Aufklärung, Band 6/1: Lesekulturen im 18. Jahrhundert 9783787334940, 9783787341795

Gegenstand des Jahrbuches Aufklärung« ist die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Der Gedank

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Aufklärung, Band 6/1: Lesekulturen im 18. Jahrhundert
 9783787334940, 9783787341795

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AUFKLÄRUNG Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Günter Birtsch, Karl Eibl, Norbert Hinske, Rudolf Vierhaus

Jahrgang 6, Heft 1, 1992

Thema: Lesekulturen im 18. Jahrhundert Herausgegeben von Hans E. Bödeker

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M B U RG

Unverändertes eBook der 1. Aufl. von 1992. ISBN 978-3-7873-1068-5·  ISBN eBook 978-3-7873-3494-0  ·  ISSN 0178-7128

© Felix Meiner Verlag 1992. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber­rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.  www.meiner.de/aufklaerung

INHALT

Einleitung

„..

3

Mechthild Raabe: Wolfenbütteler Schulalltag und Schülerlektüre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .

5

Ursula A.J.Becher: Lektürepräferenzen und Lesepraktiken von Frauen im 18. Jahrhundert ... .... .... ... .......... .. ............. ... ................ .... ... .. .... ..... ........ .... .....

27

Otto Dann: Eine höfische Gesellschaft als Lesegesellschaft .... „„„ ... „...........

43

Hans Medick: Ein Volk "mit" Büchern. Buchbesitz und Buchkultur auf dem Lande am Ende der Frühen Neuzeit: Laichingen 1748-1820 „ ..... „ .. „. „ ..... „.........

59

Hans Erich Bödeker: Die Bibliothek eines Aufklärers: Georg Forster ........ „...

95

Hans Erich Bödeker: Lesekulturen. Anmerkungen zum Forschungsthema

„ ..

Abhandlungen

Kurzbiographie Johan van der Zande: Johann Georg Schlosser (1739-1799)

125

Diskussionen und Berichte Carsten Zelle: Das 18. Jahrhundert jenseits der Aufklärung ... „......... ........... Carsten Zelle: Volk - Nation - Vaterland ... „ .. „ ......... „

........... ... . .. .....

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„.. 135

Rezensionen .. ...... ......... .. .... ........................................................... ....

137

AUFKLÄRUNG ISSN 0178-7128. Jahrgang 6, Heft 1. 1991. ISBN 3-7873-1068-1 Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhundens und seiner Wirkungsgeschichte. In Verbindung mit der Dcutsehen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhundcns herausgegeben von Günter Binsch. Karl Eibl, Klaus Geneis. Norben Hinske, Rudolf Vierhaus Redaktion: Prof. Dr. Klaus Geneis, Universität Trier. Fachbereich UJ - Gcscbicbte, Postfach 3825. 5500 Trier. Telefon (0651) 201-2200 C> Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1992. Printed in Germany. - Gedruclu mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberre Felix Meiner Verlag , 1991 , ISSN 0178-7128

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Mechthild Raabe

micum (1750) geführt hatten, wirkten sich auch auf die Verbesserung des übrigen Schulwesens aus. Eine Reihe von Schulordnungen und neuen gesetzlichen Vorschriften lassen den Einfluß der aufgeklärt-bürgerlichen Tendenzen erkennen. Zunächst ging es um die Errichtung von Schullehrerseminaren zur Verbesserung des schlechten Ausbildungsniveaus der Lehrer, die 175 l in Braunschweig und 1753 in Wolfenbüttel gegründet wurden. 1753 wurde eine allgemeine Landschulordnung erlassen, und es wurde versucht, unter dem Einfluß des erfolgreichen haJJeschen Modells in einigen Städten Realschulen einzurichten, die den Unterricht ganz auf die Vermittlung praktischer und nützlicher Kenntnisse konzentrieren sollten. In den Gelehrtenschulen Helmstedt, Holzminden und Schöningen wurden die als überholt erkannten Unterrichtspläne durch modernere ersetzt. Auch an eine zentrale Verteilung der in der braunschweigischen Waisenhausdruckerei überarbeiteten und neu herausgegebenen Schulbücher wurde gedacht und die Einführung einer Art „Reifeprüfung" für den Abgang der Schüler auf die Universität (1752) vorgesehen. 1 Die allgemeine ungünstige Finanzlage des Landes, die sich während des Siebenjährigen Krieges katastrophal verschlechterte, behinderte die Reformversuche der fünfziger und sechziger Jahre. So blieben sowohl die Lehrerausbildung als auch die realen Verhältnisse an den Schulen erheblich hinter den beabsichtigten Reformen zurück. 1786 setzte Herzog Carl Wilhelm Ferdinand (1781-1804) ein staatliches Schuldirektorium ein, dem neben Karl August von Hardenberg der bekannte Philanthrop und Jugendschriftsteller Joachim Heinrich Campe, Johann Stuve und Ernst Christian Trapp angehörten. Ziel dieses Direktoriums war es, angeregt durch die Gedanken der Basedowschen pädagogischen Prinzipien, eine umfassende Reform des gesamten Schulwesens durchzuführen und die oberste Schulaufsicht von der bisher kirchlichen auf eine nunmehr staatliche Leitung zu übertragen. Daß diese weit vorausschauenden, mutigen Reformversuche scheiterten, lag vor allem am starken Widerstand des Konsistoriums und breiterer Teile der Landstände. Das 1786 gegründete Schuldirektorium mußte schon 1790 wieder aufgelöst werden. Zusammenfassend ist festzustellen, daß den vom besten aufgeklärten Geist getragenen Ideen und Vorstellungen, die in die Gesetze und Verordnungen eingeflossen waren, im Schulalltag des Landes, bis auf wenige Ausnahmen, kein Erfolg beschieden war. „Es ist traurig", so heißt es in einem Visitationsbericht aus dem Jahr 1795, „daß die vortrefflichen Gesetze, welche Fürstliche Schul-Ordnung dagegen gibt, so ganz schlafen. Prediger und Superintendenten können, so wie die Sachen stehen, nicht mehr tun, als ermahnen, allein sie werden damit immer weniger ausrichten, wenn ihnen nicht geholfen, und wenn nicht von allen Seiten, nach höchster Vorschrift verfahren wird. "2

t Karl Kehrbach (Hg.), Monumenta Germaniae Paedagogica, Bd. 8: Friedrich Koldewey (Hg.), Braunschweigische Schulordnungen, Bd. 2, Berlin 1890, S. 272 ff. 2 Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel (Nds. StaatsA. Wf.) Konsistorialakten 14 Alt Fb 1 Nr. l, 38.

Wolfenbütteler Schulalltag

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II.

Während man 1745 in Braunschweig den Lehrplan für das Collegium Carolinum aufstellte und neben den althergebrachten Fächern der Bibel- und Katechismus-Übungen und den alten Sprachen nun auch Unterricht in neueren Sprachen, Zeichnen, Malen, Tanzen, Fechten, Werken, Drechseln und Glasschleifen einführen wollte, wurde in Wolfenbüttel ein Visitationsbericht bekannt, der sich noch immer an der Schulordnung von 1707 orientierte. 3 Die Lateinschule, deren Anfänge in das 16. Jahrhundert zurückgehen, war seit 1705 in einem neuen Gebäude in der Kommisse untergebracht. Damals waren die Schulverhältnisse so beschaffen, daß in der fünfklassigen Gelehrtenschule noch ein zusätzlicher Lehrer eingestellt werden mußte, „da der Anwachs der Jugend" in der „Heinrichstädtischen Schule" die Einstellung eines neuen Kollegen erforderte. 4 Der Visitationsbericht von 1745 spricht dagegen von gravierenden Mängeln, ungeheizten, verwahrlosten Klassenräumen, unpünktlichem Unterricht, willkürlich angesetzten Ferien- und Feiertagen und Disziplinschwierigkeiten. Das aufsichtführende Gremium war sich einig, daß der amtierende Rektor Coordes zu „alt und schwach" sei und durch eine neue, qualifizierte Kraft ersetzt werden müsse. Johann Christoph Dommerich, 1747 nach Wolfenbüttel berufen , gehörte zu den konservativ gebildeten gelehrten Theologen. Energisch versuchte er, den Zustand der Anstalt zu verbessern, das Ansehen der Schule zu heben, den Einfluß der Privatschulen, die damals eine starke Konkurrenz waren, zurückzudrängen, indem er ein besseres Lehrangebot aufstellte und neue Lehrer einsetzte. In der Trauerrede auf seinen Vorgänger führte er 1753 seine Vorstellungen von den Aufgaben der Schullehrer aus: „Sie geben Anweisung zur Frömmigkeit. Sie ermahnen zur Tugend und einem gottesfürchtigen Wandel. Sie bilden künftige Bürger. Sie klären den Verstand der Menschen auf, erfüllen ihn mit den nützlichsten Wissenschaften, und vertreiben alle Unwissenheit, Irrtümer und Vorurteile. Sie machen gesittete Menschen und steuern der angebornen und erlangten Unart. Sie pflanzen in die zarten Gemüter die vortrefflichsten Grundsätze der rühmlichsten Unternehmungen. Sie sind also bei dem vernünftigen Teil der Welt jederzeit doppelter Ehre wert [. .. ] Ich behaupte, verdiente Schullehrer dienen der Welt noch nach ihrem Tode in denen von ihnen gebildeten Menschen, durch ihre Schriften und durch ihr nachahmungswürdiges Exempel. " 5 Neben seiner amtlichen Tätigkeit beschäftigte Dommerich sich mit der Geschichte der Schule, die er später unter dem Titel: „Historia Scholae Ducalis Wolfenbuttelensis" in

Nds. StaatsA. Wf. Akten d. Geh. Rates 2 Alt 16028. August Friedrich Wilhelm Leiste, Zu der dritten Secularfeier der Reformation auf der Herzoglichen Großen Schule zu Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 1817, S. 16. s Johann Christoph Dommerich, Daß verdiente Schulmänner mit Recht können unsterblich genannt werden. Trauerrede auf J. D. Coordes, Wolfenbüttel 1753. 3 4

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Mechthild Raabe

lateinischer Sprache veröffentlichte. Er beantragte bei der vorgesetzten Behörde, daß man die Schule wieder „Gymnasium" nennen dürfe, da bereits 1614 in einer Rede, die er auf der Fürstlichen Bibliothek eingesehen habe, die Anstalt als Gymnasium erwähnt sei. Dieser Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, daß „zu wenig Frequenz da sei, weil es hier an beneficiis ( ... ) fehlet und die Leute ihre Kinder lieber nach Braunschweig oder nach Schöningen als in hiesige Schule schicken" .6 Dommerich fühlte sich herausgefordert. Seit 1750 gab er gedruckte Vorlesungsprogramme heraus, in deren Vorreden er sich mit allgemeinen Problemen der Schule in der Gesellschaft auseinandersetzte. Dabei standen neben den üblichen Dankesfloskeln an den Herzog die Interessen der Bürger im Vordergrund . Er stellte Betrachtungen an über das Verhältnis der Eltern zur Schule und deren Aufsichtspflicht den Kindern gegenüber: „Daß sie die Kinder zur gesetzten Zeit in die Schule schicken [... ) und es nicht an den nötigen Büchern fehlen lassen. " 7 Er beklagte das mangelnde Interesse der Stadtbewohner an den öffentlichen Schulprüfungen und appellierte an die Gesellschaft, die „Wichtigkeit der Schulämter zu erkennen und durch milde Stiftungen das Beste der Schulen zu befördern". Auch der Unterrichtsplan wurde verändert. Zu den Grundlagen im Rechnen, Lesen und Schreiben kamen praktische kaufmännische Übungen, wie die Prozentrechnung, das Ausfertigen von Fracht- und Wechselbriefen, das Ausstellen von Quittungen etc. hinzu. Neben J. Hübners 'Biblischen Historien' wurden seine 'Genealogischen Tabellen' und die 'Fragen an die politische Historie' eingeführt, M. V. La Croz' 'Allgemeine Weltgeschichte', J. J. Schatz' 'Erdbeschreibung' ergänzten das bisherige Unterrichtsangebot, und auch die Unterweisung in französischer Sprache konnte auf den Lehrplan gesetzt werden. Das 1754 während einer Schulfeier stattgefundene 'Gespräch zwischen zwei Schülern der 4. Klasse über gelehrte Kaufleute' legt Zeugnis davon ab, welche Bevölkerungsgruppe hier angesprochen werden sollte. Auch die 'Rede von den Merkwürdigkeiten der Insel Sumatra', gehalten von dem Kaufmannssohn H. C. Langerjahn, der dort geboren war, zeigt die Aufgeschlossenheit, mit der Geschichte und Geographie unterrichtet wurden.s Obleich die allgemeinen Lebensverhältnisse in Wolfenbüttel seit dem Fortgang des Hofes beeinträchtigt waren, entwickelte sich die Große Schule seit Dommerichs Amtsantritt (1748) erfreulich. Trotz langsam abnehmender Einwohnerzahl gab es 1756 an der Lateinschule 33 Primaner. Nach dem Kriegsausbruch hatte die Stadt nicht nur finanziell zu leiden, sie wurde 1761 nach mehrtägigem Bombardement sogar von den Franzosen besetzt. Das machte sich auch im Schulalltag bemerkbar. Die Lehrer klagten über die „schlechte Münze" (1758), die den

6 Nds. StaatsA. Wf. 2 Alt 16028. 7 Archiv der Großen Schule Wolfenbüttel , Anzeige der Vorlesungen und Übungen in der hochfürstlichen Schule zu Wolfenbüttel, 1755 ff. s G. T. A. Krüger, Die Primaner-Arbeiten gegen Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts, Braunschweig 1860.

Wolfenbütteler Schulalltag

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Chor- und Kurrende-Sängern in die Sammelbüchsen gelegt wurden. Von diesen mildtätigen Gaben und den Freitischen mußten die bedürftigen Schüler ihren Unterhalt bestreiten. Wie sich die Bedrängnisse der Besatzungszeit in den Augen der Schüler spiegelten, kann man in dem Primaneraufsatz: 'Oratio de memorabilibus in patria a Gallis occupata gestis' nachlesen, der damals in Wolfenbüttel geschrieben wurde. 9 Als Dommerich 1759 auf einen Lehrstuhl an die Universität Helmstedt berufen wurde, übernahm Jakob Friedrich Heusinger (1719-1778), der als klassischer Philologe zahlreiche Texte bearbeitet und ediert hatte, die Leitung der Schule. Er befand sich als Rektor ebenso wie auch die Gymnasialdirektoren des Martineum und Katharineum in Braunschweig in ständiger Konkurrenz zu dem von dem Herzog besonders geförderten und erfolgreichen Collegium Carolinum. Um die Abwanderung der Schüler nach Braunschweig zu verhindern, mußte er die Öffentlichkeit auf die Schulprobleme aufmerksam machen, den Unterrichtskanon erweitern und interessanter gestalten. In den Vorreden zu den Schulprogrammen versuchte Heusinger, der Öffentlichkeit zu beweisen, daß die Gelehrtenschulen keine "leeren Marterbänke" zum sturen Vokabellernen seien, vielmehr das Ziel verfolgten, durch den Unterricht die jungen Menschen zu guten und verantwortungsvollen Staatsbürgern zu erziehen. Dabei legte er auch Wert auf die Gleichstellung aller Schüler, ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Standes. " Die Schulen stehen vornemen und geringen offen, und jene haben sich vor diesen darin keinen andern Vorzug zu versprechen, als den ihnen ihre Auffürung und ihr Fleiß erteilen" (1753). Besonders begabten Schülern aus ärmlichen Verhältnissen wurden sogar Stipendien aus der fürstlichen Kasse gewährt. Sie standen unter der besonderen Aufsicht des Rektors. Nicht immer erfüllten diese Kinder die Erwartungen, die in sie gesetzt wurden. So wird von Johann Eberhard Friedrich Schumacher, dem Sohn eines Flickschusters aus Königslutter berichtet, daß er ein "liederliches Leben" geführt habe, heimlich nach Hamburg entwichen sei und von dort her geschrieben habe, daß er nicht gesonnen sei, nach Wolfenbüttel zurückzukehren und seine Studien fortzusetzen. 10 Nach mancherlei Irrwegen fand dieser aktenkundig gewordene "Schulversager" später doch noch seinen Weg auf die Helmstedter Universität. Es war bekannt, daß der Ausbildungsstand der Lehrer sehr zu wünschen übrig ließ . Im allgemeinen gingen die jungen Theologen nach dem Studium so lange als Lehrkräfte an die Schulen, bis sie eine Pfarre zugewiesen bekamen. Es fehlte ihnen daher an jeglicher pädagogischer Ausbildung, und ihre Bezahlung war dementsprechend schlecht. Erst 1789 wurde an der Universität in Helmstedt das erste philologisch-pädagogische Institut gegründet, das sich der Ausbildung der Lehrer widmen sollte und an dem sie "ihre Talente zu dem Erziehungsgeschäft von den Schulwissenschaften nachweisen mußten" . 11 Heusinger griff das Pro-

9 Ebd.

10 Nds. StaatsA. Wf. 2 Alt 16042. 11 Friedrich Koldewey , Geschichte des Schulwesens im Herzogtum Braunschweig, Wolfenbüttel 1891, S. 170.

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blem in einem Vortrag ' Von einem Mittel, wodurch der Mangel an Schullehrern einigermassen könnte verbessert werden' (1763/64) auf, er entwickelte auch methodische Lernhilfen für die Schüler, verlangte Eingangsprüfungen für neu aufzunehmende Kinder und setzte Maßstäbe für die "Reifeprüfung" der Primaner, die auf die Universität gehen wollten. Dieses pädagogische Programm spiegelte sich in den Schülerarbeiten, die in jedem Halbjahr öffentlich vorgetragen wurden . 1774 hielt der Rektor eine lateinische Rede: „ Was dazu erfordert werde, daß ein Schüler zur Akademie reif sei", und der Schüler Mümler antwortete mit: „Einige Pflichten eines Jünglings, der nach zurückgelegten Schuljahren auf Universitäten zu gehen gedenkt." Den qualifizierten Ausbau der naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächer hatte man vor allem Christian Leiste (1738 - 1815) zu verdanken, der 1766 als Konrektor nach Wolfenbüttel berufen worden war und nach Heusingers Tod 1778 das Rektorat der Schule übernahm. Er hatte in Halle Theologie, Philosophie und vor allem Mathematik studiert und auch am dortigen Pädagogium unterrichtet. Sein pädagogisches Programm formulierte er 1772: „Man ist in unsern Tagen überzeugt, daß die Naturlehre eine der ersten Wissenschaften sey, die der Jugend müsse bekannt gemacht werden; und zwar nicht bloß wegen des Nutzens, den sie im gemeinen Leben und in allen Ständen der Menschen hat, sondern auch deßhalb, weil sie sich mit lauter in die Sinne fallenden Dingen, davon alle unsere Begriffe müssen abgeleitet werden, beschäftigt. Dieß letzte setzt aber voraus, daß der Unterricht [... ) mit Versuchen verknüpft werden müsse, die die Würkung der Natur den Sinnen darstellen, und dazu gehören Instrumente, besonders wenn man unter den Versuchen allemahl diejenigen machen will, welche die vorgetragenen Lehr-Sätze am besten bestätigen. Der Mangel solche[r] lnstrumente macht den öffentlichen Vortrag dieser Wissenschaft auf Schulen gemeiniglich unmöglich. Weil aber dennoch verschiedene unserer Schüler ein Verlangen äusserten, in dieser Wissenschaft einige Anweisung zu bekommen: so habe ich mir zu ihrem Privat-Unterricht einen Vorrath physicalischer Instrumente angeschafft, den ich zu allen nützlichen und lehrreichen Versuchen dieser Art für hinreichend halte." Neben den mathematischen und naturkundlichen Fächern sollte fortan auch besonderes Gewicht auf die Pflege der deutschen Sprache gelegt werden. Ein Schüler entwickelte während einer Prüfung, „daß das Studium der deutschen Sprache dem künftigen Gelehrten nothwendig sey" (1783), ein anderer empfahl „dem künftigen Theologen das Studium der Schönen Wissenschaften" (1789/90). Das Vorlesen von deutschen Büchern wurde zur „Bildung des Geschmacks und der Moralität" (1796) herangezogen, deutsche Stil- und Rhetorik-Übungen eingeführt, über den „Nutzen der deutschen Lektüre" (1781182) und über den „Einfluß der Schönen Künste auf das Leben" (1796) diskutiert. Rezitationen von Gedichten, Idyllen und Fabeln zeitgenössischer Schriftsteller - Gellert, Hagedorn, Haller, Ramler und Zachariae waren besonders beliebt - neben dem Vortrag der klassischen Autoren wurden eingeführt, wobei Lessings Stiefsöhne Engelbert und Friedrich König sich öfter hervortaten. Moralphilosophische Dialoge über die „Bedeutung der Träume" (1783), „von den Reizen der Einsamkeit" (1782), „von der Genügsamkeit" (1782)

Wolfenbütteler Schulalltag

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oder „vom Nachtheil aus dem Romanlesen für Jünglinge" (1781/82) und „ob die Welt wirklich immer schlechter werde" (1790/91) sind Ausdruck für den modernen, aufklärerische Ideen und aktuelle Probleme aufgreifenden Unterrichtsstil. Auch der fremdsprachliche Unterricht wurde erweitert. Im Französischen las man neben den Übersetzungen der klassischen Texte Anthologien französischer Texte und Werke von Corneille und Voltaire. Das Englische wurde in den neunziger Jahren eingeführt, L. Sternes 'Yoricks Sentimental Joumey', J. Thomsons 'Seasons', Shakespeares 'Lear' und andere werden als Lesestoff genannt. Die Diskussion der Schüler über die" Vorteile der Monarchie vor den übrigen Regierungsformen" (1782) oder die Frage nach der Überlegenheit nordischer Völker über die südlichen gibt einen Einblick in die Themenwahl der geschichtlichen und geographischen Unterrichtsfächer. Christian Leiste experimentierte und publizierte seine Forschungsergebnisse. Er arbeitete auch mit dem fürstlichen Bibliothekar Gotthold Ephraim Lessing zusammen an der Herausgabe der Bibliothekszeitschrift: „Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel". Seine eigene umfangreiche Bibliothek zur Naturkunde und die dazugehörige Materialien- und Naturaliensammlung, Instrumente und Maschinen kamen auch den Schülern im Unterricht zugute. Wenn Leiste 1783 schrieb: „Neue Schul-Methoden, welche jetzt bey Buchhändlern und Gelehrten einen so wichtigen Handelsartikel ausmachen, haben wir auch im verflossenen Jahr weder erfunden noch nachgeahmt", so zeigte doch sein Unterrichtsprogramm gegen Ende des Jahrhunderts eine so weitgehende Aufgeschlossenheit für moderne Strömungen auf allen Gebieten, daß man feststellen kann: Die Große Schule stand unter ihrem Rektor Christian Leiste auf der Höhe der Zeit. Die Verhältnisse in der Stadt hatten sich gegen Ende des Jahrhunderts katastrophal verschlechtert. In einer langen Eingabe berichtete Leiste 1792 der Fürstlichen Kammer über die Lage des Lehrerkollegiums: die schlechte Bezahlung, die nur noch zwei Drittel der Einnahmen von 1770 betrügen, weil sich die allgemeine ökonomische Lage so verschlechtert hätte, daß 1) keine wohlhabenden Eltern mehr da seien, die Schulgeld bezahlen könnten, 2) andere Akzidenzien, wie Leichengeld und Einnahmen vom Kurrende-Singen, fortgefallen seien, 3) kaum noch Mittel aus Privatstunden zu erlangen seien. Er stellte eine Liste der Einkünfte aller Lehrer zusammen und verglich sie mit der Lage „vor zwölf Jahren" und fuhr dann fort: „Ich habe Maschinen, Instrumente, Naturalien[ ...) aus Mangel an öffentlicher Unterstützung auf eigene Kosten angeschafft, sehr vieles aus meiner Bibliothek verwandt, weil gerade die besten neuesten Werke in der Mathematik, Naturlehre, Naturgeschichte, neueren Geschichte und Erdbeschreibung, die ich zu lehren hatte, auch die richtigem neuem Karten, die die Ausländer vorzüglich uns geliefert, auf der Fürstlichen Bibliothek fehlten [. .. ] Umsonst konnte ich bei so teuren Auslagen diese Wissenschaften nicht lehren. Ich forderte indes nur, was von langen Zeiten her in Prima für Privatstunden in der lateinischen oder griechischen Sprache, wo doch keine Auslagen für Maschinen-Versuche und Reperatur der Maschinen nötig sind, gege-

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Mechthild Raabe

ben worden, nämlich 15 Reichstaler vierteljährlich für wöchentlich 4 Stunden Unterricht. " 12 Nach Leistes Tod übernahm die Große Schule seine hundert Titel umfassende Bibliothek der Naturkunde und einige der Naturalien und Instrumente. Leider ist nur noch ein kleiner Teil davon heute in der Schule überliefert. Das Schicksal der Großen Schule stand im Zusammenhang mit dem Niedergang der Braunschweiger Gelehrten-Schule Martineum, dessen Schülerzahl am Ende des Jahrhunderts so niedrig war, daß man die Schule später mit dem Katharineum zusammenlegte. Auch das Collegium Carolinum hatte an Bedeutung verloren und wurde nach dem Zusammenbruch des Herzogtums 1808 aufgelöst.

lll.

