unentbehrlich zu machen. Er wird diese gemeinnüzigen Vorschläge befolgen, und besonders den so köstlich bearbeiteten Entwurf zu der gemeinnüzigsten Bergbau-Rubrik so geschwind als möglich in Ausübung zu bringen sich alle erdenkliche Mühe geben. Er bittet auch andere Gönner um nuzbare Vorschläge, denn er scheuet keine Kosten zu deren Ausführung.45

Ein Korrespondent zeichnete offensichtlich als „Der unschlüssige Projektant“ und inspirierte Ambros dadurch zu einem Forum mit „körnichte[r] Speise“.46 39 Michael

Hermann Ambros, Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung, in:

GBAZ Nr. 14 vom 16. Februar 1792, Beilage [1 f., hier 1]. 40 Michael

Hermann Ambros, Die sogenante Grazer Bauernzeitung, in: GBAZ Nr. 76 vom 24. Dezember 1792, beidseitig bedruckte beiliegende Subskriptionsnachricht, revers. 41 Winckler, Periodische Presse (wie Anm. 5), 53. 42 Ambros, Erinnerungen (wie Anm. 30), 1. 43 Ebd., 2. 44 Nachsatz bei: Michael Hermann Ambros, Illuminanten werden gesucht, in: GBAZ Nr. 91 vom 14. November 1791, Anhang [6 f., hier 7]. 45 Michael Hermann Ambros, Erinnerungen, in: GBAZ Nr. 102 vom 22. Dezember 1791, Anhang [8]. 46 Michael Hermann Ambros, Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung, in: GBAZ Nr. 10 vom 2. Februar 1792, 76 f., hier 77.

228

Andreas Golob

Beide Bemühungen zeitigten jedoch keinen Erfolg. Dem generellen Wunsch nach mehr wirtschaftlichen Materien leistete Ambros hingegen unverzüglich Folge; es galt jedoch, Interessen auszutarieren: Es geschieht auf den vielfältig geäusserten Wunsch unserer Gönner, und vorzüglich auf den gnädigen weisen Rath einer vornehmen Person in Wien, deren Klugheit wir alles zutrauen daß wir in Hinkunft weit mehr als bisher gute verläsliche Beiträge zur Haus- und Landwirthschaft liefern werden. […] Damit aber die Liebhaber anderer interessanter Aufsäze, und besonders das Frauenzimmer nicht dabei verkürzt werden, so ist von heute an, das Format der Zeitung sowohl als des Anhanges um ein Beträchtliches vergrösert worden.47

Nicht alle Elaborate fanden schließlich Aufnahme in die Bauernzeitung. Einer offensichtlich brisanten anonymen Zusendung verweigerte Ambros nolens volens die Drucklegung: „Das Schreiben […] worin es unter anderm heist: die medizinische Fakultät ist seit mehrern Jahren in einer sonderbaren Verfassung etc. getrauen wir uns um so weniger zu benüzen, da die Einsender nicht unterzeichnet haben. Schade um so interessante Aktenstüke“.48 Der Zwang zu dieser Vorgangsweise liegt in der Verantwortlichkeit gegenüber der Obrigkeit, wie Ambros später beiläufig und vorsichtig andeutete: „Oft hat mans nicht, oft darf [!] mans nicht, oft kann mans nicht“, und so entstünden zuweilen „trocken[e]“ Ergebnisse.49 Die Mitglieder des Zeitungskollegiums beanspruchten in der Zeitungsöffentlichkeit wie im zuletzt zitierten speziellen Fall letztlich fast ausnahmslos Anonymität, anders als Ambros angeregt hatte und selbst immer wieder vorexerzierte: „Wenn es die Einsender solcher Beiträge nicht ausdrüklich verbieten, so wird bei jedem ihrer diesfälligen Beiträge auch ihr Name oder wenigstens die Anfangsbuchstaben desselben beigesetzt werden“.50 Die letztgenannte Zwischenlösung trat durchaus in Erscheinung.51 III. Qualitative Informationen zur Verbreitung Die Verbreitung der Inhalte im weitesten Sinn stellte sich Ambros grundsätzlich in konzentrischen Kreisen vor. Eine Abhandlung, in der sich der Verfasser gegen das zeitgenössische Postulat zugunsten des unbedingten Selbststillens wandte, wurde in erster Linie als Familienlektüre empfohlen. Über Mitglieder der ak47 Vgl.

den Paratext bei: N. N., Vermischte kurze Bemerkungen zur Aufnahme des Landbaues, in: GBAZ Nr. 23 vom 18. Juni 1792, Anhang, 173 f., hier 173. 48 Ambros, Erinnerungen (wie Anm. 1), 63. 49 Michael Hermann Ambros, An Liebhaber des Steyrischen Biedermanns, in: GBAZ Nr. 49 vom 17. Dezember 1795, Zeitungsblatt, 802. 50 Ambros, An Gönner dieses Blattes (wie Anm. 25). 51 Zum Beispiel: Michael Hermann Ambros, Nachträgliche Erinnerungen, in: GBAZ Nr. 97 vom 5. Dezember 1791, Zeitungsblatt [6 – 8, hier 7]: „H–s–r“.



„Schiken Sie mir zuweilen auch was Interessantes zum Anhang“ 229

kreditierten Gesundheitsfürsorge, also über professionelle Strukturen, und nicht zuletzt mithilfe der Zeitung sollte sie „zum Wohl vieler Tausende[r]“ wirken.52 Ambros’ Aufrufe brachten auch Hinweise auf kleine private Zirkel zu Tage. So scharte sich laut Ambros um einen Gönner „eine kleine Geselschaft, der es vileicht an Stof zu guten Beiträgen nicht fehlen dürfte“.53 Großzügig und gerne stellte er Zeitungsabonnements für diese Gemeinschaft zur Verfügung. Mit dem Vorbild seines Zeitungskollegiums regte Ambros diese Form der Soziabilität sicherlich an; zugleich drang er mit seinen Aufrufen an „beliebt[e]“ „Menschenfreunde“, die er in seine Unternehmungen einbinden wollte,54 gezielt in deren bestehenden gesellschaftlichen Umgang und ihren Zugang zu Wissen ein. Insbesondere ländliche Gegenden standen dabei im Mittelpunkt der Bemühungen. Der geographische Rahmen jenseits individueller Beziehungsgeflechte begann im engsten Sinn mit dem Herzogtum Steiermark. Aufeinander Bezug nehmende Abhandlungen zeigen etwa das Potential der Zeitung, regionale Diskussionen auszutragen. Einem Aufsatz „über die Ursache der bestehenden Fleischtheuerung“, der Ende 1791 Kritik an den Zwischenhändlern übte, folgten zu Beginn des Jahres 1792 „Gedanken eines Steyermärkers über die schlechten Zeiten“. Diese provozierten einige Monate später wiederum „Gedanken einer Steyermärkerin über schlechte Zeiten, als Pendant zu den Gedanken eines Steyermärkers“.55 Die konkreten Beispiele zeigen Verschriftlichung und Medialisierung eines oralen Diskurses. Der „Steyermärker“ eröffnete seine Ausführungen etwa mit einem klagevollen Gespräch im Rahmen einer Wirtshausszene und prangerte in weiterer Folge Beispiele von Verschwendung an, die schließlich zu allgemeiner Überteuerung führten. Seine Landsfrau wies auf die Errungenschaften der aufgeklärten Administration als Gegengewicht hin, ließ allerdings in spätaufklärerisch-skeptizistischer Manier kein gutes Haar an der Hyperverfeinerung des „Geschmak[s]“ selbst in kleineren Städten und an plutokratischen Umtrieben. Eine „Genealogie des österreichischen Kommerzes auf der Donau“ entfachte eine überregionale Debatte. Die kritische Stellungnahme erfolgte aus Bratislava und wurde von Ambros zurückgewiesen, seinen aus Triest schrei52 Ambros’ einleitende Anmerkungen zu einem Text aus der Wochenschrift Der tirolische Arzt: Claudius Martin Scherer, Ist es in grössern Städten nicht vortheilhafter, wenn Mütter ihre Kinder nicht säugen?, in: GBAZ Nr. 62 vom 4. August 1791, Anhang [3 – 5, hier 3]. Der Autor war in Ambros’ Alter und wie der Redakteur in Tirol verwurzelt; eine persönliche Beziehung zwischen den beiden ist daher wahrscheinlich. 53 Michael Hermann Ambros, Erinnerungen (wie Anm. 31). 54 Ebd., in: GBAZ Nr. 2 vom 5. Januar 1792, Zeitungsblatt, 16. 55 N. N., Etwas über die Ursache der bestehenden Fleischtheuerung. (Von einem Steyermärkisch. Patrioten eingesandt), in: GBAZ Nr. 95 vom 28. November 1791, Anhang [3 f.] – N. N., Gedanken eines Steyermärkers über die schlechten Zeiten, in: GBAZ Nr. 12 vom 9. Februar 1792, Anhang, 93 – N. N., Gedanken einer Steyermärkerin über schlechte Zeiten, als Pendant zu den Gedanken eines Steyermärkers, im Anhang zu Nro. 12 der Bauernzeitung 1792, in: GBAZ Nr. 41 vom 23. August 1792, Anhang, 311 f.

230

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benden Beiträger schützend.56 Somit bildete die Bauernzeitung die Tribüne für einen öffentlichen Schlagabtausch zwischen Triest, Graz und Bratislava. Die Zeitung förderte schließlich auch die Möglichkeit, auf Auswärtiges zu reagieren. Ein Korrespondent spann einen vom Hamburger Politischen Journal geknüpften Faden weiter und brachte seine eigene Ansicht über die seines Erachtens fragilen Fortschritte der Aufklärung in Ungarn zur Geltung.57 Die Vermittlungsstrategien beschränkten sich schließlich nicht nur auf die Lektüre der Zeitung. Ambros’ Druckerei stand zur Verfügung, um eine Anzahl von broschierten Exemplaren längerer Aufsätze anzufertigen. Diese könnten, materiell und optisch bestens inszeniert, im Umfeld der Autorenschaft zirkulieren: Solchen edeln Welt- und Staatsbürgern biethet hiemit der Verleger dieser Blätter die beste Gelegenheit zur Bekanntmachung und Verbreitung ihrer Bearbeitungen mittels seiner neu-errichteten mit den schönsten Lettern versehenen Buchdrukerei an, indem er solche interessante Aufsäze und Bearbeitungen aller Art mit Dank aufnehmen, selbe mit der betreffenden Bewilligung abdruken, und dem Herrn Einsender eine zu bestimmende Anzahl gedrukter Exemplare davon einliefern, oder auf sein Verlangen auch auf andere Art sich mit ihm abfinden wird.58

Insgesamt betrachtete Ambros die Aufsätze auch als langlebiger als die ephemereren periphereren politischen Zeitungsinhalte: „Solche Sachen interessiren die Leser wesentlicher, als unbedeutende Histörchen; diese gehen vorüber, jene aber sind bleibend und nüzen“.59 Die Dauerhaftigkeit des gesamten Anhangs sollte ab 1792 durch ein Register betont werden.60 Der Plan wurde allerdings 56 N. N.

[Franz Jenne], Genealogie des österreichischen Kommerzes auf der Donau nach dem schwarzen Meer, bis zu Ausbruch des Kriegs 1788, in: GBAZ Nr. 80 vom 6. Oktober 1791, Zeitungsblatt [7 f.] und Nr. 81 vom 10. Oktober 1791, Anhang [4 – 6]. Für die kontroverse Diskussion: Michael Hermann Ambros, An das zankscheue Publikum, in: GBAZ Nr. 87 vom 31. Oktober 1791, Zeitungsblatt [8]; [Franz] von Jenné, Schreiben aus Triest vom 5. Oktober [sic!] an den Verfasser der Grazer Bauernzeitung, in: GBAZ Nr. 91 vom 14. November 1791, Zeitungsblatt [8] (eingeleitet von Ambros, 7 f.: Auch ein Paar Worte. Als Pendant zu dem berüchtigten Auch ein Paar Worte in dem Nro. 86 der Presburger Zeitung); [Franz] von Jenné, Berichtigung der Paar Worte in Nro. 86 der Presburger Zeitung, in: GBAZ Nr. 92 vom 17. November 1791, Zeitungsblatt und Anhang [6 – 8 und 7 f.], Nr. 93 vom 21. November 1791, Anhang [7 f.], Nr. 94 vom 24. November 1791, Anhang [7 f.]; N. N., Auch ein Paar Worte! Uiber die in der Grazer Bauernzeitung Nro. 80 und 81 eingerükte Genealogie des österreichischen Kommerzes […], in: GBAZ Nr. 92 vom 17. November 1791, Zeitungsblatt [8], GBAZ Nr. 93 vom 21. November 1791, Anhang [6 f.], GBAZ Nr. 94 vom 24. November 1791, Anhang [6]. 57 N. N., Aus Niederungarn, in: GBAZ Nr. 54 vom 7. Juli 1791, Zeitungsblatt [5 f.]. 58 Michael Hermann Ambros, Der Verleger dieser Zeitung an seine titl. Herren Leser, in: GBAZ Nr. 48 vom 16 Juni 1791, Anhang [2]. Dreimal wiederholt mit untypischer und daher Prominenz erzeugender Streuung in den Anhängen der Nummern 49, 58, 62. 59 Ambros, Erinnerungen (wie Anm. 24) [7]. 60 Michael Hermann Ambros, Erinnerungen, in: GBAZ Nr. 101 vom 19. Dezember 1791, Zeitungsblatt [8].



„Schiken Sie mir zuweilen auch was Interessantes zum Anhang“ 231

nicht umgesetzt. In der Tat bestand auch Nachfrage nach einer Anthologie, wie die Anfrage „eines österreichischen Buchhändlers“ bewies. Ambros selbst gab darauf eine Sammlung vorzugsweise des Originalen und anerkannt Besten aus den Beiträgen im Anhang heraus.61 Eine Anregung forderte schließlich dezidiert zur permanenten inoffiziellen persönlichen Nachnutzung auf: „Wer diese Intelligenzblätter fleißig sammelt, und heftweise einbinden läßt, der erhält nach und nach, und zwar unter einem fortlaufenden Titel, eine kleine, aber auserlesene Hausbibliothek gleichsam unvermerkt, und ohne einen Kreuzer besonders dafür ausgelegt zu haben“.62 Zusätzlich zur spatialen Dimension der Verbreitung brachte Ambros also auch eine temporale ins Spiel, die den Inhalten ein Wirken über den Tag hinaus sichern sollte. IV. Intendierte Wirkung der Aufsätze 1. Individueller Nutzen Überlegungen zur Wirkung der Aufsätze können punktuell vom individuellen Nutzen ausgehen. Ambros mutmaßte diesbezüglich: daß es recht gar viele Liebhaber der Kunst, der Litteratur, der Geschichte und anderer nuzbarer Gegenstände giebt, welche oft die schönsten Aufsäze, Beschreibungen und Bearbeitungen entweder im Manuskripte schon fertig in ihrem Pulte liegen, oder unter der Feder haben, ohne daß selbe entweder die Art wüsten, oder auch die mühesamen Wege dazu suchen wollten, um solche interessante Manuskripte sich und der übrigen Welt nüzlich zu machen. Leider lehret es auch die Erfahrung, daß die schönsten Aufsäze und Bearbeitungen aus allen Fächern der Wissenschaften und Künste, welche von fähigen Subjekten entweder zu ihrer eigenen Uibung und Unterhaltung, oder zum Nuzen und Vergnügen ihrer Mitmenschen zusammen geschriben worden sind, gar oft aus Mangel an Bekanntschaft oder andern Ursachen im Schranke ihres Bearbeiters vermodern müssen.63

Die Produktion des gebildeten Individuums diente demnach im engsten Sinn der eigenen intellektuellen Entwicklung, der Selbstreflexion sowie dem sinnvollen Zeitvertreib in Mußestunden. Das memento mori zielte natürlich auf die Bekanntmachung durch die Bauernzeitung ab. Durch sie könnten die „edeln Weltund Staatsbürger“ ihre Wirkung auf die ganze Gesellschaft entfalten. Kosmo­ 61 Michael

Hermann Ambros, An das mitleidige Publikum, in: GBAZ Nr. 45 vom 6. September 1792, Zeitungsblatt, 359 f. Für den Inhalt des zweiten Bandes: Michael Hermann Ambros, Für die unglüklichen Brugger, in: GBAZ Nr. 50 vom 24. September 1792, Anhang, 380 f. 62 Michael Hermann Ambros, An die Liebhaber der Grazer Bauernzeitung. […] Vom Intelli­ genzblatte. In: GBAZ Nr. 103 vom 25. Dezember 1794, beidseitig bedruckte beiliegende Subskriptionsnachricht, avers. 63 Ambros, Der Verleger dieser Zeitung an seine titl. Herren Leser (wie Anm. 58).

232

Andreas Golob

politische, aufklärerische und patriotische Verpflichtungen drängten geradezu zu diesem Schritt. Der Verfall könne quasi in öffentlichen befriedigenden Beifall für das schreibende Individuum umgewandelt werden. Zuweilen gerierte sich Ambros auch ausdrücklich als Förderer von Talenten, und die Veröffentlichung wurde so zum Instrument des Ansporns. Ein namentlich genannter junger Dichter berechtigte zu großen Hoffnungen, verspräche später substantielle Leistungen, die über die ersten Anfänge eines jugendlichen Poeten hinausweisen und intellektuell ernsthafte und gesellschaftlich relevante Probleme thematisieren würden. So wähnte sich Ambros überzeugt von dem Jüngling von 17 – 18 Jahren, der viele natürliche Anlage zur Poesie zeigt, und den wir daher ersucht haben, un[s] öfter so was von seiner Jugendmusse mitzutheilen. Wir erwarten es mit Recht von ihm, daß er nach und nach auch ernstere [!] Gegenstände, als welche nur zu gewöhnlich die Schnellkraft junger Dichter zu beschäftigen pflegen, bearbeiten werde.64

Neben diesen Momenten persönlichen immateriellen Emporstrebens konnte das Medium Aufsatz auch handfesten materiellen Zielen und der Karriere dienen. Die erwähnte Abhandlung über den Donauhandel kann beispielsweise auch als Projektantenschrift65 gelesen werden. Der Autor gehörte der typischen Verfasserschaft an, also dem subalternen Beamtenapparat. In der Tat hatte er seinen Text schon 1788 Joseph II. mündlich referiert, eine Eingabe an Leopold II. war ebenfalls schon erfolgt.66 Bei aller Uneigennützigkeitsrhetorik war sich auch Ambros selbst seines persönlichen finanziellen Profits als „spekulirende[r] Verleger“67 durchaus bewusst. „Originalität“ und damit „Ruhm“68 hingen zu einem Gutteil von seinen Gönnern ab.

64 Ambros’

Einbegleitung zu: Von Mitscha, An Kätchen, in: GBAZ Nr. 24 vom 21. Juni 1792, Anhang, 183 f., hier 183. 65 Vgl. literarisch-satirisch: Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781 – 1795, Wien, Köln, Weimar, 2., erweiterte Auflage, 1995 (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, 6), 125, 142. Politisch-publizistisch: Gerhard Ammerer, Das Ende für Schwert und Galgen? Legislativer Prozess und öffentlicher Diskurs zur Reduzierung der Todesstrafe im Ordentlichen Verfahren unter Joseph II. (1781 – 1787), Innsbruck, Wien, Bozen 2010 (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband, 11), Kapitel „Der Strafrechtsdiskurs – öffentliche Meinung und Argumentationsführung zum Thema Todesstrafe“. Prekär und karrieretechnisch: Markus Krajewski (Hg.), Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Berlin 2004 (copyrights, 15), insbesondere die einleitenden Beiträge von Markus Krajewski, Georg Stanitzek und Maren Lehmann. 66 Jenné, Berichtigung Nr. 94 (wie Anm. 56), 8. 67 Michael Hermann Ambros, Die Postkarte, in: GBAZ Nr. 99 vom 12. Dezember 1791, Anhang [8]. 68 Michael Hermann Ambros, An meine lesenden Gönner, in: GBAZ Nr. 15 vom 21. Mai 1792, Zeitungsblatt, 120.



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Der Redakteur bezeugte schließlich auch persönlichen emotionalen Nutzen. Einen philosophischen „Aufsaz“ über „Das menschliche Leben“ aus der Neuwieder Zeitung interpretierte er als „beruhigend für Menschen von gutem Gewissen, so treffend – – – – und so anpassend für die Situazion manches Menschen, daß er auch von denen, die ihn schon gelesen haben, noch einmal mit aller Aufmerksamkeit gelesen werden soll“.69 Die fingierten oder tatsächlichen Zensurmarken in dieser Einleitung zum Anhang (und statt des üblichen Mottos am Titelblatt des Zeitungsblattes) sprechen unmittelbar nach dem Verbot70 der Bauernzeitung eine eindeutige Sprache. Die persönliche Betroffenheit und die wohl überlegte Auswahl des Textes über den Wert der wehrhaften „standhaften Rechtschaffenheit“71 in den Unbilden des Lebens werden offenbar. Die ‚intensive‘ Lektüre spielte quasi die Rolle der versichernden Trösterin. 2. Gesellschaftlicher Nutzen Der in einer ‚Bauernzeitung‘ zu erwartende pragmatisch-volksaufklärerische Schwerpunkt kann den Einstieg zur Annäherung an die öffentliche Wirkung bilden. Eine auszugsweise wiedergegebene Abhandlung „Für und wider die Stallfütterung und Vertheilung der Gemeinweiden“72 steht stellvertretend für die praktische Stoßrichtung. Der wirtschaftlichen Volksaufklärung angehörig, wandte sie sich gegen die konservativen Gedanken in Joseph Karl Kindermanns konkurrierender Zeitschrift Beiträge zur Vaterlandskunde für Innerösterrreichs Einwohner. Die fassliche Darstellung wurde im Schriftbild unterstrichen, und zwar durch Absätze für Argumente beziehungsweise Gegenargumente sowie durch unterschiedliche Schriftgrößen. Die Leidenschaft der Auseinandersetzung drückte sich insbesondere im letzten Abschnitt typographisch in Rufzeichen aus. Die Auswahl von zwei weiteren Artikeln zu diesem Themenkreis for69 N. N.

[Moritz Flavius Trenck von Tonder], Das menschliche Leben, in: GBAZ Nr. 15 vom 21. Mai 1792, Anhang, 113 f., hier 113. Die vier Gedankenstriche im Zitat entsprechen Zensurmarken, wie sie wohl am eindrucksvollsten Heinrich Heine in seiner Auslassung über „Die deutschen Zensoren“ instrumentalisieren würde, vgl.: Wolfram Siemann, Zensur im Übergang zur Moderne: Die Bedeutung des „langen 19. Jahrhunderts“, in: Wilhelm Haefs, York-Gothart Mix (Hg.), Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis, Göttingen 2007 (Das achtzehnte Jahrhundert, Supplementa, 12), 357 – 387, hier 369. 70 Vgl. Anmerkung 4. 71 N. N. [Tonder], Das menschliche Leben (wie Anm. 69), 114. 72 N. N. [Christoph Freiherr von Schwitzen], Für und wider die Stallfütterung und Vertheilung der Gemeinweiden, in: GBAZ Nr. 6 vom 20. Januar 1791, Anhang [1 f.], Nr. 7 vom 24. Januar 1791, Anhang [5 f.], Nr. 8 vom 27. Januar 1791, Anhang [3 f.], Nr. 10 vom 3. Februar 1791, Anhang [1 f., hier insb. 2]. Für den Stein des Anstoßes: N. N., Uiber die Stallfütterung in Innerösterreich und ihre bedenkliche Folgen. In: Beiträge zur Vaterlandskunde für Innerösterreichs Einwohhner 1/2 (1790), 208 – 216.

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mierte eine klare Stellungnahme für diese moderne Form der Viehwirtschaft.73 Ambros stellte sein Blatt somit zur Verfügung, um eine möglichst weite Verbreitung technologischer Neuerungen zu sichern, und bediente dabei die offizielle gouvernmentale Linie in der Bekämpfung traditioneller Wirtschaftsweisen, in denen die breite Masse der Bevölkerung verharrte. Ziel mancher ökonomischer Beiträge waren zudem Experimente, also ebenfalls praktische Handlungen, jedoch mit offenem Ausgang. Eines der positiven Ergebnisse konnte Ambros nach einer Abhandlung über Düngemethoden mitteilen: „Ein hier in Graz befind­ licher, sehr geschikter Oekonom hat die trefliche Wirkung dieser Asche als Dünger auch auf seiner Wiese […] genugsam bestätigt gefunden“.74 Die intendierte Wirkung ging aber auch über die volksaufklärerische Wissensvermittlung und die praktische Anwendung des Wissens hinaus und zielte auf die Beeinflussung kollektiver Emotionen ab. Hinsichtlich des Verhältnisses von politischer Zeitung und Anhang beabsichtigte Ambros in dieser Hinsicht allgemein ausdrücklich, „politische Gemeinpläze durch Herz und Geist erhebende Aufsäze zu ergänzen, und den ganzen todten Stof durch freimüthiges Urtheil, Herzlichkeit, frischen Humor, und vollen Ton der Geradheit zu beleben, und ans Herz des Lesers zu knüpfen“.75 Insbesondere für Frauen sah Ambros nicht so sehr die intellektuelle Bildung vor. Hier lag der Schwerpunkt fast vollständig auf der Entwicklung von Geschmack und Gefühl. Als Vehikel dienten hauptsächlich belletristische „Unterhaltung“, aber auch nicht-fiktionale „wahrhaft rührende Geschichten“, wie die oben erwähnte Charakterskizze einer mutigen Frau.76 Emotionen wurden ebenfalls in Dienst genommen, um gesellschaftliches Handeln zu generieren. Die Charakterschilderung eines wohltätigen Priesters, die Ambros von Wilhelm Ludwig Wekhrlin77 entlehnt hatte, diente als Aufhänger für einen drastischen Spendenaufruf: Es ist eine rechtschaffene Witwe, von nicht gemeinem Stande mit 6 unmündigen Kindern, die ohne ihre Schuld, durch einen vor wenigen Monaten in einem benachbarten Haus entstandenen Brand, in das äuserste Elend versezt wurde […] die unglükliche 73 N. N.,

Eingeführte Stallfütterung, in: GBAZ Nr. 81 vom 10. Oktober 1791, Anhang [7 f.]. N. N., Oekonomische Anmerkung über die Fütterung der milchenden Kühe auf dem Stalle, in: GBAZ Nr. 100 vom 15. Dezember 1791, Anhang [2 – 4]. 74 N. N., Von dem grossen Nuzen der Seifensiederasche, wenn sie als ein Dünger gebraucht wird, in: GBAZ Nr. 56 vom 15. Oktober 1792, Anhang, 427 f., hier 428. 75 Michael Hermann Ambros, An die Liebhaber der Grazer Bauernzeitung. […] Von der Zeitung, in: GBAZ Nr. 103 vom 25. Dezember 1794, beidseitig bedruckte beiliegende Subskriptionsnachricht, avers. Zur Geschichte der Emotionen jüngst: Jan Plamper, The History of Emotions. An Introduction, Oxford 2015. Ute Frevert u.a., Emotional Lexicons. Continuity and Change in the Vocabulary of Feeling 1700–2000, Oxford 2014. 76 Ambros, Erinnerungen (wie Anm. 1), 63. Vgl. Anmerkung 28. 77 Jürgen Wilke, Spion des Publikums, Sittenrichter und Advokat der Menschheit. Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739–1792) und die Entwicklung des Journalismus in Deutschland, in: Publizistik 38 (1993), 322 – 334.



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trostlose Witwe ist eine Postmeisterin, deren Anblik mit ihren 6 hungernden Kindern jedes Menschenherz, das nicht von Stein ist, rühren mus. Ihr Elend ist gröser, als es hier geschildert werden kan.78

In Bezug auf staatliche Belange wurden auch patriotische Gefühle evident. Die angesprochene Abhandlung über den Donauhandel provozierte eine Verquickung von vaterländischem Gehabe und prodynastischem Pathos, und hier kann auch noch die harte publizistische Diskussionspraxis kurz angedeutet werden. Der Kontrahent der Bauernzeitung urteilte in seinem Begleitschreiben an die Preßburger Zeitung: Nicht allein, daß es das falschste, lügenvollste Geschwätz von der Welt ist, aber ich find es auch gesetzwidrig; Er verschwärzt eine Sache, an deren Aufkommen unserm allerhöchsten Hofe so ungemein viel gelegen ist. – Ich will jeden unpartheiisch ur­ theilenden Mann auffordern zu urtheilen, ob der sich nicht unendlich strafbar macht, der eine gemeinnützige dem Staate aber besonders vortheilhafte Sache mit kahlen nichtsbedeutenden Sophismen zu verhunzen sich erkühnet? Nichts ist also billiger, als daß dieser freche Lügner auf die Finger geklopft werde. Sie mein Herr [der Herausgeber der Preßburger Zeitung], wurden mir als ein wahrer Patriot und Ungar angerühmt. Ungarn gewinnt unstreitig am meisten bei dieser Handlung, und es wird ihnen also am ersten zu stehen, desselben gerechte Sache zu vertheidigen.79

Der angegriffene Autor achtete wiederum seinen Kritiker gering, sah sich über den Vorwurf unpatriotischer Haltung erhaben, stieg jedoch in den Ring, um „dem lesenden Publikum zu Liebe“ die „Unwissenheit dieses impertinenten Skriblers“ zu enthüllen.80 Ambros seinerseits scheute die Konfrontation keineswegs und druckte beide Positionen ab, behielt sich aber vor, „unwesentliche Beschimpfungen gröberer Art, woran ein ehrlich denkender Leser gewis nie ein Wohlgefallen trägt“,81 zu eliminieren. Dieser Schlagabtausch zeigte auch, in welch unerwartete, höher stehende, ‚nationalökonomische‘ Sachgebiete die Bauernzeitung vorstieß, und das Politische im Allgemeinen kann abschließend noch dazu dienen, das Oszillieren zwischen sachlicher Wissensvermittlung und emotionaler Aufladung zu skizzieren. Politische Grundbildung gehörte aus Ambros’ Perspektive einerseits durchaus zum Bildungskanon breiter Bevölkerungskreise, die durch die Bauernzeitung angesprochen werden sollten. Dies bestätigte sich in Ambros’ Einleitung zu so betitelten „Betrachtungen über das Staatsinteresse der europäischen Höfe“, die 78 Nach:

N. N., O welch ein Mann!, in: GBAZ Nr. 14 vom 16. Februar 1792, Anhang, 105 – 107, hier 107. 79 N. N., Auch ein Paar Worte! Uiber die in der Grazer Bauernzeitung Nro 80 und 81 eingerückte Genealogie des österreichischen Kommerzes auf der Donau nach dem schwarzen Meer, bis zum Ausbruch des Kriegs 1788, in: Preßburger Zeitung Nr. 86 vom 26. Oktober 1791, Beilage, 897 – 902, hier 897. 80 Jenné, Schreiben aus Triest (wie Anm. 56). 81 Vgl. die einleitenden Worte bei: Jenné, Berichtigung Nr. 92 (wie Anm. 56) [6].

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der Redakteur für „eine Abhandlung“ hielt, „die jeden denkenden Kopf unvermerkt zum Staatsman bilden, und die für alle [!] Leser interessant seyn mus“.82 Die Wissensvermittlung trug demnach auch durchaus sachliche Züge. Im Spätherbst 1791 wurde etwa eine „Politische Betrachtung über die französische Revoluzion“ angestellt, die, unterstützt durch einen Vergleich mit Großbritannien, argumentierte, dass die Staatsfinanzen und die Beteiligung am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg die Revolution nur beschleunigt, nicht aber verursacht hätten.83 Andererseits ging die dominierende patriotische Attitüde, die sich auf die Habsburgermonarchie und die Dynastie konzentrierte, in letzter Konsequenz aber auch schon früh Hand in Hand mit nationalen Gefühlen, die im Zuge der Koalitionskriege überhandnahmen. Klare Sympathien galten in einem frühen besonders prononcierten Text den Deutschen, deren Vorrang als die „vornehmste, die eminenteste Nazion Europens“ propagiert wurde. Den Deutschen stünde rechtmäßig „Nazionalstolz“ aufgrund ihrer „soliden unstreitigen Nazionalverdienste“ zu.84 Während exemplarisch der seit der Antike herabgesunkene italienische „Nazionalkarakter“ abgewertet wurde,85 verurteilte der ausgesprochen radikale Verfasser abschließend englische und französische Avancen, die – aus seiner Sicht – deutsche Leistungen für die jeweilige Nation usurpierten.86 V. Zusammenfassung und Schlüsse Die Bauernzeitung bot eine Vielzahl von Aufsätzen in verschiedenen Formen und mit diversen Inhalten. Der basalen Klassifikation von Schulaufsätzen folgend können ‚Beschreibung‘, ‚Schilderung‘ und ‚Abhandlung‘ als Kategorien 82 Einleitung

zu: N. N., Betrachtungen über das Staatsinteresse der europäischen Höfe, in: GBAZ Nr. 5 vom 16. Januar 1792, Anhang, 33 f., hier 33. 83 N. N., Politische Betrachtung über die französische Revoluzion, in: GBAZ Nr. 91 vom 1791, Anhang [2 f.]. Vgl. für einen weiteren Vergleich der beiden Länder zu dieser Zeit (zugunsten Frankreichs): N. N. (nach Charles Villette), Welches Reich hat eine bessere Staatsverfassung, England, oder das dermalige Frankreich?, in: GBAZ Nr. 87 vom 31. Oktober 1791, Anhang [2] – vgl. hierzu: Charles de Villette, Constitution de France comparée à celle d’Angleterre, in: Lettres choisies de Charles Villette, sur les principaux Évènemens de la Révolution, Paris 1792, 231 – 233. 84 N. N., Die deutsche Ehre gerettet in Venedig, in: GBAZ Nr. 80 vom 6. Oktober 1791, Anhang [4 – 6, hier 6]. Eingebettet darin (GBAZ Nr. 81 vom 10. Oktober 1791, Anhang [2 – 4], Nr. 82 vom 13. Oktober 1791, Anhang [2 – 4]) die folgende Charakterschilderung in einer Bearbeitung: A.[ugust] G.[ottlieb] Meißner, Deutsches Schauspiel zu Venedig. Eine Anekdote, in: Deutsches Museum 2/2 (1777), 33 – 40. 85 N. N., Die deutsche Ehre Nr. 82 (wie Anm. 85) [4], vgl. auch noch: N. N., Die deutsche Ehre […], in: GBAZ Nr. 83 vom 17. Oktober 1791, Anhang [2 – 4, hier 4]: „gänzliche Ausartung“. 86 N. N., Die deutsche Ehre Nr. 83 (wie Anm. 86) [3]. Antifranzösisch und antienglisch auch: N. N., Vorliebe der Deutschen fürs Ausländische, in: GBAZ Nr. 41 vom 13. Mai 1791, Anhang [1 f.].



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dienen, um die relevanten nicht-fiktionalen Beiträge zu den Anhängen genauer zu bestimmen. Spezielle auffällige intermediale Zusammenhänge bestehen mit Projektantenschriften, einem charakteristischen Medium der öffentlichen Kommunikation der josephinischen Ära. Kommunikative Überlappungen treten mit oralen Diskursen auf. Es war nicht Ambros, der etwa in Form von Preis­ fragen Aufsatzthemen vorgab. Vielmehr zeigte er sich offen für eine breite Palette an Inhalten. Die Auswahl und die Korrelation von Mitteilungsdrang der Korrespondierenden einerseits und wankelmütigem Interesse der Leserschaft andererseits unter den Auspizien von Zensur und kommerziellen Rücksichten oblagen jedoch zweifelsohne dem Redakteur als primus inter pares in seinem „Zeitungskollegium“. Diese Organisationsform zielte bewusst auf Soziabilität ab. Vor allem virtuell, aber auch real zeigen sich in der Tat Versatzstücke privater und teils öffentlicher, teils semiöffentlich-anonymer aufgeklärter Geselligkeit. Die letztlich lose Vereinigung des ‚Zeitungskollegiums‘ umfasste nach Ambros’ Ideal praktisch und theoretisch Gebildete beider Geschlechter aus allen Schichten. Die ausgelobten Zeitungsabonnements, die auch die mediale Kommunikation stärkten, und monetäre Remunerationen bedeuteten zumindest den Versuch, breitere Gesellschaftsschichten zu aktivieren und das Aufsatzschreiben zu popularisieren, in letzter Konsequenz wohl auch zu demokratisieren. Ein unausgesprochener Schwerpunkt ergab sich entgegen der inklusiven Bemühungen jedoch auf der am besten vernetzten und informierten Ebene der ‚Notabeln‘ verschiedenster Herkunft. Rhetorisch gesehen kreiste der Zeitungsschreiber um die Begriffe „Volksfreunde“ oder „Volkslehrer“87 ohne sie explizit zu nennen. Vonseiten dieser Autorenschaft schwang neben uneigennützigen Motiven die öffentliche Bestätigung und die damit einhergehende Befriedigung mit. Konkret konnte wohl auch die Verbesserung von Karrierechancen auf der Agenda stehen. Finanzieller Nutznießer war schließlich auch Ambros selbst – insbesondere Kontroversen generierten Interesse, Leserschaft und Abonnementbezug. Die Aufsätze sollten ihre wissenstradierende, bildende, handlungsorientierte und emotionale Wirkung letztendlich am Individuum und in der Gesellschaft erfüllen. Sowohl die Bauernzeitung als auch die Ambros’sche Druckerei standen als regionale wie überregionale Multiplikatoren zur Verfügung. Formales und praktisches Wissen ergänzten einander. Volksaufklärung im basalen Sinn traf auf höhere Bildungsinhalte, und auch Politisches wurde nicht ausgespart. Das für die Landwirtschaft einschlägige Wissen sollte in die Praxis umgesetzt werden. Moralisierende Texte beförderten beispielsweise Benefizzwecke. Politische Versatzstücke brachten einerseits Information und allgemeine Bildung, wie sie 87 Bernd

Jürgen Warneken, Volksfreunde. Historische Varianten sozialen Engagements. Ein Symposium, Tübingen 2007 (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, 103). Reinhart Siegert, Die „Volkslehrer“. Zur Trägerschicht aufklärerischer Privatinitia­ tive und ihren Medien, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 1 (1999), 62 – 86.

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für die Zeitungslektüre notwendig waren, befeuerten aber auch habsburgischpatriotische und (proto)nationale Stimmungen. Über die Stufe des angefachten Patriotismus und die revolutionäre Radikalisierung dämmerte auch das Zeitalter nationaler Zerwürfnisse herauf, die auch von Aufsätzen gesät wurden. Der Artikel fragt nach der Präsenz sowie nach Typen von nicht-fiktionalen Aufsätzen in Michael Hermann Ambros’ Grazer Bauernzeitung (1786 – 1796), die nicht nur der Volksaufklärung zuarbeitete, sondern auch zu den führenden Zeitungen des deutschen Sprachraums gehörte. Zur Klassifizierung, die aus Ambros’ Begrifflichkeit allein nicht geleistet werden kann, wird Otto Ludwigs Typologie von Schulaufsätzen herangezogen. Demnach fanden sich als relevante Aufsatztypen ‚Beschreibung‘, ‚Schilderung‘ und ‚Abhandlung‘. ‚Geschäftsaufsätze‘ werden nur eingangs kurz gestreift. Produktion, Distribution und Wirkung insbesondere von Schilderungen und Abhandlungen stehen in weiterer Folge im Mittelpunkt und werden vor allem anhand para- und metatextueller Versatzstücke untersucht. Obwohl Ambros materielle Anreize bot, um sein „Zeitungskollegium“ sozial breiter aufzustellen, fanden sich keine ‚gelehrten‘ Bauern vom Schlag eines Ulrich Bräker unter den hauptsächlich männlichen Beiträgern, die sich aus gebildeten Schichten rekrutierten. Die Verbreitung der Aufsatzlektüre spielte sich individuell im familiären Rahmen und im Freundeskreis, darüber hinaus sowohl regional als auch supraregional ab. Die intendierte Rezeption zielte nicht nur auf breite praktische Wissensvermittlung ab, sondern erstreckte sich auch auf Emotion, Moral und das politische Feld. The article analyses the significance of non-fictional texts in Michael Hermann Ambros’ Grazer Bauernzeitung (i.e. Graz Peasant News, 1786–1796). Ambros’ paper was not only concerned with popular Enlightenment, but was also renowned for being one of the leading newspapers in the German-speaking lands. Regarding the classification of the essays, which cannot be based on Ambros’ own terminology alone, I apply Otto Ludwig’s typology of school essays. Thus relevant types of essays include plain ‘descriptions’ (“Beschreibungen”), atmospheric ‘delineations’ (“Schilderungen”) and argumentative ‘treatises’ (“Abhandlungen”). With a focus on delineations and treatises, paratextual and metatextual details serve to highlight the production, circulation, and impact of the essays. Although Ambros offered remuneration to extend his ‘newspaper council’ (“Zeitungskollegium”) in social terms, no erudite peasants could be identified among the predominantly male contributors; rather, they were recruited from the educated classes. Essays were read individually in families or in circles of friends, and regional as well as supra-regional distribution can be demonstrated. Intended reception did not only aim at advancing the spread of practical knowledge, but also embraced emotional as well as moral effects and the explanation of political events. Dr. phil. Andreas Golob, Karl-Franzens-Universität Graz, Kooptiertes Mitglied, Doktoratsprogramm „Sammeln, Ordnen und Vermitteln. Wissenskulturen im 18. Jahrhundert“, Stellvertretender Leiter, Universitätsarchiv, Universitätsplatz 3/TP, A-8010 Graz, E-Mail: [email protected]

Markus Meumann Logenreden und Übungslogen Zur Praxis des Sprechens und Schreibens über vorgegebene Themen in der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts

Wie in der Einführung zu diesem Band ausgeführt und in mehreren der übrigen Beiträge an konkreten Beispielen dargestellt, spielten Aufsatzpraktiken in vielen Gesellschafts- bzw. Sozietätstypen des 18. Jahrhunderts einschließlich der Geheimbünde eine wesentliche Rolle für das gemeinschaftliche Tun.1 Dies gilt, wie in den nachfolgenden Beiträgen ausführlich zu sehen ist, insbesondere für den Illuminatenorden. Aber auch andere Geheimgesellschaften wie der um 1760 gegründete Orden der Gold- und Rosenkreuzer oder die von 1783 bis 1798 bestehende Berliner Mittwochsgesellschaft kannten die Praxis des Verfassens und Vortragens von Aufsätzen zu vorgegebenen Themen bzw. hatten darin wie letztere ihren eigentlichen Gesellschaftszweck.2 Diese Ubiquität von Aufsatzpraktiken im vielgestaltigen Sozietätswesen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirft beinahe zwangsläufig die Frage auf, wie es darum eigentlich in der (rein quantitativ betrachtet ganz fraglos) bedeutendsten und zugleich ältesten Geheimgesellschaft des 18. Jahrhunderts, der Freimaurerei mit ihren mannigfaltigen Filiationen, bestellt war – zumal sowohl Gold- und Rosenkreuzer als Für zahlreiche wertvolle Quellen- und Literaturhinweise danke ich meiner Kollegin am Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt, Lorenza Castella. Auch Erik Liebscher und Christian Wirkner (beide ebenfalls Erfurt/Gotha) ließen mich freundlicherweise an den Ergebnissen ihrer eigenen Forschungen teilhaben, wofür ihnen ebenfalls mein Dank gilt. 1 Zum nicht-arkanen Sozietätsspektrum vgl. die Beiträge von Martin Urmann, Sebastian Kühn, Nina Hahne und Martin Mulsow in diesem Band. 2 Als Gründungsdatum der Gold- und Rosenkreuzer findet sich meist die Jahresangabe 1757, für die es jedoch kaum quellenmäßige Evidenz gibt. Siehe dazu die ausführliche Diskussion bei Renko D. Geffarth, Religion und arkane Hierarchie. Der Orden der Gold- und Rosenkreuzer als Geheime Kirche im 18. Jahrhundert, Leiden, Boston 2007, 60 f. Zur Aufsatzpraxis der Goldund Rosenkreuzer s. o., S. 20 (Anm. 36), zu derjenigen der Berliner Mittwochsgesellschaft siehe Günter Birtsch, Die Berliner Mittwochsgesellschaft, in: Peter Albrecht u. a. (Hg.), Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750 – 1820, Tübingen 2003 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, 27), 423 – 439, besonders 424 f.; Ernst Haberkern, Limitierte Aufklärung. Die protestantische Spätaufklärung am Beispiel der Berliner Mittwochsgesellschaft, Marburg 2005, 168 f. *

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128

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auch Illuminatenorden mit ihren jeweiligen Gradsystemen durchaus als Teil der in der zweiten Jahrhunderthälfte vorherrschenden Hochgradmaurerei oder doch zumindest als paramasonische Bünde gelten können.3 Die Beantwortung dieser Frage ist indes nicht so umstandslos möglich, wie man es angesichts des Stellenwertes der Freimaurerei für das Sozietätswesen im „geselligen Jahrhundert“ (Ulrich Im Hof) und der Fülle der Forschungsliteratur zur Bedeutung der Freimaurerei für die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert eigentlich erwarten sollte.4 Zwar ist grundsätzlich bekannt, dass in den Logen auch Reden gehalten wurden und diese also in irgendeiner Form zum ‚Logenleben‘ gehörten.5 Die Inhalte 3 Vgl.

Monika Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1995 (Kleine Schriften zur Aufklärung, 8), 10 ff.; Florian Maurice, Freimaurerei um 1800. Ignaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York, Tübingen 1997 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 5), 31 – 45. Zu den Graden und dem masonischen Charakter der Gold- und Rosenkreuzer eingehend Geffarth, Religion und arkane Hierarchie (wie Anm. 2), 49 – 58 und 179 – 194. Die masonische Orientierung des Illuminatenordens ist in der entsprechenden Forschung umstritten. Ältere Darstellungen haben im Fahrwasser der von der Pfalzbayerischen Regierung veröffentlichten Enthüllungsschriften sowie der apologetischen Antworten des O ­ rdensgründers Adam Weishaupt vor allem den politischen Charakter des Ordens betont. Doch nicht nur Adolph (von) Knigge, der dem Orden 1780 beitrat und maßgeblich an dessen Expansion mitwirkte, sondern auch Johann Joachim Christoph Bode, der seit 1782/83 gemeinsam mit Ernst II. von Sachsen-Altenburg-Gotha zur zentralen Führungsfigur des Ordens in dessen letzter Hochburg Thüringen aufstieg, verfolgte mit seinem Engagement im Orden letztlich wohl eine freimaurerische Agenda. Die Nähe des Ordens zum masonischen Ritual zeigt auch der Umstand, dass die Gothaer Illuminaten bei den Treffen der örtlichen „Minervalkirche“ einen rituellen Teppich ausrollten, der dem ‚Tapis‘ der Freimaurer ähnlich gewesen sein dürfte. Vgl. dazu Olaf S ­ imons, Markus Meumann, „Mein Amt ist geheime gewissens Correspondenz und unsere Brüder zu führen“. Bode als ‚Unbekannter Oberer‘ des Illuminatenordens, in: CordFriedrich Berghahn, Gerd Biegel, Till Kinzel (Hg.), Johann Joachim Christoph Bode. Studien zu Leben und Werk, Heidelberg 2017 [im Druck]; Martin Mulsow, Diskussionskultur im Illuminatenorden. Schack Hermann Ewald und die Gothaer Illuminatenloge, in: Marian Füssel, Martin Mulsow (Hg.), Gelehrtenrepublik, Hamburg 2015 (Aufklärung 26 [2014]), 153 – 203; zur freimaurerischen Agenda führender Illuminaten auch Maurice, Freimaurerei um 1800, 51 f. 4 Stellvertretend seien hier nur genannt: Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 71992 (zuerst 1959); Helmut Reinalter, Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa, Frankfurt am Main 1983; Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft (wie Anm. 3); Maurice, Freimaurerei um 1800 (wie Anm. 3), besonders 1 – 56; Stefan Ludwig Hoffmann, Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840 – 1918, Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 141), besonders 29 – 45; Kristiane Hasselmann, Die Rituale der Freimaurer. Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2009. 5 Vgl. beispielsweise Richard van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt am Main 21996 (zuerst



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dieser Reden – und damit auch deren mögliche Beziehung zum arkanen Kern der Freimaurerei, der eigentlichen ‚Logen-‚ bzw. ‚Tempelarbeit‘ – werden aber in der Literatur in der Regel nicht eingehender thematisiert,6 wie überhaupt das masonische Arkanum im Anschluss an Reinhart Kosellecks Kritik und Krise (1959) in der historischen Forschung nach wie vor eine tendenziell eher untergeordnete Rolle gegenüber dem Aspekt der Geselligkeit bzw. Vergesellschaftung spielt.7 Eine Ausnahme stellt lediglich eine Sammlung von Berliner Freimaurerreden aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dar, die der Freimaurerforscher Karlheinz Gerlach 1996 publiziert hat.8 Gerlach gibt im Nachwort zu dieser Sammlung einige Hinweise auf die Entstehungskontexte der abgedruckten Reden, das von ihm gezeichnete Bild bleibt jedoch vor allem hinsichtlich der Funktion der Reden und ihres Stellenwertes für die Logenarbeit letztlich recht vage, da die Reden aus einer Reihe verschiedener Logen und einem Zeitraum von rund 60 Jahren stammen.9 1986), 64: „In der Logenarbeit nahmen Aufnahme- und Beförderungszeremonien die meiste Zeit ein, außerdem wurde aus Instruktionen und dem freimaurerischen Katechismus vorgelesen. Hier und da folgte eine Rede über den Geist der Freimaurerei, über die Tugend oder über die Brüderlichkeit. Wichtigster Teil aber war eine sorgfältig gepflegte Geselligkeit“. 6 Beispielhaft ist an dieser Stelle die Behandlung des Themas bei Helmut Reinalter, Die Freimaurer, München 2000, 33 f.: „Die Logenarbeiten werden durchgeführt, um die sinnbildlichen Gebräuche auszuführen, den Sinn der Symbole in kurzen Worten anzugeben oder in Vorträgen zu erläutern, wobei sich der geistige Inhalt der Freimaurerei zunächst nicht durch Worte zeigt, sondern durch Gestalten und Handlungen. […] In den Logen fehlt bei den freimaurerischen Lehrzeichen und Gebräuchen zwar nie das deutende und erklärende Wort, aber die Sprache ist nur Begleiter und Diener der Gestalt und Handlung“. Auch Matthias Pöhlmann, Verschwiegene Männer. Freimaurer in Deutschland, Berlin 2005 (EZW-Texte, 182), übergeht bei seiner Darstellung der heutigen Rituale und der sogenannten Tempelarbeit die Bedeutung von Reden und schriftlichen Ausarbeitungen (sog. ‚Zeichnungen‘ oder ‚Baurisse‘, in Österreich auch ‚Baustücke‘). 7 Vgl. Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 4), 57: „Die Funktionen des Maurergeheimnisses sind im Rahmen des absolutistischen Staates weit wichtiger als ihr wirklicher oder vermeintlicher Inhalt, dem nachzuforschen meist vergeblich bleiben wird“. Zur Kritik an der überwiegend sozialgeschichtlichen Deutung des masonischen Arkanums siehe Monika Neugebauer-Wölk, Die Geheimnisse der Maurer. Plädoyer für die Akzeptanz des Esoterischen in der historischen Aufklärungsforschung, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts 21 (1997), 15 – 32. Eine Ausnahme stellt die Arbeit von Hasselmann, Die Rituale der Freimaurer (wie Anm. 4), dar, die die in Enthüllungsschriften bekanntgemachten Rituale der englischen Freimaurerei unter dem Aspekt ihrer Performativität hinsichtlich der Formierung einer normativ-esoterischen Gruppenidentität und nachfolgend eines bürgerlichen Habitus untersucht, wofür die Inszenierung symbolischer Erlebnisräume und auf den Körper der Brüder bezogene Praktiken eine entscheidende Rolle spielten. 8 Karlheinz Gerlach (Hg.), Berliner Freimaurerreden 1743 – 1804, Frankfurt am Main u. a. 1996 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770 – 1850“; 22). 9 Ebd., 9.

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Genauer sind wir lediglich über die Vortragstätigkeit der Wiener Loge „Zur wahren Eintracht“ informiert, die im Herbst 1782 sogenannte Übungslogen einführte, in denen jeweils vorab ausgearbeitete Aufsätze zu zuvor vergebenen Themen vorgelesen wurden.10 Diese wurden anschließend in dem von der Loge herausgegebenen Journal für Freymaurer publiziert11 – eine Praxis ganz ähnlich derjenigen der Berliner Mittwochsgesellschaft oder der Gothaer „Gemeinnützigen Privatgesellschaft“ von 1778, die mit der Berlinischen Monatsschrift respektive dem Gothaischen Magazin der Künste und Wissenschaften und dem Gothaischen gemeinnützigen Wochenblatt im selben Zeitraum ebenfalls über Journale verfügten, in denen die zuvor verfassten und vorgetragenen sowie anschließend unter Berücksichtigung der Voten der übrigen Mitglieder überarbeiteten Aufsätze der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden konnten.12 Die 1781 gegründete, zum System der Großen Landesloge in Berlin gehörende und Ende 1785 infolge des kaiserlichen Freimaurerpatentes mit anderen Logen zusammengelegte „Wahre Eintracht“ wird nicht zuletzt aufgrund dieser Praxis häufig als Ausnahme im Sinn einer Intellektuellen- oder „Elite-Loge“ gesehen, die nicht repräsentativ für die Freimaurerei sei.13 Ihr Meister vom Stuhl, der 1742 geborene kaiserliche Hofrat und Mineraloge Ignaz von Born, gilt als eine der zentralen Persönlichkeiten der Aufklärung in der Habsburgermonarchie; die Loge dementsprechend als Aufklärungslaboratorium.14 Da die 10 Vgl.

Erich Lessing (Hg.), Die Übungslogen der gerechten und vollkommenen Loge Zur wahren Eintracht im Orient zu Wien 1782 – 1785, Wien 1984; Edith Rosenstrauch-Königsberg, Eine freimaurerische Akademie der Wissenschaften in Wien, in: E. R.-K., Zirkel und Zentren. Aufsätze zur Aufklärung in Österreich am Ende des 18. Jahrhunderts, hg. von Gunnar Hering, Wien 1992, 67 – 87; Markus Meumann, Zur Rezeption antiker Mysterien im Geheimbund der Illuminaten: Ignaz von Born, Karl Leonhard Reinhold und die Wiener Freimaurerloge „Zur wahren Eintracht“, in: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.), Aufklärung und Esoterik, Hamburg 1999 (Studien zum 18. Jahrhundert, 24), 288 – 304. 11 Vgl. dazu eingehender unten. 12 Ähnlich wie die Gothaer „Gemeinnützige Privatgesellschaft“ bediente sich auch die Berliner Mittwochsgesellschaft dabei verschlossener Kapseln, zu denen jedes Mitglied einen eigenen Schlüssel besaß, um die Aufsätze zirkulieren zu lassen und die Voten der Mitglieder einzuholen. Vgl. dazu Haberkern, Limitierte Aufklärung (wie Anm. 2), 170 f., sowie den Beitrag von Martin Mulsow in diesem Band, bes. S. 352 f. 13 Vgl. Heinz Schuler, Die St. Johannis-Freimaurerloge „Zur wahren Eintracht“. Die Mitglieder der Wiener Elite-Loge 1781 – 1785, in: Genealogisches Jahrbuch 31 (1991), 5 – 41. 14 Vgl. u. a. Jaroslav Vávra, Ignaz von Born als führende Persönlichkeit der Aufklärungsepoche in Böhmen, in: Éva H. Balázs u. a. (Hg.), Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs, Berlin 1979 (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa, 5), 141 – 146; ders., Ignaz von Born als Schriftsteller der Aufklärung, in: Helmut Reinalter (Hg.), Die Aufklärung in Österreich. Ignaz von Born und seine Zeit, Frankfurt am Main u. a. 1991 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770 – 1850“, 16), 69 – 92; Helmut Reinalter, Ignaz von Born - Aufklärer, Freimaurer und Illuminat, in: H.R., Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert, Mün-



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Loge zudem eng mit dem Illuminatenorden verbunden war – Born, der 1782 in den Orden aufgenommen wurde, brachte es zum Präfekten von Wien und „National-Consultor“ von Österreich, darüber hinaus gehörte etwa ein Viertel der Brüder dem Orden an15 –, wird sie gelegentlich auch als eine Art verkappte illuminatische Minervalkirche dargestellt.16 Man könnte daher vermuten, dass Born mit den von ihm initiierten Übungslogen letztlich nur das illuminatische, vom Ordensgründer Adam Weishaupt 1778 entworfene Programm des Ordens als einer ‚Weisheitsschule‘, die in den unteren Graden als eine Art „gelehrte Gesellschaft“ oder „Academie“ geführt werden sollte, umgesetzt habe.17 Dagegen spricht aber zum einen, dass Born bereits Anfang der 1770er Jahre, als vom llluminatenorden noch nicht die Rede sein konnte, in Prag eine gelehrte Gesellschaft gegründet hatte, aus der 1784 die Böhmische Akademie der Wissenschaften entstand.18 Zum anderen steht dieser Annahme der Umstand entgegen, dass sich die Wiener Übungslogen sowohl hinsichtlich der Praktiken als auch der Themen erkennbar von der illuminatischen Aufsatzpraxis unterscheiden. Die in den vorgetragenen Aufsätze behandelten Gegenstände sind bei näherem Besehen vielmehr originär masonisch, was zusammen mit der besonders in dieser Zeit virulenten Ubiquität von Aufsatzpraktiken dafür spricht, dass letztere auch die Freimaurerei affizierten. Ich möchte mich dem Thema daher in diesem Beitrag von der Freimaurerei selbst her nähern und versuchen, der Bedeutung des Redens und Schreibens zu vorgegebenen Themen in der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts – soweit ich chen 1989 (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, 16), 151 – 171. Zur Einschätzung der „Wahren Eintracht“ als Nukleus der Aufklärung im Habsburgerreich vgl. insbesondere die von April 2011 bis Oktober 2012 im Österreichischen Freimaurermuseum in Rosenau bei Zwettl gezeigte Ausstellung „Laboratorium Aufklärung. Die Wiener Loge ‚Zur wahren Eintracht‘“ (URL: www.freimaurermuseum.at/allgemeines/laboratorium-aufklaerung.html, 22.11.2016). 15 Hans-Josef Irmen (Hg.), Die Protokolle der Wiener Freimaurerloge „Zur wahren Eintracht“ (1781 – 1785) (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770 – 1850“, 15), Frankfurt am Main u. a. 1994, 15; Schuler, Die St. JohannisFreimaurerloge „Zur wahren Eintracht“ (wie Anm. 13), 9 ff. 16 Vgl. u. a. Ludwig Abafi (d.i. Ludwig Aigner), Geschichte der Freimaurerei in ÖsterreichUngarn, Bd. 4, Budapest 1893, 307 f. 17 So insinuiert es bereits Abafi, ebd., 132, obwohl er zugleich an anderer Stelle auf Borns frühere gleichgerichtete Aktivitäten in Prag verweist. Zum Selbstverständnis des Illuminatenordens als Gelehrte Gesellschaft oder Akademie siehe Markus Meumann, Arkanraum und öffentliche Debatte in der Spätaufklärung. Ein illuminatischer Nachtrag zur Mannheimer Kindsmordpreisfrage von 1780, in: Füssel, Mulsow (Hg.), Gelehrtenrepublik (wie Anm. 3), 205 – 236, besonders 206 f.; zur Bildungspraxis des Ordens vgl. darüber hinaus Peggy Pawlowski, „… sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken.“ Der Beitrag Johann Adam Weishaupts zur Pädagogik des Illuminatismus, Diss. phil., Jena 2004 (online abrufbar unter der URL: http:// www.db-thueringen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-3064/Pawlowski.pdf, 22.11.2016). 18 Vgl. dazu Rosenstrauch-Königsberg, Eine freimaurerische Akademie der Wissenschaften in Wien (wie Anm. 10), 67 f.

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sehe, erstmals – systematisch und in historischer Perspektive nachzugehen. Dafür werde ich einen etwas genaueren Blick auf den Stellenwert von Reden und Vorträgen im „Innenleben“ (Helmut Reinalter) der Logen werfen und anschließend die Rede- bzw. Vortragspraxis mehrerer anderer Freimaurerlogen derjenigen der Wiener Loge „Zur wahren Eintracht“ gegenüberstellen, um letztere besser in der Freimaurerei kontextualisieren zu können. Zuvor allerdings erscheint es geboten, einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Freimaurerei im 18. Jahrhundert zu geben sowie das komplexe Verhältnis von Geheimnis und Öffentlichkeit herauszuarbeiten, in dem die Freimaurerei im Ganzen und vor allem natürlich die freimaurerischen Reden und Aufsätze standen, insbesondere wenn sie – was, wie noch zu sehen sein wird, durchaus auch außerhalb Wiens vorkam – zur anschließenden Publikation bestimmt waren. I. Einige Daten zur Entwicklung der Freimaurerei im 18. Jahrhundert In der Selbstwahrnehmung der Maurerei (nicht nur) des 18. Jahrhunderts bzw. den masonischen Legenden ist die Freimaurerei so alt wie die Menschheit selbst.19 Ihr Ursprung wurde folglich bis zu Adam und Eva zurückgeführt, was sich auch in der maurerischen Zeitrechnung widerspiegelt, die zu unserem christlichen Datum die viertausend Jahre vor Christi Geburt hinzuzählt; masonische Datierungen aus dem 18. Jahrhundert tragen daher die Jahreszahl 57xx. Der Freimaurerforschung gelten demgegenüber die mittelalterlichen Bauhütten, deren Angehörige sich eigene Ordnungen gaben und dadurch auch überregional eine Art korporatives Zusammengehörigkeitsgefühl ausbildeten, als „authentischer Mutterboden“ der Freimaurerei.20 Tatsächlich verweist vor allem deren Symbolik auf eine solche Tradition, freilich ohne dass sich konkrete Verbindungen oder gar Kontinuitäten zwischen den mittelalterlichen Steinmetzen und den im Alten Reich in den 1730er und 1740er Jahren auftauchenden ersten Freimaurerlogen nachweisen ließen.21 19 Vgl. Pöhlmann, Verschwiegene Männer (wie Anm. 6), 23; Reinalter, Freimaurer (wie Anm. 6), München 2000, 10 f. 20 Pöhlmann, Verschwiegene Männer (wie Anm. 6), 24 f., hier 25. Vgl. auch Reinalter, Freimaurer (wie Anm. 6), 11 f. 21 Siehe dazu Reinhold Bendel, Die Ableitung der Freimaurerei von den Steinmetzbruderschaften, Tempelritterorden und älteren Rosenkreuzerbruderschaften, in: Joachim Berger, Klaus-Jürgen Grün (Hg.), Geheime Gesellschaft. Weimar und die deutsche Freimaurerei. Katalog zur Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik im Schiller-Museum Weimar 21. Juni bis 31. Dezember 2002, München 2002, 62–74, hier 63 – 65; Helmut Reinalter, Die historischen Ursprünge und die Anfänge der Freimaurerei. Legenden-Theorien-Fakten, in: Frank Jacob (Hg.), Geheimgesellschaften. Kulturhistorische Sozialstudien / Secret Societies. Comparative Studies in Culture, Society and History, Würzburg 2013 (Globalhistorische Komparativstudien / Comparative Studies from a Global Perspective, 1), 49 – 83, besonders 51 – 64.



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In der historischen Forschung ist es seit längerem Konsens, die konkreten Anfänge der Freimaurerei in England zu verorten, wo sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts durch die Aufnahme von Gelehrten (sog. „accepted masons“) in die bestehenden Steinmetzbruderschaften die ersten Logen entwickelt hätten.22 Nach dem Zusammenschluss von vier Londoner Logen zur Großloge von England im Jahr 1717 habe die Freimaurerei dann von England aus ihren Weg auf den europäischen Kontinent angetreten, wo die Logen durch ihre weitgehend egalitäre Mitgliederstruktur zu einem Experimentalraum der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft geworden seien.23 Es ist diese vorwiegend sozial­geschichtliche Betrachtungsweise, die dazu geführt hat, dass die Logen (ebenso wie partiell auch die Geheimbünde des späten 18. Jahrhunderts) in der geschichtswissenschaftlichen Aufklärungsforschung der 1970er bis 1990er Jahre pauschal zu ‚Aufklärungsgesellschaften‘ erklärt wurden.24 Seit den Arbeiten von David Stevenson aus den späten 1980er Jahren ist allerdings davon auszugehen, dass die Ursprünge der Freimaurerei mindestens ebenso sehr wie in England in Schottland zu suchen sind und obendrein früher datiert werden müssen, nämlich auf die 1590er Jahre – die ersten Statuten einer gelehrten Steinmetzbruderschaft in Schottland stammen Stevenson zufolge von 1598/99.25 Diese schottische Herkunftslinie der Freimaurerei ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen bietet sie einen möglichen Erklärungsansatz, warum sich die Hochgradmauerei des 18. Jahrhunderts, die nur wenige Jahrzehnte nach Gründung der ersten Logen das Feld beherrschte, vielfach auf schottische Tra22 Siehe

zuletzt etwa ebd., 70 ff.; Pöhlmann, Verschwiegene Männer (wie Anm. 6), 25 – 28; Margaret C. Jacob, The Origins of Freemasonry. Facts & fictions, Philadelphia/PA 2006, 12 ff. 23 Vgl. Maurice, Freimaurerei um 1800 (wie Anm. 3), 9 ff.; Hoffmann, Politik der Geselligkeit (wie Anm. 4), besonders 29 – 45. 24 Vgl. Richard van Dülmen, Die Aufklärungsgesellschaften in Deutschland als Forschungsproblem, in: Francia 5 (1977), 251 – 275; ders., Die Gesellschaft der Aufklärer (wie Anm. 5), 55 – 66; Ulrich Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982, 163 ff.; Helmut Reinalter, Freimaurerei und Geheimgesellschaften, in: H.R. (Hg.), Aufklärungsgesellschaften, Frankfurt am Main u. a. 1993 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770–1850“, 10), 83 – 96; Holger Zaunstöck, Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 9), besonders46 – 49. 25 David Stevenson, The Origins of Freemasonry: Scotland’s century, 1590–1710, Cambridge u. a. 1988, zu den sog. Schaw Statutes 34 – 51; ders., The First Freemasons. Scotland’s Early Lodges and their Members, Aberdeen 1988. Vgl. zur Bedeutung von Stevensons Forschungen auch Jan A.M. Snoek, Drei Entwicklungsstufen des Meistergrads, in: Quatuor Coronati. Jahrbuch für Freimaurerforschung 41 (2004), 21 – 29; Monika Neugebauer-Wölk, “...you shall not reveal any pairt of what you shall hear or see...” Geheimnis und Öffentlichkeit in masonischen Systemen des 18. Jahrhunderts, in: Michael Bergunder, Daniel Cyranka (Hg.), Esoterik und Christentum. Religionsgeschichtliche und theologische Perspektiven, Leipzig 2005, 11 – 29, besonders 11 – 15.

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ditionen und zum Teil auch auf die klandestine Weiterexistenz des im frühen 14. Jahrhundert aufgehobenen mittelalterlichen Templerordens in Schottland berief.26 Zum anderen führen Stevensons Forschungen die Entstehung der Freimaurerei an die esoterischen Wissensbestände der Renaissance wie Neuplatonismus und Hermetik sowie mit Mnemonik und Rosenkreuzerei an Traditionen des 17. Jahrhunderts heran, die für weite Teile der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts eine immense Bedeutung besaßen und für das im masonischen Arkanum wirksame Konzept eines ‚höheren Wissens‘ konstitutiv waren.27 Die Gründung der Londoner Großloge 1717 und die sogenannten Andersonschen Konstitutionen 1723 (also die Ausarbeitung von Statuten durch James Anderson im Auftrag der Großloge) waren aber dennoch insofern von zentraler Bedeutung für die Freimaurerei, als sie diese weithin sichtbar und bekannt machten, womit sie zweifellos zu ihrer Verbreitung beitrugen und ihr zugleich eine institutionalisierte Form verliehen.28 Als sich ein gutes Jahrzehnt später auch auf dem Kontinent die ersten Logen gründeten – und zwar beinahe zeitgleich und unabhängig voneinander sowohl in Spanien (1728), den Niederlanden (1731) und Frankreich (1732) als auch im Alten Reich, wo die erste Logengründung 1737 in Hamburg stattfand –, bemühten sich diese in der Regel um Zulassung seitens der Londoner Großloge.29 Bereits ein Jahr nach Gründung der Hamburger Loge wurde der preußische Kronprinz, der spätere König Friedrich II., bei einer sogenannten „Deputationsloge“ in Braunschweig in diese aufgenommen. Unmittelbar nach seiner Regierungsübernahme 1740 erfolgte die Gründung der späteren Großloge „Zu den drei Weltkugeln“ in Berlin, zunächst als von einigen hugenottischen Kaufleuten gegründete städtische Loge „Aux trois globes“, die aber bereits ein Jahr später das Privileg erhielt, selbständig Logen zuzulassen.30 26 Vgl.

dazu Bendel, Die Ableitung der Freimaurerei (wie Anm. 21), 65 – 68. Origins (wie Anm. 25), 77 – 124. Zur Bedeutung des ‚Höheren Wissens‘ in der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts vgl. Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft (wie Anm. 3), besonders 10 – 25; dies., Die Geheimnisse der Maurer (wie Anm. 7), besonders 28 ff.; dies., Geheimnis und Öffentlichkeit in masonischen Systemen (wie Anm. 25), 13; Renko Geffarth, The Preaching Philosopher. Andreas Weber (1718–81) between Wolffian Philosophy and Heterodox Theology, in: Keith Michael Baker, Jenna M. Gibbs (Hg.), Life Forms in the Thinking of the Long Eighteenth Century. Papers honoring the work of Peter H. Reill, Toronto 2014 (UCLA Clark Memorial Library series, 24), 179 – 207, besonders 180 – 183. 28 Zu den auch als „Alte Pflichten“ bezeichneten Konstitutionen siehe Reinalter, Freimaurer (wie Anm. 6), 53 ff.; Pöhlmann, Verschwiegene Männer (wie Anm. 6), 76 ff. und 177 ff. (Textauswahl). 29 Die Gründung der ersten Logen auf spanischem Boden erfolgte bezeichnenderweise durch englische Freimaurer. 30 Die Londoner Großloge erkannte 1741 Friedrich II. als „natürlichen Großmeister“ von Preußen an, mit dem Recht, selbstständig Logen zuzulassen; dieses Recht wurde von Friedrich anschließend auf die „3 Weltkugeln“ übertragen. Vgl. Karlheinz Gerlach, Die Freimaurer im alten Preußen 1738 – 1806. Die Logen in Berlin, Innsbruck u. a. 2014 (Quellen und Darstellungen zur europäischen Freimaurerei, 14), 67 ff. 27 Stevenson,



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In den 1750er Jahren kam es dann zur Gründung weiterer Berliner Logen, die in scharfer Konkurrenz zueinander standen, und bis 1806 entstanden in der preußischen Residenz dreißig solcher Vereinigungen, von denen etwa die Hälfte allerdings bald wieder verschwand.31 Noch vor Berlin hatte sich 1738 in Dresden eine Loge gegründet, 1742 folgte Frankfurt am Main.32 In den habsburgischen Ländern fand die erste Zusammenkunft einer Loge 1741 statt (Aux trois squelettes im zu dieser Zeit allerdings schon preußisch besetzten Breslau), bald darauf (1742) kam es zur Gründung der Loge Aux trois canons in Wien, wo im Laufe des Jahrhunderts ebenfalls mehrere weitere Logen gegründet wurden.33 Aber auch in den kleineren Territorien des Reiches sowie den preußischen und österreichischen Provinzen kam es bald zu zahlreichen Logengründungen. So wurden in der „Sozietätslandschaft“ (Holger Zaunstöck) Mitteldeutschland in den 1740er Jahren Logen in Hildburghausen, Leipzig, Meiningen, Altenburg, Halle, Halberstadt, Jena, Wittenberg, Naumburg und schließlich (1750) in Gotha gegründet; bis zum Ende des Jahrhunderts waren es im gesamten Gebiet 87, nicht gerechnet die vorwiegend im letzten Jahrhundertdrittel sich ausbreitenden Geheimbünde mit masonischem Anstrich.34 Bald nach der ersten Gründungswelle begann bereits der Siegeszug der maurerischen Hochgradsysteme,35 insbesondere der sogenannten Strikten Observanz, die sich in ihren Graden und Ritualen auf den 1314 aufgehobenen Tempelritterorden der Kreuzzugszeit bezog und nach 1764, als sich auch die Berliner 31 Vgl.

ebd. sowie Karlheinz Gerlach, Die Berliner Freimaurer vor 1786, in: Uta Motschmann (Hg.), Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786–1815, Berlin u. a. 2015, 258 – 275. 32 Pöhlmann, Verschwiegene Männer (wie Anm. 6), 39 f. 33 Vgl. Helmut Reinalter, Internationale Verbreitung und deutsche Logenvielfalt vom 18. Jahrhundert bis heute, in: Berger, Grün (Hg.), Geheime Gesellschaft (wie Anm. 21), 44 – 51; ders., Freimaurer (wie Anm. 6), 12 f. Hier erwähnt Reinalter auch die Loge in Prag, die möglicherweise schon vor der Breslauer Gründung bestand. 34 Vgl. Zaunstöck, Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen (wie Anm. 24), 127 – 136 und 282 – 302. Zu den paramasonischen Geheimbünden ist neben den Gold- und Rosenkreuzerzirkeln in Leipzig, Weimar, Magdeburg und Aschersleben sowie den vor allem in Thüringen angesiedelten Minervalkirchen des Illuminatenorden namentlich die 1786/87 in Halle von Karl Friedrich Bahrdt begründete „Deutsche Union“ zu rechnen. Vgl. dazu ebd., 136. 35 Darunter werden alle Systeme verstanden, die über die drei Grade der englischen Maurerei, die sogenannten Johannisgrade, hinaus noch weitere Grade kannten. Zu den frühesten Hochgradsystemen zählen neben der Strikten Observanz das Clermontsche System, die Afrikanischen Bauherren und Johann August von Starcks Klerikat. Die Einführung des ersten ‚schottischen‘ Grades in Deutschland ist bereits für 1742 belegt, 1758 stiftete ein französischer Kriegsgefangener in Berlin das Clermontsche System. Wie oben erwähnt, müssen rein formal auch die Geheimbünde wie Gold- und Rosenkreuzer, Illuminatenorden und Deutsche Union sowie ein Teil der aus den Reformbemühungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts entstandenen Großlogen zu den Hochgradsystemen gezählt werden. Vgl. Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft (wie Anm. 3), 10 ff.; Maurice, Freimaurerei um 1800 (wie Anm. 3), 31 – 56; Pöhlmann, Verschwiegene Männer (wie Anm. 6), 41 – 50.

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Logen mit Ausnahme der Loge De l’amitié (nach Aufnahme des Herzogs von York 1765 Loge Royale d’York de l’Amitié) ihrem System unterwarfen, zur beherrschenden Variante der Freimaurerei in Deutschland wurde.36 1770 erklärte sich der preußische Kronprinz, der spätere Regent Friedrich Wilhelm II., zum Protektor der Vereinigten Logen Strikter Observanz.37 Sein Onkel Friedrich II. gab seinerseits 1774 eine Schutzerklärung für die vier Jahre zuvor gegründete Große Landesloge ab. Dabei handelte es sich um eine Hochgradloge nach schwedischem Ritus, die nach ihrem Begründer auch als Zinnendorfsches System bezeichnet wird und sich als dezidierte Gegengründung zu den zur Strikten Observanz übergetretenen Logen der Großloge „Zu den drei Weltkugeln“ verstand.38 Ab den späten 1770er Jahren erlebte die Strikte Observanz – beschleunigt durch den Tod ihres Gründers, des Reichsfreiherrn Karl Gotthelf von Hund, im Jahr 1776 –, einen raschen Niedergang. Im Gefolge des Wilhelmsbader Konventes von 1782, der eigentlich den ausgebrochenen Streitereien ein Ende bereiten sollte, erfolgte schließlich der weitgehende Zusammenbruch des Systems.39 Die Berliner Großloge „Zu den drei Weltkugeln“ entschied bereits 1779, die Hochgrade der Strikten Observanz nicht mehr zu bearbeiten, und geriet wie weitere Logen in Preußen unter den Einfluss der Gold- und Rosenkreuzer.40 Andere Logen wandten sich spätestens nach dem Wilhelmsbader Konvent enttäuscht von der Strikten Observanz ab und suchten nach besseren Organisa­tionsformen. So steht der Aufstieg Johann Joachim Christoph Bodes, der als Deputierter 36 Vgl.

Hermann Schüttler, Geschichte, Organisation und Ideologie der Strikten Observanz, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 25 (1988), 159 – 175; ders., Zwei freimaurerische Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts im Vergleich: Strikte Observanz und Illuminatenorden, in: Erich Donnert (Hg.), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 4: Deutsche Aufklärung, Weimar u. a. 1997, 521 – 4 4; Joachim Bauer, Gerhard Müller, „Des Maurers Wandeln, es gleicht dem Leben“. Tempelmaurerei, Aufklärung und Politik im klassischen Weimar, Rudolstadt und Jena 2000 (Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte Beiheft, 32), besonders 24 – 54; René Le Forestier, Die templerische und okkultistische Freimaurerei im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. 1: Die Strikte Observanz, Leimen 1987; Christian M. Baumgartner, Die strikte Observanz. Der hohe Orden vom heiligen Tempel zu Jerusalem – ein vergangenes templerisches und freimaurerisches System – 1751 – 1782. Aufstieg und Fall, Flensburg 2007. 37 Gerlach, Berliner Freimaurer vor 1786 (wie Anm. 31), 268. 38 Ebd., 270 – 272. Das sogenannte Zinnendorf-Schwedische System beruht auf der englischen Freimaurerei, integriert aber auch die Herkunftslegende des Tempelritterordens. Die Mehrzahl der Logen widmete sich daher allein den drei Johannisgraden; die Hochgrade wurden hingegen in eigenen Logen bearbeitet. Vgl. Karlheinz Gerlach, Die Große Landesloge der Freimaurer von Deutschland 1786–1815 in Berlin [GLL], in: Motschmann, Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften (wie Anm. 31), 362 – 399, hier 362 f. 39 Vgl. Ludwig Hammermayer, Der Wilhelmsbader Freimaurerkonvent von 1782. Ein Höheund Wendepunkt in der Geschichte der deutschen und europäischen Geheimgesellschaften, Heidelberg 1980; Le Forestier, Die templerische und okkultistische Freimaurerei (wie Anm. 36), Bd. 3: Das System von Wilhelmsbad, Leimen 1990. 40 Vgl. Gerlach, Die Freimaurer im alten Preußen (wie Anm. 30), 26.



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verschiedener Präfekturen der Strikten Observanz am Konvent teilgenommen hatte,41 im Illuminatenorden wahrscheinlich damit in Verbindung, dass er mit seinem Versuch, an Stelle der in Wilhelmsbad suspendierten Hierarchie in Weimar eine unabhängige Präfektur der Strikten Observanz zu errichten, gescheitert war. Stattdessen nahm er nun die Gelegenheit wahr, von dort aus eine neue Provinz des Illuminatenordens zu errichten, zu deren ersten Mitgliedern Johann Wolfgang Goethe und der Weimarer Herzog Carl August zählten, die zuvor der sich zur Strikten Observanz bekennenden dortigen Loge angehört hatten.42 Zugleich begannen führende Illuminaten, neue masonische Reformprojekte zu initiieren, etwa den 1783 gegründeten „Eklektischen Bund“ oder den von Bode nach seiner Abkehr vom Illuminatenorden Ende 1790 ausgerufenen „Bund der deutschen Freimaurerei“,43 und auch andere masonische Systeme wie die Berliner Großloge Royal York reformierten sich in der Zeit um 1800 grundlegend.44 II. Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit: Zum Charakter des freimaurerischen Arkanums und zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in den Logen Auch wenn weite Teile der historischen Forschung insbesondere den geselligen und gesellschaftsbildenden Aspekt der Logen betont haben, in denen durch die Zusammenkunft von ‚Brüdern‘ unterschiedlicher sozialer Herkunft jenseits der Hierarchie der ständischen Gesellschaft gleichsam frühdemokratische Verhaltensweisen eingeübt worden seien, muss als das eigentliche Zentrum der Freimaurerei – nicht zuletzt auch im Selbstverständnis der Bruderschaft selbst – das sogenannte Arkanum betrachtet werden, also die geheime Arbeit in den Logen, die im sogenannten Tempel durchgeführt wurde (und wird). Dabei handelte es sich nicht etwa, wie Reinhart Koselleck 1954 in seiner berühmten Heidelberger Dissertation folgenreich insinuierte, um ein vorranging politisches, gegen den ‚absolutistischen‘ Staat gerichtetes Geheimnis,45 sondern um aufwändige Ritu41 Vgl.

Hammermayer, Freimaurerkonvent (wie Anm. 39), 38 f., 68, 217 Anm. Bauer, Müller, Tempelmaurerei, Aufklärung und Politik (wie Anm. 36), 117 ff. Zum Aufstieg Bodes zum Provinzial der illuminatischen Ordensprovinz „Ionien“ (so der Name für den Obersächsischen Reichskreis in der Ordensgeographie) siehe Simons, Meumann, Bode als ‚Unbekannter Oberer‘ des Illuminatenordens (wie Anm. 3). 43 Vgl. Maurice, Freimaurerei um 1800 (wie Anm. 3), 51 – 56; Pöhlmann, Verschwiegene Männer (wie Anm. 6), 47 – 50. 44 Vgl. Maurice, Freimaurerei um 1800 (wie Anm. 3). 45 Koselleck, Kritik und Krise (wie Anm. 4.), 55 ff. (vgl. auch das Zitat in Anm. 6). Kosellecks berühmte These ist trotz eingehender Kritik an seinem Ansatz in den letzten 25 Jahren mindestens implizit nach wie vor verbreitet. So schreibt etwa Matthias Alexander in seiner Rezension zu Stefan Ludwig Hoffmanns Politik der Geselligkeit (wie Anm. 4) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6.12.2000 in fast wörtlicher Anlehnung an Koselleck: „Das Geheim42 Vgl.

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ale, in deren Zentrum eine esoterische Religiosität und die Vermittlung eines privilegierten, ‚höheren‘ Wissens als das eigentliche Geheimnis der Freimaurerei stehen.46 Die Geheimhaltung, zu der die Brüder verpflichtet waren, und die daraus folgende Klassifizierung der Freimaurerei als Geheimgesellschaft bezieht sich – anders als bei Geheimbünden wie den Illuminaten oder den Gold- und Rosenkreuzern – ausschließlich auf dieses Arkanum, nicht auf die Organisationsform der Gesellschaft oder gar deren Existenz als solche. Diese war im Gegenteil auch im 18. Jahrhundert durchaus in der Öffentlichkeit präsent. In der zweiten Jahrhunderthälfte wurden mit schöner Regelmäßigkeit mehr oder weniger öffentliche Debatten um die Freimauerei geführt, und die Logen selbst machten zunehmend durch Publikationen wie Zeitschriften oder Logenkalender auf sich aufmerksam.47 Auch räumlich waren die Bruderschaften im jeweiligen städtischen Leben sichtbar, nachdem sie nach einer Anfangszeit, in der sich die Brüder meist in Gasthäusern getroffen hatten, vielfach eigene Logenhäuser bezogen, die von außen als solche zu erkennen waren und auch in topographischen Ortsbeschreibungen Erwähnung fanden.48 Die regelmäßigen Logenfeste (oder sogar Prozessionen wie in London) wurden häufig mit großem Aufwand und auch Musik begangen und waren daher wahrscheinlich immer wieder Stadtgespräch.49 nis war Ursprung und Zentrum der freimaurerischen Idee. Anfangs diente es dem Schutz vor den Nachstellungen des absolutistischen Staates. Es wurde, als quasireligiöser Ersatz für die ‚Mysterien der Kirche‘ und die ‚Arcanpolitik der Staaten‘, immer mehr auch ein Missionsmittel im Wettbewerb der Weltanschauungen“. 46 Vgl. dazu die Literaturhinweise in Anm. 27 sowie Hasselmann, Rituale der Freimaurer (wie Anm. 4), 139 – 148 (zum Geheimnis) sowie passim (zu den Ritualen). 47 Eine erste freimaurerische Zeitschrift erschien bereits 1737 in Hamburg (Der Freymäurer), blieb allerdings auf eine Nummer beschränkt. Ein Jahr später dann erschien unter demselben Titel eine Zeitschrift in Leipzig, die es auf 52 Ausgaben brachte. Vgl. Neugebauer-Wölk, Geheimnis und Öffentlichkeit in masonischen Systemen (wie Anm. 25), 22 f. Ein Beispiel eines Freimaurerkalender ist: Freymaurer Calender auf das Jahr Christi 1771 und der Freymaurerey 5771. Nebst einem Verzeichnis aller auf dem Erdboden bekannter Logen, und einem Anhang von verschiedenen Stücken in gebundener Rede zum Gebrauch sämtlicher Brüder, Leipzig, 5771 [1771]. 48 Siehe dazu am Beispiel Halles Renko Geffarth, Markus Meumann, Esotericism meets Enlightenment. Debating and Disseminating Esoteric Currents in Eighteenth-century Halle, in: Capitales de l'ésotérisme européen et dialogue des cultures, hg. von Jean-Pierre Brach, Aurélie Choné und Christine Maillard, Paris 2014, 49 – 69 und 271 – 274 (Abb.), besonders 63 f.; dies., Marianne Taatz-Jacobi, Holger Zaunstöck, Collegia, Logen, Salons. Akademische Geselligkeit und ihre Räume im Halle des 18. Jahrhunderts, in: Geselligkeiten im 18. Jahrhundert: Kulturgeschichtliche Überlieferung in Museen und Archiven Sachsen-Anhalts, hg. von Sebastian Görtz u. a., Halle 2012, 218 – 229. Vgl. auch Gerlach, Berliner Freimaurerreden (wie Anm. 8), 411 f., sowie zu London Hasselmann, Rituale der Freimaurer (wie Anm. 4), 111 ff. 49 Vgl. ebd., 135 f.; Gerlach, Berliner Freimaurerreden (wie Anm. 8), 420.



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Aus dieser eigentümlichen Stellung der Logen als nach außen hin sichtbare, hinsichtlich ihres arkanen Kerns aber ‚diskrete‘ Gesellschaften resultiert ein Spannungsverhältnis zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit, das die Freimaurerei seit dem frühen 18. Jahrhundert begleitet und für diese selbst ebenso wie für die um sie kreisenden späteren Verschwörungslegenden konstitutiv ist.50 Die organisatorische Extensivierung der Freimaurerei um 1700 bewirkte nämlich gleichzeitig eine Intensivierung des Arkanums, das nun umso mehr gegen die Öffentlichkeit abgeschottet wurde. Darüber hinaus – und das ist für das Thema dieses Beitrages ebenso wie für das des Bandes insgesamt von besonderem Interesse – tritt bei dieser paradoxen Entwicklung eine tendenzielle Verschiebung von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit zutage, wie sie auch, wenn auch unter anderen Vorzeichen, in der Entwicklung der Aufsatzpraktiken von Akademien oder – arkanen wie nicht-arkanen – Gesellschaften sowie im Schulwesen beobachtet werden kann.51 In den frühen Logen des 17. Jahrhunderts galt zum Schutz des Arkanums ein Schreibverbot. Die bei den Riten und Initiationen in die verschiedenen Grade zum Vortrag gebrachten Texte wurden ausschließlich mündlich weitergegeben und mussten von den Logenbrüdern mittels der sich in dieser Zeit auf dem Höhepunkt ihrer historischen Entwicklung befindenden ars memoria angeeignet werden.52 Als sich aber die Logen nach 1700 ausbreiteten und vergrößerten und sich infolgedessen immer mehr neue Mitglieder die gleichzeitig komplizierteren Initiationstexte merken mussten, kam es offensichtlich zu einer Durchbrechung des seit den Statuten von 1598/99 geltenden Schreibverbotes, indem sich manche dieser neuen Mitglieder diese notierten und, wahrscheinlich zunächst nur zum eigenen Gebrauch, einen ‚schriftlichen Aufsatz‘ davon machten.53 Einmal verschriftlicht, waren die Initiationstexte aber auf Dauer nicht geheim zu halten. Nur wenige Wochen nach der Publikation der Andersonschen Konstitutionen 1723 wurde der erste masonische Ritualtext in der Tagespresse veröffentlicht.54 Bereits ein Jahr später erschien unter dem Titel The Grand Mystery of 50 Siehe

dazu insbesondere Neugebauer-Wölk, Geheimnis und Öffentlichkeit in masonischen Systemen (wie Anm. 25). Zur Fortsetzung dieses Spannungsverhältnisses im Illuminatenorden vgl. Marian Füssel, Geheimnis und Diskursivierung. Zur Dialektik von Öffentlichkeit und Geheimhaltung im Illuminatenorden, in: Kornelia Hahn (Hg.), Öffentlichkeit und Offenbarung. Eine interdisziplinäre Mediendiskussion, Konstanz 2002, 23 – 48. 51 Vgl. dazu insbesondere die Beiträge von Michael Rocher und Sebastian Kühn in diesem Band. 52 Neugebauer-Wölk, Geheimnis und Öffentlichkeit in masonischen Systemen (wie Anm. 25), 14 f.; Stevenson, Origins (wie Anm. 25), 87 – 96. Zum Zusammenhang von ars memorativa und verborgenem Wissen vgl. auch Francis Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Berlin 72012, 185 ff. 53 Zu dieser Semantik vgl. die Einleitung zu diesem Band. 54 Neugebauer-Wölk, Geheimnis und Öffentlichkeit in masonischen Systemen (wie Anm.  25), 17.

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the Free-Masons Discover’d die erste vollständige Enthüllung des Arkanums;55 bald darauf folgten auch ‚Verrätertexte‘ enttäuschter Maurer, deren erster 1730 das Vorhandensein des Dreigradsystems mit dem Meistergrad als höchster Stufe offenbarte.56 Die Bruderschaft reagierte darauf mit einer doppelten Strategie: Zum einen traten die Logen gleichsam die Flucht nach vorn an und reagierten mit der gezielten Öffentlichmachung des nicht-arkanen Bereichs der Freimaurerei, also der geselligen Teile des Logenlebens mitsamt den entsprechenden Terminen und Festen sowie ihrer karitativen Tätigkeit, die nun nach außen hin als das eigentliche Ziel der Vereinigung dargestellt wurden. Im Ergebnis stand schließlich eine „Abstraktion und Reduktion des esoterischen Gehalts der Freimaurerei auf eine allgemein-moralische Anstrengung“,57 die seither die Selbstdarstellung der Freimaurerei in der Öffentlichkeit ebenso wie die (freimaurerische wie auch nicht-freimaurerische) historische Forschung über den Bund bestimmt.58 Zum anderen kam es zu einer Steigerung des Geheimnisses mit dem Ziel, den arkanen Gehalt und damit das esoterische Versprechen der Freimaurerei zu retten; dies mündete seit den 1740er Jahren in die Entwicklung und Entstehung der ersten Hochgradsysteme, die ihrerseits wiederum die Voraussetzungen für die freimaurerisch grundierten Geheimbünde des letzten Jahrhundertdrittels wie die Gold- und Rosenkreuzer oder die Illuminaten schufen, in denen das Arkanum nur Eingeweihten und diesen obendrein schrittweise offenbart wurde.59 Im Vordergrund der Rituale standen dabei weiterhin symbolische Handlungen und mündlich vorgetragene Initiationsformeln; die jeweiligen Gradtexte waren aber nun so umfangreich, dass sie vorab – letztlich in der Form von Aufsätzen – schriftlich ausgearbeitet werden mussten und zum Teil auch in den höheren Graden den Kandidaten vorab zur Vorbereitung zur Verfügung gestellt wurden.60 Darüber hinaus spielten im späteren 18. Jahrhundert in der gesamten Freimaurerei der schriftliche Austausch in der Korrespondenz mit anderen Logen und die Rezeption maurerischer Publikationen und Journale, in die vor allem auch in den Logen gehaltene Reden Eingang fanden, eine immer wichtigere Rolle.61 55 Ebd.,

18. 19 f.; ausführlicher Hasselmann, Die Rituale der Freimaurer (wie Anm. 4), 154 ff. 57 Neugebauer-Wölk, Geheimnis und Öffentlichkeit in masonischen Systemen (wie Anm. 25), 56 Ebd.,

23.

58 Ebd.,

23 f. Vgl. auch Monika Neugebauer-Wölk, Esoterik als Element freimaurerischer Geschichte und Geschichtsforschung, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 40 (2003), 1 – 24. 59 Vgl. Neugebauer-Wölk, Geheimnis und Öffentlichkeit in masonischen Systemen (wie Anm. 25), 24 ff.; zu den Hochgradsystemen siehe oben Anm. 35 f. sowie Geffarth, Religion und arkane Hierarchie (wie Anm. 2), 49 – 58; Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft (wie Anm. 3), 33 ff. 60 Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft (wie Anm. 3), 33 ff. und 41 – 59. 61 Siehe dazu unten Abschnitt IV. sowie Christian Wirkner, Adel, Bürger und Studenten.



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III. Reden und Vorträge als Bestandteil von Logenleben und Logenarbeit im 18. Jahrhundert Das skizzierte Spannungsverhältnis von Geheimnis und Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Freimaurerei ist im vorliegenden Kontext deswegen von besonderer Bedeutung, weil es die Redepraxis in den Logen zentral betraf. Logenreden hatten (und haben) ihren Platz im Logenleben nämlich genau an der Nahtstelle zwischen dem inneren, arkanen Teil und dem nach außen hin sichtbaren geselligen Leben, als dessen Bestandteil sie (wenn überhaupt) vorrangig wahrgenommen werden. Wenn man Gerlachs Anthologie von Berliner Freimaurerreden des 18. Jahrhunderts, die 58 (von insgesamt 146 nachweisbaren) Reden aus der Zeit zwischen 1743 und 1804 versammelt, genauer betrachtet, so überwiegen darin auf den ersten Blick in der Tat Gelegenheitsreden, also anlassorientierte Ansprachen zu bestimmten, meist festlichen Anlässen, z. B. zum Johannisfest, zum Jahresschluss oder auch zum Geburtstag des Regenten. Zum Vortrag kamen diese wahrscheinlich überwiegend im Rahmen sogenannter Tafellogen, die eigens zu diesen Anlässen veranstaltet wurden und bei denen die – häufig öffentlich sichtbare – Geselligkeit mit Essen und Trinken oder auch Musik im Vordergrund stand.62 Doch auch bei den regulären Logensitzungen wurden offensichtlich Reden gehalten, etwa zwischen den Aufnahmen und Beförderungen der einzelnen Brüder, wie einige der Berliner Beispiele zeigen; dazu kamen Antrittsreden neuer Meister und namentlich auch Gedenk- und Trauerreden auf verstorbene Mitglieder.63 Das Themenspektrum dieser Reden zeigt, dass darin vorwiegend Inhalte freimaurerischen Gehalts, etwa über die Pflichten eines Maurers oder die Statuten des Bundes, und später auch die Richtungsstreitigkeiten in der Maurerei behandelt wurden. Mehrere Faszikel mit handschriftlich überlieferten, zwischen 1754 und 1804 in Hamburger Logen gehaltenen Reden zeigen ein ähnliches Bild;64 hier finden sich neben anlassbezogenen Ansprachen (insbesondere Trauerreden) beispielsweise „Drey maurerische Aufsätze“ zu folgenden Themen: „(1) Das Leben als immerwährender Kampf gegen Schwächen und Vorurteile, 2) Welchen Ein­ ogenleben im Göttingen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Diss. phil., Göttingen 2017, besonL ders Kap. V. 62 Vgl. Gerlach, Berliner Freimaurerreden (wie Anm. 8), 417 – 420. Die Geselligkeit nahm dabei – vor allem hinsichtlich des Alkoholkonsums – anscheinend häufiger ausschweifende Formen an, was nicht nur in London zu entsprechender Kritik in der Öffentlichkeit führte. Vgl. Hasselmann, Rituale der Freimaurer, 237 – 271; zu Göttingen Wirkner, Adel, Bürger und Studenten (wie Anm. 61). 63 Gerlach, Berliner Freimaurerreden (wie Anm. 8), 39 ff., 97 ff., 104 ff., 143 ff., 236 ff. Vgl. auch Wirkner, Adel, Bürger und Studenten (wie Anm. 61), besonders Kap. III. 64 Staatsarchiv Hamburg, Bestand 614 – 1/71 (Archiv der Vereinigten 5 Logen), 5.2. H 44, Nr. 554 bis 556.

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fluß hat die Maurerei auf das gemeine bürgerliche Leben? 3) Der Unterschied zwischen geheimer und öffentlicher Gesellschaft“.65 In Berlin wurden darüber hinaus vereinzelt auch Themen allgemeineren philosophischen Zuschnitts verhandelt. Beispiele für letzteres sind etwa die mit „Menschenliebe“ betitelte Rede August Schaarschmidts von 1753, Christian Ludwig Troschels 1770 vorgetragene Erörterung, ob die „Frage, wie es den unsrigen nach unserem Tode wohl gehen werde, des Nachdenkens wert wäre“, oder Ignaz Aurelius Feßlers – allerdings erst 1801 gehaltene – Rede über die Bestimmung und Bildung des weiblichen Geschlechts.66 Welches genau der Platz dieser und anderer Reden in den Logensitzungen war, wann beziehungsweise im Rahmen welches Abschnitts der mehrstündigen Logensitzungen sie gehalten wurden und wer die Themen auswählte oder vorgab, lässt sich in der Regel anhand der jeweiligen Texte ebenso wenig bestimmen wie der Stellenwert, den die Logen diesen im Rahmen ihrer ‚Arbeit‘ beimaßen. Wir wissen aber, dass das Halten dieser Reden neben dem Meister vom Stuhl vor allem einem eigens dafür bestimmten Bruder oblag, der in der Rangfolge gleich nach dem Meister und den beiden Vorstehern oder Aufsehern kam. Dieses als Redner, Sprecher oder auch ‚Großredner‘ bezeichnete Amt war, so Gerlach wohl in Anlehnung an das von Eugen Lennhoff und Oskar Posner herausgegebene Internationale Freimaurer-Lexikon, in den englischen Logen unbekannt und kann somit als originäre Erscheinung der deutschen (bzw. kontinentalen) Maurerei gewertet werden.67 Aufgabe des Redners war es offensichtlich, wie aus einigen von Gerlach angeführten zeitgenössischen Quellen hervorgeht, über die „Aufrechterhaltung der Gesetze“ und die vorschriftsmäßige Ausübung der Rituale zu wachen und darüber hinaus die übrigen Brüder immer wieder über die Ziele der Freimaurerei zu belehren und ihnen diese in Erinnerung zu rufen.68 Bei Lennhoff und Posner heißt es dazu: Neben dem ritualistischen Eindruck der Arbeit will die Loge durch Belehrung, Anleitung zum Nachdenken über gemeinsame Fragen und Gegenstände auf ihre Mitglieder einwirken. Diesem letzteren Mittel dient die L[ogenrede], die je nach dem Anlaß als Instruktion, Festrede u. a.m. bezeichnet wird.69

Darüber hinaus spielte der Redner den Forschungen Christian Wirkners zu den Göttinger Logen des 18. Jahrhunderts zufolge eine wichtige Rolle bei der Auf65 Ebd.,

Nr. 554. Berliner Freimaurerreden (wie Anm. 8), 17 ff., 74 ff., 370 ff. 67 Ebd., 421. Gerlach spricht von einer „deutschen[n] Eigentümlichkeit“, laut Lennhoff-Posner gab es das Amt aber auch anderswo in der kontinentalen Maurerei: Eugen Lennhoff, Oskar Posner, Internationales Freimaurerlexikon, Wien 1980 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe 1932), 1288 f. (Art. „Redner“). 68 Gerlach, Berliner Freimaurerreden (wie Anm. 8), 422. 69 Lennhoff, Posner, Internationales Freimaurerlexikon (wie Anm. 67), 950 f. (Art. „Logenreden“), hier 950. 66 Gerlach,



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nahme neuer Adepten, bereitete diese vor und erklärte ihnen die Bedeutung der Symbole, insbesondere des Teppichs.70 Die Rolle des Redners – und damit zugleich die der Rede als solcher – wurde von zeitgenössischen Autoren sehr hoch eingeschätzt. So schrieb Johann Christian Gädicke, Mitglied der Loge „Zu den drei Seraphim“, 1818 in seinem Freimaurerlexikon über den Redner: Er muß [...] die Maurerei ganz kennen und nicht allein ein wissenschaftlich gebildeter Mann sein, sondern auch wirkliche Rednertalente besitzen. Seine Reden müssen Eindruck machen. Bei der Wahl eines Redners müssen die Wählenden dies genau erwägen und bedenken, daß ein Redner mehr leisten müsse, als bloß das Ritual abzulesen. Hat ein Redner die Kenntnisse, über maurerische Gegenstände wirklich zu belehren oder moralische Wahrheiten in bezug auf die Maurerei eindringlich vorzutragen, nicht bloß in Floskeln oder mystischen Formeln zu sprechen, so wird man ihn gern hören. Einige Reden sind an festgesetzte Zeiten gebunden, aber auch diese muß der Redner interessant zu machen verstehen, damit man nicht eine Wiederholung zu hören glaube. Wer sich bloß auf diese Reden und auf das Ablesen des Rituals einschränkt, sonst nichts zur Belehrung über die Maurerei liefert, der steht seinem Amte nicht so vor als er soll.71

Ähnlich formulierte 1775 Johann Christian Anton Theden, Meister vom Stuhl der Loge „Zur Eintracht“ und ein „erfahrener Redner“, anlässlich der Eröffnung einer Filialloge die Anforderungen an das Amt: Vortrefflicher Bruder Redner! Voll Wärme und Gefühl öffne deinen Mund zur Aufmunterung deiner Brüder und zum Wohlgefallen des Ordens, dessen Mitglied zu sein du längst würdig warest. Tadle, was zu tadeln ist, ohne zu beleidigen, lobe, was Lob verdient, ohne zu schmeicheln. Erwecke Deine Brüder zur Treue gegen den Orden, zur Liebe unter sich, zur Liebe gegen alle Brüder, sie mögen nahe oder entfernt mit uns verwandt sein, kurz, zur allgemeinen Liebe gegen alle Menschen. Male das Laster in den allerschwärzesten Farben und gib der Tugend alle möglichen Reize, damit sie anschauend erkannt und tätig ausgeübt werde.72

Darüber hinaus durften aber grundsätzlich wohl auch andere Brüder Reden halten,73 und auch in den ‚rednerlosen‘ englischen Logen des frühen 18. Jahrhunderts wurden anscheinend bereits mit einer gewissen Regelmäßigkeit Reden gehalten, die in Einzelfällen wie auch die Berliner Reden durchaus über das anlasshafte Sprechen hinausgingen und darauf hinweisen, dass das gesprochene Wort und der Vortrag einen größeren Stellenwert im Logenleben und für die masonische Arbeit besaßen, als dies in der Literatur bislang dargestellt wird. Folgt man den Ausführungen des Internationalen Freimaurerlexikons, ist jedenfalls „[d]er Brauch [der Logenrede] sehr alten Datums“. Die erste bekannte, 70 Wirkner,

Adel, Bürger und Studenten (wie Anm. 61), besonders Kap. I. nach Gerlach, Berliner Freimaurerreden (wie Anm. 8), 422. 72 Ebd., 164. 73 Ebd., 421. 71 Zitiert

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aber nicht erhaltene Logenrede hielt demzufolge der in Frankreich geborene anglikanische Geistliche und dritte Großmeister der Großloge von England, John Theophilus Desaguliers, am 24. Juni 1721. „Ebenso“, so heißt es bei Lennhoff und Posner weiter, vermerkt Anderson, daß die Sitzung vom 27. Dezember 1721 durch Vorträge einiger alter Masons sehr unterhaltend gemacht wurde. Am 4. Oktober 1723 las nach einer Tagebucheintragung Dr. Stukeley eine Abhandlung über das Amphitheater in Dorchester in der Loge vor und überreichte jedem Br[uder] ein Exemplar. Die erste gedruckte L[ogenrede] dürfte die des Architekten Eduard Oakley gewesen sein, die er am 31. Dezember 1728 in einer Einzelloge zu Carmarthen (Wales) über die Entwicklung der Baukunst hielt. Viel bemerkt wurde auch die Rede des Dr. Martin Clare (11. Dezember 1735), in welcher er der Freimaurerei seiner Zeit den Spiegel vorhält. Sie war ein eindringlicher Moralkodex für die Logen seiner Zeit.74

Bereits in dieser frühen Zeit und diesen wenigen englischen Beispielen75 findet sich damit bereits die Mischung aus genuin maurerischen und allgemeinen bildungsaffinen Themen, die für die Logenreden des 18. Jahrhunderts im Folgenden genauso kennzeichnend werden sollte wie das Spannungsverhältnis zwischen vorgängigem logeninternem Vortrag und anschließender schriftlicher Dokumentation oder sogar Veröffentlichung. Einzelne Logenreden wurden offenkundig schon früh publiziert, eine erste Sammlung deutschsprachiger Reden erschien Lennhoff und Posner zufolge 1768.76 Bereits 1762 waren allerdings bei Arnold Wever in Berlin Reden, zum Lobe des Königs in franz. und deutscher Sprache, den 24ten Januarii 1762 in der [ebenfalls in Berlin beheimateten] Loge der Eintracht gehalten erschienen. Dabei handelte es sich um drei Reden, die aus Anlass des Geburtstages Friedrichs II. von den Brüdern „Stuardt“ (Steward), Sekretär und Redner der Loge gehalten worden waren.77 In den 1770er und 1780er Jahren finden sich dann häufiger Sammlungen freimaurerischer Reden. Diese enthalten zum Teil ebenfalls anlassbezogene Festreden. So versammelte eine von der Loge „Zu den Drei Weltkugeln“ publizierte Schrift eine ganze Reihe von in den Jahren 1777 bis 1779 in der Loge gehaltenen Reden, u. a. wiederum zum Geburtstag des Königs oder zur Enthüllung eines der Loge vom König geschenkten Bildnisses seiner Person, dazu eine Rede anlässlich des Johannisfestes mit dem Titel „Der Stolz des 74 Lennhoff,

Posner, Internationales Freimaurerlexikon (wie Anm. 67), 950. den kontinentalen Logen setzte ebenfalls früh eine Redetätigkeit ein: „Die ältesten, der maurerischen Öffentlichkeit zugänglich gemachten deutschen L[ogenreden] sind die von Steinheil, gehalten im Jahre 1742 in der Loge „Zur Einigkeit“ in Frankfurt a. M., sowie die von Uriot, vorgetragen am 11. Juni 1742 ebenda. Der ‚Discours‘ des Chevalier Ramsay, gehalten 1737 in Paris, war ungewollt von bedeutendem Einfluß auf die Entstehung des freimaurerischen Hochgradwesens“ (ebd., 950 f.). 76 Ebd., 951. 77 Reden, zum Lobe des Königs in franz. und deutscher Sprache, den 24ten Januarii 1762. in der Loge der Eintracht gehalten, Berlin 1762. 75 In



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Maurers“ sowie eine in der Loge aufgeführte Kantate mit dem Titel „Friedrichs Größe“ und fünf weitere „chansons maçonniques“.78 Neben Fest­reden, Gedichten und Oden wurden aber auch Reden maurerischen Inhalts an die Öffentlichkeit gebracht,79 so etwa Dreymal drey Reden über die Uebereinstimmung der Freymäurerey mit der Religion, die zuvor in der Loge „Zur gekrönten Säule“ in Braunschweig gehalten worden waren.80 Es ist nicht ganz klar, an wen sich diese Publikationen richteten, ob vorrangig an andere Freimaurer – darauf deutet das unten näher dargestellte Beispiel des Wiener Journals für Freymaurer hin – oder auch an eine breitere interessierte Öffentlichkeit. Dass Logenreden und -publikationen bereits frühzeitig von einzelnen Freimaurern oder Logen dazu benutzt wurden, maurerische oder auch andere ihnen am Herzen liegende Themen in einer über die Loge hinausreichenden Öffentlichkeit zu lancieren, zeigt das Beispiel der halleschen Loge „Aux trois clefs d’Or“ [„Zu den drei Goldenen Schlüsseln“], der ersten Loge der preußischen Universitätsstadt überhaupt.81 In ihren Anfängen handelte es sich bei der 1743 gegründeten Schlüsselloge um eine rein studentische Loge, deren Gründungsmitglieder zuvor in anderen Städten bereits in den Bund aufgenommen worden waren.82 Meister vom Stuhl wurde dann allerdings doch kein Student, sondern der Apotheker des Waisenhauses, David Madai.83 Von Madai sind mehrere handschriftliche Reden überliefert, die offensichtlich bei der Eröffnung von Logensitzungen gehalten wurden, interessanter für unsere Fragestellung ist aber die Rede eines anderen Bruders, des Philosophen Andreas Weber,84 der im März 1744 als erstes nichtstudentisches Mitglied der Universität der Loge beigetreten war und noch im selben Jahr eine Rede unter dem Titel 78 Sammlung

Neuer Freymäurer-Reden, Oden und Lieder, In Teutsch Und Französischer Sprache Bey Verschiedenen Feyerlichen Gelegenheiten Gehalten In Der Loge Zu Den Drey Weltkugeln Zu Berlin, Berlin 1777 – 1779. 79 Etwa Verner Hans Frederik Abrahamson, Declamationen und Reden über Maurer-Pflichten und bey Feyerlichkeiten. Nebst Maurer-Gedichten [...] Theils verbesserte Auflage, theils bisher ungedruckte Stücke, Kopenhagen 1785. 80 Jakob Friedrich Feddersen, Dreymal drey Reden über die Uebereinstimmung der Freymäurerey mit der Religion, Bremen 1778. 81 Zu den halleschen Logengründungen im 18. Jahrhundert siehe Geffarth, Meumann, Esotericism meets Enlightenment (wie Anm. 48), 55 ff. 82 Auch in anderen Universitätsstädten wie Jena, Göttingen oder Erlangen wurden in den 1740er und 1750er Jahren Freimaurerlogen gegründet; wie in Halle verloren dort aber die Studenten recht schnell die Führungsrolle und mussten die Logenämter alsbald Mitgliedern aus anderen Gruppen überlassen. Vgl. Holger Zaunstöck, Das Milieu des Verdachts. Akademische Freiheit, Politikgestaltung und die Emergenz der Denunziation in Universitätsstädten des 18. Jahrhunderts, Berlin 2010 (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, 5), 114 – 117, 122 f. 83 Zu Madai vgl. Wolfram Kaiser, Werner Piechocki, Die Ärzte-Dynastie der Madai in Halle, in: Communicationes Historia Artis Medicinae 60/61 (1971), 59 – 96. 84 Zu Weber siehe ausführlich Geffarth, The Preaching Philosopher (wie Anm. 27), 184 ff.

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Das Erhabene, worzu die Freymäurerey ihre ächten Schüler führet im Druck publizierte,85 allerdings nicht unter seinem Namen, sondern anonym mit dem Zusatz vorgestellet von dem Bruder Redner – dieses oben näher charakterisierte Amt hatte Weber also offensichtlich inne. Trotz des masonischen Titels handelte es sich aber bei der publizierten Schrift nicht einfach um eine der üblichen Logenreden – freimaurerische Details und Interna waren vielmehr vor der Drucklegung aus dem Text entfernt worden –, sondern um eine Ausarbeitung von Webers philosophischen-religiösen Überlegungen, die in unverkennbarem Zusammenhang mit seinen bald darauf veröffentlichten akademisch-gelehrten Abhandlungen zu diesem Thema standen.86 Dies mag dem Kontext der Universitätsstadt und dem akademisch-studentischen Charakter der halleschen Loge geschuldet sein, es zeigt jedoch deutlich, dass zuerst im logeninternen Raum gehaltene Reden in Einzelfällen durchaus Anspruch auf über diesen hinausreichende Geltung erhoben und inhaltlich weit über den Rahmen anlassbezogener Festreden hinausragten. Seit den 1770er und 1780er Jahren scheinen dann Logenreden und -vorträge häufiger allgemeineren Themen gelehrten Charakters gewidmet worden zu sein. So schreibt Gerlach über Berlin: Die Berliner Freimaurerei verstand sich nicht als eine gelehrte Sozietät, wie etwa die Wiener Loge Zur wahren Eintracht. Doch gab es Anklänge an sie. Johann Christian Krüger etwa hielt am Jahresende 1770 in den Vereinigten Logen gleichsam eine mathematische Vorlesung, und Johann Friedrich Euler, ein Sohn Leonhard Eulers, breitete 1776 seine Kenntnisse über die Antike aus.87

Noch deutlichere Hinweise, dass sich die Freimaurerlogen stärker einer gelehrten Vortrags- und Aufsatzpraxis zuwandten, sind für die thüringische Residenzstadt Gotha bezeugt. Dies mag auf den ersten Blick wenig überraschend klingen, da die dortige Loge „Zum Rautenkranz“ bzw. (seit 1784) „Zum Compaß“ über verschiedene Personen und Mitglieder sowie den Gothaer Herzog Ernst II., der offensichtlich auf die Loge ebenso wie auf die im Spätsommer 1783 gegründete Gothaer Illuminatengruppe Einfluss nahm, eng mit dem Geheimorden verbandelt war.88 Die Protokolle der Loge zeigen indes, dass bereits zwei Jahre vor der Gründung der örtlichen Illuminatenniederlassung – und damit auch vor Beginn der illuminatischen Aufsatzpraxis, dafür aber parallel zu derjenigen der 85 [Andreas

Weber], Das Erhabene, worzu die Freymäurerey ihre ächten Schüler führet, wurde in einer Rede an dem Johannis-Tage 1744 der gerechten und vollkommenen Versammlung derer Freymäurer in Halle vorgestellt von dem Bruder Redner, Halle 1744. 86 Geffarth, The Preaching Philosopher (wie Anm. 27), 186 ff. 87 Gerlach, Berliner Freimaurerreden (wie Anm. 8), 422. 88 Dies geht aus den Logenprotokollen und den Mitgliederverzeichnissen hervor. Vgl. dazu Wolfgang Woelk, Geschichte der St. Johannis Loge „Ernst zum Kompass“ im Orient zu Gotha (vormals „Cosmopolit“ bzw. „Rautenkranz“), Gotha 2002, sowie Simons, Meumann, Bode als ‚Unbekannter Oberer‘ des Illuminatenordens (wie Anm. 3).



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„Gemeinnützigen Privatgesellschaft“89 – der Vorschlag gemacht wurde, in der Loge Vorträge zu vorgegebenen Themen zu halten. In der Zusammenfassung des Protokolls vom 13. Juli 1781 heißt es: M. v. St. [Meister vom Stuhl] bringt in Erwägung, ob sich nicht einzelne Brüder dazu entschließen möchten, an den Logenarbeiten geeignete Vorträge zu halten, sie sollen würdig [sein] und nicht zu Lobhudeleien führen. Die fertigen Aufsätze sollen aber dem Großmeister [Meister vom Stuhl] zur Einsicht vorher vorgelegt werden“.90

Über die Themen dieser Vorträge respektive Aufsätze ist bedauerlicherweise nichts Näheres bekannt, möglichweise deshalb, weil die Protokolle nur in einer Kompilation von verschiedenen handschriftlichen Abschriften überliefert sind. Dennoch zeigt der zitierte Protokollvermerk eindeutig, dass hier eine masonische Vortrags- und Aufsatzpraxis etabliert wurde (oder zumindest werden sollte), die nicht nur von Ferne an die der Wiener Freimaurerloge „Zur Wahren Eintracht“ erinnert, dieser allerdings um mehr als ein Jahr vorausging. Und auch thematisch scheint es eine Verbindung zwischen der Gothaer und der Wiener Vortragspraxis gegeben zu haben: Ausweislich der (kompilierten) Gothaer Logenprotokolle hielt der (wahrscheinlich als Redner amtierende) Prinzen­erzie­ her Johann Gottfried Bohn nämlich am 30. November 1782 aus Anlass des Stiftungsfestes der Loge eine Festrede über den „Verfall und Untergang der ägyptischen Geheimnisse der Eberusinien [sic!] und anderen von jenen abstammenden Verbindungen“.91 Bei den „Eberusinien“ muss es sich allerdings um einen Transkriptionsfehler handeln; wahrscheinlich sind hier die Eleusinischen Geheimnisse gemeint, also der der Göttin Demeter geweihte Mysterienkult von Eleusis, der 1776 von dem Göttinger Philosophen und späteren Illuminaten Christoph Meiners bekannt gemacht und im Illuminatenorden im Zusammenhang mit dessen Gradsystem lebhaft diskutiert worden war.92 Die antiken Mysterien insgesamt93 waren aber nicht nur aus illuminatischer Sicht von (im Wortsinn) hochgradigem Interesse, sondern genauso aus Sicht der Freimaurerei, die darin die historischen Vorbilder ihres eigenen Kultes sah. Dies zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass nur knapp vier Wochen vor Bohns Gothaer Festrede, am 4. November 1782, mit einem thematisch ganz ähnlich klingenden Referat des 89 Vgl.

dazu Anm. 12 sowie den Beitrag von Martin Mulsow in diesem Band. Geschichte der St. Johannis Loge „Ernst zum Kompass“ (wie Anm. 88), 12. 91 Ebd., 14. 92 Christoph Meiners, Ueber die Mysterien der Alten, besonders die Eleusinischen Geheimnisse, in: C.M., Vermischte Philosophische Schriften, Bd. 3, Leipzig 1776, 164 – 342. Zur Rezeption von Meiners‘ Schrift durch Adam Weishaupt und die Diskussion der Eleusinischen Geheimnisse im Orden siehe Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft (wie Anm. 3), 27 ff. 93 Zu den im Folgenden angesprochenen antiken Mysterienkulten siehe Walter Burkert, Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt, München 1990, sowie Marion Giebel, Das Geheimnis der Mysterien. Antike Kulte in Griechenland, Rom und Ägypten, Zürich, München 1990. 90 Woelk,

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Meisters vom Stuhl „Ueber die Mysterien der Aegyptier“ die soeben eingeführten ‚Übungslogen‘ der Wiener Loge „Zur Wahren Eintracht“ eröffnet worden waren.94 Ob dies darauf hindeutet, dass es über die thematische und zeitliche Koinzidenz hinaus eine Verbindung zwischen der Gothaer und der Wiener Vortragspraxis gab, Bohn also vielleicht durch Korrespondenzpartner von Borns Vortrag gehört hatte, muss zum jetzigen Zeitpunkt offenbleiben, die Ähnlichkeiten der Gothaer zu den Wiener Praktiken sind aber unübersehbar. IV. Die Übungslogen der Wiener Loge „Zur wahren Eintracht“ 1782 – 1785 und das Journal für Freymaurer Der seit 1784 als freier Schriftsteller in Wien lebende Johann Pezzl, „besuchender Bruder“ der „Wahren Eintracht“, beschrieb die Übungslogen wie folgt: In den Wintermonaten waren an gewissen Tagen die sogenannten Uibungslogen, welche in öffentlichen Vorträgen bestanden. Drey oder vier Mitglieder lasen je einen selbstgewählten Aufsatz in Prosa oder in Versen, über Gegenstände aus der Geschichte, der Moral, der Prophetie, gewöhnlich auch etwas über die Geschichte der älteren und neueren Mysterien und geheimen Gesellschaften.95

Dank der im Vergleich zu anderen Logen äußerst detailliert überlieferten Dokumentation der Logenaktivitäten der „Wahren Eintracht“ – die Materiallage ist einmalig dicht, da die Logenpapiere von der Polizei beschlagnahmt und durch Kaiser Franz persönlich aufbewahrt wurden96 – ist es möglich, die Erwägungen und Absichten, die zur Etablierung der Übungslogen geführt hatten, sowie die Diskussionen darum minutiös nachzuvollziehen und so den Ort der damit verbundenen Vortrags- bzw. Aufsatzpraxis im freimaurerischen Kontext näher zu bestimmen. Den Vorschlag zur Einrichtung dieser Vortragsveranstaltungen hatte der Meister vom Stuhl, Ignaz von Born, am 21. Oktober 1782 eingebracht. In seiner Begründung heißt es: Die Ausbildung unseres Verstandes, das Fortschreiten in den maurerischen Kenntnissen, welche uns zu Begreifung jener höhern Wissenschaften vorbereiten, und ein ächter Begrif unserer Gesetze selbst sind dazu unentbehrlich.   Meine Pflicht, die ich mit der Würde, welche Sie mir auftrugen, übernahm, fodert, daß ich ihnen in den gewöhnlichen Instruktionslogen die Gesetze, Gebräuche, Zeremonien und die Fragen und Antworten, welche für die verschiedenen Grade unseres Inhalt des später im Journal für Freymaurer veröffentlichen Vortrags siehe Meumann, Zur Rezeption antiker Mysterien im Geheimbund der Illuminaten (wie Anm. 10), 302 f. Vgl. auch Jan Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München u. a. 1996, 478 – 480. 95 Zitiert nach Helmut Reinalter, Ignaz von Born – Freimaurer und Illuminat, in: Reinalter (Hg.), Die Aufklärung in Österreich (wie Anm. 14), 33 – 67, hier 45. 96 Hans Wagner, Die Loge Zur wahren Eintracht, in: Lessing, Übungslogen (wie Anm. 10), 9 – 13, hier 10. 94 Zum



Logenreden und Übungslogen 261

Ordens vorgeschrieben sind, vortrage. Eine trokne Ablesung derselben würde meines Erachtens den gewünschten Nutzen nicht hervorbringen; wir würden uns mit der Schale begnügen, ohne die Frucht, die sie einschliesset, zu versuchen.   Ich bin daher gesinnt, unseren gewöhnlichen Instruktionslogen eine andere, zweckmässigere und feyerlichere Gestalt zu geben, wenn anders Sie, m.m.B.B. [meine Brüder] solche unseren Gesetzen angemessen finden, wenn sie mir Ihren Beystand zusichern und hilfreiche Hand leisten wollen. Bey ihrem Eifer, für die Ehre unseres Ordens beschwöre ich Sie, und fodere Sie auf, mir gegen diesen meinen Entwurf diejenige Einwendungen, und brüderliche Erinnerungen zu eröffnen, welche Sie Ihre geprüfte Einsicht dagegen zu machen heisset. Mit Dank werde ich solche aufnehmen, und nachfolgend diese Pläne abändern, verbessern, oder auch ganz bey Seite legen.97

Sodann legte Born dar, wie er sich die Sache konkret vorstellte: Die Instructionsloge soll am letzten Montage eines jeden Monats folgendermassen geöfnet werden:   Der M.v.St. [Meister vom Stuhl] fängt mit Erklärung einiger unserer Gebräuche, Gewonheiten und Gesetze an, oder trägt einige Fragen aus demjenigen Grade vor, für welchen die Instructionsloge gehalten wird, deren Sinn er aber weitschichtiger erörtert.   Hierauf lesen jene unserer B.B. [Brüder], welche dazu die Erlaubniß angesucht, und erhalten haben, eigene Aufsätze über solche Gegenstände vor, auf deren Kenntniße und Bearbeitung uns unsere Gesetze selbst anweisen.98

Wie er weiter spezifizierte, sollte der „Stof dazu [...] nur aus einer der freyen Künste, aus der Moral, aus der Naturlehre im weitesten Verstande, und aus der Mathematik entlehnet werden [...]“. „Theologische Streitigkeiten, Juristerey, und Dinge welche die politische Staatsverfassung betrefen,“ waren dagegen von der Behandlung ausgeschlossen, „da sie mit der Maurerey in keiner Verbindung stehen“.99 Im Anschluss an diese Vorträge – oder besser: vorgetragenen Aufsätze – sollten „Aufsätze, Briefe und litterarische Aufsätze von Profanen [also Nicht-Freimaurern], die an Mitglieder dieser Loge eingesandt worden sind [...], vorgetragen“ werden. Um aber die Logenmitglieder nicht mit der langatmigen Verlesung von Einsendungen, „welche nur etwa das Lieblingsfach eines oder des andern unserer [Brüder] angehen, [...] zu ermüden“, sollte „aus derley eingeschikten Aufsätzen [...] vorher ein körniger und bündiger Auszug verfasset, und nur dieser vorgetragen, die ganze Ausarbeitung selbst aber in unserem Archive niedergelegt“ werden.100 Zur Verlesung vorgeschlagene Aufsätze müssten daher „wenigstens 8 oder 10 Tage vorher“ eingesandt werden, damit Born als Meister vom Stuhl sie „mit Beyhülfe einiger in eben diesem Fache bewanderter“ Brü 97 Zitiert

nach Lessing, Übungslogen (wie Anm. 10), 21. Offensichtliche Druck- bzw. Transkriptionsfehler wurden anhand des nebenstehenden Faksimiles korrigiert.  98 Ebd., 23.  99 Ebd. 100 Ebd.

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der prüfen könnte.101 Doch nicht nur auf inhaltliche Qualität sollte „bey derlei Aufsätzen“ gesehen werden, sondern auch auf „die Reinigkeit der Sprache“ und „einen faßlichen Vortrag“, „weil auch sogar die Wahrheit, wenn sie mit dem gehörigen Nachdruck vorgetragen wird, gewinnt und leichter Eingang findet“.102 Abschließend schlug Born vor, dass „jene Abhandlungen und Beobachtungen, die zugleich den Profanen als Beiträge zur Erweiterung irgendeiner Wissenschaft, oder zum lehrreichen, und erbaulichen Unterhalte dienen dürften, zum Druck befördert werden“.103 Diejenigen „Abhandlungen und Nachrichten, welche die Naturlehre und Mathematik zum Gegenstande haben“, sollten unter dem Titel „Phisikalische mathematische Abhandlungen der einträchtigen Freunde in Wienn [sic], hingegen jene, welche Moral und andere Wissenschaften betrefen, unter der Aufschrift: Unterhaltungen der einträchtigen Freunde in Wien“ publiziert werden.104 „Aufsätze welche unmittelbar die Maurerey betre­ fen“, sollten dagegen „ohne auch das mindeste davon Profanen mitzuteilen, sorgfältigst in unserem Archiv aufbewahrt werden“.105 Die übrigen Mitglieder der Loge taten ihre Meinung dazu im (anscheinend hierarchisch organisierten) Umlaufverfahren in kürzer werdenden, meist nur wenige Zeilen umfassenden Meinungsäußerungen kund, wobei sie nahezu ausnahmslos den „fürtrefflichen Plan“106 gut hießen. Die Marschrichtung gaben dabei zunächst die beiden ersten, etwas ausführlicheren Stellungnahmen des „Deputierten Meisters“ Ludwig von Anselme und des „Ersten Aufsehers“ Franz Xaver von Stegnern vor.107 Anselme schrieb: Die freien Künste, Naturlehre und Moral, sind nicht nur Haubt Gegenstände unserer königlichen Kunst, sondern sie begründen auch jene Wissenschaften in sich, die dem profanen Menschen und dem Maurer zur Zierde dienen. Alte und junge B.B. [Brüder] werden durch gute Beispiele zu einem thätigeren Geschäft, zu einer Mitwirkung aufgemuntert werden, sie werden sich auf die Wissenschaften verlegen, Sie werden Männer werden, die die Pflichten des Weltbürgers, die das menschliche Herz, die Tugenden, die Laster und deren Beweggründe kennen lernen ….108

Stegnern sekundierte ihm in einer ganz ähnlichen Wendung mit der Bemerkung, dass es seiner Meinung nach „wenige Künste und Wissenschaften giebt, 101 Ebd.,

25. Die Anforderungen hinsichtlich der sprachlichen und rhetorischen Qualität der Vorträge erinnern stark an die diesbezüglichen Bestimmungen der „Prüfenden Gesellschaft“ von 1736. Vgl. dazu die Einleitung, S. 14. 103 Ebd. 104 Vgl. Physikalische Arbeiten der einträchtigen Freunde in Wien. Aufgesammelt von Ignaz Edeln von Born, Wien 1783 – 1788. 105 Lessing, Übungslogen (wie Anm. 10), 25. 106 Ebd., 35 (Bruder Thoren). Andere Brüder bezeichnen den Plan ebenfalls als „vor-“ oder „fürtreflich“ oder sogar „herrlich“ (ebd., 29, 31, 35, 37, 39). 107 Zur Person Anselmes und Stegners siehe ebd., 87 und 99. 108 Ebd., 27. 102 Ebd.



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die nicht theils in einer weiteren, theils in einer näheren Entfernung mit unserer Königl[ichen] Kunst in einiger Verbindung stehen“. Die von Born zur Verlesung geplanten Aufsätze werden auch zur Bildung des Herzens und des Verstandes unserer Br.Br. [Brüder] gar vieles beytragen, und dadurch sogar denjenigen nützlich werden, die bestimmt sind, sich ihre ganze Lebenszeit mit der Schaale, in der unsere Geheimniße eingehüllet sind, zu beschäftigen, theils weil sie zu wenig Eifer haben, nach dem Kern zu suchen, theils weil sie wohl gar die Wirklichkeit des Kerns in Zweifel ziehen.109

Stegnern äußerte darüber hinaus die Zuversicht, dass es Born infolge seiner „ausgebreitete[n] Bekanntschaft [...] mit allen inländischen und auch auswärtigen Gelehrten“ und des Ansehens, „welches er unter denselben genießet“, gelingen werde, sich einen „erforderlichen Vorrath an Vorlesungen und Abhandlungen“ zu verschaffen – eine möglicherweise einen leisen Vorbehalt andeutende Wendung, die mehrere andere Brüder teilten.110 Interessant ist unter den übrigen Einlassungen die des „Bruders [Karl Emanuel von] Riegger“, der „den Plan unsers großen Born“ seiner eigenen Aussage nach mit „wahrer Wohllust“ gelesen hatte und diesen nun in einen direkten Zusammenhang mit dem aufklärerischen Charakter der Freimauerei brachte: Wir sind Freymaurer, wir suchen uns aufzuklären, die Fehler, die uns von unserer Erziehung noch ankleben, zu verbannen und in die Geheimnisse des Wahren tiefer einzudringen; dieses ist meines Erachtens neben anderen vielen guten Dingen der Hauptgegenstand der Maurerey; als wenn wir unseren Verstand durch Ausarbeitung verschiedener Gegenstände, die auch gar keine Verbindung mit der Maurerey haben, aufklären und durch öftere Ablesung, oder Durchlesung verschiedener schriftlicher Aufsätze in welchen Verstand und Kern ist, tiefer eingehen lernen; allgemach und ohne vieler Mühen werden wir in den Wissenschaften, und allgemeinen Kenntnissen zunehmen und diese führen uns ganz gewiß auch zu mehrer Kenntniß der Maurerey.111

Der letzte Satz bezog sich dabei offensichtlich auf das Votum des „K.K. Hofkriegsrats Archivarii Adjunkt[en]“ (und dessen späteren Direktors) Maximilian von Jakobi, der im Gründungsjahr der Loge, 1781, das Amt des Sprechers bzw. Redners bekleidet hatte.112 Jakobi schloss sich ebenfalls Borns Vorschlag an, schränkte aber ein: Nur wünsche ich 1.tens: daß wir uns in der Folge nie von unserer ersten Voraussetzung, daß die Logen, von welchen es sich handelt, M[aurerische] Instructionslogen seyen entfernen, mithin die Aufsätze, welche vorgelesen werden, vorzüglich von der 109 Ebd.

110 Stegnern

schloss sich damit Anselme an, der „von einer hinlänglichen Anzahl von kernigen Vorlesungen und Abhandlungen über verschiedene Gegenstände“ schrieb. Ebd., 27 und 29. Ähnlich äußerte sich auch Jakobi (vgl. unten Anm. 113). 111 Ebd., 43, zu Riegers Person 44. 112 Ebd., 93.

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Maurerey oder von einem mit derselben in der engsten – nicht aber in einer ausgedehnten Verbindung, stehende Gegenstände oder Wissenschaft handeln, damit diese nicht nach und nach das einfache ihres so schönen Instituts verlieren, und in Versammlung einer gelehrten Gesellschaft übergehen.113

Zwei weitere Brüder schlossen sich diesen Bedenken an: Der sachsen-weimarische und markgräfliche-bayreuthische Resident am Kaiserhof und Großmeis­ ter der Provinzialloge von Österreich, Johann Bernhard von Isenflamm, zeigte sich mit Borns Vorschlag zwar einverstanden, äußerte aber einschränkend den Wunsch, „daß die vorzulesenden Abhandlungen auf die F[rei]M[aurerei] einen genauen Bezug haben“.114 Der Bruder Anton von Scharf 115 gab sich überzeugt, dass [w]enn der sehr weiße und rühmliche vorgelegte Plan zu dem abzweket, daß hauptsächlich und vor allem die Maurerisch-Catheketischen Fragen erörtert, und sozu­ sagen erschöpft werden sollen, und anerst hernach andre Gegenstände gewöhlet werden; so verspricht derselbe unsrer ehrwürdig[en] Loge das, was noch keine in Europa erfunden, oder bewerkstelliget hat. Würde aber unbegränzt jedem nächsten noch so gelehrten Gedanken und desselben Ausarbeitung offenes Feld gegeben werden, so bin ich der Meinung des Bruders Jakobi, daß das Hauptziel Schaden leide, und die Maurerey in eine gelehrte Gesellschaft sich umwechseln dürfte.116

Andere Brüder schlugen sich in ihren auf die Kritiker folgenden Voten dezidiert auf Borns Seite und betonten, dass dessen Absicht „gewiß nicht die [sei], unsre Loge in eine gelehrte Gesellschaft zu verwandeln“ (der Arzt Karl Friedrich Grüwel),117 und auch nicht-maurerische Gegenstände „würksame Nebenmittel“ seien, „die uns dem Lichte näher führen“ (Franz Xaver von Orlando, Reichshofratsagent).118 Am deutlichsten wurde Karl Haidinger, Adjunkt am Naturalienkabinett und „ein eifriger Anhänger Borns“:119 ich kenne [...] keinen Unterschied zwischen profanen und Maurerischen Wissenschaften und sehe nicht, warum man fürchtet, die Maurerey aus dem Gesichte zu verliehren, wenn man die Behandlung was immer für einer Wissenschaft sich vorgesetzt hat. Jede Wissenschaft ist Licht, und dieses muß der Maurer suchen. [...] Ich bin daher weit entfernt in diesem Plan unsers hochwürd[igen] Großmeisters auch nur die mindeste Abweichung von dem hohen Endzwecke und der reinen Einfachheit unserer Heil[igen] Ordnung zu befürchten, vielmehr find ich darinnen ganz den Aus113 Ebd.,

35. Unter zweitens zeigte Jakobi sich in Anknüpfung an die eröffnenden Voten Anselmes und Stegnerns überzeugt, dass Born „bevor dieser Plan das Theater der M[aurerischen] Welt betritt, [...] von einem hinlänglichen Vorrat an Aufsäzen und Vorlesungen von der Wirksamkeit der Kräfte der unter seiner weisen Anleitung arbeitenden B.B. [Brüder] [...] gänzlich versichert seyn werde“ (vgl. Anm. 110). 114 Ebd., 37, zu Isenflamm 93. 115 Zu Scharf vgl. ebd., 98. 116 Ebd., 37. 117 Ebd., 35. Zur Person Grüwels 91. 118 Ebd., 39, zur Person Orlandos 95. 119 Zu Haidinger siehe ebd., 45.



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druck seines wahren maurerischen Geistes, und seines thätig-menschenfreundlichen Herzens.120

Obwohl die Kritiker in der Minderheit waren und die Zahl der uneingeschränkt dem Vorschlag beipflichtenden Stimmen bei weitem überwog, verzeichnet das Protokoll für den 29. Oktober 5782 [1782]: 2) Ist beschlossen worden, daß zu den am 4.11. anzufangenden und den ersten Montag jedes Monaths zu haltenden Übungslogen blos Meister zugelassen und darinnen nichts, als Maurerische Gegenstände abgehandelt, die Aufsätze aber von den BB. [Brüdern] Welche etwas ablesen wollen, zuvor dem HW. M.v.St. [Hochwürdigen Meister vom Stuhl] zum Durchsehen gegeben werden sollen.121

Die erste Übungsloge wurde dem Entschluss entsprechend am 4. November 1782 abgehalten. Born selbst eröffnete diese mit dem ersten Abschnitt seines oben erwähnten Vortrags „Ueber die Mysterien der Aegyptier“, „in welcher Er die Aegyptischen Mysterien mit jenen der Maurerei erörtert“. An zweiter Stelle las daraufhin Anton von Scharf, im bürgerlichen Leben Professor der Philosophie an der Wiener Universität,122 der zu denen gehört hatte, die nur maurerische Themen erörtert wissen wollten, eine Abhandlung „Ueber die Kabala der Hebräer“ vor. An dritter Stelle stellte der Bruder Durdon Züge aus Salomons Leben dar. Beschlossen wurde der Reigen mit einer Rede Joseph von Sonnenfels‘ „Von den Einflüssen der Maurerey auf die bürgerliche Gesellschaft“.123 Die zweite Übungsloge fand vier Wochen später, am 2. Dezember 1782, statt; bis Mai 1783 wurden die Veranstaltungen in monatlichem Abstand fortgesetzt (insgesamt also sieben), ebenso im kommenden Winter, in dem es allerdings wie auch im Winterhalbjahr 1784/85 nur sechs dieser Veranstaltungen gab. Die letzten beiden Übungslogen fanden im November und Dezember 1785 statt.124 Insgesamt waren es also 21. Die Behandlung der antiken Mysterienkulte setzte sich dabei über den gesamten Zeitraum fort. Borns Referat zu den „Mysterien der Aegyptier“ erstreckte sich bereits über die ersten drei Zusammenkünfte. Hinzu kamen in der zweiten Übungsloge „einige Beobachtungen über den Karakter und die Mysterien des Kaisers Julian im Vergleich mit der Freimaurerey“ von Josef Holzmeister sowie in der dritten eine Untersuchung über die Magie der alten Perser und die Mithrischen Geheimnisse aus der Feder des Sekretärs Bianchi,125 die dieser in der vierten und fünften Übungsloge fortsetzte. In der achten Übungsloge, die am 8. November 1783 die nächste Wintersaison eröff120

Ebd., 48 f. nach ebd., 51. 122 Wie Anm. 115. 123 Das Protokoll und die Reden sind wiedergegeben bei Lessing, Übungslogen (wie Anm. 10), 52 – 78. 124 Ebd., 80 – 84. 125 Zu Bianchi und Holzmeister siehe ebd., 88 und 92. 121 Zitiert

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nete, „[l]aß Br[uder] Schittlersberg eine vom Br[uder] Michaeler verfaßten [sic] Abhandlung über Analogie zwischen dem alten Christentum und der Maurerey sowohl in Ansehung des Stillschweigens, als der Mysterien“.126 Die nächste (neunte) Übungsloge im Dezember eröffnete dann wieder Born mit einer „Abhandlung über die Mysterien der Indier“, die er im Januar 1784 fortsetzte und in der er laut Protokoll zeigte, dass diese ägyptischen Ursprungs waren, und sie anschließend in Analogie zur Freimaurerei brachte.127 In der elften Übungsloge „ist des Br[uders] Michaeler Abhandlung über die Phönizischen Mysterien abgelesen worden durch den Br[uder] Schittlersberg“, und auch diese wurde wiederum beim nächsten Mal (am 8. März 1784) fortgesetzt.128 Damit trat eine Unterbrechung ein – der nächste Vortrag, wiederum von Born, über die sogenannten Kabirischen Mysterien folgte erst ein gutes Jahr später in der 19. Übungsloge am 11. April 1785. In den beiden letzten Zusammenkünften vom November und Dezember 1785 war das Thema dann aber wiederum präsent: Hier hielt Schittlersberg eine „Vorlesung über den Einfluß der alten Mysterien auf den Flor der Nationen“.129 Neben dem thematischen Cluster zu den Mysterien, die wohl als originä­ res Anliegen Borns anzusehen sind – Jan Assmann spricht von „Borns Mysterienprojekt“130 –, wurden weitere Themen mit esoterischem Bezug abgehandelt: Neben Scharfs Vorlesung über die „Kabala der Hebräer“ in den ersten beiden Übungslogen referierte Born über „die Magie im uneigentlichen Verstande oder über das Geisterbannen (6. ÜL), Karl Leonhard Reinhold über „den Hang zum Wunderbaren“, wobei er zeigte, „daß derselbe in seinem Ursprung verdächtig und in seinen Wirkungen schädlich sey“ (8. ÜL), Haidinger über die Magie (12. ÜL) sowie Kreil über die Neuplatoniker (17. und 18. ÜL).131 Daneben dominierten originär masonische Themen das Feld; die entsprechenden Vorträge widmeten sich der „Wohltätigkeit des Maurers“ (2. ÜL), der Fröhlichkeit (3. ÜL) und der „Schwärmerey in der Freymaurerey“ (4. ÜL) sowie der „Frage, ob etwas Scientifisches oder spekulatives in der Freymaurerey sey“ (4. ÜL); hinzu kamen noch eine „Abhandlung über die Verbindung der Wissenschaften und Künste mit der Freymaurerey“ von Joseph Ernst Mayer (5. ÜL), ein „Versuch über den Maurereid“ (6. ÜL) und ein Vortrag zu den Wirkungen des Zeremoniells (9. ÜL). Dabei kamen auch historische Themen mit besonderem Bezug zum Logen­ 126 Ebd., 127 Ebd. 128 Ebd.

129 Ebd.,

83.

84. Assmann, Das verschleierte Bild zu Sais. Schillers Ballade und ihre griechischen und ägyptischen Hintergründe, Stuttgart, Leipzig 1999 (Lectio Teubneriana, 8), 22. Vgl. auch Meumann, Zur Rezeption antiker Mysterien im Geheimbund der Illuminaten (wie Anm. 10), 294 – 297. 131 Lessing, Übungslogen (wie Anm. 10), 82 – 84. 130 Jan



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wesen zum Vortrag, so die „Geschichte der alten Ritterschaft und ihrer Verwandtschaft mit der Freymaurerey“ (Blumauer, 5. ÜL) oder Kreils Ausführungen über den Bund der Pythagoräer (15. ÜL). Andere Referate beschäftigten sich mit den Ursachen maurerischer Verwiegenheit (Blumauer, 19. ÜL) und dem Ursprung der Tafellogen (13. ÜL), und auch aktuelle ‚politische‘ Themen wie die Verfolgung der Freimaurerei in Portugal (14. ÜL), die Anklagerede des Predigers Fr[ater?] Joseph Toubia gegen die Freimaurerei (11. ÜL) oder die Geschichte der Verfolgung der Freimaurerei (Born, 14. bis 16. ÜL) wurden nicht ausgespart. Schließlich kamen noch einige wenige eingeschickte Reden, Gedichte und Lektüren bzw. Textexegesen hinzu. Wie aus Borns initiativem Vorschlag vom 21. Oktober 1782 hervorgeht, hatte dieser von Anfang an die Publikation der bei den Übungslogen gehaltenen Vorträge im Blick, wobei auch finanzielle Erwägungen im Spiel waren.132 Obwohl sich die Loge am Ende dagegen ausgesprochen hatte, ‚gelehrte‘ Vorträge nichtmasonischen Inhalts zuzulassen, wurden zumindest die Physikalischen Arbeiten ins Leben gerufen.133 Das Escheinen verlief allerdings stockend: das erste Quartalsheft für 1783 erschien zwar noch im selben Jahr, das zweite aber erst 1784 und das dritte und vierte sogar erst 1785. Der zweite Jahrgang (also eigentlich 1784) hatte von vornherein einen noch längeren Verzug; das erste Quartalsheft erschien 1786, das zweite 1787 und das dritte erst 1788134 – möglicherweise eine Folge des Beschlusses, bei den Übungslogen nur Vorträge mit maurerischen Themen zuzulassen. Vielleicht entschlossen sich die Brüder deswegen, auch diese entgegen Borns ursprünglicher Intention – seinem Vorschlag zufolge sollten Beiträge mit explizit freimaurerischem Gehalt gerade nicht der Öffentlichkeit preisgeben, sondern archiviert werden – nun doch zum Druck zu befördern, möglicherweise wiederum in Verbindung mit finanziellen Hoffnungen. Das von 1784 bis 1786 in drei Jahrgängen zu je vier Heften oder eher Bänden erscheinende Journal für Freymaurer wird zum ersten Mal in der achten Übungsloge vom 3. November 1783 erwähnt: Nach geöfneter Lehrl[ings], Gesellen und Meister Loge laß Br[uder] Blumauer eine Vorerinnerung über die Veranlaßung, den Zweck und die eigentliche Bestimmung des Maurer Journals, das die B.B. [Brüder] der Loge zur wahren Eintracht herauszugeben gedenken. Er zeigte, daß auch die Maurerey durch Aufklärung und philosophische Untersuchung, so wie die Religion, mehr gewinnen, als verlieren müsse.135 132 Born

schreibt: „… der Buchhändler aber, dem wir solche [Vorträge] überlassen würden, müßte sich verbinden, dafür eine gewisse mit ihm zu bedingende Summe an unsere Armen Casse zu entrichten …“. Ebd., 25. 133 Die Loge gab darüber hinaus noch die Musikalischen Unterhaltungen der einträchtigsten Freunde in Wien heraus, publizierte mehrere Gedicht- und Liedersammlungen und wirkte am Wiener Musenalmanach mit. Wagner, Die Loge Zur wahren Eintracht (wie Anm. 97), 11 f. 134 Vgl. dazu Abafi, Geschichte der Freimaurerei in Österreich-Ungarn (wie Anm. 16), 291. 135 Lessing, Übungslogen (wie Anm. 10), 82 f.

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Gefüllt wurde das Journal im Wesentlichen mit den Beiträgen der Übungslogen, wie das Inhaltsverzeichnis des ersten Heftes zeigt; hinzu kamen weitere, teils anlassbezogene maurerische Vorträge respektive Aufsätze. Journal für Freymauerer, 1. Jg. (1784), 1. Vierteljahr S. 3:

Vorerinnerung über die Veranlassung, den Zweck, und die eigentliche Bestimmung dieses Journals

S. 17:

Ueber die Mysterien der Aegyptier. Von J. v. B. M. v. St.

S. 135: Von dem Einflusse der Maurerey auf die bürgerliche Gesellschaft, eine Rede von Br. S***s. S. 165: Des Maurers Wort. Eine Rede von Br. B***r. S. 170: Ueber die Wohlthätigkeit des Maurers. Ein Rede von Br. R***y. S. 187: Ueber den Karakter des Maurers S. 195: Eudoxus, oder über das Anhalten und die Bürgschaft. Zwey Gespräche von Br. S***s. S. 227: Gebet eines Freymaurers. Von Br. B***r. S. 235: Die Geburtsfeyer unseres Hochw. Großmeisters von B*n. von den Br. L**n, B***r, und R**y. S. 249: Nachschrift Darüber hinaus wurden im Journal aber auch eigens für die Publikation angefertigte Texte veröffentlicht, so namentlich im letzten Jahrgang des Journals, das Ende 1786, bald nach dem Übergang an die im Zusammenhang mit dem Freimaurerpatent Josephs II. vom Dezember 1785 aus drei Wiener Logen neugegründete Loge „Zur Wahrheit“, sein Erscheinen einstellte, zwei aufeinanderfolgende anonyme Abhandlungen Ueber die Mysterien der alten Hebräer und Ueber die grössern Mysterien der Hebräer. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe,136 stammten diese von dem oben bereits erwähnten späteren Jenaer Philosophieprofessor (und Illuminaten) Karl Leonhard Reinhold, der bis zu seiner Flucht aus dem Wiener Barnabitenkloster im November 1783 Mitglied der Loge „Zur wahren Eintracht“ gewesen war. Dank Reinhold, der danach von Mitteldeutschland aus maßgeblich am Journal mitarbeitete, sind wir über den redaktionellen Prozess zumindest bezüglich der Mysterien-Vorträge gut informiert.137 136 Meumann, Zur Rezeption antiker Mysterien im Geheimbund der Illuminaten (wie Anm. 10). 137 Vgl.

dazu ebd., 299 f.



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Am 19. April 1784 schrieb Born an Reinhold in Leipzig, daß er ihm durch den Baron Mandelsloh,138 der als Geheimer Regierungsrat nach Weimar gehe, ein Manuskript schicken werde, nämlich „Michaelers [in der elften Übungsloge im Februar 1784 vorgetragene] Abhandl[ung] über die phönizischen Mysterien. Schittlersberg hat solche so abgeändert, daß sie in unseren U[e]bungen vorgelesen werde könnten. Mich däucht aber daß er zu viel von dem, was eigentlich zur Historie gehört, weggelassen hat. Sie erhalten das ungeänderte u[nd] das abgeänderte Manuscript, u[nd] wir vertrauen auf Ihre Geschiklichkeit, daß sie dem ganzen Dinge die rechte Forme geben werden.139

Am 9. Juni kam Born noch einmal auf die Angelegenheit zurück: „Arbeiten sie immer für unser Journal; 8 fl [Gulden] für den Bogen ist mehr als sie von einem Buchhändler erhalten können; Mandelsloh bringt Ihnen die phoenicischen Misterien zur Umarbeitung“.140 Bereits zuvor hatte Born Reinhold zur Mitwirkung ermuntert: „Wenn Sie Muße haben, so schiken Sie uns Abhandlungen, Reden, Gespräche oder was Sie immer wollen, für unser Journal; wo die Zensur nicht so strenge ist“.141 Reinholds Überarbeitung der „Phönicischen Mysterien“ erschien 1785 im Journal, ohne Hinweis auf Michaeler, der sich darüber später verbittert beklagen sollte.142 Im April desselben Jahres hielt Born anhand einer Ausarbeitung von Reinhold einen Vortrag Über die kabirischen Mysterien, der anschließend im Journal mit nur schwach verdecktem Hinweis auf Reinholds Autorschaft (als Arbeit des „Br[uders] R**“) erschien.143 Reinhold selbst schätzte die im Journal für Freymaurer erschienenen Arbeiten allerdings eher gering. In einem Brief an Friedrich Nicolai schrieb er: „Wahrscheinlich haben sie diese Abhandlung nicht gelesen denn wahrlich die Abhandlungen in diesem Journale haben für Männer, die an solidere Nahrung gewohnt sind, wenig einladendes“. Dessen ungeachtet war dem Journal – nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht – offensichtlich weit größerer Erfolg beschieden als den Physikalischen Arbeiten.144 138 Christian

Friedrich Karl (Wilhelm) von Madelsloh (Mandelslohe), 1762 – 1818. Sachsenweimarischer Hofjunker und Regierungsassessor, später Regierungsrat in Weimar und Präsident des Appellationsgerichts in Eisenach. Beitritt zur Loge „Zur wahren Eintracht“ am 2.4.1784. Vgl. Karl Leonhard Reinhold, Korrespondenzausgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth, Kurt Hiller, Wolfgang Schrader, Bd. 1: Korrespondenz 1773 – 1788, Stuttgart-Bad Cannstadt 1983, 16, Anm. 12. 139 Ebd., 16 f. (Brief Nr. 2). 140 Ebd., 25 (Brief Nr. 3). Hervorhebungen im Original. 141 Ebd., 18 (Brief Nr. 2). 142 Im Vorwort seines Werkes schreibt Michaeler 1796, daß er diese Arbeit schon vor zehn Jahren begonnen habe, sie ihm „aber nachmahls unter allerhand Aufschubes- und Vorwandes­ arten nicht mehr zurückgegeben“ worden sei. Zitiert nach ebd., 17, Anm. 15. 143 Journal für Freymaurer, 2. Jg. (1785), 3. Vj., 5 – 48. 144 Dass das Journal auch in finanzieller Hinsicht ein Erfolg war, berichtet Wagner, Die Loge Zur wahren Eintracht (wie Anm. 97), 13.

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Wie der diesbezügliche Schriftwechsel mit den Hamburger Logen zeigt, hatten nicht nur die Logen in der Habsburgermonarchie, sondern wohl auch nahezu alle Logen in Norddeutschland das Journal kostenpflichtig abonniert.145 Die Wiener Übungslogen erwiesen sich somit als ein voller Erfolg und dürften damit im gesamten deutschen Sprachgebiet bekannt geworden sein. Möglicherweise regten sie auch andere Logen zur Nachahmung an;146 dies gilt in jedem Fall für die Loge „Zu den Vereinigten Freunden“ in Brünn, die „noch am 24. Dezember 1785“ – also kurz vor der obrigkeitlich verfügten Zusammenlegung mit den anderen Brünner Logen – schrieb, „daß alle ihre Bemühungen dahin gingen, die ‚Wahre Eintracht‘ nachzuahmen, daß sie bereits wöchentliche Lektüre und Arbeitslogen abhielten und eine Wochenschrift zu wohlthätigen Zwecken herausgeben wollten.“147 V. Aufsatzpraktiken in der Freimaurerei um 1800 Wie das Gothaer und vor allem das Wiener Beispiel gezeigt haben, etablierten sich spätestens Anfang der 1780er Jahre – wahrscheinlich weitgehend unabhängig von der gleichzeitigen Aufsatzpraxis der Illuminaten – spezifisch masonische Vortrags- und Aufsatzpraktiken in einzelnen Logen. Darauf, dass diese Entwicklung womöglich noch früher einsetzte und somit die von den Illuminaten Ende der 1770er Jahre etablierten Praktiken möglicherweise ihrerseits Vorläufer oder mindestens Parallelen in der Freimaurerei hatten, weisen die Statuten der ungarischen Drašković-Observanz hin. Dort ist, wie Éva H. Bálasz 1979 im Rückgriff auf Ludwig Abafi berichtete, bereits in den 1770er Jahren die Rede davon, dass das Schreiben von Aufsätzen eine angemessene Unterstützung der freimaurerischen Suche nach Verbesserung und Hilfe sei: „Deshalb solle man auch talentierten, wissenschaftlich begabten Brüdern bestimmte Aufgaben geben. Sie sollten einzelne Probleme untersuchen, darüber Aufsätze schreiben und diese, wenn möglich, publizieren“.148 Umgekehrt orientierten sich die Gothaer Freimaurer nach der Gründung der örtlichen illuminatischen Minvervalkirche 1783/84 ihrerseits offenkundig an den auf die charakterliche Bildung und deren Kontrolle zielenden illuminati145 Staatsarchiv

Hamburg, Bestand 614 – 1/72 (Große Loge) 5.1.10 Nr. 64. Vgl. auch Edith Rosenstrauch-Königsberg, Ausstrahlungen des „Journals für Freimaurer“, in: Balázs u. a., Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa (wie Anm. 14), 103 – 117. 146 Schuler, Die St. Johannis-Freimaurerloge „Zur wahren Eintracht“ (wie Anm. 13), 7, meint, dass die „Arbeitsweise [der Wahren Eintracht] später in ganz Kontinentaleuropa begeisterte Nachahmung fand“, bleibt aber den Beleg dafür schuldig. 147 Wagner, Die Loge Zur wahren Eintracht (wie Anm. 96), 13. 148 Éva H. Balázs, Freimaurer, Reformpolitiker, Girondisten, in: Balázs (Hg.), Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa (wie Anm. 14), 127 – 140, hier 130.



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schen Aufsatzpraktiken.149 1785 führte die Loge eine neue Aufnahmebestimmung ein, derzufolge jeder ‚Suchende‘ „seiner Meldung einen schriftlichen Aufsatz beizufügen [hat], woraus sein Charakter, seine Denkart und seine Fähigkeiten beurteilt werden können“.150 Zugleich wurde ein „Freier Club“ begründet, in dem sich die Mitglieder außerhalb der Loge treffen und womöglich Vorträge austauschen konnten. Nach dem Ende des Ordens ‚recycelte‘ die Loge dann möglicherweise auch Themen aus der illuminatischen Aufsatz- und Vortragspraxis. So schlug der Publizist Rudolph Zacharias Becker 1793 vor, über den Einfluss der Väter auf die Erziehung zu sprechen; am 29. November 1784 hatte dagegen der Hofgärtner Christian Heinrich Wehmeyer, auch er Freimaurer und Illuminat, in der Magistratsversammlung der Gothaer Illuminaten „Über den Einfluss der Mütter auf die Erziehung der Kinder“ gesprochen.151 Auch in den freimaurerischen Reformen um 1800 behielten schriftlich ausgearbeitete Vorträge einen Platz in den Logenarbeiten. Bei den Instruktionslogen der Berliner Loge Royal York bildeten Vorträge und Vorlesungen, die meist die Beamten der Loge hielten, den Schwerpunkt. Die Vorträge „behandelten Themen der Moral, das Ritual des Grades, bisweilen auch die antiken Mysterien und dergleichen“.152 Anders als in der „Wahren Eintracht“ oder bei den Illuminaten gab es jedoch „keine Diskussionen, das Protokoll verzeichnet bei den Vorträgen lediglich Dank und Beifall“.153 Johann Joachim Christoph Bode, der als ‚Unbekannter Oberer‘ die Aufsatzpraktiken der Thüringer Illuminatenniederlassungen über beinahe vier Jahre begleitet und zum Teil auch gesteuert hatte,154 zeigte sich – womöglich eben deshalb – wenige Jahre später in dem von ihm verfassten Nachtrag zu dem Circular-Brief an die deutschen Freimauerlogen eher skeptisch gegenüber dem Nutzen von Vorträgen und Aufsätzen. Im „Ideen und Vorschläge zu einigen Gesetzen für die [Logen] des deutschen Freymaurer-Bundes“ betitelten ersten Abschnitt schrieb er: § 7 Kein Lehrling oder Gesell kann in versammleter [Loge] unaufgerufen einen Vortrag thun, der nicht blos und gerades Weges auf seinen Grad Bezug hätte. Daher eigentlich nur Meister Reden halten können. Ein Gesell oder Lehrling, der eine Rede in der [Loge] halten wollte, müsste solche eine bestimmte Zeit, etwa 8 Tage vorher, dem Meister vom Stuhl schriftlich einreichen, und wenn er dessen videtur erhält, muss er sie wörtlich, ohne Zusatz, ablesen. 149 Vgl. Meumann, Arkanraum und öffentliche Debatte (wie Anm. 17), 215 ff.; Simons, Meumann, Bode als ‚Unbekannter Oberer‘ des Illuminatenordens (wie Anm. 3). Zur Gothaer Minervalkirche vgl. auch Mulsow, Diskussionskultur im Illuminatenorden (wie Anm. 3). 150 Woelk, Geschichte der St. Johannis Loge „Ernst zum Kompass“ (wie Anm. 88), 17. 151 So das in der Gotha Illuminati Research Base einsehbare Protokoll der Magistratsversammlung (URL: https://projekte.uni-erfurt.de/illuminaten/SK15-052, 22.11.2016) 152 Maurice, Freimaurerei um 1800 (wie Anm. 3), 278 f. 153 Ebd. 154 Vgl. Simons, Meumann, Bode als ‚Unbekannter Oberer‘ des Illuminatenordens (wie Anm. 3).

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§ 8. Wer eine Rede abgelesen hat, ist verbunden, solche ins Archiv zu geben, und darf sie nicht ohne Einwilligung der [Logen] Betrauten, oder des Meisters vom Stuhl, drucken lassen. [Anmerkung: Diess ist deswegen nöthig, damit überhaupt nicht so viel von und über die Freymaurerey ins Publikum komme; theils, damit gute Reden anderen [Logen] mitgetheilt, und solche dort, ohne vorher schon bekannt zu seyn, vorgelesen werden können. Flache, alltägliche Deklamationen, oder mit leeren und vieldeutigen Winken und Anspielungen aufgeschmückte Reden, wird der Meister vom Stuhl auf eine liebreiche Art von der Hand zu weisen wissen.]155

In dem Circular-Schreiben, in dem die Antworten verschiedener Logen zusammengefasst waren, war dann aber die „verlässige wechselseitige Mittheilung verschiedener Aufsätze, Reden, Vorschläge, Anfragen, Gesuche, Nachrichten, Warnungen u.d.gl. in wiefern es zum Besten der Menschheit, des Ordens, einer einzelnen [Loge], oder eines einzelnen Bruders gereichet“, ausdrücklich als einer der Zwecke des Bundes genannt. Weiter unten heißt es unter „4. Lehrreiche Aufsätze“: Hierher gehören Vorschläge, Abhandlungen, Reden und dergleichen Aufsätze, wofern sie sich auf Unseren Orden oder andere geheime Gesellschaften, auf Moralität, Vervollkommnung des Menschengeschlechts und Wohl der Menschheit beziehen. Hierin soll die einzige Obliegenheit einer verbundenen [Loge] als solcher bestehen, dasz sie nämlich alle Jahr einen solchen lehrreichen Aufsatz, der jedem Br[uder] eines jeden Grades in einer [Loge] vorgelesen werden kann, einsende, und das sie für diesen so viele andere erhält, so ist schon dadurch der Werth der Union entschieden.156

Vom Enthusiasmus der 1780er Jahre gegenüber Vortrags- und Aufsatzpraktiken ist hier gleichwohl nicht mehr viel zu spüren – Feßler sprach später mit Blick auf die Instruktionslogen sarkastisch von „moralischen Rhapsodien, oder trivialen Hieroglyphendeutungen, oder schülermäßigen Chrien zum Lobe der Freimaurerei“.157 So, wie Reden frühzeitig Teil des Logengeschehens waren, wobei sie von Anfang an im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Geheimnis standen, das heißt konkret an der Schnittstelle von geselligem, nach außen hin sichtbarem oder zumindest nicht verborgenem ‚Logenleben‘, und der arkanen ‚Tempelarbeit‘, die sie unterstützten und deren Teil sie wohl auch bisweilen waren, so gehörten Vorträge und Aufsätze um 1800 selbstverständlich zur Freimaurerei, ohne jedoch als Königsweg zur Aufklärung der Brüder zu erscheinen wie knapp 20 Jahre zuvor. Die Frage, welche Bedeutung das – gesprochene oder geschriebene – Wort gegenüber dem eigentlichen maurerischen Geheimnis, dem Ritual, haben sollte, wurde dabei offensichtlich das ganze 18. Jahrhundert über 155

[J.J.C. Bode], Nachtrag zu dem Circular-Brief an die S.E. Frmr. Erster Abschnitt. Ideen und Vorschläge zu einigen Gesetzen für die [Logen] des deutschen Freymaurer-Bundes. Germanien 5790 [1790], 7 – 8 (Staatsbibibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, auch online verfügbar). 156 Circular-Schreiben. Gotha d. 24ten Juny. 1791 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, auch online verfügbar). 157 Zitiert nach Maurice, Freimaurerei um 1800 (wie Anm. 3), 279.



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immer wieder neu ver- beziehungsweise ausgehandelt und von den einzelnen Logen – und eventuell auch den unterschiedlichen Systemen beziehungsweise in Abhängigkeit von diesen – unterschiedlich beantwortet – letzteres müsste allerdings erst noch systematisch erforscht werden, bevor hier eine belastbare Antwort möglich ist. Wie die Voten der Mitglieder der „Wahren Eintracht“ zu Borns Vorschlag hinsichtlich der Übungslogen zeigen, konnte die Frage nach dem Charakter der Freimaurerei und dem Stellenwert der Beschäftigung mit ‚gelehrten‘ Themen aber offensichtlich selbst innerhalb der einzelnen Logen durchaus umstritten sein. Auch die Frage, ob sich einzelne Logen wie die Gothaer und die „Wahre Eintracht“ in ihren Aufsatzpraktiken aneinander oder an anderen Vorbildern orientierten, kann ohne weitere Forschungen derzeit nicht verlässlich beurteilt werden. Dass sie sich dabei am illuminatischen Vorbild der Pflanzschule als „gelehrter Academie“ ausrichteten, erscheint angesichts der Unterschiede in den Themen und Praktiken aber eher unwahrscheinlich. Eher deutet das Beispiel der ungarischen sowie auch der Berliner Logen im Verein mit der sich um 1780 herum allgemein ausbildenden Aufsatzpraxis – etwa der Gothaer „Gemeinnützigen Privatgesellschaft“ oder der Berliner Mittwochsgesellschaft, die in ihrer Praxis aus ‚internen‘ Vorträgen und deren späterer Veröffentlichung in gesellschaftseigenen Journalen sehr an die „Wahre Eintracht“ erinnern – darauf hin, dass diese Praktiken womöglich einfach ‚in der Luft lagen‘– auch wenn es möglichweise doch konkretere Kontakte und gegenseitige Kenntnisnahmen gegeben haben mag, als wir infolge der Quellenlage wissen. Die Einlassung Anton von Scharfs, dass noch keine Loge „in Europa erfunden, oder bewerkstelliget hat“, was die „Wahre Eintracht“ 1782 mit der Einführung von Übungslogen etablierte, kann jedenfalls kaum als Beleg dafür dienen, dass die Wiener Loge hier innerhalb der Freimaurerei Neuland betrat – es mag darin auch nur die zeittypische Emphase zum Ausdruck kommen. Die Wiener Freimaurerloge „Zur wahren Eintracht“ führte 1782 sogenannte Übungslogen ein, bei denen zuvor schriftlich ausgearbeitete Abhandlungen zu vorgegebenen Themen vorgetragen wurden. Anschließend wurden diese im zwei Jahre später gegründeten Journal für Freymaurer publiziert. Diese – an eine gelehrte Gesellschaft erinnernde – Praxis hat dazu geführt, dass die „Wahre Eintracht“ in der Forschung als Ausnahmeloge im Sinne einer „freimaurerischen Akademie der Wissenschaften“ oder gar eines ‚Laboratoriums der Aufklärung‘ gilt. Der vorliegende Aufsatz unternimmt es dagegen, die Vortrags- bzw. Aufsatzpraxis der Wiener Loge im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts zu kontextualisieren. Reden hatten seit den 1720er Jahren einen festen Platz im Logenleben. Später kamen vermehrt gelehrte Vorträge hinzu, und um 1780 entwickelten auch andere Logen eine spezifisch freimaurerische Vortrags- und Aufsatzpraxis. Der Stellenwert dieser Praktiken für die maurerische ‚Arbeit‘ wurde dabei immer wieder neu ausgehandelt, wie nicht zuletzt das Wiener Beispiel zeigt.