Wie wichtig eine Schulbibliothek für den angehenden Staatsbürger und wie nützlich sie zur „Beförderung von Kunst und Wissenschaften" sei, hatte Johann Arnold Ballenstedt, Konrektor in Schöningen, 1751 anläßlich der Übernahme einer Schulbibliothek an seinem Gymnasium zusammengefaßt: „Wie groß werden aber die Vortheile nicht seyn, welche Bibliotheken der Schul-Jugend verschaffen können? Ihre Erkenntnis wird erweitert, der Verstand aufgeräumt, das Herz gebessert. Sie sind ein Mittel, Verstand und Tugend in den Schulen genauer zu machen. Sie helfen zum guten Fortgange in den Studien. Sie eröffnen eine Thür zu mehr Einsicht in die Disziplinen selbst. " 13 In der Großen Schule gab es aus früheren Zeiten eine Schulbibliothek, deren Anfänge im Dunkeln lagen und deren Bestände vermutlich auf Spenden wohlhabender Eltern oder aufsichtsführender Beamte zurückgingen. Neben deutschen, lateinischen, griechischen und hebräischen Bibelausgaben und theologischen Werken gab es ein Dutzend Klassikerausgaben, doppelt soviel Grammatiken und Lexika und einige humanistische Werke, alle aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Auffallend waren die vielen juristischen Werke, die für den Schulunterricht sicher nicht von Bedeutung gewesen sein können . Für die Lehrer und Schüler waren die Bestände in der Mitte des 18. Jahrhunderts veraltet und wenig brauchbar. Den Lehrern war es deshalb erlaubt, zur Vorbereitung des Unterrichts die Fürstliche Bibliothek zu benutzen, in der aber, wie Dommerich berichtet, „ von philologischen und sonderlich Schulbüchern wenig oder gar nichts anzutreffen sei". Deshalb richtete er im Jahre 1753 ein Gesuch an die Herzogliche Kammer mit der Bitte, die bedeutende, vor allem philologische Werke enthaltende Büchersammlung des verstorbenen Wolfenbütteler Bibliothekars Jakob Burckhardt, die der Herzog erworben hatte, als Schulbibliothek der Großen Schule zu überlassen. Es war jedoch schon anders entschieden und die 8600 Bücher umfassende Sammlung an das neue Pädagogium in Holzminden

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Nds. StaatsA. Wf. 2 Alt 16037.

13 Johann Aroold Ballenstedt, Die Notwendigkeit und großen Vortheile einer Schul-Bibliothek,

Helmstedt 1751, S. 12.

Wolfenbütteler Schulalltag

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gegeben worden, das dort durch den Zusammenschluß der Stadtschule mit der ehemaligen Klosterschule Amelunxborn entstanden war. 14 Die Wolfenbütteler Lehrer waren weiterhin auf die Fürstliche Bibliothek angewiesen. Als sie versuchten, fehlende Bücher durch günstige Angebote auswärtiger Buchhandlungen für den Schulunterricht zu erwerben, erhielten sie eine scharfe Rüge, „weil solches dem privilegio, welches dem hiesigen Buchführer Meisner gnädigst erteilt worden, entgegen wäre". Dagegen wandte sich der Konrektor Jakob Friedrich Heusinger energisch: „Armen Schülern Bücher kaufen, wo sie am wohlfeilsten sind, kann der Herzog nicht verbieten. " 15 Gleichzeitig beklagte er sich über den reichen Hofbuchhändler, der in den fünfziger Jahren noch über ein umfassendes Büchersortiment in der Stadt verfügte, daß er der einheimischen Schule nicht den geringsten Vorteil einräume, im Gegenteil, hartherzig und teuer sei. Und in einem Nachsatz fügte er hinzu, daß der Hofbuchhändler bisher keinen seiner Söhne auf der Großen Schule unterrichten lasse. Streitpunkt der Auseinandersetzungen waren ein Livius-Text, eine griechische Grammatik und Gottscheds 'Sprachkunst' , die man sich in mehreren Exemplaren günstig besorgt hatte. Der scharfe Protest der Lehrer war offenbar erfolgreich. Man findet keine Beschwerden mehr in den Akten, und zu den Schülern, die später ihren Beitrag zur Schulbibliothek der Großen Schule leisteten, gehörten auch zwei Söhne des Buchhändlers Meißner. Schließlich griff man zur Selbsthilfe. Jeder Lehrer und auch jeder Primaner der Schule mußte fortan einen 'freiwilligen' Betrag in beliebiger Höhe zur Unterhaltung der Bibliothek abgeben. Der Rektor hatte darüber Buch zu führen und zu entscheiden, welche Werke angeschafft beziehungsweise welche buchbinderischen Aufträge vergeben werden konnten. Man war endlich in der Lage, einige deutschsprachige Werke, beispielsweise Bücher von Gellert, Gottsched, Ramler und Stockhausen, anzuschaffen und auch die eine oder andere Zeitschrift zu erwerben. Es wurde eine Bibliotheksordnung entwickelt, in der genaue Benutzungsregeln aufgestellt wurden. In den „Leges ad usum bibliothecae" 16 lesen wir: „[ . .. ] 3) Es soll ein jeder neuer Schul-College[ ... ) bei dem Antritt seines Amts ein Gewißes zum besten der Bibliothec erlegen. Das quantum stehet in seinem Belieben [ . .. ) 7) Ein jeder neuer Schüler in prima Classe giebt auch einige Reichstaler zur Bibliothec . 8) Wenn der Rector einen Candidatum zu examiniren hat, soll er sehen, ob dieser zum Besten der Bibliothec nicht auch etwas zu erlegen bereit sey." Als Dommerich 1759 nach Helmstedt berufen wurde, übergab er seinem Nachfolger 16 Reichstaler 8 Groschen für die Schulbibliothek. Diese Mittel reichten auf Dauer jedoch nicht, auch nur den dringendsten Nachholbedarf an Büchern aufzufüllen. Erst 1772 gelang es mit Hilfe des Konsistorialrats und Ephorus der Großen Schule Franz Anton Knittel, der selbst ein

Nds . StaatsA. Wf. 2 Alt 16028. Nds. StaatsA. Wf. 2 Alt 16028. 16 Scholae princip. Wolfenbutt. librorum public. catalogus, (o. J .), Archiv der Großen Schule Wolfenbüttel. 14 IS

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Mechthild Raabe

gelehrter Leser der Fürstlichen Bibliothek war, einen neuen Vorstoß beim Herzog zu machen. „Eine Schul-Bibliothek, die aus den besten Büchern der deutschen Beredsamkeit in allerley Vorträgen bestünde, würde also von einem großen Nutzen bei der Ubung der Jugend sein. " 17 Es wurden fortan 15 Reichstaler im Jahr zur Unterhaltung der Schulbibliothek genehmigt, und man konnte nun auch in bescheidenem Umfang die deutschsprachigen literarischen und methodischen Werke anschaffen. Dazu heißt es im Schulprogramm 1773: „ Weil aber [ .. .)durch den Mangel guter[ ... ] Bücher verschiedene Hindernisse in den Weg gelegt werden, so hoffen wir[ ... ] ins künftige mit der Jugend viel weiter darin zu kommen, nachdem wir durch die Gnade des Durchlauchtigsten Herzogs in den Stand gesetzt werden, eine Büchersammlung zum Gebrauch der Lehrer und vornehmlich der studierenden Jugend anzulegen. Es wird aber bey Anlegung dieser Schul-Bibliothek hauptsächlich dahin gesehen werden, daß sie die besten Bücher der deutschen Beredsamkeit in allerley Arten des Vortrages erhalte. Die Bücher sollen beständig unter den Schülern solchergestalt herumgehen, daß die Lehrer einem jeden nach seiner Bestimmung und Fähigkeit die nützlichsten in die Hände geben, und bey Zurückgebung derselben durch sichere Beweise sich überzeugen lassen, daß der rechte Gebrauch von den geliehenen Büchern gemacht sey. Und weil wir gar wohl einsehen, daß auch bey der allerbesten Einrichtung einer Schule wegen der vielfältigen Veränderungen der Umstände nöthig sey, bisweilen eine Änderung vorzunehmen, oder den vormaligen Plan des Unterrichts nach den Bedürfnissen der gegenwärtigen Zeit einzurichten; so werden wir in unserer Schul-Bibliothek auch solche Schriften mit größter Aufmerksamkeit sammeln, welche von der Verbesserung des Schulwesens handeln . Wir werden die Vorschläge von dieser Art, welche besonders zu unserer Zeit sehr häufig zum Vorscheine kommen, solchergestalt benutzen, daß wir dabey mehr unsere eigene Erfahrung und Überzeugung zu Rathe ziehen , als auf das Geschrey derer achten, welche sich, ohne Erkenntnis eines mittelmäßig geschickten Schülers erreicht zu haben, unverschämter Weise zu Schulverbesserern aufwerfen. " Auch hier war - wie so oft - die Absicht gut, die Durchführung aber ließ zu wünschen übrig , wenn man den schon erwähnten Bericht des Rektors Christian Leiste über die trostlose Lage an den Schulen in den neunziger Jahren liest. Ohne das Engagement und den selbstlosen Einsatz der Lehrer wäre ein moderner, den Erkenntnissen der Zeit entsprechender Unterricht nicht möglich gewesen. So waren Lehrer und Schüler weiterhin auf die Herzogliche Bibliothek angewiesen, deren Bestände - wie im folgenden auszuführen ist - in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts umfassend erweitert und deren Benutzungsmöglichkeiten auf eine ganz ungewöhnliche Weise erleichtert worden waren.

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IV. Die Fürstliche Bibliothek, deren umfangreiche gelehrte Bestände an theologischer, juristischer und historischer Literatur der profunden Kennerschaft des fürstlichen Sammlers Herzog August des Jüngeren zu verdanken waren, hatte noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts unter der Leitung von Leibniz entscheidenden Zuwachs an Handschriften und Forschungsliteratur bekommen. Zu Beginn des Jahrhunderts waren die Hofgesellschaft, die Beamten und Sekretäre, die Professoren und Hofmeister der jungen Adligen und Akademisten der Ritterakademie auf der Bibliothek ein- und ausgegangen. Ein lebhafter Umsatz der Bücher und reger Ausleihbetrieb kennzeichnete diese Jahre bis zur Errichtung der Rotunde. Die Eröffnung dieses neuen, ungewöhnlichen Bibliotheksgebäudes im Jahre 1723 zog nun nicht nur ein gelehrtes, sondern auch ein allgemein interessiertes Publikum an, das durch die Säle und Kabinette geführt wurde, in denen illuminierte Manuskripte, Karten, Globen und kostbare Bücher ausgestellt waren. Auch die gelehrte Benutzung durch einheimische und zugereiste Wissenschaftler ging weiter, wenngleich unter der restriktiven Bibliotheksleitung des Philologen Jakob Burckhardt gegen Mitte des Jahrhunderts die Benutzerzahlen deutlich nachließen. Herzog Carl I. hatte in den fünfziger Jahren neben der Verwaltungsreform auch die Zentralisierung der Landesarchivalien, die Zusammenführung der einzelnen fürstlichen Sammlungen in der Herzoglichen Bibliothek und die Einrichtung eines neuen Kunst- und Naturalienkabinetts beschlossen. Die Eingliederung der Büchersammlungen zog sich bis in die sechziger Jahre hin und brachte der Hauptbibliothek einen Zuwachs von mehr als 50 000 Bänden, darunter Handschriften und orientalische Manuskripte, illuminierte Stundenbücher und Inkunabeln aus den Bibliotheken der Herzöge Ludwig Rudolf und Ferdinand Albrecht I., die berühmte Bibelsammlung der Herzogin Marie Sophie Elisabeth, die MilitariaKollektion des Prinzen Friedrich Franz und eine Fülle zeitgenössischer französischer, italienischer, deutscher und englischer Literatur, die den alten Bestand deutlich verjüngte. Getrennte Aufstellung und ausführliche Realkataloge sorgten zunächst für gute Übersicht. Die um so viele neue Bücher bereicherte und modernisierte Bibliothek verlangte nun auch einen Bibliothekar von außergewöhnlichem Ruf. Durch Vermittlung des Braunschweiger Professors Johann Arnold Ebert berief Herzog Carl I. 1770 Gotthold Ephraim Lessing als Bibliothekar nach Wolfenbüttel, wo er sogleich eine Dienstwohnung „in den fürstlichen Gemächern, die der Herzog selbst ehedem als Prinz bewohnt hatte", bezog . Die Stadt hatte zwar einen Teil der Beamten, Kaufleute und Handwerker aus dem Umkreis des Hofes verloren, dagegen siedelten sich neue Manufakturen an, es wurden Tapeten- Tabak- und Likörfabriken eingerichtet, die Offiziere und Ingenieure der Garnison hatten weiterhin für die Instandhaltung der Befestigungsanlagen zu sorgen, die Beamten des Konsistoriums und des Archivs, der Justizkanzlei und des Gerichts waren in der Stadt geblieben, und die Lehrer der Großen Schule erwiesen sich nicht nur als aufgeschlossene Pädagogen und gelehrte Forscher, sondern beteiligten sich auch aktiv am kulturellen Leben der Stadt.

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Sie förderten Schulaufführungen und Chorkonzerte und unterstützten die "Musikalische Gesellschaft", die 1760 gegründet worden war. Durch regelmäßige Konzerte und Theateraufführungen versuchte man, die verlorengegangene fürstliche Musik- und Festtradition in der Bürgerstadt neu zu beleben. Auch die Scheu vor dem Besuch der Herzoglichen Bibliothek hatte sich inzwischen gelegt. Dieser Demokratisierungsprozeß wurde gefördert durch die liberale Benutzungspraxis und durch den Einfluß der neuen, reformpädagogischen und aufgeklärten Ideen, die die erste Generation der Absolventen des Collegium Carolinum bewegten. Die jungen Offiziere, die dort die Militärakademie besucht hatten, kamen nun als Leser, wie auch die Kollegiaten aus Braunschweig, die Studenten aus Helmstedt und die Schüler der Großen Schule, denen man die eigene Schulbibliothek vermutlich in Hinblick auf die große in Wolfenbüttel vorhandene fürstliche Sammlung versagt hatte. Neben den Geistlichen, Juristen, Ärzten und Lehrern traf man in der Bibliotheksrotunde Künstler und Handwerker, die zum Teil am Umbau der Bibliothek beschäftigt gewesen waren, sie brachten ihre Kollegen und Nachbarn mit. Kaufleute, Torschreiber und Einnehmer, Friseure und Ladendiener, Gouvernanten, Kammerfrauen, adlige Fräulein und einfache Jungfern mit ihren Familien und Freunden fanden sich in den nächsten beiden Jahrzehnten in zunehmender Zahl ein. Die Augusta wurde zum Treffpunkt einer vielschichtigen, leseorientierten Gesellschaft. Diese Inbesitznahme der Fürstlichen Bibliothek durch die Wolfenbütteler Bürger läßt sich zeitlich genau eingrenzen. Sie begann Mitte der fünfziger Jahre, hatte ihren Höhepunkt um 1769, hielt bis 1780 an und brach dann ziemlich abrupt mit dem Tode Lessings und dem Amtsantritt von Ernst Theodor Langer ab. Die Leitung der Bibliothek hatte seit dem Tode Jakob Burckhardts (1753) in den Händen des Vizekanzlers und späteren Kanzleipräsidenten Georg Septimus Andreas von Praun gelegen, dem die Oberaufsicht über die verwaltungstechnischen und organisatorischen Veränderungen anvertraut worden war. Für die praktische Durchführung der Geschäfte war ihm der Rat Brandan Hugo zugewiesen worden, der für die Einrichtung der neuen Sammlungen, ihre Ordnung, Katalogisierung und Bereitstellung zu sorgen hatte. Er bekam 1758 einen ersten Sekretär, Karl Johann Anton von Cichin, zur Unterstützung und den zugleich noch im Archiv tätigen Johann Heinrich Meyne. Der Bibliotheksdiener Johann Christian Helms - schon seit 1742 im Dienst - war das Faktotum für alles. Er war für den Zustand des Hauses verantwortlich, mußte für saubere Aufstellung der Bücher sorgen, Gäste empfangen und Führungen durch die Säle und Kabinette übernehmen. Helms war über 40 Jahre in der Bibliotheca Augusta tätig und galt als besonders zuverlässiger und anstelliger Mitarbeiter, an den sich in späteren Jahren sogar auswärtige Wissenschaftlermitschriftlichen Anfragen wandten. Als Lessing 1770 die Bibliothek übernahm, hatte die Benutzung ihren Höhepunkt erreicht. Seine Pläne, die aus verschiedenen Sammlungen bestehende Büchermenge in eine einheitliche systematische Ordnung zu bringen, die Dubletten auszusondern und durch ihren Verkauf neue Bücher zu erwerben, scheiterten nicht zuletzt an der starken Benutzung und der "äußerst facilen" Praxis des Bücher-

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Verleihens. Die schlechte Finanzlage des Herzogtums hatte dazu geführt, daß auch das Bibliothekspersonal weniger wurde und schließlich dem Ansturm der Bürger nicht mehr gewachsen war. Lessing selbst war öfter auf Reisen, der Sekretär Cichin, eine äußerst schwierige, zu Ungehorsam und Spott neigende Natur, befand sich in ständigem Streit mit dem Bibliotheksdiener Helms . Dieser hatte seine langjährige Vertrauensstellung offensichtlich dazu ausgenutzt, um "seine Bibliothek" seinesgleichen und vor allem den Schülern der Großen Schule, zu denen auch seine Söhne zählten, zu öffnen. So beklagte sich Cichin in den siebziger Jahren: "treffe unten oder oben Schüler an, die in den Büchern herumwühlen, sich nach Gefallen welche aussuchen, in denen offenen Cabinetten herum laufen, und endlich mit Büchern davon gehen. Zu dem werden täglich Bücher verlieben [„.] ohne einen Zettel von denen Kaufmannsdienern oder TobacksFabricanten-Helfers-Helfern unterschreiben zu lassen." 18 So ist es zu erklären, daß in dem Jahrzehnt zwischen 1770 und 1780 die Schüler der Großen Schule die stärkste Lesergruppe in der Herzoglichen Bibliothek waren.

V.

Die Benutzer der Herzoglichen Bibliothek im 18. Jahrhundert lassen sich nach Auskunft der Ausleihbücher der Bibliothek in 24 Lesergruppen einteilen, zu denen auch die Schüler der Großen Schule zählten. 19 Von dieser Gruppe und ihren Lesegewohnheiten wird fortan die Rede sein, wenngleich festgestellt werden muß, daß es neben den durch eine Schülerliste der Großen Schule identifizierten Lesern auch Privatschüler und -schülerinnen gegeben hat, die die Herzogliche Bibliothek in dieser Zeit benutzt haben und deren Leseinteressen - abgesehen von der Lektüre der klassischen Autoren - mit denen der genannten Schüler weitgehend übereinstimmten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hatten sich die allgemeinen Lesegewohnheiten so weit geändert, daß man sich statt der christlichen Erbauungsliteratur nun den individuell abgestimmten Lesestoff zum "Nutzen und Vergnügen" besorgte. Wieweit man sich diese Literaturversorgung durch private Buchkäufe leisten konnte, ist schwer nachzuweisen. Anhand der Eintragungen in den Ausleihbüchern kann man annehmen, daß in den Familien- und Freundeskreisen der Stadt dank der großzügigen Ausleihpraxis der Herzoglichen Bibliothek gemeinsame Leseinteressen gepflegt und gefördert wurden, sei es in unterhaltend-literarischer, aufklärerischer, naturwissenschaftlicher oder theologisch-erbaulicher Richtung. Wolfenbüttel war eine Beamten- und Akademikerstadt, ein erheblicher Teil der Schüler stammte aus angesehenen Familien, doch auch Offiziere, Kaufleute und Handwerker lasen und ermunterten ihre Kinder zum Umgang mit Büchern. Sammelwerke , Zeitschriften und vor allem die beliebten Romane

Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (HAB), Cod. Guelf. Lessingiana XXVIII , 2. MechthiJd Raabe, Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek 1714- 1799, Bd. 1-4, München 1989. 18

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gingen von Hand zu Hand, Titel wurden empfohlen und weitergereicht, sehr zum Leidwesen der amtierenden Bibliothekare: „Wie sehen sie [die Bücher] aus, wenn sie( ... ] mehrere Jahre eine kleine Reise im Lande unter 100 guter Freunde Hände gemacht haben" , klagte damals der Sekretär Cichin.20 Vor allem waren es aber die Lehrer, die die Schüler aus Mangel einer funktionsfähigen Schulbibliothek aufforderten, auf die Bestände der Bibliotheca Augusta zurückzugreifen. So wurden die Schüler im 18. Jahrhundert mit 140 Namen die drittgrößte Benutzergruppe nach den Beamten (3243) und den Offizieren ( 191). Allerdings entliehen sie von den rund 22 000 Titeln nur 1380, also gerade 6,3 %. Das erklärt sich daraus, daß sich die Schülerlektüre im wesentlichen auf die Jahre 1767 bis 1781 eingrenzt. In diesen 14 Jahren wurden 1251 von den insgesamt 1380 genannten Titeln entliehen. In dem Jahrzehnt zwischen 1770 und 1779 waren die Schüler die stärkste Lesergruppe in der Bibliotheksrotunde. Fragt man nach den Gründen dieser ungleichen Verteilung, so hat man zunächst zu bedenken , daß die Bibliothekare Jakob Burckhardt (1737-1752) und Ernst Theodor Langer (seit 1781) eine sehr restriktive, wenig benutzerfreundliche Ausleihpraxis pflegten und Schülern das Ausleihen von Büchern verwehrten. Zum andern muß man auch die desolaten Verhältnisse an der Großen Schule, von denen berichtet wurde, als Ursache für die geringe Benutzung durch die Schüler verantwortlich machen. Mit dem Eintritt Christian Leistes als Konrektor (1766) wurden die Schüler offenkundig stark motiviert: Sie entliehen 1767 so viele Bücher wie in den Jahren 1762 bis 1766 insgesamt, und die Zahl der entliehenen Bücher stieg von 46 bis auf 158 im Jahr 1772 an, ging dann auf70-80 Entleihungen im Jahr zurück. Als nach dem Tode des Rektors Jakob Friedrich Heusinger 1778 Christian Leiste nachrückte und an seine Stelle der Sohn des verstorbenen Rektors, der junge Konrad Heusinger, als Konrektor berufen wurde, gingen die Ausleihziffern der Schüler wieder sprunghaft in die Höhe: 1779 wurden 144 und 1780 sogar 169 Bücher entliehen. Der Einschnitt nach Lessings Tod war bezeichnend: Die Bibliothek wurde teilweise geschlossen. Nur noch 37 Bücher konnten von den Schülern entliehen werden. Wir werden noch darzustellen haben, welchen LektüreErsatz sich die jungen Leser besorgten . Die lesenden Schüler, deren Namen und Geburtsdaten in der Schülerliste der Großen Schule überliefert sind, wurden zum allergrößten Teil zwischen 1752 und 1764 geboren. Unter ihnen waren zehn Adlige und ein Ausländer. Die meisten von ihnen lasen zuerst im Alter zwischen 15 und 17 Jahren in der Bibliothek: Im Durchschnitt kamen sie drei bis vier Jahre in die Ausleihe, ehe sie zum Studium an die Landesuniversität Helmstedt gingen. Von den 140 nachgewiesenen Schülern studierten 100 hauptsächlich Theologie und Jura, nur wenige wurden Mediziner oder Naturwissenschaftler. Manche kehrten danach nach Wolfenbüttel zurück, man findet ihre Namen als Advokaten, Sekretäre, Ärzte oder Pfarrer unter den Lesern wieder.

20 HAB, Cod. Guelf. Lessingiana XXVII , 14.

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Ehe von einzelnen Lesern und ihren Interessen die Rede sein soll, läßt sich die Schülerlektüre in der Bibliothek allgemein darstellen. Da in dieser Zeit von den Lehrern auf die Erleroung der alten Sprachen das Schwergewicht des Schulunterrichts gelegt wurde und man erwartete, daß die Schüler ergänzende Lektüre der antiken Klassiker betrieben, ist es nicht überraschend, wenn festzustellen ist, daß fast ein Drittel aller von den Schülern entliehenen Bücher lateinische und griechische Klassikertexte waren (418 von 1380 Werken). An oberster Stelle standen die Werke des Titus Livius. Schon damals war 'De urbe condita' die wichtigste Lateinlektüre. Im gleichen Maße - nämlich 38mal - wurden auch Bücher Ciceros ausgeliehen, mit dessen kritischer Edition sich die Heusingers befaßten . Dann folgten die Werke von Vergil, Horaz, Ovid, Tacitus und Plinius. Unter den griechischen Autoren stand Homer an der Spitze, im Abstand gefolgt von Lukian, Xenophon und schließlich Herodot. Bemerkenswert war die Breite des Kanons der antiken Autoren, aber auch die Namen der Klassiker, die nicht gelesen wurden. Das Interesse an alter Geschichte war groß: Hesiod, Thukydides und Plutarch, Heliodor, Curtius Rufus, Cornelius Nepos, Justinus, Herodianus, Aelianus und Lucanus wurden ausgeliehen. Dagegen spielten Sueton, Sallust und Caesar so gut wie keine Rolle. Man las Terenz und Seneca, auch Juvenal und Martial, dagegen interessierte man sich weder für Platon noch für Aristoteles. Unter den griechischen Dramatikern wurden Euripides und Aristophanes ausgeliehen, während Aeschylos und Sophokles nicht vorkamen. Die Schüler lasen die entliehenen Texte in den Originalsprachen. Bei den griechischen Autoren zog man im allgemeinen zweisprachige Ausgaben in Griechisch und Latein vor. Andere Klassiker, vor allem Homer und Xenophon, Livius und Plinius d. J. , Ovid und Horaz las man auch in französischen Übersetzungen: Sie waren offenkundig beliebter als die deutschen Ausgaben. Französisch gehörte zum offiziellen Lehrplan, und die Schüler müssen die Sprache offenbar beherrscht haben. In englischer Sprache wurde nicht gelesen; erst in den neunziger Jahren wurde Englisch als Wahlfach angeboten. Auch die Kenntnis der alten Geschichte wurde in der Schule vermittelt und durch die Lektüre antiker Historiker vertieft. Ergänzend dazu konnten historische Werke entliehen werden, Rollins beliebte ' Histoire ancienne' und seine 'Histoire romaine' , auch das 'Breviarium historiae Romanae'. Vor allem wurde das bekannteste Geschichtswerk in deutscher Sprache, die ' Allgemeine Welthistorie' (l4mal) verlangt. Doch im Vergleich zur Lektüre antiker Autoren und - wie wir sehen werden - philosophischer und vor allem literarischer Werke stand die Ausleihe historischer Bücher mit 119 Titeln erst an vierter Stelle. Beliebte Werke waren J. L. Gottfrieds ' Historische Chronica' , F. A. Marignys 'Geschichte der Araber' und J. F . Schroeters •Allgemeine Geschichte der Länder und Völker in Amerika' . Solche Werke las man wohl mehr zur Unterhaltung als zur historischen Belehrung. Das galt auch für A. L. v. Imhofs 'Historischen Bildersaal', eines der meistgelesenen Bücher der Bibliothek im 18. Jahrhundert überhaupt ebenso wie die 'Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande'. Zum Vergnügen und zur Unterhaltung beschäftigte man sich auch mit den zeitgenössischen Autoren, soweit ihre Werke in der Bibliothek vertreten waren:

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vor allem die Schriften von Salomon Geßner und Christoph Martin Wieland, von Johann Elias Schlegel und Georg Wilhelm Rabener, die Fabeln und Briefe Christian Fürchtegott Gellerts und die Bücher von Friedrich Wilhelm Zachariae. Man las Aufklärungsliteratur, so auch die Gedichte Albrecht von Hallers und das 'Irdische Vergnügen in Gott' von Barthold Heinrich Brockes. Der dänische Dichter Ludwig Holberg war bei der Jugend mit 'Nils Klimts unterirdischer Reise' und auch mit seinen Schauspielen beliebt. J. A. Eberts Übersetzungen englischer Schriftsteller wurden gelesen und Edward Youngs 'Nachtgedanken ' in deutscher Übersetzung. Die französische Literatur studierte man in der Originalsprache: Racines, N. Boileaus und Voltaires Werke, Dramen von P. C. Marivaux, B. Fontenelle, selbstverständlich auch die 'Aventures de Telemaque' von F. de Fenelon. Jugendbücher im heutigen Sinne gab es erst in den Anfängen. Cervantes 'Don Quichote' und Defoes 'Robinson Crusoe' wurden von den Schülern öfter entliehen, doch mehr noch von den Erwachsenen. Ältere Romane wie die 'Asiatische Banise' von H. A. v. Ziegler und Kliphausen und E. W. Rappels zahlreiche Erzählungen wurden in Ermangelung zeitgenössischer Romane verlangt, daneben die beliebten Werke von Friedrich Karl von Moser: 'Herr und Diener' und vor allem 'Daniel in der Löwengrube' , die rührselig geschilderte Geschichte des tapferen Widerstandes, dessen Beständigkeit schließlich belohnt wird. Mehrbändige Sammelwerke und Fortsetzungsreihen belehrender, unterhaltender oder naturkundlicher Art wurden zunehmend gefragt. So erklärt es sich, daß beispielsweise die 'Abend-Stunden' und der 'Abendzeitvertreib' von den Schülern immer wieder verlangt wurden. Dies waren Sammlungen von Erzählungen, bei denen es im Vorwort des ersten Bandes heißt: "Die Abendzeit, welche zu Lesung solcher Bücher allemal einige bequeme Stunden gönnet, wird auf solche Weise nicht übel angewendet seyn." Das galt auch für die kritisch aufklärerischen moralischen Wochenschriften: 'Der Druide'; 'Der Einsiedler' ; 'Der Mensch'; ' Der Redliche' ; 'Die Landbibliothek' , schließlich die 'Belustigungen des Verstandes und Witzes' , die ja eine der bezeichnenden Zeitschriften der Aufklärung waren. Vor allem ist 'Das Reich der Natur und Sitten' hervorzuheben, eines der beliebtesten Fortsetzungswerke der Zeit. Auch die Schüler fanden an diesen belehrenden Abhandlungen und Erzählungen großes Vergnügen: 37mal wurden Bände dieser Reihe von ihnen entliehen. Moralphilosophische Schriften fanden also bei der Jugend dankbare Leser. Unter ihnen sind besonders die ' Historischmoralischen Schilderungen zur Bildung eines edlen Herzens in der Jugend' von Johann Peter Miller hervorzuheben, ein dreibändiges Werk, das bei Christian Friedrich Weygand in Helmstedt 1753-1759 erschien. Der Verfasser (1725-1789), mit 26 Jahren Rektor des Helmstädtischen Gymnasiums und dann fünf Jahre später in Halle, gab den jungen Menschen Lebensregeln auf dem Weg in Form von Dialogen über Gott und die Schönheit der Welt zur „Aufklärung ihres Verstandes und zur Erforschung der Wahrheit" und schilderte im dritten Teil „edle Charaktere des männlichen Alters" . Millers Buch wurde 20mal von Schülern ausgeliehen und war darüberhinaus eines der meistgelesenen Bücher der Zeit in der Bibliothek. Im gleichen Sinne lasen die Schüler Ludwig Holbergs 'Moralische Gedanken', Johann Jakob Spaldings

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'Bestimmung des Menschen ', auch Johann Georg Zimmermanns bekannte Abhandlung 'Vom Nationalstolze'. Überblickt man die Schülerlektüre in der Wolfenbütteler Bibliothek insgesamt, so ergibt sich folgendes statistisches Bild: Schöne Literatur Klassische Philologie Philosophie u. Moralphilosophie Geschichte Geographie und Reiseberichte Theologie Sprachwissenschaft Naturwissenschaften Kunst- und Kulturgeschichte Neulatein Allgemeines Mathematik Ökonomie Militaria Politik Jura Medizin Technologie

421 Entleihungen 418 132 119

70 46 46

"

28 21

20 19 10 10 8 4 3 3 2

Zu den philosophischen Schriften zählten vor allem moralphilosophische Bücher und moralische Wochenschriften. Der Übergang zur Schönen Literatur war, wie ersichtlich wurde, fließend. Die allgemeine Bildung und die Unterhaltung spielten deshalb in der Schülerlektüre die Hauptrolle. Dazu kann man die Titel, die den Naturwissenschaften, der Geographie, der Kulturgeschichte und der Ökonomie zugeordnet werden, ebenfalls rechnen, beispielsweise die beliebte, mit zahlreichen Abbildungen ausgestattete 'Insekten-Belustigung' von A. J. Rösel von Rosenhof, A. F. Büschings 'Erdbeschreibung', die verschiedenen Reiseberichte, J. Kunckels ' Curieuse Kunst- und Werkschule' oder den 'Schauplatz der Künste und Handwerke'. Dem Schulunterricht dienten die wenigen mathematischen Werke und die Lexika, Sprachführer und Grammatiken, die ausgeliehen wurden. Die fachwissenschaftliche Literatur spielte keine Rolle: Die theologischen, juristischen und medizinischen Bücher benutzte man erst während der Studienjahre. Die Schüler wurden bisher als eine Gruppe betrachtet, und das Bild ihrer Lektüre wurde vor allem zwischen 1767 und 1781 nachgezeichnet. Wie groß der Anteil der 140 in der Fürstlichen Bibliothek entleihenden Schüler an der Gesamtzahl der Schüler der höheren Klassen war, läßt sich, da es keine Klassenlisten mehr gibt, nicht sagen. Er scheint unter den Primanetn des genannten Zeitraums hoch gewesen zu sein. Während in einer Ode auf die Hochzeit Jakob Friedrich Heusingers aus dem Jahre 1756 von 33 Schülern nur 5 als Leser der Bibliotheca Augusta nachzuweisen sind, vermittelt das Verzeichnis der 30 Primaner auf einem Glückwunschblatt zur Hochzeit Konrad Heusingers von 1779 ein anderes Bild:

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24 Schüler waren namentlich verzeichnete Leser, das war ein Anteil von 80 %. Betrachtet man die 140 lesenden Schüler näher, so verteilen sie sich auf drei Gruppen: l) die die 2) die 3) die

gelegentlichen Leser, insgesamt 1-4 Bücher entliehen Leser, die zwischen 5 und 11 Büchern entliehen aktiven Leser, die mehr als 12 Bücher entliehen

69 Leser = 50 % 41 Leser = 30 % 30 Leser = 20 %

Die Hälfte aller Schüler kam also nur ein- oder zweimal in die Bibliothek, was auch in anderen Lesergruppen häufiger der Fall war. Die zweite Gruppe läßt sich nicht leicht definieren: Auch hier sind einige Gelegenheitsleser, andere aber entleihen für einen kurzen Zeitraum, ein Schuljahr oder in Abständen in Halbjahren. Die eifrigsten Leser sind der dritten Gruppe zugeordnet. Im folgenden werden ihre Namen mit Lebensdaten, soweit ermittelt, nach der Zahl der entliehenen Titel aufgelistet und die Ausleihjahre hinzugefügt: l

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Fischer, J.K.B. (1760 - 1785) Zum Felde, J. B. (1752 - 1787) Engelbrecht, J. C. 0. (geb. 1764) Knittel , J.C. W. (geb. 1763) Bücking, J. J. H. (1749 - 1826) Mümler, J. L. C. (1752-1787) Kotzebue, J. K. (geb. 1754) Seehof, J. C. L. (geb. 1752) Spörl, J.K. C. (1748 - 1811) Görtz, J.F. (1757 - 1828) Lyncker, F. A. R. (geb. 1762) Hantelmann, K. F. v . (geb. 1754) Gerhardt, C. W. (geb. 1762) Borges, F. A. (geb. 1755) Fricke, H. M. (1755-1785) Hoeck, C. H. (1754-1813) Graeve, C. E. (geb. 1759) Mackensen, G. A. (1755 - 1837) Oberfeldt, F. J. E. (geb. 1757) Kraus, R. D. (geb. 1758) Wilckens, H. D. (1763 - 1832) König, E. (1765 -1796) Brandes, F. J. P. (geb. 1752) Bindseil, C. H. (1756 - 1835) Mackensen, H. 0 . (geb. 1758) Helms, A.G. (1755-1775) Knittel, W. G. (1758 - 1825) Schulze, J. L. E. (geb. 1760) Pini, K. F. (geb. 1761) Hoebel, J. K. L. (1759-1822)

89 73 56 53 49 44 40 37 34 32 32 31 31 29 27 24 23 22 20 19 18 16 16 16 15 14 13 12 12 12

Titel " " " " " " " "



" " " "



" " " " " " " "



" " " " " "

1777 - 80 1767 - 71 1776 - 80 1775 - 82 1764 - 68 1770 - 73 1769-73 1771 - 73 1768-70 1772 - 76 1779-81 1767-75 1779-81 1769-75 1772 - 73 1771-76 1773-78 1771-74 1773 - 77 1774 - 77 1777-83 1778 - 81 1767 - 71 1771-76 1774 - 77 1770 - 73 1774 - 77 1776 - 81 1778-80 1779 - 81

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Der früheste unter diesen 30 Lesern war der spätere Stadtphysikus Johann Jakob Heinrich Bücking, der als Sohn des Wundarztes aufwuchs, als Schüler der Großen Schule von 1764 - 1769 las, dann zum Studium ging, in den Ferien und weiterhin während der Berufsjahre bis 1783 - damals wurde die Bibliothek so gut wie ganz für das Publikum geschlossen - einer der fleißigsten Leser der Bibliothek war, in der übrigens heute sein umfangreicher Nachlaß überliefert ist. Der junge Bücking entlieh während der Schulzeit ältere Romane, z.B. Erasmus Franciscis 'Lustige Schaubühne' oder Philipp von Zesens 'Assenat' , Bücher von Menantes und Aramanthes oder Happels ' Academischen Roman' und andere Titel dieses barocken 'Vielschreibers', daneben auch Trivialliteratur wie das 'Portrait einer allzu galanten Dame', ' Der nach Venedig gebrachte Mohr' oder ' Ceremoniel der Gaudiebe und Spitzbuben' . Er liebte Unterhaltungsbücher wie B. Schnurrs 'Kunst- Haus- und Wunderbuch' oder die 'Physikalischen Belustigungen' . Er entlieh Herzog Augusts Schachbuch und J. G. Zeidlers 'Buchbinderphilosophie' mehrfach . Er Las die ' Belustigungen des Verstandes und Witzes' und interessierte sich für Reiseberichte über Amerika. Man erkennt das Leseprofil eines Schülers, der sich durch unterhaltende und informierende Lektüre auf das Leben vorbereitete. Auch Johann Bernhard Zum Felde war vordergründig ein Unterhaltungsleser, der wie Bücking mit 15 Jahren zuerst Bücher holte. Ihn interessierte auch die Schöne Literatur, der 'Reineke Fuchs' und der ' Fabelhans' , Grimmelshausens 'Simplicissimus' und Fenelons 'Todtengespräche' . Neben 'Amors Glücks- und Unglücksfällen• und S. J. Apius • ' Vernünftiges Studentenleben• las er Marivaux und Holbergs Lustspiele. Klassikerausgaben wurden von ihm nicht verlangt, dagegen entlieh er Predigten von J. F. W. Jerusalem und J. G. Palm, moralphilosophische Werke von J. P. Miller, J . L. v. Mosheim, J. J . Ebeling und anderen; auch Grammatiken, Lexika und Hedrichs 'Schullexikon' studierte er neben moralischen Wochenschriften und Zeitschriften. Zum Felde, der nach dem Jurastudium Polizeisekretär in Wolfenbüttel wurde, war also ein Bücherleser, der vielseitige Interessen hatte und die Bibliothek als Institution zur Information und zum Zeitvertreib nutzte. Der Spitzenleser, Johann Konrad Burckhard Fischer, der zwischen Februar 1777 und August 1780 89 Bücher entlieh und schon mit 25 Jahren als gerade promovierter Philologe starb, gehörte den jüngeren Jahrgängen an: Er kam mit 17 Jahren zuerst in die Bibliothek und muß ein von der klassischen Literatur besessener Schüler gewesen sein. Er las fast ausschließlich die antiken Autoren und philologische Schriften über das Altertum, vorrangig auch in lateinischer Sprache. Er las alle gängigen, aber auch an der Schule nicht vorkommenden griechischen und lateinischen Autoren, auch neulateinische Gelehrte wie M. Junius und D. Heinsius, J. Lipsius und J . Rivius. Er hatte ausgesprochen gelehrte Interessen und man könnte sich denken, daß er ein Meisterschüler der Heusingers war. Aus den Ausleihlisten der einzelnen Schüler lassen sich charakteristische Leserprofile erkennen, in denen sich die Anregungen aus dem Elternhause und aus der Schule wiederfinden. An zwei weiteren Beispielen sei dies nochmals erläutert. Julius Christian Otto Engelbrecht, Jahrgang 1764, aus einer Juristenfamilie stammend und später Advokat in Wolfenbüttel, steht in der Übersicht mit 56

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entliehenen Titeln an dritter Stelle. Bei ihm stand die Lektüre der antiken Autoren im Vordergrund: Er las sie gern in französischer Sprache und interessierte sich darüber hinaus für Schauspiele, aber auch für Konrad Gesners 'Thierbuch' und Rösels 'Insekten Belustigung' und Millers 'Historischmoralische Schilderungen'. Ähnliche Lesewünsche hatte Johann Ludwig Conrad Mümler, der mit 18 Jahren in die Bibliothek kam, drei Jahre danach in Helmstedt Medizin studierte, als Arzt und Übersetzer später in Wolfenbüttel lebte, aber schon, wie J. B. Zum Felde, mit 35 Jahren starb. Auch er entlieh die Werke der antiken Autoren , vor allem Vergil und Horaz, Seneca und Plinius. Daneben beschäftigte er sich mit botanischen Büchern, Gelehrtengeschichte und antiken Historienbüchern. Er las den 'Don Quichote' und Youngs 'Nachtgedanken'. Auch er nutzte, wie seine Mitschüler, die Möglichkeiten der Bibliotheca Augusta, um sich zu unterrichten und zu unterhalten. Unter den Lesern waren auch Geschwister: so die Stiefsöhne Lessings, Theodor, Engelbert und Friedrich König. Sie lasen zwischen 1778 und 1781 nicht gelehrte Schriften wie der Stiefvater und Bibliothekar, sondern mehr Triviales als Belehrendes. J. D. Ernsts ' Historisches Bilderhaus' , ' Leben und Thaten der englischen Straßenräuber', 'Des Diebes, Mörders und Räubers Lips Tullian Leben', auch historische Werke über das Osmanische Reich und China, Reisebeschreibungen und 'Tausend und eine Nacht'. Dagegen beschäftigten sich die Söhne des gelehrten Archidiakons und Entdeckers der UlfiJas-Fragmente in Wolfenbüttel, Franz Anton Knittel, der 1763 geborene Julius Christian Wilhelm und der drei Jahre jüngere Georg August mit dem üblichen Kanon klassischer Autoren. Besonders der ältere der Brüder war, wie der Vater, ein außerordentlich eifriger Benutzer der Bibliothek, der sich mit den griechischen und lateinischen Schriftstellern intensiv befaßte und nur selten einmal anderes entlieh, es sei denn Bücher des Erasmus von Rotterdam und J. C. Stockhausens nützlichen Ratgeber 'Grundsätze wohleingerichteter Briefe'. Noch ein weiteres Brüderpaar sei erwähnt, die Söhne des Bibliotheksdieners Johann Christian Helms, der 1755 geborene Anton Georg und der vier Jahre jüngere Johann Christian Ludwig Helms. Beide starben früh : der ältere als Primaner mit 20, der jüngere bereits mit 18 Jahren. Ihre Lektüre war die Aufklärungsliteratur: Albrecht von Hallers ' Gedichte', J. G. Krügers 'Träume', Gellerts 'Geistliche Oden und Lieder' , Holbergs Lustspiele und einige andere Werke. Diese kurze Darstellung einiger Leserprofile zeigt weitgreifende Interessen der Schüler in Wolfenbüttel zwischen 1767 und 1781. Die Betrachtung der einzelnen Schüler und ihrer Lektüre bestätigt das generell Festgestellte: Die Wolfenbütteler Bibliothek diente den jungen Menschen zur Ergänzung der Schullektüre. Das Studium der antiken Autoren in den Originalsprachen oder französischen Übersetzungen stand obenan. Auch die historischen und moralphilosophischen Schriften wurden viel gelesen, vor allem aber die belletristischen Werke, Romane, Dramen und Gedichte, sofern sie unter den Buchbeständen, die gegen Ende des Jahrhunderts schon als veraltet bezeichnet werden müssen, zu finden waren. Man hatte eine Vorliebe für Unterhaltungsliteratur in deutscher Sprache, und man

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verschlang die trivialen Schmöker und die vielen Diebes-, Mörder- und Räubergeschichten. Mit dem Tode Lessings 1781 und der weitergehenden Schließung der Bibliothek unter Ernst Theodor Langer sahen sich die Schüler, die gerade um diese Zeit die Institution intensiv benutzt hatten, ausgeschlossen und dies gerade in den Jahren, in denen durch die steigende Nachfrage die Bücherproduktion in Deutschland stark angestiegen war. So mußten die jungen Leser neue Wege suchen, um ihre Lektürebedürfnisse zu stillen. Für die Klassiker konnte man auf die allerdings nicht sonderlich gute Schulbibliothek zurückgreifen, für die Unterhaltungsliteratur sorgten die Primaner selbst. Sie gründeten eine Primaner-Lesegesellschaft, vermutlich um 1783. Eine undatierte Liste mit ca. 70 Titeln - die jüngsten Erscheinungsdaten stammen von 17872 1 - gibt einen interessanten Einblick in die Leseinteressen der jungen Generation der achtziger Jahre. Man hatte die gesammelten Werke von Friedrich v. Hagedorn, Ewald von Kleist, Salomon Geßner, Gottlieb Wilhelm Rabener, Johann Elias Schlegel, Johann Benjamin Michaelis, F. W. Zachariae, J. F. Frh. v. Cronegh angeschafft, dazu einzelne Hauptwerke von Klopstock und Lessing, Wieland und Ramler, Gerstenbergs 'Ugolino' und Schillers 'Räuber', J. H. Voß' Gedichte und Stolbergs Jamben, schließlich die 'Volksmärchen der Deutschen' von J. K. A. Musäus. Man erwarb J. F. Zöllners 'Lesebuch für alle Stände' und andere Anthologien, berühmte Bücher wie William Robertsons 'Geschichte Karls V.' und A. B. Bonnets Abhandlung 'Über die Natur' , Winckelmanns 'Nachrichten über die herkulanischen Entdeckungen' und ähnliches, Reisebeschreibungen, einige Romane und historische Werke kamen hinzu, pädagogische Schriften von J. H. Campe und C. G. Salzmann, auch J. M. Schröckhs 'Allgemeine Weltgeschichte für Kinder' und 'Kosmologische Unterhaltungen für die Jugend' . Es waren die aktuellen Titel, die die Primaner anschafften für eine neue Form der Lektürevermittlung, für eine eigene Lesegesellschaft. Wie lange sie bestand, ist nicht bekannt. Außer der erwähnten gibt es bisher keine Spuren dieser bemerkenswerten Institution. Auch die Schülerlektüre der nächsten Jahre liegt im Dunkel. Daß man weniger Jas, ist ausgeschlossen. Möglicherweise nutzte man die Leihbibliotheken am Ort oder auch andere entstehende Lesegesellschaften. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Dokumente der Schülerlektüre in Wolfenbüttel ein breites Spektrum an Lesegewohnheiten und Lektüreerfahrungen bieten. Vor allem zeigt sich, daß die Schüler, angeregt und gefördert durch ihre Lehrer oder durch das Elternhaus, an der Aufklärungsbewegung im Rahmen ihrer Möglichkeiten teilnahmen. Ihre weiteren Lebensläufe zeigen, daß sie Träger der praktischen Spätaufklärung wurden. Die Vorbereitungen dazu lagen in der Schule, und die Lesemöglichkeiten der Herzoglichen Bibliothek trugen dazu bei, daß diese junge Schülergeneration früh den Umgang mit Büchern lernte, die ja die Grundlage der Aufklärung waren.

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In: Scbolae princip. Wolfenbuu. librorum public. catalogus (wie Anm. 16).