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In 1782 the Viennese lodge “Zur wahren Eintracht” introduced a practice of so called “Übungslogen” (“exercise lodges”). Brethren would read out essays they had composed on given topics. These compositions were eventually published in the lodge’s Journal für Freymaurer, founded two years later in 1784 – an institution which earned the lodge a reputation for being an exception. Die “Wahre Eintracht” is generally seen as a “masonic academy of sciences” or “laboratory of the Enlightenment”. In my article I attempt to contextualize these practices within broader masonic traditions. These practices evolved within the tension between the traditional power of speech and (the more modern) impact of written documents. By the 1720s speeches marking festive occasions were delivered as a regular part of freemasonic life. More general topics were introduced in the course of the 18th century and evolved into an optional practice of written academic compositions in the 1780s – not only in Vienna. The Viennese example is particularly instructive, shedding, as it does, light on the crucial question of whether or not these practices were part of the masonic programme. Dr. Markus Meumann, Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt, Schloss Friedenstein, D-99867 Gotha, E-Mail: [email protected]

Peggy Pawlowski Arkane Belehrung und Menschenführung Zu Stellung und Verwendung essayistischer Formen im Illuminatenorden

I. Ordensaufsätze und ihr Beitrag zum realgeschichtlichen Verständnis des Geheimbundes der Illuminaten Es ist bisher weithin unbeachtet geblieben, dass der Illuminatenorden auf idiosynkratische Weise zur Aufsatzkultur der Spätaufklärung beigetragen hat. Die um diesen Geheimbund seit Mitte der 1780er Jahre immer wieder aufflammenden Verschwörungstheorien haben zwar für anhaltende Faszination gesorgt, sie stellen sich jedoch einer seriösen Betrachtung oftmals entgegen. Gerade im Zeitalter digitaler Medien erfreut sich die Verschwörungshysterie um den Orden einer Popularität von nahezu ungekannten Ausmaßen. So basieren Verleumdung wie auch Verehrung der Illuminaten in der Regel nicht auf verifiziertem, sondern auf vermeintlichem Wissen, dessen enorme Strahlkraft den Blick auf das tatsächlich im Arkanum des Bundes Vorgefallene verstellt. Der Großteil der Rezeption des Ordens findet im Spannungsfeld von gewollter, wahrgenommener und reaktiver Täuschung statt. Dieses Ineinandergreifen verschiedener Grade der Vorspiegelung um das illuminatische Phänomen erschwert sowohl der interessierten Öffentlichkeit wie auch der Forschung das Durchdringen zum eigentlichen Tagesgeschäft des Ordens, denn der überwiegende Teil dessen, was über die Illuminaten in Umlauf gebracht wurde, hat einen Nimbus entstehen lassen, in dem vor allem die sogenannten ‚mythmakers‘ freie Hand haben.1 Das Verfassen von Aufsätzen zur Wissenserweiterung und Charakterschulung wird daher im Allgemeinen nicht mit dem Bund in Verbindung gebracht. Inzwischen, nach intensivem Forschungsinteresse der vergangenen Jahr­ zehnte,2 ist der Illuminatenorden zu einem der am besten erfassten Vertreter 1 Der

bekannteste zeitgenössische Vertreter dieser Gattung ist der Schriftsteller Dan Brown. würde den Rahmen dieses Beitrags gehörig sprengen, eine umfassende Übersicht der dafür verwendeten Literatur sowie des Forschungsstandes überhaupt zu geben. Verwiesen sei deshalb auf die für meine Dissertation herangezogenen Abhandlungen in: Peggy Pawlowski, „… sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken.“ Der Beitrag Johann Adam Weishaupts zur Pädagogik des Illuminatismus, Diss. phil., Jena 2004, 1 – 20, online abrufbar unter: http://www.db-thueringen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-3064/Pawlowski.pdf (abgerufen 2 Es

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des deutschen Geheimbundwesens im 18. Jahrhunderts aufgestiegen. Gaben zu Beginn des 20. Jahrhunderts Arbeiten den Ton an, die, oftmals von masonischen Enthusiasten verfasst, den Orden der Freimaurerei subsumierten, so hat die neuere Forschung auf den sich in den letzten drei Jahrzehnten verfestigenden Verschwörungskult um den Orden reagiert und sich vor allem mit den strukturellen Aspekten befasst. Damit hat sie zumindest einen engeren Kreis um das Phänomen des Illuminatenordens abgesteckt. Die nahezu flächendeckende Erforschung der geographischen Ausbreitung des Ordens, die konzise Auflistung seiner Mitglieder, biographische Skizzen, die Erschließung und Edition großer Teile der bekannten Dokumente sowie Studien zu Gradsystem und Esoterik des Ordens haben jedoch auch „lang eingefahrene Muster“3 entstehen lassen und sind kaum bis in das Innere vorgedrungen. Die zum Teil ans Hagiographische grenzenden Studien vermitteln den Eindruck, der Orden sei den prominenten Mitgliedern Hauptbeschäftigung gewesen. In den meisten Fällen jedoch wurden sie befördert, ohne an der eigentlichen Ordensarbeit teilgenommen zu haben. So ist denn der Illuminatenorden eines Fürstbischofs oder Herzogs ein anderer als der eines niederen Beamten oder hoffnungsvollen Adoleszenten. Den ersteren war er meist ein Tagesordnungspunkt von vielen und mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht der einzige Geheimbund, dem sie angehörten.4 Das Motivationsspektrum für die Teilnahme an der Ordenstätigkeit reichte in dieser Mitgliedergruppe von wohlwollendem Interesse und Förderungswillen bis hin zu verdächtigender Kontrolle. Erst in jüngster Zeit hat man sich punktuell beispielsweise der realgeschichtlichen Wirkung und den Hauptanliegen des Ordens, der praktischen Philosophie und dem Bildungsanspruch sowie dessen ordensinterner Umsetzung zugewandt.5 Letztere konstituieren den originären Beitrag des Illuminatischen und sind Konstanten in einem von aufklärerischer Hast erfassten Unternehmen, das lediglich eine Dekade Bestand hatte. Der Or21. 09. 2015), sowie die aktuelle, im Wesentlichen von Reinhard Markner und Hermann Schüttler zusammengestellte Bibliographie zum Illuminatenorden in The Gotha Illuminati Research Base, dem Webportal des DFG-Projektes „Illuminatenaufsätze im Kontext der Spätaufklärung: Ein unbekanntes Quellenkorpus“ am Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt https:// projekte.uni-erfurt.de/illuminaten (abgerufen 17.01.2016). 3 Martin Mulsow, Diskussionskultur im Illuminatenorden. Schack Hermann Ewald und die Gothaer Illuminatenloge, in: Marian Füssel, M. M. (Hg.), Gelehrtenrepublik, Hamburg 2015 (= Aufklärung 26 [2014]), 153 – 203, 154. 4 Vgl. hierzu die Auflistung zur Mitgliedschaft in Geheimbünden im jeweiligen Eintrag der Ordensangehörigen in: Hermann Schüttler, Die Mitglieder des Illuminatenordens 1776–1787/93, München 1991, sowie der mittlerweile überarbeiteten und ergänzten Online-Version in der ­Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2). 5 Zu nennen wären hier wiederum die Aufarbeitung der Gothaer Illuminatenaufsätze und ihre zukunftsgewandte Bereitstellung im Open Access durch das von Markus Meumann und Olaf Simons unter der Leitung Martin Mulsows bearbeitete Projekt „Illuminatenaufsätze im Kontext der Spätaufklärung“ sowie meine Untersuchungen zur Ordenspädagogik (wie Anm. 2).



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den wird oftmals als festes Ganzes betrachtet und Organisationen mit jahrhundertealten Traditionen an die Seite gestellt, er ähnelte realiter jedoch eher einem Testlauf im Laboratorium der Aufklärung. Es ist daher einer breiteren Öffentlichkeit nur schwer vermittelbar, dass ein Illuminat in erster Linie eingeschworen war, an seiner Vervollkommnung zu arbeiten, wofür von den Ordensoberen beispielsweise das Verfassen von Aufsätzen als geeignetes Mittel angesehen wurde. Fragwürdig bleibt ohnehin, ob der 1776 von Johann Adam Weishaupt gestiftete Orden aufgrund seiner eigentlichen Aktivitäten auf solch beträchtlichen Widerhall gestoßen wäre, wenn nach seinem ab 1785 einsetzenden Niedergang kein politisches Interesse an einer Zurschaustellung bestanden hätte. Weishaupt nutzte anfänglich die Aura des Verschwörertums zum einen, um seine eigentliche Absicht, die Errichtung einer die Zeiten überdauernden Weisheitsschule, dem Zugriff der zumeist rückschrittlich agierenden bayerischen Institutionen von Kirche und Staat zu entziehen, und zum anderen, um sie für geeignete Kandidaten attraktiver zu machen. Der sich nach vergleichsweise kurzer Zeit einstellende Erfolg, der nicht zuletzt auf diesen letzteren Umstand zurückzuführen ist, hat den Sonderling Weishaupt bis zur Implosion des Ordens in einen hybrisartigen Gemütszustand versetzt und zum großen Teil die Geschäfte der Organisation bestimmt. Die bisher primär auf Mechanismen des Untergrundes fixierte Betrachtung der Illuminaten hat die ordensinternen Vorgänge in den Hintergrund gedrängt. So spielte z. B. der Rückgriff auf das Verfassen von Aufsätzen als eine im späten 18. Jahrhundert anerkannte Methode der akademischen Ausbildung für die Umsetzung der Anliegen des Ordens eine entscheidende Rolle. Obwohl lange Zeit weder Strukturen noch Inhalte des Bundes festgelegt waren, entlockte der sich selbst außerhalb seines Systems positionierende Ordensgeneral Weishaupt als Spartacus6 seinen Anhängern ein großes Maß an Vertrauen und unkritischer, fast an blinden Gehorsam gemahnender Gefolgschaft, denn als Ordensgeneral war er lediglich der höheren Leitungsebene bekannt. Mit frappierender Unbekümmertheit glaubte er, Adepten auf Lebenszeit an den Orden binden zu können, wenn sie „in der Ferne einige Größe hoffen“7 könnten. Nicht zuletzt war es ihm dadurch möglich, die weniger spektakuläre Tätigkeit der schriftlichen Auseinandersetzung mit einer gestellten Thematik als Mittel zur Erreichung höherer Einsicht und höheren Wissens durchzusetzen. Das Geheimnis fungierte demnach auch als Motivator zu der weniger imposanten Tätigkeit des Aufsatzschreibens. werden im Folgenden bei Erstnennung eines Mitglieds kursiv erwähnt, sie entstammen der als Arbeitsmittel zum Illuminatenorden unverzichtbaren Liste von Hermann Schüttler (wie Anm. 4). 7 „Instruction der Präfecten oder Local-Obern“, in: [Ludwig Adolph Christian von Grolman], Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo in dem Illuminaten-Orden. Jetzt zum erstenmal gedruckt und zur Beherzigung bey gegenwärtigen Zeitläuften herausgegeben, Frankfurt am Main 1793, 159. 6 Ordensnamen

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Der im öffentlichen Leben als Professor für Kirchenrecht an der Universität Ingolstadt ordinierte Weishaupt bekleidete parallel zu seiner Regentschaft im Illuminatenorden die Position eines akademischen Lehrers – Habitus und Prozedere der Illuminaten waren von diesem Umstand ebenso beeinflusst. Initiierte Mitglieder des Bundes waren von Beginn ihrer Ordenszugehörigkeit an sowohl zur Geheimhaltung als auch zur Verfasserschaft verpflichtet. Neuzugänge waren in der Mehrzahl zunächst eingenommen von dem Initiationsmythos der vermeintlich jahrhundertealten geheimen Organisation, die der Orden vorgab, hinter sich zu haben. Jedoch wurde bereits während der ersten Tuchfühlung mit illuminatischen Initiatoren offenbar, dass der Weg in und durch den Orden an das Einreichen schriftlicher Abhandlungen geknüpft war. Die Vorstellung, Illuminaten könnten aufgrund ihrer erfahreneren Einsichten im Geheimen eine neue Gesellschaftsordnung herbeiführen, stand in Abhängigkeit von ihrer Fähigkeit, sich gewählt und mit Verstand schriftlich und im Vortrag auszudrücken. Weishaupt, der von seiner Studierstube in Ingolstadt aus den Orden dirigierte, hatte, nachdem ihm namhafte Mitglieder zugeflogen waren, allen Grund zu glauben, Bedeutendes für die intellektuelle Entwicklung und Persönlichkeitsbildung seiner Mitglieder geleistet zu haben. Er setzte bei der Komposition der Ordensinstruktionen und Gradtexte bekanntlich auf Eklektizismus, der vornehmlich von seinen eigenen Interessen und Vorlieben gesteuert war. Seine essayistischen Beiträge zum Orden, sein Schriftverkehr sowie auch seine Publikationen sind dementsprechend strukturiert – und so war es der Illuminatenorden. Zu Weishaupts erstaunlichsten Errungenschaften zählt, dass er es vermochte, Persönlichkeiten, die sich bereits vor ihrem Eintritt in den Orden den Anliegen der Aufklärung verschrieben hatten und mehr als Weishaupt selbst wirkungsvoll in Erscheinung getreten waren, in seinen Bann zu ziehen. So schreibt sein wichtigster Mitstreiter Adolph von Knigge, der sich im Orden den Namen Philo gegeben hatte, eine mehr als wohlwollende Einschätzung zu einem von Weishaupt verfassten, als Instruktion gedachten illuminatischen Gradtext in Aufsatzform: „Ich bewundre Ihren herrlichen philosophischen Geist, Ihre Beredsamkeit, und die Geschicklichkeit, mit welcher sie auch die Gedanken andrer großen Köpfe genützt haben“.8 Knigge war anfangs tief beeindruckt vom Anspruch der illuminatischen Lehren, den er in Weishaupts Textproduktion wiederzufinden glaubte. Weishaupt stand nicht nur als mysteriöser Stifter im Mittelpunkt des Ordens, er fungierte ebenso als standardgebende Autoreninstanz. Angesichts von Weishaupts verschwörungstheoretischen Ablenkungsmanö­ vern und den Wirren um das Ordensgebäude nimmt es nicht wunder, dass das eigentliche Ziel der Illuminaten, namentlich eine Schule zur Beförderung der 8 Knigge

an Weishaupt, Nentershausen, 25. – 27. 2. 1782, in: Reinhard Markner, Monika Neugebauer Wölk, Hermann Schüttler (Hg.), Die Korrespondenz des Illuminatenordens, Bd. 2: Januar 1782 – Juni 1783, Berlin 2013, 61 f. (im Folgenden zitiert als Korrespondenz II).



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Weisheit zu sein, oftmals nicht wahrgenommen oder gar übergangen wird. Wenn es auch klare Vorstellungen über den Anspruch der illuminatischen Abhandlungen gab, zeugte das permanente Hinzufügen und Verwerfen von Ideen, die das Ordensgerüst bestimmen sollten, jedoch von keinem guten Führungsstil. Was beim Aufsatzschreiben als geistige Flexibilität gelten kann, hatte in der Realität zur Folge, dass Verbindlichkeit und Nachhaltigkeit von Ordensanliegen aufs Spiel gesetzt wurden. Knigge, der zwar das Grundanliegen des Ordens zu schätzen wusste, hat im Nachhinein auf das Ephemere des Gradsystems und damit quasi auf die Austauschbarkeit der Rituale, die oftmals als das ausschlaggebende Charakteristikum angesehen werden, hingewiesen: Unnütz sind solche Verbindungen ferner von seiten ihrer Würksamkeit, weil sie mehrenteils sich mit elenden Kleinigkeiten und abgeschmackten Cäremonien beschäftigen, eine Bilder-Sprache reden, die alle mögliche Auslegung leidet, nach schlecht durchgedachten Planen handeln, unvorsichtig in der Wahl ihrer Mitglieder sind, folglich bald ausarten, und wenn sie auch anfangs in ihrer Einrichtung Vorzüge vor öffentlichen Gesellschaften haben könnten, nachher dieselben und noch mehr solcher Gebrechen bey ihnen einreißen, über die man in der Welt klagt.9

Seine Erfahrungen hatten ihn zu dem Schluss kommen lassen, dass die Mitgliedschaft in geheimen Gesellschaften eine „Modetorheit“10 sei. Auch wenn man die post-illuminatischen, mit apologetischem Impetus verfassten Schriften prominenter Ordensmitglieder mit Vorsicht heranziehen sollte, sind die „elenden Kleinigkeiten und abgeschmackten Zeremonien“, von denen Knigge spricht, nicht bloße Ausbrüche der Frustration, die ihm zunehmend den Orden verleidete. Er hatte Weishaupt bereits 1782, als der Bund kurz vor seinem Höhepunkt stand, in einem Bericht vom Wilhelmsbader Konvent gemahnt: „Fahren wir aber fort, so in die Kreuz und Quere zu operiren, so sind wir in 3 Jahren gesprengt“11 – eine rhetorische Prophezeiung, die fast so eintrat wie vorausgesagt.12   9 Adolph

von Knigge, Über den Umgang mit Menschen, 3. Teil, 3. erweiterte Auflage, Hannover 1790, 180. 10 Ebd., 181. 11 Knigge an Weishaupt, Bericht vom Monat Thirmeh 1152 [Frankfurt am Main, Ende August 1782], in: Korrespondenz II (wie Anm. 8), 178. Diesem Fazit vorausgegangen waren die folgenden Überlegungen, die verdeutlichen, dass die Organisationsstruktur auf tönernen Füßen stand: „Noch einmal wiederhole ich, was ich nicht genug wiederholen kann: wenn wir a.) Das ganze System ausgearbeitet haben, b.) Wenn jede Provinz ihren Provincial hat, c.) Wenn über 3 Provinzen ein Inspector gesetzt ist, d.) Wenn wir in Rom unsere National-Direction haben: e.) Wenn mit diesen allen die Areopagiten nichts zu thun haben, sondern im Verborgenen das Ruder führen, folglich nicht entdeckt werden können, nicht so sehr mit verdrüßlichen Details überhäuft sind, sondern das System überschauen, verfeinern, in andere Lander ausbreiten, zur rechte[n] Zeit der dirigirenden Classe beystehen können: – Dann, und nicht eher richten wir etwas aus“ (ebd.). 12 Zur wachsenden Frustration und Reaktion Knigges vgl. Christine Schrader, Krise der

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Die im Illuminatenorden kursierenden verschiedenen Aufsatzformen, die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen, vermögen ein realitätsbezogeneres Bild der Ordensinterna zu vermitteln, ebenso verdeutlichen sie den Stand von Theorie und Praxis spätaufklärerischer Textproduktion im Orden. Bemerkenswert ist dabei das Gefälle der Qualität der von den Mitgliedern hervorgebrachten Texte, die von Ungeübtheit im Schreiben bis hin zur Publikationsreife reichen. Es wird hieraus deutlich, dass die illuminatische Aufsatzkultur, als Teil dessen, was einen Illuminaten ausmachte beziehungsweise ausmachen sollte, auf die Veredlung von Verstand und Charakter der Ordensmitglieder hin ausgelegt war. Diese Vorstellung vom Illuminatenorden nimmt sich gegenüber der von einem die öffentliche Gemeinschaft seit Jahrhunderten zersetzenden Verschwörerbund vollkommen anders aus. II. Typologische Beobachtungen zur illuminatischen Aufsatzproduktion Als „Aufsätze“, „Abhandlungen“ oder „Pensa“ war die schriftliche Niederlegung der angeregten und geforderten geistigen Auseinandersetzung Träger der illuminatischen Lehre und Kommunikation. Ordensbrüder sollten vervollkommnete Menschen der Aufklärung sein, denen „man dreist alles geistliche und weltliche Regiment anvertrauen kann“.13 Darauf sollten sie sich mittels schriftlicher Einlassungen in angemessener Weise vorbereiten. Im Zuge der Aufklärung hatte die bereits im 17. Jahrhundert einsetzende Expansion von Aufzeichnung und Verschriftlichung gedanklicher Inhalte nochmals immens an Bedeutung gewonnen. So setzte die akademische Ausbildung am Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend auf die Ausarbeitung schriftlicher Traktate, auch in den höheren Schulen war das Aufsatzschreiben seit etwa 1770 an der Tagesordnung.14 Die Niederschrift der während der Ordenssitzungen besprochenen Inhalte war demnach eine akademische Selbstverständlichkeit. Im Illuminatenorden waren Aufsätze hierarchisch und funktional unterschieden in solche, die von den Leitungsgremien kamen, welche im weitesten Sinne der Orchestrierung des Ordensgebäudes sowie der Motivation und exemplarischen Anleitung der Adepten dienten, und solche, die von den Adepten selbst zu verfassen waren zur Beförderung ihrer geistigen Entwicklung und zur ordensinternen, arkanen Wissensakkumulation. Aufsätze waren das Medium, über das Aufklärung und Neuansatz. Knigges „Geschichte Peter Clausens“ im Spannungsfeld von Geheimbund und Öffentlichkeit, Stuttgart, Weimar 2001, 154 ff. 13 Knigge an Weishaupt, [Frankfurt am Main,] 06. – 10.[02. 1781], in: Reinhard Markner, Monika Neugebauer Wölk, Hermann Schüttler (Hg.), Die Korrespondenz des Illuminatenordens, Bd. 1: 1776 – 1781, Tübingen 2005, 236 (im Folgenden zitiert als Korrespondenz I). 14 Vgl. dazu eingehend den Beitrag von Michael Rocher in diesem Band.



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die Unterweisung der Adepten und die Verständigung der Oberen untereinander abgewickelt wurde. Bereits im Zentrum des sich noch Perfectibilistenorden15 nennenden studentischen Konventikels in Ingolstadt standen Abhandlungen und ihre Zirkulation. Weishaupt begann früh mit der Verteilung seiner in Aufsatzform verfertigten Instruktionen, die zumeist rudimentäre Gradtexte und philosophische Einlassungen enthielten, um die nicht vor Ort ansässigen Mitglieder miteinzubeziehen. Er selbst als der Urheber sowohl der Unternehmung als auch der Inhalte platzierte sich, wie bereits angemerkt, außerhalb des Systems. Die Aufsätze, die er den Ordensmitgliedern zur Instruktion schickte, waren den meisten das einzige Indiz seiner Existenz: Ich schwöre zu Gott, daß ich nichts weiter suche, als meinen Zweck. Dieser ist für mich Hinterhalt und Zuflucht im Unglück, für die Welt aber Bildung guter Menschen, Verbreitung der Wissenschaften, und Schwächung boshafter Absichten. Wenn ich dieses erhalte, so ist es mir gleich viel, ob ich im System der erste, oder der letzte bin. Sie sollen es nicht merken, daß ich dirigiere, außer dadurch, daß ich ihnen meine Aufsätze schicke. Werden solche befolgt, so denke ich, soll die Maschine im Gang erhalten werden. Werden sie nicht befolgt, so ist keine andre Strafe darauf gesetzt, als daß wir vielleicht das nicht erlangen, was wir suchen.16

Die „Ordensmaschine“ stellte also auf das beispielgebende, belehrende Moment ab. Sie gab zwar Normatives vor, hatte im Grunde jedoch keine wirkliche Handhabe zur Einforderung der gestellten Aufgaben. Diese bereits in der Frühphase errungene Einsicht mag als Trost gewirkt haben, wenn die Berichte der Ordensoberen, die bei Weishaupt mehr oder minder regelmäßig einliefen, wiederholt lange Listen von Mitgliedern enthielten, die ihren Ordenspflichten nicht im gewünschten Maße nachkamen.17 Abgesehen von den Schwierigkeiten, die eine funktionierende, flächendeckende Aufsatzproduktion bedeutete, um alle Logen mit aktuellen Texten zu versorgen, war Weishaupt jedoch in einem bis zum Ende der Ordenstätigkeit erfolgreich: den meisten Mitgliedern war er bloß durch seine Aufsatzproduktion bekannt. Den Auftakt der illuminatischen Essayistik bildeten also Darreichungen seitens Weishaupts, später der oberen Leitungsgremien wie Areopag oder Provinzialoberen. Dies waren zumeist Gradtexte, welche bei den jeweiligen Verant15 Die

später als „Illuminatenorden“ tätige Organisation war von Weishaupt zunächst als „Per­fectibilistenorden“ gegründet worden. Die Bezeichnung „Illuminaten“ war Resultat längerer ordensinterner Debatten, nachdem der ursprüngliche Name als unpassend empfunden worden war. Der Terminus „Illuminat“ erscheint von 1778 an regelmäßig innerhalb der Ordenskorrespondenz, zunächst als Gradstufe, später für den gesamten Orden. 16 Weishaupt an Zwackh, Ingolstadt, 24.11. 1778, in: Korrespondenz I (wie Anm. 13), 108. 17 Vgl. hierzu z. B. Knigges Provinzialbericht an Weishaupt vom Sommer 1781, der wie folgt beginnt: „In Edessa [Frankfurt] geht alles auf dem alten Fuße. Agathocles arbeitet nicht, spricht aber desto mehr […]“ (Knigge an Weishaupt, Frankfurt am Main, 11. 07. 1781, in: Korrespondenz I [wie Anm. 13], 343 ff.). Knigges Berichte über Schmerber beinhalten in der Mehrzahl Kritik und Beschwerden.

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wortlichen in den Logen verblieben. Es wurden zudem Manifesten gleichende Traktate, beispielsweise zur Notwendigkeit geheimer Gesellschaften, verfasst, die wiederum entweder aus der Ordenszentrale kamen oder mit entsprechender Erlaubnis von den Oberen vor Ort erarbeitet wurden. Solche Aufsätze unterstützten die Etablierung und Verbreitung der Ordensstruktur. Darüber hinaus kursierten Musteraufsätze, welche die eigentliche Aufgabe, die intellektuelle Auseinandersetzung der Adepten, anregen sollten. Es kam überdies vor, dass dem Schreiben affine Ordensobere Aufsätze zur geistigen Übung ihrer selbst vorlegten. Nicht zuletzt wurde von ihnen erwartet, dass sie eine gewisse Meis­ terschaft im Darlegen ihrer Einsichten erreicht hatten, beziehungsweise, dass sie auf gelehrtem Niveau argumentieren konnten. Die vom Orden dargereichten Texte wurden sowohl privatim während der Treffen von sogenanntem Aufnehmer und Novizen als auch in den Sitzungen verlesen beziehungsweise zum Lesen ausgeteilt und nach Beendigung der Lektüre wieder eingezogen. Es bedeutete einen immensen Aufwand, die zur Anwerbung und Bildung der Mitglieder notwendigen Anleitungen in ausreichender Stückzahl und aktueller Version in Abschrift vor Ort zu haben. Weishaupt kam von Beginn an mit deren Produktion nicht nach. Auch waren die ständig der Umarbeitung und Ergänzung unterworfenen Gradtexte, nach denen gelehrt werden sollte, oftmals nicht auf dem neuesten Stand, so dass Diskrepanzen in der Vermittlung illuminatischer Inhalte auftraten, was zu Ungehaltensein bei Oberen und zuweilen auch Mitgliedern führte.18 18 Vgl.

hierzu z. B. Weishaupts Anweisungen an Hertel (Marius) und Zwackh (Cato) aus der Frühphase der Ordenstätigkeit, mit denen er die eingehenden Forderungen nach höheren Graden und Einsicht ins Gesamtsystem, die ihm berichtet wurden, zu verhindern oder zumindest zu verzögern suchte: „Denken sie also nicht weiter. Ueberreden sie sich, stellen sie sich in die Lage eines, der nichts weiter weiß, als was sie in den Statuten geschrieben haben, und nach diesen arbeiten sie. […] Aus dem Gegenwärtigen müßen wir oft das Zukünftige finden. Unser Personale, die Fähigkeit, Standhaftigkeit, Begnügsamkeit unsrer Leute muß uns das weitere zeigen. Aber da werden viele verdrüßig werden, und davon gehen […] Führen sie Beyspiele vom JesuitenOrden an, wie lang einer warten mußte, um Einsicht zu erhalten. Sagen sie, alle Mitglieder müßten nach und nach auf einerley Gedenkungsart geführt werden; das sey ein Werk der Zeit etc. etc. Weishaupt an Hertel und Zwackh, 17. 04. [1778], in Korrespondenz I (wie Anm. 13), 67 f. Weishaupt spielte auf Zeit, dennoch ging diese Taktik nicht auf, auch späterhin kam es zu ähnlichen Rückmeldungen. Besonders Knigge zeigte sich oftmals recht ungeduldig, da ihm daran gelegen war, den von ihm aufgenommenen Mitgliedern eine funktionierende Organisation zu präsentieren: „Nur bitte ich nochmals dringend mir bald den dirigierenden Minerval-Grad zu schicken, wie er bleiben soll. Denn es macht üblen Eindruck, wenn man dirigierende Minervalen ansetzt, ohne ihnen die ordentliche Anweisung zu geben, und die Constitutio superioris, die wir bis itzt als einen Grad betrachtet haben, ist denn doch nicht so gänzlich befriedigend. Dazu kömmt, daß unter meinen Candidaten Averroes [J. G Wendelstad], Simonides [G. E. von Rüling], Manetho [F. A. Schmelzer], vorzüglich aber Mauvillon (den ich Arcesilaus nennen werde) ziemlich geschwind werden befördert werden müssen – Nicht, daß sie pochen würden, sondern weil es doch billig ist, einen feinen Kopf, der über die ersten Grund-Begriffe hinaus ist, ein wenig



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Den weitaus aufschlussreicheren Teil der Aufsatzkultur im Illuminatenorden in Bezug auf ihre realgeschichtliche Wirkung bilden die von den Adepten auf Geheiß der Oberen eingesandten Pensa. Laut Statut war jedes Mitglied aufgefordert, aktiv an der Aufsatzproduktion des Ordens mitzuarbeiten. So war denn auf beiden Seiten ein Pensum zu erfüllen. Die von den Adepten regelmäßig einzureichenden Aufsätze wurden abverlangt zur Schulung und Verfeinerung ihrer geistigen Kräfte. Sie sollten es den Oberen ermöglichen, sich zunächst einen Eindruck von Kenntnisstand, ethischer Disposition und Denkungsart der ihnen anvertrauten Mitglieder zu verschaffen: „Möchte man z. B. gern wissen, wie jemand über einen Punkt denkt, so lässt man ihn darüber eine Ausarbeitung machen“.19 Pensa riefen die Adepten dazu auf, „selbst reiflicher […] nachzudenken“20 und waren Mittel zur Erprobung ihrer geistigen Kräfte. Durch sie erhielt der Orden in Gestalt des Oberen Gelegenheit, Interessen und Arbeitsweise der ihm Anbefohlenen besser kennenzulernen, ihr Entwicklungspotential zu eruieren und, wenn möglich, zu steuern. Um die Kontrolle über die Vorgänge in den Logen und den Fortschritt ihrer Mitglieder zu haben, bestand ebenso die Notwendigkeit, Inhalte und Debatten sowie das in den Ordensversammlungen Vorgefallene schriftlich festzuhalten, um den höheren Ordensinstanzen davon Bericht erstatten zu können. Diese Praxis der Verschriftlichung, Einsendung und Begutachtung erinnert an den auch heutzutage gebräuchlichen Fernunterricht. In der Frühphase des Ordens gingen die Dinge zunächst keinesfalls geordnet vonstatten, was man recht anschaulich in den überlieferten Dokumenten nachverfolgen kann. Manches Eingesandte wurde nicht einmal quittiert. So erinnert sich Knigge in einem zur Motivierung der Ordensbrüder intendierten Bericht daran, dass selbst er nicht immer eine Rückmeldung auf das von ihm Eingereichte erhalten hatte: Als wir gemeinschaftlich zum O[rden]. angeworben wurden, schickten wir Alle unsere Aufsätze ein. Man antwortete uns anfangs gar nicht, weil, wie man mir nachher geschrieben hat, unsere Aufsätze nichts neues vorzüglich tief geschöpftes enthielten, oder das nicht in den höhern Graden entwickelt würde. Endlich bekam ich Briefe, nicht als wenn meine Abhandlungen besser gerathen wären, sondern weil man mich, der ich von uns Allen am mehrsten Muße hatte, wählte, den Geschäften des O[rdens]. mich zu widmen.21 näher zum Zweck zu führen“ (Knigge an Weishaupt [Frankfurt am Main,] 16.–26. [3. 1781], in: Korrespondenz I [wie Anm. 13], 268 f.). 19 „Unterricht, welchen die Illuminati minoris abschriftlich in die Hände bekommen“, in: [Johann Heinrich Faber (Hg.)], Der ächte Illuminat oder die wahren unverbesserten Rituale der Illuminaten, Edessa [Frankfurt am Main] 1788, 133. 20 Ebd. 21 Knigge an die Frankfurter Illuminaten, [Frankfurt a. M, Ende August 1781], in: Korrespondenz I (wie Anm. 13), 359.

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Es ist nicht verbrieft, inwieweit diese Schilderung den Tatsachen entspricht, insbesondere deshalb nicht, weil sie zur Ermunterung der Adepten herangezogen wurde. Ein möglicher Grund für das Ausbleiben einer Reaktion kann zu diesem Zeitpunkt simples Durcheinander in der Ordenslogistik gewesen sein. Knigge mag mit dieser Schilderung eventuellen Missgeschicken vorgebeugt haben. Immerhin jedoch gehörten Pensa zu den regelmäßig zu erfüllenden Pflichten, die nach Maßgabe der Statuten monatlich auszuarbeiten waren. Idealerweise waren während einer Illuminatenkarriere immer neue Themen und Aspekte zu durchdenken, zu strukturieren sowie in nachvollziehbarer Weise darzustellen. Auch wenn sich aus den Dokumenten posthum ein umfassendes und nahezu schlüssiges Bild über die Intentionen und Typologie der Ordensaufsätze rekonstruieren lässt, war vonseiten der Mitglieder die Erfüllung der gestellten Pensa beileibe keine geradlinige Angelegenheit, der man stetig, so wie von den Oberen angedacht, nachkam. Die Vergabe einer Thematik unterlag dem jeweils zuständigen Oberen, der auf Persönlichkeit und Vermögen des Adepten zu achten gehalten war. Weishaupt ließ in der Regel seinen Oberen aus einem einfachen Grunde freie Hand: „Für das Pensum und Anleiten sorgen Sie; denn sie kennen ihn näher“.22 Meist wurde dem Adepten ein Thema gestellt, es kam jedoch auch vor, dass ihm die Wahl aus mehreren gestattet war oder, dass er sich selbst eines stellen durfte. Mitunter wurde ein Thema auch von mehreren Mitgliedern zugleich bearbeitet.23 Pensa standen vornehmlich im Dienste der Gelehrsamkeit. Sie wurden mit besonderer Sorgfalt ausgewählt, wenn Adepten Defizite hinsichtlich ihres Bildungsstandes aufwiesen. Ein Pensum wurde dann thematisch in Rücksprache mit den Oberen so gestellt, „daß der Recipiendus dadurch mit nöthigen Ideen bekannt werde, die ihm am meisten fehlen“.24 Das zur Abfassung der Aufsätze zur Auswahl stehende thematische Spektrum umfasste philosophische Fragestellungen, zeitkritische Themen, pädagogische Problematiken, Nachforschungen zu historischen Persönlichkeiten, die Interpretation literarischer Werke oder lebenspraktische Anleitungen.25 22 Weishaupt

an Zwackh, [Ingolstadt] 21.03. 1778, in: Korrespondenz I (wie Anm. 13), 49. dazu die Zusammenstellung der Themen und ihrer Bearbeiter unter: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2). 24 Weishaupt an Massenhausen (Ajax), 31.10. 1777, in: Korrespondenz I (wie Anm. 13), 19. 25 Zu den am häufigsten gewählten Themen gehörten „Über die Glückseligkeit“, „Klassen der Irrtümer“ oder auch „Geselliger Zeitvertreib“. Dies lässt bereits Rückschlüsse auf geistigen Anspruch und charakterliche Beschaffenheit der Adepten zu. In seiner Vollständigen Geschichte der Verfolgung der Illuminaten listet Weishaupt weitere mögliche Themen auf. Unter ihnen befanden sich: „In welchem Verhältniß müssen Religion und Staatsverfassung stehen, daß keine der andern schade, und jede das allgemeine Beste hervorbringe?“ oder auch „Welches unter den vielen Büchern, die über die Erziehung geschrieben wurden, ist sowohl in Ansehung der moralischen, als physischen Erziehung das beste und brauchbarste, und warum?“ oder „Was ist in Rousseaus Emile, und Feders Anti-Emile lobens- und tadelswürdig?“ Vgl. hierzu die Tran23 Vgl.



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Auch war darauf zu achten, dass Pensa nicht als eine lediglich akademische Übung absolviert wurden. Ihr praktischer Nutzen sollte dem Orden zugutekommen und ebenso die soziale und sittliche Reifung der Mitglieder in den Blick nehmen. Obere waren darauf eingeschworen, „keine theoretische[n], speculativische[n]“ Themen zu stellen, sondern nur solche, welche wahrhaftig Einfluss auf den Willen, auf die Besserung des Charakters, und auf das gesellschaftliche Band haben, damit die Leute beschäftigt seyen, ihre Fähigkeiten entwickeln, an Ordnung und Fleiß gewöhnt werden, und sich in verschiedene Lagen zu denken lernen.26

Wenn ein Adept keinerlei Neigung aufwies, insistierte man nicht auf das Einreichen von Pensa, insbesondere dann nicht, wenn er für alternative interne Aufgaben geeignet war.27 Auch wenn die offizielle Ordensrhetorik das Gegenteil suggeriert, führte die Organisation kein durchgehend striktes Regiment. Das Hauptaugenmerk lag auf freundschaftlicher Verbundenheit. Nicht jeder fühlte sich zur Darlegung seiner Gedanken oder zu philosophischer Feinsinnigkeit imstande. Hinzu kam eine gewisse Verlegenheit, denn Neulinge vermuteten am Anfang, dass hinter dem Orden eine nicht unbeträchtliche geistige Kraft stand, so zumindest hatte er sich eingeführt. Ein Beispiel davon gibt der von Knigge als Novize aufgenommene und zur Frankfurter Illuminatenloge gehörende Advokat Johann Friedrich Piel, im Orden Carneades, der seinem Ordensoberen und Superior der Frankfurter Minervalkirche, dem Kaufmann Mathias Schmerber, Agathocles, von seinen Einstandsschwierigkeiten berichtet: Und nun, mein Bester, bin ich Ihnen, als meinem nächsten O. Obern Rechenschaft von dem zu geben schuldig, was seit Ihrer Abreise mit mir in Sachen, die auf den O. skription der Übersicht von in der Schwedenkiste aufbewahrten Pensa sowie die Auflistung Weishaupts aus der Schrift Vollständige Geschichte der Verfolgung der Illuminaten in Bayern, Bd. 1: Nebst Beylagen und Materialien für den folgenden Band, Frankfurt, Leipzig [Nürnberg], 1786, übernommen im Anmerkungsapparat meiner Dissertation, Pawlowski, „… sich begnügen“ (wie Anm. 2), 207 ff. 26 [Grolman], Die neuesten Arbeiten (wie Anm. 7), 157. 27 So war dies der Fall für Plinius minor, mit bürgerlichem Namen Sebastian Knorr, in dem Weishaupt Potential sah, das ihn auch ohne die Abgabe von Pensa für die rasche Beförderung empfahl. Er wies daher seinen engen Vertrauten Franz Xaver von Zwackh an: „Mit Pensis müßen sie ihn nicht foltern, denn erstens ist er zu scheu dazu etwas zu schreiben, und weiters ist es auch nicht nöthig, weil ich ohnehin weiß, wie er denkt; er wird aber sicher um so mehr handeln, und sich bemühen, die Leute abzurichten. Zum Censor ist er gebohren“ (Weishaupt an Zwackh, Ingolstadt, 02. 04. 1781, in: Korrespondenz I [wie Anm. 13], 273). Knorrs Laufbahn im Illuminatenorden folgte jedoch nicht dem von Weishaupt vorgesehenen expedierten Weg, sie endete im Minervalgrad. Sein Beispiel verdeutlicht, dass Mitgliedern, denen das Verfassen von Aufsätzen nicht gegeben war, nicht dazu gezwungen wurden. Man hätte dies realiter ohnehin nicht bewerkstelligen können.

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Beziehung haben, vorgegangen ist. Sie verwiesen mich zu weitrer Belehrung an den verehrungwürdigen Philo. Verschiedne Male bin ich in dieser Absicht zu ihm gegangen; und dieser gefällige Menschenfreund hat mich mit der Einrichtung des O. näher bekannt gemacht, und mir verschiedne Aufsätze von Mitgliedern desselben vorgelesen, Aufsätze, die ihren Verfassern viel Ehre machen, die aber auch mich meine Kleinheit empfinden ließen. Dergleichen Tiefgedachtes über das, mir vorgeschriebene Pensum erwarten Sie nicht von mir, mein guter Agathocles. Dies Pensum ist vortreflich gewält, würdig als eine Preisfrage von der angesehensten Akademie aufgegeben, und von dem größten Philosophen beantwortet worden zu sein. Ich kann darüber nur lallen. Indeßen da Sie und Ihre erleuchteten Mitbrüder dabei mehr auf die Absicht – oder vielmehr, da dieselben von niemand mehr fodern, als er zu leisten vermag, so bin ich dieserwegen nicht unruhig. Gleichwol mögt’ ich Ihnen doch gern etwas vorlegen, das Ihrer Aufmerksamkeit nicht ganz unwürdig wäre; daher bitt’ ich mir Zeit dazu zu vergönnen. Bis itzt bin ich durch allerlei Zerstreuungen abgehalten worden, über diesen wichtigen Gegenstand gehörig nachzudenken.28

Piel wollte sich zum einen keine Blöße geben, zum anderen ist es gut möglich, dass diese wohlformulierte Bitte um mehr Zeit für die Ausarbeitung seines Pensums eine höfliche Absage war. Schwierigkeiten mit der Erfüllung der Pensa konnten mannigfaltige Gründe haben, sie reichten von intellektueller Überforderung bis zu den Pflichten eines geschäftigen Berufslebens. Mitunter führte das zu Frustrationen bei den Oberen, die keine wirkliche Handhabe hatten, gegen säumige Adepten vorzugehen. Eine recht bizarre Rückmeldung sandte Knigge Anfang 1781 über das Ausbleiben eines Pensums von Arcadius, wie der Frankfurter Buchhändler und Verleger Johann Carl Brönner mit Ordensnamen hieß: Arcadius hat noch kein Haupt-Pensum ausgearbeitet. Er habe zu viel Geschäfte ist seine Entschuldigung – Ein Mann, der Millionen im Vermögen hat, aber den ganzen Tag wie ein Taglöhner arbeitet, um noch eine Million zusammenzuscharren, welche fremde Leute erben werden.29

Brönner wurde später Quästor der örtlichen Minervalkirche und brachte es in der Ordenshierarchie bis zum Illuminatus minor. Obwohl ein recht aufmüpfiges und in Ordensangelegenheiten oftmals nachlässiges Mitglied, war seine beruf­ liche Stellung von Belang für die publizistischen Ziele des Ordens. Es kam jedoch auch vor, dass Mitglieder die Gelegenheit, sich schriftlich zu einem anspruchsvolleren Thema zu äußern, geradezu gesucht hatten und ohne Umschweife beim Schopfe packten. Der Assessor beim Reichskammergericht Wetzlar, Franz Dietrich von Ditfurth, im Orden Minos, legte solchen Eifer an den Tag. Er war ein recht beflissener Verfasser von Texten, die er selten frei von Selbstbezogenheit im Orden einbrachte, was beispielsweise deutlich wird in seiner Auffassung zu den Ordensaufsätzen, wie er Knigge weitschweifig mitteilt: 28 Piel am Schmerber, Frankfurt am Main, 13. 05. 1781, in: Korrespondenz I (wie Anm. 13), 293. 29 Knigge

an Weishaupt, [Frankfurt am Main,] 6. – 10. [2. 1781], in: Korrespondenz I (wie Anm. 13), 237.



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Das communicirte stimmet fast gäntzlich mit demjenigen überein, was ich schon vorhin darüber, wie man die Maurerey einrichten müße, gedacht habe, wie solches meine vorhin an Br. Broenner eingesendete Aufsätze, besonders der letzte an den Tag legen; Es muste daher meine Freüde darüber um so größer seyn, daß eine gantze, ob zwar mir noch zur Zeit unbekante Gesellschaft, mit mir gleiche Gesinnung und Denkungs-Art hege – Auch dasjenige worüber ich noch zur Zeit nicht urtheilen kann, ist vielleicht meiner itzigen Überzeügung conform, oder bekömt eine solche Wendung, daß ich davon überzeügt werde. Auch ich bin, wie es meine Aufsätze, und zwar der letzte am meisten zeigen werden, ohne alles Vorurtheil; überzeügt daß in allen Wißenschaften eine Menge falscher Sätze, die ich zum Theil schon selbst darin entdeckt habe, als ausgemachte Wahrheiten angebethet werden, prüfe ich nicht nur alles was menschliche auctorität als untrüglich ausgiebt, und worüber zu zweifeln vornehmer und geringer Pöbel erzittert, sondern laße mich auch gerne belehren, ich bin auf keinen Satz in der Welt (den doch meine Meynung allein zur Wahrheit nicht machen kann) eigensinnig – aber ich verlange überzeügung; die ScheiterHaufen, und sonstiger Zwang, in einer freyen in äußere vergängliche Körper befindlichen (ich kann aus Mangel der Überzeügung mit den platonicis nicht sagen, gefangenen) göttlichen Seele, nicht hervorbringen.30

Ditfurth fühlte sich bereits sehr früh dem Leitungsgremium des Ordens zugehörig. Auch war er von der Durchschlagkraft seines Aufsatzschreibens vollkommen überzeugt. Von ihm stammt eine der längsten Abhandlungen, die dem Orden zugingen; Ditfurth schildert darin minutiös auf Dutzenden von Seiten die Ereignisse seines Lebens bis zum Eintritt in die Universität. Schreibeifer dieses Ausmaßes war jedoch eine Ausnahmeerscheinung. Pensa waren nicht nur eingerichtet, um die geistige Entwicklung der Mitglieder und den Austausch von Ideen innerhalb des Ordens anzuregen. Sie waren ebenso Instrument der Menschenführung und wurden daher ausgeschrieben, um die Persönlichkeit des Schreibers zu eruieren. Menschenkenntnis und Erfahrungsseelenkunde als Vorstufe heutiger Psychologie galten als Hauptdisziplinen, in denen der Orden hervorstechen wollte. Pensa waren so zu stellen, dass der zumeist nicht am Ort lebende verantwortliche Obere nicht nur einen Eindruck vom geistigen Vermögen, sondern auch von der Persönlichkeitsstruktur des Verfassers erhielt, um so mögliche Führungsstrategien zu entwickeln. Als Mittel zur Selbstbildung und -prüfung waren Pensa fester Bestandteil des illuminatischen Bildungskonzeptes. Sie waren eingebettet in das Kontrollsystem, das Weishaupt von Beginn an einsetzte, um einen Einblick in die innere 30 Ditfurth

an Knigge, [Wetzlar, Mitte Mai 1781], in: Korrespondenz I (wie Anm. 13), 298. Vgl. hierzu auch folgenden Bericht Knigges an Weishaupt: „Er [Ditfurth] ist eifrig, thätig, und vernünftig, auch strenge redlich, aber ein bisgen geschwätzig und weitschweifig. Man wird gar nicht fertig, wenn er anfängt zu erzählen, wie auch sein q[uibus]. l[icet]. zeugt. Das kömmt aber aus Eitelkeit her; Er hört sich gern selbst. Man muß ihn also immer in Unterwürfigkeit erhalten, nemlich in so weit, daß er nicht die Schwäche des O. merke, sonst will er selbst erfinden, und dazu denkt er nicht tief genug“ (Knigge an Weishaupt [Bericht], Frankfurt, 13. 07. 1781, in: Korrespondenz I [wie Anm. 13], 347).

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Verfassung seiner Anhänger zu erhalten beziehungsweise um diese vermeintlich zu lenken. Obwohl er als Jesuitenzögling Erfahrung mit der extremen Rechenschafts- und Selbstkontrollpraxis der Jesuiten gemacht und sich mehrfach vehement dagegen ausgesprochen hatte, stellte er das Fundament seiner Organisation auf analoge Verfahrensweisen.31 Bevor Aufsätze zu verfertigen waren, verlangte der Orden von den Mitgliedern das Einreichen von Berichten, den sogenannten Quibus Licet,32 in regelmäßigen Abständen, welche der Selbstbeobachtung und -kontrolle dienen sollten. Die Rückmeldung von den Oberen erfolgte in sogenannten Reprochen; diese waren ein Instrument der indirekten Menschenführung, welches als Korrektiv eingesetzt wurde.33 Beide Maßnahmen waren als gegenseitige Ergänzung gedacht und sollten dem Oberen einen verlässlichen Eindruck von Persönlichkeit, geistigem Vermögen und potentiellen Einsatzmöglichkeiten des jeweiligen Mitglieds verschaffen. Diese Art des informativen und edukativen Kommunizierens, die nicht zu Unrecht als Spionagetätigkeit verstanden wurde, kann als einzigartig im Sozietätswesen der Aufklärung gelten. Das Zusammenspiel von Quibus Licet und Aufsätzen bildete ein an buchhalterische Doppik gemahnendes Observierungssystem. In ihm kommen zwei aufklärerische Momente zusammen, die zum Teil die Grenzen des ethisch Vertretbaren überschritten: das im 18. Jahrhundert neu aufgekommene Interesse an der Beschaffenheit des menschlichen Wesens, der Interaktion von Verstand und Seele, sowie das unkritische Vertrauen in die der Kontrolle anheimgegebene aufklärerischen Vernunft. Zweifelsohne hatte diese Art der Kommunikation, die von der Spitze der Ordenspyramide bis hin zu den Novizen weiteren immensen Schreibaufwand bedeutete, der sich insbesondere für die ranghöchsten Oberen potenzierte, ihre Grenzen. Nach einem ausführlichen Bericht an Weishaupt, in dem Knigge, wie von ihm gefordert, detailliert die Vorgänge in der Frankfurter Loge schilderte, schrieb er: „Könnte ich nur ein einziges mündliches Gespräch mit Ew. Wohlgebohren haben! Es ist ohnmöglich alles schriftlich abzuhandeln“.34 Er bot Weishaupt sogar an, die nicht unbeträchtlichen Lasten einer Reise von Frankfurt nach Ingolstadt in Kauf zu nehmen, um eine klarere Vorstellung davon zu erhalten, was man von ihm erwartete. Zu diesem Zeitpunkt, um 1781, die Ordensexpansion war in vollem Gange, war man zumindest dazu übergegangen, ein standardisiertes Dokument, den 31 In

einem Brief an Zwackh vom Dezember 1779 beispielsweise spricht Weishaupt von den Jesuiten als den „ärgsten Feinden“ des Ordens. Über die gesamte Ordensgeschichte ist das Phantom der Societas Jesu unterschwellig präsent, bis hin zu einer fast ordenseigenen antijesu­itischen Rhetorik. Weishaupt an Zwackh, Ingolstadt, 30. 01. 1779, in: Korrespondenz I (wie Anm. 13), 121. 32 Lat.: „wem es gestattet sei“; die Praxis der Q. L. war ironischerweise den Jesuiten abgeschaut. 33 Für detaillierte Ausführungen siehe Pawlowski, „… sich begnügen“ (wie Anm. 2), 131 – 155. 34 Knigge an Weishaupt, Frankfurt a. M., 10. 09. 1781, in: Korrespondenz I (wie Anm. 13), 375.



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sogenannten Vorbereitungsaufsatz, für die Anwerbung der Adepten einzusetzen. Knigge dürfte einer der ersten gewesen sein, die sich dieser Maßnahme bedienten. Diese einem Kandidaten wiederum verlesene Abhandlung wurde als Teil der Statuten zum festen Bestandteil des Gradsystems, der Anwerbung und Prüfung neuer Rekruten vereinheitlichte. Zweck dieser Verfahrensweise war es, sowohl einen Überblick über die Ansprüche des Ordens zu vermitteln als auch die Eignung eines Kandidaten herauszufinden. Der Vorbereitungsaufsatz enthielt in komprimierter Form die programmatischen Ziele des Ordens und gab Orientierung über den Bildungsweg, der mit dem bevorstehenden Noviziat verfolgt werden sollte. Diese Maßnahme, die das Vorgehen der Aufnehmer und Oberen merklich vereinheitlichte und vereinfachte, war vom Leitungsgremium des Ordens konzipiert als Aufruf an den „beßern Menschen“,35 sich anzuschicken zur „Erfüllung seiner Bestimmung“,36 d. h. sich zu einem gefestigten und handlungsfähigen Individuum ausbilden zu lassen. Knigge hielt diese Art der Einführung in den Orden für bedeutsam. Er formulierte in diesem Zeitraum ein Schreiben über die Grundprinzipien des Ordens, das er später von dem Frankfurter Kaufmann Johann Peter Leonhardi, mit Ordensnamen Anacharsis, den er erst im Mai desselben Jahres angeworben hatte, an die Mitglieder der Loge richten ließ. Ihnen wurde dadurch in verdichteter Form noch einmal vor Augen geführt, welchen Weg sie mit Eintritt in den Orden eingeschlagen hatten. Der Vorbereitungsaufsatz als Mittel zur Initiation und ersten Unterweisung erscheint darin als Hauptelement des Ordensprozederes beim Übergang in das Arkanum: Als man Ihnen [sic] zum Orden angeworben hatte, da hat man Ihnen eine sichere Anstalt zum Besten der Welt und eine solche Einrichtungsweise, wie Sie deren noch nicht gefunden haben würden, versprochen. So redet der Vorbereitungs-Aufsatz und alles übrige, was wir etwa von höheren Kenntnissen haben möchten. Darüber hat man sich erklärt, daß es nur der Preiß der Arbeit seyn könne. Als man Sie fragte, was Sie in den Orden suchten? antworteten Sie: Beförderung wahrer menschlicher Glückseligkeit, und Verherrlichung Gottes, und auf die Frage, was Sie von den Orden forderten?: Gelegenheit der Menschheit zu dienen. Das waren vor uns entzückende Aussichten, vor uns die wir unsere größte Wohlfart in Thätigkeit setzten, und keine grössere Verherrlichung Gottes kennen, als wenn man hier unsere Bestimmung erfüllt. Deswegen eifern wir immer gegen diejenige Gesellschaften, welche ihre Mitglieder vor dieses süsse Vergnügen ohnempfindlich machen, dem gemeinen Wesen eine Menge Hände rauben, jeden nicht vorbereiteten Mann glauben machen, er könne in das Innere der Schöpfung eindringen und er könne um ein schönes Naturproduct nicht aus den Augen zu verlieren, unterdessen einen Nebenmenschen im Brunnen hilflos liegen lassen.37 35 „Vorbereitungsaufsatz“, 36 Ebd.

37 Leonhardi

in: [Faber], Der ächte Illuminat (wie Anm. 19), 8.

an die Frankfurter Illuminaten, [Frankfurt am Main, September 1781], in: Korrespondenz I (wie Anm. 13), 378 f.

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Darüber hinaus fungierte der Aufsatz als exemplarische Anleitung, die dem Novizen bei der Abfassung der eigenen Gedanken über eine Themenstellung zur Hand gehen sollte. Obwohl häufig eingesetzt, kam er natürlich nicht in jedem Falle zur Anwendung. Hatte der Kandidat seinem Eintritt in den Orden zugestimmt, seinen Revers eingereicht und war er angenommen worden, so trat er das illuminatische Noviziat an, das einem propädeutischen Kurs im Aufsatzschreiben gleichkam. Er war zunächst verpflichtet, ein Hauptpensum einzureichen, „welches er zum Zeichen seiner Fähigkeit ausarbeiten muß[te]“.38 Das sich daran anschließende Noviziat umfasste verschiedene Einzelübungen, die in regelmäßigen Abständen von den Oberen kontrolliert, ausgewertet und kommentiert wurden. Jeder Novize war verpflichtet „zur Haltung eines diariums“, in dem er Buch über den Transfer von Dokumenten vom und an den Orden führte. Ferner war er beauftragt, einen Bogen Papier bereitzuhalten, bestimmt für folgende Fächer: gesammelte Charaktere, Handlungen und Denkungsart gelehrter und angesehener Männer, alter und neuer Zeiten erhabene Gedanken, Sentiments und Kernsprüche derselben und aus den zum Lesen anbefohlenen Büchern.39

Damit war das zukünftige Themenspektrum für mögliche Abhandlungen, die dann bei Eintritt in den Minervalgrad zu verfertigen waren, bereits abgesteckt. Eine erste Vorübung dazu war „die Abgabe des quibus licet Bogens“40 im Abstand von zwei Wochen. Der Novize, der im gegenseitigen Einverständnis vom Aufnehmer sein alias erhalten hatte, war darüber hinaus angehalten, „Daten zur Biographie des Mannes, dessen Namen man vom Orden verliehen bekommen hat“,41 zusammenzutragen. Zudem waren regelmäßige Lektürestudien zu betreiben, während der Verzeichnisse von gelesenen Schiften erstellt werden sollten. Weishaupt hatte sogar punktuell damit begonnen, geeignete Werke meist moralphilosophischen Inhalts anzuempfehlen. Der sich darauf aufbauende illuminatische Unterricht umfasste spezifische, für diese Stufe des Ordenssystems konzipierte Lernziele und -aufgaben sowie allgemeine Pflichten, wie sie für alle weiteren Grade verbindlich waren. Hauptsächlich jedoch waren sie dem Erlernen der Grundelemente des Verfassens kohärenter argumentativer Texte gewidmet. Die darauf verweisenden, in den allgemeinen Ordensstatuten festgelegten Anweisungen wurden wiederum verlesen. Auf dieser Ordensstufe wurden den Adepten Gradtexte und dergleichen nur in Ausnahmefällen in die Hand gegeben. 38 „ INSTRUCTIO

pro Insinuantibus s. Recipientibus“, in: [Faber], Der ächte Illuminat (wie

Anm. 19), 21. 39 „Instruction für die Insinuanten oder Recepten. Auszug aus den Statuten“, in: [Faber], Der ächte Illuminat (wie Anm. 19), 18 ff. 40 Ebd. 41 Ebd.



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Der Orden weihte seine Mitglieder zunächst also in „Geheimnis“ und Methodik des Verfassens von schriftlichen Abhandlungen ein. Vielen mag es zur Orientierung gedient haben, jedoch muss man sich vor Augen halten, dass die Mehrzahl der Neuaufgenommenen bereits eine meist studierte Profession ausübte und sich mindestens in ihrem dritten Lebensjahrzehnt befand. Diese Art der Bildung war eher für jüngere Zugänge geeignet. Auf dem Reißbrett erscheint die Illuminatenkarriere, wie sie für den Orden der Zukunft gedacht war, wenn vor allem Adoleszenten aufgenommen werden sollten, als vom Aufsatzschreiben abhängig. Die als Propädeutikum im Verfassen von Abhandlungen anmutende Initiationsphase der Illuminaten konzentrierte sich auf die Erlernung von Disziplin und Regelmäßigkeit sowie das Abstraktionsvermögen, es sollte ebenso die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins, die Schärfung des Beobachtungsvermögens und die Ausweitung des sprachlichen Vermögens fördern. Dem Adepten sollten diese Fähigkeiten zur Gewohnheit werden, um für die im folgenden Grad abgeforderten regelmäßig zu verfassenden Pensa gerüstet zu sein. Dieser nächste Grad, der des Minervalen, bildete das Rückgrat des illuminatischen Aufsatzschreibens. Die philosophisch-pädagogische Grundausrichtung des Ordens wird deutlich in der Praxis insbesondere der Minervalversammlung, einer der wenigen als illuminatische Innovation anzusehenden Ordensinstitutionen: „In dieser Klasse verlangt der O[rden]. nur als eine gelehrte Gesellschaft betrachtet zu werden“ welche bestrebt war, dass „Beyspiel und Unterricht das Herz bessern und den Verstand leiten“.42 Das hier ganz klar umrissene edukative Grundziel, basierend auf Entwicklung des sittlichen Bewusstseins sowie Beförderung von Gelehrsamkeit, sollte erreicht werden durch das Verfassen von Aufsätzen in häuslicher Abgeschiedenheit. Diese sollten dann im Ordensverbund angehört, diskutiert und bewertet werden. Der Adept setzte sich zunächst in schriftlicher Form mit einer Themenstellung auseinander, die entweder von ihm selbst vorgeschlagen oder vom Ordensoberen erteilt wurde. Gewonnene Einsichten und Kunstfertigkeit der Darbietung des Verfassten wurden dann von zwei internen Gremien begutachtet, zunächst auf direktem Wege innerhalb der Minervalversammlung und später indirekt durch die schriftlich und zeitverzögert erfolgende Einschätzung der unbekannten Oberen. In diesem arkanen Äquivalent einer akademischen Einrichtung war man demnach mit der eigentlichen Ausbildung eines Illuminaten befasst. Novizen hatten die Organisation, der sie sich zeitlebens verschreiben sollten, bis dahin lediglich außerhalb der Loge in arrangierten Treffen mit ihren Aufnehmern kennengelernt. Als Minervalen wurden sie nunmehr in die Ordensgemeinschaft eingeführt. Bereits während der Initiation wurde die Mitgliedschaft zum Orden verbindlicher, denn der Neuaufzunehmende war gehalten, sich zu dem der Aufklärung verpflichteten Gesinnungskodex des Ordens zu bekennen: 42 „Statuten

für die Minervalen“, in: [Faber], Der ächte Illuminat (wie Anm. 19), 50.

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Ich verspreche […], daß ich alle Gelegenheiten, der Menschheit zu dienen, begierig ergreifen, meine Kenntnisse und meinen Willen verbessern, und meine nützlichen Einsichten zum allgemeinen Besten verwenden wolle.43

Dieses Versprechen wurde vor allem dann im Sinne des Ordens eingelöst, wenn sich der neu eingeführte Minerval ausgiebig der Produktion von Abhandlungen zuwandte. Für die Mitarbeit in den sogenannten Minervalkirchen, die als illuminatische Pflanzschulen angesehen und oftmals als Lesegesellschaften getarnt wurden, war vorgesehen, die im Noviziat erlernten beziehungsweise erprobten Arbeitstechniken ausgiebig zur Anwendung zu bringen. Neben dem Verfassen von Aufsätzen wurde auf deren Darbietung in der Minervalversammlung Wert gelegt. Mit dem Eintritt in diesen Grad, der dem Neuaufgenommenen als Weisheitskult dargeboten wurde – bereits der Name verweist auf die römisch-griechische Denktradition, Minerva als Göttin der Weisheit stand dafür Pate, die Eule war sein Sinnbild –, wurden weitere Anweisungen zur geistigen Auseinandersetzung gegeben. Diese waren jedoch weniger restriktiv als noch im Noviziat und zielten auf das Erlangen geistiger Freiheit sowie die Entwicklung des kritischen Bewusstseins, das es mittels Pensa zu schärfen galt: […] lernet fleißig, […] braucht vorzüglich euren, nicht fremden Sinn; was andere gedacht und gesagt haben, denkt und sagt auf eure Art; […] denkt auf die Ausübung und Anwendung des Gelesenen und Gedachten. Vor allem, forscht den Menschen nicht aus Büchern so sehr, als euch selbst aus der Betrachtung anderer und aus Schlüssen von ähnlichen Umständen auf andere abgezogen.44

Nach dieser recht vagen Direktive sollte die Mitarbeit im Minervalgrad erfolgen.45 Mit der Beförderung in höhere Grade war man nicht gänzlich von der Pflicht zum Verfassen von Abhandlungen befreit. Obwohl sich späterhin das, was schriftlich an den Orden einzureichen war, hauptsächlich auf die Quibus Licet konzentrierte, waren gelegentlich auch Pensa gefordert. Die Beförderung in den Grad des Illuminatus maior erfolgte nach Einreichen des eigenen Lebenslaufes, welcher dem Adepten eine Übung in Selbstkenntnis sein sollte und den Oberen 43 „Ceremonien

bey der Initiation“, in: [Faber], Der ächte Illuminat (wie Anm. 19), 60. für die Minervalen“, in: [Faber], Der ächte Illuminat (wie Anm. 19), 51. 45 Von den einzelnen Minervalkirchen existiert wenig kohärentes Material. Die relativ große Menge an etablierten illuminatischen Pflanzschulen lässt jedoch den Schluss zu, dass in weiten Teilen des deutschsprachigen Raumes sowie an dessen Randgebieten Abhandlungen nach illuminatischer Maßgabe verfasst, eingereicht, diskutiert, kommentiert und bewertet wurden. Wie im nächsten Abschnitt vertiefender dargestellt, sind die erhaltenen Ordensdokumente aus der sogenannten Schwedenkiste, dem Nachlass Johann Joachim Christoph Bodes, des tonangebenden Ordensgenerals in der Spätphase der Illuminaten, ein Glücksfall für die Forschung, da sich anhand ihrer fundierte Erkenntnisse über die Praxis des Aufsatzschreibens und -vortragens in der Gothaer Minervalkirche, aber ebenso ordensweit, ableiten lassen. 44 „Statuten



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zur Erfassung und Zergliederung der Charaktereigenschaften des Kandidaten diente. Im sich daran anschließenden Grad, dem des Illuminatus dirigens, wurde dem Kandidaten zunächst das Verfassen einer biographischen Abhandlung zum eigenen Ordensalias aufgetragen, auch wurden noch ausstehende Pensa eingefordert. Die eigentliche Tätigkeit in diesem Grad bestand jedoch im Sondieren und Referieren der eingereichten Arbeiten der Minervalen. Das Blatt hatte sich gewendet, von den Illuminati dirigentes wurde nunmehr die provisorische Begutachtung des von ihren jüngeren Ordensbrüdern Hervorgebrachten erwartet. Die sogenannten Presbyter auf der untersten Stufe der insgesamt vier Mys­ teriengrade übernahmen die Fortführung dieser Aufgabe. Sie waren gehalten, eine ordensintern anzulegende Akademie zu betreuen. Pensa waren demnach durchaus keine intellektuelle Trockenübung, sie sollten auch einen Beitrag für die Etablierung des angestrebten illuminatischen Wissensmonopols leisten. Die Prüfung der Pensa unterlag hauptsächlich den Mitgliedern dieses Grades. Sie zeichneten verantwortlich für Pflege und Vermehrung des sogenannten catalogus desideratum, der idealerweise den Bestand der Themenstellungen verwalten sollte, auf den der Orden dann bei Bedarf zurückgreifen konnte: Man soll sich sehr viele Fragen notiren, deren Erläuterung wichtig ist, und welche einst könnten aufgeworfen werden, z. E. in dem Fache der practischen Philosophie die Fragen: In wie fern ist der Satz wahr, das alles, was zu einem guten Zwecke führt, auch ein erlaubtes Mittel sey? […] Solche und ähnliche Fragen schickt man an den Decan, der sie unter die verschiednen Minervalkirchen austheilt, wodurch die Zöglinge beschäftigt werden, und manche neue, kühne, brauchbare Idee in unser Magazin kommt.46

Eine besondere Form der Pensa waren die Preisfragen, die nach dem Vorbild akademischer Ausschreibungen den wissenschaftlichen Wettbewerb innerhalb des Illuminatenordens beleben sollten. Sie werden in den Statuten folgendermaßen angekündigt: Um die Mitglieder mehr zum Arbeiten aufzumuntern, und ihre Mühe in etwas zu belohnen, wirft der O. jährlich eine oder mehr Preisfragen auf: Jedem stehet es frey, mitzuarbeiten; der Preis und die Einsendung aber wird nach der Schwere der Frage allemal bey der Aufgabe festgesetzt.47

Preisfragen sollten in ferner Zukunft dem Orden wissenschaftliche Autarkie verschaffen. Der Rückgriff auf diese Art der gelehrten Auseinandersetzung war zum einen eine Prestigeangelegenheit, mit der die Illuminaten sich auf der Höhe der Zeit präsentierten, zum anderen war er eine Steigerung des Anspruchs an die interne Aufsatzproduktion. Diese Einrichtung sollte grundsätzlich die Mitglieder schulen und darüber hinaus verwertbare Ergebnisse liefern, das heißt Druckerzeugnisse, welche die Ordenseinkünfte steigern konnten. Rea46 [Grolman], 47 „Statuten

Die neuesten Arbeiten (wie Anm. 7), 80 f. für die Minervalen“, in: [Faber], Der ächte Illuminat (wie Anm. 19), 47.

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liter hatte dieses Vorhaben, das von manchem als Versprechen der Förderung seiner schriftstellerischen Neigung verstanden wurde, zuweilen unschöne Nebenwirkungen, wie Knigge zu berichten wusste: „Man schickt mir jetzt von allen Ecken Manuscripte, die ich zum Druck befördern muß“.48 Eine vertiefende Studie zu den publizistischen Vorhaben des Illuminatenordens liegt noch nicht vor, dennoch sind gemäß Weishaupts Plan zuweilen illuminatische Pensa veröffentlicht worden.49 Innerhalb der sich anschließenden Mysteriengrade, wenn der Adept sich zum vermeintlich frei denkenden, zum Wohle der Menschheit handelnden Individuum gewandelt hatte beziehungsweise vor der Vollendung dieses Zieles stand, sprach der Orden den neu Eintretenden sein Vertrauen aus. Beispielsweise wurden im Regentengrad, dem höheren der kleineren Mysterien, dem Mitglied in einer Geste der gegenseitigen Anerkennung die von ihm eingereichten Dokumente, darunter seine verfassten Aufsätze, zurückgegeben. Dieser Umstand könnte erklären, weshalb in der Schwedenkiste, dem Nachlass Johann Joachim Christoph Bodes (Aemilius), einer der umfassendsten bekannten Sammlungen illuminatischer Dokumente, neben Ordenskorrespondenz sowie Abschriften und Varianten von Gradtexten lediglich Minervalabhandlungen und kaum andere Aufsatztypen verzeichnet sind. Aufsätze in Form philosophischer Traktate kamen auf dieser insgesamt vier Grade umfassenden Stufe – außer den genannten bestanden die höheren Mysterien aus dem Doceten- sowie dem Philosophengrad – wiederum vonseiten des Ordens zum Einsatz. Sie dienten zur Vervollkommnung der Bildung der für diese Stufe ausgewählten Mitglieder. Die Initiation in diese Grade bestand aus der mehr oder minder habituell gewordenen Verlesung von Abhandlungen. Die Genese dieser Texte hatte sich über einen langen Zeitraum erstreckt und war von einer Verfassergruppe um Weishaupt erarbeitet worden. Die überlieferte Form ohne ritualisierte Einbindung, wie sie Hermann Schüttler im Anhang von Bodes Reisetagebuch nach Frankreich aus dem Jahre 1787 fand,50 lässt erkennen, dass die Abhandlungen zu den Mysterien zwar eingesetzt wurden, sich möglicherweise jedoch nicht im Stadium ihrer Vollendung befunden hatten. Ziel der 48 Knigge

an Weishaupt, Frankfurt am Main, 19./20. [9. 1781], in: Korrespondenz I (wie Anm. 13), 382. 49 Vgl. hierzu einstweilen die Ausführungen von Markus Meumann, Arkanraum und öffentliche Debatte in der Spätaufklärung. Ein illuminatischer Nachtrag zur Mannheimer Kindsmordpreisfrage von 1780, in: Füssel, Mulsow (Hg.), Gelehrtenrepublik (wie Anm. 3), 205 – 236, insbes. 225, und Mulsow, Diskussionskultur (wie Anm. 3), 174 ff., sowie den Beitrag von Olaf Simons in diesem Band. Auch die im Beitrag von John A. McCarthy eingehender besprochene Schrift Ueber das menschliche Herz von Schack Hermann Ewald war wahrscheinlich zuvor im Orden diskutiert worden. 50 Vgl. hierzu: Johann Joachim Christoph Bode, Journal von einer Reise von Weimar nach Frankreich im Jahr 1787, hg. von Hermann Schüttler, München 1994.



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Mysterientexte war es, den Adepten mittels eklektisch zusammengestellter esoterischer, epistemologischer und moralphilosophischer Lehren in einen Geisteszustand zu verhelfen, der sie zu höherer Einsicht befähigen würde. Im Zentrum der Darstellungen, die auf verschiedenen Wegen höheres Wissen zu vermitteln gedachten, wurde der Stand der gesellschaftlichen Entwicklung im Verhältnis zu Religionsausübung, Staatsräson- und Regierungsform sowie innerer Freiheit des Individuums thematisiert. Geheimgesellschaften seien demnach […] allzeit die Archive der menschlichen Rechte, durch sie wird der Mensch von seinem Fall sich erholen, Fürsten und Nationen werden ohne Gewaltthätigkeit von der Erde verschwinden, das Menschengeschlecht wird dereinst eine Familie, und die Welt der Aufenthalt vernünftiger Menschen werden. Die Moral allein wird diese Veränderungen unmerkbar herbeyführen.51

Nach allem, was in den letzten Jahrzehnten zum Illuminatenorden herausgearbeitet wurde, wird deutlich, dass eine Unternehmung, die sich in einer Vielzahl gesellschaftlicher Belange gleichzeitig involvieren wollte, zwangsläufig an ihre Grenzen stoßen musste, auch ohne konspirative Unterstellungen. Der Anspruch, aus dem Arkanum als Gedächtnis und Impulsgeber für die Menschheit zu dienen, zeigt jedoch, was man im Zuge aufklärerischer Begeisterung für menschlich möglich hielt. Was der Orden dessen ungeachtet geleistet hat, wenn auch nur über einen kurzen Zeitraum, ist die Förderung geistiger Strömungen, deren praktische Anwendbarkeit innerhalb eines definierten gesellschaftlichen Rahmens eruiert wurde. Das der Organisationshierarchie immanente, funktional geschiedene System des Verfassens und Rezipierens von Aufsätzen veranschaulicht, dass sich der Orden mit der Wahl seines Bildungs- und Verbreitungsmediums auf der Höhe der Zeit präsentierte und einen originären, wenn auch leicht exzentrischen, Beitrag innerhalb der arkanen wie auch der öffentlichen Aufklärungsdebatte geleistet hat. III. Die Gothaer Illuminatenloge im Spiegel ihrer vorgebrachten Abhandlungen Wenn man die Zusammensetzung der Gothaer Illuminatenloge betrachtet, dann erscheint diese quasi als Miniatur- oder Schattenkabinett des Gothaer Hofes. Es ist nicht vollkommen klar, inwieweit Herzog Ernst in die politische Dimension des Ordens eingeweiht war, da diese die Abschaffung seines Standes durch vorsichtige Unterwanderung vorsah. Ihm mag es Zeitvertreib oder auch informelle Form von Staatsführung gewesen sein, durch die er Vorhaben fördern konnte, die auf offiziellem Wege nicht oder nur unter Schwierigkeiten durchführbar gewesen wären. Dafür hatte er in den Mitgliedern der höheren Ordensränge re51 „Unterricht

im ersten Zimmer“, in: [Grolman], Die neuesten Arbeiten (wie Anm. 7), 68.

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formwillige Entscheidungsträger an seiner Seite. Es ist daher nicht ausreichend, Ernst II. auf bloße Regentenschaft zu reduzieren. Er verstand es, gleichzeitig in mehreren Welten zu agieren, von denen das Führen des Herzogtums nur ein Aspekt, wenn auch der alles verbindende war. Die Verankerung an einem aufgeklärten Hof vermittelt bereits den Eindruck der Besonderheit der Gothaer Illuminatenloge, der Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, im Orden Timoleon, und Bode mehr oder weniger gemeinsam vorstanden. Weishaupt war aus der Ferne mehr als angetan von den nach wenigen Jahren eingehenden Berichten, hatte sich doch nach fast zehnjährigen Querelen eine Ordensgemeinschaft gefunden, die weitestgehend nach den Vorgaben des Ordenssystems und der Statuten vorging. Das vom Illuminatenbund angestrebte Sittenregiment sollte parallel zur bestehenden Herrschaftsform im Arkanum errichtet werden als eine Regierungsform, die allgemein über die ganze Welt sich erstreckt, ohne die bürgerliche Bande aufzulösen, in welcher alle übrigen Regierungen ihren Gang fortgehen, und alles thun können, nur nicht den großen Zweck vereiteln, das Gute wieder über das Böse siegend zu machen.52

Ihm sollte ein Regent vorstehen, der sich wiederum auf moralisch integre und gebildete Männer verlassen sollte. Diese sollten nach der Vorstellung des Ordens die Unterwanderung und indirekte Lenkung gesellschaftlicher Institutionen übernehmen. Die Formierung eines Sittenregimentes nach Weishaupts und auch Knigges Vorstellungen sollte folgendermaßen vonstattengehen: Man muß um die Mächtigen der Erde her, eine Legion von Männern versammlen, die unermüdet sind, alles zu dem großen Plan, zum Besten der Menschheit zu leiten, und das ganze Land umzustimmen; dann bedarf es keiner äußern Gewalt.53

Das gesellschaftliche Miteinander war so umzuformen, „daß keiner über den anderen mehrere Gewalt fordert, als ihm gebührt, daß sich jeder mit dem seinigen begnügt“.54 Es sollten die „Rechte der Menschheit“55 gelten. Das durch den Illuminatenbund einzusetzende und von ihm zu steuernde klandestine Sitten­ regiment sollte die Menschheit allmählich und unbemerkt auf einen tugendhaften Weg führen und gleichzeitig auf die Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten eines jeden sehen. Es sollte der Grundsatz gelten, Menschen zu „regieren, 52 „Allgemeine

Übersicht des ganzen Ordenssystems“, in: [Faber], Der ächte Illuminat (wie Anm. 19), 206 f. 53 Ebd., 208. 54 Weishaupt, Nachtrag zur Rechtfertigung meiner Absichten, Frankfurt, Leipzig [i. e. Nürnberg] 1787, 66. 55 „Allgemeine Übersicht des ganzen Ordenssystems“, in: [Faber], Der ächte Illuminat (wie Anm. 19), 208.



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ohne sie zu beherrschen“.56 Der Weg zu diesem Ziel konnte nur mit Hilfe der Erziehung beschritten werden. Es mussten geeignete Menschen gesucht und gebildet werden, die das Anliegen des Sittenregiments in die Gesellschaft hineintragen konnten. Im Illuminatenorden befanden sich zu diesem Zeitpunkt mehrere Mitglieder, die den Regentengrad erreicht hatten in einer Initiationszeremonie, welcher einer Herrscherkrönung nachempfunden war. Aufgenommen wurde ein Kandidat in den Regentengrad dann, wenn er Weltklugheit mit Freyheit im Denken und Handeln, Vorsichtigkeit mit Kühnheit, Nachgiebigkeit mit festem Sinn, Geschicklichkeit und Kenntniß mit Einfalt und gerader Vernunft, Originalität mit Ordnung, Größe des Geistes mit Ernst und Würde verbindet; wenn er zu rechter Zeit schweigen und reden kan; wenn er mäßig und verschwiegen ist; wenn er zu gehorchen und zu befehlen versteht.57

Damit sollte dem weltlichen Herrscher ein arkaner Gegenpart in Gestalt gleichoder höhergestellter Illuminatenregenten an die Seite gegeben werden. Wenn sich die Gothaer Minervalkirche im Hause von Bruder Cleobulus, des Oberhofgärtners Christian Heinrich Wehmeyer, traf, von dem immerhin eine Anrede zum Jahreswechsel, datiert auf den 27. März 1787, erhalten ist, erschienen vertraute Gesichter. Unter den Mitgliedern befanden sich der Herzog selbst, allerdings nur pro forma,58 sein Bruder August, deren beider Sekretäre Carl Friedrich Christoph Rudorff, Ali, der später als Gothaischer Kommissionssekretär in Buttstädt der dort ansässigen Illuminatenloge als Superior vorstand sowie Augusts Sekretär Christoph Friedrich Chrysostomos Schenk, Robertus Stephanus.59 Es ist fraglich, ob die Prinzenbrüder dem Verfassen von Aufsätzen für sich selbst große edukative Bedeutung beimaßen, nachdem sie diese Art der Übung bereits in jungen Jahren absolviert hatten.60 Immerhin waren sie 56 Ebd.

57 „Nachricht an den Provinzial wegen Ertheilung dieses Grades“, in: [Grolman], Die neue­s­ ten Arbeiten (wie Anm. 7), 114. 58 Als eines der ranghöchsten Mitglieder der Ordensprovinz Sachsen (Ionia) und später des Gesamtordens war Ernst II. aktiv in den oberen Logen- und Provinzialgremien. Die am unteren Ende der Ordenshierarchie befindliche Minervalkirche war für ihn von marginaler Bedeutung. Man erstattete ihm von diesbezüglichen Begebenheiten lediglich Bericht. 59 Von den beiden Sekretären der Prinzen existieren eine Reihe von Pensa, die sich hauptsächlich mit praktisch-philosophischen Inhalten auseinandersetzen, wie sie im allgemeinen Themenkanon angeregt wurden. Schenk zeigte ebenso eine Tendenz ins Künstlerische, zwei seiner Pensa sind überschrieben „Etwas über die Musik“ beziehungsweise „Ein Vergleich zwischen der Malerei und der Beredsamkeit“. Rudorff, der als Vorsteher der Minervalkirche in Buttstädt den Aufbau einer Loge vor Ort anführte, legte seine Ausführungen zumeist den Quibus licet bei. Auch er verfasste hauptsächlich Abhandlungen zu Standardthemen. 60 Herzog Ernst und sein Bruder August waren bereits in Kindertagen, als sogenannte Livres des Questions sowie Livres des Réponses zwischen ihnen und ihrer Mutter kursierten, an die regelmäßige Abfassung argumentativer Texte herangeführt worden. Im Zuge einer sehr indi-

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bereit, dem Orden Probepensa zuzugestehen. Von Ernst II. existiert ein auch in Abschrift vorliegender einseitiger Aufsatz „Über die Wurzel der meisten Irr­ thümer“. Prinz August befasste sich zunächst wie eine Reihe seiner Mitbrüder vor und nach ihm mit Garves Cicero Übersetzung von „Über die menschlichen Pflichten“.61 Kurze Zeit darauf reichte er ein Pensum mit dem Titel „Über Verstand und Gewissen“ ein, das sich thematisch daran anschließt. Erst mehr als ein Jahr später äußert er sich dann zum Thema „Von zwey Classen der Irrthümer“. Bemerkenswert ist, dass Rudolph Zacharias Becker, Henricus Stephanus, eine Replik und Korrektur des Gedankengangs des Prinzen auf diesen Aufsatz vorgenommen hatte, auf die August rhetorisch kontert und Beckers Einwände zum Teil als Kritik annimmt. Der Prinz brachte sich auch danach gelegentlich in die philosophische Debatte ein.62 vidualisierten Prinzenerziehung hatte Herzogin Louise Dorothée, die bekanntlich mit Voltaire korrespondierte und bei der Erziehung ihrer Kinder Rousseausche Gedanken einfließen ließ, selbst Anleitung und Kontrolle ihrer Kinder übernommen. Die Livres oder Cahiers enthielten Aufgaben meist philosophischen Inhalts, die der Herzogin Auskunft über die Lernfortschritte des fürstlichen Nachwuchses geben sollten. Auch waren Ernst und August angehalten, Rechenschaft über ihre Lektüre zu geben. August von Gotha beschreibt seine Erfahrung mit diesem Bildungsexperiment folgendermaßen: „Diese Bücher, die immer von ihren zu meinen und von meinen zu ihren Zimmern transportiert wurden, waren dem Blick all derer ausgesetzt, die französisch lesen konnten. … Ich habe das genau gewußt und tief darunter gelitten, ich bin schamrot geworden und habe jedesmal darüber gemurrt. […] Wenn es eine Lüge gewesen wäre, zu sagen ‚Diese Korrespondenz bereitet mir eine große Freude‘, ‚ich erwarte meine Fragen, um sie zu beantworten, mit liebevoller Beflissenheit‘, ‚ich ziehe es vor, alle meine Vergnügungen fahren zu lassen, um mich mit der Beantwortung der Fragen zu beschäftigen‘ usw., dann ist offensichtlich, daß ich niemals derart gelogen habe oder daß ziemlich bittere Ironie hinter solch schändlicher Liebdienerei sichtbar wird. Aber nichts von alledem trifft zu, und die ständigen Vorwürfe, die ich zu hören bekam darüber, daß ich versäumt hätte, die Bücher zu schicken, beglaubigen dies. Bezüglich meiner Haltung bin ich verkannt worden: meine unmäßigen Lachausbrüche, meine ewigen Sarkasmen, meine Extravaganzen jeglicher Art sprangen in die Augen, ebenso mein Alter. Das eine hätte das andere entschuldigen müssen. Das Vorhaben, aus mir ein Wunder der großen Welt zu machen, ist erfolglos geblieben. Es stand am Himmel geschrieben, daß ich nur ein ganz gewöhnlicher Mensch sein würde“ (Forschungs- und Universitätsbibliothek, ErfurtGotha, Chart. B 1320, Bl. 44, übersetzt von W. Ranke). Unter diesen Gegebenheiten ist es fast erstaunlich, dass August sich überhaupt auf das Verfassen illuminatischer Pensa eingelassen hat. 61 Vgl. dazu ausführlich: Mulsow, Diskussionskultur (wie Anm. 3), 165 ff. 62 Bezeichnend für sein Engagement ist die Entschuldigung, die er vorbringt, um sein Fernbleiben von der Ordensversammlung am 17. August 1785 zu erklären: „Ich bedaure herzlich, daß ich der gütigen Einladung des Br[ude]rs H[enricus] S[thephanus] zufolge, mich heute nicht einzustellen im Stande bin. Ich erwarte die Weimarische Herrschaft, die heute bey mir frühstücken und vielleicht auch noch zu Mittag speisen wird“ (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kultur­besitz Berlin-Dahlem, Freimaurer 5.2. G 39 JL Ernst zum Kompaß Nr. 100 – 119 – Schwedenkiste). – Im Folgenden wird die gängige Kurzform der Signatur in römischen Ziffern, die bereits bei der ersten Sichtung und Ordnung der Dokumente von Carl Lerp festgelegt wurde, verwendet, hier insbesondere: GStA PK, Freimaurer, 5.2. G 39 JL. Ernst zum Kompaß, Gotha, Nr. 112 oder SK XIV Dok. 9, August von Sachsen-Gotha-Altenburg an die Minervalkirche Go-



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Im Wesentlichen bestand die Loge aus höheren Hofbeamten, sowie hoffnungsvollen jüngeren Rekruten, die meist auf Empfehlung von Mitgliedern der oberen Ordenshierarchie aufgenommen wurden. Die Ausrichtung hin zu Erziehung und Bildung, die bereits in den Ämtern, welche die angestammten Mitglieder bekleideten, auszumachen ist, deutet auf das Hauptanliegen der Vereinigung, in der sich die führenden Kräfte im Herzogtum sammeln sollten, um vereint höheren Zielen nachzugehen.63 Es hatten sich also im illuminatischen Sinne die rechten Männer um den weltlichen Regenten versammelt. Am 26. August 1783 beschloss die Gothaer Magistratsversammlung64 der Illuminaten die Etablierung einer Minervalkirche. Es hätte Eulen nach Athen zu tragen bedeutet, hätten diese Mitglieder den klassischen illuminatischen Bildungsweg ausschließlich selbst antreten und sich durch das Verfassen von Pensa bilden wollen. Obwohl der Grundsatz: „Die Erwachsenen aber, müssen alle diese Proben durchgehen“65 galt, stellte der illuminatische Weisheitskult, wie bereits erwähnt, auf die Bildung von Adoleszenten ab. Daher bedurfte es der Anwerbung von Mitgliedern, die mindestens eine Generation unter den Gründungsoberen standen, denn deren Altersspektrum erstreckte sich von den frühen Dreißigern bis fast hin zum 60. Lebensjahr. Man suchte zunächst nach geeigneten Kandidaten im näheren Umfeld der Oberen, interessanterweise wurden die Gothaer Prinzen, die Söhne Herzog Ernsts, dabei nicht in Betracht gezogen. Dennoch wurden auch Verwandte einbezogen wie das Beispiel von Helmolts Sohn, Friedrich Carl Ernst von Helmolt (Guido della Torre) beweist. Der jüngere Helmolt war erst 16 Jahre alt, als er der Gothaer Minervalkirche einen Aufsatz mit dem Thema „Wozu ist der Mensch erschaffen“ vorlegte und am 30. November 1785 wohl auch vortrug. Der Aufsatz schließt folgendermaßen: tha, 17. 08. 1785. Das Dokument ist unter dem Siglum SK14-009 auch online verfügbar in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2). 63 Die Ordensleitung am Beginn der Logentätigkeit setzte sich zusammen aus den bisher genannten sowie dem Kammerherrn, Schloßhauptmann und Schriftsteller Christian Georg von Helmolt, Chrysostomos; dem Prinzeninstruktor Johann Gottfried Bohn, Spanheimius; Johann Ernst Christian Haun, Jacob Thomasius, Direktor des Schulseminars in Gotha ebenso Landschulinspektor; dem Hofmarschallamtssekretär und Redakteur der Gothaischen Gelehrten Zeitung Schack Hermann Ewald; Heinrich August Ottokar Reichard, Wiclef, Hofrat, Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber des Gothaer Hofkalenders, sowie dem gothaischen Kammerherrn und Hofmeister der Prinzen, Joachim Friedrich Ernst von der Lühe, Cato de Uttica, um nur den Kern der Loge zu aufzuführen. 64 Der Beschluss wurde laut Sitzungsprotokoll ratifiziert im Beisein von Bode, unter Vorsitz von Herzog Ernst II. und den Anwesenden Helmolt der Ältere, Wehmeyer und Rudorff. Vgl. dazu: SK XV (wie Anm. 62), Dok. 4, unter SK15-004 online verfügbar in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2). 65 SK XIV (wie Anm. 62), Dok. 3, Abhandlung Allgemeiner Begriff von dieser Gesellschafft, von Lerp August von Sachsen-Gotha-Altenburg zugeschrieben, Variation eines aus der Feder Weishaupts stammenden Schriftstücks zur Orientierung der Mitglieder, s. d., in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2).

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Um aber recht überlegen zu können muß man suchen seiner Seele mannigfaltige und gemeinnützige Kentniße zu verschaffen, und sie so vollkommen als möglich zu machen; dies ist das Vornehmste, das bey der Bildung der Eigenschaften der Seele die ich genannt habe vorausgehen muß. Denn wer keine Kenntniße hat kan nicht richtig denken, nicht überlegen, nicht richtig wollen, und nicht mit Klugheit und Standhaftigkeit handeln; und ein solcher Mensch unterscheidet sich wenig vom unvernünftigen Thiere.66

Es wird offenbar, dass Helmolt eine solche Aufgabe zuvor fast überhaupt nicht gestellt bekommen hatte. Zwar schlägt er sich wacker, doch ist der intellektuelle Gehalt sowie die Art der Sprachwahl seines Pensums nicht geeignet, um po­ten­ tiell in den Wissenskatalog der illuminatischen Akademie aufgenommen zu werden.67 Zu diesem Zeitpunkt hatte er zudem bereits mehrere Pensa eingereicht, was von nur geringem Fortschritt seiner Fähigkeiten als Verfasser zeugt. Dies entging auch den Mitgliedern der oberen Ränge nicht. Gleich zwei unbekannte Ordensobere reagierten darauf. Bode, der als letzte Instanz weisungsbefugt war, sowie der unmittelbar vorgesetzte Rudolph Zacharias Becker, von Hause aus Pädagoge, der gerade aus dem Basedowschen Philanthropin in Dessau in Gotha angekommen war und begierig jede Gelegenheit zum pädagogischen Handeln ergriff. Er berichtet seinen Eindruck von Helmolts Vortrag in seinem Quibus licet an den geheimen Menschenführer Basilius, eine lenkende Ordensfunktion, die in Gotha vornehmlich Bode ausübte.68 Nach Beckers Einschätzung finge Helmolt […] jetzt einmahl an, auf seine Bestimmung aufmerksam zu werden. Zum ersten Mahl habe ich 8 Tage lang Eifer und Fleiß an ihm bemerkt. Ich habe ihn sogleich auf einem vertraulichen Fuß behandelt, seine Arbeit gebilligt, und gefunden, daß es fruchtet – wofern anhaltende Nachfrage und Erinnerung zu Hülfe käme. Ich wage es daher die E[rlauchten].O[beren]. zu bitten, ihn wegen seiner letzten Vorlesung von der Bestimmung des Menschen einigen Beyfall zubringen. So unvollkommen sie an sich selbst ist: so verdient sie es doch in Ansehung seines darauf verwandten Fleißes. Und dann ersuche ich dieselbe, den jungen Mann oft daran zu erinnern, daß er das nicht hat, was dem Menschen seinen Werth giebt, und daher anhaltend fleißig sein muß.69

Obwohl sich in den Dokumenten der Schwedenkiste keine direkte Replik zu diesem Vorschlag Beckers finden lässt, hatte Bode schon früher dem jüngeren XIII (wie Anm. 62), Dok. 54, Pensum Guido della Torre (F. C. E. von Helmolt), Wozu ist der Mensch erschaffen?, in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2). 67 Die Bearbeiter des Erschließungsprojektes, Olaf Simons und Markus Meumann, merken dazu an: „Naiv verfasster Aufsatz“ (ebd.). 68 Vgl. auch die diesbezüglichen Ausführungen in: Pawlowski, „… sich begnügen“ (wie Anm. 2), 133–146. Becker war wahrscheinlich nicht darüber im Bilde, dass sich Bode hinter der Figur des Basilius verbarg. 69 SK XI (wie Anm. 62), Dok. 531, Quibus licet Henricus Stephanus (R. Z. Becker) 30.11. 1785, in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2). 66 SK



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Helmolt ermunternd zugesprochen. Es hat den Anschein, als wäre ein gewisser Fortschritt in dessen Haltung seinen Aufgaben gegenüber zu bemerken. Bode hatte ihm fast ein Jahr vorher geraten, sich in stetiger Auseinandersetzung mit seiner Gedankenwelt und deren schriftlicher Niederlegung zu befassen, auch wenn dies mit Schwierigkeiten verbunden sein sollte: Ich lobe gerne Ihren Fleiß, noch mehr Ihre Wahl, guter Gedanken und Grundsätze, welche aus den Auszügen, die Sie aus Campens Theophron gemacht haben, hervor leuchtet. Am liebsten aber möchte ich Ihren Fleiß in eigenen Arbeiten und Aufsätzen loben. So sehr ein junger Mann der Warnung bedarf, mit seinen Geistes Arbeiten nicht zu früh in der Welt öffentlich aufzutreten, so nützlich ist es ihm, sich zeitig zu gewöhnen, seine Gedanken in der ihm möglich deutlichsten Ordnung zu Papier zu bringen, und darüber den Rath und die Erinnerung erfahrener Freunde einzuziehen. Sie sind so glücklich, solcher Freunde, mehr als Sie wissen, in Ihren O[rden]s Brüdern zu haben. Sie brauchen sich nicht zu säuern, wenn Ihre Aufsätze anfangs nicht fehlerfrey gerathen sollten! Versuche können nicht gleich Meisterstücke seyn; aber Uebung macht den Meister!70

Hier zeigt sich recht eindrucksvoll, wie der Orden zu lenken gedachte. Sowohl Becker als auch Bode waren sich im Klaren darüber, dass dieser Kandidat zu dem Zeitpunkt nicht das gewünschte Potential für einen Aufstieg in höhere Grade verfügte. Erstaunlich ist der Takt, den beide aufbringen, um die sich nicht wirklich bessernden Bemühungen Helmolts zu würdigen. Aus den Bewertungen spricht fürsorgliche Haltung dem Adepten gegenüber, der sich nahezu über den gesamten Zeitraum des Bestandes des Ordens redlich mühte und der es letztendlich zum Rittmeister am Gothaer Hof brachte.71 Die verständnisvoll zuvorkommende Behandlung kann jedoch auch der Stellung seines Vaters am Hofe geschuldet sein. Mit Rudolph Zacharias Becker, der mit Campe in Verbindung gestanden hatte und als Mitarbeiter Basedows in Dessau Beförderer der Philanthropinbewegung war und der sich angeschickt hatte, zusammen mit Christian Gotthilf Salzmann eine diesen Ideen verpflichtete Erziehungsanstalt in Schnepfenthal zu eröffnen,72 hatte der Orden nicht nur den führenden Volksaufklärer seiner Zeit gewinnen können. Es war Becker, der sich hauptsächlich den jungen Rekruten verpflichtet fühlte und der ihre direkte Führung übernahm. Der jüngere Helmolt war zu Beginn der Aktivitäten der Minervalkirche nahezu alleiniges Mitglied aus der Reihe der Adepten, das den Sitzungen beiwohnte. So vermittelt eine frühe Versammlung der Minervalkirche vom 17. Juli XII (wie Anm. 62), Dok. a234, Einzelreproche des Basilius an Guido della Torre (F. C. E. von Helmolt) September 1784 (Hervorhebung im Original). Transkript in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2). 71 Der jüngere Helmolt verstarb bereits 1804 im Alter von 35 Jahren. 72 Diese Kooperation kam aufgrund einer Meinungsverschiedenheit zwischen Becker und Salzmann nicht zustande. Salzmann wurde alleiniger Leiter von Schnepfenthal. 70 SK

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1784 einen Eindruck von den überproportional vertretenen älteren Mitgliedern, die entweder einen Auszug aus einem prominenten, den illuminatischen Inhalten gerecht werdenden literarischen oder philosophischen Werk präsentierten oder aber aus dem Kanon der Aufsätze zu den Statuten vorlasen. Nur der jüngere Helmolt brachte einen Aufsatz aus eigener Produktion zu Gehör. Das Protokoll der Sitzung nimmt sich in der Zusammenfassung folgendermaßen aus: Ode Die Schöpfung (von Uz). Helmolt (Chrysostomus) verliest die Ordensstatuten sowie eine Abhandlung von Konfuzius über die Nächstenliebe. Lühe liest aus Beiträge zur Philosophie des Lebens. Aus dem Tagebuch eines Freimaurers. Haun Über die Regeln des Buchstabierens und Lesens zum Gebrauch seiner Seminaristen. Bohn Aus Wielands Agathon. Ewald Einige Ideen aus Herders Philosophischer Geschichte der Menschheit. Schenk Über die Feinheit des Geschmacks und der Leidenschaften, von Hume. Helmolt (Guido della Torre) Antwort auf die Frage: „Wie sind die Worte zu verstehen: Gehe mit deinem Freund so um, als ob er eines Tages dein Feind werden könnte“. Rudorff verliest einen selbstverfassten, an den jüngeren Helmolt (Guido della Torre) gerichteten Brief moralischen Inhalts. Denkspruch: Der Weise handelt nie ohne Absicht und festgesezten Plan.73

Nach dem Prinzip, dass das gute Beispiel bereits zum Ziele führt, wurde Helmolt in variatio vorgeführt, auf welche Weise man die gedankliche Auseinandersetzung innerhalb des Ordensgremiums zur Beförderung des Kenntnisstandes und zum gegenseitigen Austausch von Ideen und Meinungen wünschte. Man war selbstverständlich auch darauf bedacht, den Kreis der jüngeren Mitglieder zu erweitern.74 Die Anwerbung neuer Mitstreiter ging anfangs durchaus 73 SK

XV (wie Anm. 62), Dok. 35, Protokoll der Minervalkirche Gotha vom 17. 07. 1784. Zusammenfassung von Christian Wirkner, in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2). 74 Im Grunde hielten die Ordensangehörigen, die sich bereits weitestgehend als Menschenführer im Sinne des Ordens betätigt und bewährt hatten, Ausschau nach Kandidaten, die sich anschickten, ebensolche Qualitäten zu entwickeln. Über die nächsten Monate wurden neben dem jungen Helmolt weitere geeignete jüngere Mitglieder in den Orden aufgenommen, unter ihnen Dorotheus Friedrich Ernst Konstantin Jaroslaw von Prittwitz und Gaffron, Conradin, dessen adelige Herkunft ihn auszeichnete; Hans Ulrich von Gadow, St. Evremont, der nach einem Noviziat von einem Monat bereits zu Versammlungen der Minervalkirche zugelassen wurde. Weiterhin waren darunter Friedrich Heinrich Adolph von Schlichtegroll, Gronovius, der als Absolvent der Universität Jena 1783 der dortigen Loge beigetreten war und später Hofmeister bei dem Direktor des Gothaer Schulseminars Haun wurde, sowie der Pädagoge Carl Gotthold Lenz, Justus Lipsius, ebenso gerade am Ende seiner Studien. Der zu diesem Zeitpunkt als Gothaer Generalsuperintendent tätige Johann Benjamin Koppe, Accacius, hatte desgleichen einen bei ihm beschäftigten Hofmeister, August Ludwig Hoppenstedt, Diognet, eingeführt. Man rekrutierte



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zügig voran. So verzeichnet denn das Protokoll der Sitzung vom 21. Dezember 1784 eine Verschiebung der Verhältnisse. Es zeigt deutlich, dass nunmehr Beiträge der neu gewonnenen anzuleitenden Mitglieder in den Mittelpunkt gestellt wurden: Becker verliest eine Abhandlung Gadows über die Frage „Warum sagt man, daß Weise eine Sache wenig bewundern, und warum bewundert keiner eine Sache lange, auch wenn er sie nicht einsehen kann?“ Helmolt (Guido della Torre) verliest eine Ode von Gronovius (Schlichtegroll). Helmolt (Chrysostomus) verliest die Ordensstatuten sowie eine Stelle aus dem Buch der Weisheit: „die Weisheit ist schön und unvergänglich und läßt sich gern sehen von denen, die sie lieben“. Gadow Eine Danksagung an die Gesellschaft. Prittwitz „Über die Schwierigkeit, den Charakter eines Menschen zu schildern“. Haun „Gedanken über das Honestum und Utile als Pendant zu der, vor einiger Zeit von Prinz August über Ciceros Buch von den Pflichten abgehaltene Vorlesung“. Bohn Einige moralische Gedanken Reichards (Wiclef ). Bohn Goldene Sprüche des Pythagoras. Becker Ermunterung an die jüngeren Brüder, ein moralisches Tagebuch zu führen. Denkspruch: „Ehrlichkeit währet am längsten“.75

Es kamen also vermehrt die Adepten zu Wort, indem ihre eingereichten Texte, wie hieraus zu entnehmen ist, von ihnen selbst sowie zum Teil durch etablierte Mitglieder verlesen wurden. Dieses Beispiel weist eindrucksvoll darauf hin, wie die Aufsätze der Minervalen den Ablauf der Versammlung bestimmten. Immerhin machten die jungen Rekruten fast die Hälfte der Anwesenden aus. Umfang und Beschaffenheit der Textproduktion des Ordens treten hier bereits zutage. Dies suggeriert eine relativ rege geistige Tätigkeit der einzelnen Mitglieder und auf eine recht intensive Diskussionskultur. Das gegenseitige Vor­lesen der Gedankenfrüchte, sowohl der eigenen als auch der anderer Mitglieder, wirkte im Sinne Weishaupts als der Aufklärung verpflichtete geistige Lenkung der Adepten. Darüber hinaus verschaffte es den zumeist der Leitungsebene angehörigen Produzenten schriftstellerischer Werke ein Publikum beziehungsweise Podium zum Eruieren der Wirkung ihres Schaffens. Dieses Protokoll ist typisch für die in Gotha abgehaltenen Sitzungen, wie sie über einen Zeitraum von drei Jahren durchgeführt wurden. Es wurden im Schnitt sechs bis zehn Tagesordnungspunkte verhandelt, die zumeist aus Abhandlungen bestanden. Umrahmt wurden auffallend innerhalb der Studentenschaft der Universität Jena, obwohl die Universitätsstadt eine eigene, gut funktionierende Loge aufwies. Friedrich Ernst Carl Mereau, Thuanus, ein junger Advokat aus Jena, wahrscheinlich auf eine Anstellung in Gotha hoffend, ist neben den bereits genannten dazu zu rechnen. 75 SK XV (wie Anm. 62), Dok. 184, Protokoll der Minervalkirche Gotha vom 21. 12. 1784. Zusammenfassung von Christian Wirkner in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2).

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die Sitzungen durch das Vortragen von Passagen aus den Statuten sowie anderen programmatischen Schriften und durch anregende Sinnsprüche bei Ausklang einer Sitzung. Gegen Ende der Ordensaktivitäten ist deutlich wahrnehmbar, dass dieser Enthusiasmus nahezu verebbt war. In einem der letzten überlieferten Sitzungsprotokolle, vom 26. Juni 1787, wurden lediglich drei Tagesordnungspunkte verhandelt. Keiner von ihnen enthielt einen originären Beitrag, weder von den Oberen noch von den Adepten: Ewald trägt die Ode an die Weisheit vor. Helmolt (Chrysostomus) verliest die Minervalstatuten. Auf Befehl Helmolts (Chrysostomus) verliest Geißler die Einleitung von Weishaupts Rede über die Schrecken des Todes76

Diese Sitzung bestand im Grunde aus Texten und Abhandlungen, die alle mehr oder minder aus der Feder Weishaupts stammten. Die rituelle Einführung mit der Ode an die Weisheit gehörte zum Standardzeremoniell. Wahrscheinlich aus Mangel an eingehendem neuen Material seitens der Logenbrüder erfolgte der Rückgriff auf Weishaupts Aufsatz „Ueber die Schrecken des Todes“, die er seiner Apologie der Illuminaten77 angehängt hatte und der gerade erschienen war. Es ist gut möglich, dass die vor allem in Süddeutschland tobende Verfolgungsund Diffamierungsdebatte um den Orden auch in Gotha dafür sorgte, dass aufgrund mangelnden Zuspruchs die Aktivitäten eingestellt wurden. Auch wenn Herzog Ernst und Bode zu diesem Zeitpunkt noch glaubten, ihre Unternehmung über die Grenzen des Herzogtums beispielsweise nach Frankreich bringen zu können, ist dies ein recht dumpfer Ausklang der illuminatischen Aufsatzkultur. Der Verlauf der Unternehmung jedoch ist nicht untypisch für eine aufklärerische Gesellschaft. In dieser Hinsicht nahmen sich öffentlicher Raum und Arka­ num wohl nicht viel, da eine Vielzahl der angeschobenen aufklärerischen Sozietäten eher ephemeren Charakters war. Aus dem oben angeführten Protokoll der Sitzung vom 21. Dezember 1784 wird bereits deutlich, dass Friedrich Schlichtegroll, der am Ende seiner Studien war und der als junger Hoffnungsträger dem Orden zugeführt wurde, seinen Minervalpflichten gern nachkam.78 Es hatten also beileibe nicht alle Adepten mit der Verschriftlichung ihrer Gedanken solche Schwierigkeiten wie der jüngere Helmolt. Schlichtegroll, dessen Vater Hofrat in Gotha war, war von Haun rekrutiert worden. Ihm ging das Verfassen von Pensa und auch anderer Schrift76 SK

XV (wie Anm. 62), Dok. 184, Protokoll der Minervalkirche Gotha vom 27. 06. 1787. Zusammenfassung von Christian Wirkner, in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2). 77 Johann Adam Weishaupt, Apologie der Illuminaten, Frankfurt am Main, Leipzig [d. i. Nürnberg] 1786, darauf Bezug nehmend: Rez.: Zur Apologie der Illuminaten, in: Gothaische Gelehrte Zeitungen [GGZ], 42.– 45. Stück, Gotha 1786, 850 ff. 78 Zur „Ausbildung“ Schlichtegrolls vgl. Mulsow, Diskussionskultur (wie Anm. 3), 161 – 165.



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stücke mit illuminatischem Bezug leicht von der Hand. Von ihm sind mehrere Abhandlungen sowie Texte, die das illuminatische Zeremoniell betreffen, und auch dichterische Versuche wie Oden über den Orden in der Schwedenkiste überliefert. Auch wagte er, mehr als nur die Standardthemen zu bearbeiten. Schlichtegrolls Pensa hatten durchaus Qualitäten, um für die weitere Verwendung in der internen Ordensakademie in Betracht gezogen zu werden. Es lässt sich ebenso ein Vorgriff auf die von ihm einige Jahre später begonnene Herausgabe des Nekrologs der Deutschen erkennen. Er nahm an den Sitzungen der Gothaer Minervalkirche nachweislich seit dem 16. August 1784 teil. Hier stellte er bereits nach kurzer Zeit seine eigene Gedankenwelt vor, die sich unter anderem der Suche nach einer angemessenen Weise der Totenverehrung widmete. Nach Dokumentenlage in der Schwedenkiste legte er seine dritte Abhandlung über „Das Andenken, das wir Verstorbenen schuldig sind“, vor. Die Thematik war offensichtlich von großem persönlichen Interesse für ihn. Er zeigt zunächst auf, wie sich allein die Vorstellung vom Tod dem Rationalen wie auch Spirituellen beziehungsweise Religiösen entzieht: Ohnstreitig ist der Trost der Religion u[nd] Weisheit auch hier der stärkste, den uns Schwachen die Gottheit gab; aber nicht Alle sind seiner gleich stark fähig, und selbst der Denker vergißt in der Stunde des Leidens sein System, u[nd] ist in Gefahr sich ungemäsigtem Trübsinn zu überlaßen. Das Sinnliche ist uns näher, wirkt schneller u[nd] gewißer auf Alle, u[nd] vorzüg[lich] auf den großen Haufen; wie nöthig also, daß man dafür sorge, auch das Aeußerliche u[nd] Sinnliche beim Tod mehr rührend als schreklich, mehr sanften Schmerz als lautes Klagen erregend einrichte.79

Nach mehreren historischen Exkursen ins Altertum, in denen er die Verehrung von Verstorbenen diskutiert und als beispielhaft herausstellt, geht Schlichtegroll dazu über, Vorschläge für eine zeitgemäße Behandlung der Problematik zu unterbreiten. Eingedenk der unausweichlichen Konsequenz des Todes sucht er nach einer angemessenen Form, um das Verdienst vorangegangener Generationen und Kulturen zu erhalten, zu würdigen und deren Erkenntnisse weiterzugeben: Die Alten besezten mit den Statuen ihrer verdienten Mitbürger die öffent[lichen] Pläze; wenn das nicht bei uns und mit jedem guten Bürger angeht, so weihe ihm hier der Staat ein Denkmal, nicht kostbar aber edel und zwekmäsig. Wo ist aber, sprachst du, ein Bürger, der allgemeinen Ruhm hinterließe? – Wehe dann der Stadt, die nicht zuweilen einen Bürger begräbt, dem alle Guten des Orts, die ihn kannten, eine Thräne der Dankbarkeit weinen, und ein Andenken voll Liebe schenken. Nein, achtet nur darauf, sucht nicht blos unter den Männern mit Titeln u[nd] Ruhm; sucht 79 SK

XIII (wie Anm. 62), Dok. 53, A. H. F. Schlichtegroll, Abhandlung über das Andenken, das wir Verstorbenen schuldig sind, in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2). Schlichtegroll beruft sich in seiner Argumentation auf ein Zitat aus Ovids Fasti, von dem er einen Auszug als Motto seinen Erläuterungen voranstellt: „Est honor & tumulis animas placare paternas, Parvaque in exstructas munera ferre pyras; Parva petunt manes, pietas pro divite grata est Munere; non avidos styx habet ima deos“.

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unter den Handwerkern aller Art herum, unter den Niedrigen im Volk, und noch einmal, wehe der Stadt, die nicht zuweilen ihrem Künstler auftragen kan, ein Denkmahl zu hauen! […] Wäre das alles eingeführt, dann sehe ich euch, ihr Gottesäcker, als Beförderer des Guten, als Schulen der Bürgertugend, als heilige Pläze an.80

Es erstaunt, wie wichtig ihm dieses Anliegen bereits während seiner Zeit als Minerval war. Die bildhauerischen Denkmale, von denen er in seinem Pensum spricht, werden bei ihm später zu verbalen. Schlichtegroll fand also einen Weg, wie er seine diesbezüglichen Gedanken in einer ihm geläufigen Kunstform realisieren konnte. Den zweiten Teil des zweiten Bandes des Nekrologs, führt er wie folgt ein: Uebrigens wird es hoffentlich allgemein gebilligt werden, dass sich der Nekrolog bey der Menge der Materialien immer mehr auf merkwürdige Deutsche Verstorbene einschränkt, und unter diesen besonders auf diejenigen achtet, die ohne dieses Institut gar nicht, oder nicht ausgebreitet genug gekannt oder geschätzt werden würden.81

Diese Passage weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Argumentation innerhalb seines illuminatischen Pensums auf. Schlichtegrolls Kernideen erscheinen wieder im Nekrolog und durchziehen das gesamte Periodikum. Er trug sich demnach recht früh mit dem Gedanken, Zeitgenossen, die bedeutende geistige Errungenschaften hinterlassen, jedoch nicht unbedingt solchen, die Berühmtheit erlangt hatten, ein Denkmal zu setzen. Der Nekrolog leistete überdies einen signifikanten Beitrag bei der Genese des Nachrufs als literarisches Genre. Obzwar belächelt von Goethe und Schiller, erschien er im halbjährlichen Abstand und in steter Folge von 1791 bis 1806 während Schlichtegrolls Zeit unter anderem als sachsen-gothaischer Rat sowie Kondirektor von Münzkabinett und herzoglicher Bibliothek. Sein ehemaliger illuminatischer Bruder, Carl Gotthold Lenz, unterstützte ihn später als Mitarbeiter bei diesem Vorhaben. Innerhalb der illuminatischen Pensa und ihrer Diskussion findet Gotha ebenso als Zentrum bereits etablierter literarischer Produktion wie Kritik Niederschlag. Am 30. September 1785 verlas Schenk „auf Befehl Helmolts (Chryso­stomus) Prittwitz' Bemerkungen über Königs Briefe und die Erziehung der adeligen Jugend“.82 Der Verfasser des Pensums war nicht anwesend. Es muss jedoch ein gewisses Interesse an der Thematik bestanden haben, weshalb hätte Helmolt sonst darauf insistieren sollen? Herzog Ernst II., der in der Hauptsache Sitzungen der höheren Ordensränge beiwohnte bzw. ihnen vorstand, und auch sein Bruder August, als mehr oder minder Betroffene hätten ihre Sicht und Erfah80 Ebd.

81 Nekrolog

auf das Jahr 1791. Enthaltend Nachrichten vom Leben merkwürdiger in diesem Jahr verstorbener Personen. Gesammelt von Friedrich Schlichtegroll, 2. Jahrg., 2. Bd., Gotha 1793, s. p. [ii]. 82 SK XV (wie Anm. 62), Dok. 98, Protokoll der Minervalkirche Gotha vom 30. 09. 1785. Zusammenfassung von Christian Wirkner, in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2).



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rungen zum Thema einbringen können. Sie waren ebenso nicht zugegen. Ein Großteil der von Prittwitz abgelieferten „Bemerkungen“ war übernommen aus der fast ein Jahr vorher, am 16. Oktober 1784, in der Gothaischen Gelehrten Zeitung erschienenen Besprechung von Johann Christoph Königs Buch.83 Die angeführte Thematik war in jedem Falle von illuminatischem Interesse, da der Orden bekanntlich Einfluss auf die Bildung zukünftiger Herrscher zu nehmen gedachte. Prittwitz überließ das Wort hauptsächlich dem Verfasser des Buches selbst, der sich für die öffentliche Beschulung hochwohlgeborenen Nachwuchses ausspricht: Daß der Ahnenstolz nicht wenig Zerrüttung in der menschlichen Gesellschaft schon angerichtet habe, wird niemand läugnen, der Verstand und Weltkunde mit einander vereinigt besitzt. Wo aber wird ihm mehr entgegen gekämpft, als in den Schulen? Wenn das junge Herrchen sieht, daß nicht die Geburt, sondern die mehrere Gelehrigkeit und Geschicklichkeit den Vorrang gebe, wenn es von seinen Mitschülern, gegen die es vornehm thun will, ausgelacht und verachtet wird – sollte es dadurch nicht zur Ablegung aller Insolenz gezwungen werden? Wo wird hingegen dem adelichen Hochmuth mehr gefrohnet, als beym Privatunterricht? Das ganze Haus und der Hofmeister selbst muß dem Junkerchen, das der Liebling des gnädigen Herrn Papa oder der gnädigen Frau Mama ist, zu Gebote stehen, wenn er nicht tagtäglich Verdruß oder wenigstens geheime Aergerniße haben will. Dann, wo sind die Privatlehrer, die alles dasjenige leisten können, was sie leisten müßen, wenn sie all das Gute schaffen sollen, das man von ihnen erwartet?84

Ob Prittwitz das bloße Referieren dieser Rezension zu Königs Werk aufgetragen worden war oder ob er sich aus Mangel an Zeit beziehungsweise Motivation zur Übernahme großer Teile der Rezension hinreißen ließ, wird wohl nicht vollständig geklärt werden können. Nach heutigem Maßstab läge fast ein Plagiatsvorwurf nahe, insbesondere an Stellen, in denen Prittwitz der Einfachheit halber das vom Rezensenten Gesagte zwar nicht vollkommen im Wortlaut übernimmt, jedoch nur einige wenige Umstellungen macht und die Meinung schlichtweg als die seine ausgibt: Ueber die adelichen Hofmeisterstellen, wie der Hofmeister behandelt werden soll, und was er zu leisten habe, ist hier ein schöner Plan entworfen, der zwar nicht neu, aber wegen seines zu erwartenden großen Nutzens, wenn er zur Ausführbarkeit könnte gebracht werden, sehr lobenswerth ist.85

83 Vgl.

hierzu: Rez: Johann Christoph König, Briefe über die Erziehung der adelichen Jugend, Nürnberg 1784, in: GGZ, 83. Stück, Gotha, 16. 10. 1784, 681 f. 84 Johann Christoph König, Briefe über die Erziehung der adelichen Jugend, Nürnberg 1784, 22 f., zitiert nach SK XIII (wie Anm. 62), Dok. 28: D. F. E. K. J. von Prittwitz und Gaffron, Rezension zu Königs Briefen über die Erziehung der adelichen Jugend, 30. 09. 1785, in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2). 85 Ebd.

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In den 15 Briefen zur adeligen Erziehung, die König in seinem Buch veröffentlichte, wird das Hofmeistertum als pädagogische Epidemie identifiziert, welche die eigentliche Hauptaufgabe der Bildung, die Hervorbringung von der Gesellschaft nützlichen Menschen, behindere. Zur Eindämmung der oftmals kontraproduktiven Verfahrensweisen, in denen Hofmeister nach Gutdünken erzogen oder versuchten, sich den Launen ihrer Brotgeber anzupassen, schlägt König vor, die Erziehung von öffentlicher Hand nach vorgegebenen Standards zu organisieren. Hierzu bezieht Prittwitz interessanterweise Stellung, indem er die Folgen einer staatlich verantworteten Erziehung auf die privilegierten Stände ausmalt, wohl in seinen eigenen Worten: Sollten auch die Landesherrschaften befugt seyn dergleichen Verordnungen ergehen zu lassen, wie sie es ohne Einwilligung der Stände nicht [sind], so sind sie doch zu strenge, und wider die menschliche Freyheit. D[er] begüterte stolze Adel würde aus Stolz die Kosten der Dispensa[tion] nicht scheuen, und der arme Edelmann würde vielleicht auf solc[he] Weise sich nie verheyrathen können, wodurch, wenn auch nicht diese offenbare Unbilligkeit in Erwegung sollte gezogen w[er]den, Entvölkerung, Aussterben der Familien, und wohl noch [meh]rere gesezwidrige Folgen entstehen müßten. Cadeten-Häuser, Stiftungen und dergleichen sprechen den dürftig[en] Adel von dieser Entsagung auch schon frey, wo aber der einstweilige Unterhalt für die Candidaten der Theologie herkommen sollte, möchte wohl nicht mit weniger Schwierigkeit verknüpft seyn.86

Obwohl Prittwitz, der aus altem Adel stammte, das Schicksal des Hofmeisterdaseins erspart geblieben war, hatten andere seiner Minervalbrüder und auch einige der älteren Mitglieder nach ihrer universitären Ausbildung diese Art der Anstellung auf sich nehmen müssen, bevor sie ihren Karriereweg antreten konnten. Schlichtegroll und Lenz, die beide aus unmittelbarer Erfahrung hätten beitragen können, waren ebenfalls zu dieser Sitzung nicht erschienen. Bohn, von der Lühe, Becker oder auch Ewald hätten jedoch Gelegenheit gehabt, etwas über ihre früheren hofmeisterlichen Tätigkeiten und ihre Schlussfolgerungen zur Thematik darzulegen. Die Problematik der öffentlich verantworteten Erziehung der höheren Stände war selbstverständlich ein illuminatisches Anliegen, auch wenn man die arkane Version einer vereinheitlichten, an ethischen Prinzipien orientierten Prinzenerziehung vorgezogen hätte. Im Grunde basiert diese Debatte auf der Verbindlichkeit von Erziehung und Bildung sowie der Forderung nach einem pädagogischen Standard, der zu diesem Zeitpunkt nicht nachgekommen werden konnte. König gehörte in diesem Zusammenhang zu einer Vielzahl von Stimmen, die Diskussion um diese Thematik fruchtete jedoch erst im 19. Jahrhundert. Diese Abhandlung und ihr Einsatz in der Minervalkirche zeigt nachdrücklich die enge Verschränkung von Hof, Arkanum und literarischer Produktion, wie sie in Gotha stattfand. Es ist beinahe eine selbstreferentielle Geste, wenn inner86 Ebd.



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halb der Minervalkirchenpraxis auf das meinungsbildende, ebenso vom Orden unterwanderte örtliche Verlagswesen zurückgegriffen wird. Die Gothaische Gelehrte Zeitung stand dem Orden nahe und sorgte für die Beförderung illuminatischer Inhalte. Dies ist zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass einer der Hauptakteure innerhalb der Illuminatenloge Mitarbeiter des Periodikums war. Schack Hermann Ewald (Cassiodor), hatte als Rezensent direkten Einfluss auf das Leseverhalten in Sachsen-Gotha-Altenburg und auch über dessen Grenzen hinaus, die GGZ galt als angesehenes Rezensionsorgan des gelehrten Deutschland.87 Er engagierte sich darüber hinaus vor und nach seiner Illuminatentätigkeit im Sozietätswesen.88 Seine zum Vortrag in der Ordensversammlung bestimmten Beiträge verfasste er mit weitaus mehr Engagement und Anspruch als Prittwitz. Es ist durchaus möglich, dass die von Prittwitz referierte Rezension aus Ewalds Feder stammte. Die Teilnahme von führenden Vertretern der Verlagsszene in Gotha war zum einen eine erfolgreich angewandte illuminatische Rekrutierungsstrategie wie auch deren intellektueller Neugier geschuldet. Dies förderte den Transfer von Erfahrungen vom öffentlichen Raum in das Arkanum und umgekehrt, insbesondere wenn ein Mitglied Träger eines einflussreichen beziehungsweise angesehenen Amtes war. Ewald und dessen signifikante publizistische Expertise für die Belange der Illuminaten gewonnen zu haben, bedeutete, dass er sowohl innerhalb der Minervalkirche als auch öffentlich für die Interessen des Ordens wirken konnte – eine Erwartung, der er gern nachkam. Seine Begeisterung für die illuminatische Aufsatz- und Menschenführungspraxis resultierte unter anderem in einer soliden Anzahl von Abhandlungen. Wie das bereits angeführte Sitzungsprotokoll von 1787 beweist, wirkte er bis zuletzt für die Beförderung der Ordensziele. Er verfasste insbesondere Aufsätze, die seiner eigenen Charakterschulung wie auch der anderer dienten.89 Am 6. Juli 1785 verlas er eine Abhandlung mit dem Thema „Recept zur Veredlung unserer Bildung“, innerhalb der er eine Anleitung zur Selbst- und Menschenkenntnis vorstellte. Strategien der Selbsterkenntnis erlernen zu können, wie sie bei der Anwerbung neuer Mitglieder vom Illuminatenorden in Aussicht gestellt wurden, galt als erfolgsversprechender Motivationsfaktor. Der Orden präsentierte sich damit auf der Höhe der Zeit. Selbst Bode, der sich im weiteren Verlauf der Ordensgeschichte um die Menschenführung verdient gemacht hatte, erschien dieses Angebot in einem seiner ersten Briefe an Weishaupt als erstrebenswert: 87 Ewalds

Tätigkeit als Redakteur und Rezensent behandelt ausführlich Horst Schröpfer, Schack Hermann Ewald (1745 – 1822). Ein Kantianer in der thüringischen Residenzstadt Gotha, Köln, Weimar, Wien 2015. 88 Vgl. hierzu den Beitrag von Martin Mulsow in diesem Band. 89 Vgl. insbes. den Aufsatz von John A. McCarthy in diesem Band.

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ganz besonders aber hoffe ich, sicher erprobte Hülfsmittel kennen zu lernen, wodurch die Selbstkenntniß zum festen Grunde der Ruhe und Zufriedenheit und die Selbstliebe zur ergiebigen Quelle der allgemeinen Menschenliebe erhöhet werde.90

Es nimmt daher nicht wunder, dass diese Disziplin in den Ordensabhandlungen ihren Niederschlag findet. In Ewalds Aufsatz tritt eine größere Sorgfalt und Tiefe zutage als im vorigen Beispiel. Selbstverständlich musste man von ihm mehr erwarten können. Mit der Wahl seines Themas bewegte er sich noch dazu am Kern der illuminatischen Bildungsauffassung. Anfangs vermittelt der Aufsatz den Anschein, als orientiere er sich an den große Popularität genießenden physiognomischen Lehren Lavaters:91 Es ist eine alte Bemerkung, daß unser Gesicht mitten im Aufbrausen heftiger Leidenschaften, verunstaltet werde; und die Sittenlehrer haben vorgeschlagen, daß man Personen die sich eben in einem solchen Zustand befinden, einen Spiegel vorhalten soll, um die Leidenschaften und unordentlichen Bewegungen, da sie das Gesicht so häßlich machen, verabscheuen zu lernen. Aber es sind nicht blos die gröberen, auffallenden Bewegungen des Herzens, die sich auf dem Gesicht abdrücken, auch die stilleren, die in keine Heftigkeit ausfahren und verschloßen bleiben; Neid, Misgunst, Rachsucht, Schadenfreude, Lieblosigkeit, Habsucht, Geitz, Eigendünckel, Stolz und Anmasung, und wie sie weiter heißen, laßen unverkennbare Spuren in den Muskeln des Gesichts und der Art der Bewegung und Tragung des Cörpers zurück; und diese Züge werden zuletzt sogar charakteristisch, stet und auszeichnend, wenn diese Zustände des Herzens durch öftere Wiederholung zur Gewohnheit werden, und bey den geringsten Anläßen immer wieder in das Herz zurückkehren.92

Die „alte Bemerkung“, die Ewald anführt, sowie auch der im weiteren Verlauf der Abhandlung hergestellte Bezug zu William Hogarths Analysis of Beauty suggerieren jedoch eine weitaus sublimere Inspirationsquelle für seinen Aufsatz. Sie weisen Ewald zudem als einen Aufklärer mit ästhetischem Interesse aus. Ähnlich wie die deutsche Shakespearebegeisterung hatte die Rezeption von Hogarths Traktat, das 1753 in London erschienen war und von dem bereits im Jahr darauf eine von Christoph Mylius besorgte Übersetzung ins Deutsche vorlag, fast mehr Erfolge in Deutschland zu verzeichnen als in Großbritannien selbst.93 90 Bode

an Weishaupt, 09. 09. 1783, Staatsarchiv Hamburg, Bestand 614 – 1/72 Große Loge (5.1.10) Nr. 1262 (unpag.). 91 Weishaupt hatte in der Frühphase des Ordens Lavaters Lehren als illuminatentauglich angesehen. Er hatte sogar kurz mit dem Schweizer in Verbindung gestanden, war aber dann davon abgekommen und hatte sich der Erfahrungsseelenkunde zugewandt. 92 SK XIII (wie Anm. 62), Dok. 23, Abhandlung S. H. Ewald, Recept zur Veredlung unserer Bildung, 06. 07. 1785. Alle Zitate nach dem Transkript SK13-062 in: The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 2). 93 Der direkte Bezug zu Hogarth an dieser Stelle ist offenkundig: „Wir haben täglich viel Beyspiele, welche die insgemein angenommene Meynung bekräftigen, daß das Gesicht Ver­ räther des Gemüths ist. Und diese Maxime ist so bei uns eingewurzelt, daß wir (wenn wir etwas



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Vorschnelle Beurteilungen einer Person, die zumeist auf flüchtigen Eindrü­ cken basieren, sowie der Gedanke, dass sich charakterliche Tendenzen unweigerlich in den Gesichtszügen oder Körperhaltungen beziehungsweise -proportionen manifestieren, führen notwendigerweise in die Irre. Die bloße Gesichtslesekunst registriert zwar ein kurzes Aufflammen dessen, was im Inneren eines Menschen vorgeht, sie ist jedoch eine zu flüchtige Momentaufnahme, um das Wesen eines Menschen festzuhalten. Es ist die innere Tätigkeit, das Seelenleben, von welcher der Charakter einer Person geprägt wird. Die auf das Äußere reduzierte Betrachtung reicht daher nicht aus, um der Beschaffenheit der Persönlichkeit näher zu kommen. So war denn auch einem anerkannten Maler wie Hogarth frühzeitig klar geworden, dass die bloße Wiedergabe des vom Auge Erfassten nicht zu sublimer Kunst führen könne. Die Gewinnung von Erkenntnissen über sich selbst bedarf angeleiteter Beobachtungsmethoden. Es war daher zentrales Anliegen des Ordens, gerade solche Fertigkeiten und Fähigkeiten zu fördern und auszubilden, die zu einem hellen Anschauungsvermögen, einem sicheren inneren Gefühl, zu praktischem Verstand sowie zu einem höheren Grad des sogenannten „feinen Beobachtungsgeistes“94 führen würden. Ziel der auf Selbstkenntnis ausgerichteten illuminatischen Bildung war daher die Befähigung zum Erkennen der eigentlichen Motive und Intentionen menschlicher Interaktion. Im Einklang damit waren die Adepten gehalten, sich eine „Semiotik der menschlichen Handlungen“95 zu erarbeiten. Ewald ruft seine Mitbrüder mit seinem Beitrag dazu auf, ihre inneren Absichten zu erforschen und selbstkritisch zu prüfen: Regt sich ein thätige[r,] warmer, fester kräftiger Geist in deinen Gliedern, oder verräth ihre träge Bewegung, dein auf die Brust hinabsinken des Haupt, deine schlaffen Arme deine schleichenden Füße, deine träumerische Rede, die inwendige Armuth an Geist, Anspannung aller geistigen Kräfte und Mangel an Talent? – Wenn du dich aus diesem Gesichtspunckte betrachtest, so habe ich nichts dagegen, daß du dich im Spiegel beschauest; es ist der ächteste, beste und belehrenste Gebrauch, den du von diesem Hausrath, der gemeiniglich nur der Eigenliebe, der Eitelkeit und dem Tand gewidmet ist, machen kannst.96

aufmerksamer darauf sind) kaum umhin können, uns einen besondern Begriff von derjenigen Person zu machen, deren Gesicht wir betrachten, auch ehe wir durch andere Mittel Nachricht bekommen. Wie oft sagt man bey dem flüchtigsten Anblicke, daß dieser oder jener wie ein Mann von gutem Gemüthe aussieht, daß er ein ehrliches, freyes und gesetztes Wesen hat, oder daß er einem Schelm in der Haut, einem verständigen Manne oder einem Narren etc. gleich sieht“ (William Hogarth, Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmacke festzusetzen, übers. von Christoph Mylius, Hanover 1754, 102 f.). 94 Johann Adam Weishaupt, Ueber die Selbstkenntnis: ihre Hindernisse und Vorteile, Nürnberg 1794, 80. 95 Ebd., 132. 96 SK XIII (wie Anm. 62), Dok. 23 (wie Anm. 92).

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Er rät, Symptome und Impulse menschlicher Beweggründe zu ergründen und darauf aufbauend abzuschätzen, welche Handlungen ihnen realiter folgen würden. Auch sollten sie lernen, korrigierend einzugreifen. Selbsterkenntnis sei von einer klaren und distanzierten Sicht abhängig, welche es zu erreichen und zu wahren gelte. Was sich viele Illuminaten vom Orden erhofften, war die Erlangung allgemeiner Menschenkenntnis. Der Weg dahin führte über die Selbsterkenntnis. Das Wissen um den eigenen Charakter, das durch Erfahrungen im Umgang mit sich selbst erst ermöglicht wird, wurde als Voraussetzung für die Einschätzung und Leitung anderer angesehen: Selbsterkenntnis ist das magische Glas, durch welches Sie in den Seelen anderer lesen können. […] Von unserm eignen Herzen aus geht der Weg hinüber zu den Herzen Anderer. Machen Sie also mit sich den Anfang: untersuchen Sie sich oft nach den Fragestükken […] Beschauen Sie sich fleißig. Glauben Sie wohl, das innerlich zu seyn, was Sie äußerlich scheinen? Erforschen Sie Ihre Gestalt, öfters, täglich, stündlich. Sie werden immer neue Züge entdekken, und nach diesen Zügen auch andere beurtheilen lernen.97

Ewalds Abhandlung hätte man ohne weiteres als Beispielaufsatz zur Bildung der Adepten an alle illuminatischen Ordenslogen verteilen können, sie hätte eine vortreffliche Anleitung zur Selbstbildung und ˗erkenntnis abgegeben. Zum Zeitpunkt seines Vortrages hatte jedoch die Implosion des Ordens in weiten Teilen Deutschlands bereits stattgefunden. Die Gothaer Loge ruderte noch gegen den Strom. Als Weishaupt im Sommer 1787 von Regensburg auf Einladung Ernsts II., der ihn vor den bayerischen Verfolgungen schützen wollte und ihm bereits 1785 eine Hofratsstelle in seinem Herzogtum zugebilligt hatte, nach Gotha kam, fand er eine immer noch beispielhaft geführte Loge vor. Man hatte ihm jedoch nicht deren Führung angetragen. Weishaupt, der wohl kaum beziehungsweise überhaupt nicht den größtenteils auf seinen Ideen basierenden Sitzungen beigewohnt hatte, bekam auch in Gotha keine Chance dazu. Herzog Ernst II. und Bode hatten anderes mit dem Orden im Sinn und wohl auch keine Verwendung für den weltfremden Weishaupt, der sich in seinen apologetischen Auslassungen „der Welt für künftig und allzeit“ zu „eine[r] Nulle“98 stilisierte. Einer der wichtigsten Gründe für die Auflösung des Ordens mag in seiner Verfolgung und Stigmatisierung gelegen haben. Andererseits muss man auch berücksichtigen, dass Praxis und Anliegen der Illuminaten, wie sie vor allem in den Minervalkirchen ausgeübt wurden, in vielem einer Sozietätsform glichen, die am Ende des 18. Jahrhunderts hohe Popularität genoss. Lesegesellschaften, wie sie im gesamtdeutschen Raum existierten, hatten oft ähnliche Ausrichtun97 Weishaupt,

Selbstkenntnis (wie Anm. 94), 192.

98 Landesarchiv Schleswig, Abt. 22 Nr. 223, Nachlass Herzog Friedrich Christian von Schles-

wig-Holstein, Weishaupt an Herzog Friedrich Christian II. von Schleswig-Holstein-SonderburgAugustenburg, 10. 09. 1793.



Arkane Belehrung und Menschenführung 313

gen und Interessen. Ihnen mag es an der Verve der Illuminaten gefehlt haben, typologisch waren sich beide jedoch sehr nahe.99 Am Ende der Ordenstätigkeit war die Notwendigkeit des Geheimnisses, das die Anliegen der Illuminaten umgab, kaum beziehungsweise gar nicht mehr gegeben. Weishaupt hatte ein gutes Jahrzehnt früher in Bayern keine andere Alternative als das Arkanum gesehen. In Gotha waren die Ideen zwar auf fruchtbaren Boden gefallen, dies jedoch nicht zuletzt, weil Teile der reformerischen Ansätze Weishaupts dort seit geraumer Zeit gesellschaftlich umgesetzt waren beziehungsweise als intellektuelle sowie kulturelle Selbstverständlichkeit erachtet wurden. Das dem Minervalgrad innewohnende intellektuelle und gesellige Potential und dessen Attraktivität für das öffentliche Sozietäts- und Bildungswesen wuss­te auch Goethes Schwager Schlosser, Dion/Euclides, anzubringen, als er bereits 1785 Bode, der als Provinzial für alle Logen im sächsischen Raum und später des gesamten Ordens verantwortlich war, nahelegte, die Geheimhaltung aufzugeben und die etablierten Minervalkirchen dem öffentlichen Raum anzupassen. Er schlug vor, man solle dazu übergehen, „die Minerval Kirchen in Lesgesellschaften zu verwandeln“.100 Der Minervalgrad hätte ohne rituelle Ebene bis auf seinen pädagogischen Kern entkleidet und der akademischen Bildung beispielsweise in Form einer Eliteanstalt angegliedert werden können. Das Verfassen von Aufsätzen hätte dann nahezu dieselbe zentrale Stellung eingenommen, was logistisch kaum einen Mehraufwand bedeutet hätte, da Minervalkirchen während des Bestehens des Ordens von dessen weiteren Aktivitäten ohnehin abgesondert wurden. Eine Angliederung an den Orden sollte erst dann erfolgen, wenn sich die notwendige Routine im Bildungsbetrieb eingestellt hätte und pädagogische Erfolge vorzuweisen wären. Dies stand nach Knigges Meinung nicht so schnell zu erwarten. Er vertrat die Ansicht, „Minerval-Kirchen und □□“101 sollten „in den ersten 50 Jahren noch nicht […] zusammengeschmolzen werden“.102 Dazu kam es bekanntlich ohnehin nicht. Man konnte demnach keine langfristigen Schlüsse hinsichtlich der befördernden Wirkung der Praxis des Aufsatzschreibens und -vortragens ziehen. Nach dem Gothaer Vorbild müsste, so es in der Zukunft weitere Dokumentenfunde gibt, sich ein ähnliches Bild der Aktivitäten in anderen Logen abzeichnen, die den Beitrag der illuminatischen Essayistik innerhalb der Spätaufklärung untermauern. Allein die Tatsache, dass sich eine stattliche Anzahl von Ordensmitgliedern fand, die sich dem Prozedere freiwillig unterzogen, weist darauf hin, dass ein tatsächliches Bedürfnis nach dieser Art   99 Vgl.

dazu auch den Aufsatz von Martin Mulsow in diesem Band, der die Kontinuität zwischen der bis Sommer 1783 bestehenden „Gemeinnützigen Privatgesellschaft“ in Gotha und dem unmittelbar darauf entstehenden Illuminatenzirkel aufzeigt. 100 SK VII (wie Anm. 62), Dok. 27, Schlosser an Bode, 24. 04. 1785. Den Hinweis auf das Dokument verdanke ich Reinhard Markner und Hermann Schüttler. 101 Illuminatisches Sinnbild für „Logen“. 102 Knigge an Weishaupt, [1782], in: Korrespondenz II (wie Anm. 8), 11.

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von Geselligkeit bestand. Im Orden waren Gleichgesinnte zusammengekommen, welche die geistige Auseinandersetzung als Zeitvertreib suchten Der Illuminatenorden bot immerhin für geraume Zeit einen solchen Zufluchtsort. Seine Auflösung bedeutete zwar einen Einschnitt, nicht jedoch das Ende des geselligen Lebens um den Gothaer Hof. Parallel zu den Aktivitäten im Orden gehörten die meisten Mitglieder beispielsweise ebenso der ortsansässigen Freimaurerloge „Zum Rautenkranz“ an.103 Eines der Hauptcharakteristika des Sozietätswesens der Aufklärung bestand im Auf- und Abebben einer großen Zahl ephemer institutionalisierter Interessengruppen. Beinahe an derart seis­ mische Rückschläge gewöhnt, zogen die Mitglieder von einer Sozietät zur nächsten. In vielen der zeitgenössischen Lebensläufe findet sich daher eine mitunter recht lange Kette von Organisationen. Als man Anfang des 19. Jahrhunderts im benachbarten Erfurt die bereits vom kurmainzischen Statthalter und Präfekten der Erfurter Illuminaten im Philosophengrad Carl Theodor von Dalberg, Baco de Verulam, wiederbelebte Wissenschaftsakademie als Akademie der nützlichen Wissenschaften neu begründete, fanden sich unter ihren Mitgliedern fast wie selbstverständlich eine stattliche Anzahl von Namen ehemaliger illuminatischer Ordensbrüder.104 Dies trifft in ähnlicher Weise auf die Bayerische Akademie der Wissenschaften in München zu, die 1803 sogar Weishaupt in ihre Reihen aufnahm.105 Die illuminatische Episode, die sich in Gotha einreiht unter die gesellschaftlichen Experimente, die Herzog Ernst II. förderte, mag ihren Ausgang genommen haben in dem Gedanken, man könne eine arkane Gelehrtenrepublik nach Weishaupts und Knigges Plan etablieren. Auch wenn einige der Mitglieder heute noch als Gelehrte von Rang ausgewiesen sind, so hat die sich auf das Verfassen von Aufsätzen konzentrierende Logentätigkeit doch in der Hauptsache zur Formierung einer neuen, das 19. Jahrhundert bestimmenden Gesellschaftsschicht beigetragen: der des Bildungsbürgers.

103 Vgl.

hierzu die jeweiligen Einträge in den Mitgliederlisten (wie Anm. 5), sowie Holger Zaunstöck, Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungs­ gesellschaften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999, 265 f. 104 Vgl. hierzu Monika Neugebauer-Wölk, Mitglieder der Akademie nützlicher Wissenschaften zu Erfurt im Gesamtspektrum der Aufklärungsgesellschaften, in: Detlef Döring, Kurt Nowak (Hg.), Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650 – 1820), Teil III, Leipzig 2002, 145 – 161, bes. 158 ff., sowie die entsprechenden Verweise in Schüttler, Mitglieder (wie Anm. 4). 105 Vgl. ebd.



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Der Beitrag untersucht Zusammensetzung und Aktivitäten der Illuminaten im Lichte der von ihnen hervorgebrachten Aufsätze. Ausgehend vom Ungleichgewicht zwischen öffentlicher Wahrnehmung und dem eigentlichen Wirken des Ordens konzentriert er sich auf die Stellung der von den Ordensbrüdern verfassten schriftlichen Darlegungen als eines der konstituierenden Elemente des originär Illuminatischen. Das ursprüngliche Anliegen des Ordensgründers Johann Adam Weishaupt bestand in der Gründung einer die Zeiten überdauernden Weisheitsschule, verpflichtet dem Geiste des pädagogischen 18. Jahrhunderts. Die internen Operationen des Illuminatenordens bestanden demnach aus einer Reihe von Maßnahmen, welche die Bildung der Mitglieder zum Ziele hatten. Unter den spezifisch illuminatisch zu nennenden Bildungsmitteln ragen die sogenannte Pensa, Essays, die sowohl zum Wissenserwerb als auch zur Charakterschulung eingesetzt wurden, heraus. Pensa waren von Beginn an Teil des illuminatischen Bildungsideals. Sie überdauerten sowohl die steter Austauschbarkeit ausgesetzten Rituale des Gradsystems als auch die nahezu täglich wechselnden Ansichten und Anordnungen der Ordensoberen. Es werden zudem die unterschiedlichen Funktionen, die das Verfassen von Abhandlungen beim Durchlaufen der einzelnen Stationen der Ordenshierarchie innehatte, beleuchtet. Das bis kurz vor Auflösung des Ordens von den Mitgliedern der Gothaer Loge bearbeitete Themenspektrum erweist sich darüber hinaus als aufschlussreich im Hinblick auf das Potential des Ordens zur Kenntniserweiterung des Einzelnen sowie im Kontext aufklärerischer Essayistik und Literaturproduktion. The heart of the notoriously overlooked internal operations of the Illuminati Order comprises a number of measures that were created to mould recruits according to an educational ideal. Initially, the Illuminati founder Johann Adam Weishaupt aimed to establish a school of wisdom in the spirit of the educational endeavours of the German 18th century that would withstand the test of time. Among others, intrinsic Illuminati methodology relied on so-called pensa, individually assigned and indirectly – secretly – assessed essay writing exercises that served both, members’ knowledge acquisition as well as their character formation. During lodge meetings, once ceremonial procedures concluded, pensa were used as basis for scholarly conversation and intellectual dispute. This article investigates the contribution of Illuminati essay writing practices to the order’s everyday life. It commences by exploring the century-long imbalance between public perception and documented order activity and reveals that the specifics of essay writing, as practised by members, formed one part of only a small number of innovations that can claim to be of true Illuminati origin. It will furthermore shed light on the different types of pensa members were obliged to submit whilst ascending within the order´s hierarchy. Pensa stood the test of time during the order´s active phase. Their practice was maintained whilst grades and rituals were subjugated to perpetual overhaul and order generals were at odds on how to govern their system. The scope of topics handled by the Gotha Illuminati whose documents survive to quite an extent and the degree of intellectual penetration displayed in them form another vital part in the understanding of the order´s potential as an institution of learning. They also showcase the Illuminati´s contribution to Enlightenment essay writing and literary output. Dr. Peggy Pawlowski, 18 Elter Water, Huntingdon/Cambridgeshire,PE29 6XJ, United Kingdom, E-Mail: [email protected]

John A. McCarthy Denken, schreiben, lesen, ethisch handeln Quellen und Kontext des Aufsatzschreibens der Illuminaten am Beispiel von Schack Hermann Ewald

Der Gedanke, das Entwerfen, Die Gestalten, ihr Bezug, Eines wird das andre schärfen, Und am Ende sei‘s genug! Wohl erfunden, klug ersonnen, Schön gebildet, zart vollbracht– So von jeher hat gewonnen Künstler kunstreich seine Macht.1

Wenn ein Goethe-Zitat als Leitspruch am Anfang meiner Ausführungen steht, so wird am Ende ein Werk des Gothaer Rats Schack Hermann Ewald (1745 – 1822) einen prominenten Platz als triftige Instanz der Annäherung an den von Goethe angesprochenen Idealstil einnehmen. Um dorthin zu gelangen, sind wegen der komplexen Kombination von Quellengattungen einige Zwischenschritte nötig: (1) eine Hinführung zum Thema, (2) eine Erklärung des experimentellen Denkens als Grundeinstellung der Aufklärungsbewegung und (3) ein Verweis auf das Geselligkeitsethos als ein zweites Hauptmerkmal des 18. Jahrhunderts. Diese drei Schritte ergeben den Hintergrund für die Würdigung (4) der Arbeiten des Gothaer Freimaurers und Illuminaten Schack Hermann Ewald als Verkörperung des neuen Schreibideals seiner Epoche. Den Ursprüngen der internen Schreibübungen und Menschenführung der Illuminaten in deren externem Umfeld möchte ich nachgehen, um die Vernetzung der in der Gothaer Minervalkirche beobachteten Schrift- und Diskussionspraktiken mit Zielen der Aufklärung im Allgemeinen zu erhellen.2 Diese Aufgabe verspricht auch Licht auf eine verlorengegangene Perspektive zu werfen, die Margaret C. Jacob in Strangers 1 Johann

Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: J. W. G, Werke, Hamburger Ausgabe, hg. von Erich Trunz, 14 Bände, München 1988, hier Bd. 8, 255. 2 Mir vorausgegangen sind Martin Mulsow, Diskussionskultur im Illuminatenorden: Schack Hermann Ewald und die Gothaer Minervalkirche, in: Marian Füssel, Martin Mulsow (Hg.), Gelehrtenrepublik, Hamburg 2015 [= Aufklärung 26 (2015)], 153 – 203, und Horst Schröpfer,

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128

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Nowhere in the World konstatiert hat: die Außenwirkung der Geheimbundpraktiken.3 Allgemein betrachtet ist die Verbreitung des Aufsatzschreibens und des Essays als seiner spezifisch literarischen Form Ausdruck des neuen Kritik-Ideals nach etwa 1750. Beide sind u. a. das Ergebnis der buchhändlerischen Neuorganisation nach dem Siebenjährigen Krieg mit ihrem Übergang von der Tausch- zur Geldwirtschaft, vom Konditions- zum Nettohandel im Jahr 1764. Allerdings wäre auch noch an den weiter zurückreichenden Einfluss der Moralischen Wochenschriften, der Epistologie und der journalistischen Literaturkritik zu erinnern. Rhetorische Traditionen spielten zudem eine entscheidende Rolle bei der Entstehung eines neuen Schreibstils in Schule, Hochschule und Kirche. Vorausgeschickt sei schließlich, dass es keine definitive Form des Aufsätzeschreibens gibt, sondern nur eine breite Skala von Stilvariationen. Die ästhetisch-rhetorisch wirksamsten Prosaformen nenne ich „essayistisches Schreiben“.4 Im Leitspruch spricht Goethe den erwünschten ästhetischen Stil an. I. Aufklärung – Geselligkeit - Soziabilität Ausgangsbasis ist der experimentelle Grundcharakter der gesamten europä­ ischen Aufklärung ca. 1680 – 1790. Man bezeichnet die Epoche neuerdings sogar als Laboratorium und verweist damit auf die Logik des experimentellen Denkens mit ungewissem Ausgang, als induktives, also ergebnisoffenes Verfahren.5 Die Suche nach der Wahrheit, nicht deren Besitz ist primär, so Gotthold Ephraim Lessings klassische Formulierung in Eine Duplik (1778). Politisch gesehen markieren zwei Revolutionen Anfang und Ende jener Epoche: die Glorious Revolution in England (1688) und die Französische Revolution auf dem Kontinent

Schack Hermann Ewald (1745 – 1822). Ein Kantianer in der thüringischen Residenzstadt Gotha u. a. 2015. Leider war mir Schröpfers Monographie nicht zugänglich. 3 Margaret C. Jacob, Strangers Nowhere in die World: The Rise of Cosmopolitanism in Early Modern Europe, Philadelphia 2006, 10: „But we have also lost the narrative of other past practices [i. e., masonic exhanges] that might inform current tensions and debates“. Jacob präsentiert hier das Ergebnis ihrer Untersuchungen von Archivalien und Sitzungsprotokollen gelehrter Gesellschaften in Antwerpen, Amsterdam, Lyon, London, Paris und Marseille sowie von Freimaurer-Archiven, die von den Nazis aus Paris nach Deutschland verbracht und nach 1945 von den Sowjets nach Moskau verlagert wurden. 4 Dem Thema widmete ich eine Monographie: Crossing Boundaries, A Theory and History of Essay Writing in Germany 1680 – 1815, Philadelphia 1989. 5 Vgl. Olaf Breidbach, Hartmut Rosa (Hg.), Laboratorium Aufklärung, Paderborn 2010. Der Band eröffnete eine Buchreihe im Fink Verlag mit dem gleichen Titel. 2011 fand eine Ausstellung zur Wiener Loge „Zur wahren Eintracht“ mit dem Titel „Laboratorium Aufklärung“ statt (URL: http://www.freimaurermuseum.at/allgemeines/laboratorium-aufklaerung.html, 10. 03. 2016).



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(1789 ff.). Philosophische Marksteine sind etwa Christian Wolffs Psychologia rationalis (1732) und Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft (1784). Aus jeweils einer anderen Perspektive betrachtet, gilt das achtzehnte Jahrhundert als juristisches Reformzeitalter, als pädagogisches Jahrhundert, als Zeitalter der Kritik, als Übergangszeit von der Offenbarungsreligion zum Deismus und als die Epoche eines anthropologischen Episteme-Wechsels zum Begriff des ‚ganzen Menschen‘ mit Leib und Seele. In der Medizin entstand die experimentelle Physiologie, in der Himmelskunde ereignete sich zunehmend die Kopernikanische Wende und in Botanik und Zoologie begann das morphologische Denken zu dominieren. Alle diese Perspektiven sind Ergebnis des Sachzwangs neuer empirischer Erkenntnisse.6 Deshalb spricht man häufig in der Mehrzahl vom Zeitalter der Aufklärungen. „In jedem Fall“, meint Werner Schneiders, „ist mit einer Vielzahl von Erscheinungsformen zu rechnen“,7 allen gemeinsam ist jedoch die Skepsis als Grundeinstellung. Endgültige Antworten gibt es demnach nicht. Zum üblichen Glauben an eine Rettung im Jenseits gesellte sich zunehmend ein neuer Vernunftglaube an ein besseres und menschengerechteres Diesseits. Neben der kritischen Denkübung wertete das Zeitalter außerdem die menschlichen Sinnesorgane und Empfindungsfähigkeiten entschieden auf. Eine Schule der Empfindsamkeit (bzw. sensibilité, sensibility) entwickelte sich neben jener gerühmten Rationalität. Der Titel von Jane Austens Roman Sense und Sensibility (1811) fasst rückblickend die doppelseitige Orientierung der gesamten Epoche bündig zusammen.8 Demzufolge war ein weiterer Grundzug die Überzeugung, der Mensch sei ein soziales Wesen, dessen Verstandes- und Empfindungsvermögen nur im Umgang mit anderen Menschen sich voll entfalten könne. Somit stellte sich die Geselligkeit bzw. Soziabilität bald als ein geeignetes und populäres Mittel heraus, das Doppelziel des Aufklärungszeitalters zu erreichen: Herz und Kopf zu bilden.

6 Werner Heisenberg, Änderungen der Denkstruktur im Fortschritt der Wissenschaft, in: W. H., Schritte über Grenzen. Gesammelte Reden und Aufsätze, 2. ergänzte Ausg., München 1973, 275 – 87, hier 286 f. 7 Werner Schneiders, Das Zeitalter der Aufklärung, München 1977, 18. 8 Kant definierte Sentiment philosophisch als weder diskursiv noch irrational, wenn er erklärt: „Weil unsere Vernunft nichts destoweniger wirkt, ob wir uns gleich ihrer Tätigkeit nicht bewußt sind, so kommt es, daß wir bisweilen durch Vernunft urteilen, wo wir glauben durch Sinnlichkeit geurteilt zu haben und es anzuschauen gedenken. Dies nennt man Sentiment“. Die philosophischen Hauptvorlesungen Immanuel Kants, hg. von Arnold Kowalewski, München, Leipzig 1924 (Neudruck: Hildesheim 1965), Bd. 1, 242.

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II. Neues Ethos - neuer Stil Der wahre Charakter des aufklärerischen Ethos war deshalb im Grunde genommen Bewegung, unaufhörliche Aktivität. Im frühen 20. Jahrhundert fasste der Philosoph Ernst Cassirer diese Grundeigenschaft präzise zusammen: Seine [des aufklärerischen Denkens] Beschaffenheit und seine eigentümliche Bestimmtheit tritt nicht dort am reinsten und am klarsten hervor, wo es sich in einzelnen Doktrinen, in Axiomen und Lehrsätzen feststellt, sondern wo es noch mitten im Werden des Gedankens begriffen ist, wo es zweifelt und sucht, wo es niederreißt und aufbaut. […] Nur im Akt und in dem stetig fortschreitenden Prozeß dieser Auseinandersetzung lassen sich die geistigen Grundkräfte, die hier walten, erfassen, und erst hierin läßt sich der Pulsschlag des inneren gedanklichen Lebens der Aufklärungszeit verspüren.9

Kritisches Denken gleicht einem Befreiungsakt, der Freisetzung von Energie, die – bezogen auf die Menschen – zwangsläufig zur Charakterbildung führen müsste. Ohne selbständiges Denken könne sich der Mensch nicht über seinen Naturzustand erheben und zu seiner Bestimmung, ganz Mensch zu sein, gelangen. Für die Frage nach dem Verhältnis zwischen Schreiben, Lesen, Denken und ethisch Handeln sind zwei Basistexte richtungsweisend: Christian Thomasius‘ (1655 – 1728) berühmte Vorlesung Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandeln nachahmen solle? (1687) und Gottfried Wilhelm Leibniz‘ (1646 – 1716) Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache besser zu üben samt beigefügten Vorschlag zu einer Teutschgesinnten Gesellschaft (1683). Wegen seiner Befürwortung von Toleranz, Selbstdenken und der Pflege der deutschen Sprache gilt der Philosoph Thomasius als Vater der deutschen Aufklärung.10 Er vertrat die neue skeptische Orientierung, die selbstständiges Denken und Toleranz verlangte. Leibniz gilt als Universalgelehrter und Innovator in mehreren Wissenschaftsdisziplinen; doch im gegenwärtigen Kontext sind seine Anregungen zur Umorientierung philosophischen Denkens nach organisch dynamischen Konzepten am wichtigsten. Seine Weltvorstellung basierte wesentlich auf dem Bewegungsprinzip.11   9 Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 2007, xiii (ursprünglich Tübingen 1932). 10 Vgl. McCarthy, Crossing Boundaries (wie Anm. 4), 71, 78, 177, 183, 317; Frederick M. Bar­nard, „Aufklärung“ and „Mündigkeit“: Thomasius, Kant, and Herder, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 57/2 (1983), 278 – 297; Alexander Košenina: Christian Thomasius, Vater des Journalismus und der Aufklärung, in: Die Welt, 30.12.04. 11 Am deutlichsten wird dies in seiner posthum erschienenen Monadologie (1714), vgl. beispielsweise § 10, 11, 55, 71, 75. Siehe dazu u. a. Arthur O. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study in the History of an Idea, Cambridge, MA 1971, chap. 4: The Principle of Plenitude and



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Thema von Thomasius‘ Vortrag ist die unkritische oberflächliche Nach­ ahmung französischer Sprache, Sitten und Gewohnheiten in den gebildeten Kreisen, vor allem unter den Studierenden. Dagegen sei die ‚wahre Nach­ahmung‘ die Habitualisierung weiser und gefälliger Verhaltensformen im sozialen Umgang. Als Ausgangspunkt diente ihm Baltasar Graciáns (1601 – 1658) Aphorismensammlung Oráculo manual y arte de prudencia (1647).12 Einige für mein Anliegen entscheidende Aspekte von Graciáns Argument – die in Thomasius‘ Weisheitslehre eingegangen sind – seien im Folgenden etwas eingehender dargestellt. Aphorismus 35 behandelt die Wichtigkeit des Nachdenkens. Dummköpfe hätten keinen gesellschaftlichen Erfolg, weil sie nicht weit genug dächten und kaum die Hälfte des Vorhandenen sähen. Dagegen denke der Kluge über alles nach; er differenziere, unterscheide und dringe in die Tiefe. Er verfüge über Weitsicht, Scharf- und Tiefsinn.13 Diese Qualitäten kennzeichnen den universellen Idealmenschen, den honnête homme, eine Variation der Renaissance-Vorstellung des vollkommenen Menschen, des Virtuoso (vgl. den 93. Aphorismus). Geschaffen als die Krone der Schöpfung sei der gebildete und geschmackvolle Mensch eine Spiegelung des göttlichen Makrokosmos im Kleinen. Gracián erklärt: Gleichwie die natur den menschen, als ihr meisterstück, zu einem inbegriff der gantzen nature gemacht hat, also soll die kunst durch fleiß und übung, durch ausarbeitung des willens und verstandes, ihn gleichergestalt zu einem inbegriff einer allgemeinen vollkommenheit machen.14

Diese Überzeugung führt direkt zur gegenwärtigen Fragestellung nach Menschenbildung und –führung. New Cosmography; Cassirer, Aufklärung (wie Anm. 9), 3 – 15, 30, 36; Gilles Deleuze, Le pli: Leibniz et le Baroque, Paris 1988. 12 Thomasius verwendete die französische Übersetzung von Nicolas Amelot de la Houssaie (1634 – 1706), L‘homme de cour. Traduit de l‘Espagnol de Baltasar Gracian par le Sieur Amelot de la Houssaie. Avec des notes, Paris 1684. Das Werk wurde 1717 von August Fr. Müller ins Deutsche übersetzt und in Leipzig herausgegeben. 13 „Von der klugheit, seinem gemüth scharfsinnige vorstellungen zu machen, insonderheit von sachen von wichtigkeit 1). Alle narren verderben dadurch, daß sie nicht dencken können. In keiner sachen erreichet ihr verstand die helfte dessen, worauf sie wohl zu dencken nöthig hätten 2). Also da sie weder schaden noch vortheil, so ihnen daraus erwachsen kann, zu empfinden fähig sind, können sie vor keines von beyden grosse sorgfalt hegen. Einige machen viel wercks aus dingen von schlechter wichtigkeit, und wenig wercks aus dingen von grosser wichtigkeit; so gar spielen sie die verkehrte welt in ihren urtheilen. […] Ein weiser hat sein nachsinnen über alles, wiewohl mit unterschied 4). Dinge, in denen etwas wichtiges verborgen lässet er nicht ab aufs genaueste auszugründen, ja zuweilen gedencket er so gar ein mehreres, als er vermuthlich zu seyn gedencken kann 5)“ (Balthasar Gracians Oracul, das man mit sich führen, und stets bey der Hand haben kan, das ist Kunst-Regeln der Klugheit. Übersetzt von August F. Müller, 3 Bde., Leipzig 1733, Bd. 1, 222; Die Ziffern im Text beziehen sich auf erläuternde Anmerkungen.). 14 Ebd., Bd. 1, 709.

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Wohl am deutlichsten formuliert Gracián im 87. Aphorismus das Menschenkonzept, das zum späteren Bildungsideal vom ‚ganzen Menschen‘ führen sollte, wenn er schreibt: Der Mensch wird als ein barbar gebohren, er kann sich von den viehischen sitten nicht anders befreyen, als durch fleißige ausarbeitung seiner menschheit. Die ausarbeitung der menschlichen fähigkeiten macht uns allererst zu menschen 2), und ie grösser der fleiß ist, mit welchem wir diese ausarbeitung uns angelegen seyn lassen, desto mehr werden wir zu menschen. Aus diesem grunde konnte einst Griechenland alle andern völcker barbarn nennen. Nichts ist, das den menschen wilder macht, als die unwissenheit, und nichts, das ihn geschickter macht, als die weißheit. Doch hat auch so gar die weißheit ein tölpisches und ungeschicktes ansehen, wenn sie durch die äuserlichen sitten verunzieret wird 3). Nicht allein der verstand muß neben seiner scharfsinnigkeit auch artig seyn, sondern auch der wille, und am allermeisten der umgang.15

Die Vorstellung von Charakterbildung durch Wissen und gepflegte Umgangsformen läuft wie ein roter Faden durch die aufklärerische Literatur. Die Formulierung „durch Übung und Bildung des Verstandes und des Geschmacks“ kehrt refrainartig in den Schriften der Aufklärer von Thomasius bis zu Schack Hermann Ewald immer wieder. Laut Thomasius besteht die echte Nachahmung nicht in der Aneignung von äußeren Merkmalen der französischen Kultur, sondern in der Verinnerlichung von sozialen und geistigen Fertigkeiten wie Gelehrsamkeit, honnêteté, beauté d‘esprit, galanterie und un bon goût. Wenn all diese Eigenschaften in einer Person vereint seien, entstehe „un parfait homme Sage oder ein vollkommmener weiser Mann“.16 Ein ‚ganzer Mann‘ zu werden ist also die allgemeine Berufung des Menschen. Der Weg zum Ziel führt durch die Aneignung von Wissen, das Sammeln von Erfahrungen und die Verfeinerung der Sitten im Umgang mit den Mitmenschen. Graciáns Maxime 108 behandelt eben diese sozialisierende Dimension:

15 Ebd., Bd. 1, 651 f. „Umgang“ schließt die Redegewandtheit ein (so übersetzt Arthur Schopenhauer den Begriff in seiner modernisierten Übertragung von Graciáns Werk. Vgl. Baltazar Gracián, Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit. Aphorismen. Aus dem Span. von Arthur Schopenhauer, Frankfurt am Main 2008). 16 Christian Thomas eröffnet Der Studirenden Jugend zu Leipzig in einem Discours Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? ein Collegium über des Gratians Grund-Reguln/ Vernünfftig/ klug und artig zu leben, Leipzig 1687, 33. Vgl. McCarthy, Crossing Boundaries (wie Anm. 4), 179. Gleichzeitig und ähnlich in der Auswirkung mit dem Einfluss von Gracián war Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury mit Schriften wie Soliloquy, Inquiry Concerning Virtue or Merit, A Letter concerning Enthusiasm, Sensus Communis und The Moralists (alle 1705 – 1710). Siehe Barbara Schmidt-Haberkamp, ‚Go to the poets‘: Die Kunst des Selbstgesprächs bei Shaftesbury, in: Rainer Godel, Insa Kringler (Hg.), Shaftesbury, Hamburg 2010 (= Aufklärung 22/2010), 17 – 40.



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Der kürzeste weg, ein rechter mensch zu werden, ist, daß man sich rechte gesellschafft zu erlesen wisse 1). Der tägliche umgang ist eine sache von ungemeiner kraft 2): er macht uns der sitten und des geschmacks derer, mit denen wir umgehen, unvermerckt theilhaftig.17

Der ganze Mann ist zugleich ein eleganter, gerechter und weiser Mensch, der jeder Situation gewachsen ist. Diese Vorstellung blieb ein philosophisch-mora­ lischer Grundzug während des ganzen Jahrhunderts, allerdings mit der bedeutsamen Ersetzung des geschlechterspezifischen Wortes „Mann“ durch die offenere Bezeichnung „Mensch“. Der zweite Basistext neben Thomasius‘ Über die Nachahmung der Franzosen ist Leibniz‘ Ermahnung an die Teutschen, ihren Verstand und Sprache besser zu üben, samt beigefügten Vorschlag einer teutschgesinnten Gesellschaft.18 Er repräsentiert einen deutlichen Bruch mit dem üblichen kombinatorischen Barockgeschmack. Wenn der Vorschlag zu einer neuen menschenbildenden Sozietät auch keine direkten Folgen hatte, spielte die Ermahnung dennoch eine Vorreiterrolle in der Entwicklung eines neuen dynamischen Stils und der Sensibilisierung neuer Leserkreise. An die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts anknüpfend, vermittelte er Impulse zur Gründung diverser Gesellschaften im 18. Jahrhundert. Mit seinem Vorschlag für eine patriotische Gesellschaft entwirft Leibniz einen Plan, wie man den Franzosen den Vorrang in Kulturangelegenheiten streitig machen könnte. Etliche wohlmeinende Personen sollten sich zusammenfinden, um sich zu überlegen, wie nützliche und angenehme Kern17 Der

volle Wortlaut von Maxime 108 ist: „Der tägliche umgang ist eine sache von ungemeiner kraft 2): er macht uns der sitten und des geschmacks derer, mit denen wir umgehen, unvermerckt theilhaftig; und ehe wir es gewahr werden, beginnen uns ihre gemüths-eigenschafften, sowohl in ansehung des willens, als auch des verstandes, allmählig anzuhangen. Ein mensch demnach, der da hitzig ist, suche sich zu leuthen zu halten, die von sesetztem und ruhigem geiste sind; und gleichergestalt wer in einer andern gemüths-art ausschweiffet, geselle sich zu leuthen von entgegen gesetztem naturell: Man wird solchergestalt sonder allzu saure mühe seine gemüths-regungen in die gehörige masse setzen können. Es ist eine grosse geschicklichkeit, sich in die leuthe schicken zu können. Sogar das gantze gebäude der natur erlanget seine schönheit und betändige dauer von elementen, die durch entgegen gesetzte bewegungen in einander wircken: da nun in natürlichen dingen aus solchen bewegungen eine so vortrefliche übereinstimmung entstehet, so wird gewß in den sitten der menschen eine weit schönere entstehen, wenn verschiedene gemüther durch eben dergleichen entgegen gesetzte bewegungen einander temperiren. Man bediene sich dann dieser politischen betrachtung zu seinem nutzen, in erlesung seiner freunde und bedienten; Es wird aus der stetigen gemeinschafft wiedriger gemüther, gleich als zwischen zwey Extremis, die vernünfftigste mittel-strasse und proportion der bewegungen erwachsen“. Balthasar Gracians Oracul (wie Anm. 13), Bd. 2, 56 f. 18 Gottfried Wilhelm Leibniz: Ermahnung an die Teutschen, ihren Verstand und Sprache besser zu üben, samt beigefügten Vorschlag einer teutschgesinnten Gesellschaft (1683), in: Politische Schriften, hg. von Hans Heinz Holz, 2 Bde., Frankfurt am Main 1967, Bd. 2, 60 – 80; Siehe ferner das spätere Ergänzungsstück Unvorgreifliche Gedanken (ca. 1709).