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Mechthild Raabe

Durch die Verlegung der Hofhaltung nach Braunschweig in der Mitte des 18. Jahrhunderts hatten sich die wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse in der ehemaligen Residenzstadt Wolfenbüttel verschlechtert. Die Förderung der modernen Erziehungsanstalt des Collegium Carolinum in Braunschweig stand im Vordergrund. Trotzdem gelang es dank des persönlichen Einsatzes einiger Pädagogen , die alte Wolfenbütteler Lateinschule - die große Schule - den Anforderungen der Zeit anzupassen. Die Schüler durften die Herzogliche Bibliothek benutzen, sie waren zwischen 1770 und 80 sogar die stl:lrkste Lesergruppe. Klassische Autoren und schöne Literatur wurden am meisten gelesen, daneben moralphilosophische Schriften und historisch-geographische Werke. Einzelne individuelle Leserprofile wurden hervorgehoben. Nach Lessings Tod war den Schülern der Zugang zur Bibliothek verwehrt, sie gründeten daraufhin 1783 eine Primanerbibliothek mit zeitgenössischen Aufklärungsschriften. The economic and cultural Situation ofthe ducal residence Wolfenbüttel deteriorated after the court left. Some teachers managed nevertheless to adapt the old Latin School (the „Große Schule") to meet modern demands. Pupils were allowed to use the Ducal Library: indeed, from 1770 to 1780 they represented the largest group of users. Classical texts and belles lettres were the most popular, followed by moral philosophy, history and geography. After Lessing 's death the Library was closed to pupils andin 1783 theyfounded a „Primaner" library with contemporary Enlightenment works. Mechthild Raabe, Roseggerweg 45, D-3340 Wolfenbüttel

URSULA A.

J. BECHER

Lektürepräferenzen und Lesepraktiken von Frauen im 18. Jahrhundert

Historische Leserforschung sollte der Geschichtswissenschaft keine zusätzliche Fragestellung hinzufügen, die in einem weiteren Spezialfach zu behandeln wäre, sondern unter ihrer gesonderten Perspektive ins Zentrum der Geschichtswissenschaft einführen und dadurch zur genaueren Rekonstruktion vergangenen Lebens und Denkens beitragen. Als Sozialgeschichte des Lesens räumt sie das mögliche Mißverständnis aus, es gehe ihr sozusagen um eine neue, abgelegene Nische, und beschreibt ihr wissenschaftstheoretisches Verständnis, das sie in der Erforschung von Praktiken einzulösen sucht. Lesen ist eine kulturelle Praxis 1 , deren Analyse und Deutung zugleich die Struktur und Befindlichkeit einer Gesellschaft erhellen könnte. Erforscht man Lesen in dieser Weise als kulturelle Praxis, so sind Leser/Leserin, Buch/Bibliothek und der Vorgang des Lesens selbst zentrale Untersuchungsfelder. Die Ergebnisse einer solchen Untersuchung sind in dem Maße aussagekräftig, in dem die Gesellschaft mitbedacht wird, in der sich Leser und Leserinnen bewegen. Das gilt schon für die elementare Voraussetzung des Zugangs zum Buch: der Lesefähigkeit. Der Grad der Alphabetisierung der Bevölkerung steht in einem engen Zusammenhang mit Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur: Die Bildungspolitik schafft Voraussetzungen durch ein ausreichendes Netz von Schulen und die Ausbildung und Bereitstellung von Lehrern. Von der Entwicklung der Wirtschaft, ihrer Modernisierung und Differenzierung, die in wachsendem Maße lesefähige Arbeitskräfte verlangt, gehen wichtige Impulse auf den Arbeitsmarkt, das Schulwesen und die Politik aus. Inwieweit eine Gesellschaft diese Anforderungen aufnimmt, sagt etwas über ihre Struktur aus, ihre Mobilität oder ihre eher starre Beharrung. Hinzu kommt das soziale Prestige, das Lesefähigkeit in der Regel prämiiert und dadurch die Alphabetisierung fördern oder auch - wenn die dominanten gesellschaftlichen Gruppen aus dem Wunsch nach Exklusivität an einer Verbreitung nicht interessiert sind - hemmen kann. In der Teilhabe

1 Pierre Bourdieu und Roger Chanier, La Lecture. Une pratique culturelle, in: Roger Chanier (Hg.), Pratiques de Ja Lecture, Marseille 1985, S . 218 - 239.

Aufklärung 6/ 1

C> Felix Meiner Verlag, 1991 , !~SN 0178-7128

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der Menschen an der jeweiligen Kultur spiegeln sich die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zustände wider. Diese Überlegungen werden konkret, wenn wir den Zugang des Lesers zum Buch betrachten: Kauft er das Buch, und das heißt zugleich: Kann er die Kosten aufbringen? Und: Ist ihm das Buch so wichtig, daß sein Erwerb mehr zählt als andere Waren? Oder: Entleiht er es von Freunden, innerhalb einer Lesegesellschaft? Kulturelle Orientierungen und soziale Organisierung werden in solchen Vorgängen erfaßbar. Wenn man die Lektüre der Leser und Leserinnen untersucht, wird eine Bibliothek deutlich. Was enthält sie? Nach welchen Kriterien ist sie geordnet? Welcher Wissenskosmos ist in ihr eingefangen? Welchen Anteil daran haben gesellschaftliche Normen, welchen individuelle Bedürfnisse? Im 18. Jahrhundert nimmt die Lesefähigkeit zu, auch wenn die Lesenden immer noch eine Minderheit der Bevölkerung ausmachen. Die Freude an der Lektüre ist vielfältig bezeugt. Sie muß als ein auffallendes Merkmal in der Öffentlichkeit bemerkt worden sein, warnen Kritiker doch immer wieder vor einer Lesesucht, deren Wirkung auf die Stabilität der überkommenen Gesellschaft sie fürchten. Lesen im 18. Jahrhundert ist offenbar eine Praxis, deren Erforschung Aussagen über Bewußtsein und Befindlichkeit einer Gesellschaft erlaubt. Ist es sinnvoll, in diesem Zusammenhang weibliches Lesen eigens hervorzuheben? 2 Immer wieder berichten Leserinnen von gemeinsamer Lektüre von Männern und Frauen, von Buchempfehlungen, die sie ihren Vätern, Brüdern, Partnern verdanken. Dieser Kontext muß bei einer Untersuchung weiblichen Lesens jeweils mitbedacht werden. Dennoch scheint mir eine Untersuchung nicht verfehlt zu sein, die aus der Perspektive der Leserinnen heraus ein Licht auf die Lesepraxis im 18. Jahrhundert werfen wilJ. Offensichtlich ist der Anteil der Frauen am Lesepublikum gestiegen. Wenn diese Aussage auch nicht durch präzise statistische Angaben zu belegen ist, so wird sie doch durch andere Zeichen vermittelt. Viele zeitgenössische Bilder und Buchillustrationen zeigen lesende Frauen, und man könnte geneigt sein, Lesen als eine spezifische Tätigkeit von Frauen anzusehen. Betrachten wir als ein Beispiel das 'lesende Mädchen' in der bekannten Darstellung von Jean Honore Fragonard. Das Mädchen sitzt aufrecht und doch bequem in ein großes Kissen gelehnt. Ihr linker Arm ruht entspannt auf der Armlehne ihres Sessels. Ihre gesammelte Aufmerksamkeit scheint dem kleinen Buch zu gelten, das - aufgeschlagen - ihre rechte Hand hält. Die Haltung dieser Hand ist merkwürdig: Das aufgeschlagene Buch wird von Daumen, Mittelund Ringfinger gehalten, während der kleine Finger gespreizt bleibt, eine Lesehaltung, die kaum für eine länger dauernde Lektüre geeignet ist. Möchte der Maler in dieser Geste einen eher spielerischen Umgang des Mädchens mit seinem Buch

2 In einem größeren Forschungsvorhaben zur historischen Leseforschung an der Universität Eichstätt wird nicht allein das Lesen von Frauen im 18. Jahrhundert untersucht. Doch sind bisher die Erhebungen aufgrund autobiographischer Quellen von Leserinnen am weitesten fortgeschritten. Ursula Haas arbeitet zur Zeit an einer Dissertation zum Thema: Leserinnen im 18. Jahrhundert: Lesepraxis und Selbstverständnis (Arbeitstitel).

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andeuten? Das ist schwer entscheidbar. Aber selbst wenn eine solche Vorstellung beabsichtigt wäre, bleibt doch auffallend, daß Mädchen und Buch offenbar zusammengehören. Sozialgeschichtliche Erklärungen können diesen Eindruck verdichten: In der neuen Schicht der Gebildeten, aus der die meisten Leserinnen stammen, ist die Arbeitsteilung von Frauen und Männern früh vollzogen. Die Frauen, die einen Teil ihrer produktiven Aufgaben in Haushalt und Familie verloren, gewannen Freizeit und Muße, die sie zum Lesen nutzten. 3 Ob freilich der Anstieg der belletristischen Literatur innerhalb der Gesamtproduktion auf die "neuen Leser die weitgehend Leserinnen sind" 4 und ihre Bedürfnisse zurückzuführen ist, muß noch überprüft werden. Diese Frage nach den Lektürepräferenzen von Frauen wird auf der Basisautobiographischer Quellen untersucht, einer zweifellos nicht unproblematischen Quellengattung. Sie erweist sieb aber - gerade auch in ihren bedenklichen Eigenschaften - als ein vorzügliches Medium für eine historische Leserforschung, die nach Einstellungen und Werten einer kulturellen Praxis fragt. Selbst wenn man die Stilisierung der eigenen·Person, die eine Autobiographie bezweckt oder bezwecken kann, bedenkt und sie kritisch gegen die Literaturangaben einer Autorin wendet, verrät gerade sie vieles über den normgerechten Lektürekanon einer bestimmten Zeit. Freilich wird es - neben den quellenkritischen Prüfungen notwendig sein, die verschiedenen Formen autobiographischer Literatur differenziert zu untersuchen und nach ihren Intentionen und Realisierungschancen zu gewichten. Publizierte Autobiographien, Tagebücher und Briefe haben für unsere Frage nach weiblichem Lesen einen unterschiedlichen Aussagewert. Die im Jahre 1769 in Wien geborene Schriftstellerin Caroline Pichler veröffentlichte ihre Memoiren im Jahre 1844. Ihre Leseerfahrungen nehmen in diesen Aufzeichnungen einen breiten Raum ein, weil Carotine ihre persönliche Entwicklung in einen Zusammenhang zu ihrer Lektüre stellt, sei es, daß das Lesen bestimmter Bücher ihre naive Selbstgewißheit verstört und ihre Auseinandersetzung mit den gelesenen Thesen und Gegenthesen eine Krise heraufbeschwört, sei es, daß sie aus ihrer jeweiligen Lektüre auf den erreichten Bildungsstand schließt. Ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin freilich gibt die Perspektive vor, in der ihre Lektüre erscheint, und man kann annehmen, daß sie einer angehenden Schriftstellerin einen bestimmten Lektürekanon vorschreibt. Dieser kritische Einwand entwertet ihr Buch als Quelle aus zwei Gründen nicht: Gerade ihre spezifische Perspektive läßt einen Einblick in die Lektüre zu, die über ihren persönlichen Fall hinaus gesellschaftliche Anerkennung gefunden hat. Zum anderen verliert ihre Leserbiographie durch den Stilisierungsvorbehalt nicht jede Glaubwürdigkeit. Die große Vielfalt ihrer Lektüre - neben klassischen Autoren, den bekannten und berühmten englischen und französischen Schriftstellern

3 So die Erklärung von Erich Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987, S. 42 f. Schön hat in diesem Buch besonders ergiebige Quellen zeitgenössischer Bilder gedeutet. 4 Ebd „ S. 43.

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ihrer Zeit nennt sie populäre Ritterromane, erklärt sie die 'Luise' von Voß zu ihrem Lebensideal - umfaßt einen allgemeinen Lesergeschmack. Für den hohen Anteil anspruchsvoller Literatur in der Lektüre ihrer jungen Jahre spricht die sorgfältige intellektuelle Erziehung, die sie in ihrem geistig regen Elternhaus von anerkannten Lehrern erhalten hat. Glaubwürdigkeit kann diese Quelle freilich nur für die Leserbiographie insgesamt beanspruchen, nicht oder weniger für ihre einzelnen Phasen. Denn ein Rückblick von 1844 auf die kindlichen und jugendlichen Leseerfahrungen aus den J ahren 1775 bis 1790 kann - selbst bei gutem Willen - nicht genau sein. Ein solcher Einwand trifft auf alle Autobiographien zu. Ihr erinnernder Rückblick läßt nur sehr bedingt Aussagen über die Lektüre einzelner Bücher in bestimmten Jahren zu. Für eine Beantwortung solcher Fragen sind Tagebücher und besonders Briefe eine beredte Quelle. Sehr oft berichten Briefe von Lektüreerlebnissen, häufig ist ein bestimmtes Buch der Anlaß des Briefes: Die Schreiberin dankt dem Adressaten für eine Leseempfehlung oder für die Übersendung eines Buches, oder sie bittet ihn dringlich um die Besorgung eines Bandes, der sie interessiert. Aus solchen Texten lassen sich eher als aus Autobiographien die Lektüre bestimmter Schriften einzelnen Lebensphasen zuordnen. Neben den quellenkritischen Problemen wirft eine Untersuchung von Lektürepräferenzen weitere theoretische und methodische Fragen auf. Welche Bücher wurden gelesen? Welches Buch wurde von wem gelesen? Wieviele lasen ein bestimmtes Buch? Hat es Sinn, Lektürepräferenzen durch eine quantitative Auswertung festzustellen? Dagegen spricht einmal die Zufälligkeit der Überlieferung, wodurch kein repräsentatives Sample vorliegen kann, das nach exakten statistischen Methoden zu untersuchen wäre. Aber auch wenn Quellen in großer Anzahl vorlägen, wäre die Aussagekraft einer quantitativen Analyse für eine kulturgeschichtliche Deutung gering. Das französische Programm einer Mentalitätengeschichte als serieller Geschichte, das kulturelle Phänomene analog wirtschaftlichen und gesellschaftlichen auf der Grundlage massenhafter homogener Serien untersuchte, hat mit seinen Forschungsergebnissen die geschichtstheoretische Diskussion weitergeführt und neben ihren Möglichkeiten ihre Defizite offenbart. In der Auseinandersetzung mit der Kritik Robert Darntons hat Roger Chartier die Schlußfolgerung gezogen, die ich mir in meinen Überlegungen zu eigen mache: „Auch wenn weiterhin Serien gebildet werden und werden sollen, und sei es nur, um einen ersten Anhalt über Wichtigkeit und Verteilung der kulturellen Objekte und Praktiken zu gewinnen [„. ], so steht doch fest, daß das Hauptinteresse der Kulturgeschichte heute [... ] den ganz unterschiedlichen Weisen gilt, in denen Gruppen oder einzelne die intellektuellen Motive oder kulturellen Formen, die sie mit anderen teilen, für sich anwenden. " 5 Bei meinem Versuch, Lektürepräferenzen der schreibenden Leserinnen her-

s Roger Chartier, Text, Symbol und Frenchness. Der Historiker und die symbolische Anthro· pologie, in: Roger Cbartier, Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Welt· auslegung, Berlin 1989, S. 64 f.

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auszufinden, gilt es daher, die Nennungen der gelesenen Bücher im größeren kulturellen Kontext zu lesen. Die erste Frage, die sich aufdrängt, ist die nach dem Wandel der Lektürepräferenzen im 18. Jahrhundert. Gibt eine Auswertung der Quellenaussagen eine Antwort auf diese Frage? Sie würde deutliche Unterschiede in der Lektüre der Leserinnen voraussetzen. Die Leserinnen, deren Lektüre ich untersuche, sind zwischen 1729 und 1794 geboren. Liest Sophie Marie Gräfin von Voß (1729) andere Schriften als Amalie Sieveking (1794)? Die Unterschiede sind bei einer genaueren Überprüfung geringer als angenommen. Bei beiden nehmen religiöse und allgemein belehrende Schriften einen breiten Raum ein. Diese religiöse Orientierung könnte eine Konstante darstellen, die für die junge Sophie durch pietistischen Einfluß bedeutsam war und für Amalie Sieveking zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufs neue wirksam wurde, so daß etwa ein Rückgang des Interesses an religiöser Literatur zwischen beiden Generationen gesucht werden müßte. Aber die Ähnlichkeit der Lektüre beider Frauen - neben religiösen Schriften treten historische, Sophie Voß liest antike Autoren und spricht von ihrer Rousseau-Lektüre, Amalie Sieveking erwähnt Campe und Weisse könnte darauf hinweisen, daß nicht so sehr das Alter der Leserinnen als eine bestimmte Lebenssituation die Lektüre beeinflußt hat. Sophie Gräfin von Voß lebt am preußischen Hof. Als Erzieherin einer Prinzessin liest sie mit dieser gemeinsam Bücher, die - so kann man vermuten - aus einer pädagogischen Intention heraus gewählt wurden. Daß Voltaires Tragödie ' Zaire' gelesen wird, zeigt das Maß der legitimen Literatur. Als Witwe liest sie dem greisen König geistliche und historische Schriften vor, und man kann auch hier annehmen, daß die Interessen des Rezipienten die Lektüreauswahl bestimmt oder zumindest: mitbestimmt haben. Das Beispiel zeigt, wie wenig aussagekräftig die bloße Auflistung von Buchtiteln wäre, die erst im Praxiszusammenhang ihre Deutung erfahren können. Auch die Lektüre der jungen Amalie Sieveking erklärt sich aus ihrer Lebenssituation . Als engagierte Christin und Vorkämpferin der evangelischen weiblichen Diakonie - sie wird im Jahre 1832 den „ Weiblichen Verein für Armenund Krankenpflege" in Hamburg gründen - ist sie für religiöse und theologische Literatur besonders aufgeschlossen. Ihre Lektüre beschränkt sich freilich nicht darauf, sondern schließt bedeutsame Werke der europäischen Literatur ein. Zur Beschreibung der Lebenssituation von Sophie Marie von Voß und Amalie Sieveking waren bisher ihre beruflichen Aufgaben maßgebend. Zweifellos reichen diese allein nicht aus, um die Lektürepräferenzen dieser Leserinnen zu deuten. Ihre soziale und regionale Herkunft und ihre jeweilige Stellung im Lebenszyklus haben ihre Lebenssituation zweifellos beeinflußt , und es wäre zu fragen, ob wir durch solche Variablen Kriterien gewinnen, mit deren Hilfe wir die Lektüreauswahl der Leserinnen erklären können. Freilich: die Analyse der sozialen Herkunft der Leserinnen erbringt keine bedeutenden Unterschiede, sie belegt vielmehr aufs neue ihre soziale Homogenität. Wenn auch nahezu ein Drittel von ihnen dem Adel entstammt, so sind ihre Väter doch - wie auch viele Bürgerliche - als Staatsbeamte täti~. Neben diesen wirken die übrigen Väter als Professoren, Juristen, Pastoren, Arzte und Kaufleute. Die Leserinnen stammen also aus der Schicht der Gebildeten, die im 18. Jahr-

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hundert an sozialer Bedeutung gewonnen haben, und sie bleiben auch nach ihrer Heirat in diesem soziologischen Milieu . Die wenigen Ausnahmen - die „Karschin", Anna Louise Karsch, wäre ein spektakuläres Beispiel - können dieses Urteil nicht modifizieren - nicht allein deshalb, weil sie zahlenmäßig nicht ins Gewicht fallen, sondern weil sie, wenn sie sich ihre Lesefähigkeit und ihre Lektüre allen widrigen Umständen zum Trotz erkämpft haben, in dieser sozialen Schicht der Gebildeten Zutritt finden wollen. Dazu gehört das verbreitete Phänomen, daß viele Leserinnen - ob verheiratet oder nicht - sich als Schriftstellerinnen versuchen. Die Tätigkeit als Schriftstellerin sanktioniert ihre Gruppenzugehörigkeit. Während die Ergebnisse einer sozialen Analyse nicht überraschen, weil sie in das Bild passen, das die Forschung bislang gezeichnet hat, so sind Hinweise zur regionalen Herkunft der Leserinnen vermutlich besonders revisionsbedürftig. Die bisher ermittelten Quellen entstammen so überwiegend dem norddeutschen Bereich - mit einigen we~~en Beispielen aus Sachsen, Thüringen, Österreich und der Schweiz - daß die Uberlieferung keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen zuläßt. Sie bestätigt die Homogenität einer Schicht von Lesern und Leserinnen aus überwiegend norddeutschen protestantischen Beamtenfamilien. Sie kann nicht aussagen, ob in süddeutschen katholischen Familien gar nicht oder weniger gelesen worden ist. Der Mangel an Zeugnissen, die uns hierüber genaueren Aufschluß geben könnten, belegt freilich , daß die süddeutschen Leserinnen nicht in diesen Diskurs einbezogen waren , der quellenmäßig belegt ist. 6 Die Teilnahme am Diskurs aber ist entscheidend für die Lektüreauswahl der Leserinnen zwischen 1770 und 1800. Alte und junge Leserinnen lesen mehr oder minder dieselben Bücher, die in diesen dreißig Jahren diskutiert und in der bildungsbürgerlichen Diskussion geschätzt werden. Briefe und Tagebücher geben Aufschluß über die von Tag zu Tag gelesenen Bücher. Da die Leserinnen an einem Diskurs teilnehmen, ergibt sich ein Kernbestand an Literatur, der allen bekannt ist. Er besteht aus der ldassischen deutschen Literatur: Lessing, Klopstock, Wieland, Herder, Goethe, Schiller. Dabei ist freilich die Intensität der Zuwendung zu einzelnen Werken sehr unterschiedlich. Klopstocks 'Messias' und seine Oden sind für die meisten Leserinnen ein stark emotionales Leseerlebnis, das religiöse Gefühle hervorruft und der Lektüre erbaulicher Schriften gleicht. Die Werke der Aufklärung werden von den Leserinnen in der rational-kritischen Weise aufgenommen, die sich die Autoren erhofften. Allgemein aber gilt, daß die Zugangsweisen, die Art, wie die Leserinnen mit den Büchern bekannt werden, nicht ohne Einfluß auf ihre Lektüre sind. Wenn diese Bekanntschaft durch den Autor selbst geschieht, ist das Leseinteresse besonders groß. Das gilt etwa für Goethe, der gerne seine Werke vorlas und begeisterte Leserinnen fand. Oft sind es Brüder, Freunde oder Lebenspartner, die bestimmte Titel empfehlen und dadurch den dichten Diskurs dieser bildungsbürgerlichen Schicht knüpfen. Ergänzungen zum literarischen Kernbestand kommen meist durch solche Ratschläge zustande. Wäh-

6 Bisher sind kaum autobiographische Quellen aus dem süddeutschen Raum erfaßt. Die Erschließung süddeutscher Quellen ist ein wichtiges Desiderat der Forschung.

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rend Shakespeare ein allgemein gelesener Autor ist, kommen andere englische Autoren durch spezielle Umstände bei einzelnen Leserinnen hinzu. Das gilt vor allem für Caroline Hersehe!, die längere Zeit mit ihrem Bruder in England lebt und dort mit englischer Literatur vertraut wurde. Sie liest Sterne, Fielding, Scott, Byron und berichtet von der regelmäßigen Lektüre des 'Edinburgh Quarterly'. Die Beliebtheit von Richardsons Romanen freilich ist wohl auf den weiblichen Diskurs zurückzuführen. Mit den Heldinnen seiner Briefromane konnten sich die Leserinnen identifizieren. Auch französische Autoren gehören zum Lektürekanon. Einige Leserinnen beziehen sich häufiger auf die französischsprachige Literatur. Das tun die Schweizerin Julie von Bondeli, Caroline Flachsland, Sophie LaRoche und andere, die Voltaire, Racine oder Corneille nennen. Alle Leserinnen aber berufen sich auf Rousseau als bedeutenden, von ihnen geschätzten Autor. Dieses einmütige Lob ist sicher nicht unabhängig von der Anstrengung zu sehen, die es die meisten Leserinnen gekostet hat, sich die Rousseau-Lektüre zu erkämpfen. Einige Beispiele: Luise Mejer fragte ihren Briefpartner Boie 1782: „Sag mir doch, ob's eine Sünde ist, die 'Confessions' von Rousseau zu lesen? Für Frauenzimmer nämlich. Jeder lacht, wenn davon gesprochen wird. Werner versprach mir das Buch, jetzt schreibt er, ich könnte es nicht lesen. " 7 Luise Wiedemann, die Schwester Caroline Michaelis' und als Tochter des berühmten Orientalisten Johann David Michaelis dem Bildungsbürgertum zugehörig, beklagte sich im Rückblick bitter über die Einschränkungen, denen sie in ihrer Jugend unterworfen war: „Ich möchte nicht, daß Eine meiner Töchter in eine Lage käme wie meine Stellung war. Ich hätte mir mehr Offenheit gewünscht auch zu sprechen was man wollte u. sollte, weniger scheu sich mitzutheilen. Der gute alte General Malortie hatte auch viel liebevolles gegen mich. Ich weiß noch daß er mich fragte was lasen sie? Er hatte mich in meinem Zimmer sehen können. Ich sagte ihm die Wahrheit: La nouvelle Eloise. Kind haben Sie die Vorrede gelesen? Legen Sie das Buch weg, daß ist nicht für ein junges Mädchen. Nehmen Sie Campens Rath an seine Tochter. Nun," schloß sie resignierend, „das war auch nichts, ich verlangte mehr [ .. . ]"8 Caroline Christiane Lucius berichtet in einem Brief von 1762 an Christian Fürchtegott Geliert: „Mein Vetter, der D. Stieglitz, gab mir den ersten Theil von dem Emil des Rousseau zu lesen, ohne selbst etwas von diesem Buch gelesen zu haben. Es war mir lieb; denn die Verfolgungen, die dieses Buch erlitten und seinem Verfasser zugezogen, machen es interessant, und so natürlich es ist, wenn jemandem der Kopf abgeschlagen wird, zu fragen: Was hat er gethan? eben so natürlich ist es, wissen zu wollen, warum das Buch zum Feuer verdammt worden. Heute kommt Stieglitz zu mir. Ich spreche: Hier haben Sie Ihr Buch wie-

7 Ilse Schreiber (Hg.), Ich war wohl klug, daß ich Dich fand. Heinrich Christian Boies Briefwechsel mit Luise Mejer 1777 - 1785, München 1980, S. 171 f. 8 Julius Steinberger (Hg.), Erinnerungen von Luise Wied.emann geborene Michaelis, der Schwester Carotines. Nebst Lebensabrissen ihrer Geschwister und Briefen Scbellings u.a„ Göttingen 1929, S. 173.