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schriften in deutscher Sprache anzuregen wären.19 Von offiziellen Initiativen der Regenten zur Pflege der deutschen Sprache und Literatur verspricht sich Leibniz wenig, weshalb er seine Hoffnung auf die Führungsrolle einer Bildungselite legt. Traditionelle Gelehrte schrieben steif und auf Latein für ihre Zunftbrüder, moniert er. Eine ganz neue schriftstellerische Einstellung zur ‚Öffentlichkeit‘, der Gebrauch der eigenen deutschen Sprache als allgemeines Kommunikationsmittel und die gezielte Erziehung eines breiten allgemein gebildeten Lesepublikums seien für die erwünschte Kulturreform erforderlich.20 Als Zielgruppe seines Vorschlags einer patriotischen Gesellschaft fasst Leibniz Hof- und Geschäftsleute mit ihren Frauen ins Auge, wie dies bei französischen und italienischen Autoren bereits gang und gäbe war. Das neue Literaturangebot sollte aus reifen ‚nahrhaften‘ Offerten bestehen, die in einem leichten Stil vorgetragen werden sollten, denn man wollte Kopf und Herz der LeserInnen auf angenehme Weise beschäftigen. Eleganz der Ausdrucksweise, klare Logik, einfallsreiche Kunstgriffe, präzise Wortformulierungen, eine natürliche rhetorisch wirksame Abfolge der verschiedenen Textelemente und die harmonische Integrierung aller Teile zu einem Ganzen seien laut Leibniz die erwünschten Eigenschaften, um einen produktiven Dialog zwischen Autor und Leser zu stiften. Mit der Beschreibung eines offeneren Stils in deutscher Sprache ebnete Leibniz gleichfalls den Weg zu einem Schreibstil, den Friedrich Schlegel später in seiner voll entfalteten Form „eine Art Experimentalphilosophie“ nennen wird.21 Der Vorschlag zur Gründung einer „teutschgesinnten Gesellschaft“ sei eine notwendige Voraussetzung, diese neuen Ansprüche zu erfüllen. Mit anderen Worten stellt sich Leibniz die angestrebte Kulturreform als eine Dynamik vor, die von wenigen Eingeweihten ausgehend nach außen in der Breite wirken sollte. Leibniz‘ Beschreibung des erwünschten Tons deutet in Richtung der vom Essayforscher Ludwig Rohner konstatierten „konziliante[n] Unverbindlichkeit des Gesprächs“.22

19 Vgl.

August Wolfstieg, Werden und Wesen der Freimauerei. Ihre geschichtlichen, sozialen und geistigen Wurzeln, 3 Bde., Berlin 1920, Bd. 1, 165. 20 Hier und im Folgenden siehe McCarthy, Crossing Boundaries (wie Anm. 4), 183 – 189, und McCarthy, The Philosopher as Essayist: Leibniz und Kant, in: Robert Ginsberg (Ed.), The Philosopher as Writer: The Eighteenth Century, Cranbury, NJ 1987, 48 – 74. 21 So sprach Friedrich Schlegel im späten 18. Jahrhundert vom essayistischen Schreiben, wie es sich seit Leibniz (und Thomasius) entwickelt hatte. Siehe Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe seiner Werke, Bd. 18: Philosophische Lehrjahre, hg. von Ernst Behler, Paderborn 1963, Bd. 18/2, 202. 22 Ludwig Rohner, Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung, Neuwied, Berlin 1966, 307.



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III. Gemeinsinn und Öffentlichkeit Die Weisheitslehre grazianischer bzw. thomasischer Prägung und die patrio­ tische Sprachgesinnung von Leibniz wurden in der Folgezeit immer wieder neu variiert. Thomasius‘ Schüler Johann Michael von Loen setzte die Linie zum Beispiel in seinem Roman Der redliche Mann am Hofe (1740) fort. Dort werden der niedrige Adelstand und das gehobene Bürgertum als Zielgruppen ins Auge gefasst. Mit seinem deutschen Bestseller Der Umgang mit Menschen (1788; fünf Ausgaben bis 1796) gibt der zeitweilige Illuminat Adolph von Knigge eine didaktische Sammlung von Umgangsregeln für alle Sozialklassen an die Hand. Am Ende des Jahrhunderts erscheint Schillers philosophisches Vademecum, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). Dieses Werk weist den Weg zur Realisierung der utopischen Vision einer individual-gerechten sowie kollektiv-würdigen Gesellschaft. Alle diese Werke bieten jeweils auf eigene Art Anleitungen zur menschengerechten Handlungsweise und tun dies in sprachgewandter Weise.23 Tatsächlich begriff die Epoche Erkenntnisgewinn und Charakterbildung weniger als Kompilation von empirisch verifizierten Fakten bzw. Lebensprinzipien für den gesellschaftlichen Erfolg als vielmehr als Energieausstrahlung, als eine Art Tatkraft, die nur durch ihre Vermittlungsinstanzen und kontinuierlichen Auswirkungen völlig realisiert und begreiflich wird.24 Dies gilt auch für die Ästhetik. Wenn sich der Blick speziell auf den allgemeinen ästhetischen Affekt der neuen Denkweise verengt, fällt einem z. B. das berühmte Diktum Alexander Gottlieb Baumgartens (1714 – 62) aus seinen Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) ein: „Affectus movere est poeticum“.25 Dabei ist ein lebhaft empfundener Vortrag das eigentliche Ziel der Dichtung. Ferner erklärt Baumgarten, der Dichter sei umso wahrer und größer, je gewaltiger er seine Leser bewege. Damit hören wir ein Echo von Jean-Baptiste Dubos‘ nennen wären ferner europäische Bestseller wie Graciáns Roman El Criticón (in drei Teilen 1651, 1653, 1657), eine ergänzende Summierung seiner Lebensansichten, sowie Samuel Richardsons Pamela or Virtue Rewarded (1740), ein conduct book auch für die Mittelschichten und nicht nur den Kleinadel. Die Verwendung von Aphorismen, Maximen und Gleichnissen zum richtigen Benehmen findet ein Echo in Goethes Wahlverwandschaften (1809) und in seinem Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821) (2. Buch, Betrachtungen im Sinne der Wanderer). Viele Sentenzen, die in diesen und anderen Werken Goethes erstmals erschienen, sind später in Reflexionen und Maximen neu gedruckt worden. Sie sind eine Version seiner Weisheitslehre. 24 Cassirer, Aufklärung (wie Anm. 9), 13: die Vernunft könne eigentlich nur „als eine Energie; als eine Kraft, die nur in ihrer Ausübung und Auswirkung völlig begriffen werden“. 25 Der ganze Passus in §24 von Baumgartens Meditationes philosophicae lautet: „Affectus cum sint notabiliores taedii et voluptatis gradus, dantur eorum repraesentationes sensuales in repraesentante sibi quid confuse, ut bonum et malum, ergo determinant repraesentationes poeticas, § 24; ergo affectus movere est poeticum, § 11“. Zititert nach der Onlineausgabe, URL: http:// documentation.modernsource.daphnet.org/en/Baumgarten.html (11. Juni 2015). 23 Zu

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früherem Argument in seinen Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (1719): der Mensch will sich geistig und körperlich bewegen. Der menschliche Geist habe ein genauso großes Bedürfnis wie der Körper nach Bewegung, nach Belebung. Im Falle des Geistes gehe es nach Dubos um die Bekämpfung von Langeweile, aber nicht minder um verschärftes Denken und verfeinerte Empfindungen.26 Als Kernausdruck des neu entstehenden Ethos dürfte der berühmte Satz aus dem Brief Lessings an Friedrich Nicolai vom November 1756 stehen: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“.27 Die Fähigkeit, das Leiden anderer Menschen nach- und mitzuempfinden, führt zu einem sensus communis und schließlich zum Kantischen Begriff des sensus communis aestheticus. Dieser Gemeinsinn hängt von zwischenmenschlichen Verhaltensformen ab, ja von der performance von Ritualen und Denkübungen. Er äußert sich einerseits als ein Geschmacksurteil, andererseits als Grundlage der Geselligkeit. Diese ist zugleich eine dialektisch phänomenologische wie auch eine sittlich-sinnliche Angelegenheit, die einen Meta-Sinn ergeben kann, wenn die Sinneswahrnehmung und die Reflexionen darüber als ein ganzheitlicher Vorgang begriffen werden.28 Allmählich wird der Gemeinsinn so zum Bestandteil frühneuzeitlicher Kommunikationsnetzwerke.29 Genauso wie die Kontrahenten Lessing, Mendelssohn und Nicolai sollen sich die Menschen – die indirekt wie auch direkt betroffenen Personen – gegenseitig auffordern, mitzuempfinden und weiter zu denken, sich nicht einem vorgezeichneten Schluss anzupassen, sondern sich stets einem Ideal­z ustand der Humanität zu nähern. Es handelt sich also um die Prozessuali26 Jean-Baptiste

Dubos, Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture. Partie 1 / par M. l‘abbé du Bos… 4e édition revue, corrigée et augmentée, 3 vols., Paris 1740: „L‘ame a ses besoins comme le corps, & l‘un des plus grands besoins de l‘homme, est celui d‘avoir l‘esprit occupé. L‘ennui qui suit bientôt l‘inaction de l‘ame, est un mal si douloureux pour l‘homme, qu‘il entreprend souvent les travaux les plus pénibles, afin de s‘épargner la peine d‘n être tourmenté“ (I, 1). Zitiert nach: gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France (11. Juni 2015). 27 Lessings Briefe in einem Band, hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, ausgewählt und erläutert von Herbert GreinerMai, Berlin, Weimar 1967, 53. 28 Geschmack = sensus commune. Siehe Immanuel Kant: Werkausgabe, hg. von Wilhelm Wei­­schedel, 12 Bde., Darmstadt 1998, Bd. 10, 162 f.; Ulrike Zeuch, Sensus communis, imaginatio und sensorum commune im 17. Jahrhundert, in: Hans Adler , Ulrike Zeuch (Hg.), Syn­ ästhesie: Interferenz, Transfer, Synthese der Sinne, Würzburg 2002, 167 – 84, hier 167, und Waltraud Naumann-Beyer, Zwei Bedeutungen von ‚Gemeinsinn‘ und ihr Zusammentreffen in Kants Begriff des ‚sensus communis aestheticus‘, in Adler, Zeuch (Hrg.), 213–224, hier 223. 29 Markus Fauser, Einleitung, in: Gotthold Ephraim Lessing. Neue Wege der Forschung, hg. von M. F., Darmstadt 2008, 7 – 17, hier 13 f.; ders., Das Gespräch im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1991, 23 – 40, 86 – 100; Egbert Witte, „… in der Gestalt der Muse Xenophons und der moralischen Venus des Shaftesbury“. Erziehungkonzeptionen bei Christoph Martin Wieland, in: Aufklärung 17 (2005), 215 – 236 (bes. 232 – 236); Björn Pecina, Gefühlte Ganzheit. Shaftesburys Metaphysik des ‚moral sense‘, in: Godel, Kringler (Hg.), Shaftesbury (wie Anm. 16), 151 – 172.



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tät, die sich zwischenmenschlich in geselligen Umgangsformen und literarisch in einem neuen Schreibsystem, das von der Dialogizität stark Gebrauch macht, ausdrückt. Intellektuelle Energieknäuel – etwa Lessings fermenta cognitionis – sind das Wesen aufklärerischen ‚Wissens‘. Dieses Konzept führt direkt zu einer Definition der neuen Schreibweise, die zu dieser Wissensart am besten passt: dem Essay. Genauer: essayistisches Schreiben. Friedrich Schlegel beschreibt die Wirkung der neuen Schreibform als „ein wechselseitiger Galvanism des Autors und des Lesers“.30 Die Dialektik des Erkenntnisgewinns ist dem lebensnotwendigen Ein- und Ausatmen analog. Sie findet nicht nur zwischen Autor und Leser anhand des Textes statt, sondern spiegelt sich gleichfalls in der inneren Dynamik jedes Gesprächpartners.31 Die schriftliche Wiedergabe bzw. Nachahmung dieses Vorgangs kann man durchaus als ein Prozessprotokoll betrachten. Ja, der niedergeschriebene Dialog bzw. die dialektische Struktur einer Schrift ist gewissermaßen „eine ungeborne Seele“, und unsere Aufgabe als Rezipienten ist es, das inhärente Leben im „toten Buchstaben“ hervorzulocken.32 „Wenn wir lesen“, behauptete Arthur Schopenhauer mit Blick auf die Lesepraxis seiner Zeit, „denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß“.33 Ein solches Lesen ist passiv. Aktives Lesen kann uns jedoch bilden, uns gar zum Schreiben bilden, das heißt durch die Assoziation des Schreibens mit dem Denken, auch zur kritischen Reflexion ausbilden. Thomasius‘ Vorstellung von echter Nachahmung war eine conditio sine qua non dieser Dialektik. So werden die LeserInnen als Menschen aus- und fortgebildet. Die nachhaltige Wirkung im Hochschulwesen von Leibniz und Thomasius, von Baumgarten und Dubos durch Lehrer wie Christian Wolff, Johann Jakob Bodmer, Christian Friedrich Gellert, Georg Friedrich Meier bis zu Christoph Martin Wieland und Friedrich Schiller sorgte für Kontinuität in der wachsenden Anerkennung literarischer Tätigkeit bei der Entfaltung individuellen Potentials. Die rapide Entwicklung des Zeitschriftenwesens von Thomasius‘ Monats­ 30 Schlegel,

Kritische Ausgabe (wie Anm. 21), 221. Der Zusammenhang des Zitats ist aufschlussreich: „Der Essay ist wie ein wechselseitiger Galvanism des Autors und des Lesers und auch ein innrer für jeden allein; systematischer Wechsel zwischen Lähmung und Zuckung. – Er soll Motion machen, gegen die geistige Gicht ankämpfen und Agilität befördern“. 31 Hier denke man u. a. mit Recht an Jürgen Habermas‘ Begriff der kommunikativen Inter­ aktion. Habermas erkennt vier fundamentale Eigenschaften der kommunikativen Aktion an: Die Intersubjektivität, das Prinzip des Fließens (flux), die Perspektive des Zuhörers und die heuristische Natur des Diskurses. Vgl. McCarthy, Crossing Boundaries (wie Anm. 4), 44 – 57, hier 54. 32 Schack Hermann Ewald, Ueber das menschliche Herz. Ein Beytrag zur Charakteristik der Menschheit, 3 Bde., Erfurt 1784, 26. Die Bezeichnung „toter Buchstabe“ geht auf das biblische Wort: 2. Korintherbrief, Verse 3, 6, zurück; G. E. Lessing benutze das Konzept in Anti-Goeze (1778) im Streit mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze. 33 Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, Kap. XXIV: Ueber Lesen und Bücher, § 291. Zitiert nach: URL: http://aboq.org/schopenhauer/parerga2/lesen.htm (31. Dez. 2015).

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gesprächen über Moralische Wochenschriften wie Der Biedermann, Der Mensch und Der Gesellige bis zu den literarisch-kulturellen Zeitschriften Die Frankfurter Gelehrtenzeitung, Kritische Wälder, Briefe die neueste Literatur betreffend, Das Deutsche Museum, Der teutscher Merkur und Das Journal des Luxus und der Moden sorgte ihrerseits für ein wachsendes, nicht mehr dominant gelehrtes Hochschullesepublikum. Gelehrte wurden selber immer mehr zu public intellectuals. Man denke etwa an Wieland, Goethe, Herder, Schiller, Campe. Alle diese Periodika, Lehrer und Schriftsteller haben einen überregionalen Leserkreis erreicht, zum Teil auch einen internationalen, so dass man von einem Widening Circle spricht.34 Zur Förderung von Sensibilität, Soziabilität und moralischästhetischer Urteilsfähigkeit experimentierte man auch mit neuen prosaischen Kleinformen wie Tagebuch, Dialog, Gebet, Selbstgespräch, aber vor allem mit Fragment, Zusatz, Beilage, Brief, Versuch und Aufsatz.35 Wenn man um 1700 mit einem geübten Lesepublikum in Deutschland von etwa 25.000 Personen (zum weit überwiegenden Teil männlichen Geschlechts) rechnen konnte, so darf man für die Zeit um 1800 von einem Elitenleserkreis von sicher ca. 300.000 Personen beiderlei Geschlechts ausgehen.36 Die Zahl stieg stetig an. Im Umkreis dieser „fit readers“ (Stanley Fish) fanden sich zusätzlich rund 2,5 Millionen Lesekundige, die jedoch nicht so lesen konnten, wie ästhetisch-philosophisch anspruchsvollere Autoren sich das gewünscht hatten. Während die vormoderne Ständegesellschaft sich in der Kirche oder am Fürstenhof mit ihren jeweiligen Ritualen sozial reproduziert hatte, bestand nun in solchen Schreib- und Leseübungen wie in diversen Wohltätigkeitsvereinen, Lesegesellschaften, Leihbibliotheken und sozialen Gruppierungen die Möglich34 Siehe

die einschlägigen Essays in Paul J. Korshin (Ed.), The Widening Circle: Essays on the Circulation of Literature in 18th-Century Europe, Philadelphia 1976, und das von Rudolf Vierhaus herausgegebene Themenheft Aufklärung als Prozess: Aufklärung 2/2 (1987). Zur sozialen Klassifizierung des neuen Zielpublikums vgl. Michel Vovelle (Hg.), Der Mensch der Aufklärung, Essen 2004 (ursprünglich L‘uomo dell‘Illuminismo, Rom 1992). 35 Siehe Ernst Fischer, Wilhelm Haefs, York-Gothart Mix, Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700 – 1800, München 1999, und Michael Gross, Ästhetik und Öffentlichkeit. Die Publizistik der Weimarer Klassik, Hildesheim 1994. Obwohl Gross seine Perspektive auf Goethe und Schiller verengt, ist sein Fokus auf das klassische Bildungsideal im gegenwärtigen Kontext allgemein nützlich. Alexander Košenina, Carsten Zelle (Hg.), Kleine anthropologische Prosaformen der Goethezeit (1750 – 1830), Hannover 2011, und Alexander Košenina, Spiel mit kleinen Formen: Beiträge zur Philosophie des Lebens, in: A. K., Karl Philipp Moritz. Literarische Experimente auf dem Weg zum psychologischen Roman, Hannover 2006, 15 – 36. 36 Diesen Fragen gehe ich in „The Poet as Journalist and Essayist: C. M. Wieland“ nach, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 12/1 (1981), 104 – 138 und 13/1 (1982), 74 – 137. Siehe weiter John A. McCarthy, The Dialectics of Reading: An 18th-Century View of Education and Enlightenment, in: Informationen zur Erziehungs- und Bildungshistorischen Forschung 24/2 (1984), 139 – 159; und ders., The Art of Reading and the Goals of the German Enlightenment, in: Lessing Yearbook 16 (1984), 79 – 94.



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keit, über die Standesgrenzen hinweg auf einem zumindest prinzipiell egalitär gedachten Niveau gesellig zusammenzukommen. Beispiele dafür sind die Patriotische Gesellschaft in Hamburg, die Berliner Mittwochsgesellschaft, der Weimarer Musenhof, der Göttinger Hain und nicht zuletzt die nahezu über das gesamte Reich verbreiteten Freimauerlogen und Illuminatenzirkel. Alle hatten mehr oder minder ausgeprägte, zum Teil neue gesellige Umgangsformen entwickelt und vertraten ein Bildungsziel, das an das vorhin entworfene Bildungsideal eng angelehnt ist. In Folge solcher Erneuerungsversuche vervielfachte sich der Bedarf an Kommunikation37 und es fand ein „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ statt. IV. Schack Hermann Ewald Der Gothaer Journalist und Hofbeamte Schack Hermann Ewald (1745 – 1822) galt lange als Lokalgröße. Die neuen eingehenden Studien von Schröpfer und Mulsow haben Ewalds transregionale Bedeutung als Schriftsteller, Übersetzer, Philosoph, Staatsrechtslehrer und Menschenerzieher nun deutlich herausgestellt.38 Nach dem Studium der Rechte an der Universität Jena wurde er 1769 Advokat in seiner Vaterstadt Gotha, dann Hofmeister in Jena und Göttingen, wo er Mitglied des Göttinger Hains wurde. Den sozialen Aufstieg erlebte er jedoch wiederum in Gotha: 1780 wird er Registrator, dann Sekretär am Hofmarschallamt (1784), Hofsekretär (1798) und schließlich Sachsen-gothaischer Rat (1804). Zudem war er Mitglied der Gothaer Freimauerloge „Zum Rautenkranz“ (seit 1777) sowie (unter dem Namen Cassiodor) der im August 1783 gegründeten illuminatischen Minervalkirche. Wiederholt wandte er sich mit Schriften an ein breiteres Publikum. Zu ihnen zählen die Oden (1773), die Theaterstücke Der falsche Mord. Schauspiel (anon., Frankfurt 1778) und Die Heirath aus Liebe. Nachspiel mit Arien und Gesängen (mit Johann F. Hönicke, Gotha 1781), theatergeschichtliche sowie popularphilosophische Beiträge und Rezensionen in Reichards TheaterJournal (Gotha 1777 ff.), in der Litteratur- und Theater-Zeitung (Berlin 1778 ff.), in der ebenfalls von Reichard herausgegebenen Vierteljahrsschrift Olla Potrida (Berlin 1778 ff.), im Gothaischen gemeinnützigen Wochenblatt (Juni 1779 bis Juni 1781) und in Wielands Neuem teutschen Merkur.39 Außerdem übersetzte 37 Vgl.

Bernd Oberdorfer, Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, Berlin, New York 1995; Emanuel Peter, Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999, und Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750 – 1914, Göttingen 2003. 38 Schröpfer: Schack Hermann Ewald (wie Anm. 2); Mulsow, Diskussionskultur im Illuminatenorden (wie Anm. 2). 39 Wilhelm Creizenach, „Ewald, Schack Hermann“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 6 (1877), 446, Zitiert nach der Onlinefassung: URL: http://www.deutsche-biographie.de/

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er aus dem Lateinischen, Englischen und Französischen, gab das Gothaische Magazin der Künste und Wissenschaften heraus (2 Bde. Gotha 1776 – 79) und war Mitherausgeber der Gothaische[n] gelehrte[n] Zeitung (Gotha 1774 ff.; mit H. A. O. Reichard, L. Chr. Lichtenberg und J. W. Dumpf). Diese kurze Übersicht zeigt Ewald eindeutig als Typus des öffentlichen Intellektuellen im Dienste der Aufklärung. Schröpfer behandelt dessen geistigen Werdegang eingehend, indem er Ewalds Tätigkeit als ersten Spinoza-Übersetzer und frühen Kantianer hervorhebt; Ewald hat zur Verbreitung der Kantischen Gedankenwelt früh und anhaltend beigetragen. Mulsow behandelt Ewalds entsprechende Beteiligung an der internen Diskussionskultur der Illuminatenloge.40 Im Rahmen der Fragestellung nach der Bedeutung des Essay-Schreibens für Menschenbildung und -führung liefern ferner Olaf Simons‘ und Markus Meumanns Kommentare zu Ewalds illuminatischen Aufsätzen einschlägige Informationen bzw. Anregungen.41 Der Verbindung zwischen Ewalds logeninterner Tätigkeit und seinen öffentlich vorgetragenen Meinungen in essayartigen Schriften nachzugehen, ist mein eigentliches Anliegen. Damit schlage ich einen anderen Weg als Mulsow ein, bei dem das weitgespannte Netzwerk des Geheimbundes der Illuminaten im Mittelpunkt steht bei der Beantwortung der Frage, wie sich „der interne Debattenraum zur weiteren Öffentlichkeit“ themenmäßig verhält.42 Meine Überlegungen zum Schreibstil dürfen als Ergänzung zu seiner fundierten Studie betrachten werden. Ein flüchtiger Blick in Ewalds (Cassiodors) in den Versammlungen der Gothaer Minervalkirche vorgetragene „interne“ Aufsätze genügt, um die thematische Verwandtschaft der Fragenstellungen und Antworten mit der öffentlichen aufklärerischen Praxis zu erkennen.43 Musterbeispiele sind die Aufsätze „Könppn100468691.html?anchor=adb (10. 03. 2016). Neuere, z. T. revidierte Informationen auf Grund neuester archivalischer Erkenntnisse bietet der Artikel „Schack Hermann Ewald“ in: The Gotha Illuminati Research Base https://projekte.uni-erfurt.de/illuminaten (abgerufen am 10. 03. 2016). 40 Mulsow, Diskussionskultur im Illuminatenorden (wie Anm. 2), bes. 165 – 185. 41 Siehe die Kommentare v. a. zu den von Ewald verfassten Aufsätzen SK13-021 bis SK13025 in The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 39). 42 Mulsow, Diskussionskultur im Illuminatenorden (wie Anm. 2), 153, 155. 43 Ewald war auch langjähriges Mitglied der Freimaurer Loge in Gotha. Allgemein pflegte die Freimaurerei seit ihrer Gründung 1717 eifrig die Beredsamkeit. Freimaurer wie Illuminaten schätzten Vorträge und Reden als Bildungsinstrumente. Jede Rede galt als Baustein der Charakterbildung, weshalb sie in der Freimaurerei auch „Zeichnung“ oder „Baustein“ genannt wurde. Wegen des gebildeten Publikums legte man besonderen Wert auf einen geistig-literarisch anspruchsvollen Stil. Die Redner machten Gebrauch von den literarischen Erzeugnissen der Denker und Dichter aller Zeiten, um die Zuhörer in ihren Bann zu ziehen. Nicht von ungefähr fanden in der Loge alle Strömungen der Zeit ein Echo. Siehe: Hermann Th. Schletter, Moritz Alexander Zille (Hg.), Allgemeines Handbuch der Freimaurerei. Zweite völlig umgearbeitete Auflage von Lenning‘s Encyklopädie der Freimaurerei, 3 Bde. (Leipzig: Brockhaus, 1867), Bd. 3: Quaderstein—Zytomierz. Nachträge und Berichtigungen, 24 f.



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nen Pflicht und Vortheil von einander getrennt werden, und welches von Beyden ist in Fällen wo sie zusammenstoßen, dem Andern vorzuziehen?” (datiert vom 1. September 1784), „Versuch eines Beytrags zur Beantwortung der Aufgabe: Wie kann man den gesellschaftliche Zeitvertreib nützlich machen, ohne daß er langweilig oder pedantisch werde?” (datiert vom 21. März 1785) und „Recept zur Veredlung unserer Bildung“ (datiert vom 6. Juli 1785).44 Im Folgenden geht es um ausgewählte Stichproben. Wiederholt erschallt in diesen Schriften ein Echo des ‚klassischen‘ Utilita­ ri­tätsdenkens der Spät- bzw. Volksaufklärung. Offenbar ist die Überzeugung, „Gerechtigkeit ist der Grund aller guten Handlungen“ („Können Pflicht und Vortheil von einander getrennt werden“, S. 4), und dass „unser Gefühl für Menschlichkeit“ kultiviert werden müsste (ebd. S. 12), um zum ‚ganzen‘ Menschen zu gelangen. Da ferner der Mensch kein „Holzblock“ sei, und die „Federn, Fibern und Nerven“ des Körpers Äußerlichkeiten aber keine Wesenselemente der menschlichen Seele seien, könne und solle der Mensch „durch fleißiges Lernen, Lesen, Nachdenken und Aufmerksamkeit“ Vorurteile und Unwissenheit bekämpfen („Recept zur Veredlung unserer Bildung“, S. 5). Vor allem der Aufsatz „Recept zur Veredlung unserer Bildung“ ist mit seinem Umfang von fünf Seiten und ästhetisch anspruchsvollem Stil (treffende Metaphern, wirkungsvolle Tropen, Appelle an das Menschengefühl, gezielte Fragen – alles zur Anregung zum Mit- und Nachdenken) ein gelungener Essay. Besonders hervorzuheben ist Ewalds Hinweis auf den bildenden Einfluss schöngeistiger Literatur, die neben einer guten Diät und angemessenen Leibesübungen für die Veredlung des Menschen unerlässlich sei: „man suche […] den unterdrückten Geist frey zu machen und durch den Gebrauch einer angemeßenen Diät, öffteren Bewegung, und geistvollen, herzerhebenden Gedichten und Schriften zu stärken und zu nähren“ (ebd.). Und was ist denn das höchste Bildungsziel? Der Virtuoso. Oder wie Ewald es in seinem Aufsatz „Können Pflicht und Vortheil von einander getrennt warden?” ausdrückt: „Der nachdenkende, nach höchster moralischer Vollkommenheit strebende Mensch, der allein das Modell [für alle Mitmenschen] ist und seyn muß“ (S. 9). Der Aufsatz mit der Überschrift „Über Aufklärung“, datiert vom 15. Juni 1784, ist von besonderem Belang, wenn er auch kein Essay im üblichen Sinn

44 Alle

drei Aufsätze entstammen dem 13. Band der sogenannten Schwedenkiste (im Folgenden SK13), die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin aufbewahrt wird. Die Signatur lautet GStA PK, Freimaurer, 5.2. G 39 JL. Ernst zum Kompaß, Gotha, Nr. 111. Schwedenkiste. Abhandlungen und Geschichte, v. a. Illuminatenorden, 1757 – 1784. Der Reihe nach handelt es sich um die Dokumente SK13-025, SK-13-022 und SK13-023, die vollständigen Transkripte sind in The Gothaer Illuminati Research Base (wie Anm. 39) verfügbar und können dort abgerufen werden.

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ist.45 Er besteht aus einem einleitenden beschreibenden Teil und einem Anhang mit detailliertem Buchentwurf. Wenn das offenkundige Thema dieses „Schulbuches“ die Ausbreitung von Aufklärung ist – man denke an den Dessauer Erziehungsreformer Rudolph Zacharias Becker sowie an Heinrich Jung-Stilling, dessen Naturlehre für den gemeinen Mann 1784 erschien46 –, ist der geheime Mittelpunkt des Arguments die traditionelle Frage nach Zufriedenheit. Letzteres ist ein ständiger Refrain im gesamten Aufklärungszeitalter. Zufriedenheit wurzelt in edlen menschenfreundlichen Gesinnungen und Handlungen. Sie hat nichts mit Unterdrückung anderer zu tun, sondern ist durch Respekt gegenüber allen Menschen, egal welchen Standes gekennzeichnet, denn alle Menschen spielen im Wohlergehen der ganzen Gemeinde eine unerlässliche Rolle. Die Fähigkeit zur Ausbildung des Selbstdenkens und -urteilens spricht Ewald dem Großteil des gemeinen Mannes keineswegs ab. Er meint sogar, dass der rohe, im Denken ungeübte Mensch durch Empfinden zum Nachdenken erzogen werden könne, womit eine Koppelung von Affektenlehre und Ethik offenkundig wird.47 Auch für ihn gehen Erziehungsprozesse einher „mit einer subkutan mitlaufenden Ausbildung von Geschmäckern und Verhaltenspositionen, die Teil eines ‚geheimen Curriculums‘ sind“.48 Jedenfalls hatte Ewald bei seinen Reform­bestrebungen Mitglieder der gehobenen Mittelschichten als eigentliches Ziel­ publikum im Auge, denn sie verfügten über ausreichende Freizeit für Lektüre und deren Umsetzung in die Tat („Wie kann man den gesellschaftlichen Zeitvertreib nützlich machen?” S. 3). Wenn diese (und auch wohl ähnliche, bisher nicht dingfest gemachte)49 Aufsätze Ewalds Gesinnung und Stil deutlich zur Anschauung bringen, ist seine Buchveröffentlichung Ueber das menschliche Herz. Ein Beytrag zur Charak45 SK13 – 021 (wie Anm. 44). Zum Text siehe The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 39). 46 Mulsow, Diskussionskultur im Illuminatenorden (wie Anm. 2), 185 – 190, geht den Zusammenhängen nach. 47 Ewald, Über Aufklärung, 4; ders., Wie kann man den gesellschaftlichen Zeitvertreib nützlich machen?, 6. Somit erweist sich Ewald als ein Vertreter der moderaten Aufklärung in dem Dreierschema Jonathan Israels („radical—moderate—counter“), wo „moderat“ einen dynamisch relationalen Mittelweg zwischen der sozialpolitisch progressiv-linken Tendenz der Aufklärung und der rechtskonservativen Gegenaufklärung darstellt. Siehe Martin Mulsow, Radikalaufklärung, moderate Aufklärung und die Dynamik der Moderne. Eine ideengeschichtliche Ökologie, in: Jonathan I. Israel, M. M. (Hg.), Radikalaufklärung, Berlin 2014, 203 – 233 (hier 217, 221, 223), und Carl Niekerk, Introduction. Answering the Question: How Radical was the German Enlightenment?, in: C. N. (Hg.), How Radical was the German Enlightenment?, Leiden, Boston 2017, 1 – 41 (im Druck). 48 Witte, Erziehungskonzeptionen (wie Anm. 29), 234 – 35. 49 Etwa: „Über die Seele“ (1784), „Über die Zufriedenheit ohne Güter“ (1784), „Über den Mißbrauch des Verstandes“ (1784) und „Über Wahrheit“ (1786). Die Titel gehen aus den Protokollen der Gothaer Illuminatenversammlungen hervor; vgl. dazu im Einzelnen The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 39).



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teristik der Menschheit (1784) eine wahre Fundgrube seiner Ansichten über Charakterbildung und Menschenführung.50 Inhalt und Akzentsetzung weisen große Ähnlichkeiten mit seinen anderen Schriften auf. Insbesondere erinnert die dem Aufsatz „Über Aufklärung“ angehängte Buchprojektskizze mit ihrer vorgesehenen Kapiteleinteilung und untergeordneten Hauptteilen stark an das im gleichen Jahr erschienene Ueber das menschliche Herz. In ihrem Kommentar zu diesem Aufsatz vermerken Olaf Simons und Markus Meumann, man müsste nachforschen, ob das geplante Buch jemals erschienen ist.51 Doch ist die Nähe des publizierten Buches zur Projektskizze verblüffend. Jedenfalls waren Überlappungen wegen der Gleichzeitigkeit der Arbeit wohl unvermeidbar.52 Somit verdient das Buch als Beleg für die Übertragung der internen Diskussionskultur in die Öffentlichkeit besondere Aufmerksamkeit. Ein dreifaches Ziel setzt sich Ewald: Erstens will er das innere Wesen und die gemeinsame Quelle bzw. Grundkraft aller Empfindungen erforschen; zweitens möchte er die Verbindung zwischen Nervenreiz und Moral erhellen; und drittens versucht er aufgrund seiner physiologischen Erkenntnisse, Regeln für Schauspiel- und Dichtkunst für die ästhetische Wirkung auf das Gemüt aufzustellen.53 Im Folgenden beschränkt sich meine Auslegung auf den ersten gewissermaßen einführenden Band, in dem Ewald jene Gegenstände behandelt, welche Anlass zu unseren Empfindungen geben, unsere Aufmerksamkeit anregen und schließlich in vertiefende Reflexionen über Empfundenes übergehen. Der zweite und dritte Band konzentrieren sich auf den menschlichen Willen und die damit zusammenhängenden Leidenschaften, die Handlungen veranlassen.54 Das Herz ist für Ewald der Inbegriff aller äußeren und inneren Empfindungen, Leidenschaften, Neigungen und Nervenreizphänomene, die mit der Willenskraft unzertrennlich verbunden sind. Eine lange elegant geschriebene Einleitung bietet dem Leser einen zusammenfassenden Überblick über das Ganze (S. 1 – 32).

50 Ewald,

Ueber das menschliche Herz (wie Anm. 32). 1799 ist das Werk in einer neuen dreibändigen Ausgabe erschienen. Die Kopie, im Besitz der Columbia University Library, steht jetzt in digitalisierter Form zur Verfügung. URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/008395129. Vanderbilt University Central Library besitzt nur den ersten Band (nicht als solchen bezeichnet) mit den ersten beiden „Abtheilungen“. 51 The Gotha Illuminati Research Base (wie Anm. 39), Kommentar zu SK13-021. 52 Allerdings ist Ueber das menschliche Herz kein ‚Schulbuch‘ wie das skizzierte Werk: Mulsow, Diskussionskultur (wie Anm. 2), 291. 53 So das Urtel des anonymen Rezensenten des Werkes in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd. 31 (1785), 96 – 131 ( 96 – 97, 129), der die Aktualität von Ewalds Studie hervorhebt. Zitiert nach: https://books.google.com/books?id=lT0oAAAAYAAJ &pg=PA96&lpg=PA96&dq=Schack+Hermann+Ewald,+Ueber+das+menschliche+Herz.+Ein+ Beytrag+zur+Charakteristik+der+Menschheit+%28Erfurt:+Johann+Ernst+Schlegel,+1784%29. &source=bl&ots=jT3_3 (26. 12. 2015). 54 Vgl. Ewald, Ueber das menschliche Herz (wie Anm. 32), Bd. 1, 21.

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Es folgen eine Reihe von Einteilungen mit einem Fokus auf einen jeweils anderen Aspekt der sinnlichen Wahrnehmung und deren Verarbeitung zu abstrakten Ideen. Besonders bemerkenswert ist die Aktualität von Ewalds Ausführungen über die physiologische Zusammenwirkung von Geist und Körper. Einerseits nimmt er Bezug auf Johann Caspar Lavaters Physiognomik als Deutung von Charaktereigenschaften, andererseits dringt er wie Johannes Nikolaus Tetens tiefer in chemisch-elektrische Auswirkungen und deren möglichen Beeinflussung von außen ein (S. 233 – 49). Ihm ist die Wirkung sozial-ökonomischer Faktoren auf das Menschengemüt sogar noch wichtiger als die Charakterdeutung nach äußeren Merkmalen (S. 249 – 67). Ausschlaggebend für seine Werteskala sind neben der Vernunft, dem Verstand und der Einbildungskraft Gesinnungen wie Heiterkeit, Zufriedenheit, Tief- und Scharfsinn mit ihren unterschiedlichen Modifikationen. Dieser erste Band ist eine wahre Fundgrube psychologischer Erkenntnisse in Deutschland um 1780. Innerhalb der zwei „Hauptabtheilungen“ des Bandes findet man kürzere aufsatzartige Abschnitte zu spezifischen mentalen Funktionen und Reaktionen, so dass man das Werk als eine Sammlung von zusammenhängenden Versuchen betrachten kann.55 Inhalt, Argument und Stil dieses Buches, besonders die „Abhandlungen“ II und III, lassen sich unschwer in die Tradition von Baltasar Graciáns De prudentia arte einreihen. Freilich führt Ewald sein Argument ausführlicher aus als in Aphorismen und Sentenzen üblich. Dabei untermauert er seine These durch Heranziehung der neuen physiologischen Anthropologie wie auch älterer philosophischer Menschenkenntnisse. Im Nachzeichnen der Bewusstseinsbildung geht Uber das menschliche Herz von der Zusammenwirkung drei Hauptkomponenten des menschlichen Wesens aus: Seele, Körper und Geist. Sie hängen mit den drei Strängen seines Arguments zusammen. Mit „Geist“ meint Ewald die Denkkraft, die er als die Vermittlungsinstanz zwischen der inneren Welt der Seele und der äußeren empirischen Welt versteht. Den Geist assoziiert er mit den belebenden Lichtstrahlen der Sonne („Einleitung“, S. 2 – 5).56 Ton und Präsentation machen die stilistische Nähe zur neuen 55 Etwa die Sektionen in Ewald: Ueber das menschliche Herz (wie Anm. 32) mit den Überschriften: „Von den Empfindungen, deren Ursachen in dem physischen Zustande anderer Menschen liegen“ (Bd. 1, 267 – 296), „Dritte Abhandlung. Von den Empfindungen, deren Ursachen in Thieren und leblosen Dingen liegen“ („In Thieren“, 296 – 301; „Leblose Natur“, 301 – 322), wo es in poetisch bildhaften Naturbeschreibungen um das erzeugte Gefühl von Erhabenheit und Bewunderung geht, und ein abschließendes Kapitel über Apperceptionen, d. i. Reflexionsvorgänge über äußere und innere Empfindungen (322 – 399). 56 Ebd, Bd. 1, 6: „Das Geschäft der Seele ist Denken, das Geschäft des Körpers, nächst der Bewegung und allen den Verrichtungen, die zu seiner Erhaltung erfordert werden, Empfinden; zu beyden hilft der Geist. Empfinden heißt im weitesten Sinne, eine Bewegung in unsern festen oder flüßigen Theilen wahrzunehmen, und hier gehört auch Denken mit zum Empfinden, in wiefern nemlich eine Anstrengung der Organe, die beym Denken in Bewegung gesetzt werden, damit verbunden ist“.



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essayartigen verbindlichen Kulanz deutlich. Einige Stichproben dürften ausreichen, einen Eindruck davon zu geben. Vorweg in seiner Vorrede gibt er zu verstehen, dass er seine Betrachtungen über die sinnlichen wie geistigen Dimensionen der menschlichen Wahrnehmung als einen Beitrag zum besseren Verständnis dessen, was heute performance genannt wird, versteht. Körperbewegung, Gestik, Rede, Gesichtsausdruck sind Kommunikationsmittel, die Auskunft über die sittliche Verfassung des Akteurs geben. Eine verfeinerte Auslegungskunst dieser willkürlichen wie natürlichen Zeichen (wie Lessing es in Laokoon formuliert hatte) hat Nutzen für die Schauspielkunst, aber auch für die sittliche Besserung der Menschen. Ewalds eigene Formulierung dieser Überlegungen ist stilistisch ausgearbeitet, um die größtmögliche Wirkung auf seine LeserInnen auszuüben.57 Sein abgehandelter Gegenstand, so behauptet er im Sinne des delphischen Leitspruchs gnothi seauton, „ist für alle Menschen, ohne Unterschied, höchst interessant, denn er umfaßt die ganze Wissenschaft, aus der wir uns selbst kennen lernen“ (S. vi unpaginiert). Besonders aufschlussreich sind Ewalds Ansichten über die literarische Schreibart, die am geeignetsten ist, Leser bzw. Zuhören zu inspirieren. Wiederholt verweist Ewald auf literarische Beispiele zur Unterstützung seines Arguments. Er nennt Cervantes (Don Quixote), Johann Jakob Engel (Der Edelknabe), Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (Ugolino), Gotthold Ephraim Lessing (Nathan), Shakespeare (Othello, Der Sturm), Richard Sheridan (Die Nebenbuhler = The Rivals) und Wieland (Don Sylvio von Rosalva, Teutscher Merkur). Er verwendet diese Beispiele, um zu zeigen, wie der Dichter einen wohltuenden Einfluss auf andere ausüben könne. Dazu gehöre die Selbstbeherrschung, denn der Autor müsse „ruhig und heiter reden“, um nützlich zu wirken. Ewalds bevorzugte Gattung ist der ausgewogene Dialog, der aufwallende Begeisterung, den allzu blumenreichen Ausdruck und ähnliche Übertreibungen vermeidet. Hier finden wir das beachtliche Gleichnis: „Der niedergeschriebne Dialog ist eine ungeborne Seele, die zweyerlei Bestimmungen hat, entweder in einen krüppelhaften, misgestaltenen, oder in einen schönen und regelmäßigen Körper überzuwandern“.58 „Ungeborene Seele“ heißt so viel wie „toter Buchstabe“, der erst im Leseakt lebendig wird. Aufgabe des Dichters wie des Lesers ist es also, den letzteren Affekt zu erzielen. Keine ‚Missgestalten‘ sollen ins Leben gerufen werden. Unschwer hört man in diesen Worten auch die Einstellung Shaftesburys zu Feinheiten des Stils als Medium der Charakter- und Geschmacksbildung, vor allem wie dies in seinem 1738 ins Deutsche übersetzten Essay Soliloquy. Advice 57 Ebd.,

Bd. 1, vi, unpaginiert: „auch dafür [habe er] gesorgt, ihnen [seinen Lesern] die wohlthätigen Empfindungen guter und vernünftiger Neigungen und Begierden in ihrem Reize darzustellen und annehmlich zu machen“. Ewald widmet sein Buch Frau Oberhofmeisterin von Buchwald; also gehören auch Frauen zu seinem Zielpublikum. 58 Ebd., Bd. 1, 26.

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to an Author, der Schule gemacht hat, zur Sprache kommt.59 Diesbezüglich konstatierte Shaftesbury beispielsweise: ’Tis undeniable, however, that the Perfection of Grace and Comeliness in Action and Behaviour, can be found only among the People of a liberal Education. And even among the graceful of this kind, those still are found the gracefullest, who early in their Youth have learnt their Exercises, and form‘d their Motions under the best Masters.60

Was er meint, drückt er kurz danach deutlich aus als „the Skill and Grace of Writing“, die dargestellten Charaktere und Sitten („real Characters and Manners“) lebend vor unseren Augen entstehen zu lassen („exhibited ’em alive“). Wer so schreiben kann, ist ein echter Dichter, „a real Master“ und „a second Maker“, dem Denk- und Körperbewegungen in gerechter Proportion gelingen.61 Daraus zieht Ewald den Schluss, dass die so verstandene Schreibweise auch nützlich für die Schauspielkunst sei (naheliegend wegen des berühmten Gothaer Hoftheaters). Wesentlich ist der Unterschied zwischen dem geschriebenen Dialog und dem gesprochenen Text auf der Bühne. Während der Dichter tote Buchstaben aufs Papier setzt, die nur das Potential aktiver Wirkung inne­haben, arbeitet der Schauspieler unvermittelt mit einem aktiven Kommunikations­ medium. Deshalb empfiehlt Ewald dem Schauspieler, sich in Sprache und Gestik zu mäßigen, um ‚Missgestalten‘ zu vermeiden und geeignete Proportionen zu erzielen. Er erklärt: Heiterkeit ist mehr dem lebendigen Ausdruck des Schauspielers, als dem todten des Dichters unterworfen. Dieser wählt nur Worte und solche Zusammenfügungen der Worte, die dem Zustande der Zufriedenheit nicht zuwider sind; beym Dichter ists mehr negative Vollkommenheit; beym Schauspieler, der es trift, wird sie zur positiven, durch angemessenen Ausdruck in Rede, Gebehrden und Bewegungen.62

Später kehrt Ewald zu diesem Gedanken zurück. Es sei nicht möglich, alle Modifikationen der Empfindungen anzugeben, die zu körperlichen Ausdrücken und Bewegungen führen. Die „Empfänglichkeit“ hänge von tausendfältigen Verhältnissen ab. Dennoch sei es Aufgabe des Dichters bei der Schilderung der Seelenfähigkeiten und ihrer leiblichen Auswirkungen, „seine Personen nicht mehr und nicht weniger empfinden zu lassen, als was sie vermöge ihres Standes und ihrer Einsichten zu empfinden fähig sind“.63

59 Siehe

die einschlägige Studie von Rebekka Horlacher, Bildungstheorie vor der Bildungstheorie. Die Shaftesbury-Rezeption in Deutschland und der Schweiz im 18. Jahrhundert, Würzburg 2004, bes. 7 – 36 und 42 – 63, hier 35, 37, 43. 60 Third Earl of Shaftesbury, Soliloquy or, Advice to an Author, London 1710, 39. 61 Ebd., 42 f., 55. 62 Ewald, Ueber das menschliche Herz (wie Anm. 32), Bd. 1, 27 (meine Hervorhebung). 63 Ebd., 185.



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Musterbeispiele für die erwünschte menschliche Haltung findet Ewald in der oben genannten Literatur. Immer wieder verweist er auf vorbildliche Charakterdarstellung, Rede und Tonlage des würdigen Auftrittes in literarischen Werken. Am ausführlichsten bespricht er Lessings Nathan der Weise und kommt sehr früh in der Geschichte der Rezeption des Dramas zu einer klassischen Definition von Nathans moderatem Verhalten: Seine Weisheit äussert sich nicht bloß in seinen eigenen Gesinnungen und Handlungen, und in seinem Betragen im Umgange mit andern Menschen, sondern auch in seiner individuellen Art zu denken; er ist ein rechtschaffen handelnder und scharfsinnig denkender Mann; in ihm vereinigt der höchste Grad der Weisheit.64

Demgemäß gehören zur Weisheit: Tiefsinn, Scharfsinn, Zufriedenheit, Offenheit und Empathie. Aufgabe der Schreib-, Lese- und Schauspielkunst sei es, diese Fähigkeit als den Weg zur Glückseligkeit, dem wahren Ziel allen menschlichen Bestrebens, zu fördern. Ewald listet in seinem großen Entwurf jene Fähigkeiten auf, die bei passender Kultivierung zu jenen Tugenden führen können, die am geeignetsten sind, den menschlichen Charakter zu bilden und den Menschen im Umgang mit seinen Mitmenschen „fit“ zu machen. Das ist die wahre Menschenführung.65 Damit steht er in einer Entwicklungslinie mit Shaftesbury. V. Schlussbemerkung Das Erziehungsprogramm der Geheimbünde hat man häufig in die Nähe des allgemein verbreiteten Menschlichkeitsbegriffs gerückt. Ihr eigentliches Ziel war die Vermenschlichung der ganzen Gesellschaft, nicht bloß einzelner eingeweihten Individuen. Diesbezüglich sei die Tatsache zu bedenken, dass die Illuminaten öffentliche Ämter innehatten und sozial-politischen Funktionen außerhalb des Vereins nachgingen.66 Unterschiede unter den Menschen wie 64

Ebd., 207 f. ihrer einleuchtenden Studie zu Kants Tugend- und Charakterbegriff konstatiert die Philosophin Felicitas Muenzel, dass bei Kant Charakter und Tugend Hand in Hand gehen. Diese Erkenntnis ist an sich nicht neu. Allerdings wie Muenzel Kants Tugendbegriff erläutert und dann als ein hermeneutisches Werkzeug anwendet, um die Standhaftigkeit, die Durchhaltefähigkeit, die Meinungsfestigkeit als Wesenskern eines „männlichen“ Charakters zu bestimmen, ist neu. Die tradierte Tugendskala bezeichnet in Folge von Baltasar Gracián ein zwischenmenschliches Verhalten, das die Absicht hat, das Individuum dem Kollektiv anzupassen. Tugendhaft sein bedeutete historisch „learning how to fit in“. Für Kant habe Tugend jedoch den Weg zu einem höheren Ziel bedeutet als die bloße Sozialisierung des Individuums. Vielmehr habe Kant die Ausübung von Tugend als Selbstentfaltungs- und Reifungsprozess verstanden. „Making fit“ hängt demzufolge mit Charakterbildung und Menschenführung sehr eng zusammen. 66 Fauser, Einleitung (wie Anm. 29), meint z. B.: „Lessings Entgrenzung des Prinzips Freiheit [in Ernst und Falk] , das nun nicht mehr allein für Logen gelten soll, sondern Vergesellschaftung 65 In

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Geburt, Stand, Reichtum, Privileg, Klasse, Beruf usw. betrachteten sie als rein äußerliche Trennungen, die nichts mit dem Wesen des Menschen zu tun haben, obwohl sie in der bürgerlichen Gesellschaft unvermeidlich sind.67 Wie die Kosmopoliten erkannten die Freimaurer und Illuminaten ferner die Beschränktheit des lokalen und nationalen Patriotismus. Eine ganze Reihe von Stellungnahmen zu Geheimbünden unterstrichen damals deren Neigung zum Kosmopolitismus wegen der ständeübergreifenden Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaften und ihres bildungsgeschichtlichen Weitblicks.68 Margaret Jacob sieht in den Geheimbünden eine Brutstätte eines kosmopolitischen Bewusstseins und das geeignete Kampfmittel gegen Tyrannei, Vorurteile, Missbrauch und Unterdrückung.69 Absicht der Geheimbünde war allerdings nicht, eine Rebellion zu bewirken, sondern evolutionäre Reform anzustreben. Auf lange Sicht führt die individuelle Selbstverbesserung – angetrieben freilich durch „Fremdsteuerung“ – zur Überwindung von Vorurteilen und Eigendünkel. Diesbezüglich schreibt Wieland, ein Hauptvertreter des neuen Aufsatzschreibens und dessen Wirkungspotentials: […] so ist zu hoffen, daß mit zunehmendem Tage die Augen, und so Gott will! auch die Hände und Füße sich immer mehr stärken werden: und so könnte denn wohl am Schlusse des 19. Jahrhunderts manches zur Wirklichkeit gediehen sein, was man am Schlusse des 18ten mit dem gelindesten Namen Träume eines radottierenden Weltbürgers nennen wird.70 überhaupt bestimmen könnte, weist einen Weg der Begründung von Gesellschaft, den erst die neuere Soziabilitätsforschung eingeschlagen hat“ (13). 67 Gotthold Ephraim Lessing, Ernst und Falk, in: G. E. L., Sämtliche Schriften, hg. von Karl Lachmann, 3. Auflage, besorgt durch Franz Muncker, 23 Bde., Stuttgart, Leipzig, Berlin 1886 – 1924, Bd. 13, 352 – 359 (Reprint Berlin: de Gruyter 1968); siehe dazu J. A. McCarthy, „Das sicherste Kennzeichen einer gesunden, nervösen Staatsverfassung“: Lessing und die Pressefreiheit, in: Lessing und die Toleranz. Sonderband zum Lessing Yearbook 16 (1986), 225 – 244, bes. 238 – 243. 68 Vgl. etwa Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts (1774), in: J. G. H., Werke, hg. von Wolfgang Pross, 3 Bde., Darmstadt 1984, Bd. 1, 655 – 683. Wesentliche Übereinstimmungen mit dieser Einschätzung findet man ferner in Lessings Ernst und Falk – Gespräche für Freymäurer (1776–1778), Wielands Das Geheimnis des Kosmopolitenordens (1784) und Kants Zum ewigen Frieden (1795). 69 Jacob, Strangers Nowhere in die World (wie Anm. 3), 11 f. 70 Christoph Martin Wieland, Gedanken von der Freiheit über Gegenstände des Glaubens zu philosophieren (1788), in: C. M. W., Werke, 5 Bde., hg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert, München 1964 ff., Bd. 3, 521. Allerdings räumt Wieland ein Jahr vor Ausbruch der Französischen Revolution eventuelle Probleme ein: „Das Schicksal kann freilich mit der Zeit große Revolutionen herbeiführen, wodurch der gegenwärtige Zustand der Welt eine gewaltige Veränderung erleiden würde: aber wenn die Weltverbesserer, auf die ein menschenfreundlicher Träumer [L. S. Mercier] unsre Nachkommen ins Jahr 2440 vertröstet, bloß durch Aufklärung bewirkt werden sollte, so ist sehr zu besorgen, daß er ihre Epoke noch um einige Jahrhunderte zu früh gestellt hat“ (ebd., 512).



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Wenn Wieland das Kollektiv im Sinne hat – er denkt gelegentlich an einen Aufstand der Massen –, so setzt Schiller seine Reformhoffnung weniger in die Tätigkeiten der Geheimbünde und viel mehr in die Ausstrahlungsmacht des starken individuellen Menschenfreundes wie des Marquis Posa. In seinen Briefen über Don Carlos (1787) bekennt Schiller: Ich bin weder I-[lluminat] noch M-[aurer], aber wenn beide Verbrüderungen einen moralischen Zweck miteinander gemein haben, und wenn dieser Zweck für die menschliche Gesellschaft der wichtigste ist, so muß er mit demjenigen, den Marquis Posa sich vorsetzte, wenigsten sehr nahe verwandt sein. Was jene durch geheime Verbindung mehrerer durch die Welt zerstreuter tätiger Glieder zu bewirken suchen, will der letztere, vollständig und kürze, durch ein einziges Subjekt ausführen.71

Beide Texte sind kurz nach der Publikation von Ewalds Ueber das menschliche Herz (1784) erschienen. Der erste verweist auf die potentiell revolutionäre Wirkung des Aufsatzschreibens, während der andere die kraftvolle Tat durch einen einzelnen Menschenfreund hervorhebt. Beide lassen sich auf Ewalds Schreibtätigkeit und Handeln anwenden. Bemerkenswert ist, dass alle drei Texte rund einhundert Jahre nach der Erstveröffentlichung der Gründungstexte von Leibniz (1683) und Thomasius (1687) erschienen sind. Somit darf man die interne Praxis des Aufsatzschreibens bei den Illuminaten nach vorgegebenen Themen als komplementär zu anderen externen vorbereitenden Exerzitien für die Breitenwirkung werten. Die Grenzen zwischen innen und außen waren ohnehin fließend.72 Bereits die Autoren-Herausgeber der Moralischen Wochenschriften lehrten „den wahren Ton für jeden Inhalt“ zu treffen und den Texten zu praktischen wie moralischen Themen richtiges Verhalten zu entnehmen. Ihre Dynamik griff das weitverbreitete Erziehungsphänomen des öffentlichen Preisausschreibens in der europäischen Aufklärung bewusst auf.73 Berühmte öffentliche Fragen, die zu einer Flut von schriftlichen Antworten Anlass gaben, liegen auf der Hand: „Was ist Aufklärung?“ „Wie weit 71 Friedrich

Schiller, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. Otto Dann, Heinz Gerd Ingenkamp, Rolf Peter Janz, Gerhard Kluge u. a., Frankfurt a. M. 1988-2004, Bd. 3, 461 (10. Brief). 72 So auch Mulsows Fazit bezüglich des thematischen Inhalts: Diskussionskultur (wie Anm. 2), 200. 73 Vgl. u.  a. Catherine Herges, Aufklärung durch Preisausschreiben? Die ökonomischen Preisfragen der Königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen 1752 – 1852, Göttingen 2007. Die Preisfragen waren nicht auf wirtschaftliche Fragen im engeren Sinne beschränkt, sondern griffen auch politische und soziale Probleme auf. Auskunft über die Breitenwirkung geben zwei Preisfragen aus dem Jahr 1780. Siehe Hans Adler (Hg.), Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Est-il utile au Peuple d‘être trompé? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780, 2 Bde, Stuttgart-Bad Cannstatt 2007), und Johann Gottlob Benjamin Pfeil (Hg.), Preisschrift von den besten und ausführbarsten Mitteln dem Kindermord abzuhelfen ohne die Unzucht zu begünstigen mit Zusätzen und einem sechsfachen Anhang dahin einschlagender Materien, Leipzig 1788. Neben der gekrönten Preisschrift selbst liefert Pfeil im Anhang 16 thematisch verwandte Zusätze und Versuche (S. 93 – 356). Insgesamt gingen auf diese Preisfrage rund 400 Antworten

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darf die Volksaufklärung gehen?“ „Was sind die besten Mittel, den Kindermord zu bekämpfen?“ „Wie ist eine Nationalbühne zustande zu bringen?“ „Wann ist eine Revolution gerechtfertigt?“ „Wie entsteht ein klassischer Autor?“ Solche Schreibübungen verhalfen Schriftstellern allgemein dazu, einen gefällig klaren und rhetorisch wirksamen Stil zu pflegen. Allmählich bildeten sich Kopf und Herz immer zahlreicherer LeserInnen zum kritischen Lesen und ästhetischen Empfinden. Eine weitere Anregung kam ab etwa 1770 in den Schulen ins Spiel: innovative Lehrmethoden. Wenn die höhere Schule des 18. Jahrhunderts verstehendes Auslegen literarischer Texte auch nicht kannte, traten dennoch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts neue Motive der Leseerziehung in den Vordergrund: „In der Elementarschule die Wissensvermittlung und die moralische Belehrung, in der Lateinschule die Stilerziehung.“74 Literarisches Lesen lernte man zudem durch die Lektüre klassischer Autoren.75 Dazu kam die Einführung des schriftlichen Schulaufsatzes an den höheren Schulen seit etwa 1770.76 Solche Vorstellungen und Empfehlungen waren um die Jahrhundertmitte allgemeiner Trend. Schack Hermann Ewald war in einer langen, regen und innovativen Tradi­ tion verwurzelt, die schließlich zur Entfaltung eines klassischen Essaystils auch in Deutschland führte. In mancher Hinsicht realisierte sein gedrucktes ‚Sammel­surium‘ das Schreibideal in der Nachfolge Graciáns und Thomasius‘ (und Shaftes­burys), das Eleganz des Ausdrucks neben fundiertem Wissen verlangte.77 Das als Motto an den Anfang gestellte Goethe-Zitat erinnert an das erwünschte Gewebe von Wort, Gesinnung und ästhetischem Genuss: „Der Gedanke, das Entwerfen, / Die Gestalten, ihr Bezug, / Eines wird das andre schärfen“. Im vergleichbaren Sinne will die Überschrift dieses Beitrags die enge Verknüpfung von Bildung und Führung – von einer inneren und einer äußeren Dynamik – in steigender Form ansprechen: Denken – schreiben – lesen – ethisch handeln. ein, vgl. Otto Ulbricht, Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990 (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, 18). 74 Dieter Boueke, Methoden der Leseerziehung, in: A. Cl. Baumgärtner (Hg.), Lesen. Ein Handbuch, Hamburg 1973. 355 – 389, bes. 372 – 389. Siehe auch die wiederholt neu aufgelegten Schriften von Johann Georg Sulzer, Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder, Zürich 17482 (Reprint: Hildesheim 2012), und ders., Vorübungen zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens, Berlin 1768; vgl. ferner Pfeil, Preisschrift (wie Anm. 73), 3 f. 75 Vgl. z. B. Johann Georg Sulzer, Gedanken über die beste Art die classischen Schriften der Alten mit der Jugend zu lesen, Berlin 1765; John A. McCarthy, „Plan im Lesen“: On the Beginnings of a Literary Canon in 18th-Century Germany (1730 – 1805), in: Komparatistische Hefte 13 (1986), 29 – 45. 76 Vgl. dazu den Beitrag von Michael Rocher in diesem Band. 77 „Doch hat auch so gar die weißheit ein tölpisches und ungeschicktes ansehen, wenn sie durch die äuserlichen sitten verunzieret wird 3). Nicht allein der verstand muß neben seiner scharfsinnigkeit auch artig seyn, sondern auch der wille, und am allermeisten der umgang.“ Balthasar Gracians Oracul (wie Anm. 13), Bd. 1, 652 (Maxime 87).



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Den Quellen interner Schreibübungen und Menschenführungspraktiken der Illuminaten in deren externem Umfeld geht dieser Beitrag nach. Vor dem Hintergrund experimentell-ergebnisoffenen Denkens der Aufklärungsbewegung sowie des populären Geselligkeitsethos des 18. Jahrhunderts werden Schriften des Gothaer Freimaurers und Illuminaten Schack Hermann Ewald (1745–1822) analysiert, um die Außenwirkung der Geheimbundpraktiken zu erhellen. Ewalds Illuminatenaufsätze und öffentliche Publikationen erscheinen als Verkörperung des neuen Schreibideals seines dialektischkritischen Zeitalters. Dem Ideal der Menschenerziehung bzw. -führung durch Schriften entspricht die enge Verknüpfung von denken, schreiben, lesen, ethisch handeln in steigender Reihenfolge. Ausgangspunkte sind einerseits das frühe Schreibideal und die geselligen Umgangsformen von Christian Thomasius in Anlehnung an Balthasar Gracián und andererseits die Umorientierung philosophischen Denkens nach organisch-dynamischen Prinzipien von Gottfried Wilhelm Leibniz. Beide haben im 18. Jahrhundert Schule gemacht. Das allgemeine Ziel, einen neuen dynamischen Stil und immer neue, breitere Leserschichten zu sensibilisieren, wurde durch die Rezeption von Shaftesbury und die Entwicklung neuer Kommunikationsmittel befördert. Indem man sich dem Typos des ‚ganzen Menschen‘ immer mehr nähert, führt die individuelle Selbstverbesserung auf lange Sicht zur Überwindung von Vorurteilen und Eigendünkel. Der Gothaer Journalist und Hofbeamte Ewald erscheint als Typus des öffentlichen Intellektuellen im Dienste der Aufklärung. Mit seinen Schriften realisierte er das frühneuzeitliche Schreibideal des eleganten Ausdrucks mit fundiertem Wissen, das schließlich zur Entfaltung eines klassischen Essaystils auch in Deutschland führte. This essay examines how the internal writing and discourse practices of the Illuminati Minervalkirche Gotha corresponded to similar exercises of open inquiry in the public sphere that sought to promote a liberal education. At its core were the cultivation of critical thinking skills and the nurturing of humanistic sensibilities. The work of the freemason, Illuminate, privy councilor, author, and journalist Schack Hermann Ewald (1745–1822) stands in the forefront of this investigation. It is exemplary of the interactions between the educational activities of the Illuminati behind closed doors and similar efforts in society at large to promote understanding and tolerance. His writing style is viewed against the backdrop of critical inquiry, an expanding communication network, and forms of sociability in the Age of Enlightenment. By situating Ewald within the emergence of new forms of ‘outreach‘ writing in the wake of Balthasar Gracián, Christian Thomasius, Gottfried Wilhelm Leibniz, and Shaftesbury his seamless integration in the movement to countermand prejudice and overwrought self-esteem in the education of the whole person becomes readily evident. Ewald proved to be the model of the public intellectual in the service of enlightened, cosmopolitan understanding and a contributor to the emergent form of the classical essay in German. Consequently, we can see the internal practice of writing and critiquing essays in the Minervalkirche as complementary to external discursive exercises in the world of letters. John A. McCarthy, Professor of German and Comparative Literature Emeritus, Vanderbilt University, German Department, 121 Furman Hall, 2301 Vanderbilt Place, VU Station B #351567, Nashville, TN 37235-1567 USA

Martin Mulsow Die Gothaer Illuminaten als fortgeführte „gemeinnützige Privatgesellschaft“? Die Aufsatzpraxis der Gothaer Sozietät von 1778 und die Minervalkirche von 1783–1787

Die Gothaer Gruppe von Illuminaten entstand nicht aus dem Nichts, als sie im August 1783 gegründet wurde. Sie rekrutierte sich bekanntlich aus der Gothaer Freimaurerloge „Zum Rautenkranz“, in der fast alle Gothaer Illuminaten Mitglieder waren, zum Teil schon seit deren Gründung Mitte der 1770er Jahre.1 Während die Freimaurerloge 1783 etwa 50 Mitglieder hatte, bestand der Kern der Illuminaten aus weniger als zehn Personen, also weniger als einem Fünftel dieses Kreises, die sich im Geheimen fernab der Logenzusammenkünfte trafen, im etwas abgelegenen Haus des Oberhofgärtners Wehmeyer am Schlosspark.2 Über die Vortragspraxis in der Loge wissen wir bisher wenig, weil die Logenprotokolle aus den 1780er Jahren weitgehend verschollen und Teilabschriften von ihnen bisher nicht ausgewertet sind.3 Aber die Loge war auch nicht die einzige Gruppe, die in der Gothaer Sozietätslandschaft von unmittelbarer 1 Zur

Loge vgl. Johann Carl Hess, Kleine Chronik der St. Johannis Loge Ernst zum Compass 1774 – 1793 (Manuskript aus dem Jahr 1801 auf der Basis eines Aufsatzes von Schack Hermann Ewald), Forschungsbibliothek Gotha, Chart.A, Nr. 1146; August Ottocar Reichard, Geschichte der Loge Ernst zum Kompass und ihrer ältern Schwestern im Orient von Gotha, Gotha 1824; Wolfgang Woelk, Geschichte der St. Johannis Loge ,,Ernst zum Kompass“ im Orient zu Gotha, Gotha 2002. 2 Zur Gothaer Minervalkirche vgl. Martin Mulsow, Diskussionskultur im Illuminatenorden. Schack Hermann Ewald und die Gothaer Minervalkirche, in: Aufklärung 26 (2014), 153 – 203; ders., Überwachte Selbstdenker: Illuminatischer Alltag in Gotha, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 3. 2016, N3; Christine Schaubs, Die Erziehungsanstalt in Schnepfenthal im Umfeld geheimer Sozietäten, Nordhausen 2005, passim. 3 Teile der Logenprotokolle befinden sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStAPK), Freimaurer, 5.2. G 39 JL . Ernst zum Kompaß, Nr. 10 (Protokolle der Meisterkonferenzen 1790 – 1791) und 78 (Protokolle von Instruktions- und Festversammlungen aller drei Johannisgrade 1786 – 1793). Die hier relevanten Protokolle der 80er Jahre hingegen scheinen verschollen (bzw. wurden versteigert). Protokollabschriften in Auszügen allerdings, die sich in Privatbesitz befinden, erwähnt Christine Schaubs, Die Erziehungsanstalt in Schnepfenthal (wie Anm. 2), 86.

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178 - 7128

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Rele­vanz für die Illuminaten und ihre „Minervalkirche“ war. Schon 1777/1778 hatte sich – teilweise aus dem Kreis der Freimaurer – eine Gruppe gebildet, die mit einigem Recht der Vorläufer der Gothaer Illuminaten genannt werden kann. Es handelt sich um die sogenannte „gemeinnützige Privatgesellschaft“. Federführend waren Oberst Christian Georg von Helmolt, Kammerherr und Schlosshauptmann auf Schloss Friedenstein (der später auch der Vorsitzende der Minervalkirche werden sollte), und Ludwig Christian Lichtenberg, der ältere Bruder des Göttinger Professors Georg Christoph Lichtenberg, Legationssekretär und zuständig für das Physikalische Kabinett auf dem Schloss.4 Helmolt war Großmeister der Loge, während sich Lichtenberg den Logenzirkeln fernhielt, aber zum Redaktionsteam der Gothaischen Gelehrten Zeitung gehörte. Dieses Team war 1774 auf Initiative von Emanuel Christoph Klüpfel entstanden, dem Konsistorialrat und Begründer des Gothaischen Hof-Kalenders, aus einer Gesellschaft von Literaturfreunden heraus, die sich täglich in der Ettingerschen Buchhandlung einfanden.5 Klüpfel wiederum entstammt dem Aufklärer-Zirkel um die Hofdame Franziska von Buchwald (und dem Prinzenerzieher Ulrich von Thun), einer weiteren Quellkonstellation innerhalb der sich überlappenden Gothaer Sozietätenkreise nach dem Regierungsantritt Herzog Ernst II. 1772.6 Zum Redaktionsteam – und wohl auch zum Buchwald-Zirkel – gehörte auch Schack Hermann Ewald, der von Klüpfel protegiert worden war7 und nun, 32-jährig, zum Sekretär der „gemeinnützigen Privatgesellschaft“ ernannt wurde.8 Für den jungen Ewald war das die Eintrittskarte in seine Sozietätenkarriere,9 denn über Helmolt sowie den auch zur „Privatgesellschaft“ gehörenden Georg von Hardenberg, Hofmarschall und vormaliger Großmeister der Loge, Onkel von Novalis, wurde Ewald 1778 in die Freimaurerloge aufgenommen. Außer Ewald kennen wir noch einige andere Namen: Johann Wilhelm Dumpf, Pagen-Hofmeister und einer der Begründer der Freimaurerloge (neben einigen Mitgliedern der Seyler4 Zu Helmolt (1728 – 1805) vgl. Schaubs, Die Erziehungsanstalt in Schnepfenthal (wie Anm. 2), passim; vgl. auch dessen Tagebuch: FB Gotha, Chart. B 1950a. Zu Lichtenberg (1738 – 1812) vgl. Ulrich Joost (Hg.), Der Briefwechsel zwischen Johann Christian Dieterich und Ludwig Christian Lichtenberg, Göttingen 1984. 5 Friedrich Schlichtegroll, Nekrolog der Teutschen für das Neunzehnte Jahrhundert, Bd. 1, Gotha 1802, 184 f. (Nekrolog für Johann Wilhelm Dumpf). 6 Zu Franziska von Buchwald vgl. Der Biograph. Darstellungen merkwürdiger Menschen der letzten drey Jahrhunderte, Bd. 6, 1. Stück, Halle 1807, 1 – 34. 7 Vgl. Ewalds eigene Lebensbeschreibung aus Bd. X der Schwedenkiste, Russisches Staatliches Militärarchiv, Sonderarchiv Moskau 1412-1-5432, 221 – 223. Wiedergegeben in Horst Schöpfer, Schack Hermann Ewald (1745 – 1822): Ein Kantianer in der thüringischen Residenzstadt Gotha, Köln, Weimar 2014, hier 28. 8 Zu Ewald vgl. Schöpfer, Ewald (wie Anm. 7). Zu Ewalds Illuminatentätigkeit vgl. Mulsow, Diskussionskultur (wie Anm. 2). 9 Zu diesem Begriff vgl. Holger Zaunstöck, Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999, 226 ff.



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schen Schauspieltruppe, die mit Konrad Ekhof nach Gotha gekommen waren), vor Ewald der Hauptredakteur der Gothaischen Gelehrten Zeitung,10 und Johann Gottfried Geißler, Gymnasiallehrer und späterer Bibliotheksdirektor in Gotha.11 Was wissen wir von dieser „Privatgesellschaft“? Galletti sagt in seiner Geschichte […] des Herzogthums Gotha, dass sich die Gesellschaft die „Aufklärung des gemeinen Mannes zu ihrem Hauptzwecke“ gesetzt habe.12 Das ist aber, wie wir sehen werden, nur ein Aspekt dieser Vereinigung. Es gab anfangs 14 Mitglieder, und die Zahl wuchs mit den Jahren auf 27.13 Die Mitglieder wollten sich selbst durch Vorlesungen und Unterredungen weiterbilden und dann auf die einfachen Leute mit nützlichen Ratschlägen wirken, unter anderem, indem man ein Journal herausgab, das Gothaische gemeinnützige Wochenblatt, das als wöchentliches Periodikum erstmals am 1. Juli 1779 erschien und am 21. Juni 1783 eingestellt wurde.14 Wir bemerken schon jetzt, dass die Einstellung des Periodikums fast genau einen Monat vor Gründung der Minervalkirche geschah, so dass zu erwägen ist, ob nicht die damals freigewordenen Kräfte unmittelbar in die Aktivitäten der Gothaer Illuminaten übergegangen sind – zu denen Helmolt und Ewald dann wieder als Gründungsmitglieder gehörten.15 Es lässt aufhorchen, dass die „Privatgesellschaft“ Vorlesungen und Vorträge in ihren Kreisen hielt, die dann teilweise in ihren Zeitschriften abgedruckt wurden. Kann diese Vortragspraxis, mehr noch als die freimaurerische Vortragstätigkeit,16 als Nährboden und unmittelbarer Vorgänger der Verlesung von Aufsätzen im Illuminatenkreis gelten? Wir haben ja zu bedenken, dass keineswegs alle lokalen Charakteristiken von Minervalkirchen in den einzelnen Städten einzig aus den Vorgaben des Ordens stammen; vielmehr, so scheint es mir, bilden die Praktiken der lokalen Illuminatengruppen eine Mixtur von Ordensanforderungen und regional eingespielten Mustern am Ort. Und dazu gehörte in Gotha vielleicht noch mehr als andernorts die Verlesung von Aufsätzen.17 10 Schlichtegroll,

Nekrolog der Teutschen für das Neunzehnte Jahrhundert, Bd. 1, Gotha 1802,

183 – 185. 11 Schlichtegroll, Nekrolog der Teutschen für das Neunzehnte Jahrhundert, Bd. 11, Gotha 1806, 101. 12 Johann Georg August Galletti, Geschichte und Beschreibung des Herzogthums Gotha, Bd. 1, Gotha 1779, 366. 13 Max Berbig, Schack Hermann Ewald: Ein Beitrag zur Geschichte des Hainbundes, in: Mitteilungen der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Altertumsforschung (1903), 88 – 111, hier 104. 14 Vgl. Schröpfer, Ewald (wie Anm. 7), 31. 15 Die Gründung erfolgte 1783, ins Leben als „Minervalkirche“ trat die Gothaer Illuminatengruppe allerdings erst im Mai 1784. 16 Zur Vortragspraxis in der Freimaurerei des späten 18. Jahrhunderts vgl. den Beitrag von Markus Meumann in diesem Band. 17 Zur Aufsatzpraxis bei den Illuminaten vgl. den Aufsatz von Peggy Pawlowski in diesem

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Wir haben nun das Glück, dass sich die Statuten der „Privatgesellschaft“ haben auffinden lassen: Statute und Plane einer schon 1778 in einer namhaften deutschen Residenzstadt errichteten, und ihrem Namen entsprechenden gemeinnützigen Privatgesellschaft.18 Sie sind an einem entlegenen Ort, in Heinrich August Ottocar Reichards Zeitschrift Olla Potrida, im Jahrgang 1795, gedruckt worden, anonym und ohne sichtbaren Bezug auf Gotha. Entworfen hat diese Statuten in Zusammenarbeit mit Helmolt und Lichtenberg maßgeblich Ewald – wie wir aus Ewalds autobiographischem „Lebenslauf“ im Moskauer Band der „Schwedenkiste“ wissen –, nach dem Muster, wie er sagt, „der Londoner Societät“.19 Damit ist möglicherweise, mehr noch als die naturwissenschaftliche Royal Society, die Royal Society for the encouragement of Arts, Manufactures and Commerce gemeint, die 1753 in London gegründet worden war und das Vorbild auch für die Hamburger Patriotische Gesellschaft von 1765 abgab.20 Überall in Deutschland schossen solche Vereinigungen aus dem Boden, und es ist nicht zuletzt hier, wo wir nach einem Vorläufertum der illuminatischen Aufsatzpraxis zu suchen haben. Die Statuten der Gothaer „Privatgesellschaft“ beginnen mit einer Reverenz an den Landesherrn, Gothas obersten Aufklärer, und verpflichten sich auf Patriotismus und Menschenliebe.21 Bei den Thüringer Illuminaten wird es später interne Auseinandersetzungen und Anfragen an Weishaupt geben, ob der zweite Zweck, die Menschenliebe und Perfektionierung des Menschengeschlechts, im Zweifelsfall höher gilt als die Loyalität zum Fürsten, und manche sind empört, Band sowie dies., „… sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken“. Der Beitrag Johann Adam Weishaupts zur Pädagogik des Illuminatismus, Diss. phil., Jena 2004, 151 – 155; Mulsow, Diskussionskultur (wie Anm. 2); Markus Meumann, Arkanraum und öffentliche Debatte in der Spätaufklärung. Ein illuminatischer Nachtrag zur Mannheimer Kindsmordpreisfrage von 1780, in: Aufklärung 26 (2014), 205 – 236. 18 Statute und Plane einer schon 1778 in einer namhaften deutschen Residenzstadt errichteten, und ihrem Namen entsprechenden gemeinnützigen Privatgesellschaft, in: Olla Potrida 1795, 2. Stück, 100 – 126. Ich bin Horst Schröpfer zu großem Dank verpflichtet, der mich auf diesen Text aufmerksam gemacht hat. 19 Schwedenkiste Bd. X, vgl. Anm. 7, ediert in Schröpfer, Ewald (wie Anm. 7), hier 32. Zur „Schwedenkiste“, dem illuminatischen Nachlass von Bode, vgl. Renate Endler, Zum Schicksal der Papiere von Johann Joachim Christoph Bode, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 27 (1990), 9 – 35. 20 Vgl. Henry Trueman Wood, A history of the Royal Society of Arts, London 1913. 21 Statute und Plane (wie Anm. 18), 100: „Der Schutz und die Achtung, die unser Durchlauchtigster Landesherr den Künsten und Wissenschaften angedeihen läßt, und der Eifer, womit Er sie selbst bearbeitet, fodern jeden Unterthan auf, auch die geringste seiner Kenntnisse zu beleben“. Zu den naturwissenschaftlichen Aktivitäten Ernst II. vgl. August Beck, Ernst der Zweite, Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg, als Pfleger und Beschützer der Wissenschaft und Kunst, Gotha 1854; Werner Greiling u. a. (Hg.), Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Ein Herrscher im Zeitalter der Aufklärung, Weimar 2005; Die Gothaer Residenz zur Zeit Herzog Ernsts II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, Gotha 2004.



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dass Weishaupt sich in dieser Richtung äußert.22 Interessant werden die Statuten, sobald sie ins Detail gehen. Da ein Ziel der Gesellschaft ist, die Kenntnisse der Mitglieder zu erweitern, soll es einem jeden Mitgliede frey stehen, über wissenschaftliche Gegenstände, bey welchen ihm Zweifel aufstoßen, oder worüber es eine nähere Nachricht zu haben wünschte, schriftlich oder mündlich Fragen zu thun, und sich darüber belehren zu lassen.23

Es gibt also eine wechselseitige Struktur der Belehrung, die völlig frei und problemorientiert ist. Aus diesem Grunde soll auch ein jedes Mitglied gehalten seyn, von allem, was ihm bey seiner Lectüre merckwürdiges vorkommt, als neue Entdeckungen in irgend einem Fache der Künste und Wissenschaften, oder bessere Erläuterungen und Erklärungen, wahrscheinlichere Hypothesen u.s.w. in den Versammlungen der Gesellschaft entweder mündlich oder schriftlich bekannt zu machen.24

Das sieht nach einem Diskussionszirkel aus, in dem die Mitglieder wechselseitig von den Kompetenzen der anderen profitieren, aber sich auch über wissenschaftliche Leseeindrücke austauschen. Soweit agiert der Zirkel noch sehr informell. Formeller wird es beim nächsten Ziel, das er sich gesetzt hat, nämlich der „Bearbeitung der Wissenschaften und Künste“.25 Genau hier kommt die Aufsatzpraxis ins Spiel. Bey dem zweyten Punkte versprechen diejenigen Mitglieder, die sich mit schriftstellerischen Arbeiten abgeben, über einen entweder neuen, oder nicht hinlänglich bekannten und untersuchten Gegenstand, eine Abhandlung zu liefern und solche der Gesellschaft vorzulesen. Diese Aufsätze sollen sodann allen Mitgliedern zugeschickt, und von diesen ihre Anmerkungen, Ergänzungen und Verbesserungen aufgeschrieben und dem Verfasser des Aufsatzes, um darin diese Bemerkungen nutzen zu können, mitgetheilet werden.26

Das ist durchaus ähnlich wie jene Praxis, die wir später in der Gothaer Minervalkirche werden beobachten können: Ein Mitglied liest etwas vor, die anderen geben Kommentare dazu. Ein Unterschied besteht hingegen in der Veröffentlichungspraxis, die nun angesprochen wird: „Diesem [Verfasser] stehet es sodann frey, seinen gebilligten Aufsatz dem Gothaischen Magazine der Künste und

22 Vgl.

den Aufsatz: Sind geheime Gesellschaften einem Staate schädlich? Kann er solche dulden, ohne sich selbst zu schwächen?, in: Schwedenkiste (= SK) 13 - 063: Geheimes Staats­ archiv Preußischer Kulturbesitz, Freimaurer, 5.2. G 39 JL . Ernst zum Kompaß, Gotha, Nr. 111. Autor ist Adam Weishaupt. 23 Statute und Plane (wie Anm. 18), 101 (Kap. I, Abschnitt II). 24 Ebd. 25 Ebd., 101 (I,I). 26 Ebd., 101 f. (I,III).

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Wissenschaften einverleiben zu lassen“.27 Dieses Magazin ist nicht das Wochenblatt, sondern ein weiteres Periodikum, das schon 1776, vor Gründung der Gesellschaft, erstmals bei Ettinger erschienen war und es noch auf drei weitere Jahrgänge brachte, bis es 1779 eingestellt wurde. Ewald gab es zusammen mit Johann Gottfried Eichhorn heraus, dem Theologen und Orientalisten, der damals Rektor am Gymnasium in nahen Ohrdruf war.28 Bei den Illuminaten hingegen wurde im allgemeinen nicht veröffentlicht, und es gab kein Magazin, das der Geheimbund herausgab – nicht einmal ein verdecktes anonymes Magazin. „Ein jedes Mitglied“, fahren die Statuten fort, das sich zu Vorlesungen und Demonstrationen versteht [bei Demonstrationen ist immer an Lichtenbergs physikalische Experimente gedacht], wird darauf bedacht seyn, eine solche Vorlesung in Bereitschaft zu haben, und solche allenfalls versiegelt bey dem Sekretär nieder zu legen, damit bey unvermuthetem Zuspruch die schicklichste sogleich vernommen werden könnte.29

Ewald nimmt hier also in gewisser Weise die Position ein, die etwas später bei den Illuminaten Bode als unbekannter Oberer „Basilius“ – bzw. für die Gothaer Gruppe Helmolt – einnahm: Er konnte Regie führen und entscheiden, was gerade passend war, vorgetragen zu werden.30 Allerdings ist er im Gegensatz zu Bode bewusst in seiner Macht beschränkt: die fertigen Vorträge sind versiegelt, also im Inhalt dem Sekretär nicht bekannt. Die Statuten fahren mit einem Absatz über die Einkünfte der „Privatgesellschaft“ fort, die interessanterweise an die Aufsatzpraxis angekoppelt werden: Ferner übernimmt die Gesellschaft die Ausarbeitung des Gothaischen Hofkalenders, wovon die Einkünfte (ausschlüssig der Kosten für den astronomischen Theil, der Ueber­setzung und Correctur) zur Hälfte in die Casse der Gesellschaft fallen, und zur anderen Hälfte unter die Mitglieder, die Aufsätze zu demselben geliefert, nach der Anzahl der Blätter, vertheilet werden.31 27 Ebd.,

102 (I,III). Ewald (wie Anm. 8), 31. Vgl. Christoph Köhler, Gotha als Medienstandort von den Anfängen bis 1815. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter und weiterer Periodika nebst biographischen Hinweisen zu Herausgebern, Verlegern und Druckern, Jena 2014, 128 – 131. Allgemein zur Medienlandschaft Werner Greiling, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2003. Zu Eichhorn vgl. Norbert Nebes, Orientalistik im Aufbruch. Die Wissenschaft vom Orient in Jena zur Goethezeit, in: Jochen Golz (Hg.), Goethes Morgenlandfahrten. West-östliche Begegnungen, Frankfurt, Leipzig 1999, 66–96. 29 Statute und Plane (wie Anm. 18), 102 (I,III). 30 Zur „Basilius“-Position vgl. Pawlowski, „…sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken“ (wie Anm. 17), 138 ff.; Olaf Simons, Markus Meumann, „Mein Amt ist geheime gewissens Correspondenz und unsere Brüder zu führen“. Bode als ‚Unbekannter Oberer‘ des Illuminatenordens, erscheint in: Cord Friedrich Berghahn, Gerd Biegel und Till Kinzel (Hg.), Johann Joachim Christoph Bode. Studien zu Leben und Werk, Heidelberg 2017 [im Druck]. 31 Statute und Plane (wie Anm. 18), 102 (I,III). 28 Schröpfer,



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Ähnlich wie etwa die Berliner Akademie, die sich über die Kalender finanzierte, für die sie das Monopol in Preußen hatte, finanzierte sich die Gothaer „Privatgesellschaft“ über den Hof-Kalender, der seit 1763 im Verlag von Johann Christian Dieterich erschien und 1775 von Carl Wilhelm Ettinger übernommen worden war; auch die französische Parallelausgabe Almanach de Gotha wurde von Ettinger verlegt, dessen Namen man auch in den Listen der Freimaurerloge findet.32 Auch hier – in der Verbindung von „Privatgesellschaft“ und Kalender – sieht man die ordnende Hand von Emanuel Christoph Klüpfel, oder besser sein Vermächtnis, denn er war 1776 gestorben. Untertitel des Hofkalenders war „zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet“, was anzeigte, dass auch der Kalender ein Instrument sein sollte, Kenntnisse zu verbreiten. Der Hofkalender war zwischen seinen astronomischen Tabellen von galanten Bildchen im französischen Stil durchsetzt; dann folgten die genealogischen Lis­ ten der Adelshäuser. Am Ende jedoch (bevor die Tabellen über Entfernungen, die Städtelisten und Maße kamen) war noch Platz für kleine Texte über die verschiedenen Kalender der Völker, Himmelserscheinungen, geologische Schichten, Weltgeschichte und ähnliches.33 Dies sind wohl die Aufsätze, von denen die 32 Vgl.

Thomas von Fritsch, Die Gothaischen Taschenbücher, Hofkalender und Almanache, Limburg 1968. Zu Ettinger vgl. auch Siegfried Seifert, Das Gothaer Verlagswesen um 1800, in: Greiling u. a. (Hg.), Ernst II. (wie Anm. 21), 347 – 352. 33 Vgl. beispielsweise Gothaischer Hof-Kalender zum Nutzen und Vergnügen eingerichtet auf das Jahr 1780, hintere Hälfte, eigene Paginierung, 2: Von dem Ursprunge des Zeitmaases und dessen erneuerter Einrichtung bey den Alten; 22: Die Sonne nebst den Planeten; 30: Die Kometen; 35: Von der Erde [mit Registern von Städten und Ländern]; 48: Politische Rechenkunst; 60: Physische Rechenkunst; 72: Der menschliche Leib; 87: Behandlung der Taschenuhren; 91: Geschichte der Parucke; 96: Wahrscheinlichkeiten; 98: Verzeichnis der vornehmsten Entdeckungen welche seit einigen Jahrhunderten sind gemacht worden; 121: Wanderungen einiger Pflanzen; 124: Merkwürdige neue Einrichtungen; 126: Erfindungen zur Pracht und Bequemlichkeit; 129: Natürliche Geschichte. Der Grashüpfer; 131: Physikalische Merkwürdigkeiten. Ueber die ehelichen Freuden der Pflanzen; 141: Schöne Künste. Aelteste Glasmalerey; 144: Gesetze der Gentoos für das schöne Geschlecht; 147: Kenntniß einiger Waaren. Cyprischer Wein; 149: Ortolanen; 149: Peruanischer Zucker; 151: Mittel, die verfälschten wohlriechenden Oele, von den aechten zu unterscheiden; 151: Gold- und Silbergewicht; 154: Verhältnis des Goldes zu dem Silber; 157: Vergleichung der Ellen und Fußmaase; 163: Vergleichung der verschiedenen Meilen; 164: Weite der nachfolgenden Städte von Gotha nebst ihrer Breite; 167: Verzeichniß einiger berühmten Messen und Jahrmärkte; 169: Abgang und Ankunft der reitenden und fahrenden Pos­ ten; 172: Verzeichnis verschiedener Carton-Fabrik-Waaren zu Braunschweig, und deren Preise. Seite 175 ff. schließt ein Sachregister diesen Teil des Kalenders ab. Die Stücke haben informierenden, ja teilweise volksaufklärerischen Charakter und versuchen, möglichst viele Fakten aus Naturwissenschaft, Geschichte und Kultur an eine breite Leserschicht zu vermitteln. Die vorderen Stücke stammen mit einiger Wahrscheinlichkeit von Lichtenberg, bei den hinteren mögen seine Mitstreiter als Autoren fungiert haben. Es scheint mir bemerkenswert, dass die Illuminaten von Rudolstadt im Jahr 1787 ebenfalls versucht haben, durch das Projekt eines Landkalenders Volksaufklärung zu betreiben. Vgl. die in SK16 -38 bis SK16 - 046 dokumentierten internen Diskus­sionen.

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Statuten der „Privatgesellschaft“ sprechen und die sie in unmittelbaren Zusammenhang mit der Praxis des Verlesens im Mitgliederkreis bringen. Wir haben also nicht nur auf die Veröffentlichungen im Magazin zu achten, sondern – und dies vergleichend – auch auf die „nützliche“ Belehrung in wissenschaftlicher Bildung im Hof-Kalender. Klaus Dieter Herbst hat uns anhand der Kalendergeschichten des Astronomen Gottfried Kirch gezeigt, wie frühaufklärerische Inhalte durch dieses wenig beachtete Medium verbreitet wurden;34 in Gotha lässt sich studieren, wie bestimmte Sozietäten eine spätaufklärerische Agenda in einen Kalender transportierten. Das Aufsatzwesen in der „Privatgesellschaft“ hatte also seine finanziellen Anreize. Und es gab weitere Anreize, die über Prämien organisiert waren. Sie betrafen das dritte Ziel der Sozietät, das „die Ausbreitung nützlicher Kenntnisse unter den gemeinen Mann“ war.35 In Gotha betrieb man Volksaufklärung, längst bevor Rudolf Zacharias Becker, lange Zeit nur korrespondierendes Mitglied der Freimaurerloge, 1783/1784 aus Dessau nach Gotha zurückkehrte.36 Immerhin war Becker noch bis 1782 im nahen Erfurt, und er war nicht der einzige, der um die Bildung des „gemeinen Mannes“ besorgt war. Das schon erwähnte Gothaer Gemeinnützge Wochenblatt, das auch von Ettinger verlegt wurde, sollte das Sprachrohr der Sozietät in die Handwerkerkreise hinein sein.37 Und hier nun sollte die Gesellschaft nach den Kräften ihrer Casse einem Künstler, Handwerker oder Oekonomen, der sich in der Bearbeitung seines Stoffes besonders hervorgethan hat, oder auch jungen studierenden Leuten, die es in einem wissenschaftlichen Fache oder in einer Sprache weit gebracht haben, Prämien ertheilen, die entweder in Geld, oder Instrumenten, die auf die Kunst, die sie treiben, Beziehung haben, oder in einem wichtigen Buche, das zu der Klasse gehört, worin sich das Subjekt, das die Prämie erhalten soll, hervorgethan hat, bestehen sollen.38

Diese Prämien waren also Nachwuchsförderung, Stipendien, Anreize für junge Leute oder Nichtakademiker. Hauptziel in Bezug auf den „gemeinen Mann“ war es, „den Aberglauben auszurotten, und gesunden Menschenverstand […] zu verbreiten“.39 34 Klaus-Dieter

Herbst (Hg.), Astronomie – Literatur – Volksaufklärung. Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit mit seinen Text- und Bildbeigaben, Bremen 2012; ders. (Hg.), Volksaufklärerische Reformkalender des 18. Jahrhunderts, Jena 2014. 35 Statute und Plane (wie Anm. 18), 103 (I,IV ). 36 Vgl. Holger Böning, Gotha als Hauptort volksaufklärerischer Literatur und Publizitik, in: Greiling u. a. (Hg.), Ernst II. (wie Anm. 21), 325 – 344, besonders 331 f.; zum Wochenblatt vgl. auch Mulsow, Diskussionskultur (wie Anm. 2), 185 – 190; zu Becker vgl. den Beitrag von Olaf Simons in diesem Band sowie Reinhart Siegert, Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem „Noth- und Hülfsbüchlein“, Frankfurt 1978. 37 Zum Wochenblatt vgl. Köhler, Gotha als Medienstandort (wie Anm. 28), 125 – 128. 38 Statute und Plane (wie Anm. 18), 103 (I,IV ). 39 Ebd.



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Doch nicht nur mit dem Magazin, nicht nur mit dem Hof-Kalender, und nicht nur mit dem Wochenblatt, sondern auch noch mit der Gothaischen gelehrten Zeitung, aus deren Redaktionsteam sie ja teilweise hervorgegangen war, war die „Privatgesellschaft“ verbunden. „Endlich machen sich“, heißt es, auch die Mitglieder der Gesellschaft, die sich mit schriftstellerischen Arbeiten beschäftigen, anheischig, für die hiesige gelehrte Zeitung, weitläuftigere oder kürzere Anzeigen von Büchern, gelehrte Nachrichten von neuen Entdeckungen und merkwürdigen Veränderungen in der gelehrten Republik zu liefern […].40

Wenn man schon die literarisch und wissenschaftlich tätigen Personen Gothas in einer Gruppe vereint hatte, dann wollte man aus diesem Pool auch für die Zeitung Gewinn ziehen. Und für noch ein weiteres Organ: den sogenannten „Reyherschen Quartkalender“, einen Kalender, der nicht mit dem Hof-Kalender zu verwechseln ist und den der Drucker Christoph Reyher im Jahr 1700 zu produzieren begonnen hatte. Sein Sohn Johann Andreas hat dann später das Produkt übernommen.41 Auch dieses Medium wollte die „Privatgesellschaft“ verbessern, „Aberglauben und Unsinn aus demselben aus[…]merzen, und einen Unterricht an ihre Stelle […] setzen […]“.42 Wie im Falle des Hof-Kalenders war man sich der enormen Breitenwirkung solcher Medien bewusst. Doch bleiben wir noch etwas bei den Aufsätzen selbst. In späteren Paragraphen der Satzung werden Details des Verlesens festgelegt: Abhandlungen und Aufsätze, welche vorgelesen werden sollen, wie auch Demonstrationen, müssen in der vorhergehenden Sitzung dem Sekretär auf einem Zettel zugestellet werden, welcher diesen am Ende der Sitzung abliest, damit man wissen möge, was in der künftigen Versammlung vorfällt.43

Diese Regel erinnert auffällig an die gelegentlich geübte Illuminatenpraxis, Aufsätze zunächst als „Quibus Licet“ an die unbekannten Oberen zu senden, bevor dann die Aufforderung kam, sie in der Minervalkirche zu verlesen.44 In der „Privatgesellschaft“ ging es freilich mehr um eine Ankündigung als eine Vorzensur, die Praxis war wiederum sehr viel freier. Die Statuten fahren fort: Werden mehrere [Aufsätze] angekündigt, als in einer Sitzung vorgenommen werden können, so folgen sie nach der Rangordnung der Wissenschaften und Künste im Classenverzeichnisse. Wenn daher mehrere Vorträge oder Vorlesungen in einer Sitzung

40 Ebd.,

(wie Anm. 18), 102 (I,III). Zur Gelehrten Zeitung vgl. Köhler, Gotha als Medienstandort (wie Anm. 28), 118 – 122; Schröpfer, Ewald (wie Anm. 7), passim. 41 Zu Christoph und Johann Andreas Reyer vgl. August Beck, Geschichte des gothaischen Landes, Bd. 2, Gotha 1870, 489 f. 42 Statute und Plane (wie Anm. 18), 103 f. (I,IV ). 43 Ebd., 123 (XIV,II). 44 Mulsow, Diskussionskultur (wie Anm. 2); Meumann, Arkanraum (wie Anm. 17).

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vorkommen sollten, so hat das vorsitzende Mitglied sehr darauf zu sehen, dass damit nicht über die gesetzte Zeit hinausgegangen werde. 45

Die gesetzte Zeit waren zwei Stunden, man traf sich alle zwei Wochen dienstags von vier bis sechs Uhr nachmittags.46 Bei den Illuminaten kam es zuweilen vor – das wissen wir aus den Protokollen –, dass (wohl in einem ähnlichen oder längeren Zeitraum) vier, fünf oder sechs Aufsätze hintereinander verlesen wurden.47 In dieser Weise hat man sich wohl auch die Treffen der „Privatgesellschaft“ vorzustellen. Wie aber hielt es die „Privatgesellschaft“ mit der Veröffentlichung der Aufsätze? „Jedem Mitgliede bleibt unbenommen“, heißt es, „drucken zu lassen, was es will, aber in Ansehung solcher Schriften, deren Herausgabe die Gesellschaft besorgt […], müssen die Aufsätze dem Urtheile und der Verbesserung der Mitglieder unterworfen werden“. 48 Es gab also eine Art peer-review-Verfahren, ganz entsprechend der Praxis des Verlesens mit anschließenden Anmerkungen der Hörer: Zu diesem Ende soll der Sekretär dafür sorgen, daß dergleichen Aufsätze in den Chatullen von Mitglied zu Mitglied cirkulieren. Dergleich cirkulierende Aufsätze sollen von keinem Mitgliede lange zurückbehalten, sondern demjenigen Mitgliede, das ihm am nächsten wohnt, in der Chatulle, verschlossen, zu weiterer schleunigen Beförderung bald zugeschickt, und der Tag des Abgangs jedesmal auf einem beygeschlossenen Blatte genau bemerkt werden.49

Wenn dieses Umlaufverfahren so praktiziert worden ist, wie es entworfen wurde, dann sind in der kleinen Residenzstadt Gotha fast jede Woche Schatullen, also Kästchen, mit Aufsätzen von der Jüdengasse in die Hützelsgasse, von der Hützelsgasse in die Gretengasse und von dort auf den Buttermarkt gebracht worden, von Boten oder auch mal vom Absender selbst, denn es waren ja immer nur wenige Schritte zu gehen. Wir haben bereits gehört, dass die zu verlesenden Vorträge teilweise versiegelt beim Sekretär lagen, der sie dann nach Bedarf öffnen und zum Vortrag aufrufen konnte. Ähnlich verhält es sich mit den zur Veröffentlichung bestimmten Beiträgen. Sie wurden in Kapseln abgelegt. Wie schon bei den „Chatullen“ handelt es sich auch bei dem „Kapseln“ um die Ordnungsinstrumente der damaligen Bürokratie und Verwaltung; Kapseln waren etwas geräumiger als Schatullen, sozusagen Ordner oder größere Schachteln. Die „Privatgesellschaft“ bediente sich also all der Instrumente, die diese Hofbeamten (denn das waren die meisten) ohnehin in ihrer täglichen Arbeit benutzten. Es sollte 45 Statute 46 Ebd.

und Plane (wie Anm. 18), 111 (VII ,I).

47 Beispielsweise

SK 15 - 016, Protokoll vom 21.1.1785. Damals wurden acht Aufsätze verlesen. und Plane (wie Anm. 18), 123 f. (XIV,II). 49 Ebd., 124 (XIV,II). 48 Statute



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eine Kapsel gehalten werden, worin die Beyträge zum Hofkalender für das künftige Jahr aufbewahret werden; und sollen die daran antheilnehmenden Mitglieder gehalten seyn, alles […] ordentlich und sauber aufzuzeichnen und in diese Kapsel beyzulegen, damit sodann aus diesem Vorrathe eine gute Auswahl getroffen werden könne.50

Das war ein ganz ähnliches Verfahren, wie es wenig später in der Berliner Mittwochsgesellschaft praktiziert wurde. Auch dort bemühte man sich, mit der Diskussion von Aufsätzen bei den zwei- oder vierwöchentlichen Treffen streng unter sich zu bleiben. Man nahm schriftlich Stellung zu den verlesenen Aufsätzen, und die besten von ihnen wurden – je nach dem Votum – in der Berlinischen Monatsschrift abgedruckt. Um die Abstimmung über die Texte möglichst unbeeinflusst halten zu können, ließ man sie unter strengen Geheimhaltungsmaßnahmen im Mitgliederkreis zirkulieren: Die Vorträge und Voten wurden in einer verschlossenen Kapsel, für die jedes Mitglied seinen eigenen Schlüssel besaß, weitergegeben, die Voten wurden – jedenfalls zunächst – ‚aller Sicherheit wegen‘ mit ‚Nummern statt Namen‘ unterschrieben und es galt als strenges Gesetz, dass ‚keinem Externo ein Aufsatz (oder dessen Inhalt, am wenigsten mit Nennung des Namens des Verfassers) mitgetheilt‘ werden durfte.51

In Gotha ging das Verfahren aber noch etwas weiter, denn die Kapselpost wurde nicht nur für die Beiträge zum Hofkalender benutzt. Eine gleiche besondere Kapsel soll auch für die zum Magazin bestimmte Artikel, eine dritte für die Gothaische Zeitungen, eine vierte für den hiesigen sogenannten Quartkalender, und endlich eine fünfte für das Wochenblatt, welches für den gemeinen Mann gehalten werden, und ein jedes Mitglied verbunden seyn, auf alle diese einzelnen Gegenstände, bey seiner Lektüre, so wie oben erinnert worden ist, Rücksicht zu nehmen.52

Wir sehen hier eine konzertierte Anstrengung einer Gruppe Gothaer Publi­ zisten und Verleger (allen voran Ewald, Lichtenberg, Reichard und Ettinger), ihre „nützliche“ Aufklärung auf allen Ebenen an den Leser zu bringen: vom einfachen Handwerker (Wochenblatt, Quartkalender) über die bildungshungrigen 50 Ebd.,

121 (XI ,IV). Hinske, Einleitung, in ders. (Hg.), Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, Darmstadt 1981, XXVI. Hinske erwähnt diese Details mit Bezug auf Moses Mendelssohns gesammelte Schriften, Bd. 1, Leipzg 1843, 30. Zur Mittwochsgesellschaft vgl. Günter Birtsch, Die Berliner Mittwochsgesellschaft. In: Hans Erich Bödecker, Ulrich Herrmann (Hg.), Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien, Göttingen 1987, 94 – 112; Ernst Haberkern, Limitierte Aufklärung. Die protestantische Spätaufklärung am Beispiel der Berliner Mittwochsgesellschaft, Marburg 2005; Henri Hümpel, Was heißt aufklären? Was ist Aufklärung? Rekonstruktion eines Diskus­ sionsprozesses, der innerhalb der Gesellschaft der Freunde der Aufklärung (Berliner Mittwochsgesellschaft) in den Jahren 1783 – 1789 geführt wurde. Ein Editionsbericht, in: Jahrbuch für die Geschichte Ost- und Mitteldeutschlands 42 (1994), 185 – 226. 52 Statute und Plane (wie Anm. 18), 121 (XI ,IV ). 51 Norbert

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Allgemeinbürger (Magazin) und den anspruchsvollen gelehrten Zeitgenossen (Gelehrte Zeitung) bis hin zur europäischen Adelskultur (Almanach) – sozu­ sagen von der Bildzeitung bis zur FAZ. Die Aufsatzpraxis in den Treffen dieser Gruppe war auf die eine oder andere Weise mit allen diesen Organen verwoben. Das wird ganz explizit gesagt: Die Beschäftigung der Gesellschaft in ihren ordentlichen Versammlungen soll in Ablesung schriftlicher Aufsätze, die entweder für das Magazin, oder die beyden Kalender, oder das Wochenblatt für den gemeinen Mann, oder zu dem, was die Gesellschaft sonst noch auszuarbeiten sich vornimmt [etwa Bücher oder Übersetzungen53], bestimmt sind; in der darüber zu pflegenden Unterhaltung, in Erklärung allerley nützlicher Maschinen, Instrumente und Modelle; in Bekanntmachung allerley neuer Erfindungen, Entdeckungen und Anstalten, und in Anordnung und Demonstrierung allerley physikalischer sowohl, als anderer Experimente bestehen.54

Die Themen, die etwa im Magazin veröffentlicht wurden und zuvor in Schatullen durch die Stadt getragen und in Kapseln abgelegt worden waren, waren von großer Vielfalt. Im ersten Jahrgang des Magazins, 1776 erschienen, liest man in den anonymen Beiträgen vom „Nationalcharakter der Italiener“,55 über die „Hauptperiode der Geschichte der Dichtkunst“, die „Verwandschaft der Gartenkunst mit der Malerey“, „Fragmente einer Geschichte der Kriegskunst“, „Gedanken über den Umlauf des baren Geldes“, „Berichtigung einiger Theile der Theorie über die Sichtbarkeit erleuchteter Körper und das Sehen der Gegenstände vermittelst der Spiegel“ (sicher von Lichtenberg), „Ueber Handel, Luxus und Bedürfnis“, „Schreiben über einige Merkwürdigkeiten der Philippinischen Inseln und ihrer Bewohner“, „Verbreitungsgeschichte der Syrischen Litteratur in Europa“ und vieles andere mehr.56 Wir haben keine Kunde darüber, wann genau die Gesellschaft ihre Treffen einstellte. Wir sehen aber – wenn dies als Indiz genommen werden kann –, dass das Wochenblatt nach Ende Juni 1783 nicht mehr publiziert wird. Und vor allem haben wir den Satz aus Ewalds für die Illuminaten aufgesetzten Lebenslauf: „Die Trennung der Gesellschaft erfolgte im Jahre 1783“.57 Man kann mut­ maßen: Im Juni/Juli 1783. Im August wurde die Gruppe der Gothaer Illuminaten gegründet. Mitglieder: Ewald, Helmolt und manche andere aus dem Kreis der „Privatgesellschaft“. Kennen wir nun die Abläufe der Versammlungen der „Privatgesellschaft“, und stellen wir fest, dass sie ganz ähnlich waren wie die Illuminatentreffen, die im Herbst 1783 begannen, dann stellt sich unweigerlich die 53 Ebd.,

(wie Anm. 18), 102 f. (I,III). 113 (VII ,V). 55 Der Verfasser verweist darauf, dass dieser Aufsatz als Fortsetzung seiner „Briefe über Italien“ anzusehen sei, die er zuvor im Teutschen Merkur publiziert hatte. Daran ist zu sehen, dass es sich um den Weimarer Bibliothekar Christian Joseph Jagemann handelt. 56 Gothaisches Magazin der Künste und Wissenschaften 1 (1777). 57 Schwedenkiste Bd. X , vgl. Anm. 7, zitiert nach Schröpfer, Ewald (wie Anm. 7), 32. 54 Ebd.,



Die Gothaer Illuminaten als fortgeführte „gemeinnützige Privatgesellschaft“? 355

Frage: War die Gothaer Minervalkirche vielleicht nichts weiter als eine Fortsetzung der Privatgesellschaft unter anderem Namen und mit etwas anderen Mitteln? Oder anders gefragt: Handelt es sich bei der Gothaer Illuminatengruppe letztlich um eine gemeinnützige patriotische Gesellschaft, die zwar unter der Flagge der Illuminaten segelte, doch ihre ganz eigene Agenda weiterführte, egal was der Stifter aus Ingolstadt auch vorhaben mochte? Das ist vielleicht eine etwas überspitzte These, doch nicht so furchtbar weit von der Realität entfernt.58 Die Verbindung einer Geheimgesellschaft mit einer patriotischen Gesellschaft ist nicht völlig singulär. In Altona beispielsweise hat in den 1750er Jahren der Jurist und Zeitungsmann Georg Schade eine patriotische Gesellschaft, die Allgemeine Gesellschaft der Wissenschaft und der Tugend (deren Sekretär er war wie Ewald der Sekretär der „Privatgesellschaft“) dazu benutzt, eine geheimgesellschaftliche Agenda auszuführen, die mit Religionskritik zu tun hatte. Auch hier gab es die Verbindung zum Zeitungswesen und eine partielle Überlappung mit Freimauererkreisen.59 Die Frage ist nur: Sollen wir uns bei solchen hybriden Gebilden immer auf die Metapher vom Parasiten, der auf dem Wirt sitzt und ihn ausnutzt, einlassen? Das wäre bei den Illuminaten das übliche Bild: sie ruhen auf Freimaurerlogen auf und nutzten parasitär deren Strukturen. Wenn man aber von den Praktiken her denkt – wie in diesem Falle von den Aufsatzpraktiken –, dann kann das Ergebnis auch anders ausfallen. Praktiken sorgen für Kontinuität.60 Daher mag die Privatgesellschaft mindestens ebenso58 Bei

den Illuminaten in München stellt sich die Sache etwas anders dar. Reinhard Markner macht mich auf einen Brief von Costanzo an Weishaupt, München, 6. 2. 1784, aufmerksam, in dem es heißt: „[…] Es war hier eine so genannte mildthätige Gesellschaft vorhanden, die zum Zweck hatte Hausarmen zu unterstützen. Wir haben gesuchet unsre Leute zu bewegen, sich in diese Gesellschaft einschreiben zu lassen, um die Sache auf einen besseren und nützlichern Fuß setzen zu können, welches auch uns geglückt hat. Nach dem neuen in diesem Jahr erschienenen Plan wird eine sichere Anzahl Kinder aufgezogen. Hier übersende ich Ihnen ein Exemplar der Statuten sowohl, als der neuen Einrichtung dieser Gesellschaft. Die neue Einrichtung die in der Vorrede zu ersehen ist, und woraus Eur. Hochwürd. einen gewißen Begriff derselben bekommen können. Ulisse ist der Director dabey, und die fleißig frequentierende Mitglieder fast alle Illuminaten“. GStAPK Berlin FM 5.2. G 39 Nr. 117, Dok. 97: „Beantwortung der Frage aus der Provinz Athen. Welche Anstalten, und Instituten sind bereits durch den O in Griechenland getroffen, oder in der Vorbereitung stehen, den Hauptzweck des O das ist Aufklährung und Bildung der Menschen zu beförderen“. Die Statuten dieser Gesellschaft sind mehrfach gedruckt worden: Gesetze der Mildthätigen Gesellschaft, München 1781. Vgl. zu dieser Gesellschaft Ralf Zerback, München und sein Stadtbürgertum: Eine Residenzstadt als Bürgergemeinde 1780 – 1870, München 1997, 73 – 75. In diesem Falle haben die Illuminaten eine Gesellschaft unterwandert, sind aber nicht aus ihr hervorgegangen. 59 Vgl. Martin Mulsow, Monadenlehre, Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Auf­k lärungsgesellschaft 1747 – 1760, Hamburg 1998. 60 Vgl. allgemein Arndt Brendecke u. a. (Hg.), Praktiken in der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015.

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viel ihrer Identität in die Minervalkirche überführt haben, wie die Minervalkirche ihre Identität den vorher existierenden Gothaer Zirkeln aufgedrückt hat. Sehen wir uns, um das zu unterstreichen, die Themen an, die in Gothas Illu­ minatengruppe verhandelt wurden. Da geht es um die Kleidung in der Stadt, Programme für die Theaterbesuche, die Behandlung von Gefangenen und Überschwemmungen; da geht es andererseits um philosophische und moralische Fragen von Irrtum, Wahrheit und Aufklärung oder auch um geschichtliche Topoi.61 Sind das nicht durchaus Themen einer „gemeinnützigen Gesellschaft“? Sicherlich, einige Akzente sind anders. Gegenüber dem Magazin sind die Aufsätze weniger ausführlich und wissenschaftlich ausgreifend. Es fehlen bei den Illuminaten auch weitgehend die naturwissenschaftlich-technischen Themen. Das mag daran liegen, dass die Stimme Lichtenbergs fehlt, der in der „Privatgesellschaft“ deutliche Akzente gesetzt hatte.62 Aber davon abgesehen gibt es erstaunliche Kontinuitäten. Ewald beispielsweise hat am 15. Juni 1784 einen Text verfasst, der „Über Aufklärung“ betitelt war und den Plan eines kleinen Buches vorstellte, das „das Notwendigste und Unentbehrlichste zur Aufklärung des gemeinen Mannes“ enthalten sollte;63 eine Grundanweisung über das Wesen des Menschen, des Staates und der Religion. Das entspricht genau dem, was schon in den – immerhin von Ewald selbst mitverfassten – Statuten der „Privatgesellschaft“ gefordert worden war: Uebrigens bleibt es ihr unbenommen, auch noch andere Einrichtungen und Anstalten, außer den angeführten bestimmten und festgesetzten, zu treffen, die zur Erreichung dieser besonderen Absicht [der Aufklärung] beförderlich seyn können. Z. B. die Ausarbeitung eines Lesebuchs für die niedern Schulen […].64

Ewald hatte das damals im Anschluss an die Erwähnung des Reyherschen Quartkalenders gesagt, der ja in seiner verbesserten Form auch dem „gemeinen Mann“ Grundlegendes beibringen sollte. Kontinuität gab es auch in den Regeln der Organisation und des Ablaufs. Ebenso wie die „Privatgesellschaft“ hat die Minervalkirche der Illuminaten die Charakteristik eines Vereins, der Mitgliederlisten führt, Beiträge einzieht, Protokolle schreibt und überhaupt alles verschriftlicht, was verschriftlicht werden kann. In der „Privatgesellschaft“ führte man neben dem „Gesetzbuch“ – den Sta61 Vgl. Mulsow, Diskussionskultur (wie Anm. 2). Eine Auflistung und ­Transkription der in der Thüringer Ordensniederlassungen verfassten bzw. vorgetragenen Aufsätze findet sich in der Gotha Illuminati Research Base (https://projekte.uni-er-furt.de/illuminaten/Illuminatenauf­ saetze, 17. 08. 2016) 62 Lichtenberg gab stattdessen ab 1781 das Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte heraus. Vgl. Köhler, Gotha als Medienstandort (wie Anm. 28), 154 – 158. 63 SK13-021: Über Aufklärung. Vgl. Mulsow, Diskussionskultur (wie Anm. 2), 185 – 190. John McCarthy vermutet (vgl. seinen Aufsatz in diesem Band), das Buch wäre mit Ewalds „Über das menschliche Herz“ zu identifizieren. Ich bin da eher skeptisch. 64 Statute und Plane (wie Anm. 18), 104 (I,IV ).  



Die Gothaer Illuminaten als fortgeführte „gemeinnützige Privatgesellschaft“? 357

tuten – ein „Tagebuch“ (das den Protokollen entspricht) und ein „Briefbuch“.65 Für die Gothaer Minervalkirche fehlen uns so explizite Statuten, wie sie für die „Privatgesellschaft“ vorliegen, allerdings wissen wir, dass gelegentlich Statuten bei den Sitzungen der Minervalkirche verlesen wurden, insofern können wir davon ausgehen, dass die Praxis ganz ähnlich ausgesehen hat. Und auch eine gewisse interne Geheimhaltung wurde bei aller Veröffentlichungswut von der „Privatgesellschaft“ gepflegt: Kein Mitglied soll jemanden, der kein Mitglied ist, irgend einen Aufsatz, der entweder in den Tagebüchern oder sonst vorhanden ist, weder originaliter, noch abschriftlich mittheilen, es wäre denn, dass es hierzu in einer Versammlung besondere Erlaubniß erhalten hätte. Auch soll das Zimmer keinen anderen, als Mitgliedern ohne vorgängige Erlaubnis geöffnet, am wenigsten aber die darin befindliche Maschienen, Bücher u.s.w. vorgezeigt werden.66

Ein möglicher Indikator für die fortdauernde Präsenz der „Privatgesellschaft“ in der Illuminatengruppe wären Konflikte: Konflikte mit einigen der Vorgaben, die nun über Bode und Ernst II. den Gothaer Intellektuellen auferlegt wurden und die sie aus ihren bisherigen Sozietäten nicht kannten. Als Beispiel für einen solchen Konflikt kann man das Aufbegehren Ewalds im Frühjahr 1785 anführen, für das er von Bode sogleich gemaßregelt wurde;67 oder auch andere, vorsichtigere Anfragen an die Ordensführung, was Geheimhaltung und Loyalitätsfragen anging.68 Die strengere Geheimhaltung veränderte ohnehin manche Parameter der trotz des abgeschlossenen Zimmers sonst recht freien Praxis in der „Privatgesellschaft“. Anders als bei der „Privatgesellschaft“ wurden die in der Minervalkirche gehaltenen Vorträge im allgemeinen nicht gedruckt. Die Koordination der Gothaer Publikationsorgane konnte also von den Illuminaten nicht übernommen werden; man konnte höchstens punktuell darauf einwirken. 65 Ebd.,

120 (XI,I,II und III): „Es soll ein Gesetzbuch gehalten werden, in welches alle Gesetze und Constitutionen, die in Ansehung der Regierung und Regulierung der Gesellschaft gemacht worden, oder gemacht werden, wie auch ein Verzeichnis der Mitglieder, sauber eingeschrieben werden. Auch soll ein Tagebuch gehalten werden, in welches alle Anordnungen, merkwürdige Vorfälle, die der Gesellschaft gemachten Geschenke, weitläufige und kürzere Vorträge, sie mögen abgelesen oder sogleich aus dem Stegreif vorgetragen werden, ferner gemachte Experimente, Propositionen neuer Gesetze und Kandidaten, und ihre Wahl und dergleichen eingeschrieben werden, wenn solches für gut befunden wird. Es soll ferner ein Briefbuch gehalten werden, in das alle Briefe und Auszüge aus Briefen, die lehrreiche und nützliche Bemerkungen und Nachrichten enthalten, und entweder an die Gesellschaft, oder an einzelne Mitglieder derselben geschrieben worden sind, entweder originaliter eingeheftet oder sauber eingeschrieben werden“. 66 Ebd., 121 (XI ,V). 67 Vgl. SK11-074, Ewalds Reaktion auf Bodes Maßregelung; dazu Mulsow, Diskussionskultur (wie Anm. 2), 201. 68 Dazu Simons, Meumann, „Mein Amt ist geheime gewissens Correspondenz und unsere Brüder zu führen“ (wie Anm. 30).

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Es kam allerdings gelegentlich vor, dass ein Illuminaten-Text auf die eine oder andere Weise – beispielsweise leicht modifiziert – dann doch den Weg in eine Zeitschrift gefunden hat. Becker etwa transponierte seinen Text über den „gesellschaftlichen Zeitvertreib“, den er bei den Illuminaten gehalten hatte, kurzerhand in den Rahmen einer anderen Sozietät, nämlich des Buchwald-Zirkels, und behauptete, er habe ihn dort vorgetragen, um ihn publizierbar zu machen.69 Der größte Unterschied der Gothaer Minervalkirche zur „Privatgesellschaft“ scheint mir aber in der Rolle Bodes zu liegen. Indem Bode – eng abgestimmt mit Ernst II. – die Aktivitäten der Gothaer Gruppe per Quibus Licet und Reprochen überwachte und steuerte,70 benutzte er ein Instrument, das der Praxis der vorherigen Gruppe sehr fremd gegenüberstand. Lichtenberg, der ja allen freimaurerischen Aktivitäten mit Distanz begegnete und nicht den Übergang der „Privatgesellschaft“ in den Illuminatenzirkel mitvollzogen hatte, hat denn auch böse Randbemerkungen in sein Exemplar der Denkwürdigkeiten aus dem Leben Ernst II, die 1804 nach dem Tod des Herzogs erschienen waren, geschrieben.71 Die Passage, in der es um das freimaurerische Engagement Ernsts geht, ist dort komplett ausgestrichen. Dort hatte es über den Herrscher geheißen: Mit nicht geringem Eifer beschäftigte er sich auch bald nach dem Antritt seiner Regierung, vorzüglich seit den Jahren 1776 und 1777, mit der Freymaurerey. Seine Bekanntschaft mit verschiedenen würdigen Männern, die er innig schätzte, gab ihm hierzu die erste Veranlassung, und der Gedanke, durch vereinigte Kräfte guter Menschen die moralische Wirksamkeit des Menschen noch über das Gebiet der Fürstenmacht hinaus zu erstrecken, nebst dem regen Streben nach neuen Aufschlüssen in seinen Lieblingsstudien, knüpfte ihn an den Freymaurer Orden.72

Lichtenberg schrieb etwas süffisant an den Rand: „Hier zeigte sich der […] Herzog als Mensch“. Eine Fußnote im Buch setzte die Freimaureraktivitäten Ernsts in Beziehung zur Schwedenkiste: 69 Vgl.

SK15-021 und [Rudolf Zacharias Becker,] Ueber den gesellschaftlichen Zeitvertreib, in: Der Teutsche Merkur 1785, 2. Viertel, 142 – 154; dazu Mulsow, Diskussionskultur (wie Anm. 2), 191 – 193. Ein anderer Fall ist Gottlieb Hufeland, Vorsteher der Illuminatengruppe in Jena, der im Februar 1786 vor den Illuminaten einen Aufsatz mit dem Titel „Über den Nutzen der Geschichte des Mittelalters“ verliest (SK 13-059), diesen dann aber im Oktober 1788 im Teutschen Merkur veröffentlicht. 70 Zu diesem Steuerungssystem vgl. Pawlowski, „…sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken“ (wie Anm. 17), sowie demnächst die minutiöse Rekonstruktion durch Olaf Simons und Markus Meumann „Mein Amt ist geheime gewissens Correspondenz und unsere Brüder zu führen“ (wie Anm. 30). 71 Christian Ferdinard Schulze, Denkwürdigkeiten aus dem Leben Ernst II , Gotha 1804. Das Exemplar ist in der FB Gotha erhalten: Hist 8 02338. Ich danke Andrew McKenzie-McHarg für den Hinweis auf das Buch. 72 Ebd., 31.



Die Gothaer Illuminaten als fortgeführte „gemeinnützige Privatgesellschaft“? 359

In seinem Kodizill verordnete er noch, daß von den beyden zur Durchsuchung seiner Papiere von ihm ernannten Geschäftsmännern Alles, was Bezug auf Freymaurerey habe, oder dahin einschlage, in Verwahrung genommen und an die große LandesLoge zu Stockholm als Depot übersendet werden sollte. Darunter befinden sich auch die wichtigen Bode’schen Freymaurer- und andere Ordens-Papiere, die er aus dessen Nachlasse an sich gekauft, aber nie eröffnet hatte.73

Lichtenberg brachte ein Häkchen hinter dem Wort „Bode’schen“ an und schrieb dazu am unteren Rand der Seite: der Nahme Bode, des niederträchtigsten Menschen, solte in den Herzoglich Säch­ sischen Landen zu … [Auslassung; zu ergänzen ist: Gotha] bey strenger Strafe verboten seyn. Den Beweiß muß ich hier verschweigen.

Lichtenberg hatte offenbar mit Misstrauen die illuminatischen Aktivitäten Bodes verfolgt und ihm die Ausgrenzung, die er durch sie erfuhr, übelgenommen. Da sich 1804 um den Illuminatenbund längst Verschwörungslegenden gebildet hatten und das Thema hochbrisant war, versagte sich Lichtenberg einen „Beweis“, also nähere Ausführungen. Dass Lichtenberg zornig war, ist verständlich.74 Erstaunlich ist hingegen, dass die Mitglieder des Kreises der ehemaligen Privatgesellschaft, die jetzt Illu­ minaten waren, diese Steuerung hinnahmen. Dazu war nicht so sehr Zwang erfordert (auch wenn man respektierte, dass Ernst II. es so wollte), sondern – auf der Seite Bodes – ein enormes Engagement und eine enorme Anstrengung, in den Reprochen für die Legitimität der Steuerung zu werben und diese als fürsorgliche Menschenführung anzupreisen.75 Man kann daher in den Reprochen geradezu Schlüsseltexte sehen, die das Illuminatenwesen in Gotha stabil zu halten hatten. Solche Stabilität war immer gefährdet, und die parallel in der Ordensspitze brodelnden Diskussionen um die Struktur des Ordens, seine „Demo­ kratisierung“, die Aufhebung des Geheimnischarakters und die Autonomie der lokalen Gruppen zeigen, dass diese Stabilität auch im Ganzen prekär war.76 Die Zentrifugalkräfte waren groß. Dass auch in der Aufsatzpraxis selbst diese Zen73 Ebd., 31 f. Zur Schwedenkiste vgl. Endler, Zum Schicksal der Papiere von Johann Joachim Christoph Bode (wie Anm. 19). 74 Man kann darüber spekulieren, ob die Aufklärung, wie Lichtenberg sie im Sinn hatte, hauptsächlich an der Vermittlung von Sachwissen orientiert war (wie es der Kalender in Anm. 33 zeigt), und ob die viel politisiertere Form von Aufklärung, wie Bode sie vertrat, mit all ihren Plänen und geheimen Absprachen, Lichtenberg zuwider war. 75 Vgl. Simons, Meumann, „Mein Amt ist geheime gewissens Correspondenz und unsere Brüder zu führen“ (wie Anm. 30). 76 Diese Diskussion kam bereits 1784 auf und wurde maßgeblich von den Göttinger Illuminaten, vornehmlich Christoph Meiners und Georg Heinrich Feder, vorangetrieben. Man setzte sich von Weishaupts autoritären Führungsstil ab und wollte eine klare Verfahrensregelung, mit Abstimmungen im Führungsgremium. Ich arbeite an einer Monographie über diese Reformdiskussionen innerhalb des Illuminatenordens.

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trifugalkräfte angelegt waren, dafür sollte der Blick auf die Kontinuität von der Minervalkirche zur Gothaer „Privatgesellschaft“ sensibel machen. Bevor im Sommer 1783 die Gothaer Gruppe von Illuminaten gegründet wurde, gab es schon seit fünf Jahren eine „gemeinnützige Privatgesellschaft“, die teilweise aus demselben Personal bestand. Auch in ihr schrieb und diskutierte man, wie später im Illuminatenzirkel, Aufsätze. Allerdings stand die Aufsatzpraxis der Privatgesellschaft im Zusammenhang mit mehreren Journalen und Zeitungen, die vom Verleger Ettinger herausgegeben wurden. Der Beitrag stellt die Frage, ob nicht die Gothaer Illuminaten – zumindest von ihren Praktiken her – in einer Kontinuität mit der Privatgesellschaft verstanden werden können. Das würde die gängigen Interpretationsmuster durchbrechen, die Illuminaten einerseits immer nur als „parasitär“ gegenüber den Freimaurerlogen zu sehen, andererseits ihren subversiven und Geheimnis-Charakter zu betonen. Der neue Blick hingegen stellt die Gothaer (und mitteldeutschen) Illuminaten in den unmittelbaren Kontext territorial-„patriotischer“ Sozietäten, die in Zusammenarbeit mit den Höfen Aufklärung von oben praktizierten. Before the Gotha fraction of the Illuminati was founded in summer 1783, a “Charitable Private Society”, which partly consisted of exactly the same members, had already existed for five years. In the “Private Society”, too, the members wrote and discussed essays, just as was to be the practice later in the circle of the Illuminati. Unlike the Illuminati, they prepared their essays for publication in several magazines and newspapers run by Carl Wilhelm Ettinger. This paper poses the question whether one should see a continuity from the “Private Society” to the Gotha Illuminati, at least from the perspective of their practices. This would go against the usual view that Illuminati groups established themselves as “parasitical” entities within existing Masonic lodges, and that they were essentially secret. The new perspective which I propose, however, sets the Gotha (and central German) Illuminati in the context of the “Patriotic Societies” that practised “Enlightenment from above” at the German courts. Prof. Dr. Martin Mulsow, Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt, Schloss Friedenstein, 99867 Gotha, E-Mail: [email protected]

Reinhard Markner Zwischengrade und Probeaufsätze: Unbekannte Lehrschriften der Illuminaten

I. So unabgeschlossen das Gradsystem des Illuminatenordens letztlich blieb, so fragmentarisch ist auch seine Überlieferung in gedruckter Form. Dabei ging die erste Veröffentlichung aus Gradtexten des Ordens dessen Verbot in Pfalzbayern sogar noch voraus. Der von den „Minervalen“ zu leistende Eid wurde bereits im November 1784 in der anonymen Schrift Ueber Freimaurer. Erste Warnung dokumentiert und kritisch kommentiert.1 Darüber hinaus zitierte der mutmaßliche Verfasser, der Münchner Schriftsteller Joseph Maria Babo, aus den umfangreichen Fragenkatalogen für den Grad des „Illuminatus major“. Einerseits stand seine Denunziation so zwar in der Tradition der sogenannten freimaurerischen „Verräterschriften“ seit Samuel Pritchards Masonry Dissected (1730), andererseits aber bot sie den Lesern bei weitem noch nicht das vollständige Ritual jener Gesellschaft, deren Treiben sie anprangerte. Der „Illuminatus minor“ war Anfang 1786 der erste illuminatische Gradtext, der in voller Länge veröffentlicht wurde.2 In rascher Folge kamen nun weitere vormals geheime Dokumente ans Licht, wobei nicht nur die kurpfalzbayerische Regierung und andere Gegner Adam Weishaupts „Originalschriften“ des Ordens in Druck gaben,3 sondern auch seine Anhänger4 und der Ordensgründer selbst. So legte Weishaupt schon 1786 eine erweiterte Fassung der ursprünglich für den 1 Vgl.

[Joseph Mario Babo,] Ueber Freimaurer. Erste Warnung, [München] 1784, 29–50. an den Herrn Hofkammerrath Utschneider in München. […] Nebst Instruction für den Obern der Minerval-Kirche wegen Ertheilung dieses Grades, [Nürnberg] 1786, 59–136. 3 Vgl. Einige Originalschriften des Illuminatenordens, welche bey dem gewesenen Regierungsrath Zwack durch vorgenommene Hausvisitation zu Landshut den 11. und 12. Oktob. usw. 1786 vorgefunden worden, München 1786, sowie Nachtrag von weitern Originalschriften, welche die Illuminatensekte überhaupt, sonderbar aber den Stifter derselben Adam Weishaupt, gewesenen Professor zu Ingolstadt betreffen, und bey der auf dem Baron Bassusischen Schloß zu Sandersdorf, einem bekannten Illuminaten-Neste, vorgenommenen Visitation entdeckt, sofort auf Churfürstlich höchsten Befehl gedruckt, und zum geheimen Archiv genommen worden sind, um solche jedermann auf Verlangen zur Einsicht vorlegen zu lassen, München 1787. 4 Vgl. u. a. Thomas Franz Maria Frhr. von Bassus, Vorstellung, denen hohen Standeshäuptern 2 Schreiben

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128

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Docetengrad entworfenen Ansprache in Form des „philosophischen Fragments“ Ueber Materialismus und Idealismus vor.5 Im Jahr darauf inkorporierte er einen langen Auszug aus der ursprünglich für den „Philosophengrad“ vorgesehenen Ansprache in sein Buch Nachtrag zur Rechtfertigung meiner Absichten.6 1788 schließlich verwendete er weitere Fragmente aus demselben Text im ersten Band einer Geschichte der Vervollkommnung des Menschlichen Geschlechtes.7 Während Ueber Materialismus und Idealismus eine zweite und erheblich erweiterte Auflage erfuhr zu einer Zeit, als die Unterdrückung der bayerischen Illuminaten großes öffentliches Aufsehen erregte, blieb die ehrgeizige Geschichte der Vervollkommnung des Menschlichen Geschlechtes unabgeschlossen. 1788 stellte ein anonymer Herausgeber die Sammlung Der ächte Illuminat zusammen,8 worin der „Vorbereitungsaufsatz“ sowie der „Novize“, der „Minerval“ sowie „Illuminatus minor“ und „Illuminatus major“ abgedruckt wurden. 1793 veröffentlichte der illuminatische Renegat Ludwig Adolph Christian von Grolman die beiden höheren Grade „Presbyter“ und „Princeps“ (bzw. „Priester“ und „Regent“) gemeinsam mit einer „Kritischen Geschichte der IlluminatenGrade“.9 Ergänzend dazu erschien im Jahr darauf, von einem anonym bleibenden Münchner Freimaurer herausgegeben, das Bändchen Illuminatus Dirigens mit dem gleichnamigen Gradtext.10 Bis heute verläßt sich die Forschung zum Illuminatenorden auf diese Drucke des ausgehenden 18. Jahrhunderts, deren Textgestalt jedoch, wie der Vergleich mit den erhalten gebliebenen Handschriften zeigt, in zum Teil beachtlichem Maße korrupt ist. Es macht einen Unterschied, um nur ein Beispiel zu geben, wenn der gedruckte Text „Fremde“ hat, wo es „Freunde“ heißen sollte.11 Die Manuskripte sind zwar durchweg auch nicht makellos, aber eine sorgfältige Kollation der vorliegenden Varianten kann zu erheblich zuverlässigeren und unverfälschteren Textfassungen gelangen als bisher zur Verfügung standen. der Erlauchten Republik Graubünden in Ansehung des Illuminaten Ordens auf hohen Befehl vorgelegt, [Nürnberg] 1788. 5 Adam Weishaupt, Ueber Materialismus und Idealismus. Ein philosophisches Fragment, Nürnberg 1786. 6 Vgl. Adam Weishaupt, Nachtrag zur Rechtfertigung meiner Absichten, Frankfurt, Leipzig [i. e. Nürnberg] 1787, 89–109. 7 Vgl. Adam Weishaupt, Geschichte der Vervollkommnung des Menschlichen Geschlechtes, Bd. 1 (mehr nicht erschienen), Frankfurt, Leipzig [i. e. Nürnberg] 1788, 41–43. 8 Wenig spricht für die gewöhnlich vorgenommene Zuschreibung an den Frankfurter Journalisten Johann Heinrich Faber. 9 Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo in dem Illuminaten-Orden. Jetzt zum erstenmal gedruckt und zur Beherzigung bey gegenwärtigen Zeitläuften herausgegeben, [Frankfurt am Main] 1793. 10 Illuminatus Dirigens, oder Schottischer Ritter. Ein Pendant zu der nicht unwichtigen Schrift: Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo in den Illuminaten-Orden […], [München] 1794. 11 Vgl. Die neuesten Arbeiten des Spartacus und Philo (wie Anm. 9), 28.



Zwischengrade und Probeaufsätze: Unbekannte Lehrschriften der Illuminaten 363

Über die Korruption einzelner Stellen hinaus ist der „Presbyter“ oder Pries­ tergrad von Grolman in sehr fragwürdiger Weise in Druck gegeben worden. Alle Handschriften dieses wichtigen Grades unterscheiden sich deutlich vom veröffentlichten Text. Als Knigge den Priestergrad ausarbeitete, verwendete er Weishaupts Entwurf einer „Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminatos Dirigentes“ (später abgedruckt im Nachtrag von weitern Originalschriften) als Grundlage für den „Unterricht im Ersten Zimmer“. Der überarbeiteten und erweiterten Ansprache wurde zunächst ein Platz am Ende des Grades (als „Beylage A“) angewiesen. Später wurde sie noch einmal überarbeitet und in den Gradtext selbst eingegliedert. Dabei kamen unter anderem in der Gestalt von Fußnoten Reflexionen Weishaupts über den Außenhandel, den Kosmopolitismus und die Aufklärung hinzu. Ob die dergestalt revidierte Fassung im Orden jemals eingeführt wurde, ist allerdings unklar, da die überlieferten Handschriften sämtlich unvollständig sind.12 Genau 200 Jahre sollten nach dem Erscheinen von Grolmans „Verräterschrift“ vergehen, bis W. Daniel Wilson und Hermann Schüttler unabhängig voneinander auf der Basis von Abschriften Johann Joachim Christoph Bodes und Herzog Ernsts II. von Sachsen-Gotha-Altenburg die von Weishaupt für die beiden höchsten Grade des Illuminatenordens entworfenen Ansprachen herausgaben – die zentralen und zugleich einzigen jemals fertiggestellten Elemente dieser Grade, deren vollständige Ausarbeitung nach dem Ausscheiden Knigges unterblieben war.13 Und erst seit Februar 2015 liegt in englischer Übersetzung eine erste, annähernd vollständige Gesamtausgabe des Systems der Illuminaten vor.14 Hier sind zum einen das von Adolph von Knigge im Sommer 1781 entworfene freimaurerische Ritual, welches gemeinsam mit dem zugehörigen Gesetzbuch in einigen von den Illuminaten beherrschten Logen Verwendung finden sollte, und zum anderen auch eine Reihe von im engeren Sinne illuminatischen Gradtexten erstmals veröffentlicht worden.

12 Vgl.

u. a. GStA Berlin FM 5.2. G 39 Nr. 107 Dok. 20, FM 5.1.4. Nr. 3598, FM 5.2. D 40 Nr. 868. 13 Vgl. W. Daniel Wilson, ‚Der politische Jacobinismus wie er leibt und lebt‘? Der Illuminatenorden und revolutionäre Ideologie. Erstveröffentlichungen aus den ‚Höheren Mysterien‘, in: Lessing Yearbook 25 (1993), 133–84, sowie Johann Joachim Christoph Bode, Journal von einer Reise von Weimar nach Frankreich. Im Jahr 1787, hg. von Hermann Schüttler, München 1994, 361–414. – Wilson druckte nur die Ansprache für den höchsten Grad ab, Schüttler hingegen die Ansprachen der beiden höchsten Grade, wobei er aufgrund der Aktenlage deren Reihenfolge vertauschte. 14 The Secret School of Wisdom. The Authentic Rituals and Doctrines of the Illuminati, hg. von Josef Wäges und Reinhard Markner, [Hersham (Surrey)] 2015.

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II. Obwohl es ursprünglich Weishaupts Interesse an der Freimaurerei war, das ihn nach eigener Aussage dahin brachte, einen eigenen Geheimbund zu gründen, war der Illuminatenorden zunächst kein maurerisches System irgendeiner Art. Dennoch wurde von Weishaupt bereits Ende 1778 die Errichtung von Logen in München und Eichstätt erwogen, während Franz Xaver Zwackh, zu dieser Zeit sein wichtigster Gefolgsmann in München, die Zusammenlegung von Freimaurerei und Minervalklasse favorisierte.15 Zwackh selbst wurde daraufhin Mitglied der Münchner Loge „St. Theodor zum guten Rath“, während Weishaupt bereits am 2. Februar 1777 Aufnahme in die rivalisierende Loge „Zur Behutsamkeit“ erlangt hatte,16 die dem templerischen Hochgradsystem der Strikten Observanz unterstand und von kurfürstlichen Beamten geprägt war. Nachdem Knigge gegen Ende des Jahres 1780 zu Weishaupts bevorzugtem Mitautor avanciert war, fügte er zunächst dem Minervalgrad einige unverkennbar freimaurerische Elemente hinzu. Im April 1781 bat er um Anweisungen bezüglich der Entwicklung eines eigenen Freimaurer-Systems. Die von der Frankfurter Loge „Zur Einigkeit“ verwendeten Grade, so Knigge, seien zu verstümmelt, als daß sie Verwendung finden könnten, aber es stünden ihm alternativ auch andere Quellen zur Verfügung. Er riet davon ab, sich um vermeintlich authentische Konstitutionen auswärtiger Mutterlogen zu bemühen.17 Knigge war bekannt, daß das richtungslos gewordene System der Strikten Observanz einen Konvent abzuhalten beabsichtigte, dessen Ergebnisse er zunächst abwarten wollte.18 Dieser Konvent sollte ursprünglich im Oktober 1781 in Frankfurt am Main stattfinden. Als Knigge die Nachricht von seiner Verschiebung erreichte, ging er sofort daran, eine eigens auf die Bedürfnisse der Illuminaten zugeschnittene Version der drei Freimaurergrade zu verfassen. Etwa drei Monate später, Ende August 1781, hatte Knigge diese Arbeit abgeschlossen und zudem ein Konstitutionsbuch für die Logen entworfen.19 Das Ergebnis war bewußt eklektisch, und da Knigge seine Quellen nicht preisgab, müßte ein sorgfältiger Vergleich mit den zahllosen zeitgenössischen Freimaurergraden unterschied­licher Systeme angestellt werden, um seine redaktionelle Arbeit nachvollziehen zu können.20 15 Vgl. Weishaupt to Zwackh, 6. 12. 1778, in: Die Korrespondenz des Illuminatenordens, hg. von Reinhard Markner, Monika Neugebauer-Wölk und Hermann Schüttler, Bd. 1: 1776–1781, Tübingen 2005, 113, sowie Zwackh an Weishaupt, 6./7. 12. 1778, ebd., 116. 16 Vgl. GStA Berlin FM 5.2. M 54 Nr. 9 sowie die Abbildung in The Secret School of Wisdom (wie Anm. 14), 24. 17 Vgl. Knigge an Weishaupt, 7.–10. 4. [1781], in: Die Korrespondenz des Illuminatenordens, Bd. 1 (wie Anm. 15), 275–279. 18 Vgl. Knigge an Weishaupt, 10./11. 5. [1781], ebd., 292. 19 Vgl. Knigge an Weishaupt, 27. 8. 1781, ebd., 358. 20 Vgl. die diesbezüglichen Hinweise in Reinhard Markner, Josef Wäges, Introduction, in: The Secret School of Wisdom (wie Anm. 14), 26 f.



Zwischengrade und Probeaufsätze: Unbekannte Lehrschriften der Illuminaten 365

Knigges Ritual wurde in München eingeführt, nachdem die Theodorsloge mit der Mutterloge „Royal York“ in Berlin gebrochen hatte.21 Im Sommer 1782 folgte diesem Beispiel eine weitere Loge, „Caroline zu den drei Pfauen“ in Neuwied, die Knigge persönlich mit einer neuen Konstitution versah.22 Im Dezember 1782 übernahm auch die Wetzlarer Loge „Joseph zu den drei Helmen“ das Ritual, und Anfang 1783 wurde es von einem Mitglied in München ins Französische übersetzt.23 Diese Entwicklung vollzog sich, obwohl Weishaupt selbst mit Knigges Schöpfung unzufrieden war. In der Tat bot das Ritual keine wirkliche Progression; vielmehr hatten die Freimaurergrade, wiewohl nominell höher, weniger Substanz als die der Minervalklasse. Darüber hinaus war durch die Verschränkung von illuminatischem und freimaurerischem Ritual die Einheit des Gesamtentwurfs verlorengegangen. Als eine mögliche Lösung dieses Problems zog Weishaupt die Zusammenlegung der Illuminatengrade mit den Maurergraden in Erwägung, also beispielsweise des Minervals mit dem Lehrling.24 Dies hätte aber eine vollständige Revision aller bereits ausgearbeiteten Grade nötig gemacht, weshalb sich Weishaupt dafür entschied, zunächst alles unverändert zu lassen. Seine abschätzige Haltung gegenüber den Freimaurergraden gab er statt dessen dadurch zu erkennen, daß er Beförderungen im Schnelldurchgang empfahl: alle drei Grade in drei Tagen.25 Knigge begegnete Weishaupts Kritik mit dem Hinweis darauf, daß er über wenig Handlungsspielraum verfüge. Jene Männer, die bereits Logen angehört hatten, was sicherlich für die meisten seiner eigenen Rekruten zutraf, waren den „alten und ehrwürdigen Pflichten“ treu, in die sie bereits eingeübt waren.26

21 Vgl.

Bernhard Beyer, Freimaurerei in München und Altbaiern. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Hamburg 1973, 123, sowie A[ugust] Flohr, Geschichte der Grossen Loge von Preussen, genannt Royal York zur Freundschaft im Orient von Berlin, Bd. 1: Geschichte der Johannis-Loge Royal York zur Freundschaft bis zur Stiftung der Grossen Loge 1798, Berlin [1898], 93. 22 Vgl. Arwid Liersch, Die Freimaurerei in Neuwied in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur freimaurerischen Geschichte des Rheinlands, Neuwied 1899, 49. Das Patent befindet sich heute im Besitz der Neuwieder Loge „Zur Wahrheit und Treue“; Abbildung (ermöglicht durch die freundliche Unterstützung von Peter Hofmann, Neuwied) in: The Secret School of Wisdom (wie Anm. 14), 3. Aufl., Addlestone (Surrey) 2016, 12. 23 Vgl. die Provinzialberichte von Graf Stolberg-Roßla (Dezember 1782) und Marchese Costanzo (Januar 1783), in: Staatsarchiv Hamburg 614-1/72 Gr. Loge Nr. 1350. 24 Vgl. Weishaupt an die Münchner Areopagiten, 15. 3. 1782, in: Die Korrespondenz des Illuminatenordens, hg. von Reinhard Markner, Monika Neugebauer-Wölk und Hermann Schüttler, Bd. 2: Januar 1782 – Juni 1783, Berlin, Boston 2013, 81. 25 Vgl. Weishaupt an Zwackh und die Münchner Areopagiten, 25. [6.] 1782, ebd., 144. 26 Knigge an Weishaupt, 20. 3. [1782], ebd., 97.

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Reinhard Markner

III. Im Rahmen von Knigges Bemühungen, das noch ganz unfertige illuminatische System in Abstimmung mit Weishaupt weiter auszubauen, entstand u. a. der allen Gradtexten vorgeschaltete „Vorbereitungsaufsatz“, welcher zur Einstimmung potentieller Rekruten gedacht war. Dieser „Allgemeiner Begriff“ bzw. „Allgemeine Begriffe von der Gesellschaft der Illuminaten“ betitelte Text wurde erstmals 1788 veröffentlicht27 und seitdem nach dieser Druckfassung zitiert. Eine weitere Version mit abweichendem Anfang, die 1879 an entlegener Stelle aus dem Nachlaß Johann Heinrich Pestalozzis herausgegeben wurde,28 blieb hingegen unbeachtet. Eine in Berlin liegende Abschrift derselben Fassung des „Vorbereitungsaufsatzes“ aus vormals Dresdner Logenbeständen beginnt mit folgenden Worten: Es ist eine alte Gesellschaft, die sich aus mehr als einer Ursach immer geheim gehalten hat; deswegen wird man nicht leicht etwas von ihr gehört haben: […] Diese Gesellschaft besteht aus Männern, die seit sehr langen Zeiten her, allem nachgeforscht, alles aufgesucht und theils von ihren Vorfahren überliefert bekommen haben, was Menschen wissen können. Folglich kennen sie das Wahre und Falsche, haben von ihren Leuten etliche in allen Gesellschaften gestreut, kennen die Einrichtungen, das Gute u[nd] Böse darinn, und sind also mehr als irgend eine Gesellschaft in der Welt fähig, einem Wißbegierigen genug zu thun.29

Das Vorgeben, daß der Illuminatenorden eine uralte Einrichtung sei, findet sich auch andernorts in dessen Gradtexten, aber nur in diesem Entwurf wird auf die spanischen Alumbrados einerseits und auf das Buch Crata Repoa andererseits Bezug genommen.30 Wer sich mit der Geschichte der Pythagoreer befaßt, zudem „etwas von den einst in Spanien verdammten Illuminés gehört, und endlich Crata Repoa mit einiger Aufmerksamkeit gelesen“ habe, so heißt es hier, werde „auf eine Art von Spur kommen können“, in welcher Tradition die Illuminaten stünden.31 27 Der ächte Illuminat oder die wahren unverbesserten Rituale der Illuminaten, Edessa [d. i. Frankfurt am Main] 1788, 7–16. 28 [Karl Otto] H[un]z[iker], „Pestalozzi und die Illuminaten“, in: Korrespondenzblatt des Archivs der Schweizerischen Permanenten Schulausstellung in Zürich 2 (1879), 6–11, bes. 8–11. 29 GStA Berlin FM 5.2. D 34 Nr. 1828. 30 Vgl. [Carl Friedrich Köppen und Johann Wilhelm Bernhard Hymmen,] Crata Repoa. Oder Einweihungen in der alten geheimen Gesellschaft der Egyptischen Priester, [Berlin] 1770 (²1778). – Die Zürcher Abschrift der Erstfassung des „Vorbereitungsaufsatzes“ von Pestalozzis eigener Hand weist just da eine Lücke auf, wo von Crata Repoa die Rede sein sollte. Offenbar war Pestalozzi das ursprünglich für die Mitglieder des kurzlebigen Hochgradsystems der „Afrikanischen Bauherren“ bestimmte Buch nicht bekannt und ihm die Vorlage an dieser Stelle deshalb unverständlich. Vgl. H[un]z[iker], „Pestalozzi und die Illuminaten“ (wie Anm. 28), 8. 31 GStA Berlin FM 5.2. D 34 Nr. 1828.



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Ein über die Namensähnlichkeit hinausgehender Zusammenhang zwischen dem Illuminatenorden und jener spanischen Sekte, die im 16. und 17. Jahrhundert vorwiegend in Kastilien und Andalusien aktiv war, läßt sich nicht feststellen. Das Buch Crata Repoa hingegen, eine erstmals 1770 in Berlin herausgekommene, überaus seltsame Beschreibung angeblicher ägyptischer Mysterien ist die Quelle für das vermeintliche Geheimnis des Minervalgrades, nämlich die Auslegung der in eine antike Gemme geschnitzten Allegorien.32 „Notre second grade ne contient à la vérité beaucoup de choses inconnus à un Lecteur de la Crata Repoa“, gab der Münchner Mediziner, Illuminat und Logenvorsteher Ferdinand Maria Baader brieflich daher auch unumwunden zu.33 Möglicherweise wurde die erste Fassung des „Vorbereitungsaufsatzes“ deshalb durch eine andere ersetzt, weil sie in dieser Hinsicht zuviel preisgab. Bisher gänzlich unbekannt waren drei weitere Texte, von denen der hochrangigste, eine recht kurze und mit Sicherheit Knigge zuzuschreibende „Instruction für die National-Inspectoren“,34 zugleich der am wenigsten interessante ist. An dieser ausschließlich auf organisatorische Fragen abhebenden Ergänzung des Regentengrades, die in den meisten Handschriften dieses Grades fehlt, ist noch am auffälligsten die zugehörige Chiffre in Gestalt einer Notenhandschrift.35 Es gibt jedoch keinerlei Anzeichen dafür, daß sie je zur Anwendung kam. Ein anderer Text, betitelt „Nachtrag zum Illuminatus minor zu beßerer Instruction des Obern“, liegt in Weishaupts eigener Handschrift vor. Es handelt sich um den einzigen illuminatischen Gradtext, der in dieser Form überliefert ist.36 Bestimmt war er ursprünglich für „Diomedes“, den italienischen Marchese Costanzo di Costanzo, der zu den führenden Mitgliedern des Ordens in München zählte. Aus einer Randbemerkung Knigges geht hervor, daß dieser den „Nachtrag“ an den Anfang des „Unterrichts zur Bildung brauchbarer Mitarbeiter“ gesetzt sehen wollte. Er wurde jedoch nie dort eingefügt und statt dessen offenbar als ein eigener Zwischengrad ausgegeben. Für diese Annahme spricht jedenfalls eine in Neuwied angefertigte und von Graf Johann Martin zu Stolberg-Roßla beglaubigte Abschrift des Textes von 1783/84.37 Da Weishaupts Handschrift selbst für seine Zeitgenossen nur mühsam zu entziffern war, überrascht es nicht, daß die Kopie einige Transkriptionsfehler enthält. Darüber hinaus fehlen jedoch nicht nur einige spätere Ergänzungen, die Weishaupt selbst am 32 Vgl. Markner, Wäges, Introduction, in: The Secret School of Wisdom (wie Anm. 14), 20–23. 33 Baader

an Costanzo, 15. 8. 1780, in: Die Korrespondenz des Illuminatenordens, Bd. 1 (wie Anm. 15), 165. 34 In: GStA Berlin FM 5.2. B 113 Nr. 803. 35 Vgl. The Secret School of Wisdom (wie Anm. 14), [447]. 36 GStA Berlin FM 5.2. G 39 Nr. 117 Dok. 37. 37 GStA Berlin FM 5.1.4. Nr. 3593. Im Interesse der Lesbarkeit wird im folgenden vorzugsweise nach dieser Abschrift zitiert, jedoch stets abgeglichen mit und ergänzt aus dem Originalentwurf.

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Rande seines Entwurfs vornahm, sondern merkwürdigerweise auch der ganze letzte Abschnitt. Bei der im Orden zirkulierenden Fassung – die betreffende Abschrift wurde „zum Gebrauch des Provincials von Macedonien“ angefertigt – handelte es sich also im Grunde nur um ein Fragment. Der „Nachtrag“ appelliert an die Illuminaten, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und stets bestrebt zu sein, den Untergebenen ein Vorbild zu sein, selbstkritisch zu bleiben und sich die Kunst anzueignen, auf eine subtile Art zu führen. Aus Ihrem mehr oder minder freundschaftlichen Betragen müßen Ihre Leute schon [Er]rathen, ob sie [sich] gut oder übel ange[lassen]. Die Miene muß sprechen, wenn gleich der Mund schweigt. Ihre Freundschaft [soll] Belohnung deß Guten seyn, weil er gut ist und so lange er gut ist. Freylich müßen Sie sich zuvor bey den Ihrigen Achtung und Ansehen erworben haben. Mit der Aenderung der Conduite ändern Sie auch Ihr Betragen. Schon Ihre Zurückhaltung sollte bey wohl gezogenen Leuten mehr als Verweis seyn. Ueberhaupt suchen Sie Ihre [eleven] mehr durch Ehre, Beyfall und kleine Belohnungen aufzumuntern, als gegen sie mit Strafen oder Verwei[s] zu verfahren.38

Um jenen „Geist der Selbst-Erforschung“ zu vermitteln, der im Zentrum der Lehre des „Illuminatus major“ steht, sollen schon die Minervalen dazu angehalten werden, an sich selbst einen mindestens ebenso strengen Maßstab anzulegen wie an alle anderen: Wer an sich keine Fehler, und nur lauter Gutes entdeckt, ist ein schändlicher Lügner gegen sich selbst. Trauet einem solchen Menschen nicht. Aber – Zeichen der Aufklärung und der höchsten Aufklärung ist es, wenn man an andern mehr Gutes und an sich selbst mehr Böses als gewöhnlich zu finden im Stande ist.39

Andererseits müsse aber auch vermittelt werden, wie lehrreich der Umgang mit wirklich „bösen Menschen“ sein könne. In der Behandlung der noch anzuleitenden Mitglieder des Ordens mahnt Weishaupt zur Friedfertigkeit, Leidenschaftslosigkeit, genauen Beobachtung und nicht zuletzt auch zu stoischer Geduld: Vom Bettler bis zum Kayser, vom grösten Bösewicht bis zum ersten Heiligen, kan niemand widerstehen, der [am] gehörigen Ort auf eine proportionirte subjective Art angegriffen wird, wenn die Attaque unerschrocken fortgesezt und bey jedem mißlungenen Versuche abgeändert wird. […] Verzweiflen Sie nicht an der Cur, wenn der erste Versuch mißlungen. Viele werden bloß durch Standhaftigkeit, und anhaltende Geduld und Fleiß gewonnen. Es hat nichts zu sagen, wenn der Krancke anfänglich die heilende Hand sogar von sich hinweg stößt. Dort braucht er am meisten ihrer Hülfe, wenn er sie verschmäht. Nur den Angriff wiederholt, auf eine andre Art, mit mehr Feinheit wiederholt, und zuversichtlich wird dereinst Ihre Mühe belohnt.40 38 Ebd. 39 Ebd.

40 Ebd.



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Nur wer diese Geduld aufbringe und sich darüber hinaus in Affektkontrolle übe und die eigenen „Leidenschaften, Begierden, Wünschen“ zu überwinden lerne, werde imstande sein, im Sinne einer „allgemeinen Vernunft“ für die Menschheit zu wirken. Diese Instanz schließlich stellt Weishaupt als eine vor, die jederzeit nur genau eine Handlungsweise vorgebe und so für jeden einzelnen Gehorsam und Eigeninteresse übereinfallen lasse: es gibt nur eine einzige art zu handeln, welche die Vollkommen wahre ist, weil es nur einen einzigen wahren Nuzen gibt. und wenn Befehle und Geseze gut seyn sollen, so müssen sie diesen Nuzen ausdruken und anzeigen. Es ist also im Grund eins ob ich dem Menschen sage, das Nuzt dir, oder das befehl ich dir.41

IV. Auch der letzte bisher unbekannte Instruktionstext, die „Vorbereitung für die, welche an der Regierung des Ordens Theil nehmen sollen“, richtet sich an Illuminaten, die im Begriff sind, größere Verantwortung zu übernehmen und ihnen untergeordnete Mitglieder des Ordens anzuleiten. Von diesem Text gibt es zwei Abschriften, eine im Depositum der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ im Geheimen Staatsarchiv zu Berlin und eine weitere im Archiv der Loge „Zur Einigkeit“ in Frankfurt am Main, die weitgehend miteinander übereinstimmen.42 Die Ansprache hebt an mit folgenden Worten: Mein Bruder!43 Sie haben sich erklärt, daß Ihnen die Einrichtung des erlauchten Ordens bis auf den Grad der kleinen Illuminaten, welchen Sie erhalten haben, wichtig, edel, und Ihrer Mitwirkung würdig vorkomme. Seyen Sie uns also in dem engern Circul der wirksamen Arbeiter willkommen! […] Sie haben noch zween Illuminaten-Grade vor sich, von welchen der eine sich mit der genauesten Menschenkunde beschäftigt, und der andere neben verschiedenen Aufschlüßen, die pracktische Anwendung derselben auf die Mitglieder des Ordens zeigt.44

Es handelt sich folglich um ein Verbindungsstück zwischen dem „Illuminatus minor“ einerseits und dem „Illuminatus major“ und „Illuminatus dirigens“ andererseits. Die Prämisse ist, daß vor der weiteren Beförderung des Kandidaten noch einige Voraussetzungen geklärt werden sollten. Es sei „nöthig, daß jeder mögliche Zweifel, jedes Mistrauen auf beiden Seiten gehoben werde“. Der Orden müsse sein Mitglied und dessen Vorstellungen noch näher kennenlernen, und der Kandidat habe seinerseits ein berechtigtes Interesse daran, näheres über den „Operations-Plan“ des Ordens zu erfahren, um sich vergewissern zu können, 41 GStA 42 GStA

Berlin FM 5.2. G 39 Nr. 117 Dok. 37. Berlin FM 5.1.4. Nr. 3597 und Archiv der Loge „Zur Einigkeit“, Frankfurt am Main,

Nr. 6042. 43 Der Frankfurter Text hat hier den Plural „Meine Brüder!“. 44 GStA Berlin FM 5.1.4. Nr. 3597.

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daß dieser „keinen gefährlichen Anschlag im Hinterhalte“ habe. Ihm sollen daher „XVII Fragen“ mit der Bitte um Beantwortung vorgelegt werden, wobei diese Fragen wiederum mit nur einer Ausnahme aus mehreren miteinander verknüpften Fragen bestehen. Die ersten von ihnen lauten wie folgt: I. Kann es der Menschheit gleichgiltig seyn, daß es im Geistlichen so wohl, als Weltlichen auf dem Fuß fortgehe, wie es dermalen geht? Ist alles so gut, oder gibt es noch Mängel die zu heben sind? II. Ist bei der dermaligen Verfassung der Weise, Ehrliche, tugendhafte Mann auch der glückliche Mann? Verdient er es zu werden? Kann er es auch werden? (Hier ist nur von äusserem Glücke die Rede.) III. Warum gibt es der Schlimmen so viel, der Guten so wenig? Hat man auch Reitz genug zum Guten? Sollte solcher nicht durch Aussichten von Glück, Zufriedenheit, äusserlichen Ruhe vermehrt werden? Hat man nicht jetzt mehr Ursache Böse als Gut zu seyn? Warum blos allein glückliches Laster; warum nicht auch glückliche Tugend? Ist der Trost für verunglückt Gute, daß Tugend sich selbst belohne, nicht zu spekulativ, zu kalt, zu wenig anziehend?45

Die Art, wie die insgesamt fünfzig Fragen kaskadenartig aufeinander folgen, weist auf den „Illuminatus major“ voraus. Anders als dort liegt hier aber jederzeit auf der Hand, wie die Fragen zu beantworten sind, denn wäre der Kandidat mit der Welt, so wie er sie kennt, rundum zufrieden, hätte er keinen Platz in einer Verbindung, die sich die Verbesserung der herrschenden Zustände zu ihrer Aufgabe gemacht hat. Die folgenden Fragen berühren das Verhältnis zwischen einer solchen geheimen Gesellschaft einerseits und dem Staat andererseits. VII. Wäre eine solche Gesellschaft gegen den Staat? Ist ein höherer, beßerer Zweck zu gedenken? Ist es der Mühe der Edlen wehrt, sich darum zu bewerben? VIII. Ist alles, was gegen einen verdorbenen Staat ist, auch eben darum allzeit unrecht, unerlaubt? Oder vielmehr ist das gegen den Staat, was gegen gemisbrauchte Staats-Verwaltung ist? […] X. Wäre es nicht möglich, daß die Staaten selbst ein Status in Statu wären, ohne daß die jetzige bürgerliche Verfassung aufgehoben würde?46

Weishaupt gibt zu bedenken, daß eine „Republick der Gelehrten, eine Welt-Akademie“ zu ihrer Führung „eine gewisse Art von Despotismus“ verlange – eben jene Rücksichtslosigkeit, derer er wiederholt selbst bezichtigt worden war.47 Schließlich kommt er auf das Verhältnis von Moral und Politik zu sprechen oder vielmehr auf die Ersetzung der Politik durch die Moral: XII. Giebt es eine beßere Regierung, als Sitten-Regiment? […] 45 Ebd.

46 Ebd. 47 Vgl.

Weishaupt an die Synode in München, [ca. 25. 9. 1778], in: Die Korrespondenz des Illu­m inatenordens, Bd. 1 (wie Anm. 15), 89.



Zwischengrade und Probeaufsätze: Unbekannte Lehrschriften der Illuminaten 371

XVII. Hat es nicht schon im Alterthum Länder gegeben, wo die Weisen den Königen an die Seite gesetzt waren? Sollte es nicht den göttlichen Absichten gemäs seyn, daß der Beßere und Weisere regiere? Wäre ein solches Regiment, wie man es nennen mögte, nicht das einzige Mittel, die Menschheit wieder zu der ihr von Gott angewiesenen hohen Würde zu erheben? Aber muß sich dies Regiment nicht vielmehr auf die Herzen, als auf die äusserlichen Verhältnisse erstrecken?48

Hier bestätigt sich Reinhart Kosellecks Feststellung, daß für diese Denkrichtung die Moral „der präsumptive Souverän“ ist.49 Anders gesagt: Souverän unter den Bedingungen der Herrschaft des von Weishaupt imaginierten „Sitten-Regiments“ ist, wer darüber entscheidet, was moralisch ist und was nicht. Dem eigentlichen Gradtext sind zwei Aufsätze als Anlagen beigefügt, zu denen der Kandidat Stellung nehmen soll. Auf einer Abschrift in der sogenannten Schwedenkiste (dem vor allem um Bodes Korrespondenz und Manuskripte angereicherten freimaurerischen Nachlaß Herzog Ernsts II. von Sachsen-GothaAltenburg), die teilweise von Knigges Hand ist, vermerkte Bode: „Nach Philoni Versicherung sind diese beyden Abhandlungen A & B von Spartac[us]“.50 In der Tat ist an Weishaupts Autorschaft nicht zu zweifeln. Beide Texte behandeln grundsätzliche Fragen, die ihn noch in seinem 1790 veröffentlichten Buch Pythagoras oder Betrachtungen über die geheime Welt- und Regierungs-Kunst umtreiben sollten. Die 16. Frage an den Kandidaten bereitet diesen darauf vor, daß die beiden Aufsätze unterschiedlich zu beurteilen seien: Sollte nicht in ersterer gerade der rechte Gesichtspunkt getroffen seyn, nach welchem eine geheime Gesellschaft, die an ihrer Spitze redliche, uneigennützige und erleuchtete Männer hätte, alles Böse verhindern, und alles Gute durchsetzen könnte, ohne die bürgerlichen Bande zu zerreißen? Sollten nicht hingegen in der Beilage B. die Vordersätze zu gefährlichen Irrthümern führen können? Obgleich sie freilich am Ende der Abhandlung beschränkt werden.51

Der erste der beiden Musteraufsätze widmet sich der „Beantwortung der PreisFrage: Was für Mittel giebt es; die Unbeständigkeit der Menschen in geheimen Gesellschaften so zu fixieren, daß sie ohne allen äusseren Zwang gehorchen, und daß man ihnen ohne Gefahr alles vertrauen kann?“ Der Text beginnt mit

48 GStA

Berlin FM 5.1.4. Nr. 3597. Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt [1959], Frankfurt am Main 1973, 68. 50 GStA Berlin FM 5.2. G 39 Nr. 111, Dok. 63. – Gerade weil es sich um exemplarische Aufsätze handelt, ordnete Pastor Carl Lerp, als er im Jahre 1909 die ein Vierteljahrhundert zuvor aus Stockholm nach Gotha zurückgesandten Dokumente neu verzeichnete, die zwei Probestücke nicht den anderen illuminatischen Gradtexten zu, sondern demjenigen Band, der die von den Mitgliedern der thüringischen „Minervalkirchen“ verfaßten „Pensa“ enthält. 51 GStA Berlin FM 5.2. G 39 Nr. 111, Dok. 63. 49 Reinhart

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einem die Herrschaft der Lüge und Unvernunft geißelnden Zitat aus d’Holbachs Système social (1773) und Weishaupts daran anschließenden Gedanken: Wenn Pfaffen und Fürsten sich darinn vereinigen, die menschliche Vernunft zu unterdrücken[;] Wenn diese, um der Menschen Aufmerksamkeit von ernsthaften für sie interessanten Gegenständen abzuleiten, uns Tändeleyen und Flittergold vorwerfen; so ist allzeit Ursache genug, warum die Weisheit in die Winkel flieht, und, um der Verfolgung zu entgehn, in ihren geheimen Verbindungen unter ihren getreuen Freunden und Anhängern noch die heiligen Funken bewahrt, die einst, alles Drucks ohngeachtet, in ein großes Feuer ausbrechen, die Freuden der Vernunft begehren, und die Rechte der gedrückten Menschheit erretten sollen.52

Die geheime Gesellschaft als letztes Refugium der von den herrschenden Mächten bedrohten Rationalität – dieser Topos ist schon aus anderen Texten Weishaupts bekannt, aber kaum jemals ist diese die tatsächlichen Verhältnisse selbst in Bayern arg dramatisierende Selbstrechtfertigung kraftvoller vorgetragen worden. Man darf wohl annehmen, daß er sich die Aufsätze der Illuminaten in dieser Form wünschte: nicht bedächtig abwägend, sondern rhetorisch alle Register ziehend. Er selbst jedenfalls zeigte keine Scheu, den Auftrag einer seinen Vorstellungen entsprechenden geheimen Gesellschaft bis ins Grenzenlose zu erweitern: Aber ganz gewiß muß sodann der Gegenstand dieser stillschweigenden Vereinigung der stillen Freunde der Wahrheit groß und wichtig seyn. Nichts wenigers noch geringers als die Glückseligkeit, nicht eines Einzelnen, nicht einer Familie, einer Nation, nein! des ganzen menschlichen Geschlechts. Ihr Wohlwollen muß sich nicht auf ein Zeitalter oder eine Nation verbreiten, es muß, so zu sagen, die ganze ungeheure Ewigkeit und den ganzen Weltraum umfassen.53

Auch Weishaupts kaum verhüllte Ambition, durch die Lösung der in der Eingangsfrage umrissenen Aufgabe selbst zum „grösste[n] Wohltäter des menschlichen Geschlechts“ zu werden, ist alles andere als bescheiden. Die von ihm im folgenden gegebenen Hinweise, wie die Mitglieder einer Geheimgesellschaft erfolgreich auszuwählen und anzuleiten seien, münden schließlich in allgemeine Feststellungen, wie das Programm einer solchen Gesellschaft auszusehen habe: Ich wünsche mir also zu dem Gegenstande einer geheimen Gesellschaft: 1. Ein für die menschliche Glückseligkeit höchst interessantes, bishe[r] unbekanntes System 2. vorgetragen stufenweise 3. in möglichster Geheimheit und Feyerlichkeit passender Cäremonien 4. in Hieroglyphen und Bilder gehüllt, 5. mit äusserster Behutsamkeit, 6. Wenigen, aber dem würdigsten Theil der Menschen vorgetragen zu sehn, ­Menschen, die noch über dies 7. die Entschlossenheit und Festigkeit hätten, es in der Welt 52 Ebd.