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der, geben Sie mir nun den andern Theil. - 'Nein, Cousine. ' 'Nun? Warum?' 'Ich lese selbst nicht weiter.' 'Deswegen kann ichs doch wohl lesen. ' 'Im Ernst, Cousine, sie k:riegens nicht; ich darfs ihnen nicht geben. ' 'Wer verwehrt' s denn? ' ; 'Doctor Reinh. - ' 'Was geht uns D. Reinhold an?' 'Fragen Sie nur Ihren Bruder, der hats gehört; der Doctor sagte, es wäre ein giftiges Buch. Er giebt mir den Fluch, wenn ichs Ihnen lesen lassen. ' 'Was steht aber so Gefährliches darinnen?' - 'Auf mein Wort, ich weiß es nicht, ich habe es ja nicht gelesen, aber der Doctor .' - 'O mit Ihrem Reinhold! ' ' Auch andere Leute. Der Geh. Rath Fritsch fragte mich , ob ich närrisch wär, daß ichs Ihnen gegeben hätte? Ich darf gewiß nicht.' So stritten wir, liebster Herr Professor, und endlich verglichen wir uns dahin, daß ich Sie fragen sollte, wofern Sie das Buch kennen, ob er mirs geben darf, und er ließ mich versprechen, es nicht zu lesen, wenn Sie es nicht wollten, und wenn mirs auch hundert Leute geben wollten. Das that ich gern , und will ihms auch halten. Große Lust hätte ich, zu sehen, was für ein Lehrgebäude von Religion Rousseau seinem Emil beybringen und auf welche Art er sie ihn lehren wird. " 9 Diese Beispiele zeigen , wie wenig aussagekräftig eine bloße Aufzählung von Buchtiteln wäre. Erst der Praxiszusammenhang kann einen Aufschluß darüber geben, wie und warum Bücher gelesen werden. Was kann für Leserinnen „legitime" Literatur heißen? Wer bestimmt das jeweils? Inwieweit können Leserinnen ihre Literaturauswahl selbst bestimmen? Wenn auch auf solche Fragen keine einheitliche, für alle Leserinnen gültige Antwort gegeben werden kann, weil individuelle Abweichungen möglich sind, schälen sich doch einige Grundlinien heraus. Solange die Leserinnen auf Anregungen und Buchempfehlungen angewiesen sind, solange sind sie auch Verboten und Einschränkungen ausgesetzt. Ihre überwiegende häusliche Existenz schottet sie häufig von äußeren Anregungen ab. Brüder und Freunde, die in fernen Universitätsstädten studieren oder am literarischen Austausch und der öffentlichen Diskussion beteiligt sind, bedeuten für sie oft die eigentliche Brücke zur Außenwelt. Je mehr sich die jungen Frauen ausgeschlossen fühlten , um so stärker waren sie von den Anregungen der Welt abhängig. Manche Brüder und Partner haben diese Situation ausgenutzt und sich ihren intelligenten Schwestern als Zensor und Lehrer aufgenötigt. Am Beispiel von Goethe und Herder analysiert Ulrike Prokop solche Verhaltensweisen, die „Bildung als Bemächtigung" verstehen. „Das Bedürfnis nach Kontrolle und In-Besitz-Nehmen ist nur als Bildung getarnt. Von diesem Sich-Einmischen in das innere Leben der Mädchen sprechen alle Briefe des jungen Goethe an die ein Jahr jüngere Schwester Cornelia in Frankfurt. Die Schwester soll ganz sein Geschöpf sein [„ .]" 10

9 Friedrich Adolf Ebert (Hg.), Briefwechsel Christian Fürchtegott Gellerts mit Demoiselle Lucius, Leipzig 1823 , S. 155 f. 10 Ulrike Prokop, Die Einsamkeit der Imagination. Geschlechterkonflikt und literarische Produktion um 1770, in: Gabriele Brinker-Gabler (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen, Bd. 1, München 1988. S. 341.

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Gellerts Bemühungen um die rechte Lektüre von Caroline Lucius verliefen sehr viel subtiler. In ihrer Anfrage hatte Caroline die Entscheidung, ob sie den zweiten Teil des 'Emile' von Rousseau lesen dürfe, in seine Hände gelegt. In seinem Antwortbrief vom 26. Oktober 1762 fällte er ein erstaunlich angemessenes, gleichsam salomonisches Urteil. Würde er auch anderen von dieser Lektüre abraten, so neige er Caroline Lucius gegenüber zu einer anderen Empfehlung: „Bei Ihnen aber, liebe Mademoiselle (und hier sehen Sie die Größe meines Zutrauens zu Ihnen), bey Ihnen, sage ich, will ich eine Ausnahme machen. Denn so viel Beredtsamkeit und Scharfsinn Rousseau auch hat, das Ungegründete gegründet und das Mögliche zum Wahren zu machen, so bin ich doch überzeugt, daß er ihren Verstand nicht so leicht hintergehen, und von ihrem guten und fü r die Ehre der Religion empfindlichen Herzen mehr zu fürchten haben wird, als von aller Philosophie. "II Nicht allein in diesen Sätzen, in denen Rousseau zum gefährlichen Autor stilisiert wird, der ganze Brief, den er um seine Erlaubnis rankte, lief auf die Empfehlung hinaus, trotz dieser Erlaubnis lieber auf die Lektüre zu verzichten. Obgleich er, Gellert, nur die Vorrede gelesen hatte, wußte er doch, daß er dieses Buch niemals lesen werde. Die Gründe für seine Ablehnung strotzten vor Unkenntnis. Er liebe das Natürliche und Wahre, Rousseau das Sonderbare, Paradoxe und „höchstens das schimmernde Wahre[...]" Was immer Geliert im einzelnen darunter verstehen mochte, es ist deutlich, daß die Stigmatisierung Rousseaus als eines nichtchristlichen Autors die Beschäftigung mit seinen Schriften verbietet. Sollte aber Gellerts Beispiel nicht genügen, Caroline günstig zu beeinflussen, so konnte sie vielleicht die Empfehlung anderer Autoren von der Rousseau-Lektüre ablenken. Hatten sich nicht Mosheim und Basedow sehr viel kundiger zu Fragen der Erziehung geäußert? „Doch wozu dies alles?" fragt Geliert schließlich. „Scheint es doch, als ob ich die Erlaubniß, die ich Ihnen ertheilet nur darum ertheilt hätte, um Sie Ihnen mit der anderen Hand wieder zu nehmen." So konnte es scheinen. Und es bleibt offen, ob dieses Eingeständnis eher naiv oder als ein besonders effektives Argument gedacht ist. Geliert bleibt bei seiner Zusage, wenn nicht - das könnte eine letzte Hoffnung sein - der Vetter Stieglitz die Erlaubnis verweigert. Dieser Vetter Stieglitz, Sohn des Bürgermeisters von Leipzig, war wegen seines „unstäten und flatterhaften Sinns" (so der Herausgeber) das Sorgenkind seiner Eltern. Noch am selben Tag greift Gellert wiederum zur Feder, um Caroline in einem zweiten Brief - und nun definitiv - von der Lektüre Rousseaus abzuhalten. Dieses Mal beruft er sich auf das Gespräch mit einem „wackeren Mann", den er in dieser Angelegenheit konsultiert habe und der entsetzt von der Lektüre dieses Buches abgeraten habe, „das gefährlichste, das vielleicht jemals zum Umsturze der Religion geschrieben wurde." Geliert bittet daher inständig, „mit der Lektüre der übrigen Theile des Rousseau noch einige Zeit anzustehen; und was könnten sie wohl der Bitte ihres Freundes Gellert versagen?"

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Vgl. Briefe 52, 53, 54 und 56 aus dem Briefwechsel (wie Anm. 9).

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Drei Wochen später antwortet Caroline in einem langen Brief. Nach einer umständlichen Einleitung, in der sie sich ihrer Freundschaft zu Geliert rühmt und in die Rolle seiner Tochter schlüpft, um aus dieser Perspektive ihre Dankbarkeit für seine Fürsorge zu bekennen , erklärt sie: „Ja, liebster Herr Professor, ich will den Emil nicht lesen." Sie gibt sich ganz überzeugt von den Einwänden gegen den Autor und will aus bloßer Neugier ein Buch nicht lesen, das man ihr als so gefährlich geschildert hat. Da sie aber, im Unterschied zu Geliert, den ersten Teil des Werkes bereits gelesen hat, erlaubt sie sich denn doch, sich zu wundern, daß so nützliche Gedanken zur Erziehung im zweiten Teil so schädlich weitergeführt sein sollen. Zum Beleg und zur Erläuterung zitiert sie lange französische Passagen, die ihr positives Urteil unterstützen. „ Was kann menschlicher sein?" Und sie endet diesen Gedankengang: „Es ist vielmehr ein Unglück für die Leser, wenn ein Buch in gewissen Betrachtungen so gut und im andern wieder so sehr schlimm ist. Doch wir wollen den Emil verlassen." Carotine hatte die Leseerlaubnis zwar nicht erwirkt, zumindest aber ihre eigene Position klar zu definieren gesucht. Die Kraft der Cornelia Goethe, sich gegen Bevormundung zur Wehr zu setzen, reichte dagegen nicht aus. Andere wußten listig mit Verboten umzugehen. „Damals waren die 'Räuber' von Schiller eben heraus", erzählt Luise Michaelis, „und ich weiß, es hieß Caroline habe Fieber beim lesen bekommen. Die Mutter war über diese Lectüre sehr aufgebracht. Eben so durfte man später kaum die Götter Griechenlands als unchristlich usw. lesen. " Und sie setzt hinzu: „ Desto eifriger wurden sie verschlungen und auswendig gelernt, wie so manches andere Gedicht. " 12 Die jugendlichen Listen des Widerstands mußten abgelöst werden durch das selbstbestimmte Verhalten der erwachsenen Leserinnen. Gelegentlich freilich gewinnt man den Eindruck, als würde erst die Witwe die Freiheit erhalten, ohne fremde Bevormundung über ihr Leben entscheiden zu können. So lassen sich manche autobiographischen Zeugnisse deuten. Während der schweren Krankheit ihres Mannes im Jahre 1788 berichtet Sophie LaRoche in diesem Sinne in einem Brief: „Doch das beste aus diesen Veränderungen, welche unter den Lebenden vorgehen, und der, welche der Tod hervorbringen wird, entstehen kann, ist meine Freiheit, nach meinem Charakter zu leben, in der Tat nach ihm zu leben, wie bisher nur mit meiner Feder geschehen konnte [ . .. ]" 13 Nach dem Tode ihres Mannes zwei Monate später spricht sie, nachdem sie des Verstorbenen gedacht hat „Nun ist er in den Schoß seines Urhebers und des ewigen Friedens, der die vollendete Tugend umgibt" - ihre Hoffnung auf ein neues, selbstbestimmtes Leben mit unverhohlener Freude aus: „Familienarrangements halten mich einige Tage

Erinnerungen von Luise Wiedemann (wie Anm. 8), S. 61 . Kurt Kampf, Sophie LaRoche. Ihre Briefe an Gräfin Elise zu Solms-Laubach 1787-1807, Offenbach 1965 , S. 32. 12 13

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noch, aber nun kann ich die teuer erkaufte Freiheit zu edlem Genuß meiner übrigen Tage bestimmen [. .. ]" 14 Andere Frauen teilten ihre Zeit genau ein, um stille Stunden für sich und ihre privaten Beschäftigungen zu gewinnen. Sophie Marie von Voß versuchte, die Vormittage von Besuchen freizuhalten, um Zeit zum Lesen und Schreiben zu haben. Barbara Schultheß fand nachts eine einsame Lesestunde. Susanna Katharina von Klettenberg gewann die frühen Morgenstunden für sich. "Seit meinem sechsten Jahr gewohnt, um fünf Uhr des Morgens , im Winter wie im Sommer aufzustehen, behielt ich diese Sitte bei, indem ich mir berechnete, daß die drei bis vier Stunden, die ich auf diesem Wege gewann, nicht übel angewendet seyn würden, wenn ich sie meinen Privatangelegenheiten widmete [...) Mein erstes Geschäft war alsdann, mich mit kaltem Wasser zu waschen, und ein nächstes, mich vollständig für den Vormittag anzuziehen. War ich damit fertig , so las oder schrieb ich im Winter, oder verrichtete für mich oder für andere irgendeine Handarbeit im Sommer [... )" 1S Zeit zum Lesen zu finden , war so wichtig, weil Lesen für die meisten dieser Frauen einem existentiellen Bedürfnis entsprach . lm Lesen fanden sie Zugang zu einer fernen Welt, die ihre eigene Welt werden mußte. Ihre alltägliche Welt zählte nicht, verglichen mit der herrlichen Welt, die die Bücher ihnen erschlossen, der Alltag freilich wurde - vom Glanz der Buchwelt erstrahlt - erträglicher. Die Lektüre anspruchsvoller Bücher verbindet sie mit der Welt, die für sie, die sie aufs Haus, auf die private Innenwelt verwiesen sind, Außenwelt, Öffentlichkeit darstellt. Viele Anstrengungen der Leserin sind darauf gerichtet, Einblick in diese Welt und Zugang zu ihr zu gewinnen. Das konnte ihnen nur über eine Ausbildung ihrer geistigen Fähigkeiten durch schulische Erziehung gelingen. Daß vielen von ihnen dieser Weg versperrt blieb, verfolgte sie in einem Gefühl intellektueller Minderwertigkeit ein Leben lang. Sie blieben notgedrungen "mehr Herz als Kopf". „Sie müssen' s gesehen haben, so wie ich es fühle, daß ich ein Stück Herz anstatt Hirn habe" , schreibt Sophie LaRoche in diesem Sinne in ihrem Brief an Johann Caspar Hirzel (1771) . "Mit dreizehn Jahren wollte der große Brucker meine Erziehung und Bildung meines Geistes besorgen. Ich bat meinen Vater auf Knien um die Einwilligung, aber er wollte nicht, und meine empfindungsvolle Mutter bereicherte nur mein Herz, in welches alle Geschäftigkeit meines Geistes übergetreten ist. " 16 Wo dieser Zugang zur Bildungswelt über alle Schwierigkeiten hinweg gelungen ist, da sind die Frauen bereit, sich bis zur Erschöpfung ihrer körperlichen Kräfte zu engagieren, um dauerhafte Anerkennung zu finden. Die spätere Astronomin Caroline Hersehe!, deren Entdeckung wir die Kenntnisse mehrerer Kometen verdanken, opferte sich als Assistentin ihres Bruders auf: "Aber ich ließ keinen Tag vergehen, ohne in der Bibliothek so lange zu arbeiten, als ich ohne

Ebd., S. 32. Bekenntnisse einer schönen Seele. Von ihr selbst geschrieben, Berlin 1806, S. 144. Michael Maurer (Hg.), leb bin mehr Hen als Kopf. Sophie von LaRoche. Ein Lebensbild in Briefen, München 1983, S. 155. 14 1s 16

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Kerzenlicht auch nur einen Buchstaben zu sehen vermochte, nahm gewöhnlich noch Papiere zum Abschreiben mit, und verwendete dazu den größten TheiJ der Nacht. Auf diese Weise wurde es mir möglich, meinem Bruder bei seiner Heimkehr einen klaren Bericht über das zu geben, was in seiner Abwesenheit geschehen war." 17 Obgleich Caroline Hersehe! zu den wenigen Frauen gehört, denen der Zugang zur Bildungswelt gelungen ist, versteht sie sich primär als Assistentin ihres Bruders und findet in dieser beruflichen Situation Freude und Erfüllung ihrer Hoffnungen. Carotine Herschels Lebensweg ist freilich zu exzeptionell, um verallgemeinerungsfähig zu sein. Die meisten Leserinnen erhofften sich eine Intensivierung ihres inneren Lebens, eine Bereicherung ihrer selbst. Sie nennen das, was sie von der Lektüre erhoffen, „Bildung". Caroline Pichler sucht in ihrer Lektüre Orientierung für ihr Leben. So erkennt sie in der 'Luise' von Voß ihr Lebensideal. 18 AJbertine von der Grün erwartet „Nahrung für meine Seele", die in ihrem täglichen Leben ausbleibt.19 Sophie Brentano meint, durch die Lektüre eine andere zu werden. „Wenn Montaigne mir tausend gute Dinge gesagt hat, glaube ich, daß sie in mich eingegangen sind, daß sie mich besser gemacht haben; ich verspüre mehr Geduld, mehr Kraft. " 20 Dieses Bedürfnis erkJärt die Intensität der Lektüre, die wiederum in bestimmten Praxisformen sichtbar wird. Wie muß oder kann man einen Text verstehen? Diese Frage wird den Leserinnen immer dann problematisch, wenn sie nicht einsehen können, warum andere ein Buch schätzen, dessen Lektüre ihnen nicht gefallen hat. So erschienen Sophie Mereau die Memoiren der Clairon „ordentlich, pedantisch und langweilig". Da Clemens Brentano dieses Werk rühmt, fühlt sie sich beschämt und wendet sich dem Buch aufs neue zu. „Indeß habe ich alle Mühe angewandt, mich recht hinein zu studieren, und mit den Prinzipien der Verfasserin vertraut zu werden, so daß es mir endlich gelungen ist, sie ganz vortrefflich zu finden. " 21 Andere Leserinnen lernen Fremdsprachen, um sich mit den fremdsprachlichen Texten eine neue Kultur und dadurch eine weitere Welt zu erschließen. Wieder andere versuchen, sich das Gelesene anzueignen, indem sie TeiJe daraus exzerpieren und bisweilen auswendig lernen, eine Übung, die sich aus der intensiven Bibellektüre erhalten hat. Dieses verbreitete Exzerpieren kann freilich noch eine andere Bedeutung haben. So wird vom Schönhof berichtet, auf dem die Schweizerin Barbara Schultheß zu Hause war: „Gelegentlich verwandelte sich das Lesekabinett des Schönhof

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Frau John Herschel (Hg.), Carotine Herscbels Memoiren und Briefwechsel, Berlin 1877, S.

160f. 18

Carotine Pichler, Denkwürdigkeiten aus meinem Leben, Bd. 1, Wien 1844, S. 86.

19 Karl Schwarz (Hg.) , Albertine von der Grün und ihre Freunde. Biographien und Briefsammlung mit historischen und literargeschichtlichen Anmerkungen , Leipzig 1872, S. 131 , Brief vom 2. Mai 1786. 20 Karin Schenk (Hg.), Meine Seele ist bei Euch geblieben. Briefe Sophie Brentanos an Henriette von Arnstein, Weinheim 1985, S. 214. 21 Heinz Amelung (Hg.), Briefwechsel zwischen Clemens Brentano und Sophie Mereau, 2 Bde„ Leipzig 1908, Bd. 1, S. 62.

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in eine Schreibstube, nämlich wenn Goethe das Manuskript eines seiner neuen Werke sandte. Alle wetteiferten dann, von den kostbaren Heften Kopien anzufertigen, um den Inhalt dauernd zu besitzen und das Original dem Verfasser ohne Verzug zurückschicken zu können. 22 Es geht nicht allein um das bloße Aufnehmen von Gedanken und Ereignissen, die in Büchern niedergelegt sind, sondern um produktive Aneignung. Die Lesepraktiken sind sehr verschieden je nach der Lebenssituation der einzelnen Leserin. Indem wir diese Praxisformen untersuchen, erfahren wir etwas über die Lebenswelt der Leserin und über die Bedeutung des Lesens für sie. Neben dem Text gilt unsere Aufmerksamkeit dem „Hors-Texte" .23 Dazu gehört auch die körperliche Haltung des Lesenden. Ob man aufrecht sitzend sich respektvoll über ein Buch beugt oder eher lässig im Gras liegend einen Schmöker liest - solche Bilder gehören zum „Hors-Texte" und können viel über den Umgang mit Büchern verraten. 24 Bisweilen erfahren wir in den Briefen und Tagebüchern der Leserin etwas über diesen „Hors-Texte". Gräfin Franziska von Hohenheim, die Gattin des Herzogs Karl Bugen von Württemberg, begleitet ihren Mann zur Jagd und vertreibt sich die Wartezeit mit Lektüre: Während der Herzog neun Hirsche(!) schoß, so hält sie in ihrem Tagebuch (1783) fest, las sie Klopstock. 2s Anders sieht es in bürgerlichen Haushalten aus, aber auch hier sind die Frauen, ähnlich wie Franziska von Hohenheim, bestrebt, ihre Lesewünsche mit ihren üblichen Verpflichtungen zu verbinden. „Es ist ein Lärm in der Stube, als wenn noch ein Capitol zu retten wäre", beschreibt Albertine von der Grün ihre Umwelt, in der sie liest und schreibt. 26 Sie beklagt sich nicht, sondern weiß das Beste aus diesen Umständen zu machen. „Lachen muß ich manchmal, was es für ein wunderlicher Mischmasch in meiner Sphäre ist, von meiner Malerei zum Schnitzendörren, von Büchern zum Sehwartemagen-Machen und so mehr- und doch bin ich bei diesen Dingen gleich gern und vergnügt. "27 Für Sophie Brentano fügen sich die einzelnen Tätigkeiten so gleichgültig aneinander, daß eine ereignislose Tristesse die Stimmung einfärbt. In einem Brief an Henriette von Amstein schreibt sie 1798: „Was ich mache, fragst du, ich stöbre in einigen Büchern herum, ich kritzle ein wenig, ich schleppe mein Kind, und denke meiner fernen Lieben. Dabei vergeht ein Tag nach dem

22 Gustav von Scbultheß-Rechberg, Frau Barbara Scbultheß vom Schönenhof, die Freundin Lavaters und Goethes, Zürich 1903, S. 9 f. 23 .Lire, c'est donc constituer et non pas reconstituer un sens [ ... ] Le lecteur, la situation de lecture, je les appellerai ici, pour plus de commodite le hors-texte, et c •est lui que je me propose de decrire atravers quelques bypoth~s et quelques exemples. ~ Jean Goulement, De la lecture comme production de sens, in: Roger Chanier (wie Anm. 1), S. 91; vgl. zu dieser ganzen Thematik. Gerard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a . M„ New York, Paris 1989. 24 Goulement, De la lecture (wie Anm. 23), S. 92. 2S Andrea Osterberg (Hg.), Tagebuch der Gräfin Franziska von Hobenheim, späteren Herzogin von Württemberg, Reutlingen 1981, S. 240. 26 Albertine von der Grün (wie Anm. 19), S. 97. 21 Ebd., Brief an Merck 1785, S. 127f.