53 Ebd.



Zwischengrade und Probeaufsätze: Unbekannte Lehrschriften der Illuminaten 373

8. durch unmerkliche, und in Jahrtausende hinein entfernte Anstalten zu realisieren.54

In dem erklärten Vorsatz, das Projekt von Anfang an auf die längstmögliche Sicht hin zu berechnen, liegt der auffälligste Kontrast zur tatsächlichen Entwicklung des Illuminatenordens, die sich bis zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Abfassung des Probeaufsatzes bereits ausnehmend schnell und in manchem Betracht auch überstürzt vollzogen hatte. Bei der folgenden Anlage B handelt es sich um eine „Probeschrift über die Frage: Sind geheime Gesellschaften einem Staate schädlich? Kann er solche dulden, ohne sich selbst zu schwächen?“ Der Frage der Rechtmäßigkeit speziell der Freimaurerei hatte sich 1776, im Jahr der Gründung des Illuminatenordens, Johann Jacob Moser angenommen.55 Die Schlußfolgerung des renommierten Rechtsgelehrten, daß mit Blick auf die Bestimmungen des Westfälischen Friedens ein Verbot der Freimaurerei zwar nicht zwingend geboten, aber doch jederzeit möglich sei, war von freimaurerischer und rosenkreuzerischer Seite zurückgewiesen worden.56 Dies war Weishaupt auch bekannt, zählte doch die Gegenschrift Carl Hubert Lobreich von Plumenoeks (hinter welchem Pseudonym sich der Regensburger Gold- und Rosenkreuzer Wilhelm Lebrecht von Pröck verbarg) zu den ersten Büchern aus dem Themenkreis der geheimen Gesellschaften, mit denen er sich vertraut machte.57 In seinem Aufsatz nimmt Weishaupt aber auf die Auseinandersetzung um Mosers Thesen nicht Bezug. Bevor er sich der Frage der Legalität geheimer Gesellschaften annimmt, zieht er zunächst die Legitimität der bestehenden Staaten selbst in Zweifel: 3. Woher sind die Staaten und in ihnen die oberste Gewalt entstanden? 4, Wenn solche der Vereinigung der Menschen und den gesellschaftlichen Verträgen ihren Ursprung schuldig sind, was hindert sodann die Menschen, eine neue, weitere, gegenseitige Verbindung einzugehn? 5, Gehören Holland, die Schweiz, das päbstliche Gebiet, die Monarchie der Carolinger, unter die rechtmässigen Staaten? Haben sie sich nicht durch Empöhrungen gegen ihre vorigen Herren losgerissen und unabhängig gemacht? […] 54 Ebd.

55 Johann Jacob Moser, [V]on Geduldung der Freymaurer-Gesellschaften; besonders in Rücksicht auf den Westphälischen Frieden, [Frankfurt am Main] 1776. 56 Vgl. Anderweite Beantwortung der Fragen des Herrn Etats-Rath Moser von Geduldung der Freymäurer-Gesellschaften in Rücksicht auf den Westphälischen Frieden, o. O. 1776, sowie [Wilhelm Lebrecht von Pröck,] Carl Hubert Lobreich von Plumenoek geoffenbarter Einfluß in das allgemeine Wohl der Staaten der ächten Freymäurerey aus dem wahren Endzweck ihrer ursprünglichen Stiftung erwiesen, und der Schrift […] Mosers, von Geduldung der Freymäurergesellschaften, […] entgegen gesezt, Amsterdam [i. e. Regensburg] 1777. 57 Vgl. Adam Weishaupt, Pythagoras oder Betrachtungen über die geheime Welt- und Regierungs-Kunst, Bd. 1 (mehr nicht erschienen), Frankfurt, Leipzig [i. e. Regensburg] 1790, 654.

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8, Wenn man in den Ursprung der Staaten hineingehen will, sind nicht die meisten der heutigen, durch Usurpation entstanden und durch Gewalt vergrössert worden?58

In zahlreichen rhetorischen Fragen deutet Weishaupt an, daß das Wirken geheimer Gesellschaften durch ein naturrechtlich begründetes Widerstandsrecht gerechtfertigt sein könnte: Soll es nicht erlaubt seyn, gegen die Rechte der Fürsten zu handeln, wenn solche gegen höhere, unverwerfliche Rechte wären? wenn sie das hinderten, was höchster und bester Zweck der Welt und der Natur ist?59

Jede Einschränkung dieses nicht näher definierten Endzwecks erlaube es sogar, den gewöhnlich an die Adresse der Geheimbünde gerichteten Vorwurf, einen illegitimen Staat im Staate zu bilden, gegen die Staaten selbst zu wenden: Meiner geringen Meynung nach, kömmt es alles darauf an, wessen Zweck höher, würdiger, allgemeiner sey? Nur das behaupte ich: 1. alle Gesellschaften sind unerlaubt und gegen den Staat, welche einen geringeren und engeren Zweck, unabhängig von dem Staate errichten wollten; 2. alle Gesellschaften sind erlaubt, welche einen höheren und würdigeren Zweck als der Staat selbst haben, und da kann es 3. geschehen, daß Staaten selbst unerlaubt, ein status in statu werden, wenn sie diesem höheren entgegen stehen.60

An dieser Stelle weist der Probeaufsatz zurück auf die rhetorischen Fragen des Zwischengrades selbst. So auch an seinem Ende, wo Weishaupt behauptet, die Ausgangsfrage „kühn und mit aller Freymüthigkeit beantwortet“ zu haben. Dies läßt Raum für die Einschätzung, daß die radikalen Thesen des Aufsatzes vielleicht zu gewagt sein könnten, nicht zuletzt in den Augen der dem Illuminatenorden angehörenden Fürsten, wie Weishaupt ausdrücklich einräumt. Es erinnert auch an die Vorwarnung, die dem Kandidaten in der vorletzten der „ XVII Fragen“ gegeben worden ist. Indem er diesen Text dennoch als Muster austeilen ließ, ermunterte Weishaupt indirekt sowohl dazu, seinem Beispiel folgend in der Argumentation nicht zurückhaltend zu sein, als auch dazu, die von den Mitgliedern verfaßten Aufsätze in den Versammlungen des Ordens angemessen kontrovers zu diskutieren. V. Die bis heute anhaltende Faszination, die der Illuminatenorden ausübt, läßt sich zu einem guten Teil darauf zurückführen, daß er als wohl erste Geheimgesellschaft überhaupt durch die Veröffentlichung nicht nur seiner Rituale, sondern auch des Briefwechsels unter seinen führenden Mitgliedern enttarnt wurde. Ob58 GStA 59 Ebd.

60 Ebd.

Berlin FM 5.2. G 39 Nr. 111, Dok. 63.



Zwischengrade und Probeaufsätze: Unbekannte Lehrschriften der Illuminaten 375

wohl seither der Verlust von vielen wertvollen Dokumenten zu beklagen ist, läßt sich heute feststellen, daß die Offenlegung der illuminatischen Geheimnisse weniger umfassend war als lange Zeit angenommen. Dies betrifft neben wichtigen Teilen der einschlägigen Korrespondenz, beispielsweise den Briefen Knigges an Weishaupt, auch Teile des Gradsystems und hier neben den vor gut zwanzig Jahren erstmals veröffentlichten Ansprachen, die für die höchsten Grade vorgesehen waren, insbesondere solche Texte, die das Scharnier zwischen den niederen und höheren Graden bilden sollten. Gleichfalls an dieser Stelle hatte Knigge in das illuminatische System seine Version des freimaurerischen Rituals eingefügt. Es läßt sich vermuten, daß er dadurch Weishaupt dazu veranlaßte, seinerseits weitere Zwischenstufen zu entwerfen, die den Übergang von der einen „Klasse“ von Graden in die andere erleichtern helfen sollten. Der Erfolg seiner Maßnahmen ist im nachhinein nicht mehr meßbar, darf aber bezweifelt werden. Gleichwohl steht fest, daß die in diesem Zusammenhang entstandenen Ausarbeitungen bemerkenswerte Ergänzungen des illuminatischen Textkorpus darstellen. Das Gradsystem des Illuminatenordens wurde im Zuge seiner Unterdrückung durch den Kurfürsten von Pfalzbayern und der von dieser Maßnahme ausgelösten öffent­lichen Kontroverse zu großen Teilen enttarnt. Ein Vergleich der damals gedruckten Texte mit den überlieferten Originalmanuskripten zeigt allerdings, daß die zeitgenössischen Veröffentlichungen unvollständig und unzuverlässig waren. Zusätzlich zu den Fragment gebliebenen höchsten Graden, die vor gut zwanzig Jahren veröffentlicht wurden, sind weitere „Zwischengrade“ erst kürzlich in der englischsprachigen Edition The Secret School of Wisdom (2015) zutage getreten. An diesen bemerkenswerten Entwürfen läßt sich ablesen, daß Adam Weishaupt von den Mitgliedern der von ihm gegründeten Geheimgesellschaft erwartete, seinem Beispiel zu folgen und in den von ihnen zu schreibenden Aufsätzen vor kühnen Ideen nicht zurückzuschrecken. The Degree System of the Illuminati Order was revealed to the public to a large extent during the course of its suppression by the Elector of Palatinate-Bavaria and the controversy sparked by this measure. A comparison of the texts printed at the time with the original manuscripts still extant demonstrates, however, that those contemporary publications were incomplete and unreliable. In addition the fragmentary texts of the Highest Degrees of the Order, published some twenty years ago, further ‘intermediate degrees’ have only recently come to light, in English translation, in The Secret School of Wisdom (2015). These remarkable sketches show that Adam Weishaupt expected the members of his secret society to follow his example and to be ready to risk bold ideas in the essays they were requested to write. Reinhard Markner, M. A., Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Innrain 52 d, A 6020 Innsbruck, E-Mail: [email protected]

Olaf Simons Der Illuminatenorden als Volksaufklärer? Rudolph Zacharias Becker und das scheiternde Projekt des Ordens als Preisausrichter

In der zweiten Nummer der soeben begründeten Deutschen Zeitung für die Jugend und ihre Freunde fanden die Leser der Beilage zwei Preisausschreiben, deren zweites von der Zeitung selbst veranstaltet wurde und uns im Folgenden eingehender beschäftigen soll: Ein Preis von gleichfalls 12 Ducaten ist bey der Expedition dieser Zeitung von einem Ungenannten für die beste Antwort auf folgende Frage niedergelegt worden: Welches sind die Mittel den kranken Verstand eines Kindes gesund zu machen? Die Hauptkrankheit, womit der Verstand der meisten Kinder behaftet ist, besteht nach der Meinung dieses Ungenannten darin, daß sie die Urtheile der Erwachsenen blindlings annehmen, anstatt selbst zu urtheilen, woher der Mangel an Originalität in den gesitteten Ständen entspringe; und von dieser einzigen Krankheit will er die Frage verstanden wissen. Die Wettschriften müssen mit den versiegelten Namen der Verfasser vor den Neujahr 1785 postfrey eingesendet werden.1

Verschiedene Fäden verlaufen von dieser Ausschreibung in die weitere Geschichte des Blattes,2 wichtiger noch in den Illuminatenorden,3 dem der Herausgeber in Gotha angehörte – der Orden sollte im Verlauf die Jury stellen und 1 [Rudolph

Zacharias Becker,] Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 2 (8. Januar 1784), Beilage 2 (Hervorhebung im Original). 2 Der Vorgänger der in Gotha erscheinenden Deutschen Zeitung für die Jugend und ihre Freunde war die Dessauische Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, die nach 1784 noch eine Weile unabhängige fortbestand. Von der Deutschen Zeitung erschienen im Wochenturnus vier Jahrgänge (1784–1787). Die Nachfolgeprojekte waren die Deutsche Zeitung oder Moralische Schilderungen der Menschen, Sitten und Staaten unsrer Zeit (1788–1796) und die NationalZeitung der Deutschen (1796–1829). 3 Der vorliegende Aufsatz bietet Einblick in die Forschungen, die die Herausgeber dieses Bandes im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Illuminatenaufsätze im Kontext der Spätaufklärung: Ein unbekanntes Quellenkorpus“ unternommen haben. Zu den bisher publizierten Projektergebnissen siehe die Projektseite unter https:// projekte.uni-erfurt.de/illuminaten/Illuminatenaufsaetze. Die in diesem Band bei Aktenzitaten aus der Schwedenkiste in Klammern gegebenen SK-Nummern erlauben es in der Mehrzahl über die Suchfunktion in der Gotha Illuminati Research Base (https://projekte.uni-erfurt.de/illumi-

Aufklärung 28 · © Felix Meiner Verlag 2017 · ISSN 0178-7128

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ein Interesse am Medium der öffentlichen Preisschrift entwickeln. Eine ganze Reihe anderer Fäden werden in einem mehrsträngigen Vorlauf zu entwirren sein. Einige wurden bereits in den anderen Aufsätzen dieses Bandes entwirrt: Eine Zeitung, die von Aufsätzen lebt, profiliert sich hier – Andreas Golob wirft einen Blick auf ein, wie sich herausstellen wird, sehr ähnliches Blatt.4 Um den zunehmend als nationales Projekt definierten Schulunterricht als Steller von Aufsatzthemen wird es im Hintergrund gehen – denn auf ihn ist die Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde ausgerichtet. Die Beiträge Jens Nagels5 und Michael Rochers6 in diesem Band loten diese Entwicklungslinie aus. Um akademische überregionale Preisausschreiben wird es gehen – die Deutsche Zeitung versucht hier, in einen elitären Zirkel von Institutionen einzudringen, die Denkanregungen aussprechen. Martin Urmann stattet diese Entwicklungslinie im vorliegenden Band mit einer in das 17. Jahrhundert hinabreichenden Vergangenheit aus.7 Eine eminent persönliche Geschichte wird dabei zu schreiben sein: die des Zeitungsmachers Rudolph Zacharias Becker,8 der diesem Blatt im Wesentlichen seine persönliche Identität gibt. Sie ist die Geschichte eines Mannes, der den Gewinn eines solchen Preisausschreibens zum persönlichen Wendepunkt machte. In Beckers Vita – und hier liegen die Beiträge Barbara Becker-Cantarinos und Lucinda Martins in diesem Band nahe – wird die öffentliche Aufgabe zum Angebot einer Selbstvergewisserung und fast zu einem religiösen Konversionserlebnis.

naten/) direkt auf die vollständigen und zeilengenauen Transkripte der zitierten Dokumente zuzugreifen. 4 Andreas Golob, „Schiken Sie mir zuweilen auch was Interessantes zum Anhang“. Para- und metatextuelle Einblicke in Entstehung, Distribution und Wirkung der polyhistorischen Aufsätze im Anhang der Grazer Bauernzeitung (in diesem Band). 5 Jens Nagel, Schulrhetorik an Gymnasien um 1700. Die öffentlichen Redeakte zwischen Meritokratie und Repräsentation (in diesem Band). 6 Michael Rocher, „Fleiß ist die halbe Tugend schon – Liebet ihn: herzlich ist sein Lohn“. Schülerarbeiten und Aufsätze des späten 18. Jahrhunderts als „neues“ moralisches Erziehungsinstrument? (in diesem Band). 7 Martin Urmann, Zwischen „prix de dévotion“, Wissensreflexion und Reformdiskurs: Die Preisfragen der französischen Akademien als literarische und epistemische Gattung und die Frage nach dem „Jugement du Public“ an der Akademie von Besançon aus dem Jahr 1756 (in diesem Band) 8 Siehe Ursula Tölle, Rudolph Zacharias Becker. Versuche der Volksaufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland, Münster 1994; Marion Poppe, Rudolph Zacharias Becker zum 250. Geburtstag. Gothas erfolgreicher Verleger und Publizist der Spätaufklärung, Gotha 2002; Holger Böning, Gotha als Hauptort volksaufklärerischer Literatur und Publizistik, in: Werner Greiling, Andreas Klinger, Christoph Köhler (Hg.), Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Ein Herrscher der Aufklärung, Köln, Weimar, Wien 2005, 325–344; Christine Freytag, Mensch, werde und mache alles immer besser: Überlegungen zur Aufklärung und Vervollkommnung des Menschen am Beispiel von Rudolph Zacharias Becker in der Zeit von 1779 bis 1794, Jena 2014.



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Die Position, die der Journalist und Pädagoge Becker als Gewinner der berühmten Berliner Preisfrage über die Legitimität des Volksbetrugs einnahm, wird im Folgenden ein eigenes Spannungsfeld auftun. Becker sprach sich vehement für eine transparente Aufklärung aus, die niemandem das Recht ließ, zum Besten der Menschheit die Wahrheit zu verbergen und wurde eben im Illuminatenorden Mitglied – in einer Organisation, die gerade das Recht, zum „Besten der Menschheit“9 intransparent zu agieren, für sich beanspruchte. Hier werden sich Brücken in die Aufsätze dieses Bandes spannen, die Gothas Minervalkirche in den Blick nehmen. Becker dringt als Publizist in das Netzwerk ein, das Martin Mulsow in diesem Band der örtlichen Illuminatengruppe historisch voranstellt.10 Das pädagogische Engagement dieses Ordens als Aufsatzthemen stellende Institution betont Peggy Pawlowsky. Die Frage, ob der Orden in das Schulsystem hineinwirkte oder das Schulsystem in ihn, wie sie Michael Rocher zuspitzt, wird hier auszuweiten sein: Der Zeitungsjournalismus bietet hier bereitwillig dem Orden eine Chance, in das Schulsystem zu wirken, und wirkt gleichzeitig aus diesem heraus in die Gesellschaft. Reinhard Markner wirft mit einem Beitrag zu den Gradtexten – als Aufsätzen der Ordensleitung – Licht auf die dunklere Seite der anvisierten Machtausübung.11 Es ist dies eben die Organisation, der Becker sein eigenes Blatt als Sprachrohr und Plattform anbietet in einem alles andere als uneigennützigen Handel, in dem es um Wirkung auf die Öffentlichkeit gehen soll. Das Spannende des folgenden Artikels ist das Scheitern des Projekts, auf das er Licht werfen wird. Der ausgeschriebene Preis war intendiert, um eine Serie von Preisausschreiben zu eröffnen, die Beckers Zeitung Renommee als Preisausrichterin verschaffen würden und die Gothas Illuminaten profitträchtig nutzen sollten, durchaus auch finanziell profitträchtig. Tatsächlich scheitert der Illuminatenorden in diesem Projekt früh – Becker nutzt ihn nur für die Anschubfinanzierung. Doch scheitern auch die folgenden Schritte, bei denen Becker sich mit der Nutzung des Journalmarktes wie bei seinem Angebot auf dem Markt öffentlicher Debatten auf der sicheren Seite wähnt. Das Versagen liegt zum Teil, wie sich zeigen wird, in Entscheidungen der Veranstalter, die sich als unglücklich erweisen, und in Schlüssen, die Becker – durchaus auch persönlich disponiert – aus dem Scheitern gerade nicht zieht. Die Untersuchung eines pri  9 Vgl.

Olaf Simons, Markus Meumann, „Mein Amt ist geheime gewissens Correspondenz und unsere Brüder zu führen“. Bode als ‚Unbekannter Oberer‘ des Illuminatenordens, in: Cord Friedrich Berghahn, Gerd Biegel und Till Kinzel (Hg.), Johann Joachim Christoph Bode. Studien zu Leben und Werk, Heidelberg 2017 [im Druck]. 10 Martin Mulsow, Die Gothaer Illuminaten als fortgeführte „gemeinnützige Privatgesellschaft“? Die Aufsatzpraxis der Gothaer Sozietät von 1778 und die Minervalkirche von 1783– 1787 (in diesem Band). 11 Reinhard Markner, Zwischengrade. Unbekannte Lehrschriften der Illuminaten (in diesem Band).

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mär über die Persönlichkeit zu verstehenden Falls wird indes hier nicht weiter interessant sein. Was sich als persönliche Disposition des Preisveranstalters abzeichnet, ist letztlich Teil einer größeren Entwicklung, die in den 1780er Jahren an einen Endpunkt zu kommen scheint. In gewisser Weise scheitert hier der Aufsatz als Mittel einer autoritativen Lenkung der Öffentlichkeit. Das größere Scheitern wird dem Projekt der Aufklärung zu attestieren sein, dessen Versprechen, die Schleier des Irrtums zu lüften, um der Wahrheit des Heilsplans zum Durchbruch zu verhelfen, nun rasant an Plausibilität einbüßte. Parteien formieren sich an dieser Bruchstelle mit dem Angebot des offenen und kontinuierlich zu verteidigenden Interessenausgleichs. Wahlentscheide setzen sich als breite öffentliche Partizipation durch. Ein tagespolitischer Betrieb verdrängt die alten Institutionen, die Preisfragen stellten, und liefert fortan im Wochenrhythmus der inszenierten Krisen die Fragen, zu denen Medien und Politik Stellung beziehen müssen, wollen sie im Geschäft bleiben. Die Ära geheimer Sozietäten endet an derselben Bruchstelle. Sie akkumulieren nicht genügend Öffentlichkeit, und sie tun dies vor allem nicht mit genügender Sichtbarkeit, um öffentliche Forderungen stellen zu können. Der Aufsatz als Medium der Charakterbildung und der konstanten Herausforderung an das Individuum, Stellung zu beziehen, lebt von hier aus vor allem in der Pädagogik fort – in halböffentlichen Formaten schulischer Leistungsnachweise. Freiere, die offizielle Themenstellung ausschaltende Textproduktionen gewinnen in den öffentlichen Debatten. Über das Ende einer Transformation der öffentlichen Aufsatzstellung wäre denn hier weiterführend nachzudenken. Über das Ende des Illuminatenordens nachzudenken, wird an derselben Stelle das Desiderat einer umfangreicheren Materialaufarbeitung bleiben I. Öffentliche Beachtung als Selbstvergewisserung: Rudolph Zacharias Becker und die Autobiographie eines Preisträgers Mit dem eher als Reflexionsersatz zirkulierenden Wort vom „Volksaufklärer“ ist Rudolph Zacharias Becker seit über 200 Jahren stabil eingeordnet – keine fernliegende Einordnung; das Wort findet sich in den Diskussionen des Illuminatenordens, die Becker anstößt. Es bleibt die Schattenseite dieser Einordnung, dass sie weitere Fragen ausschaltet und Phänomene ausblendet, wenn nicht unhinterfragt aufwertet. Beckers Blätter für die Jugend und die Nation verpflichten sich der Aufklärung, jedoch auch einer Rückkoppelung an die Öffentlichkeit, in der diese, ob in einzelnen Individuen oder Repräsentanten moralisch zur Schau gestellt wird. Wenn hier die Aufklärung als öffentliche Erziehungsanstalt voranschreitet, dann schreitet hier nicht minder eine moderne Kommerzialisierung von nachrichtlichem Content voran, das Spiel der Boulevardpresse, die Indivi-



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duen in ihren Fehltritten und stillen Leistungen zur Schau stellt. Die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts blieb an Becker, dem Publizisten, interessiert, der die Französischen Revolution verabscheute und dann von Napoleons Repräsentanten 1811–1813 inhaftiert wurde.12 Seine Zeitschriften hatten sich früh dem Nationalen geöffnet. Die auf das Persönliche abzielenden Geschichten seiner Jugendzeitschriften lagen gleichzeitig denen der romantischen Kalender nahe. Becker ist in den 1780er Jahren stärker als die wenig später schreibenden Autoren der Romantik und des Biedermeier an globalen Zusammenhängen interessiert, an strukturellen Entwicklungen, an tagesaktueller Geschichtsschreibung. Das wird greifbar in den globalhistorischen Jahresüberblicken, die er seinen Jugendzeitschriften voranstellt. Für Beckers Fortschrittlichkeit sprach in jedem Fall, dass er Freimaurer, Illuminat und Freund Schillers war.13 Die spannendere Vita als die epochal vereinnahmende ist in Beckers Fall seine autobiographische: 1791 und 1792 veröffentlicht er in zwei Bänden seine Vorlesungen über Pflichten und Rechte des Menschen. Der Titel fällt auf: Der „Vorlesung“ haftet das professorale einer universitären Ansprache an. Zentral will es Becker darum gehen, „sein System“ vorzustellen: Was ich den Lesern in diesen Vorlesungen mittheile, ist kein gelehrtes, aus fremden Büchern zusammengetragenes, und nach einem neuen Riß aufgeführtes Gebäude; auch nicht ein Gewebe von eigenen Untersuchungen und Betrachtungen, das blos in der Absicht angelegt wäre, um ein neues Buch zu liefern: sondern es ist mein wirkliches moralisches System *), so wie es mir gegenwärtig mit voller Überzeugung in der Seele schwebt.14

Was ein System ist, erklärt Becker in der zu dem Sternchen gehörenden Fußnote – fast eine Gottheit, die Phänomene im ganzen Universum verbindet: Ein System nennt man eine Anzahl Dinge, die zu einem gewissen Zweck, nach einer bestimmten Ordnung, in ein Ganzes verbunden sind. So nennt man die Sonne mit den Planeten, die sich um sie bewegen, ein Weltsystem […].15

Becker eröffnet sein System nicht systematisch, sondern eher in der Praxis religiöser Selbstreflexion in einer Erzählung des Weges, der ihn zu diesem Sys­ tem brachte: Dieses [mein System] möchte ich Ihnen gern so, wie es ist, vorlegen: und dazu scheint mir die beste Vorbereitung zu seyn, daß ich Ihnen erzähle, wie es entstanden ist.

12 Der

publizistische Niederschlag hiervon war R. Z. Beckers Leiden und Freuden in siebzehnmonatlicher französischer Gefangenschaft, Gotha 1814. 13 Otto Küttler, Rudolf Zacharias Becker, ein Freund Friedrich Schillers und seiner Familie. Ein Beitrag zum Schillerjahr 1959, Gotha 1959. 14 Rudolph Zacharias Becker, Vorlesungen über die Pflichten und Rechte des Menschen, 1, Gotha 1791, 1 f. 15 Ebd., 2 (Hervorhebung im Original).

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  Meine Jugend war kein Gewebe fröhlicher Spiele und goldener Träume, wie die Jugend der meisten Kinder. Sie fiel in die Zeiten des Siebenjährigen Schlesischen Krieges, wo ich meine Ältern so oft das Brod mit Thränen netzen sah, das sie uns Kindern, bey der allgemeinen Noth und Theuerung, nur spärlich reichen konnten. Mein Vater war ein Schulmann. Grund genug zu der Vermuthung, daß er für seine nützliche Berufs-Arbeit einen geringen Lohn erhielt, und daß seine Kinder die mannigfaltigen Leiden und Bekümmernisse des Erdenlebens früher und näher, als seine Herrlichkeiten kennen lernten.16

Das System selbst gewinnt Züge eines Religionsersatzes – oder tieferen Substrats der einzig wahren Religion. Es ordnet die Phänomene, es arrangiert die Beobachtungen, es hat einen Urheber und Akteure, die es offenbaren. Der Weg in das System ist von existenziellen Leiderfahrungen geprägt. Als Kind, das zum Broterwerb angehalten wurde, machte Becker die erste einschneidende Erfahrung. Ein von der Arbeit erschöpfter Bauer bat ihn eines Abends, am Brunnen Wasser für ihn zu schöpfen, mit dem er ein schimmliges Stück Brot einweichen wollte. Der Zehnjährige war entsetzt und gab sein eigenes Brot ab – eine Szene mit Sprengkraft: Der Mann, der für alle das Brot erwirtschaftet, geht am Ende selbst leer aus. Warum leiden 1000 Reiche keinen solchen Mangel wie der, der ihren Besitz erwirtschaftet; und warum sind diese Reichen dennoch ihrerseits unglücklich? Die Reflexion mündete in eine existenzielle Verzweiflung, die die Religionslehrer und die epochale „Empfindsamkeit“ – die in der Germanistik als „Sturm und Drang“ deklarierte Ära – vollends verschärfen: Damahls trat die empfindsame Periode der deutschen Litteratur ein. Werthers Leiden, Adolphs Briefe, Siegwart und ähnliche die Empfindlichkeit eines jungen reizbaren Herzens leicht überspannende Schriften wurden auch meine Lieblingslectüre. Ich empfindelte aber nicht: ich fühlte wirklich fremde Leiden, wie meine eigenen, in einem höhern Grade, als es seyn sollte, und redte nicht allein, sondern – handelte auch gelegentlich so als wäre ich in einem andern Planeten zu Hause, welches eine Folge meiner oben erzählten Jugendgeschichte war. Gleichwohl ließ ich mich durch eine gewisse Behaglichkeit, welche jener reizbare Zustand des Gemüths mit sich führet, und durch den großen Gedanken, mit dem ganzen Universum sympathisiren zu können, ebenfalls verleiten, der erhöhten Empfänglichkeit des Empfindungsvermögens einen größern Werth bey zu legen, als ihr gebühret.17

Becker gelangte zu einer Vorform des Systems in der Annahme, […] die Glückseligkeit und der Zweck des Menschen bestehe in der möglichst ausgebildeten Empfindung. Derjenige sey der vollkommenste, der alles Fühlbare im höchsten Grade empfinde, und der Glücklichste sey, dessen Schicksal ihm alle möglichen Freuden und Leiden der Menschheit im höchsten Maaß zu Theil werden lasse. Diese falsche Vorstellung führte mich so irre, daß ich einige der besten Jahre meines

16 Ebd., 17

3. Ebd., 14 f.



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Lebens in empfindsamer Unzufriedenheit mit der Welt zubrachte, wo ich auch nicht ein einziges Buch las, meine Kenntnisse zu erweitern.18

Die Darstellung aus dem Jahr 1791 lässt Suizidphantasien durchschimmern. Vom dunklen Abgrund ist die Rede, davon, dass er keine Freunde hatte. Ihn rettet vorläufig das Pflichtethos des Bauern, der anderen nützlich sein muss, wenn schon ihm niemand nützlich wird. Just in diesem Moment sollte jene Preisfrage an ihn herantreten, die sein Leben von Grund auf – oder besser: von Oben herab – sichern sollte: Dieser Gedanke, nur mir, nicht der Welt unnütz, und, wenn schon für mich keine Glückseligkeit auf Erden zu finden wäre, noch für das Glück Anderer wirksam zu seyn, erhielt meinen Muth – zwar nicht ganz aufrecht; weil die Gründe, worauf er beruhte, mir nicht ganz hell waren: aber er unterstützte mich doch, daß ich nicht ganz zu Boden sank, und Zeit gewann, diese Gründe in der Folge zur Deutlichkeit zu bringen.   Er trug dazu bey, daß ich (1779.) es wagte die Preisfrage der königl. Preussischen Akademie der Wissenschaften: „Ist es nützlich das Volk zu täuschen?“ zu bearbeiten, und daß meine Antwort des Beyfalls der Akademie gewürdigt wurde, wodurch jener Gedanke den Grund zu meinem wahren Glück legte. Denn, um bestimmen zu können, was dem Menschen überhaupt und unter allen Umständen nützlich sey, mußte ich eine allgemeine und wesentliche Eigenschaft der menschlichen Natur, aus welcher dieses zu entscheiden sey, aufsuchen. Diese Bemühung wurde mir dadurch sehr erschwert, daß ich nach meiner erlernten Seelenkunde, widersprechende Triebfedern im Menschen annehmen mußte: nämlich einen Hang zur Geselligkeit und Güte, und zugleich eine ziemlich nahe an Eigennutz grenzende Selbstliebe, dann auch einen Trieb zur Thätigkeit, und eine Neigung zur Ruhe. Ich fand beydes durch fremde und eigene Erfahrung bestätigt, und konnte mir doch nicht vorstellen, daß die Natur, die überall Einheit und Harmonie in ihre Wercke gelegt hat, den Menschen allein zu einem verwirrten Spiel entgegengesetzter Triebe gemacht haben sollte.   Endlich erschien mir in der schwärzesten Nacht der Zweifel, wo meine Seele zwischen den Klippen des Widerspruchs herumgetrieben wurde, ein Lichtstrahl, wie vom Himmel gesendet. Ich fand einen Vereinigungspunkt für jene dem Anschein nach entgegengesetzten Eigenschaften des Menschen im Innersten seines Wesens. Ich baute auf denselben den Beweis, daß Vorurtheil und Irrthum durchaus schädlich sey. Ich wurde durch den Beystand der Akademie und vieler redlicher Wahrheitsfreunde – vor anderen eines Iselin – in meiner Ueberzeugung bestätigt. Und von nun verschwand alle Dunkelheit aus meinem Moralsystem: Es wurde mir hell, wie die Sonne am Mittag; kein Zweifel blieb mir übrig. Ich fand auch nun die Ruhe des Gemüthes, die ich so lange vergebens gesucht hatte; oder vielmehr, ich hörte auf, sie zu suchen.19

Die Passage lässt außen vor, dass Becker nach dem Studium in Jena sich nicht im Nichts bewegte. In Erfurt unterrichtet er im Hause des Präsidenten von Dacheroden unter anderem die spätere Gemahlin des preußischen Staatsministers von Humboldt. Wielands Erfurter Vorlesungen standen auf seinem Programm. 18 Ebd., 19 Ebd.,

15. 17–19 (Hervorhebung im Original).

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Über Dacheroden kam er in Erfurt mit dem kurmainzischen Repräsentanten von Dalberg in Kontakt. Dalberg wiederum ermutigte ihn, am Berliner Preisausschreiben teilzunehmen. Die Autobiographie entfernt die Einblicke in das intellektuelle Geflecht und akzentuiert den persönlichen Weg aus der Anfechtung ins Licht. Zur inneren Klarheit kommt die äußerliche Bestätigung. Isaak Iselin – der große Verfasser der Menschheitsgeschichte – würdigt ihn. Der „Beistand der Akademie und vieler redlicher Wahrheitsfreunde“ wird mit der Preisvergabe zur Gewissheit; er fällt von nun an nie wieder in die alten Zweifel zurück. Nun, da er das Sys­ tem formulieren kann, erfasst er, dass alle, die er schätzte, eben dieses System fanden. – „Es wurde mir hell, wie die Sonne am Mittag; kein Zweifel blieb mir übrig“. Das Possessivpronomen taucht hier wie in einem Spiel mit der göttlichen Allmacht auf, derer er teilhaftig wurde: Wenn alle „seinen“ Grundsätzen folgten, gäbe es auf der ganzen Welt kein Leid mehr: Ich fand auch bald, daß der große Menschenbesserer Jesus auf denselben einfachen Weg zur Glückseligkeit deutlich hingewiesen hat, der von seinen spätern Nachfolgern unter den Trümmern des Juden- und Heidentums verschüttet wurde.   Ich fand, daß wenn die Gesetzgebung, die Religion und Erziehung von jeher auf den ersten Grundsatz meiner Pflichtenlehre gebaut gewesen wären: so müßte es um die Menschen im Staate ganz anders aussehen, als bisher, und verwunderte mich, daß es noch bey keiner Nation der Erde, auch bey den cultivirtesten nicht, geschehen war.20

Man kann die weitere Darlegung als Bericht einer zunehmenden Stagnation lesen. Becker beginnt, sein System mit seinen Zeitungsprojekten zu propagieren. Gefahren tauchen für sein System danach nur noch im Augenwinkel auf: Die Welt wird in den Fragen der Moral von Kant ins Wanken gebracht; die warnenden Stimmen vernimmt Becker, doch kann er nach kurzem Blick in Kants Werk entwarnen. Kant bietet eigentlich nur eine „Ergänzung“ zu ihm: Seit einigen Jahren mußte nun auch der Fortgang der Kantischen Philosophie¸ deren Freunde alle bisher angenommene Moral-Prinzipe für unbefriedigend erklären, mir bange machen, daß meine Ueberzeugung dadurch ebenfalls erschüttert werden möchte. Allein, ob ich gleich noch nicht die gewünschte Musse gehabt habe, das scharffsinninge Kantische System so zu studiren, wie es von jedem Wahrheitsfreunde studirt zu werden verdient: so glaube ich doch, so viel davon eingesehen zu haben, daß das erste Moralgesetz desselben dem meinigen nicht widerspricht, oder es überflüßig macht, sondern ihm zur Ergänzung dient.21

Sein System kann Becker mit weit einfacheren Worten als Kant auf den Punkt bringen: Der Grundtrieb des Menschen ist also nicht auf bloßes Wohlbefinden, sondern auf Immer besser befinden gerichtet: und so kann auch wohl die Absicht des Wesens, das 20 Ebd., 21

20. Ebd., 22 f.



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ihm diesen edlen Keim der Vollkommenheit ins Herz pflanzte, keine andere seyn, als – daß es immer besser mit ihm werde.22

Das ist durchaus nicht bei Adam Weishaupt, dem Gründer des Illuminatenordens abgeschrieben.23 Beckers eigene Preisschrift folgte bereits dem Grundgedanken der auf die Glückseligkeit zuschreitenden Menschheit und diskutierte von ihm aus die Optionen. In den Vorlesungen bleibt jedoch vom systematischen Projekt nichts mehr übrig. Das wird mit ihrem Abschluss greifbar, in dem Becker zum Beweis seines Systems ausholt. Der liegt in der ungeordneten Masse der Geschichten, die die Deutsche Zeitung, um die erbauliche Unterhaltung ihrer Leser bemüht, im Angebot hatte. Die Seiten 255 bis 598 bieten ein Potpourri aus allem, was man dort las: Weltnachrichten wie kuriose Erzählungen, Geschichten von Mord, Naturkatastrophen und städtischen Bränden. In Abschnitt 7, die Seiten 389 bis 525 überspannend, heißt es darin: „Es ist mit dem ganzen menschlichen Geschlecht, seit es die Erde bewohnet allmählich immer besser worden, und wird noch täglich besser mit ihm“. An die These ist eine Fußnote gekoppelt, die den Leser noch immer in Beckers eigene Vergangenheit zurückverweist: Eine kurze Darstellung der allgemeinen Menschheitsgeschichte bis auf unsere Zeiten in der Rücksicht, daß obiger Satz daraus hervorleuchte, finden die Leser in meiner Beantwortung der Preisfrage über den Nutzen der Volksaufklärung. Kap. 6. S. 2344. Und, daß die Menschheit auf dem Wege der Verbesserung noch nicht still steht, setzen die hier folgenden Jahres-Uebersichten aus der Deutschen Zeitung ausser Zweifel.24

Was Becker hier unter dem Titel „Beantwortung der Preisfrage über den Nutzen der Volksaufklärung“ führt, ist eben seine Beantwortung der Frage: Kann irgendeine Art von Täuschung dem Volke zuträglich sein, sie bestehe darin, dass man es zu neuen Irrthümern verleitet, oder die alten eingewurzelten fortdauern läßt? – eine aufschlussreiche Interpretation ex post des Anliegens, dem er sich damals gewidmet haben wollte. Tatsächlich holt Becker seine Leser zwischen Mordgeschichten aus der Deutschen Zeitung immer wieder auf die Ebene der Philosophie zurück – in Schlüssen wie diesen: Es ist dem Menschen unmöglich, Schmerz zu begehren, Unglück zu verlangen, Unrecht zu wollen: und der Wahnsinnige befolgt in seinen Verirrungen die Gesetze der

22 Ebd.,

128. erste Name des Ordens, seinerzeit eher eine Studentengruppe, war bezeichnenderweise „Perfectibilisten“. Siehe zur Vorgeschichte des Ordens Beatrix Schönewald, Der Orden der Illuminaten in Ingolstadt, in: Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt 120 (2011), 281–639, hier 306 ff; siehe auch Reinhard Markner, Weishaupts früher Entwurf einer „Schule der Menschheit“, in: ebd., 640–653. 24 Rudolph Zacharias Becker, Vorlesungen über die Pflichten und Rechte des Menschen, 1, Gotha 1791, 389. 23 Der

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Form des Denkens so genau, als der Philosoph in seinen bündigsten Schlüssen. Der Unterschied liegt blos im Stoff oder Inhalt der Gedanken.25

Unfreiwillig zeichnet die autobiographische Skizze das Bild eines Publizis­ ten, der längst ein Experte in der öffentlichen Selbstkonstruktion und im Re­ cycling der eigenen Arbeit ist. Die Vorlesungen sprechen andererseits vom neuen Markt des bildungsbeflissenen Publikums, das die eigenen Kinder mit einer Jugendzeitung versorgt und gerne allgemein verständliche, erbauliche Vorlesungen wie in einer Universität lesen würde. Geboten wird dem Publikum eine neuartige Erweckungsfrömmigkeit, in der die elitären Institutionen der Bildung, wie die Berliner Akademie der Wissenschaften, dem Individuum, das nach ihrer Achtung strebt, die Aufgaben stellen, die das Licht der Erkenntnis bei entsprechender Leistungsbereitschaft anbieten. II. Ob die Mächtigen das Volk betrügen dürfen – ein halber Sieg, der den Gewinner verbittert Von Becker, dem Initiator von Preisschriften, führt, das sollte der kurze biographische Exkurs erfassen, eine nicht wegzudenkende Lebenslinie zurück zu Becker, dem Preisgewinner. Über die berühmte Preisauslobung der Berliner Akademie wurde extensiv publiziert. Die Einsendungen sind, soweit sie heute rekonstruierbar sind, von Hans Adler in einer zweibändigen Ausgabe gründlich eingeleitet und erschlossen.26 Eine Übereinkunft besteht in der Forschung darin, dass die Preisfrage exzeptionell formuliert war: „Est-il utile au Peuple d’être trompé, soit qu’on l’induise dans de nouvelles erreurs, ou qu’on l’entretienne dans celle où i l’est?“ – „Ist es dem Volke nützlich, betrogen zu werden, sei es, dass man es in neue Irrtümer führt oder in denen, die es unterhält, bestätigt?“ Friedrich II. hatte der Berliner Akademie der Wissenschaften höchstpersönlich diese Frage in schroffer Ersetzung einer weit spekulativeren vorgegeben. Die Ausrichter der Akademie hatten danach nur noch um Nuancen der Formulierung ringen können. Der König desavouierte mit seiner Frage hinter den Kulissen die Akademie, der er vorstand. Denen, die Bearbeitungen riskieren sollten, nahm er die einfachsten Verteidigungslinien der Aufklärung. Wenn es mit dieser um die Glückseligkeit der Menschen ging und um den Schutz des Wissens, das zur Glückseligkeit führt, und wenn dieser Glückseligkeit mit der politischen Lüge gedient war, dann ließ sich nur schlecht für eine Wahrheit eintreten, die eben diese Glückseligkeit bedrohte. Schränkte man die Macht derer ein, die um diese Wahrheit 25 Ebd.,

525. Adler (Hg.), Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780, 2 Bde., Stuttgart 2007. 26 Hans



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wussten, so schränkte man deren Chancen ein, langfristig das Ziel der Aufklärung zu realisieren. Erlaubte man den Trägern eines höheren aufgeklärten Wissens mehr als dem Volk, so erlegte man der Aufklärung andererseits eben hier eine Einschränkung – in der maximalen Verbreitung der Aufklärung – auf. An der Definition des Volkes, der Definition des Nutzens für das Volk und an der Definition denkbarer Irrtümer hing jede Antwort, die die Widersprüche ausräumte. Becker schrieb detailversessen. Sein Begriff des Volkes marginalisiert im ersten Schritt die, die eine andere Wahrheit gegen das Volk in seiner größten nur denkbaren Masse verteidigen könnten. Der Adel ist für Becker Teil des Volkes. Eine komplexe Geschichte der menschlichen Gesellschaften bettet er in die folgende Darlegung ein (eben jene, auf die er 1791 Bezug nahm): Der Mensch wird, das ist die Annahme mit Locke und den Empiristen, als tabula rasa geboren – urteilsfrei und damit auch ohne Irrtümer. Ein Irrtum ist ein fehlgehendes Urteil, ein Urteil, das nicht mit der Erfahrung übereinkommt, und rührt unter diesen Prämissen immer aus einer äußeren Beeinflussung her. Im historischen Aufriss zeigt sich, dass die Irrtümer massiver sind, wo immer Machthaber eine ungerechte Herrschaft gegen die Wahrheit absichern – insbesondere unter Zuhilfenahme der Religion. Eine großartige Genealogie der despotischen, Wahrheiten verschleiernden Regime ist der Höhepunkt des historischen Abrisses. Der Ausweg aus dem Unrecht liegt im vorbereiteten größeren Konzept der Menschheit, die geschlossen die größte Glückseligkeit anstrebt, zu der sie historisch fähig ist: eine Glückseligkeit, die in Übereinstimmung aller Vorstellungen und Wünsche mit dem Wissen um deren Realisierbarkeit bestehen wird. Einzelne Machthaber können mit Fehlwahrnehmungen, unter dieser Langzeitperspektive immer nur einen lokalen temporären Profit ziehen – einen Profit, der vom idealen Weg des Heils wegführt, so die theoretische Argumentation. Becker hatte für das Nein plädiert und der weltlichen Herrschaft damit das Recht abgesprochen, der Aufklärung Ketten anzulegen. Er hatte letztlich gegen jede politische Intransparenz Stellung bezogen. Noch am 24. Juni 1780 wandte er sich an Preußens Regierung mit der Bitte, ihm aus der Lage zu helfen, in die sie ihn – angeblich – mit der Auszeichnung im kurmainzischen Herrschaftsraum brachte. Eine Karriere würde er nach der Publikation seiner Schrift nur noch in einem Staat machen können, der seinen Bürgern das freie Denken erlaubte, und von einem Philosophenkönig regiert wurde.27 Das war als Huldadresse formuliert und verfing nicht. Becker nahm ohne Anzeichen einer Bedrohung die Publikation der deutschen Übersetzung seiner Schrift in Angriff (er hatte die französische Streitfrage auf Französisch beantwortet). Sie sollte 1781 in Leipzig bei Crusius erscheinen in einem grandiosen Gestus des brüderlichen Schulterschlusses mit der Menschheit. Seine zukünftige Anstellung im Dessauer Philan­ thropinum war zu diesem Zeitpunkt offenbar in trockenen Tüchern – der mu27 Das

Schreiben ist wiedergegeben in: ebd., Bd. 1, LIV.

388

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stergültigen Einrichtung gilt sein Lob in den letzten Zeilen der Eröffnung.28 Der Emphase der Eröffnung stand nun eine Abrechnung mit den Preisgebern gegenüber. Sie versündigten sich an ihrer eigenen Aufgabe, da sie eine Ja- und eine Nein-Antwort auf ihre Frage prämierten: Die königliche Akademie er Wissenschaften hat für gut befunden, bei der Ertheilung des Preises ihr eigenes Urtheil über die Schädlichkeit oder den Nuzzen des Irrthums zu verschweigen und dem Publikum die Entscheidung zu überlassen. Denn daß sie die verneinende Antwort zuerst genannt hat und vor der bejahenden abdrukken lassen, bezieht sich vielleicht blos auf die Beschaffenheit der Abhandlungen selbst. Vermuthlich hat sie den Bedürfnissen des Jahrhunderts noch nicht gemäß gefunden, den Knoten zu lösen. Warum gab sie aber alsdenn die Frage auf? Und wird nicht das Publikum dem ohngeachtet entscheiden? Denn daß zwei sich widersprechende Säzze zugleich wahr sein könnten ist unmöglich: und äusserst selten wird ein gleicher Grad von Wahrscheinlichkeit bei ihnen stattfinden.   Der vornehmste Grund, warum ich es wagte, die Frage zu bearbeiten, war die Furcht, es möchte irgend ein Liebhaber des Paradoxen sich einfallen lassen, der Verfechter des Irrthums zu werden, und dadurch für den Despotismus neue Ketten zu schmieden, die er meinen armen Brüdern anlegen könnte: und noch ist mir an der Entfernung dieser Besorgnis mehr gelegen als am Beifall aller Akademien. Ich halte es daher für meine Pflicht, die entgegengesezte Meinung zu prüfen, und mit der meinigen zu vereinigen, oder, wenn dieses nicht angeht, ihren Ungrund darzuthun.29

Es konnte in dieser Frage unter logischer Betrachtung keine zwei einander widersprechenden Antworten geben. Becker bot noch an Ort und Stelle das Argument an, das den anderen Gewinner seiner eigenen Position zurechnete – eine unentscheidbare Frage konnte es in der Frage der Aufklärung, die selbst auf der Existenz einer einzigen Wahrheit beharrte, nicht geben. III. Die Dessauische und die Deutsche Zeitung – Aufsatzaufgaben nicht nur für Deutschlands Jugend Seine Tätigkeit als Lehrer des Philanthropinums nutzte Becker, um zur öffentlichen Institution zu werden. Vorläufig blieb er dabei im Rahmen des Kollegiums, das er mit der Zeitung, die er hier 1782 initiierte, über die Landesgrenzen hinaus berühmt machte. Einmal pro Woche erhielt das jugendliche Publikum das Beste aus den vielen kursierenden Zeitungen mit belehrenden Fußnoten. Der Herausgeber achtete auf die Leserbindung. Zu ihr trugen namentlich die Preisfragen bei, die das Publikum anspornen sollten, selbst zu denken. Man suchte in der ersten auf den 26. Februar terminierten Aufgabe nach den Rezepten, die 28 Rudolph

Zacharias Becker, Beantwortung der Frage: Kann irgend eine Art von Täuschung dem Volke zuträglich sein, sie bestehe nun darin, dass man es zu neuen Irrthümern verleitet, oder die alten eingewurzelten fortdauern lässt?, Leipzig 1781, xii. 29 Ebd., 145 f.



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die Jungen und Mädchen nutzten, um „immer vergnügt und fröhlich zu sein“. 32 Rückmeldungen liefen ein, 25 von Söhnen und sieben von Töchtern. Die Preisträger wurden namentlich gewürdigt: Gottlieb Krumbhar, 12, aus Leipzig und Amalie von Ludwiger, 10, aus Halberstadt. Ihre Einsendungen blieben im Dunkel. Vermutlich offenbarten sie vor allem die Arbeit der Erzieher – darauf lassen die Bemerkungen anlässlich der sogleich ausgerufenen nächsten Ausschreibung schließen. In der Folgenummer konnte man aber immerhin einen zu spät eingegangenen Aufsatz aus Bremen lesen: Dieser Aufsaz hat uns eine ausnehmende Freude gemacht, indem er einen sehr schönen Beweis abgiebt, das die wahren Grundsäze der Erziehung sich immer weiter verbreiten, und daß die Eltern und Erzieher, welche sie ernstlich befolgen, so wie die jungen Leute, die ihre dahin abzielenden Rathschläge und Vorschriften mit Eifer beobachten, durch die seligsten Früchte davon belohnt werden.30

Der Aufsatz macht klar, was der Blattmacher hören wollte. Sein jugendlicher Verfasser sah zurück auf eine Zeit, in der sein Eifer zu wünschen übrig ließ. Dann aber fand er zum tieferen Glauben an Gott, der ihn Dankbarkeit lehrte, „daß ich jetzt zu einer so kultivirten Zeit, unter Christen in meiner lieben freien Vaterstadt lebe“. Es gab noch mehr, wofür er zu danken hatte, insbesondere für das Liederbuch, das der Zeitungsmacher herausgab – hier lag der junge Bremer falsch, Becker gab den Dank an seinen Lehrerkollegen Christian Heinrich Wolke weiter. Der jugendliche Autor blieb von da an nicht vor allen weiteren Anfechtungen sicher. In steter Selbstermahnung muss er seitdem den rechten Weg gehen, so der mustergültige inserierte Aufsatz. Drei neue Aufsatzfragen wurden sogleich vorgelegt. Der Blattmacher wollte nun hören, welche seiner Geschichten aus Sicht seiner jungen Leser das beste und welche das verheerendste Beispiel von Tugend respektive Laster gab. Die zweite Frage an die Jungen war scherzhafter Natur. 1724 hatte die Akademie der Wissenschaften zu Lissabon sich mit ihr auseinandergesetzt, so der Tipp: Sie galt dem Körperteil, aus dem die Könige und Fürsten neuerdings besondere Einnahmen zogen. Zu erraten oder zu recherchieren war die Nase, deren Träger unter der modernen Schnupftabakbesteuerung litten. Die Frage an die Mädchen galt den Mitteln, mit denen das weibliche Geschlecht, wenn nicht mehr Schönheit, so doch größere Annehmlichkeit gewann.31 Bereits im 22. Stück vom 31. Mai 1783 lasen die Abonnenten nun die Namen der drei Gewinner im Alter von 9, 10, und 13 Jahren, samt eingerückten Passagen aus ihren Aufsätzen.32

30 Dessauische

Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 11 (8. März 1783), 84. Antworten wurden in der Dessauischen Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 22 (31. Mai 1783) referiert und namentlich gewürdigt. 32 Dessauische Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 22 (31. Mai 1783), 169 ff. 31 Die

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Zu den Preisfragen an die Kinder kamen Preisfragen an die Erwachsenen – Lehrer, engagierte Eltern und Hofmeister, die sich soeben in anderen Zeitschriften ausgeschrieben fanden. Die verschiedensten Felder des Aufsatzschreibens lagen eng nebeneinander. Der Schüleraufsatz konnte mühelos ein Thema der Lissaboner Akademie der Wissenschaften aufnehmen. Das Blatt an die Kinder konnte den erwachsenen Abonnenten nebenbei Aufgaben übermitteln. Die Frage, die man an die Jugend richtete – nach dem spektakulärsten Exempel der Tugend oder der Untugend aus der eigenen Lektüre –, ließ sich einige Jahre später Thüringens Illuminaten wieder vorlegen.33 Mit dem Umzug nach Gotha, der eigentlich ein Umzug an das in der Nähe gelegene Internat Schnepfenthal werden sollte, stellte sich Becker die Aufgabe, die laufende Kommunikation mit seinen Lesern vom originären Projekt ab- und in sein nächstes, die in Gotha im Selbstverlag erscheinende Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, hinüberzuziehen. Deren erste Nummer erschien zu Jahresbeginn 1784. Der Titel war bereits der erste Angriff auf die Dessauer Mutter, die Kopfzeile der zweite: „Von dem Verfasser der ersten fünf Quartale der Dessauischen Jugendzeitung“. Ein Editorial beendet die erste Nummer: ­Becker notiert in ihm, dass er von nun an in Gotha arbeitet, zeichnet die Datierungszeile jedoch kühn mit „Deutschland, den ersten Januar“. Eine Deutschlandreise kündigt er erklärend an. Das Blatt eröffnet mit dem nach den Kontinenten geordneten Jahresrückblick für 1783. Becker wagt hier die globale Perspektive und zeigt sich kritisch: Das spanische America folgt, und zwar mit größerem Rechte, dem Beyspiele seiner Nachbarn, und sucht das Joch abzuwerfen, das ihm einst der Golddurst auflegte, und mit dem Mantel der Religion bedeckte. […]34

Der Abschnitt zu Afrika eröffnet eine Seite weiter in der minder revolutionären Variante: Africa möchte ich mit wehmüthigem Stillschweigen vorüber gehen. Dieser ganze Erdtheil steht, so weit wir ihn kennen, wie eine Warnungssäule vor dem Despotismus und Aberglauben unter den übrigen. Seit Jahrtausenden scheint hier der Trieb zur Veredelung, der dem schwarzen Menschen so gut eigen ist, als dem weissen, in den 33 In

der Sitzung der Gothaer Minervalkirche vom 21. Januar 1785 gab man die Fragen aus: „Welches ist der stärckste Zug von Grausamkeit, deßen sich ein ieder aus seinem bißherigen Lesen erinnert? 2. Welches ist der größeste Zug von Edelmuth? 3. welches der größeste von allgemeiner Menschenliebe?“ Zu diesem Fragekomplex sind mehrere Aufsätze in der Schwedenkiste, dem zentralen illuminatischen Aktenbestand, noch überliefert, so diejenige Hans Ulrich von Gadows (St. Evremont) GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 111, Dok. 105 (SK13-105), diejenige Friedrich Carl Ernst von Helmolt (Guido della Torre) ebd. Dok. 108 (SK13-108), und diejenige Gottlob Konrad Meyers (Tillotson), ebd. Dok. 84 (SK13-084). 34 Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 1 (1. Januar 1784), 3.



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Fesseln dieser beyder Ungeheuer zu liegen; welche freylich zum Theil auch durch die Hitze des Himmelsstrichs geschmiedet werden.35

Die erste Nummer erhielt zudem noch eine politische Huldigung des Dessauischen Fürsten und des Philanthropinums, Buchwerbung und ihre erste unterhaltsame Geschichte. Sie verlief in ihrer Mischung aus Humor, Schrecken und Belehrung typisch: Eine Frau versprach dem Teufel im mit Blut geschriebenen Brief 40 Jahre Dienst, wenn er ihr 200 Gulden beschaffen wollte. Den Brief hatte sie ohne Bewusstsein für seine Brisanz ins Fenster gelegt. Der Amtmann, der die Frau verhört, tut dies mit Humor und Fassungslosigkeit und lässt sich schließlich ihre finanzielle Misere eröffnen. Sie ist mit vier Gulden Mietzins im Rückstand und hat gehofft, sich endgültig von allen Existenzsorgen befreien zu können. Die vier Gulden spendiert ihr schließlich der Amtmann mit der Bemerkung, dass er gewiss nicht der Teufel sei, und der Mahnung, hinfort zu arbeiten, was die einfältige Frau, so der Bericht, auf den Pfad des Fleißes zurückbrachte. Die erste Nummer war nicht gänzlich repräsentativ für das Projekt. Noch fehlen Nachrichten von Schlachtfeldern und diplomatischen Verhandlungen, schlimmere Straftaten, Taten großer Fürstengunst und Naturkatastrophen. Längere Artikel – etwa zum böhmischen Schulwesen – kommen, an die erwachsene Leserschaft gerichtet, hinzu. Beilagen informieren diese kontinuierlich über neue Erziehungsanstalten, neue Lehrmittel, Stellengesuche und Stellenausschreibungen. Die Freimaurerei wird Kindern erklärt werden.36 Die Verfolgung des Illuminatenordens in Bayern wird vom 42. bis zum 45. Stück 1786 die Leser in einer Serie beschäftigen.37 Es sind dies im Verlauf die Momente, in denen Eingeweihten klar werden mag, in welchen Netzwerken der Autor agiert.38 Hatte Becker schon in der Dessauer Jugendzeitung die persönliche Inter­ aktion mit dem Publikum gesucht, so setzte er dies in der Deutschen gesteigert 35 Ebd.,

4.

36 Deutsche

Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 22 (2. Juni 1786), 166 ff. „Gedanken zur Freimaurerei“. Es geht um den Generalvorwurf, dass diese die Religion unterminiere, den Becker abwehrt. 37 Ein Leserbrief kommt auf diese Serie zurück, siehe Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 51 (10. November 1786), 414. 38 Zuweilen nehmen die Netzwerkinformationen auch konkrete Züge an: Die Beilage zum 2. Stück vom 14. Januar 1785 bietet eine Ehrenrettung Johann Friedrich Miegs. Mieg, ranghoher Illuminat in Heidelberg, war in Verruf geraten, Wucher mit Heu betrieben zu haben, das das Land bei Knappheit teuer zurückkaufte. Hier las man die Geschichte zugunsten Miegs. Becker stand hinter den Kulissen mit dem Ordensbruder, der sein Journal im Gegenzug bewarb, in laufender postalischer Verbindung- Der erste Kontakt zu Mieg datiert vom November 1784. Miegs Angebot, Werbung für die Deutsche Zeitung zu machen, ist in GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 105, Dok. 48 (SK06-048) überliefert.

392

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fort. Alle Leser sollen ihm Geschichten zusenden. Sein Blatt diente sich nach wie vor dem Schulunterricht an. Hier waren die Register entscheidend: Das erste bietet Nachrichten nach Orten und Namen. Das zweite „ist eigentlich eine Art Volksrüge oder Sittengericht, welches die Leser selbst beym Lesen angestellt haben“ – hier werden Menschen öffentlich gelobt oder angeprangert, ob Fürsten oder Privatpersonen. Gelobt werden Fleiß, gute Regierung, Kriegslist, Empfindsamkeit oder gesunde Vernunft. Getadelt werden Despotismus, Herabwürdigung der Menschheit, Verzweiflung und Selbstmord, Zorn, Aberglaube oder Schinderei. Das dritte Register ordnet nach Maximen, das vierte summiert die Worterklärungen. Den Lehrern ist erklärt, wie sie wiederum mit dem Blatt in Interaktion mit den Schülern treten: Kinder mit welchen die Zeitung gelesen worden ist, kann man spielweise die Reihe herum befragen: 1) welches in jedem Lande und in jeder Stadt die wichtigsten Begebenheiten gewesen sind? 2) weswegen die im 2ten Register aufgeführten Personen gelobt oder getadelt worden sind? 3) aus welcher Geschichte jede im 3ten verzeichnete Lehre genommen ist? 4) Was die Wörter bedeuten?39

Zu diesen Rückkopplungen an die Leserschaft kommen schließlich Preisfragen, die den Illuminatenorden an Bord bringen. IV. Becker und der Illuminatenorden – eine vielfältige Win/Win-Situation Über seine Mitgliedschaft im Illuminatenorden führte Becker ein kleines Notizbuch, das wichtigste Daten tabellarisch vermerkte, und das wohl deshalb der Forschung entging. Es geriet in der „Schwedenkiste“, dem zentralen Illuminatenarchiv der Jahre 1783 bis 1787/88, das Johann Christoph Joachim Bode und Gothas Ernst II. hinterließen,40 unter die tabellarischen Aufstellungen, zumeist von Geldzahlungen, die bislang wenig Beachtung fanden. Das sind die ersten Einträge – Becker notiert sie unter dem illuminatischen Ordenskalender; der 4. Din[meh] 1153 ist der 4. Januar 1784; der 19. Ardapahascht der 19. Mai, der 16. Chordad der 16. Juni 1784:

39 Deutsche

Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 13 (3. März 1784), 99. Endler, Zum Schicksal der Papiere von Johann Joachim Christoph Bode, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 27 (1990), 9-35; Ergänzungen bei Markner, sowie Simons, Meumann, „Mein Amt […]“ (wie Anm. 9). 40 Renate



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Din. 1153 4

Uebergab den E.O. ein Memoire, meine  Ztg. zu seiner Stimme im Volk zu machen – durch Baco v. Verulam. in Lycopol. Stellte meinen Revers aus 1154

19.

Adarpahascht. Wurde in die MK eingeführt und las einen Aufsatz über den Mangel der Ehrerbietung  gegen das Alte, als einen Fehler der jetzigen Jugend – in  Syracus.

16.

 Chordad. MK. nichts vorgelesen.41



Becker führte seinen Kalender von Termin zu Termin. Die „E. O.“, die Erlauchten Oberen, ließen sich nur indirekt ansprechen. Beckers Mittelsmann war, hinter dem Alias des englischen Staatsmanns und Philosophen Francis Bacon, Carl Theodor Anton Maria Freiherr von Dalberg, der kurmainzische Statthalter in Erfurt – die höchste Protektion, die an diesem Ort zu erringen war. In Gotha sollte Becker dem Schlosshauptmann Christian Georg von Helmolt unterstellt werden, der als örtlicher „Superior“ die Versammlungen der „MK“, der Minervalkirche, leitete, die bei den Illuminaten das Äquivalent der Freimaurerlogen war. Persönliche Monatsberichte, sogenannte Quibus Licet,42 gingen über Helmolt an den „Unbekannten Oberen“, mit dem Becker einmal monatlich zu korrespondieren angehalten war. Hinter dessen kollektiv verwendetem Pseudonym, Basilius, stand für die Thüringer Mitglieder Bode, der indes Becker die strenge Berichtspflicht schnell erließ und der mit ihm zudem unter seinem eigenen Ordensnamen „Aemilius“ kommunizierte.43 41 Das

tabellarische Tagebuch, das heute in GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 116, Dok. 242 (SK18242) in Beckers Handschrift überliefert ist, trägt keinen Titel und endet ohne weitere Erklärung mit dem letzten Eintrag für den 29. März 1787, einer der regulären Notizen, mit denen Becker die Einlieferung der monatlichen Quibus Licet vermerkte. 42 Siehe zum System der Quibus Licet und der ihnen antwortenden Reprochen des Unbekannten Oberen Peggy Pawlowsky, „… sich begnügen, im Geheimen für das Gute zu wirken“. Der Beitrag Johann Adam Weishaupts zur Pädagogik des Illuminatismus, Diss. phil., Jena 2004, 131 ff. Die Arbeit ist online unter der URL http://www.db-thueringen.de/servlets/Derivate Servlet/Derivate-3064/Pawlowski.pdf abrufbar [1. Okt. 2016]. 43 Von Aemilius an Henricus Stephanus gerichtet sind unter anderem die Briefe vom 7. November 1784, GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 102, Dok. 154 (SK03-154), vom 1. April 1785, GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 102, Dok. 129 (SK03-129) und vom 31. März 1786, GStAPK, FM,

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Dem Illuminatenorden eine Stimme im Volk zu anzubieten, war, nachdem Becker seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte, ein attraktives Angebot. Vermutlich sprachen er und Dalberg noch am 4. Dezember über die Idee eines Preisausschreibens. Die Beilage zur zweiten Nummer der Deutschen Zeitung, die vier Tage später erschien, bot 12 Dukaten, 42 Gramm Feingold dem Gewinner, der seinen Beitrag vor Ablauf des Jahres einzureichen hatte. Vermutlich erhielt Becker auch über Dalberg die Adressen in das Rhein/Main-Gebiet, unter denen er in Mainz wenig später die dortige Minervalkirche besuchte. Am 25. Februar bereitete Helmolt Gothas Minervalmagistrat auf das neue Mitglied unter dem Ordensnamen Henricus Stephanus vor, das er soeben mit den Ordensschriften vertraut machte.44 Gothas Minervalkirche sollte erst am 19. Mai eröffnen – das Datum, das Beckers Notizkalender als nächstes notierte. Sein erstes Quibus Licet sandte er alias Henricus Stephanus am 23. März in den Orden. Er berichtete von der Unterrichtung durch Helmolt und ließ das Preisausschreiben unterschwellig anklingen – unterschwellig, da man die Bemerkungen zu seiner Suche nach „wirksamen Mitteln gegen Krankheiten der Seele“ vorerst auf seinen Gesundheitszustand beziehen musste: Der vortrefliche Oberst Helmolt hat mich bisher von den Grundsätzen, Vorschriften und Uebungen des mir nun auf immer heiligen I[lluinaten] O[rdens] auf eine solche Art unterrichtet, wie ich meine eigenen Kinder unterrichten möchte, wenn ich das Glück hätte, Vater zu seyn. Daraus versteht sich’s, daß er meinen anderen Lohn für seine Arbeit an mir verlangt hat, als daß sie etwas fruchten möge, welches Gott gebe! Die Erwartungen von diesem wohltätigen Institut sind meistens so eingetroffen, wie ich mir sie, nach meinem Ideal einer Verbindung der Besten zur Besserung der Mittelmäßigen und Schwachsinnigen gemacht hatte, und wo mir noch Lücken zu seyn scheinen, liegt es wohl daran, daß ich das Ganze noch nicht übersehen kann. Mein dringlichster Wunsch dabey ist vor jetzt, wirksame Mittel gegen Krankheiten der Seele darin zu finden.45

Am 28. Juli 1784 schrieb Becker von Epidamnus (in der verschlüsselten Ordensgeographie der Name für Mainz) aus: Eine Reise, zu der ich mich auf das Zureden einiger Brüder entschlossen, welche glaubten, daß sie zur Wiederherstellung von einer Seelenkrankheit nothwendig sey, hat mich von meinen vorgesetzten O[rdens]arbeiten bisher abgehalten. Aber ich 5.2. G 39, Nr. 102, Dok. 173 (SK03-173). Die Briefumschläge adressieren jeweils „Herrn Professor Becker in Gotha“ und belegen damit, dass Bode hier direkt mit Becker, ohne den Umweg über den Superior der Minervalkirche korrespondierte, der ansonsten monatlich die Quibus Licet in Empfang nahm. Zu Bodes Agieren als Unbekannter Oberer siehe jetzt ausführlich Simons, Meumann, „Mein Amt […]“ (wie Anm. 9). 44 Siehe hierzu das Protokoll der Sitzung des Gothaer Minervalmagistrats vom 25. Februar 1784, GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 113, Dok. 1 (SK15-001). 45 Rudolph Zacharias Becker, Quibus Licet vom 23. März 1784, GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 109, Dok. 525 (SK11-525).



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habe unterdessen mehrere Brüder zu Edessa, Epidamnus, Thessalonich und Issus46 kennengelernt, die mich durch persönliche Eigenschaften so wohl, als durch ihre menschenfreundl[ichen] Ordensarbeiten, noch mehr an das herrliche Institut gefesselt haben, als ich zuvor war. […]47

Zur Eröffnung der Gothaer Minervalkirche hatte Becker einen Aufsatz „Über den Mangel der Ehrerbietung gegen das Alte, als einen Fehler der jetzigen Jugend“ vorgetragen. In Mainz sprach er ordenspolitisch „Über die Menschenfurcht, auf Veranlassung der churbayerischen Verbote der Geheimem Gesellschaften“.48 Wieder in Gotha folgte am 23. September ein Vortrag über „Die Unrichtigkeit der Eintheilung der Nationen in Gesittete und Wilde“,49 fortgesetzt am 13. Oktober mit kritischen Anmerkungen über die „Eintheilung der Völker in Fortschreitende und stillstehende“.50 Über „Moralische Tagebücher“ sprach er am 15. November.51 Der von Christian Heinrich Wehmeyer, dem Gothaer Ordensbruder, bei dem man sich monatlich traf, aufgeworfenen Frage nach dem (schädlichen) Einfluss des (ungebildeten) weiblichen Geschlechts auf die Kindererziehung verlieh er in einer Initiative (am 30. November) hinter den Kulissen im Quibus Licet und (am 3. Januar) vor dem Magistrat Nachdruck. Mit einem Bericht über das böhmische Schulwesen beschäftigte er die Ordensbrüder am 21. Januar 1785 – die Leser der Deutschen Zeitung lasen diesen Bericht ausführlich zuvor (von Prag aus eingesandt).52 Am 25. Februar verlas er in einem internen Aufsatzwettbewerb den lokalen Ordensbrüdern seine Ausführungen über die Frage „Wie kann man den gesellschaftlichen Zeitvertreib nützlich machen, ohne daß er langweilig oder pedantisch werde?“ 46 Frankfurt,

Mainz, Mannheim und Speyer. Zacharias Becker, Quibus Licet vom 28. Juli 1784, GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 109, Dok. 528 (SK11-528). 48 Notizbuch Rudolph Zacharias Beckers (über Mitgliedschaft im Illuminatenorden), GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 116, Dok. 242 (SK18-242) und Quibus Licet Rudolph Zacharias Beckers vom 28. August 1784, GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 109, Dok. 532 (SK11-532). 49 Notizbuch Rudolph Zacharias Beckers (über Mitgliedschaft im Illuminatenorden), GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 116, Dok. 242 (SK18-242) und Protokoll der Sitzung der Gothaer Minervalkirche vom 23. September 1784, GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 113, Dok. 44 (SK15-044). Der Vortrag ist in diesem ersten Teil gegenwärtig nicht dingfest zu machen. 50 Der Text ist partiell überliefert in GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 112, Dok. 71 (SK14-071). Siehe auch Notizbuch Rudolph Zacharias Beckers (über Mitgliedschaft im Illuminatenorden), GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 116, Dok. 242 (SK18-242), sowie das Protokoll der Sitzung der Gothaer Minervalkirche vom 13. Oktober 1784 GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 113, Dok. 47 (SK15047). 51 Rudolph Zacharias Becker, Über Moralische Tagebücher, GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 112, Dok. 69 und 70 (SK14-069/ SK14-070). Siehe auch dazu Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 18 (5. Mai 1786). 52 Deutsche Zeitung, Nr. 4 vom 29. Januar 1785 und folgende die Seiten 25–28, 57–59, 65–68, 73–75. 47 Rudolph

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Die jungen Mitglieder der Gothaer Minervalkirche mussten sich angespornt fühlen, doch warf dieses Engagement und diese Leistungsbereitschaft hinter den Kulissen auch Fragen auf. Johann Friedrich Christian Rudorff, der Sekretär Ernsts II., formulierte sie am 28. Februar 1785 im monatlichen Quibus Licet: Bey den Ordens-Aufgaben liegt, sowohl für die Illuminaten als Minervalen überhaupt die Absicht des Fleißes und die Vermehrung der Einsichten zum Grunde. Wenn aber dergleichen, denen Illum[inaten] zur Beantwortung übertragene Aufgaben, einen Gegenstand betreffen, welchen der O[rden] entweder zu hinterlegen oder zu befördern gedenkt; so, glaube ich, können selbige nie zu Vorlesungen in den Minerval-Kirchen gebraucht werden, sondern gehören in den Magistrat, oder als Q[uibus] L[icet] für [= vor] die höhren O[rdens] Obern.   Auf diese Bemerkung bin ich geleitet worden, da in der, am nur [!] verwichenen 25. Bahman gehaltenen Minerval- Versammlung, eine solche für die B[rüder] Ill[[uminaten] bloß bestimmte Aufgabe, vom B[ruder] H[enricus] Stephanus beantwortet, vorgelesen wurde. Sie betraf die Frage: Wie ist der gesellschaftliche Zeitvertreib nüzlich zu machen, ohne daß er pedantisch oder langweilig werde? So durchdacht, und beynahe von allen Seiten erschöpft (die anwendbahre und praktische ausgenommen) diese Verlesung war, so schien sie doch nicht am rechten Orte, und nicht ganz zwekmäßig genug angebracht zu seyn.53

Das Problem lag für Rudorff in einer sich abzeichnenden Kontraproduktivität des Wettbewerbs. Die Ordensspitze erhielt, da die Beiträge verlesen wurden und jeder sah, was die erfolgreicheren Kandidaten vorlegten, einen Gleichschaltungsprozess, wo sie doch ehrliche Meinungen suchte. Besser wäre es daher, man ließe die Ordensmitglieder allein in den Quibus Licet ihre Ausarbeitungen vorlegen. Es blieb zu befürchten, dass: […] Mitbearbeiter einer und derselben Frage, durch die Stephanische Ausarbeitung in dem Gange ihrer Gedanken gehemmt seyn könnten, und der er[lauchte] O[bere] leicht Etwas Monotonisches über die aufgegebene Frage erhalten und seinen Entzwek nicht völlig erreichen dürfte. Es ist demselben also zu überlaßen, ob überhaupt eine Vorlesung solcher zu beantwortenden, denen B[rüdern] Ill[uminaten] aufgegebene Fragen, die allezeit frappiren muß, in Zukunft ferner zu gestatten und nicht vielmehr eines ieden Antwort als Q[uibus] L[icet] einzuschließen und dem Superior einzuhändigen sey?54

Das ist, 1785 im Quibus Licet quasi hinter vorgehaltener Hand im Illuminatenorden vorgebracht, und eine intrikate Empfehlung. Mit ihr entfaltet sich das Spannungsfeld indem der Aufsatz alles andere als eine eindeutige Arbeitsanforderung, geschweige denn Textgattung ist. Geht es denen, die die Themen stellen, darum, ein Thema auszuloten? Geht es ihnen um Inhalte? Oder geht es ihnen nicht viel mehr darum, mehr über einzelne Verfasser zu erfahren? Dann sollte man doch verhindern, dass diese voneinander erfahren. Bode hätte gegenhalten 53 Johann

Friedrich Christian Rudorff, Quibus Licet vom 28. Februar 1785, 1–2. GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 109, Dok. 17 (SK11-017). 54 Ebd., 2.



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können, dass es auch darum gehe zu erziehen, und hier taugten Vorbilder – doch war die Erziehung fraglich, wenn der Orden es einfach nahelegte, dem Applaus hinterher zu schreiben, statt bei der eigenen Meinung zu bleiben. Die gesamte Organisation der Praxis wirkt auf die Teilnehmer: Bleibt jeder anonym, so kann jeder frei schreiben. Schreibt man unter offener Identität, jedoch ohne zu erfahren, was die Mitbewerber schreiben, so kann man nur bedingt antizipieren, wie sich diese derselben Frage stellen – die Stellschraube bringt Variation in die Einzelleistungen. Werden die Einsendungen öffentlich vorgelesen? Werden sie diskutiert? Werden sie gar coram publico bewertet?55 – Jede dieser Stellschrauben steigerte die Homogenisierung der Leistung. Vom Illuminatenorden ging offenbar ein interner Anpassungsdruck aus. V. Der Illuminatenorden als geheimer Juror: Die „besten Mittel, den kranken Verstand eines Kindes gesund zu machen“ Es sieht nicht so aus, als ob Becker die Preisfrage der Deutschen Zeitung vom 8.  Januar 1784 Gothas Illuminaten sogleich als Projekt vorlegte. Am 18. Oktober 1784 avancierte er zum Mitglied, das Zutritt zu den höheren Magistratssitzungen genießen sollte.56 Am 25. Januar 1785 machte er den Vorstoß, das Gremium möge häufiger tagen, weniger verlesen und mehr tun.57 In der folgenden Sitzung bestimmte er den fünften Tagungsordnungspunkt mit einem Vorstoß, auf den die sich bereitfindenden Juroren bereits vorbereitet gewesen sein mochten: Proponirte der Br[uder] Henric. Stephanus: weil doch Preiß-Aufgaben unter andern auch zu den Geschäften des Ordens gehörten, und er ehedem (Siehe Beyl. zu der deutschen Zeitung No. I.) die Preißfrage aufgegeben: welches sind die besten mittel, den kranken Verstand eines Kindes gesund zu machen? Hierauf bereits auch 6. Beantwortungen eingegangen wären, so wolle er anfragen, ob nicht der Erh[abene] O[rden] über die Vorzüglichkeit sothaner Antworten den Richter abzugeben und zu entscheiden belieben wolle. Der hochw[ürdige] Br[uder] Walter Fürst, so wie die Br[üder] Thomasius und Cassiodor, übernahmen hierauf diese Beurtheilung binnen Monatsfrist, damit in künftiger Oster-Meße Gebrauch davon könne gemacht ­werden.58

55 Rudolph Zacharias Becker, Gutachten zu Johann Gottfried Bohns Aufsatz „Über die Behandlung der Gefangenen“, vom 25 September 1784, GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 111, Dok. 65 (SK13-065). 56 Notizbuch Rudolph Zacharias Beckers (über Mitgliedschaft im Illuminatenorden), GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 116, Dok. 242 (SK18-242). 57 Rudolph Zacharias Becker, Quibus Licet vom 25. Januar 1785, GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 109, Dok. 524 (SK11-524) sowie Notizbuch Rudolph Zacharias Beckers (über Mitgliedschaft im Illuminatenorden), GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 116, Dok. 242 (SK18-242). 58 Protokoll der Gothaer Minerval-Magistratsversammlung vom 3. Februar 1785, 2 f., GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 113, Dok. 18 (SK15-018).