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andern (...]" 28 Die Lektüre ist ein selbstverständlicher Bestandteil dieses gleichmäßigen Tageslaufes. Je vertrauter der Umgang mit Büchern geworden ist, um so bewußter ist den Leserinnen der „Hors-Texte". Ein solches Verständnis zeigt Caroline Michaelis bei ihren sorgsam unterschiedenen Buchwünschen: „[ ... ] nun bitt ich Meyern, erstlich um etwas amüsantes, gut zu lesen, wenn man auf dem Sopha liegt. Das muß kein Foliant sein, sondern was man mit einer Hand hält." Sie schlägt für diesen Fall „neuere französische Trauerspiele, kleine Romane, Memoires oder auch etwas ernsthafters" vor. Eine andere Körperhaltung erlaubt auch eine anders geartete Lektüre: „Zweytens möcht ich etwas zu lesen, wenn man auf dem Sopha sizt und einen Tisch vor sich hat!", nämlich: „ältere englische Geschichte aus Alfreds Zeiten; und den vierten Theil von Plutarch. "29 Die Zuordnung der Schriften zu der jeweiligen Körperhaltung beim Lesen hat einen praktischen Sinn, verlangen die wissenschaftlichen Werke doch mehr als die kleinen Romane eine intensivere Konzentration. An einem Tisch sitzend lassen sich leichter Exzerpte anfertigen. Am Ende des 18. Jahrhunderts haben manche Leserinnen einen derart vertrauten Umgang mit verschiedenartigen Büchern erlangt, daß die Frage nach der „Leserevolution" zu dieser Zeit neu zu stellen ist. Sie ist nicht allein als Wende vom intensiven zum extensiven Lesen zu deuten. 30 Es gibt eine vertiefte Intensität der Lektüre, die sich das Gelesene anverwandelt, sich dergestalt aneignet, daß es in die Lebenswelt hineinwirkt und ein Teil von ihr wird. 31 Ob stilles, einsames Lesen oder die gemeinsame Lektüre - beide Praktiken gibt es nebeneinander, und sie werden je nach Bedürfnis und Situationen gewählt. 32 Das stille Lesen ist Teil der Privatsphäre, und in dem Maße, in dem Frauen sich durch ihre Pflichten ihrem persönlichen Leben entfremdet fühlen, ist die Lektüre ein Stück hart erkämpftes zurückgewonnenes Leben . Eine interessante, aufregende Lektüre möchte man andererseits mit Freundinnen teilen. So fragt Albertine von der Grün: „ Was hilft mich nur um Gotteshimmelswillen das Lesen, wenn ich keine Seele habe, die mir ihre Bemerkungen, ich ihr die meinigen mittheilen kann ( ... ]" 33

Meine Seele ist bei Euch geblieben (wie Anm. 20), S. 42. Erich Schmidt (Hg.), Caroline. Briefe aus der Frühromantik, Bd. I, Berlin 1970, S. 142. Vgl. dazu Manin Welke, Gemeinsame Lektüre und frühe Formen von Gruppenbildungen im 17. und 18. Jahrhundert. Zeitu.ngslesen in Deutschland, in: Otto Dann (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981, S. 29-53. 31 .Mais la faoon de s'approprier l'imprime a pris un tour nouveau vers la fio du dix-huitieme siecle [ ...] Elle consistait a 'bien digerer' les livres de facon telle qui'ils entraient profondement dans le tissu de la vie quotidienne. • Robert Darnton, La lecture rousseauiste et un lecteur 'ordinaire' au XVIIIieme siecle, in: Roger Chartier (wie Anm. 1), S. 148. 32 Für die allgemeine Entwicklung vgl. Roger Chartier, Lesewelten, Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M., New York, Paris 1990, S. 146 - 168. 33 Albertine von der Grün (wie Anm. 19), S. 131. 28 29 30

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Die gemeinsame Lektüre fördert das Textverständnis, und die Leserinnen berichten von vielfältigen Praxisformen, die als Freizeitgestaltung sehr beliebt sind. Hierzu gehört das Lesen mit verteilten Rollen. Andere begeistern sich für bestimmte Schriftsteller, für die sie Partei ergreifen. Caroline Lucius berichtet von solchen jugendlichen Gruppenbildungen : „Ich und meine zwei Freundinnen (die eine davon ist 13 Jahre alt), sind itzt in einem lebhaften und wichtigen Streit verwickelt. Pope ist unser Held [... ]" 34 Die elfjährige Amalie Sieveking gründete mit ihren Brüdern eine Akademie. Alle vierzehn Tage trugen die Mitglieder ihre Gedanken zu einem selbstgewählten Thema vor. Der beste Aufsatz wurde prämiiert. 35 Solche Beispiele ließen sich vermehren. Sie zeigen, daß am Ende des 18.Jahrhunderts für viele Frauen Lesen zu ihrem Leben gehört. In welchem Maße solche Lesepraktiken über die begrenzte soziale Schicht der Leserinnen in andere soziale Gruppen hineinwirkten, ist noch eine offene Frage. Mit einiger Sicherheit hat das beliebte Vorlesen im Familienkreis auch solche Mitglieder des Hauses in das Textverständnis einbezogen, die - als Verwandte oder Dienstboten - zu jener Zeit noch nicht über die Lesefähigkeit verfügten. Lesen war im 18. Jahrhundert eine verbreitete kulturelle Praxis, an der auch Frauen in zunehmendem Maße teilnahmen. Ihre zahlreichen autobiographischen Zeugnisse - Autobiographien, Tagebücher, Briefe - geben Aufschluß über ihre Lektüren: über die Wahl der Bücher, Wege des Erwerbs, Zugangsweisen, Praxisformen. Die Lektürepräferenzen der Leserinnen können nicht durch quantitative Analysen exakt bestimmt werden. Sie werden weit besser erfaßt, wenn man den Spuren der zeitgenössischen Konflikte um die legitime Literatur folgt. Welche Literatur war Frauen zu lesen erlaubt? Wer entschied darüber? Inwieweit konnten Frauen ihre Lektüre selbständig bestimmen? Diese Fragen verweisen auf den Diskurs von Frauen und Mlinnern im 18. Jahrhundert. Die Lektürepraktiken entsprachen vielfttltigen Bedürfnissen: Formen intensiver Aneignung, in einsamer Konzentration wie im Gedankenaustausch mit Lesern und Leserinnen, sollten den Wunsch nach Weltgewinn und Bildung realisieren. Die Strategien, im Tageslauf Zeit für privates Lesen zu reservieren und die Lektüre mit ihren üblichen Alltagspflichten zu verbinden , zeigen, wie sehr das Lesen zum täglichen Leben dieser Frauen aus der neuen Schicht der Gebildeten gehört. In the eighteenth century reading was a widespread cultural practice in which women increasingly took part. Their numerous autobiographical writings - autobiographies, diaries, Letters - throw Light on their reading: on the choice ofbooks, on the channels of their distribution, on ways of using them. The reading preferences of women readers cannot exactly be determined by quantitive analyses.

34 Oellerts Briefwechsel (wie Anm. 9), S. 35. 3S Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Amalie Sieveki ng in deren Auftrag von einer Freun-

din verfaßt, Hamburg 1860, S. 6.

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They can be grasped better, if one traces the contemporary conflicts concerning legitimate literary texts. What sorts of literature are women allowed to read? Who decides this question? How far women readers determine their own reading matter? Such questions point towards the discourse of women and men in the eighteenth century. The reading habits correspond to the manifold needs: Forms of intense participation in the matter read, both in isolated concentration and in the exchange of opinions with other male and female readers, fulfil the wish of experiencing the world and gaining education. The strategies by which the use to read is combined with the duties oflife show to what extent reading belongs to the daily lives of these intellectually interested women. Prof. Dr. Ursula A. J. Becher, Katholische Universität Eichstätt, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät, Ostenstr. 26-28, D-8078 Eichstätt

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Eine höfische Gesellschaft als Lesegesellschaft

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Bonn war am Ende des 18. Jahrhunderts• eine jener kleinen Residenzstädte, die den besonderen Charme Deutschlands ausmachten. In den Jahren, als der junge Beethoven hier aufwuchs, lebten etwa 10900 Einwohner innerhalb der Stadtmauern. Diese überschaubare Stadtgemeinschaft, in der beinahe jeder jeden kannte, zerfiel jedoch in verschiedene soziale Milieus: den Hof des Kurfürsten, wo der Adel dominierte; die bürgerliche Gesellschaft der Beamten und der Intelligenz; das Gewerbe- und Handelsbürgertum, das sich wiederum von den handarbeitenden Unterschichten absetzte, und schließlich die Juden in ihrer eigenen Gasse. Alle diese Gesellschaften waren funktional aufeinander bezogen, schon deshalb, weil sie mehr oder weniger im Dienste des kurfürstlichen Hofes standen. Doch sie lebten streng voneinander getrennt in ihren sozialen Lebenskreisen, deren Grenzen zugleich Barrieren des Konnubiums und der gesellschaftlichen Kommunikation waren. Zur höfischen Gesellschaft im eigentlichen Sinne gehörten nur diejenigen, die gesellschaftlich - nicht nur beruflich - Zugang zum Hof des Kurfürsten und dessen Veranstaltungen batten. 2 1 Zur Geschichte der Stadt Bonn im ausgehenden 18. Jahrhundert existiert eine reiche Literatur , die bei Edith Ennen, Geschichte der Stadt Bonn, Bd. 2, Bonn 1984, verzeichnet ist. Zur Situation des Rheinlandes im Jahrzehnt vor der Französischen Revolution: Max Braubach, Das Rhein· land am Vorabend der Französischen Revolution , Bonn 1939. 2 Seit der späten Veröffentlichung von Norbert Elias' Habilitationsschrift 'Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie' (1969), verbunden mit der verspäteten Rezeption von dessen Hauptwerk 'Über den Prozeß der Zivilisation', 1939 (2 1969), ist der Begriff 'höfische Gesellschaft' in der Geschichtswissenschaft und über sie hinaus zu einem viel verwendeten historischen Vorstellungssyndrom geworden. Aloys Winterling hat es in seiner Kölner Dissertation (Der Hof des Kurfürsten von Köln. 1688 -1794, Bonn 1986) am Beispiel des Bonner Hofes im 18. Jahrhundert kritisch überprüft (vgl. seine überzeugende Auseinandersetzung mit Elias, ebenda, S. 13ff.). Für die Regierungszeit des letzten Kurfürsten, Max Franz. (1784-1794), ist festzuhalten: Der etwa zweimal pro Woche sich versammelnde Hofstaat war die weiterhin vom Adel beherrschte offizielle Veranstaltung des kurfürstlichen Hofes , neben dem Kurfürst Max Franz bereits ein eigenes privates Leben im kleineren Kreise führte . Außerdem war es anläßlich besonderer Feste, besonders bei den Maskenbällen, bereits zu einer Ausweitung der höfischen Gesellschaft gekommen. Zum Hoftheater hatten seit den 1770er Jahren auch die Bürger Zutritt. An den Maskenbällen waren alle höheren Bediensteten des Hofes , also auch Bürgerliche, beteiligt, und 'Kaufleute und Bürger' durften von der Galerie aus zuschauen. Es ist demnach zwischen dem traditionellen Hofstaat und der erweiterten höfischen Gesellschaft zu unterscheiden.

Aufklärung 6/1

0 Felix Meiner Verlag, 1991 , ISSN 0178-7128

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Auch in den l 780er Jahren waren diese ständischen Abgrenzungen noch voll intakt, die Grundstrukturen der Gesellschaft wurden von keiner Seite ernsthaft in Frage gestellt. Dennoch herrschte in dieser Gesellschaft kein Stillstand. Es war schon seit langem etwas in Bewegung gekommen: Die Aufklärung hatte sich in Bonn verbreitet, zuerst in den Köpfen der Intelligenzschicht, bald aber auch sichtbar in verschiedenen organisatorischen Neuerungen. Der Kurfürst hatte im Jahre 1777 eine Akademie ins Leben gerufen, die 1786 zu einer Universität erweitert wurde; unter seinen Beamten war ein Geheimbund von Illuminaten entstanden, der durch eine gezielte Personalpolitik den Staat im Sinne der Aufklärung von innen her reformieren wollte. Auf diesem Hintergrund ist im Jahre 1787 eine neue organisatorische Initiative in Bonn zu beobachten: die Gründung einer Lesegesellschaft.3 Es waren zwei Freiherren aus altem Adel, zwei Geistliche, ein gräflicher Beamter, der zugleich Schriftsteller war, der Mundkoch des Kurfürsten und drei Mitglieder der Hofkapelle, von denen die Initiative ausging - eine bemerkenswerte soziale Zusammensetzung, die noch näher zu analysieren sein wird. Auffällig ist die Nähe aller zum kurfürstlichen Hof. Eine Lesegesellschaft im höfischen Milieu: Wir fragen zunächst nach den Gründungsmotiven und nach dem Charakter der neuen Vereinigung . Ein Zeitgenosse schreibt, sie sei entstanden „aus dem gemeinsamen Streben gebildeter Männer, aus den engen Schranken des eigenen Bewußtseins herauszutreten und sich in geistiger Weise an dem mannigfaltigen Leben der Völker zu beteiligen durch Lektüre und mündlichen Austausch der Ideen [ ... ], um mit der einer neuen Bildung rastlos entgegeneilenden Zeit nach Kräften fortzuschreiten". 4 In diesem Text kommt ein neues Zeitgefühl zum Ausdruck. Die Gründer der Bonner Lesegesellschaft betrachteten die Welt, in der sie lebten, nicht mehr als eine stabile Ordnung; sie sahen sie in einem ' rastlosen' Wandel, in einer permanenten Entwicklung im Zeichen des Fortschritts. Von daher war auch ihre persönliche Situation geprägt: Sie fühlten sich in ihrer kleinstaatlichen Umwelt nicht mehr sicher. Sie empfanden deren Grenzen als Schranken des eigenen Bewußtseins. Durch eine ' neue Bildung' wollten sie diese Schranken überwinden, und die Lektüre galt als der wichtigste Weg einer solchen Entgrenzung. Sicher waren diese Bonner Vereinsgründer schon seit langem selbst lesende Zeitgenossen. Nun aber wollten sie viel mehr lesen als bisher, und sie suchten nach immer neuem Lesestoff - nicht nur Bücher, auch Zeitungen und die neuen Journale, die für den Fortgang der Aufklärungsbewegung eine zunehmend grö-

3 Die Geschichte der Lesegesellschaft in Bonn ist bisher fast nur von ihren eigenen Mitgliedern dargestellt worden . Die jüngste und ausführlichste Publikation in dieser Reihe ist Karl Ruckstuhl , Geschichte der Lese- und Erholungsgesellschaft in Bonn, in: Bonner Geschichtsblätter 15 (1961 ), S. 26 - 180. Vgl. zum Folgenden außerdem: Otto Dann, Die Anfänge demokratischer Traditionen in der Bundeshauptstadt. Zur Gründung der Bonner Lesegesellschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Bonner Geschichtsblätter 30 (1978), S. 66-81. 4 Joseph Hansen (Hg.), Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution, Bd. 1, Bonn 1931 , S. 215.

Eine höfische Gesellschaft

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ßere Rolle spielten. Diese neue Lektüre aber wurde nicht mehr als eine Privatsache angesehen, sie wurde zum Anlaß einer formellen Gruppenbildung, das war ein neuer Schritt. Warum konstituierten sich die Mitglieder einer höfischen Gesellschaft, die sich ohnehin täglich begegneten, zu einer Lesegesellschaft? Ausgebend von dem neuen Bildungs- und Lektüreverhalten sind zunächst pragmatische Gründe zu nennen: Die Lektüre mehrerer Periodika konnte für den einzelnen nur über ein gemeinschaftliches Abonnement hinreichend realisiert werden. Darüber hinaus jedoch war hier ein neues Bedürfnis nach gesellschaftlicher Kommunikation und Aktion maßgebend: Innerhalb der Bonner Lesegesellschaft fanden sich Individuen zusammen, denen bewußt wurde, daß sie neue Interessen hatten. Um diese zu verfolgen und durchzusetzen, wurde es notwendig, die Grenzen der bisherigen Sozialisation zu überschreiten und sich in neuer Weise zusammenzuschließen. Betrachten wir die soziale Zusammensetzung der Bonner Lesegesellschaft von daher etwas genauer. Schon die Aufzählung der Initiatoren hatte deutlich gemacht, daß sich sowohl Adlige, Geistliche wie auch Bürgerliche hier zusammentaten, also Personen aus den drei Ständen des Ancien Regime, die sonst nicht auf gleicher Ebene gesellschaftlich miteinander verkehrten. Nimmt man sämtliche Mitglieder der ersten Epoche des Vereins (1787-1794) zusammen, dann ergibt eine Auszählung, daß der Adel mit 32 % vertreten war: ein ungewöhnlich hoher Anteil. Die Lesegesellschaft war demnach eine Vereinigung, in der Adel und Bürgertum in Bonn den Versuch eines neuen gesellschaftlichen Umganges miteinander machten. Das soziale Milieu der Residenzstadt begünstigte diesen Versuch. Von den Mitgliedern der Lesegesellschaft standen 87 3 über ihren Beruf und ihr Einkommen in einer unmittelbaren Abhängigkeit zum fürstlichen Landesherrn. Auch das Interesse an einer 'neuen Bildung' ist für die soziologische Analyse relevant. Es waren innerhalb der drei Stände nur bestimmte Gruppen, die sich zu jener Initiative entschlossen: diejenigen, die sich als die Gebildeten bezeichneten. Innerhalb des Bonner Hofadels kann man diese Grenzlinie genau erkennen. Unter den bürgerlichen Mitgliedern der Lesegesellschaft ist die Dominanz der Beamten augenfällig. Nicht das traditionelle Bonner Stadtbürgertum von Handel und Gewerbe, sondern das neue Intelligenzbürgertum ist es gewesen, das in die Lesegesellschaft ging und dort den Umgang mit dem Adel suchte. Die Kommunikation zwischen Adligen und Bürgerlichen, die im gesellschaftlichen Alltag stets unter Wahrung der Standesunterschiede stattfand, sollte sich innerhalb der Lesegesellschaft nach einem neuen Modus vollziehen: dem der Gleichberechtigung. Das war unter den damaligen Umständen ein Wagnis, und in Bonn ließ man sich einiges einfallen, damit es Erfolg hatte. So wurde unter anderem der Vorschlag gemacht, die Sitzordnung bei einer jeden Versammlung durch eine Verlosung der Plätze neu festzulegen. 5 In diesem Zusammenhang ist noch einmal zu erwähnen, daß in Bonn bis zum

s Auch bei den Hoffesten unter Kurfürst Clemens August wurde beim Souper die Sitzordnung ausgelost, um zeremonielle Probleme zu umgehen - jedoch innerhalb des Hofstaates! Vgl. Winterling (wie Anm. 2), S. 160.

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Otto Dann

Jahre 1785 eine Gruppe von flluminaten existierte, jener Geheimgesellschaft, die das Organisationsprinzip der Freimaurer übernommen hatte, das eine Gleichstellung der Mitglieder vorsah. Die Rangunterschiede im bürgerlichen Leben sollten innerhalb der Gesellschaft nicht gelten; man nannte sich 'Bruder' und vertauschte seinen Namen mit einem neuen Vereinsnamen, der für alle nach einem gleichen Prinzip gebildet wurde. Von den Gründungsmitgliedern der LesegeselJschaft waren viele vor kurzem noch Illuminaten gewesen. 6 Die neue Geselligkeit zwischen Adel und Bürgertum, die man in der Bonner Lesegesellschaft praktizierte, hatte ihre sozialen Grenzen, die nicht übersehen werden dürfen. Sie waren zunächst dadurch markiert, daß nur Gebildete Zugang fanden; auch Frauen finden wir nicht in den Mitgliedslisten. Ein Mitgliedsbeitrag von 4 Reichstalern pro Jahr sowie die Verpflichtung zur Übernahme eines Abonnements sorgten für eine zusätzliche Abgrenzung nach unten. Schließlich bestimmten die Mitglieder durch eine Ballotage selbst, wen sie in ihre Gesellschaft aufnehmen wollten. Soziale Reputation im Umkreis des Hofes und ein privates Bildungsinteresse waren die Kriterien, die für den Zugang zu dieser Lesegesellschaft konstitutiv waren. Wie gestaltete sich die neue Geselligkeit, zu der man sich in Bonn vereinigte? Schon die Gründungsmitglieder haben viel darüber diskutiert; sie sahen das Risiko, das sie mit ihrer Vereinsgründung eingegangen waren. Deshalb fixierte man unmittelbar nach der Konstitutierung die Grundsätze der neuen Geselligkeit. Eine Kommission erarbeitete 'Gesetze der Lesegesellschaft'; sie wurden eingehend in der Mitgliederversammlung diskutiert und nach dem Mehrheitsprinzip verabschiedet. Diese legislatorische Anstrengung verdient Beachtung. Sie geschah in einer politischen Umgebung, in der noch kein Staat eine geschriebene Verfassung besaß: Der Beginn eines konstitutionellen Denkens in einer Residenzstadt, die weitgehend von den Herrschaftsformen des Absolutismus geprägt war. In der Lesegesellschaft war die Mitgliederversammlung die oberste Instanz, die über alle Fragen der Gesellschaft zunächst zu beraten und dann zu entscheiden hatte. Das Prinzip der Gleichberechtigung fand seine Anwendung nicht nur in der Sitzordnung, sondern auch in dem Recht jedes Mitglieds, in der Versammlung zu reden und Vorschläge einzubringen. Die Entscheidungen wurden durch Abstimmungen getroffen, in denen jedes Mitglied über eine Stimme verfügte und die Mehrheit den Ausschlag gab; das sind heute alltägliche Formen demokratischer Entscheidungsfindung, nicht jedoch im 18. Jahrhundert! Obwohl die Mitgliederversammlung in allen Fragen das letzte Wort hatte, erwies es sich als notwendig , für die laufenden Geschäfte einen Ausschuß einzusetzen. Er bestand aus einem Direktor, der für ein Jahr in geheimer Abstimmung gewählt wurde, dem Sekretär und dem Kassierer (dieser mußte jede Quittung zwei Wochen den Mitgliedern zur Einsicht auslegen und sie vorher vom Direktor gegenzeichnen lassen). Die übrigen sechs Ausschußmitglieder wurden nicht von der Mitgliederversammlung gewählt; sie gehörten nach der Reihenfolge ihres

6 Vgl. Alfred Becker, Christian Gottlob Neefe und die Bonner llluminaten, Bonn 1969.

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Beitrittes jeweils sechs Monate dem Ausschuß an, und zwar so, daß in jedem Monat ein Beisitzer ausschied und ein anderer nachrückte. So war sichergestellt, daß jedes Vereinsmitglied auch einmal Mitglied des Ausschusses wurde. Mit allen diesen Bestimmungen sollte gewährleistet sein, daß die Entscheidungsgewalt bei der Versammlung der Mitglieder verblieb und jedes Mitglied an diesem Prozeß beteiligt war. Das kommt besonders in den Bestimmungen der Gesellschaftsverfassung zum Ausdruck, mit denen die Kontrollfunktion der Mitgliederversammlung geregelt wurde. Ursprünglich hieß es in der Bonner Satzung: „Die Mitglieder regeln alle Dinge gemeinschaftlich". Deshalb traf sich die Mitgliederversammlung anfangs alle 14 Tage, später dann einmal im Monat. Nach der Einsetzung des Ausschusses war man bemüht, dessen Befugnisse möglichst einzuschränken. Es wurden 'Instruktionen' ausgearbeitet, in denen dessen Aufgaben und Pflichten genau festgelegt waren. Wichtig war in diesem Zusammenhang die Einrichtung des 'Depositenkastens', in den jedes Mitglied Zettel mit Vorschlägen und Kritik einwerfen konnte. Ausschuß und Mitgliederversammlung wurden dadurch sofort mit der Angelegenheit befaßt: Der Kasten - er wurde 'Stimme des Volkes' genannt- mußte vor jeder Sitzung geleert werden. Auch diese Regeln tragen den Geist der Gleichberechtigung und der Selbstverwaltung; sie wurden entwickelt, um einen geselligen Verkehr zwischen Adel und Bürgertum in neuen Formen zu ermöglichen. Wenn hier auch nur am Rande zu notieren: Es darf nicht übersehen werden, daß die Bonner Lesegesellschaft bei Lektüre und interner Diskussion nicht stehengeblieben ist. Schon im zweiten Jahr wurde gefordert, auch über den Verein hinaus etwas für den Fortgang der Aufklärung zu tun. Eine Initiative in dieser Richtung war der Plan, eine Zeitschrift herauszugeben. Man wollte breitere Volksschichten erreichen, vor allem die Landbevölkerung. Auch an die Herausgabe eines Volkskalenders wurde gedacht. 7 Der Landesherr, Kurfürst Max Franz, ein Sohn der Maria Theresia, verhielt sich wie seine Brüder in Wien und in der Toskana: als ein aufgeklärter Reformer. Er schenkte der Lesegesellschaft das Meublement für die Einrichtung der Klubräume und erschien ein Jahr nach der Gründung selbst zu einer Sitzung. Aus dieser privilegierten Situation einer demokratisch verfaßten Gesellschaft in einem absolutistisch regierten Ständestaat ergaben sich interessante Perspektiven für eine Modernisierung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse am Rhein. Sie konnten sich leider nicht entfalten; denn die Französische Revolution löste auch in Bonn Reaktionen aus, die bald zum· Ende der Reformpolitik und zu neuen gesellschaftlichen Konflikten führten.s Beunruhigt durch die französischen Ereignisse und ihren Widerhall in Deutschland, wurde das Kölner Domkapitel, in dem der alte Adel dominierte, aktiv und richtete im Januar 1790 eine Beschwerdeschrift über führende Mitglieder der Lesegesellschaft an den Kur-

7 Hierzu der Beitrag von Max Braubach, Ein publizistischer Plan der Bonner Lesegesellschaft aus dem Jahre 1789, in: Festschrift Ludwig Bergsträsser, Düsseldorf 1954, S. 21-39. 8 Zum Folgenden vgl. bes. die kommentierte Dokumentation von Joseph Hansen (wie Anm. 4). s. 702 ff. u.ö.