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„Walter Fürst“ war der Bruder des Regenten, Prinz August, „Jakob Thomasius“ Gothas Landschulinspektor Johann Ernst Christian Haun,59 „Cassiodor“ der Sekretär des Gothaer Hofmarschallamts und Publizist Schack Hermann Ewald.60 Einen fünften Juror gewann Becker in Göttingen: den dortigen Philosophieprofessor Johann Georg Heinrich Feder, im Orden „Marc Aurel“.61 Hauns Beurteilung ist in einer Kurz- und einer Langfassung überliefert, letztere für Becker persönlich: Noch muß ich annehmen, daß in der 1sten Wettschrift die Preisaufgabe wie sie lautet, am meisten getroffen, obgleich nicht genugsam und kennhaft ausgeführet worden. Die Einleitung ist von schlechtem Ton und ganz überflüssig. Um so eher will ich von Ihrer Vertheidigung abstehen, ob ich gleich nicht umhin kann zu äusern, daß die abgenü[z]ten und hernach zugespitzten Sätze der 3ten Schrift nicht ganz der Ehre des Accessit62 würdig scheinen. Doch mögen sie auch die Ehre erhalten. Sollten sie denn aber etwa auch gedruckt werden?63

Gothas Juroren einigten sich auf die dritte Schrift. Aus dem Protokoll der Magistratssitzung vom 7. März 1785 geht hervor, dass Feder nicht mit ihnen übereinkam, doch ihnen den Freiraum ließ, ihn zu überstimmen. Der Protokolleintrag ist nebenbei aufschlussreich, da er ein Schlaglicht auf das Geschäftsmodell wirft, das die Beteiligten von nun an mit dem Preis verbanden: Unter den Beantwortungen der Preißfrage des Br[uders] Heinrich Stephanus, hatte nach beyliegender gedruckten Ankündigung die N. 6. mit dem Motto. dubitatio initium sapientia, durch Mehrheit der Stimmen den Preiß erhalten. Weil der Br[uder] Marc Aurel Krankheit halber gedachte Beantwortung N. 6. nicht ganz durchgelesen, so sey es gekommen, daß er seinen Beyfall der No. 3 gegeben habe. Die gekrönte Schrift werde nach Inhalt schon besagter Ankündigung künftiger Oster Meße im Druck erscheinen, da denn die vom O[rden] vorgeschoßenen 12 Stück Ducaten von dem Verkaufs-Ertrag wieder restituiret werden sollten.64

Die siegreiche dritte Preisschrift hatte der 25-jährige Friedrich A. Heyne eingereicht. Für den Privatlehrer, Rat und Botaniker blieb sie ohne größeren biographischen Nachhall.65 Becker ließ sie zur Ostermesse 1785 bei Crusius in Leipzig publizieren, der bereits seine eigene, ungleich berühmtere Preisschrift führte. Der Titel Herrn Heyne des jüngern Beantwortung der Frage: Welches 59 Ausführlich

zu Haun Simons, Meumann, „Mein Amt […]“ (wie Anm. 9). Horst Schröpfer, Schack Hermann Ewald (1745–1822), Köln 2015, und die Aufsätze von Martin Mulsow und John A. McCarthy in diesem Band. 61 Zu Feder siehe Guido Nascherts Kurzbiographie in: Aufklärung 24 (2012), 345–348. 62 Eine ehrende Erwähnung in der akademischen Benotung, verbaliter Lateinisch: er kam nahe. 63 Johann Ernst Christian Haun, Entscheidung in der ersten Preisfrage der Deutschen Zeitung, von Anfang März 1785, GStAPK, FM, 5.2. G 39, Nr. 103, Dok. 203 (SK04-203) 64 SK15-23: Protokoll der Gothaer Magistratssitzung vom 7. März 1785, 1 f. 65 Friedrich A. Heyne fand einen längeren Eintrag in der von Johann Samuel Ersch herausgegebenen Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, 7, Leipzig 1830, 377. 60 Siehe



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sind die besten Mittel, den kranken Verstand eines Kindes gesund zu machen? Eine gekrönte Preisschrift; mit einer Zugabe von R. Z. Becker offenbart, dass der Preisausrichter das letzte Wort suchte. Heynes Beitrag ist entlang der Einladung geschrieben. Das kann nicht verwundern. Die Ausschreibung des Preises hatte die Antwort bereits gegeben und ließ nur noch Raum für Rezepte – pikant im Fall der Ausschreibung, die gerade der Unfähigkeit, selbst zu denken, zu Leibe rücken wollte. Heyne zerlegt die Frage gehorsam in die eingeforderten Teile und liefert dann ihm sinnfällig erscheinende praktische Tipps. Nicht immer bleibt er bei der Frage, doch weiß er zu ermessen, mit welchen Angeboten er stattdessen nahe genug an Beckers pädagogischen Kollegen bleibt. Salzmanns Traktat über die Onanie bei Zöglingen66 wurde soeben im ganzen Umfeld diskutiert, und Heyne notiert die Schrift nebst seinem eigenen Rezept, wie man Vierjährige von diesem Laster abbringt, ohne dass sich klarer sagen lässt, was das mit der kindlichen Neigung, Urteile von Erwachsenen anzunehmen, zu tun hat – tatsächlich zielt Heynes Rezept gerade darauf ab, diese Neigung der Kinder auszunutzen. Der Rezent der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung referierte Schritt für Schritt und stellte zunehmend hämische Zwischenfragen: Man tyrannisiere den Verstand des Kindes nicht d.h. man lege ihm nichts aufs Wort zu glauben auf. (Richtig – aber die Kinder haben eine Neigung den Erwachsenen zu glauben – aus Unvermögen, aus Trägheit, oder aus Vertrauen. Und dann giebts Lehren, die man ihm nicht beweisen kann: Z. B. Gott sieht alles.)67

Das Ende der Rezension ist vernichtend: Ueberhaupt ist in dieser kleinen Schrift manches Gute, aber auch manches Unbestimmte, nicht dahin gehörige und nichts Neues.68

Die Allgemeine deutsche Bibliothek urteilte wohlwollender, setzte Heyne dafür jedoch hämisch gegenüber den berühmteren Trägern seines Nachnamens zurück.69 Von Beckers eigener Not mit der gekürten Schrift zeugt sein auktorialer Nachsatz, der über die „mechanische“ Anwendbarkeit des Buches schnell hinweggeht und in der Zusammenfassung anklingen lässt, welche Schrift man gerne gehabt hätte. Am Ende steht, um die Defizite der eingelieferten Preisschrift wettzumachen, die nächste Preisfrage, die derselbe Gönner nun zur weiteren Klärung aussetzen will:

66 Christian

Gotthilf Salzmann, Über die heimlichen Sünden der Jugend, Leipzig 1785. Literatur-Zeitung (Juli 1785), 30.

67 Allgemeine 68 Ebd.,

31.

69 Allgemeine

deutschen Bibliothek 69 (1786), 231–236.

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Der Ungenannte, welcher den Preis ausgesetzt hatte, hält es daher für zweckmäßig, diese zum Gegenstande einer neuen Frage zu machen, die er folgendermaßen ausdrückt:   „Welches sind die in dem gegenwärtigen bürgerlichen, kirchlichen, wissenschaftlichen und geselligen Zustande der deutschen Nation (im Allgemeinen, nicht an einzelnen Oertern) wirklich vorhandenen Hindernisse des Selbstdenkens? Und was bringt jeder der hier anzugebenden Mängel und Mißbräuche namentlich für Irrthümer, Schwächen und Fehler des Verstandes hervor?“ 70

Wieder sollte ein Jahr Zeit sein. Nun jedoch fielen die lenkenden Vorgriffe noch weit massiver aus. Becker fügte eine ganze Diskussion voller Denkan­regun­ gen an: Ist es aber wohl gut und recht, die Einwohner eines Landes alle zum Selbstdenken anzuführen, und würde eine denkende Nation glücklich seyn?   Diese Frage scheint zwar im Grunde beym Menschen eben so überflüssig, als wenn die kleinern Vögel, nachdem der Adler, Geyer und Uhu ihnen die Flügel zerknickt hätten, um sie gelegentlich zu speisen, fragen wollte, ob es wohl gut sey, wenn die Vögel alle fliegen könnten? Allein da auch im letzten Viertel des seyn sollenden philosophischen Jahrhunderts noch immer viele brave Leute daran zweifeln, da auch einige Verfasser der eingelaufenen Wettschriften daran zu zweifeln scheinen: so ist es dem Zwecke dieses Aufsatzes gemäß, noch ein paar Worte zu sagen.   Der Mensch ist kein Vieh, sondern ein zu fortschreitender Veredlung seines Wesens erschaffener Geist. – Er kann ohne Entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten zwar zu einer dummen Selbstbetäubung, aber zu keiner menschlichen Glückseligkeit gelangen. – Zu dieser, und folglich zum vernünftigen Denken hat aber ein jeder das vollkommene Recht, so wie der Vogel zu fliegen und der Fisch zu schwimmen: weil jeder das natürliche Vermögen dazu besitzt; – Aus eben diesem Grunde ist es eines jeden Pflicht und Schuldigkeit, vernünftig zu denken; keine Regierung in der Welt ist befugt, den Unterthanen vorzuschreiben, was und wie sie denken sollen; und diese selbst können sich eben so wenig verbindlich machen, etwas glauben oder nicht glauben zu wollen: weil die Ueberzeugung ganz und gar nicht vom Willen abhängt; folglich sind auch alle Glaubenseide und Verpflichtungen unstatthaft und jeder Zwang des Geistes und Gewissens ein unrechtmäßiger Eingriff in die Rechte der Menschheit, die der Bürger im Staate nicht aufopfern kann und darf, wenn er auch wollte. – Dagegen kann jedes Mitglied von der Gesellschaft mit Recht fordern, daß sie ihm zur Entwicklung seiner Fähigkeiten möglichst behülflich seyn: und Gleichgültigkeit gegen die Bildung der Nationaljugend, geflissentliche Hinderung der Aufklärung aller Stände, Verbreitung des Irrthums oder Lasters sind folglich wahre Staatsverbrechen.   Die Anwendung von diesen ausgemachten Vernunftwahrheiten, welche in die Kentnißmasse unserers Zeitalters jetzt nach und nach verbreitet werden, auf obige Frage, wird der Leser leicht selbst machen.71

70 Rudolph

Zacharias Becker, Nachwort zu: Heyne, Friedrich A., Beantwortung der Frage: Welches sind die besten Mittel, den kranken Verstand eines Kindes gesund zu machen? Eine gekrönte Preisschrift, Leipzig 1785, 173–185, hier 175 f. 71 Ebd,  183 f.



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Das „Contrebandieren“, der Handel vorbei an den Warenzöllen, wird das praktische Beispiel, wie die Aufklärung den Staat unterstützen kann. Die Bürger werden die Abgaben gerne zahlen, wenn sie verstehen, wozu sie dienen. Bis in die Auflösung hinein plant Becker die Antwort vor: Gesetzt einem Bürger ist das Verbot gegeben: du sollst nicht contrebandiren! und dieser Bürger denkt so: Die Obrigkeit braucht Geld, die vielen Beamten, Diener und Soldaten zu erhalten; ohne diese könnte Stadt und Land nicht bestehen; ich wäre meines Lebens nicht sicher, hätte kein Haus. Keine Kleider, keine andern Bequemlichkeiten, keine Verwandten, keinen Freund, kein liebes Weib, keine eigenen Kinder. Alles dieses ist so angenehm und kann nicht bestehen, wenn wir den Herrn und die Abgaben betrügen, oder fremde Sachen den einheimischen vorziehen: ich will nicht contrebandiren. Wird dieser das Contrebandiren nicht sicherer unterlassen, als sein Nachbar, der dabei an weiter nichts denkt, als an die Karre und dem die Einbildung von seiner Geschicklichkeit, die Aufpasser zu prellen, noch dazu schmeichelt?   Aus allen diesen erhellet zur Genüge, wie sehr zweckwidrig es gehandelt sey, überhaupt den Fortgang der Entwicklung der gesunden Vernunft hemmen zu wollen, es sey in der Religion oder im wissenschaftlichen und politischen Fache; und diese Anmaßung eigentlich auf bloßen persönlichen Eigennutz hinauslaufe, dem man den Vortheil des Ganzen aufopfert.72

Die Deutsche Zeitung legte die neue Frage in ihrer 22. Nummer am 4. Juni 1785 vor.73 Am 3. August bescherte ein Gönner Becker brieflich eine Zustiftung von 60 Gulden, was den Preis verdoppelte.74 Becker erwähnte das am 18. August in der Magistratsversammlung und verkündete es zwei Tage später in der 33. Nummer der Deutschen Zeitung. Nicht ganz ein Jahr später, am 29. Juni 1786, fragten Gothas Ordensbrüder in der Minervalkirche, nicht im Magistrat, so geht es aus dem Protokoll hervor, was eigentlich aus der Preisfrage des Jahres 1785 wurde. Becker offenbart, dass die Schriften eingingen und dass er die „Herren Professoren Eberhard in Halle,75 Engel in Berlin,76 und Plattner in Leipzig77“ als die Richter gewann. Das war indes noch nicht die ganze Wahrheit. 72 Ebd.

73 Deutsche

Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 22 (4. Juni 1785), Nachricht an das

Publikum, 2. 74 Den Brief des Gönners verlas Becker in der Sitzung des Gothaer Minervalmagistrats vom 16. August 1785. 75 Johann August Eberhard (1739–1809), Professor für Philosophie, war 1778 auf den Lehrstuhl Georg Friedrich Meiers an der Universität Halle berufen worden. 76 Johann Jakob Engel (1741–1802) war 1776 als Professor für Philosophie und Schöne Wissenschaften an das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin berufen worden und namhafter Vertreter der Berliner Aufklärung. 77 Ernst Plattner (1744–1818), in Leipzig Professor für Philosophie und Medizin, siehe die Bemerkungen in: [Georg Heinrich Keyser,] Ueber Leipzig vorzüglich als Universität betrachtet: Ein Beitrag zur Aufklärung in Kursachsen, 1798, 24.

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VI. Das scheiternde Institut eines Preises der Deutschen Zeitung, wenn schon nicht der Illuminaten Die Druckausgabe der zweiten Preisschrift der Deutschen Zeitung erschien erst Ende 1787 (mit dem Druckdatum 1788) wieder bei Crusius in Leipzig.78 Der Gewinner war Karl Traugott Thieme, Rektor der Merseburger Stiftsschule. Die Jury wurde aufgewertet. Insbesondere Adam Weishaupts Name musste hier aufmerken lassen – hatte Becker den Namen in der Minervalkirche in Anbetracht ordensinterner Spannungen nicht nennen wollen? Im Moment hielt Becker es noch für möglich, aus dem Preis der Deutschen Zeitung eine Institution zu machen. Im 49. Stück vom 7. Dezember 1787 erklärte er seinen Lesern, was es mit den Preisschriften auf sich hatte und warum diese, einmal initiiert, das Zeug zum Selbstläufer hätten: Ich will nun den Lesern, die etwa noch nicht wissen sollten, bey dieser Gelegenheit im Vertrauen sagen, was es eigentlich für eine Beschaffenheit mit den Preisfragen hat, welche von der Expedition dieser und anderer Zeitschriften, desgleichen von einigen neuen Erziehungs-Anstalten, ja auch von königl. und fürstl. Akademien der Wissenschaften und Künste aufgegeben werden. Diese Institute gewinnen die Summe des Preises wieder durch den Verkauf der Preisschrift, wenn sie sie selbst verlegen; oder sie erhalten so viel dafür von dem Buchhändler, der sie in Verlag nimmt, daß sie einen neuen Preis aussetzen können. Dies ist das ganze Geheimnis, und findet dabei eben keine besondere Großmuth statt: es sey denn, daß diejenigen, welche die erste Preissumme hergeben, sie dem Preis-Institute zum Besten des Publikums schenken: wie solches bey den in dieser Zeitung ausgegebenen Fragen wirklich geschehen ist. In der Folge erhält sich ein solches Institut von sich selbst; wofern man immer solche Fragen wählt, auf die sich Etwas antworten läßt, daß die Wißbegierde des lesenden Publikums reizet. Durch dieses einfache gelehrte Kunststück kann und wird aber unendlich viel Gutes für die Menschheit bewirket. Es ist schon ein großer Vortheil, zu machen, daß viele Köpfe in verschiedenen Gegenden über einen wichtigen Gegenstand denken, davon in Gesellschaften sprechen, und manche Wahrheit mehr in Umlauf bringen; noch wichtiger ist es, daß durch die Ehre des Preises (das Geld ist nicht die Mühe werth) gerade diejenigen Köpfe zur Bearbeitung der Frage gereizt werden, die sich dazu am fähigsten fühlen; daß sie unter dem Schilde des öffentlichen Beyfalls, wofern sie siegen, freyer schreiben dürfen; daß durch die Vermuthung, eine gekrönte Schrift müsse doch einen gewissen Grad an Vollkommenheit haben, mehr Menschen bewogen werden, sie zu lesen, und solgleich ihre Erkenntniß zu erweitern und vielleicht auch ihre Gesinnungen zu veredlen. Es kommt nur darauf an, daß die Aufgeber der Fragen, solche Gegenstände wählen, die für die Geistesbedürfnisse ihres Zeitalters in der That wichtig sind; […]79

78 Karl

Traugott Thieme, Ueber die Hindernisse des Selbstdenkens in Deutschland. Eine gekrönte Preisschrift, Leipzig 1788. 79 Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 49 (7. Dezember 1787), 404 (Hervor­ hebung im Original).



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War die Sache mit den Preisen theoretisch ein Kinderspiel, so scheiterte ­Becker dennoch praktisch an allen Ecken und Enden des eröffneten Gefüges. Die Druckfassung der neuen Preisschrift wurde von der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung am 12. und 13. Juni 1788 rezensiert – vernichtend und das gerade aus den Gründen, die Becker noch davon ausgehen ließen, er werde eine Institution als Preisrichter gründen. Dieses Preiswesen schien dem Rezensenten suspekt in seinen typischen Fragen: […] dergleichen anitzt manche mit oder ohne Preis aufgeworfen werden: freylich betrifft [die vorgelegte Frage] eine er wichtigsten und allgemeinsten Angelegenheiten der Menschheit: aber sie ist in so ungeheurer Allgemeinheit gefaßt, daß es sehr schwer wird, einen einzelnen Menschen zu finden der Meister wäre, sie in ihrem ganzen Umfange zu übersehen […]. [S]o können nur die philosophischen Principien angegeben werden, auf denen die Beantwortungen in einzelnen Fällen am Ende beruhen, die aber nicht unmittelbar zu den praktischen Folgen führen, welche doch eigentlich den Endzweck der Aufgabe ausmachten.80

Die ausgiebige Rezension über zwei Nummern hinweg birgt das eigentliche Dilemma des gesamten Preisfragenmarktes: Die Veranstalter dieser Preise hoffen, mit brisanten Themen Öffentlichkeit zu generieren – doch gewinnen sie nur Gewicht mit praktisch umsetzbaren Antworten, die wiederum nicht weiter brisant sind. Punkte machen Verfasser, die paradoxe, verblüffende Antworten liefern, doch gerade vor ihnen hatte Becker sich schon gefürchtet, da er selbst seinerzeit am berühmten Berliner Preisausschreiben teilnahm, um zu verhindern, „es möchte irgend ein Liebhaber des Paradoxen sich einfallen lassen, der Verfechter des Irrthums“ zu werden. Die Rezension der Allgemeinen Literaturzeitung zerfließt im Gang durch die Rezepte und Thesen, an denen im Einzelnen gar nichts auszusetzen ist. Das Problem ist, dass weder die Frage noch die Rezepte einen erhellenden Wert haben geschweige denn brisant werden. Dem Verriss der Fragestellung ließ Becker in der 47. Beilage seiner Zeitung 1788 deren Verteidigung folgen, ohne damit eine Kontroverse eröffnen zu können. Crusius in Leipzig bat Becker im weiteren Verlauf, seine Schriften zurückzunehmen. Die Preisschrift Thiemes verramschte die Deutsche Zeitung 1791 mit dem neuen Ziel, dabei einen Fond für einen Preis zu bilden, der VolksliedAusgaben förderte. Das Projekt scheiterte. Es fand keine Subskribenten unter den Lesern der Deutschen Zeitung.81 Die Rezensionen hatten die Preisschriften vernichtet, so Becker, konsterniert in den Bemerkungen zum nächsten Projekt. Man würde nun nicht mehr Preise für Bücher ausschreiben, sondern in der Deutschen Zeitung den unmittelbaren Austausch mit den Lesern zu laufenden Fragen suchen: 80 Allgemeine

Literatur-Zeitung 141 (12. Juni 1788), Sp. 553. Rudolph Zacharias Becker, Vorrede zu: Karl Traugott Thieme, Ueber die Hindernisse des Selbstdenkens in Deutschland. Eine gekrönte Preisschrift, Gotha 1791. 81 So

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3) Es werden keine solchen Fragen gewählt, über welche gelehrte Bücher zu schreiben wären; weil des Büchermachens ohnehin fast zuviel ist: sondern Fragen aus der Land- und Hauswirtschaft, den Künsten und Handwerken, der Gesundheitslehre etc. etc. über lauter Dinge, wodurch das Gute, das uns die Natur und unser Fleiß darbietet, vermehrt und besser benutzt, und der Uebel im gemeinen häuslichen und bürger­lichen Leben weniger werden können. 4) Die Antworten dürfen nicht über eine oder etliche gedruckte Seiten einnehmen und werden durch die Deutsche Zeitung bekannt gemacht. 5) Es steht allen Leser der Deutschen Zeitung frey, solche Fragen über gemeinnützige Gegenstände, die sich aus den über die Materie vorhandenen Schriften nicht beantworten lassen, besonders solche, wo es auf einzelne Erfahrungen ankommt, die vielleicht hier und da ein aufmerksamer Landmann gemacht hat, dem es an Gelegenheit fehlt, seine erwor[b]ene Einsicht zum Besten seiner Nebenmenschen zu verbreiten, an die Expedition der Deutschen Zeitung einzusenden […].82

VII. Von der Vergangenheit und Zukunft des Aufsatzes Drei offenere und rückblendende Bemerkungen können an dieser Stelle dem Aufsatz an der Wende ins 19. Jahrhundert die weiteren Perspektiven geben – Bemerkungen zu einer scheiternden und gerade darin für die modernen Bildungssysteme zukunftsweisenden Praxis: 1. Bemerkung: Im öffentlichen Austausch verdrängt die sich frei ihre Anlässe suchende Meinungsäußerung den Aufsatz Das Wort „Aufsatz“ wird um 1800 vorübergehend zunehmend ubiquitär, gleichgültig, ob es dabei um Schulaufsätze oder andere Formen „aufgesetzten“, konzipierten Textes geht. Symptomatisch ist hier die Verwendung, die es in Rudolph Zacharias Beckers diversen weiteren publizistischen Projekten findet. 1791 beginnt Becker, den Anzeiger: Ein Tagblatt zum Behuf der Justiz, der Polizey und aller bürgerlichen Gewerbe zu verlegen – eine Nachrichtenbörse, den verschiedenen städtischen Intelligenzblättern vergleichbar, jedoch nun auf die Nation ausgerichtet. Aus ihm geht mit dem kaiserlichen Privileg 1793 der Reichs-­ Anzeiger als Allgemeines Intelligenz-Blatt hervor, das sich anbietet, eingehende Nachrichten aller Art unter unterschiedlichen Konditionen abzudrucken. Man wird Werbung nicht genauso frei platzieren wie behördliche Steckbriefe und eingesandte Aufsätze – und hat zu den Aufsätzen nun zwei eingehendere Anmerkungen parat: 82 Ebd.,

[v] (Hervorhebung im Original).



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I. Alle eingeschickten Aufsätze, welche zur Belehrung des Publikums über nützliche Wahrheiten und Sachen aller Art dienen, auch gefällige Antworten auf die eingerückten Anfragen, werden mit Dank gratis eingerückt und können unfrankiert eingesandt werden: Was aber den Vortheil des Einsenders betrift, davon werden, bey längern Artikeln, für jede Zeile sechs Pfennige […] bezahlt. […] III. Bey gemeinnützigen und unverfänglichen Aufsätzen, können die Einsender sicher darauf rechnen, daß ihre Nahmen unbekannt bleiben, wenn sie es verlangen. […]83

Das Blatt entwickelte sich erfolgreich und Becker erweiterte es konsequent ab 1797 um einen besonderen Teil unter dem Titel Gemeinnützige Aufsätze vermischten Inhalts als Beyträge zum Reichs-Anzeiger. Der Reichsanzeiger und seine Erweiterung zeigen, dass es von nun an kaum noch nötig war, Preise für Aufsätze auszuloben. In der modernen Öffentlichkeit, deren Zeit um 1800 längst angebrochen ist, besteht eine kaum zu befriedigende Nachfrage nach medialer Wahrnehmung, auf die staatliche Stellen, Politik, Unternehmen und Bürger zur Interessenvertretung angewiesen sind. Preise auf Aufsätze auszuschreiben dagegen gewinnt – das sollten die vorangegangenen Beispiele zeigen – im Lauf des 18. Jahrhunderts zunehmend problematische Aspekte. Einerseits bleibt es interessant, Forschungsprobleme zu eröffnen und zu lösen. Die naturwissenschaftlichen Blätter der Ära bieten konsequent weiterhin Ausschreibungen zu experimentellen Nachweisen. Andererseits ist bei den Fragen der breiten Debatten um Moral und Politik gar nicht so klar, ob ihnen mit Themenstellungen gedient ist, die eine richtige von falschen Lösungen abgrenzen. Die interessantere Antwort ist hier die brisante gegenüber der belanglosen. Die brisante droht gefährliche Allianzen zu formieren. Das Preisausschreiben, das die richtige Antwort prämieren will, erscheint in dieser Konkurrenz zunehmend als offensichtlicher Versuch, die öffentliche Meinung auf bestimmte Debatten, wenn nicht auf eine bestimmte Position zu ziehen – und es kann mit diesem Bildungsanspruch am Ende nur im Schul­ system überleben, das sich zu beiden Anliegen bekennt. Die Alternative, in der das freiere Essay, der Artikel im beliebigen Journal, die publizierte Rede, der öffentliche Brief, das Interview über den Aufsatz siegen, liegt in der öffentlichen Debatte, die in Wellen der inszenierten öffentlichen Unruhe Themen stellt. Es ist hier Vertretern der öffentlichen Meinung kaum möglich zu schweigen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, auf die drängends­ ten Fragen der Zeit keine Antworten mehr zu haben.

83 Rudolph

Zacharias Becker, Absicht und Inhalt des Reichs-Anzeigers. Bedingungen, in: Der Reichs-Anzeiger oder Allgemeines Intelligenz-Blatt, Jahrgang 1793, Bd. 2, Gotha: Expedition der Deutschen Zeitung, 1793, unpaginierter (jährlich aktualisierter) Vorspann.

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2. Bemerkung: Der Aufsatz zieht sich in den Schulunterricht zurück, wo er ein Vier-Punkte-Anspruchsprofil in Anschlag bringt Die erweiterte Praxis, Aufsatzthemen zur Beantwortung vorzulegen, macht im 18. Jahrhundert mitten in ihrem sich abzeichnenden öffentlichen Scheitern im Schulunterricht Karriere. Einige Gründe liegen auf der Hand. Die klassische Rede des frühneuzeit­ lichen Bildungskanons zielte, wie Jens Nagel in seinem Beitrag zu diesem Band zeigt, auf einen Repräsentationsakt ab. Mit dem Schulaufsatz verlagert sich die Leistung auf eine schriftliche Ausarbeitung. Mit den hier Geschulten ist seit dem 19. Jahrhundert weit eher als mit Rednern im Verwaltungsapparat gedient, in Unternehmen und Behörden, die Sachbearbeiter einstellen, im öffentlichen Journalismus und in den Wissenschaften. Letztlich zieht jedoch mit dem Schulaufsatz weder eine homogene Gattung noch eine einzelne Praxis in das Bildungssystem ein. Die wissenschaftliche Rezension befindet sich im Traditionsgeflecht wie das Meinung machende Essay, die Reportage des Erlebnisberichts wie die Ausarbeitung für ein Fachorgan. Vier Felder der Bewertung gewinnen in den Bewertungsverfahren Konturen. Das Scheitern in auch nur einem dieser Felder kann die Note kosten, doch kann auch die brillante Leistung in nur einem dieser Felder den eingehändigten Aufsatz weit über alle anderen heben. 1. Die Ausarbeitung muss erstens dem Gegenstand gerecht werden – der mag ein zu interpretierendes Gedicht, eine brisante These, eine moralische Frage sein. Hier zählt vor allem die intelligente Analyse, wie sie im gesamten Wissenschaftsbetrieb später von Interesse ist. 2. Die Ausarbeitung muss zweitens den Gegenstand fachgerecht kontextualisieren. Was bedeutete das ausgewählte Zitat im größeren Zusammenhang seines Textes, der Schriften des Autors, der Epoche, der Wissenschaft, die hier betrieben ist? Hier wird nicht minder den Wissenschaften in die Hände gespielt, die Bewerber suchen, die sich mit dem Wissensstand auseinanderzusetzen wissen. 3. Die Ausarbeitung muss drittens sich den Perspektiven gewachsen zeigen, die dieser Gegenstand auf sich zieht, auf sich ziehen würde, wenn man ihn einer Abstimmung vorlegte – das mögen Kritikermeinungen, gesellschaftlich anerkannte Meinungen, oder „Vorurteile“ sein, gegen die sich der Bewerber stellen sollte. Hier beginnt die Anerkennung des öffentlichen Diskurses. 4. Die Ausarbeitung muss viertens eine eigene Position gegenüber den drei eröffneten Informationsbereichen bieten. Das sind durchaus intersubjektiv, objektivierend handhabbare Leistungsbereiche. Im Schulaufsatz sind sie im selben Moment fundamental bedroht. Dass unklar ist, wie der Lehrer seine Note persönlich gewichtet, ist ein Teil des Problems. Gravierender ist, dass der Schüler den Schulaufsatz erst einmal nur gegenüber dem Lehrer positioniert. Der kann seine Wertung weitgehend für sich



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behalten, er kann nicht minder den Aufsatz im Inneren der Bildungseinrichtung weitergeben – wie der Unbekannte Obere im Illuminatenorden.84 Der Aufsatz unterliegt im staatlichen Bildungssystem keinem Beichtgeheimnis und er ist nur sehr bedingt unter einer Garantie der freien Meinungsäußerung verfasst. Das weiß der Schüler im totalitäreren Regime, das trifft jedoch nicht minder den Schüler im demokratischen Rivalen, der hier darauf verwiesen werden kann, dass seine Meinung gegenüber dem Wissen, das ihm in den drei anderen Leis­ tungsbereichen bei diesem Thema abverlangt ist, weitgehend irrelevant wird. Der Gothaer Illuminat Rudorff, der sich am professionellen Konkurrenten stieß, zeigte eine partielle Perspektive auf das Dilemma, da er unterstellen wollte, der Orden sei primär an der Erforschung der Positionen der Einzelnen interessiert, und darum besser beraten, wenn er Meinungen vertraulich auslotete. Dem Illuminatenorden ging es aber gerade auch um die Bildung und Gleichstimmung der Meinungen unter der Prämisse, dass es richtige Antworten letztlich im größeren Plan durchaus gab. Der von Rudorff heimlich angeklagte Ordensbruder Becker reflektierte seinen Spielraum beim Stellen von Aufsatzthemen komplexer in seinem Blick auf den Markt, den eine Preise auslobende Institution bedienen würde. Der ganzen Menschheit war mit einer institutionalisierten öffentlichen Aufsatzpraxis gedient, da diese Fortschritt durch Wettbewerb der Meinungen garantierte und unkonventionellen zukunftsweisenden Antworten Freiräume unter dem Schutz des öffentlichen Applauses bot: Es ist schon ein großer Vortheil, zu machen, daß viele Köpfe in verschiedenen Gegenden über einen wichtigen Gegenstand denken, davon in Gesellschaften sprechen, und manche Wahrheit mehr in Umlauf bringen; noch wichtiger ist es, daß durch die Ehre des Preises (das Geld ist nicht die Mühe werth) gerade diejenigen Köpfe zur Bearbeitung der Frage gereizt werden, die sich dazu am fähigsten fühlen; daß sie unter dem Schilde des öffentlichen Beyfalls, wofern sie siegen, freyer schreiben dürfen; daß sie durch die Vermuthung, eine gekrönte Schrift müsse doch einen gewissen Grad an Vollkommenheit haben, mehr Menschen bewogen werden, sie zu lesen, und sogleich ihre Erkenntniß zu erweitern und vielleicht auch ihre Gesinnungen zu veredlen. Es kommt nur darauf an, daß die Aufgeber der Fragen, solche Gegenstände wählen, die für die Geistesbedürfnisse ihres Zeitalters in der That wichtig sind. 85

Das war wohl vielschichtig analysiert, doch brachte es den bekennenden Aufklärer eben in das Dilemma, wohl auf bestimmte Antworten zielen zu können, diese jedoch dann nicht zu erhalten, wenn er es tat. Letztlich konnte der Aufsatz, der verpflichtend als Thema gestellt wird, nur im Schulunterricht überleben – und dies gerade, da er sich ihm als zutiefst problematische Praxis in komplexen Rechtfertigungen der verschiedensten Bildungs84 Spektakuläre

Beispiele solcher Weitergaben im Illuminatenorden untersuchte ich im gemeinsam mit Markus Meumann verfassten Aufsatz „Mein Amt […]“ (wie Anm. 9). 85 Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde 49 (7. Dezember 1787), 404.

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anliegen anbot. Jedes dieser Anliegen – von der Schulung im sprachlichen Ausdruck über die Demonstration von angeeignetem Lehrstoff in der strukturierten Darlegung bis zum Beweis charakterlicher Reife im Besinnungsaufsatz – bietet, Raum zum Systemwettbewerb, in den sich die Bildungssysteme im 19. und 20. Jahrhundert ganz anders als die Sozietäten des 17. und 18. Jahrhunderts begeben können. Das Schulsystem kann anders als ein Geheimorden alle, die es durchlaufen, verpflichten, Aufsätze zu schreiben – es erlaubt mit Beginn der Schulpflicht niemandem mehr den Ausstieg. Für den Aufsatz kann das Versprechen sprechen, dass er schlicht für den beliebigen Apparat in der schrift­lichen Arbeit schult. Für ihn kann gleichzeitig geltend gemacht werden, dass er die Nation an die essenziellen Themen eben dieser Nation heranführt. Ganz im Gegenteil kann für ihn an derselben Bruchstelle in Anschlag gebracht werden, dass er die kritische Auseinandersetzung fördert. Darauf bestehen im 20. Jahrhundert die totalitären Regime wie die mit ihnen konkurrierenden westlichen Demokratien. Der Schüler des totalitären Regimes zeigt, da man ihm anbietet, sich frei zu äußern, erfreuliche Linientreue in Anbetracht der „historischen Fakten“. Die Schüler der „freien Welt“ agieren ihren Konkurrenten gegenüber in einer ganz eigenen Situation des Unbehagens. Bequem wäre es hier, wenn man die beliebige gängige Meinung äußern könnte. Punkte gewinnt man jedoch durch die spektakulären Arbeiten, die Wissen und kursierende Positionen relativieren und ihre Verfasser angreifbar machen. Lehrpläne und eine intensive Diskussion um staatliche Bildungsziele, spezielle Fachwissenschaften der Pädagogik und Didaktik richten sich auf die Problemstelle aus und stabilisieren den Aufsatz als essenzielle Leistung im breiten gesellschaftlichen Interesse, das sie an der Problemstelle formulieren. 3. Bemerkung: Der Aufsatz steht für moderne Gesellschaften, die ihren Kontrakt mit dem sich selbst positionierenden Individuum schließen Mit der erweiterten Praxis des Aufsatzes, der eben weit mehr sein kann als der Text, den man in einem Unterhaltungsjournal, in einer Zeitung oder einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift liest; mit dieser erweiterten Praxis, die Institutionen der Themenstellung und Bewertung begründet, ist der Aufsatz frappierend auf das Individuum ausgerichtet. Das gilt für die Akademieausschreibung des 18. Jahrhunderts, die allen Einsendern wie in einem epochalen Vorgriff Chancengleichheit zusichert – und die darin auf deren individuelle Startbedingungen die größte Rücksicht nimmt. Das gilt genauso für den Schulaufsatz, der heute zwischen dem Lehrer und seinem Schüler verbleibt, wenn dieser die Note akzeptiert, und der Lehrer Vertraulichkeit wahrt – falls der Aufsatz etwa brisante Positionen aufweist. In beiden Fällen greifen dort, wo Aufsätze geschrieben werden, strenge Regeln, die auf der individuellen Ausarbeitung insistieren – ganz anders als etwa



Der Illuminatenorden als Volksaufklärer? 409

in den naturwissenschaftlichen Fächern, in denen es richtige Lösungswege gibt, derer sich jeder bedienen soll. Im Aufsatz geht es selbst dort, wo es um zitierbare Wissensbestände geht, um die Zusicherung des Individuums, diesen Text selbst verfasst zu haben. Eine einzige in den Text hineingeschmuggelte Fremdpassage, die nicht als solche ausgewiesen ist, zieht die Disqualifikation der gesamten Leistung nach sich. Um die individuelle Leistung ging es durchaus und gerade bereits in der frühneuzeitlichen Redeübung: um die individuelle Bereitschaft und Fertigkeit, eine ererbte oder zugewiesene Rolle einzunehmen. Der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts und die ihm folgenden Staatsformen des 20. setzen hier primär auf eine neudefinierte Bereitschaft der Selbstpositionierung und Selbstrelativierung. Die Punkte machen die Darbietungen, die souverän und transparent erfassen, was eigenes Wissen, eigene Fertigkeit, eigene Position gegenüber anderen Positionen ist. Das Individuum, das im Schulaufsatz brilliert, agiert seiner selbst bewusst gegenüber Wissensbeständen und der gesellschaftlichen Meinung. Nimmt es außergewöhnliche Positionen ein, tut es dies eigenverantwortlich – um Reife geht es hier. Das kann die Reife des Bürgers im Nationalstaat sein, das kann im totalitären Regime ein „freies“ und „offenes“ Bekenntnis zur neuen Epoche sein, das unter der Hand vor allem eines beweist: die Fähigkeit des Individuums, die Anforderungen an die eigene „Meinungsbildung“ zu erkennen und diese zu akzeptieren. Im freien demokratischen Regime treten andere Ungewissheiten auf, zwischen denen die wissenschaftliche Demonstration in ihrer eigenen Ablehnung der beliebigen Meinung Härte gewinnt. Wenn das frühmoderne Schulsystem seine Schüler noch auf die Positionen vorbereitete, in die sie gestellt würden – durch Geburt oder einen Eingriff des sich interessiert zeigenden Regenten –, so verschiebt das moderne, dem die gesamte Aufsatzpraxis Rechnung trägt, die Aufgabe der Selbstpositionierung auf das Individuum. Diesem wird Raum geboten, sich zu erproben und zu erfassen, ob es zur Masse gehört oder zur Meinungsführerschaft, ob sein Platz in den Wissenschaften ist, in der Wirtschaft oder der Politik. Wo mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die allgemeine Schulpflicht eingeführt wird, ist dies allein schon unter der Massenproduktion an Absolventen verschiedener Ausbildungswege die naheliegende praktikable Lösung: ein System, das alle Einzelnen schult, abzuschätzen, wo sie mit den besten Erfolgsaussichten weiter arbeiten werden. Es ist dies im selben Moment das Arrangement neuer Staaten, die sich im direkten Bündnis mit dem Individuum durch mehr oder minder freie Wahlen, durch großangelegte Bildungsangebote und individuelle Absicherungen legitimieren – mit eben einem Individuum, das darin geschult ist, seine eigenen Positionen zu relativieren, ob gegenüber Wissensbeständen oder gegenüber Positionen, die diesen Wissensbeständen gelten.

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Rudolph Zacharias Beckers Karriere als Publizist und „Volksaufklärer“ beginnt, so seine autobiographische Analyse, mit einem Preisgewinn. Er verfasste eine der beiden prämierten Antworten auf die Frage der Berliner Akademie der Wissenschaften, ob es legitim sein könne, das Volk zu betrügen. Seine Antwort war das kategorische Nein. 1784 wird Becker in Gotha einer der führenden Illuminaten. Er stellt dem Orden in dieser Position seine Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde zur Verfügung – unter anderem, um mit ihr öffentliche Preisfragen zu lancieren. Das Ergebnis bleibt unbefriedigend: Die versucht brisanten Aufrufe bleiben stecken in Anstrengungen der Veranstalter, die Antworten aufklärerisch vorzustrukturieren. Man erntet uninteressante Einsendungen. Beckers Problemanalyse eröffnet eine Abwärtsspirale. Er setzt bei den folgenden Anläufen auf öffentlich bekannte Juroren und den Nischenpreis. Das langfristig erfolgreiche Projekt ist am Ende die Zeitung, die sich ohne Preisverleihung und Themenvorgabe auf eingesandte „Aufsätze“ als vermarktbare Inserats-Ware ausrichtet. Rudolph Zacharias Becker’s career as a writer, publisher, and popular propagandist of the Enlightenment began, so his own autobiographical analysis, in a public competition. He wrote one of the two award-winning answers to the famous prize question posed by the Berlin Academy of Sciences – whether it could be legitimate to deceive the public. His answer was the categorical no. In 1784 Becker became one of Gotha’s leading Illuminati. His newspaper, addressing the nation’s young generation, the Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde, became an unofficial platform which the Illuminati could use to launch a public prize. The project failed. Becker’s questions – explicitly addressing the Enlightenment agenda – stifled rather than encouraged critical debate. His attempts to redefine the prize only accelerated the failure. The project could not be resuscitated by either a more prestigious jury or a more specialized award. A more successful enterprise was, a decade later, his Reichsanzeiger which invited its readers, commercial advertisers, and state institutions to send in contributions (“Aufsätze”) of any kind. The new platform neither needed the incentive of prize questions nor the arbitrary authority of a jury offering to promote individual answers. Dr. Olaf Simons, Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt, Schloss Friedenstein, 99867 Gotha, E-Mail: [email protected]

KU R ZBIOGR A PHIE

CHRISTIAN GOTTFRIED HOFFMANN (1692–1735)

Der Kupferstich der 86. Nummer der Deutschen Acta Eruditorum des Jahres 1723 zeigt den Anfang Dreißigjährigen mit vollen Lippen, leicht lächelnd unter der Staatsperücke, den Mantel locker über die Schulter geworfen. Sein Bild steht im Bild auf einem Gesims, das den kurzen ersten Karrierehöhepunkt in Stein gemeißelt verewigt: Christian Gottfried Hoffmann, Doktor und Professor der Rechtswissenschaft der Leipziger Universität und derzeit deren Rektor. Die Insignien der Amtswürde, ein pelzgesäumter Mantel samt Hut, liegen auf dem Mauersims. Das Amt rotierte, die Acta passten den glanzvollen Moment ab. Hoffmann stand kurz vor dem Wechsel nach Frankfurt an der Oder, wo er bis zu seinem Tod am 1. September 1735 vor allem die deutsche Rechtsgeschichte unterrichten sollte. Er starb im Alter von nur 42 Jahren unverheiratet und kinderlos – was in seinem Fall ironisch früh war. Die erste akademische Leistung des Studenten hatte 1711 nämlich in der Verteidigung einer Dissertatio Historico-Philosophica De Senio Eruditorum bestanden, welche Professoren in kommentierten Tabellen eine ausgesprochene Langlebigkeit attestierte. Die verschiedenen biographischen Ressourcen des 18. und 19. Jahrhunderts liegen in ihren Aussagen über Hoffmann eng beieinander. Ihre Verfasser sehen sich außerstande, nachzusehen, wo denn tatsächlich dieser am 10 Juli 1716 seine Dissertatio inauguralis juridica de origine et conditione procuratorum jure Romano et Canonico, nec non eorum progressu in forum Germa-

nicum verteidigte. Halle war die korrekte Angabe, doch hatte Göttens Das Jetzt lebende Gelehrte Europa in einer postumen Nachreichung 1737 die irrige Korrektur in die Welt gesetzt, dass dieses Ereignis in Leipzig stattgefunden habe. Hier studierte Hoffmann schließlich und hier machte er doch seine Karriere. Die Druckausgabe der Inauguralschrift ist im Detail indes un­ miss­verständlich. Das Gastspiel in Halle lässt darauf schließen, dass Hoffmann 1716 an der Wirkungsstätte von Christian Thomasius unter anderem die Nähe Nico-

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laus Hieronymus Gundlings suchte, der hier Natur- und Völkerrecht unterrichtete. Gundling war nebenbei, und das war in Hoffmanns Fall fast interessanter, der Verfasser der Gundlingiana, dieses wohl launigsten monatlichen Streifzugs durch die eigenen Lektüren und Erwägungen, denn Hoffmann befand sich seit 1714 selbst im gewagtesten journalistischen Experiment. Die einzig solide Quelle unter den biographischen Annäherungen ist der ausführliche Nachruf, der sich in der Mai-Nummer der Nova Acta Eruditorum von 1736 findet. Er ist, soweit ersichtlich, durch Hoffmanns Bruder Johann Wilhelm informiert. Dieser hielt auch am 9. Oktober 1735 in Frankfurt die Trauerrede. Christian Gottfried Hoffmann wurde am 8. November 1692 in Lauban in der Oberlausitz geboren. Sein Vater machte eine Karriere als Pädagoge bis hinauf in das Rektorat des Zittauer Gymnasiums. Hoffmans Mutter Martha, geborene Günther, war die Tochter des Zittauer Bürgermeisters und starb, als Hoffmann vier Jahre alt war. Ältere Schüler des Laubaner Gymnasiums förderten den Jungen, namentlich Christian Jacob Günther, ein Türke, den die Familie der Mutter als mitgebrachte Beute aus den Türkenkriegen von einem Verwandten geschenkt bekommen und den man adoptiert hatte. Er durfte am Laubaner Gymnasium als Informator jüngere Schüler unterrichten. Zittaus Gymnasium war durch Christian Weise berühmt. Der Vater Hoffmanns positionierte seine Kinder erster Ehe vorteilhaft gegenüber der gebildeten Stadt. Der Sohn durfte die Reformationsschriften der Ratsbibliothek ordnen, die Tochter verehrte der Bibliothek ein Portrait des Vaters, das dort noch lange hing. Beider Halbbruder Johann Wilhelm sollte erst 1710 zur Welt kommen, zwei Jahre vor dem Tod des Vaters. Als älterer Bruder übernahm Chris­ tian Gottfried im Verlauf offenkundig väterliche Beraterfunktionen.

1711 begann er indes erst einmal sein Studium in Leipzig, anfänglich unter der Erwartung, dass er hier zum profilierten Theologen avancieren würde. Hoffman geriet jedoch schnell in den Bannkreis der Menckes. Lüder Mencke zog ihn in die Jurisprudenz. Unter Christian Altmann verteidigte er wenige Monaten nach Studienbeginn die erwähnte Dissertation über die Langlebigkeit der Gelehrten mit ihrer Offenheit für die „curieuse“ Gelehrtengeschichte. Johann Burkhard Mencke, Lüders Cousin, sollte 1713 in Leipzig seine berühmte Faschingsrede über die Charlataneria Eruditorum halten, deren Drucke das Jahrzehnt hindurch breiten Zitationsstoff boten. Hoffman begriff zu diesem Zeitpunkt, dass er universitäre Karriere machen würde. Zwei Galizische Adelssöhne hatte er kurz unterrichtet und war von ihnen auf eine Hollandreise eingeladen worden. Er lehnte, so die Notizen, schweren Herzens ab und blieb in Leipzig, wo er im April 1714 die erste Nummer der Aufrichtigen und unpartheyischen Gedancken über die Journale, Extracte und MonathsSchrifften in den Handel brachte. Vom April 1714 bis zum 16. August 1717 erschienen 24 Stücke. 1717 übernahm Hoffmann die seit 1702 laufende Europäischen Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, die er von den Nummern 199 bis 251, von 1717 bis 1721 betreuen sollte – weit mehr als ein Journal. Die Fama schrieb annalis­ tische Geschichte, einzelne Bände durchliefen Folgeauflagen. In beiden Projekten agierte Hoffmann anonym, wie die Journalbibliographien der betreffenden Jahre zeigen. Weder Marcus P. Hunolds Curieuser Nachricht von denen heute zu Tage grand mode gewordenen Journal- Quartal- und Annual-Schrifften (1716 und 1717), noch der Gründlichen Nachricht von den frantzösischen, lateinischen und deutschen Journalen, Ephemeridibus, monatlichen Extracten, oder wie sie sonsten Nahmen



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haben mögen [...] von H. P. L. M. (1718) gelang die Autorzuweisung – sie findet sich erst im Nachruf der Nova Acta Eruditorum von 1736. Zur journalistischen Arbeit kamen unverzüglich Buchpublikationen: 1715 habilitierte sich Hoffmann mit einer Dissertation De Fatis Studii Politici in Academis. 1716 errang er in Halle die Lehrbefugnis. Ein Buch zu den historischen Wurzeln des deutschen Rechts kam selben Jahres auf den Markt. 1717 folgten eine Sammlung von Briefen Christian Weises und 1718, offen als eine solche publiziert, die Auftragsarbeit Die Ehre des fürst- und gräflichen Hauses Mannsfeld in dem Alter Seiner Abkunft, grossen Verrichtungen Seiner Fürsten und Grafen insonderheit in dem Leben und Thaten Peter Ernstens. Die berufliche Karriere an Leipzigs Universität begann selben Jahres. Der Schritt nach Frankfurt an der Oder brachte ihn 1723 auf den seit 1719 vakanten Lehrstuhl Heinrich Coccejis. Der Berufung folgte die Aufnahme in die preußische Akademie der Wissenschaften. Erhalten ist die Programmschrift, mit der er seine Position in Frankfurt aufnahm. Sie zeigt ihn flexibel und begierig, auf sein Publikum zuzugehen. Er werde je nach Interesse des Auditoriums deutsch oder lateinisch lesen und ihnen zu Diensten sein. Im Gegenzug wolle er aber auch von ihnen Begeisterung für das Studium verlangen. Thomasius steht als Vorbild im Raum. Die Beschäftigung mit dem kanonischem Recht und dem katholischen Reich rechtfertigt er mit dem größeren nationalen Interesse. Im Nachruf des Jahres 1736 scheint der Bruder, der 1728 an der Viadrina sein JuraStudium begann, die Eindrücke zu liefern: Seine Gelehrsamkeit und sein freundlicher Umgang mit der studierenden Jugend brachten ihm immer viele und darunter gar vornehme Zuhörer in seine Collegiis zuwegen. Sein größtes Vergnügen hieng

an seiner trefflichen Bibliothek, zu deren Sammlung ihm sein eheloser Stand behülflich war. Er war gerne in Gesellschaft guter Freunde, aber nur solcher, die von gelehrten Sachen sprachen. Es wandelte ihn ein abwechselndes Fieber an, das sich bald in ein beständiges verwandelte. Hierzu schlug der rothe und weisse Friesel, wodurch sein Ende am ersten September nach Mittag verursacht wurde.

Hoffmanns Publikationen an dieser Stelle bibliographisch abzuschreiten, mag in Anbetracht der elektronischen Ressourcen entbehrlich sein. Die historisch-juridischen Veröffentlichungen lassen sich seit dem 19.  Jahrhundert nicht mehr als Beiträge zu einer nach wie vor bestehenden Fachdebatte würdigen respektive abwerten. Die spannende Lektüre wurden in den letzten Jahren seine Aufrichtigen und unpar­they­ ischen Gedancken über die Journale, Extracte und Monaths-Schrifften. Sie stehen heute in einer medien- und wissenschaftshistorischen Perspektive als ebenso singuläres wie spektakuläres Werk im Raum. Aus einem Gang meinerseits durch die Illustrationen des Blattes in Präsentationen in Gotha und Den Haag resultierten bislang nur Seitenblicke in zwei Aufsätzen. Wiebke Hemmerling stufte Hoffmanns Zeitschrift 2011 ausführlicher als das ein, was sie war, ein erstes „Metaperiodikum“. Martin Mulsow warf in zwei Beiträgen 2014 und 2016 Schlaglichter auf die jungen Autoren, die sich hier kreative Freiheiten nahmen, und kam ausführlicher auf die Illustrationen zu sprechen. Tatsächlich agiert Hoffmann 1714 auf einem Markt, den erstaunlich junge Autoren zwischen Studium und Universitätskarriere beliefern. Hier gilt, was auch für den Romanmarkt zu sagen ist, der sich ebenfalls in der Hand der Studenten Leipzigs, Halles und Jenas befand. Doch wird man im Blick auf die Journale nicht so einfach den Schnitt zwischen freiem Studenten­dasein

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und Einengung durch den Beruf ziehen können. Die Leitbilder – ob Mencke oder Gundling – agieren auf demselben Parkett mit ähnlicher Freiheit, offensichtlich ohne dort an Renommee einzubüßen. Der Journalismus dieser Szene ist unterschätzt. Zwar erscheinen in London soeben die epochalen moralischen Wochenschriften, die mit dem Tatler und dem Spectator als Galionsfiguren bis heute Literaturgeschichte schreiben, doch sind es tatsächlich die Blätter Hoffmanns, Gundlings und der sie umgebenden deutschen universitären wissenschaftlichen Journalisten, die das Wort „Literatur“ mit der zugehörigen Lite­ raturrezension popularisieren. Rezensiert wird dabei Literatur im alten Sinn, also akademische Wissensproduktion, und das mit einem Zynismus, einer Süffisanz, einer Polemik, einem Angriff auf die persön­ liche Eitelkeit der Teilnehmer, die zwar die Lite­raturdebatte attraktiv machen, aber die Wissenschaften in eine Krise stürzen. So, wie hier wissenschaftliche Bücher rezensiert werden, kann man heute nur noch Romane, Dramen und Gedichte rezensieren – Literatur im heutigen Sinne. Das wissenschaftliche Journal hatte 1714 ein halbes Jahrhundert hinter sich, als es in das Zentrum der Krise der Historia Literaria und damit des Herzens der frühneuzeitlichen kontinentaleuropäischen Wissenschaftskultur geriet. Im stark von den Universitäten Leipzigs, Halles und Jenas geprägten Deutschland kulminierte diese Krise unter Markt- und Medienvorgaben. Was man Studenten abverlangte: die Fähigkeit, in jeder Frage die wichtigsten Titel gut beurteilt nennen zu können, erwies sich soeben als technisch simpel. Die Studenten mussten sich nur der bibliographischen Hilfsmittel und einiger Journale bedienen, um Wissen zu produzieren, das vom Expertenwissen gar nicht mehr zu unterscheiden war. Das neue Problem war der Überblick über die Medien, die den Überblick gaben. Das Rezensions-

wesen wucherte und wirkte dabei auf die Wissenschaften zurück. Wer in ihnen Erfolg haben wollte, war zunehmend gut beraten, vor allem über die Rezensionen nachzudenken, die seine Publikation erringen musste – und hier skandalisierte sich die wissenschaftliche Publizistik unver­sehens. Hoffmans spektakuläres Angebot ist das Metajournal – das Journal, das nicht Bücher rezensiert, sondern die Bücher rezensierenden Journale. Das Projekt scheiterte nicht an sich, aber in dem Format, das Hoffmann wählte und das mitten im Fahrwasser schwamm, statt eine neue Position zu suchen. Hoffmann brandmarkt die Moden und schließt aus, dass das Journal selbst eine Mode ist, da es deren Medium wird. Mit dem Geist einer Epoche (der Aufklärung, könnte man mit Habermas folgern) hat diese Furore nichts zu tun. Ein „genius seculi“ ist ein metaphysisches Konstrukt – wie soll der auf die Einzelnen einwirken? Ich habe versprochen zu sagen, warum ich glaube, daß die Monaths-Schreiben und Ex­t racte von Büchern vermuthlich nicht so bald in Decadence gerathen werden. Alle Wissenschafften und Theile der Gelehrtsamkeit haben ihre Periodos gehabt, und was man vor einiger Zeit hochgeachtet, darum hat sich niemand nachmahls sehr bekümmert. Die Ursache suchen viele in dem so genandten genio Seculi, aus welchem etliche, ich weiß nicht was vor übernatürliches und Göttliches machen wollen. Doch ich habe mir niemahls von diesem uncörperlichen Dinge einen Concept formiren können; sondern vielmehr die Ursache, warum man zu einiger Zeit auf dieses oder jenes Stücke gefallen, darinne gesuchet: Mundus est ani­nal imitabile. Wenn ein gelehrter Mann, der sich bei der Welt eine Opinion zuwege gebracht, sich in einer Wissenschafft hervorgethan, so ist es kein Wunder gewesen,



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wenn viele kleine Geister entstanden, die ihren Bienen-Könige nachgeflogen sind, und sich an einem Orte mit ihm niedergelassen haben. Bald hat die denen Menschen eingepflanzte Liebe zur Æmulation andere entdecket, welche es in eodem genere dem ersten gleich thun, oder ihn gar übertreffen wollen. Hieraus sind viele unterschiedene Meynungen entstanden, welche in einen Feder-Krieg miteinander gerathen sind: Damit ist auf einmahl Lermen geworden, und ein jedweder hat sein Wörtgen darzu geben wollen. Endlich sind die alten Patres schlaffen gegangen, auch sind die Secretarios meist abgestorben, alsdenn hat sich das Spiel auf einmahl geendiget. Bald ist ein munterer Kopff wieder aufgestanden, welcher sich auf ein neues Objectum gerichtet hat, worauf die Comœdie wieder angegangen, biß die Spectatores verdrießlich worden immer einerley zu hören: Deswegen man auf eine Variation verfallen müssen [Aufrichtige und unpartheyische Ge­dan­ cken über die Journale, Extracte und Mo­naths-Schrifften, 1 (Freyburg, [April] 1714), S. 4 f.].

Die Alternative zur Metaphysik der Epochen und ihrer Kraft, die Menschen zu prägen, ist für Hoffmann der satirische Blick auf die Kalküle aller Einzelnen, die hier soeben nachdenken, wie sie Follower generieren respektive sich selbst als Follower geschickt positionieren. In insgesamt 24 Nummern stellt Hoffmann einzelne Journale vor, was vom Desiderat, die Bücher zu beobachten, wegführt. Zwei ganz anders gestaltete Metajournale

betreten 1715 diesen Markt mit der Macht des neuen Vorbilds: Die in Den Haag erscheinenden Nouvelles littéraires und die Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen. Sie bieten anders als Hoffmann nicht Rezensionen der Journale, sondern wie Tageszeitungen einen sukzessiven Bericht über den aus ihnen zu kondensierenden Informationsstand. Die Herausgeber bündeln unter den europäischen Publikationsorten, was wo erscheint und derzeit mit welchen Urteilen in den Journalen gesehen wird. Wer die eingehenden Rezensionen lesen will, kann es in den ausgewerteten Monatsblättern tun. Es ist damit plötzlich möglich, Dutzende von Rezensionsorganen zu überschauen und von Hunderten Büchern in einer neuen gesamteuropäischen Perspektive auch die Reaktionen zu erfahren, die sie auslösen – ohne Polemik. Am Ende eines Bandes zu Aufsatzpraktiken sind es die Kupfer, die Hoffmann seinen Ausgaben voranstellte, die seine Kurzvorstellung interessant machen. Auf ihnen sieht man Aufsätze, die aus Büchern purzeln und ausgespien werden. Der sekundäre Diskurs gewinnt hier Visualisierungen – als ein Gaukelspiel, das ein Publikum befriedigt, das die Bücher selbst nicht lesen will, und als eine Praxis, die den primären Diskurs zum eigentlichen sekundären macht: Die Rezensenten sind es nun, die den Bücherschreibern die Flötentöne beibringen. Acht der Bildprogramme seien auf den folgenden Seiten beschrieben. Olaf Simons (Gotha)

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1. Stück, April 1714 Bild oben: Eine lustige Gesellschaft von Journalisten sitzt in offener Kutsche und lässt die Pferde antreiben: Habsucht, Neid, Ehrgeiz, Meinungen. „Mundus regitur opiniones“, die Welt wird von Meinungen regiert, verkündet ein Posaunist in der Ferne. Dem Wagen trotten zu Fuß die hinterher, die nur dem Ruhm folgen.

Bild unten: ein Diener schüttelt Rosenpuder aus einer Staatsperücke – ein Journalist schüttelt ein Buch aus, heraus fallen „Bibliothecarii“, „Extracte“, „Journale“, „Observationes“, „Acta“, „Famen“ – das Spektrum der aktuellen Angebote des sekundären Diskurses.



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3. Stück, Juni 1714 Bild oben: Herren unter Masken (die anonym schreibenden Journalisten) warten bei einem bebrillten Leser auf Audienz. „Mundus vult decipi“, die Welt will betrogen werden. – Bild unten: „Ergo decipitur“, also wird sie betrogen: Hinter einem Tisch der Journalist, Merkur reicht ihm von der einen Seite die „bona nova“, Nachrichten aus aller Welt, die er nach Ländern ordnet. Zur anderen händigt er der beflügelten Fama seine Journale aus.

4. Stück, Juli 1714 Auf einem Felsen steht die Gelehrsamkeit mit ihren Füßen auf dem Bauch der Autoritätshörigkeit, ein Monstrum, das die Viere von sich gestreckt hat. Unten am Fuß des Felsens: die Öffentlichkeit in vier Haufen von links nach rechts: mit Kanonen und einem Anführer der Despotismus Eruditorum, Knüppel schwingend die Stultitas Eruditorum, bereit, mit Steinen zu werfen, der Pedantismus Eruditorum, rechts: die Sancta Simplicitas, die Geistlichkeit mit Spießen und Hellebarden bewaffnet.

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5. Stück, August 1714 Bild oben: „Placide et Modeste“, genügsam und bescheiden folgt das Auditorium einer Theologievorlesung. – Mittleres Bild: „Sans Ceremonies“, schreien sich in Theaterposen zwei Journalisten an. – Unteres Bild: „Laudamus et Laudemur“, wir loben und werden gelobt: vor einem Zeremonienmeister findet ein Duell zweier Journalisten mit Fuchsschwänzen der Lobhudelei statt, die Füchslein springen umher.

7. Stück, Oktober 1714 Eine Wandertruppe gibt auf einem Marktplatz die Prahlerei der menschlichen Wissenschaften. Auf der Bühne: Eine fein gekleidete Dame, bereit, „alles zu tun“; ihr ebenbürtig ein Herr, der „alles weiß“. Ihr zu Diensten ein Kaufmann, bereit, ihr „alles zu verkaufen“. Das Publikum ist geteilt. Der eine Haufen, mehr dem Schauspiel des Affen folgend, der auf seinem Podest „alles nachmacht“, ist der der modischen Skeptiker: „Wir glauben wenig“. Vorne die, die „alles glauben“. Rechts dem Harlekin folgend, die Dritten. Dieser behauptet, er „sehe alles“, sie: sie „glaubten nichts“. Hinten auf der Bühne, dort, wo ein Thron stehen müsste, ein sich übergebender Journalist: „Ich rede von allem“.



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10. Stück, Januar 1715 Bild oben: Ein Mann versucht, einem Vogel im Käfig die Flötentöne beizubringen. Bild unten: ein Gelehrter sitzt mit Foliant im Käfig. Das Publikum ist mit schmaleren Druckschriften angekommen und bemüht sich, ihm die Wissenschaften zu diktieren.

12. Stück, 1715 „Die Arbeit der kommenden Jahrhunderte“ ist ein stattliches Haus, dessen Dachstuhl noch ungedeckt ist; auf der Fassade das Motto „Nova inventa“, neue Erfindungen. Im Vordergrund das alte Gebäude der Gelehrsamkeit, die sich der „Verehrung der Antike“ verpflichtete. Die einen Gelehrten lassen sich vom Papst den Segen erteilen, bevor sie in ihren gravitätischen schwarzen Kleidern den Weg zu dem unfertigen Neubau antreten. „Summus Aristoteles“, der Höchste ist Aristoteles, lautet der Segen, mit dem sie gehen. Leichtfüßig kommen die anderen voran, die ihre Kleider abwerfen und bekennen, die Antike zu verachten. Beide gelangen durch ihr je eigenes Tor in das Gebäude der zukünftigen Wissenschaft.

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15. Stück, 1715 Bild oben: Drei Männer in unterschiedlichen Kostümen, ein tanzender Harlekin zeigt auf das Spruchband: „Was sind das vor Moden?“ – Bild unten: In der Morgenrobe ein hoher Herr, dem Diener die Kleidung samt Perücke anbieten. Spruchband: „Es sind die neusten Moden.“

DISKUSSION

Ke˛ stutis Daugirdas Sascha Salatowskys Studie Die Philosophie der Sozinianer1

Der auf die italienischen Dissenters Lelio (1525–1562) und Fausto Sozzini (1539–1604) zurückgehende und das bisherige Christentumsverständnis tiefgreifend umformende Sozinianismus war seit seinem Aufkommen im ausgehenden 16. Jahrhundert eine überaus kontrovers diskutierte religiöse Erscheinung. Von allen etablierten Konfessionen intellektuell bekämpft und im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wegen seiner rationalisierend-historisierenden Kritik an dem Trinitätsdogma unter Strafe stehend, vermochte er lediglich in Polen-Litauen kirchlich-institutionelle Strukturen herauszubilden. Doch selbst in der vergleichsweise toleranten polnisch-litauischen Adelsrepublik, in der die Sozinianer zu Beginn des 17. Jahrhunderts etwa ein Prozent der Bevölkerung ausmachten, war die Blüte des Sozinianismus nicht von langer Dauer. Das um das Jahr 1602 eröffnete akademische Gymnasium der Sozinianer zu Raków und die Rakówer Druckerei wurden im Jahr 1638 per Sejmbeschluss geschlossen, die Sozinianer ihrerseits mussten zwanzig Jahre später, ebenfalls per Sejm­ beschluss, Polen-Litauen verlassen. Die kurze Zeitspanne, die dort der mehr oder minder ungehinderten öffentlichen Entfaltung des Sozinianismus gegönnt war, reichte dennoch aus, um sein Gedankengut über ganz Europa zu verbreiten. Die in Raków gedruckten Bücher drangen, von den sozinianischen Netzwerken vermittelt, über das Reich bis in die Niederlande und England vor, wo sie intensive öffentliche Debatten hervorriefen. Der Niederschlag, den jene Debatten im intellektuell-kulturellen Erbe Euro­ pas hinterließen, sorgte seit dem Aufkommen der historisch-kritischen Sozinianismusforschung im 19. Jahrhundert länderübergreifend für das Interesse an dem Gegenstand. In der deutschen, angelsächsischen, italienischen, niederländischen und polnischen Forschung gilt inzwischen als unbestritten, dass der Sozi1 Sascha

Salatowsky, Die Philosophie der Sozinianer. Transformationen zwischen Renaissance-Aristotelismus und Frühaufklärung, Stuttgart-Bad Cannstatt 2015 (Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie 18).

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nianismus mit seiner Betonung der Vernunft vor dem Glauben, der Zersetzung der traditionellen Dogmen inklusive des Erbsündengedankens und der Hervorhebung der Toleranzidee wichtige Weichen für die Aufklärung mit vorbereitete.2 Dieser allgemein geteilten Erkenntnis und der Fülle der Untersuchungen zum Trotz, gab es eine zusammenhängende Darstellung der Philosophie der Sozinianer gleichwohl bislang nicht. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Sozinianer ihre Philosophie nicht scharf von Theologie getrennt und sie, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, meist im Rahmen der theologischen Werke entfaltet bzw. instrumental eingesetzt hatten. Die vorliegende Monographie von Sascha Salatowsky stellt insofern den ersten Versuch dar, die Philosophie der Sozinianer in ihrer Ganzheit zu rekonstruieren. Der Versuch ist umso verdienstvoller, als der Autor historisch-kontextualisierend wie interdisziplinär verfährt: Die sozinianische Philosophie wird in Kontrastierung mit den parallelen philosophischen und theologischen Entwicklungen in den etablierten Konfessionen eruiert. Die Rekonstruktion der Philosophie der Sozinianer durch Salatowsky trägt ihrer spezifischen Verbindung mit Theologie Rechnung. Der Autor setzt sich zum Ziel, die sozinianische Philosophie und Theologie als Transformationsriemen zwischen Renaissance und Frühaufklärung aufzuzeigen. Im Wesentlichen bedeutet dies ein zweigleisiges Verfahren. Zum einen gilt es, die philosophische Anknüpfung der Sozinianer an den Renaissance-Aristotelismus wie auch ihre Umgestaltung der aristotelischen Denktradition zu erarbeiten. Zum anderen werden die für die philosophischen Debatten relevanten theologischen Denkelemente der Sozinianer analysiert, die über die katholischen und protestantischen Orthodoxien hinausgeführt und die in der Frühaufklärung nachgewirkt haben. Salatowsky geht davon aus, dass die sozinianische Philosophie und Theologie von der Klammer des metaphysischen (nicht: eliminativen) Materialismus zusammengehalten würden, der aus der spezifischen Bibelexegese der Sozinianer einerseits und ihrer heterodoxen Aristoteles-Lektüre andererseits resultiere.3 Bei der inhaltlichen Durchführung steuert er das angestrebte Ziel in drei Schritten an, die sich über vier Teile der Studie erstrecken. Die Teile 2. (Die Philosophie der Sozinianer) und 3. (Die ratio philosophandi Sociniana) dienen der Verortung der sozinianischen Philosophie im Aristotelismus und dem Aufzeigen der spezifisch sozinianischen Vorordnung der Vernunft vor dem Glauben. Teil 4. (Der philosophisch-theologische Materialismus) widmet sich der Umprägung des Materiebegriffs durch die Sozinianer, und Teil 5. (Eine Anthropologie für Sterbliche) zeichnet die weitreichenden Auswirkungen der Konkretisierung dieses Materiebegriffs auf der Ebene der anthropologischen Vorstellungen nach. 2 Vgl.

hierzu den Überblick über die bisherige Forschungsliteratur in: Kęstutis Daugirdas, Die Anfänge des Sozinianismus. Genese und Eindringen des historisch-ethischen Religions­ modells in den universitären Diskurs der Evangelischen in Europa, Göttingen 2016, 12–39. 3 Vgl. Sascha Salatowsky (wie Anm. 1), 54–56

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Den aristotelischen Charakter der Philosophie der Sozinianer macht Salatowsky vornehmlich an der habituellen Fassung ihres Wissenschaftsverständnisses fest. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auf die einschlägigen Aussagen in den Werken der bedeutenden Sozinianer Adam Gosławski (ca. 1577 – ca. 1642), Johannes Crell (1590–1633) und des lutherischen Angermünder Superintendenten Christoph Stegmann (ca. 1598–1646), den der Autor aufgrund seiner sozinianisierenden Ansichten ebenfalls dem Sozinianismus zurechnet.4 Wie die Forschung vor ihm, erblickt auch Salatowsky die Spezifik der ratio philosophandi Sociniana in dem paradigmatisch vollzogenen Wandel im Umgang mit religiösen Wahrheiten, welche die Sozinianer dem von der Erbsünde nicht tangierten Vernunftprimat unterworfen haben. Diesen sich allmählich vollziehenden Wandel, der von Fausto Sozzini initiiert und von Joachim Stegmann d. Ä. (1595–1633) sowie Andreas Wiszowaty (1608–1678) in deren Werken Brevis disquisitio (gedruckt: 1633), De iudice et norma controversiarum fidei (Erstauflage: 1644) resp. Religio rationalis (Erstauflage: 1685) vollendet worden sei,5 verdeutlicht der Autor mittels des Abgleichs des sozinianischen Standpunkts mit demjenigen der lutherischen Tradition (Martin Luther [1483–1546], Balthasar Meisner [1587–1626], Johann Gerhard [1582–1637], Andreas Kessler [1595–1643] u. a.). An die Arbeiten von Zbigniew Ogonowski, John Marshall, Robert E. Sullivan und Maria Rosa Antognazza präzisierend anknüpfend6 und sich mit Jonathan Israel kritisch auseinandersetzend,7 verfolgt Salatowsky anschließend minutiös die Wirkungen der sozinianischen Vorordnung der Vernunft vor dem Glauben bis in die Gedankenwelt der Frühaufklärer John Locke (1632–1702), John Toland (1670–1722) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) hinein. Hierbei plädiert er für eine wesentliche Beeinflussung Lockes und Tolands durch die sozinianische Positionierung. Der späte Leibniz wird hingegen als „ein Gelehrter im Konflikt“ beschrieben, der zwar den von den Sozinianern ausgelösten Rationalisierungsschub durchaus positiv bewertet habe, aber letztlich der lutherischen Bestimmung der rational nicht unmittelbar erschließbaren Glaubensmysterien verhaftet geblieben sei.8 4 Vgl.

ebd., 60–68, bes. 63. ebd., 130–153 und 233. 6 In diesen Abschnitten wertet Salatowsky verstärkt folgende Werke und Aufsätze aus: Zbigniew Ogonowski, Der Sozinianismus und die Aufklärung, in: Paul Wrzecionko (Hg.), Reformation und Frühaufklärung in Polen. Studien über den Sozinianismus und seinen Einfluss auf das westeuropäische Denken im 17. Jahrhundert, Göttingen 1977, 78–156; John Marshall, John Locke. Resistance, Religion and Responsibility, Cambridge 1994; Robert E. Sullivan, John Toland and the Deist Controversy. A Study in Adaptions, Cambridge/Massachusetts, London 1982; Maria Rosa Antognazza, Leibniz on the Trinity and the Incarnation, New Haven, London 2007. 7 Die Kritik Salatowskys gilt insbesondere Jonathan Israel, Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670–1750, Cambridge 2001. 8 Vgl. Salatowsky (wie Anm. 1), 186–231 und bes. 233 f. 5 Vgl.

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Dem ersten inhaltlichen Schritt vergleichbar, konzentriert sich die im zweiten Schritt vollzogene innovative Analyse der Umprägung des Materiebegriffs durch die Sozinianer zunächst auf dessen Einordnung in die vielfältige aristotelische Denktradition. Um den strukturellen Blick für die sozinianische Leis­ tung freizulegen, erarbeitet Salatowsky mittels der Unterscheidung zwischen dem heterodoxen Aristotelismus eines Simone Porzio (1496–1554) und dem orthodoxen Aristotelismus eines Benedict Pereira (1536–1610) die große Bandbreite im zeitgenössisch-aristotelischen Verständnis der (ersten) Materie, das ihr sowohl das ewige Sein (Porzio) als auch die Erschaffung aus dem Nichts (Pereira) attestieren konnte.9 Vor diesem Hintergrund wird daraufhin der teils heterodox, teils orthodox gestaltete Materiebegriff des sozinianisch gesinnten Altdorfer Medizin- und Philosophieprofessors Ernst Soner (gest. 1612) erörtert, dem der Autor, in Abgrenzung von den Forschungsergebnissen des marxistischen Philosophiehistorikers Hermann Ley, keinen Materialismus im Sinne eines das Denken bestimmenden Prinzips bescheinigt.10 Ähnlich wird auch der Materiebegriff des ehemaligen Soner-Schülers, Johannes Crell, beurteilt, der in einem seiner Zentralwerke – De Deo et attributis eius (Erstauflage: 1630) – die heterodoxen Tendenzen seines Lehrers ausgeschieden und die Möglichkeit einer denkenden Materie explizit ausgeschlossen habe.11 Von den gedruckten Werken der Sozinianer beinhaltet der Studie zufolge nur das einflussreiche Werk des Sozinianers Johannes Völkel (ca. 1560–1618), die Libri quinque (Erstauflage: 1630), den heterodox-aristotelischen Materiebegriff, der dort im Zusammenhang mit der Auslegung von Gen 1,1 f., Weish 11,17 und 2. Makk 7,28 punktuell zum Vorschein kommt.12 Anders sieht die Lage in der handschriftlich überlieferten Metaphysica repurgata des bereits erwähnten Christoph Stegmann aus: In jenem Manuskript habe Stegmann nicht nur die Gleichewigkeit der Materie mit Gott postuliert, sondern jedem Seienden, also auch Gott, Materialität zugeschrieben, womit der (heterodoxe) Aristotelismus insofern radikal umgestaltet worden sei, als die Materie die Form als Seins-bestimmendes Prinzip ersetzt habe.13 Abschließend geht Salatowsky auf die seiner Meinung nach schwach begründete Kritik ein, die Leibniz an dieser radikalen Auffassung geübt hat – der deutsche Gelehrte kannte die Metaphysica repurgata dank der Vermittlung durch den Spätsozinianer Samuel Crell (1660–1747), welcher der Konzeption Stegmanns ebenfalls kritisch gegenüber stand. Aufgezeigt wird außerdem die Distanzierung, mit der Locke den ihm geläufigen Materiebegriff Völkels begegnet ist, wobei der Autor die interessante These aufstellt, dass der englische Philosoph die in seinem Essay concernig human understanding vorge  9 Vgl.

ebd., 244–266, bes. 260 f. ebd., 290 f. 11 Vgl. ebd., bes. 309. 12 Vgl. ebd., 292–294. 13 Vgl. ebd., 316 und 322. 10 Vgl.

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nommenen Ausführungen zur thinking matter mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Studium von Johannes Crells Werk De Deo et attributis eius zu verdanken habe.14 Der letzte, dritte inhaltliche Schritt der Studie dient der Erschließung der Spezifika der trichotomischen Anthropologie der Sozinianer (spiritus, anima, corpus), bei der das besondere Augenmerk der sozinianischen Vorordnung des spiritus-Begriffs vor dem anima-Begriff einerseits und der damit eng verbundenen These von der natürlichen Sterblichkeit des menschlichen Leibes inklusive der Seele andererseits gilt. Vornehmlich an die Arbeiten von Ann Thomson, Bryan W. Ball und Nicholas Jolley anknüpfend,15 tritt Salatowsky einen ausführlichen Nachweis an, dass die materialistisch geprägte Anthropologie der Sozinianer einen wesentlichen Beitrag zur Mortalismusdebatte der Frühaufklärung geleistet hat. Die Anfänge der sozinianischen Auffassung von der natürlichen Mortalität der menschlichen Seele verortet er präzise in der Auseinandersetzung Sozzinis mit Francesco Pucci (1543–1597), aus der das 1578 abgeschlossene, aber erst 1610 posthum veröffentlichte Werk Disputatio de statu primi hominis ante lapsum hervorging. Auch in diesem Teil der Studie wird die sozinianische Lösung strukturell aus der Verbindung von heterodoxer Auslegung der zentralen biblischen Stellen, wie etwa Pred 12,7, mit einer bestimmten Lesart der aristotelischen Psychologie (Alexander von Aphrodisias) abgeleitet.16 Der entscheidende Fortschritt in der systematischen Ausformulierung der sozinianischen Anthropologie gelang laut Salatowsky allerdings nicht Fausto Sozzini, sondern erst Johannes Völkel und Johannes Crell: In ihren Werken Libri quinque und Commentarius in priorem Pauli epistolam ad Corinthios (Erstauflage: 1635) sei die aus dem Festhalten an der Mortalität der Seele notwendig resultierende Frage, was denn die Kontinuität der Identität des Menschen im Fall der Auferstehung gewährleiste, mit dem elaborierten Verweis auf den unvergänglichen spiritus beantwortet worden – ein Sachverhalt, den der Autor als einen fundamentalen Wandel in der Psychologie der Frühen Neuzeit einstuft.17 Spuren dieser Anthropologie, der Christoph Stegmann auf die ihm charakteristische Weise eine konsequent materialistische Note verlieh – er unterstellte dem spiritus eine materielle Substanz –, weist Salatowsky abschließend in den analogen Anschauungen Lockes nach.18 14 Vgl.

ebd., 324, 335, 344 f. Ann Thomson, Bodies of Thought. Science, Religion, and the Soul in Early Enlightenment, Oxford 2008; Bryan W. Ball, The Soul Sleepers. Christian Mortalism from Wycliffe to Priestley, Cambridge 2008; Nicholas Jolley, The relation between theology und philosophy, in: Daniel Garber, Michael Ayers (Hg.), The Cambridge History of Seventeenth-Century Philosophy, Bd. 1, Cambridge 1998, 363–392. 16 Vgl. Salatowsky (wie Anm. 1), 369 f und 379–382. 17 Vgl. ebd., 401–405. 18 Vgl. ebd. 425 f und 451 f. 15 Vgl.

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Will man nun die in dieser vielschichtigen und auf reichem Quellenmaterial beruhenden Studie erbrachte wissenschaftliche Leistung adäquat beurteilen, muss man auf eine breitere Palette an Kriterien zurückgreifen und mehrere Punkte herausstreichen, die für die Sozinianismus- wie für die Aufklärungsforschung von Gewicht sind. Zuallererst ist darauf hinzuweisen, dass die von Salatowsky erzielten Ergebnisse die Bedeutung der langfristigen ideengeschichtlichen Prozesse freilegen, die eine geläufige zeitliche Ansetzung des Beginns der Frühaufklärung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (ab etwa 1680) einmal mehr relativieren. In der Studie wird überzeugend nachgewiesen, dass wesentliche aufklärerische Elemente, wie etwa die Vorordnung der Vernunft vor dem Glauben und eine neuartige Anthropologie, bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in voller Entfaltung vorkommen und dass ihre Urformen bisweilen in das ausgehende 16. Jahrhundert zurückreichen. Alsdann verdient Salatowskys Hervorhebung der Rolle, die der heterodoxe Aristotelismus in der umprägenden Handhabung der Sozinianer bei der Vorbereitung der aufklärerischen Positionen spielte, eine besondere Aufmerksamkeit. Schaut man sich die in der Studie geschilderte Überführung der heterodoxaristotelischen Positionen in den metaphysischen Materialismus aus der übergreifenden Perspektive an, wird man eines folgenden Sachverhalts gewahr. Eigentlich bleibt der auf dem heterodox-aristotelischen Gedankengut aufbauende materialistische Trend eine Minderheitenposition unter den Sozinianern. Punktuell vertreten wird er nur von Johannes Völkel, und im vollen Sinn entfaltet ihn Christoph Stegmann – ein Gelehrter, der, im Unterschied zu seinem Bruder Joachim, zum Sozinianismus nicht formal konvertiert, sondern in der lutherischen Kirche bis an sein Lebensende verblieben ist. Zieht man in Betracht, dass ähnlich „materialisierende“ Tendenzen bei dem von dem sozinianischen Gedankengut beeinflussten, aber zum Sozinianismus ebenfalls nicht konvertierten reformierten Steinfurter Theologen Konrad Vorstius (1569–1622) anzutreffen sind,19 auf den in der Studie nicht näher eingegangen wird, stellt sich die Frage, wie der von Salatowsky beobachtete metaphysische Materialismus insgesamt einzuordnen ist: Ist er eine genuin sozinianische Leistung oder aber das Ergebnis des Transfers bestimmter sozinianischer Anliegen in den von aristotelischer Philosophie resp. Metaphysik durchtränkten Wissenschaftsdiskurs, wie er in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Reich geführt wurde? Schließlich regt die Studie Salatowskys zu theologie- und philosophiegeschichtlich gleichermaßen relevanten Überlegungen an, inwieweit die sozinianischen Positionen diejenigen der protestantischen Orthodoxie(n) beeinflusst haben. Bei seiner präzisen Ausarbeitung der Differenzen, die zwischen den 19 Christoph

Stegmann vergleichbar, konnte Konrad Vorstius Gott eine gewisse Körperlichkeit und Materialität zuschreiben. Vgl. Konrad Vorstius, Tractatus theologicus de Deo, Steinfurt 1610, 201 und 210.



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philosophisch-theologischen Ansichten der Sozinianer und den orthodoxen Stellungnahmen insbesondere im damaligen Luthertum bestanden, hebt Salatowsky nämlich zu Recht die massiven Abgrenzungsbemühungen der restlichen Protestanten von den sich auf das protestantische Prinzip der sola scriptura vielfach berufenden Sozinianer hervor. Die Zielsetzung und die Anlage der Studie erlauben freilich dem Autor nicht mehr, die Auswirkungen jener Auseinandersetzung mit dem sozinianischen Gedankengut einer ausführlicheren Betrachtung zu unterziehen und auf die Frage einzugehen: Blieb die Aufarbeitung der sozinianischen Herausforderung lediglich negativ-exkludierender Natur oder wurde(n) die protestantische(n) Orthodoxie(n) letztlich zu Orthodoxie(n), indem sie den Sozinianismus als eine Heterodoxie identifizierten und, seiner gemeinprotestantischen Wurzeln gewahr geworden, diese wissenschaftstheoretisch neu justierten? Die Tatsache, dass sich all diese Fragen bei der Lektüre der anregenden Studie ergeben, zeugt davon, dass es Salatowsky gelungen ist, wesentliche und bislang nicht in aller gebührenden Tiefe erschlossenen ideengeschichtlichen Entwicklungen in Europa aufzuspüren und zu thematisieren. Seine Monographie stellt zweifelsohne einen gewichtigen Beitrag zur Erforschung der auf den ersten Blick nicht immer eindeutig sichtbaren, aber im Endeffekt hochwirksamen ideellen Strömungen dar, die in den breiten Fluss der Aufklärung mündeten und ihn auf ihre Weise mitvorbereiteten. Die Studie ist daher jedermann unbedingt zu empfehlen, der an tieferem Verständnis der Gedankenwelt des 17. Jahrhunderts und der Genese des (früh-)modernen europäischen Bewusstseins interessiert ist. PD Dr. Kęstutis Daugirdas, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Alte Universitätsstr. 19, 55116 Mainz, E-Mail: [email protected]