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fürsten. In dem dadurch ausgelösten Konflikt standen sich zwei sehr verschiedene 'Gesellschaften' gegenüber: die wichtigste Institution des geistlichen Kurstaates, korporativ zusammengesetzt und ausgestattet mit zentralen politischen Rechten, und auf der anderen Seite eine Vereinigung der offenen, gleichberechtigten Geselligkeit, die sich ihren gesellschaftlichen Wirkungskreis erst suchen mußte. Angesichts der sich radikalisierenden Entwicklung in Frankreich bekam das Domkapitel die Oberhand: Der Sekretär der Lesegesellschaft, der das Domkapitel in einer Flugschrift angegriffen hatte, mußte die Stadt verlassen, die Lesegesellschaft wurde einem Zensor unterstellt, der die ausliegenden Journale und Bücher zu kontrollieren hatte, unter anderem auch den 'Moniteur' auf den Index setzte und viele Bücher beschlagnahmte. Als die französischen Revolutionstruppen im Herbst 1794 vor den Toren der Stadt standen, beschloß die bereits reduzierte Mitgliederversammlung die Aufhebung der Lesegesellschaft. Ihre Bücher wurden zur Verwahrung unter die Mitglieder verteilt. Als die Gesellschaft sich schon im Jahre 1798 wieder konstituierte, hatte sie ein anderes Gesicht. Es fehlten die Adligen, der Klerus und die Professoren der Universität, die in den ersten Jahren eine führende Rolle gespielt hatten. Stattdessen gab es neue Mitglieder aus den Reihen der französischen Armee. Als diese Bonn im Jahre 1814 verlassen hatte, kehrten die alten Verhältnisse jedoch nicht wieder zurück. Die Lesegesellschaft blieb eine rein bürgerliche Vereinigung und veränderte noch einmal die Formen ihrer Geselligkeit. Sie nannte sich nun 'Lese- und Erholungsgesellschaft' und war zu einem Freizeitklub geworden, zu dem auch Frauen Zugang hatten. Der Weinkeller und die Restauration der Lesegesellschaft erlangten in der Stadt bald eine größere Berühmtheit als deren Bibliothek. Die adlig-bürgerliche Geselligkeit im Zeichen von Aufklärung, Bildung und Reform war eine Episode der rheinischen Spätaufklärung geblieben.

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So wichtig und bedeutungsvoll die Bonner Lesegesellschaft als Plattform einer neuen Geselligkeit und Reformtätigkeit im höfischen Bonn auch gewesen ist: Sie war eine Lesegesellschaft; in ihrem Mittelpunkt stand die Lektüre, der Umgang mit Büchern. Diesem Aspekt soll sieb das Interesse nun zuwenden. Wir fragen nach der Bibliothek der Gesellschaft, nach deren organisatorischem Aufbau, nach deren Handhabung, nach ihrer inhaltlichen Struktur. Zunächst gilt es, sich bewußt zu machen: Die Bücher und Periodika, die in den Lesegesellschaften angeschafft wurden, stellen eine ganz neuartige Form der Büchersammlung dar. Sie sind nicht vergleichbar mit der Bibliothek des lesenden und bibliophilen Individuums, denn sie sind die Bibliothek einer sozialen Gruppe. Nicht nur der Leser, auch der Käufer und der Besitzer war hier eine Kollektivperson, eine Gesellschaft mit formalisierten Verkehrsformen. Damit unterscheidet sich die Bibliothek der Lesegesellschaft wiederum von anderen Formen der öffentlichen Bibliothek, wo der Besitzer beziehungsweise der Käufer ein Individuum oder eine Institution gewesen ist, auf die der Leser keinen Einfluß hatte.

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Auch bei der Erforschung von Bibliotheken macht es einen Unterschied, ob man den Bibliotheksbesitz einer sozialen Gruppe erst nachträglich durch eine methodische Auswahl von Privatbibliotheken konstituiert - und durch eine mehr oder weniger gewagte Verallgemeinerung zum Beispiel von 'der Gelehrtenbibliothek' spricht - oder ob eine solche Gruppe sich als Kollektivbesitzer selbst gebildet hat. Die methodischen Vorteile für eine sozialgeschichtlich orientierte Analyse liegen auf der Hand: Gegenüber den vielen Unsicherheiten, die eine nachträgliche Zusammenstellung individueller Fälle mit sich bringt, hat man es hier mit einer konkreten Gruppe zu tun, die zudem - wenn die Quellenlage es erlaubt - in ihrem Verhalten beobachtet werden kann. Von daher ist es von besonderem Interesse, nach den Verfahrensregeln und Verhaltensweisen zu fragen, die innerhalb einer Lesegesellschaft im Umgang mit den Büchern entwickelt wurden. An vorderster Stelle steht die Frage nach der Anschaffungspraxis. Wie wurde bei der Auswahl der zu kaufenden Literatur verfahren? Wer bestimmte die Zusammensetzung des Lesestoffs? „Grundsatz war natürlich, daß der Leiter der Gesellschaft die Auswahl der Ankäufe nach dem 'allgemeinen Interesse' traf" , urteilt Rolf Engelsing, der sich vor allem mit den Lesegesellschaften in Bremen befaßt hat. 9 Die uns heute zur Verfügung stehenden Materialien ergeben jedoch ein wesentlich anderes Bild. Da die Bonner Lesegesellschaft uns in ihrer Dokumentation hier weitgehend im Stich läßt, muß in diesem Punkt auch Material aus anderen zeitgenössischen Lesegesellschaften herangezogen werden. In der Anschaffungspraxis der Lesegesellschaften sind zwei verschiedene Verfahren zu beobachten. Bei der Mehrheit der Vereine hatte jedes Mitglied das Recht, seine Wünsche anzumelden, und die Mitgliederversammlung entschied dann über den Kauf. „Die Anschaffung der Bücher und Zeitungen geschah durch Stimmenmehrheit; wer ein Buch wollte angeschafft haben, mußte den Titel dem Cassirer übergeben, der alle Monate abstimmen ließ", so in der Chronik einer der ältesten Gesellschaften, 1775 in Elberfeld gegründet. 10 Die zehn Jahre jüngere Karlsruher Gesellschaft schreibt in die Statuten: „Die Auswahl der zu lesenden Schriften und alle anderen in jener Gesellschaft nötigen Gesetze hängen ganz allein von der Mehrheit der Stimmen der[ ... ] Mitglieder ab: Denn es ist eine ganz gleiche Gesellschaft, in welcher jedes Mitglied mit dem andern gleiche Rechte hat." 11 Hier wird die Anschaffungspraxis direkt aus dem leitenden Strukturprinzip der Gesellschaften, der Gleichberechtigung, abgeleitet.

9 Rolf Engelsing, Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland, 1500- 1800, Stuttgan 1974, s. 226. 10 A. von Carnap, Geschichte des Wuppertales. Die geschlossene Lesegesellschaft in Elberfeld, in: Zeitschrift des bergischen Geschichtsvereins 1 (1863), S. 55; das Folgende bei Marlies Prüsener, Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Lesergeschichte, Diss. phil. München 1971 , in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 13 (1973), Sp. 369-594; auch in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 28 (1972), Sp. 189-301. 11 Nützliche Lesegesellschaft zu Karlsruhe, in: Journal von und für Deutschland (1785), 1. Stück, s. 15f.

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In den größeren Gesellschaften, in denen eine gemeinsame Beratschlagung anhand der Kataloge nicht praktikabel war, wurde ein Ausschuß eingesetzt, um die Auswahl zu treffen. Aber auch hier behielt es sich die Mitgliederversammlung in der Regel vor, die endgültige Entscheidung zu fällen beziehungsweise den Ausschuß zur Rechenschaft zu ziehen. In Basel waren zwei Mitgliederversammlungen im Jahr der Kontrolle des Ausschusses vorbehalten, in Stuttgart wählte man ein anderes Verfahren 12 : „In Ansehung des Vorschlagens neuer Bücher ist folgendes festgesetzt worden: So oft die Mitglieder des Ausschusses auf eigenen Antrieb oder auf schriftliche Veranlassung irgendeines Mitglieds ein oder mehrere neue Bücher vorschlagen wollen, so wird dieses unter der Aufschrift: Vorgeschlagen, nebst dem Datum an der Tafel affigiert, und wenn sich innerhalb vierzehn Tagen auf dem Zettel eine Majorität der Stimmen pro oder contra ergibt, so wird in Ansehung der Bestellung danach verfahren. " So war sichergestellt, daß die Gesamtheit der Mitglieder die Kontrolle über die Literaturauswahl behielt. Beim Aufbau der Bibliotheken kamen demnach die Prinzipien, die sich in diesen Vereinen herausgebildet hatten, umfassend zur Anwendung. Die Bibliotheken der Lesegesellschaften waren das Ergebnis einer mehrheitlichen Meinungsbildung. Jedes Mitglied konnte sie benutzen, und sie waren täglich geöffnet. Die sogenannten 'öffentlichen' Bibliotheken der Zeit, die Universitäts-, Schloß- oder Ratsbibliotheken, dagegen waren nur für einen sehr begrenzten Leserkreis und für diesen auch nur an ausgewählten Tagen und über einen komplizierten Erlaubnisweg zugänglich . 13 In der Lesegesellschaft wurde die Bibliothek zum Ort der Kommunikation. Wie sah der Lesestoff aus, der hier zusammengetragen wurde? Welche Sachgebiete waren vertreten, welche dominierten? Können von daher Rückschlüsse auf die Leseinteressen der Gesellschaft gezogen werden? Die Beantwortung dieser Fragen ist in erster Linie abhängig von den überlieferten Bibliothekskatalogen. Noch immer werden Bestandsverzeichnisse von Lesegesellschafts-Bibliotheken entdeckt: in den Akten noch bestehender Gesellschaften, in lokalen und regionalen Archiven, innerhalb von Polizeiakten, in zeitgenössischen Presseberichten.14 Die vergleichende Auswertung solcher Verzeichnisse steht noch in den Anfängen. Auf der Basis publizierter Kataloge und unter Zuhilfenahme der bisherigen Auswertungsstudien können jedoch einige, wenn auch vorläufige Aus-

12 Zit. bei Günter Erning, Das Lesen und die Lesewut, Heilbronn 1974, S. l 16f. Zu Basel vergleiche die eingehende Spezialstudie von Daniel Speich, Une societe de Lecture a la Fin du Xllle et au Debut du XIXe siede. La 'Allgemeine Lesegesellschaft' de Bäle 1787 - 1832, Diss. Basel 1975, S. 246. Ähnlich waren die Regelungen in Ludwigsburg und Trier (vgl. Barney M. Milstein, Eight Eighteenth Century Reading Societies. Sociological Contribution to the History of German Literature (German Studies in America, l I) , Bern und Frankfurt 1972, S. 37 und 56. 13 Vgl. Friedrich Paulsen, Geschichte des geleh~.en Unterrichts , Bd. 2, Berlin 192 l , S. 138 ff. 14 Erinnert sei an die von Carl Haase benutzten Uberwachungsakten im Staatsarchiv Hannover oder an das ' Journal von und für Deutschland', den wichtigen zeitgenössischen Informationsträger über die Entwicklung der Lesegesellschaften in Deutschland.

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sagen über die inhaltliche Struktur der Lesegesellschafts-Bibliotheken des 18. Jahrhunderts gemacht werden. Zunächst ist die dominierende Position der periodischen Literatur herauszustellen. Zeitungen und Zeitschriften, dje unter den Titeln des deutschen Verlagsmarktes im 18. Jahrhundert nur etwa 5 % ausmachten, waren die bei weitem wichtigste Lektüre in den Lesegesellschaften. Ihr Anteil schwankt in den uns bekannten Katalogen zwischen 10 % und 70 % des Gesamtbestandes. Eine ausgedehnte Lektüre von Zeitungen und Zeitschriften war offensichtlich das besondere Interesse der Mitglieder und wohl auch das Kontinuum ihrer kommurukativen Beziehungen innerhalb des Vereins. Es gab Gesellschaften, die sich ausschließlich auf das Abonnement von Periodila konzentrierten. In dem Städtchen Wunstorf, das damals etwa 1600 Einwohner zählte, wurden im Jahre 1793 in der einen Lesegesellschaft 14, in der anderen 20, insgesamt also 34 Periodjka gehalten! I$ Neben den Periodika die Bücher. Sie stehen - aufs Ganze gesehen - erst an zweiter Stelle. Häufig begann man mit dem Abonnement von Zeitungen und ging dann über zur Anschaffung von Büchern. Je länger ein Verein bestand, desto mehr wurden die Bücher zu einem eigenen Bestand, über den noch zu sprechen sein wird. Hervorzuheben bleibt an dieser Stelle, daß die Auswahl der Bücher zunächst weitgehend im Dienste der Zeitungslektüre stand: Nachschlagewerke, Handbücher und Atlanten waren überproportional in den Bibliotheken vertreten. Um den thematischen Interessen der Lesegesellschaften auf die Spur zu kommen, sind die Sachgebiete ins Auge zu fassen, zunächst im Bereich der Periodika.16 Hier sind die Zeitungen dem politischen Interesse zuzuordnen, doch auch bei den Zeitschriften steht ein solches im Vordergrund. Politisch-hjstorische Zeitschriften - das 'Journal von und für Deutschland', die ' Minerva' von Archenholz, Schlözers 'Staatsanzeigen', das Hamburger ' Politische Journal' - waren in den l 790er Jahren führend. Nimmt man die starke Zeitungslektüre hinzu, dann ist das Bedürfnis nach politischer Information und Diskussion als erstes festzuhalten. Ln der Häufigkeit der Abonnements folgen allgemeinwissenschaftliche Blätter, Rezensionsorgane oder Zeitschriften mit starken Rezensionsteilen, zum Beispiel die Jenaer' Allgemeine Literatur Zeitung', Nicolais 'Allgemeine Deutsche Bibliothek', aber auch die ' Berlinische Monatsschrift'. Wer solche Zeitschriften abonruert, der will über die aktuelle Entwicklung in Wissenschaft und Literatur informiert sein und mit ihr Schritt halten. Von diesem Bemühen zeugen auch zahlreiche wissenschaftliche Fachorgane in den Bibliothekskatalogen aus den Bereichen Theologie, Ökonomie, Statistik und Geographie. Vergleicht man die hier deutlich werdenden Schwerpunkte mit der strukturellen Gliederung des Zeitschriftenmarktes, dann kommen die besonderen Akzente der organisierten Leserinteressen noch deutlicher zum Ausdruck: Während auf

U Carl Haase, Der Bildungshorizont der norddeutschen Kleinstadt am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Festschrift Hermann Aubin, Bd. 2, Wiesbaden 1965, S. 522 f. 16 Zum Folgenden vgl. Prüsener (wie Anm. 10) und Mitstein (wie Anm. 12) sowie die Angaben von Joachim Kirchner, Die Grundlagen des deutschen Zeitscbriftenwesens, Leipzig 1931.

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dem Verlagsmarkt, also vom Angebot her, die nichtwissenschaftlichen literarischen und unterhaltenden Zeitschriften mit 40 % vertreten sind, beträgt deren Anteil in den Lesegesellschaftsbibliotheken nur 20 %; demgegenüber sind die politisch-historischen Zeitschriften in den Lesegesellschaften mit ca. 25 % vertreten, im Zeitschriftenangebot hingegen nur mit 10 %. Ähnliches gilt für die allgemeinwissenschaftlichen Zeitschriften (20 %-Anteil in den Lesegesellschaften, 8 % auf dem Zeitschriftenmarkt) . Das Publikum der Lesegesellschaften hat demnach gegenüber dem Marktangebot eigene Schwerpunkte entwickelt, orientiert auf das Zeitgeschehen und seine geistigen und gesellschaftlichen Zusammenhänge. Bei den Buchbeständen finden wir eine ähnliche Gewichtung der Sachgebiete vor. Hier steht an erster Stelle die allgemeinbildende Sachliteratur, die wohl im Dienste und in Fortsetzung der Journallektüre zu sehen ist: Nachschlagewerke, Reallexika, Atlanten fehlen in kaum einer der Bibliotheken. Den größten Anteil unter den Büchern machen historisch-politische und geographische Werke aus, vor allem Reisebeschreibungen und Biographien - eine Literatur also, die Informationen über die zeitgenössische Gesellschaft enthielt und zur Bildung eines pofüischen Urteilsvermögens beitragen konnte. Ebenfalls einer ' nützlichen' Bildung zuzurechnen sind sodann die Werkemoral-theologischer Aufklärung und technisch-ökonomisch-naturwissenschaftlicher Wissensvermittlung. Sie stehen mit unterschiedlicher Gewichtung - an zweiter Stelle und dokumentieren einmal mehr das Interesse an nützlicher Information . Diese Tendenz wird durch die Position der schönen Literatur in den Bibliotheken der Lesegesellschaften unterstrichen.17 Sie steht gegenüber den pragmatischen Werken deutlich an zweiter Stelle. Im Jahre 1790 wurde in Basel zum Beispiel gefordert, es möchten doch weniger Romane und mehr wichtige und instruktive Bücher angeschafft werden. Über die Anschaffung von Romanen hat an manchen Orten eine Diskussion stattgefunden, in Bonn sogar über den Kauf von Wielands Werken. Die schöne Literatur gehörte nicht zu den primären Interessen der Mitglieder; sie hat erst allmählich und verstärkt seit 1794, als der Höhepunkt des politischen Interesses überschritten war, an Bedeutung gewonnen. Blickt man im Vergleich auf das Gesamtangebot des zeitgenössischen Buchmarktes, wie es in den BuchhändlerZeitschriften um 1780 zum Ausdruck kommt, dann werden auch hier die Akzentsetzungen deutlich. Die schöne Literatur machte damals schon ein Drittel des Buchmarktes aus, das politisch-historisch-geographische Schrifttum dagegen umfaßte etwa 12 % des Angebots - die Prioritäten sind gegenüber denen der Lesegesellschaften also geradezu vertauscht. Zur Demonstration und vergleichenden Zusammenschau von Bibliotheksbeständen ist es seit längerem üblich, quantitative Auswertungen in Graphen festzuhalten. Das soll an dieser Stelle nicht geschehen; je mehr man sich mit Lesegesellschaften beschäftigt, desto mehr erscheint es fragwürdig, die Gesellschaften einfach nebeneinanderzustellen und quantifizierend über einen Leisten zu schla-

11 Vgl. zum Folgenden Prüsener (wie Anm. 10), Sp. 448ff. und Daniel Speich, Une Societe de Lecture a la Fin du XV!He Siecle, Diss. Basel 1975.

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gen. Bei den historisch-analytischen Aussagen über Lesegesellschaften sollte stärker als bisher von einer sozialgeschichtlichen Typologie ausgegangen werden, in der der soziale Charakter einer jeden Gesellschaft, die Schichtung ihrer Mitglieder und deren leitende Interessen Berücksichtigung finden. Spätestens an dieser Stelle ist ein Wort zu dem zeitgenössischen Lektüreverhalten zu sagen, das in der deutschen Leserforschung seit zwei Jahrzehnten schon unermüdlich diskutiert wird. Rolf Engelsing hatte auf der Grundlage seiner detaillierten Forschungen und Kenntnisse darauf aufmerksam gemacht, daß sich im 18. Jahrhundert neben der bis dahin vorherrschenden intensiven Wiederholungslektüre ein neues Leseverhalten in der deutschen Gesellschaft einbürgerte: die extensive Informationslektüre. Die Zeitungen und Zeitschriften waren die neuen Druckmedien, an deren Benutzung es sich vor allem durchsetzte, und jedem Kenner sind auch die anderen sozialen, mentalen und ökonomischen Bedingungen gegenwärtig, die dieses neue Leseverhalten ermöglichten. Engelsing verband seine einleuchtende Beobachtung jedoch mit der These von einer ' Leserevolution' , und dieser Begriff mag es gewesen sein, der in der Wissenschaft und ihren publizistischen Randbereichen zur Diskussion reizte. Polemische Naturen wie Martin Welke und Reinbard Wittmann spitzten den Sachverhalt auf eine ' Dichotomie' zu, wo es doch um einen Entwicklungszusammenhang ging und auch Engelsing das Weiterbestehen intensiver Lektüre breit dokumentiert hatte. 18 Wie sind die Lesegesellschaften in diesem Zusammenhang zu lokalisieren? Sie waren ein exemplarischer Ort des extensiven Lesens im Sinne einer ' extrovertierten Lektüre' (ein Stichwort Wittmanns), hervorgegangen aus neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen und verbunden mit einem entsprechenden geselligen und praktischen Verhalten. Daß die Mitglieder der Lesegesellschaften daneben auch intensive Lektüre betrieben, wird keineswegs in Abrede gestellt. Hier jedoch ging es um die Organisierung von gesellschaftlichen Führungsschichten, die durchaus nicht das gesamte lesende Publikum ausmachten. Sie hatten ein spezifisches Bedürfnis nach Herrschaftswissen vielfältiger Art, das sie sich durch sachbezogene Lektüre in den Lesegesellschaften gemeinsam beschafften und diskursiv verarbeiteten. Die These vom Aufkommen einer extensiven Informationslektüre verhilft da.zu, sowohl die Lesebedürfnisse wie auch die Lektüreauswahl der Lesegesellschaften besser zu verstehen. Mit der notwendigen Vorläufigkeit und methodischen Einschränkung lassen sich von daher aufgrund der hier vorgelegten Analyse von Bibliotheken einige Aussagen über die Bildungsinteressen der Lesegesellschaften formulieren:

18 Rolf Engelsings These am deutlichsten in seinem Aufsa1.2. 'Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit' , in: Rolf Engelsing, Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel - und Unterschichten, Göttingen 1973, S. 121 ff. Vgl. auch die breitere Darstellung des Sachverhaltes, verbunden mit einem Überblick über die Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts, in: Rolf Engelsing (wie Anm. 9) , S. 183ff. u. 219ff. Martin Welke , Gemeinsame Lektüre und frühe Formen von Gruppenbildungen im 17. und 18. Jahrhundert: Zeitungslesen in Deutschland, in: Otto Dann (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981 , S. 29 ff.; Reinbard Wittmann, Lesegesellschaften im europäischen Kontext, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel (1982) , Nr. 105, 17. Dezember, S. B 166ff.

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1. Es ist auffallend, in welchem Maße die Lesegesellschaften in ihrer Anschaffung von Lesestoffen sich über den traditionellen Lektürekanon ihrer Zeit und über das Angebot des Marktes hinweggesetzt haben. Vorgegebene Normen beiseite lassend, haben sie konsequent ihre eigenen Interessen zum Maßstab ihrer Erwerbungen gemacht: Zeitungen und Zeitschriften wurden an die erste Stelle gesetzt. 2. Das Interesse an aktueller Information über das Zeitgeschehen in seinen überregionalen Bezügen und Zusammenhängen war dominant. Die Gesellschaften suchten über ihre Bibliotheken den informativen und kommunikativen Anschluß an einen erweiterten gesellschaftlichen Lebensrahmen. Ihre Interessen gingen über die Region und den Kleinstaat hinaus auf einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang. Hier vollzog sich eine neue Nationsbildung, wenn auch deren Dimensionen im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts noch unbestimmt waren. 3. Hervorzuheben ist schließlich die praktische Orientierung des Leserinteresses. Eine technisch-praktische Wissensvermittlung wie auch die moralischerzieherische Nützlichkeit waren dominierende Kriterien bei der Auswahl der Lesestoffe. Sie dokumentieren das innovatorische Interesse, das zum Motor der Aufklärungsbewegung in den deutschen Staaten geworden war.

III. Nach dem Blick in das Innere der Lesegesellschaft aus dem Umkreis des Bonner Hofes und einem Überblick über die Struktur der Bibliotheken in den deutschen Lesegesellschaften des späten 18. Jahrhunderts kann nun noch einmal genauer und grundsätzlicher nach dem gesch ichtHchen Ort jener 'höfischen' Lesegesellschaft gefragt werden . Die Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts standen im Schnittpunkt verschiedener Entwicklungstendenzen des gesellschaftlichen Wandels. In den Staaten, in denen die traditionalen Strukturen in Bewegung geraten waren und modernere Lebensformen sich durchsetzten, war eine neue Schicht von Intelligenzberufen entstanden, die verstärkt nach sozialer Anerkennung und Durchsetzung verlangte. Im Zusammenhang der Aufklärungsbewegung war es dieser Schicht gelungen, ihre Schriftkultur anderen Bevölkerungsgruppen und nicht zuletzt auch den Herrschaftsschichten zu vermitteln. Ein gewaltig expandierender literarischer Markt sorgte für ein größeres und stets aktuelles Lektüreangebot. Es forderte nicht nur zur Lektüre heraus, sondern auch zur Diskussion, zur Gruppenbildung. Neue Organisationsformen, in denen die Schranken der altständischen Gesellschaft überwunden wurden, boten sich dafür an. 19 Die an Bildung und Reform Interessierten hatten also gute Gründe, Lesegesellschaften zu ihrer besonderen Organisationsform zu machen. Deren massen-

19 Vgl. Otto Dann, Die Lesegesellschaften und die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft in Europa, in: Otto Dann (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich , München 1981 , S. 9 - 28.

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hafte Verbreitung in den deutschen Staaten seit den l 770er Jahren zeigt, über welche Stärke diese Bewegung schon verfügte. Auch der Adel, der am stärksten auf seinen korporativen Rechten und Sozialformen beharrte, öffnete sich im ausgehenden 18. Jahrhundert zunehmend der neuen Vereinsform. Seine reformorientierten Kräfte gingen dazu über, sie auch für eigene Ziele zu benutzen. 20 Eine Lesegesellschaft konnte von daher zu einem Ort werden, an dem Reformadel und Intelligenzbürgertum sich zu der gesellschaftlichen Begegnung und Kooperation zusammenfanden, die sie suchten und brauchten. Welche Schwierigkeiten beim konkreten Vollzug dieser neuen Gesellschaftsbildung zu überwinden waren, davon kann man sich heute nur schwer einen Begriff machen. Vor allem ging es um eine Überwindung der Standesbarriere; denn das alltägliche Leben war geprägt von der Privilegierung des Adels, die im damaligen Deutschland in grundsätzlicher Form noch von keiner Seite in Frage gestellt wurde. Nur in der Ausnahmesituation des rheinischen Karneval und seiner Bälle wurde unter dem Schutz der Masken eine Egalisierung möglich! Das Wagnis, das die Lesegesellschaften mit ihrer neuen Vereinsbildung eingingen, mußte deshalb eigens legitimiert werden. Das geschah durch eine betonte Beanspruchung des Gleichheitsbegriffs. Dieser alte sozialpolitische Leitbegriff meinte bis dahin vor allem die Gleichstellung innerhalb eines Standes. In der Rechtsphilosophie der Aufklärungsbewegung war er sodann im Zusammenhang des Naturrechts zu einer neuen grundsätzlichen Bedeutung gelangt. In diesem Sinne wurde er nun, in der Epoche der Spätaufklärung, auch in der Praxis des gesellschaftlichen Lebens verwandt. Sie sei „eine ganz gleiche Gesellschaft, in welcher jedes Mitglied mit dem anderen gleiche Rechte hat", schrieb die Lesegesellschaft in Karlsruhe in ihre Satzung, und in Bonn hieß es lapidar im § 1 der Statuten: „Rang kömmt gar nicht in Anschlag. " Der Gleichheitsbegriff des Naturrechts hatte hier eine neue gesellschaftliche Funktion: Er ermöglichte und legitimierte die gleichberechtigte Kommunikation von Bürgerlichen und Adligen; denn er wurde nicht mehr standesintern, sondern in einem standesübergreifenden Sinne verwandt. 2 1 Die praktische Applikation des naturrechtlichen Gleichheitspostulats war ein erster Schritt. Ein gesellschaftlicher Verkehr verschiedener Standespersonen auf gleicher Ebene war damit denkbar geworden. Doch wie sollte er sich konkret vollziehen? Welche Formen sollte die neue Geselligkeit annehmen? Jeder kannte bisher nur die gesellschaftlichen Verhaltensformen, in denen er aufgewachsen war, und diese waren auch in der kleinen Residenzstadt Bonn verschieden genug. Die Umgangsformen in der neuen Gesellschaft konnten sich nicht einfach dadurch ergeben, daß der Stil einer Schicht, etwa der des Adels, von allen anderen übernommen wurde; es kam darauf an, neue Formen auszubilden. Das war einerseits eine Aufgabe der neugegründeten Gesellschaft, die einen eigenen Umgangsstil finden mußte. Zugleich aber war dies eine Lernaufgabe für jeden einzelnen.

20 Vgl. die regionale Sozialgeschichte des Adels v . Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770- 1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göllingen 1979, S. 238 ff. 2 1 Otto Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, Berlin 1980, S. 103ff. u. 122 f.

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Jedes Mitglied hatte neben dem standeseigenen Lebensstil , in dem es weiterhin verwurzelt blieb, neue gesellschaftliche Umgangsformen zu praktizieren, sobald es die Räume der Lesegesellschaft betrat. Das war ein Training des sozialen Verhaltens, das man sich für einen Menschen des 18. Jahrhunderts, der nur das Leben in regional und sozial begrenzten Lebenswelten kannte, nicht schwer genug vorstellen kann. Von daher ist zu verstehen, daß noch ein anderer Leitbegriff in den Reformgesellschaften des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte: der der 'Geselligkeit'. Dieses Wort ist damals in der deutschen Sprache neu aufgekommen , und heute ist es aus dem Sprachgebrauch schon weitgehend wieder verschwunden. Es hatte eine geschichtlich begrenzte Funktion: die Einübung neuer Formen des Sozialverhaltens im Übergang von der altständischen zur modernen Gesellschaft. "Die Geselligkeit der Glieder ist die Seele einer jeden Gesellschaft", dieses Motto gab sich die Lesegesellschaft in Bonn. Sie stellte den neuen Begriff demonstrativ als Leitmotiv heraus. Wenige Jahre später forderte der Philosoph Johann Gottlieb Fichte in einer Vorlesung seine Hörer dazu auf, die 'Gesellschaftlichkeit' als eine neue Tugend des sozialen Verhaltens zu entwickeln. 22 Er erläuterte seinem Publikum, daß damit einerseits eine besondere Aufgeschlossenheit und Lernbereitschaft gegenüber anderen gemeint sei, andererseits die Ausbildung neuer Fähigkeiten der Kommunikation und der Vermittlung. Der große Theologe Daniel Friedrich Schleiermacher machte zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Begriff der GeseWgkeit zu einem Leitbegriff der protestantischen Ethik. Die bürgerlich-adlige Geselligkeit in den Lesegesellschaften des späten 18. Jahrhunderts hat in der Geschichte der modernen Organisierung in Deutschland nur eine relativ kurze Rolle gespielt. In der über zweihundertjährigen Geschichte der Lesegesellschaft von Bonn prägte sie einen Zeitraum von nicht mehr als 7 Jahren. Doch es war wert, sie genauer zu analysieren; denn sie markiert in mehrfacher Hinsicht die Gesellschaftsbildung einer Übergangszeit. Veranlaßt durch neue geistige und gesellschaftliche Interessen, die in der Lektüreauswahl deutlich wurden, waren adlige und bürgerliche Mitglieder der höfischen Gesellschaft aufeinander zugegangen und hatten, ohne den Rahmen der altständischen Gesellschaft zu verletzen, moderne Geselligkeitsformen entwickelt. Der Lernprozeß, der hier zu bestehen war, wurde legitimiert durch neue sozialtheoretische Leitbegriffe wie 'Gleichheit' und 'Geselligkeit' . Obwohl sich diese adlig-bürgerliche Gesellschaftsbildung nur kurzfristig entfalten konnte, hatte sie eine wichtige Funktion: Hier wurden zuerst die Grundformen einer Geselligkeit entwickelt, die man als spezifisch modern bezeichnen kann. Nicht zuletzt dokumentiert diese höfische Lesegesellschaft auch das große Ausmaß an geistiger und sozialer Lernbereitschaft, das in den führenden Schichten der rheinischen Gesellschaft vor 1789 vorhanden war. Es muß eine offene Frage bleiben, in welcher Richtung sie sich entwickelt und welche Veränderungen der deutschen Verhältnisse sie bewirkt hätte, wenn die französischen Okkupationsheere nicht dazwischengekommen wären.

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Johann Gottlieb Fichte, Werke, hg. v. Fritz Medicus, Bd. 1, Leipzig 21922, S. 236 f. u. 258 ff.

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Die höfische Gesellschaft - das hat die kritische Auseinandersetzung mit den Thesen von Norbert Elias ergeben - war im kleinstaatlichen Deutschland der Sptitaujkltirung bereits eine Gesellschaft im Übergang - eine Gesellschaft, die nicht revolutioniert werden mußte, weil sie selbst reformbereit war. Der Beitrag konzentriert sich auf den kleinen Hof des Kurfürsten von Köln in der Residenzstadt Bonn. Er analysiert eine Lesegesellschaft, die dort von 1787 bis 1794 existierte, und fragt nach den verschiedenen Funktionen des Lesens und der Leserorganisierung im Übergang einer altsttindischen Gesellschaft zu einer modernen Bildungsgesellschaft. In the Germany of small states ofthe late Enlightenment, courtly society was as has been shown by the critical exposition of Norbert Elias' theses - already a society in transition - a society which did not need to be revolutionized because it itself was already prepared for reform. The article concentrates on the small court of the prince elector of Cologne in the residential city Bonn. lt analyses a reading circle which existed there from I 787 to 1794 and asks as to the various functions of reading and of the organization of readers in the transition from the old society of estates to a modern society of education. Prof. Dr. Otto Dann, Universität Köln, Historisches Seminar, Albertus-Magnus-Platz, D-5000 Köln 41

HANS MEDICK

Ein Volk „mit" Büchern Buchbesitz und Buchkultur auf dem Lande am Ende der Frühen Neuzeit: Laichingen 1748-1820

Allzu häufig erfolgen Untersuchungen zur Entwicklung der Lese- und Schreibfähigkeit in der europäischen Neuzeit aus einer Perspektive, die sich implizit oder explizit an die Modernisierungstheorie anlehnt. Eine solche Perspektive, die in den 60er und 70er Jahren ausgearbeitet wurde, 1 betrachtet die Ausbreitung allgemeiner Lese- und Rechtschreibfähigkeiten als entscheidenden Bestandteil und zugleich als Indikator des Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesses, der die europäischen Gesellschaften in der Neuzeit erfaßt und verändert hat. 2 Vor allem die säkularen staatlichen Schulreformen des 19. Jahrhunderts werden als Meilensteine im umfassenden Prozeß neuzeitlicher „Literarisierung" gesehen, denn erst mit ihnen habe sich die Schreib- und Lesefähigkeit auf alle Schichten der Bevölkerung ausgebreitet. Dieser Sicht entspricht die Annahme, daß sich Literarisierung und Literalität im Verlauf der Neuzeit „fortschreitend" entfaltet haben und der Literarisierungsgrad europäischer Gesellschaften im 18. Jahrhundert erheblich niedriger gewesen sei als im 19. Jahrhundert. Über der Geschichte der Fortschritte tritt hier allerdings die Geschichte der Rückschritte in den Hintergrund, die sich gerade im Vergleich der Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert, aber auch schon im 18. Jahrhundert selbst zeigen. Auch die Ausbildung der Lesefähigkeiten in der Frühen Neuzeit wird aus dieser Perspektive beurteilt. Dabei treten weniger die besondere Orientierung des Lesens und die Inhalte des lesenden Umgangs mit dem Buch in dieser Übergangsperiode in den Blick. Vielmehr werden die Lesefähigkeiten in dieser Zeit unter dem Aspekt „eingeschränkter Literalität" (J. Goody) betrachtet, da ihnen aufgrund ihres weithin religiösen Charakters, ihrer Einbindung in die Zusammenhänge mündlicher Überlieferung und das heißt auch der teilweisen Unabhängigkeit von einer durchgängigen und allgemeinen Ausbildung von Schreibfähigkeiten die Merkmale moderner „Literalität" abgingen.3

Vgl. rur Darstellung und Kritik: Brian V. Street, Literacy in Theory and Practice, Cambridge 1984. Z .B. Carlo Cipolla, Litcracy and Development in the West, Harmondsworth 1969. 3 Vgl. als Beispiel Fran~ois Furet und Jacques Ozouf, Lire et ecrire. L'alphabetisation des Fran~ais de Calvin~ Jules Ferry, 2 Bde. Paris 1977, bes . Bd. 1, S. 363 ff. Conclusion: trois siecles de metissage culturel. 1

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Aufklärung 6/ 1

C> Felix Meiner Verlag, 1991 , ISSN 0178-7128

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Eine weitere wichtige Grundannahme in dieser Perspektive betrifft das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land. Ein stadtbürgerliches Vorurteil mit langer Ahnenreihe vom groben und ungebildeten „rusticus" hat sich hier zur Vorstellung vom Bildungsrückstand des Landes gegenüber der Stadt verdichtet, ohne daß ausreichend nach Zeit, Ort, sozialen Schichten und Bildungsinhalten differenziert worden wäre. 4 Solche modernisierungstheoretischen Grundannahmen zeigen ihre Wirksamkeit auch in einflußreichen Untersuchungen zu Buchbesitz und Lektüre, für die im deutschsprachigen Bereich etwa Rudolf Schendas Arbeit „ Volk ohne Buch"5 steht. Frühe proto-typische Repräsentanten des „ Volks ohne Buch " sind für Schenda die Landbewohner des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, an denen die Bildungsbemühungen der Volksaufklärer scheitern .6 „Das Gedruckte, diese Realität aus zweiter Hand, ist dem Landmann völlig fremd" .7 Aber auch die kleinstädtischen Handwerker dieser Zeit werden ganz überwiegend als Nicht-Leser dargestellt, dies selbst dann, wenn sich in ihren Haushalten Buchbesitz in erheblichem Umfange fand. „Der Bücherbesitz des kleinstädtischen protestantischen Handwerkers ist mehr Hausrat als aktueller Lesestoff" .8 Während des ganzen 19. Jahrhunderts bleiben für Schenda Bürger und Kleinbürger die proto-typischen Leser, wogegen Arbeiter und Bauern auch in diesem Jahrhundert vom „Lesefortschritt" ausgenommen werden. „Im 19. Jahrhundert

4 Vgl. Furet, Ozouf, Lire et ecrire Bd. 1, S. 351. s Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770- 1910, Frankfurt 1970. 6 Schenda übernahm die Perspektive dieser Volksaufklärer des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in charakteristischer Weise. Dies zeigt sich auch in einer neueren Arbeit: Alphabetisierung und Literarisierungsprozesse in Westeuropa im 18. und 19. Jahrhundert, in: Ernst Hinrichs und Günther Wiegelmann (Hg .) , Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts (Wolfenbütteler Forschungen Bd. 19), Wolfenbüttel 1982, S. 1-20. Gleich an den Anfang djeser Arbeit (ebd. , S. 1) plaziert Schenda eine von einem Schweizer Volksaufklärer um 1800 überlieferte bzw. erfundene Anekdote über einen leseunkundigen Bauern, der sich trotz seines Analphabetismus beim Dorfpfarrer um eine Stelle a.ls Lehrer bewarb. Wenn Schenda dieser Anekdote . mehr a.ls nur ein Körnchen Wahrheit" (ebd., S. l) - und das heißt repräsentative Bedeutung - zuschreibt, so könnte dies auch auf eigene - unbewußte - Denkannahmen verweisen: Es scheint fast so, als ob Schenda das weitgehende historische Scheitern volksaufklärerischer Bemühungen um die .Literarisierung" des Volkes gleichsam auf die bevorzugten Objekte dieser Volksaufklärung, die Landbewohner überträgt , um an einer . aufklärerischen" Siebt der Literarisierung in der Neuzeit Europas festhalten zu können: .Der Prozeß der Alphabetisierung der Unterschichten setzt bekanntlich in Europa im Zeitalter der Aufklärung und des Rationalismus in verstärktem Maße ein; er ist für Westeuropa praktisch am Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen" (ebd ., S. 3). Schendas neueste Arbeit, eine eindringliche Studie: Leidensbewältigung durch christliche Andacht. Geistliche und soziale Therapie-Techniken in der Devotionalliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Hans Erich Bödeker, Gerald Chaix, Patrice Veit (Hg.), Le livre religieull: et ses pratiques. Der Umgang mit dem religiösen Buch. Studien zur Geschichte des religiösen Buches in Deutschland und Frankreich in der frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte Bd. 101), Göttingen 1991 , S. 388-402 deutet an, daß sich seine Position zur religiös bestimmten voraufklärerischen . Literalität" in der Zwischenzeit gewandelt haben könnte. 7 Schenda, Volk ohne Buch (wie Anm . 5), S. 442. 8 Ebd „ S. 463.

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hat die Lesebewegung die Arbeiterklasse noch keineswegs ergriffen. Der Lesefortschritt vollzog sich vielmehr nur vom höheren zum niederen Bürgertum [... ] Erst nach der Reichsgründung, ja erst um die Wende zum 20. Jahrhundert, erweitert sich dieser Leserkreis auf die Großbauern, die Facharbeiter, Bergleute, Handwerksgesellen, Soldaten, die hie und da ein Büchlein, ein Kirchenblatt, eine Tageszeitung, eine Flugschrift, eine Erbauungsschrift oder auch ein Buch aus der öffentlichen Lesehalle konsumieren. " 9 Zwar sind Schendas Miniaturen und Untersuchungen der Bedingungen und Hemmnisse für die Verbreitung des Lesens vom 18. bis zum 20. Jahrhundert im einzelnen durchaus treffend und seine Kritik an der „Idylle von der lesenden Nation" berechtigt. Doch fällt auf, daß die dieser Kritik inhärente, auf das 20. Jahrhundert bezogene Fortschrittsperspektive die Frage gleichsam aus dem Blick geraten läßt, ob die Annahme des unvollkommenen, trägen und sozial selektiven „Lesefortschritts" des 19. Jahrhunderts auf die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts rückübertragbar ist oder nicht. Die im folgenden vorgestellten Teilergebnisse einer umfassenderen Untersuchung10 stellen eine solche, vor allem auf das 19. und 20. Jahrhundert bezogene Modernisierungsperspektive in Frage. Sie lassen aufgrund der Auswertung von Heirats- und Sterbe-Inventaren für einen begrenzten lokalen Fall deutlich werden, daß Buchbesitz bereits vor dem 19. Jahrhundert eine größere Verbreitung haben konnte, als dies gemeinhin angenommen wird. Im Hinblick auf die Entfaltung neuzeitlicher „Literalität" tritt das Ende der Frühen Neuzeit als eine wichtige Epochenschwelle in den Blick, von der aus die „Modernisierungen" des 19. und 20. Jahrhunderts keineswegs immer als kontinuierliche Fortsetzungen erscheinen müssen. Im Gegenteil: in mancher Hinsicht könnte das 19. Jahrhundert gegenüber dem 18. als eine Zeit „eingeschränkter Literalität" bezeichnet werden, wobei diese gesellschaftlich verbreitete „Literalität" des 18. Jahrhunderts sich eher spezifischen religiösen Impulsen verdankte als den gleichzeitig wirksamen Aufklärungsbestrebungen. Auch hinsichtlich der im folgenden hauptsächlich benutzten Quellen hat die Untersuchung ein bemerkenswertes Ergebnis. Sie zeigt, daß die Annahme, der in Inventaren verzeichnete Buchbesitz stelle eher ein totes oder allenfalls ein repräsentatives symbolisches Kapital dar als einen aktiv genutzten Grundstock häuslicher Lektüre, 11 einer genaueren Prüfung nicht standhält. So gerechtfertigt es ist,

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Ebd., S. 456ff.

Erbauliche Lektüre und Lutherischer Pietismus. Buchbesitz und Religiosität an der Schwelle zur Modeme 1748-1820, Teil 5 meiner Arbeit „Leben, Weben und Sterben in Laichingen 1650-1900. Untersuchungen zur Sozial- Kultur- und Winschaftsgeschichte aus der Perspektive einer lokalen Gesellschaft im frühneuzeitlichen Wüntemberg" [Manuskript 1992). Vgl. auch die erste Vorstudie des Verf.: Buchkultur auf dem Lande. Laichingen 1748- 1820. Ein Beitrag zur Geschichte der protestantischen Volksfrömmigkeit in Altwüntemberg, in: Bödeker, Cha.ix, Veit (Hg.), Le Livre religieux et ses pratiques (wie Anm. 6), S. 156-182. 11 Vgl. Schenda, Volk ohne Buch (wie Anm. 5), S. 461 ff. bes. S. 463f.: „Der Bücherbesitz des kleinstädtischen protestantischen Handwerkers ist mehr Hausrat als aktueller Lesestoff. Er ist respektabel als Beweis für eine weitverbreitete Frömmigkeit, für häusliche Andacht und fiir Familientradition, nicht aber für eine lebendige Leseaktivität, für eine Lust an Büchern oder für einen hohen Buchkonsum." 10

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wenn Franz Quarthal die „methodischen Probleme" betont, die sich bei der Auswertung von NachJaßinventaren im Schluß „vom Bibliotheksbestand auf das Leseverhalten" stellen, 12 sind diese Probleme doch nicht unüberwindbar. Besonders die kombinierte Untersuchung von Heirats- und Nachlaßinventaren ermöglicht es, wie die folgende Untersuchung wohl erstmals zeigt, dem „Leben mit Büchern" 13 auf die Spur zu kommen . Das hier untersuchte Beispiel des ländlichen Orts Laichingen zwischen der Mitte des 18. und dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts mag in mancher Hinsicht einen Ausnahmefall darstellen. Es handelt sich hier weder um eine Gesellschaft vom Typ des reinen Bauerndorfs, die es in Altwürttemberg wie in der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft überhaupt ohnehin kaum gab, noch um eine Stadt, sondern um einen ländlichen Weberort von beträchtlicher Größe: Er umfaßte um 1800 in 364 Haushalten 1600 Einwohner, von denen der größte Teil (225 Haushalte= 62 %) von einem proto-industriell betriebenen ländlichen Handwerk, der Leineweberei, lebte. 14 Gleichwohl stellt das Beispiel dieses gewerbereichen ländlichen Fleckens1s gerade als ein Extremfall des Möglichen einen außerordentlich interessanten „normalen Ausnahmefall" (E. Grendi)l 6 dar, an dem sich andere Fallstudien werden messen lassen müssen. An ihm wird jedenfalls deutlich, daß das „gemeine Volk" auf dem Lande im pietistischen Württemberg des 18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht nur sehr viel mehr Bücher besaß als in benachbarten Städten des deutschen Südwestens, sondern daß es auch ein aktives lesendes Interesse an diesen Büchern entwickelte, das seinesgleichen sucht.

/. Umfang und Größenverhältnisse: Die Laichinger Buchkultur im Vergleich Ein erster Überblick über die Gesamtmenge von 13.962 Büchern, die in 1478 Laichinger Inventuren und Teilungen zwischen 1748 und 1820 feststellbar ist, läßt erkennen, daß im 18. und frühen 19. Jahrhundert das Interesse der Einwoh-

12 Franz Quarthal, Leseverhalten und Lesefähigkeit der Schwaben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Zur Auswertungsmöglichkeit von Inventuren und Teilungen, in: Vergangenheit als Verantwortung. 0. Borst zum 65. Geburtstag (Die Alte Stadt Bd. 16.1969 H . 2 und 3), Stuttgart 1989. S. 340-350, hier S. 341. 13 S. u. S. 76ff. 14 Auswertung der .Seelentabelle" und der Steuerliste für das Jahr 1797 in meiner Untersuchung s. Anm. 10. 1s Über die Leineweberei hinaus betrieben 1797 weitere 68 Haushalte aktiv ein Gewerbe, so daß 80 % aller Haushalte dieses ländlichen Orts am Ende des 18. Jahrhunderts gewerblich tätig waren. 16 Zum Konzept des .normalen Ausnahmefalls" und des .außergewöhnlichen Normalen", wie es in der italienischen Geschichtswissenschaft seit den 70er Jahren entwickelt wurde, s. meinen Aufsatz: Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Joachim Matthes (Hg.), Zwischen den Kulturen? (Sonderband der Zeitschrift Soziale Weh") 1992 .

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ner des Fleckens am Buchbesitz ganz überwiegend religiös motiviert war. Der Prozentsatz weltlicher Titel, die besessen wurden und somit auch gelesen werden konnten, war jedenfalls mit 1.5 % aller Bücher verschwindend gering, noch sehr viel geringer, als er etwa zur selben Zeit in der Stadt Tübingen (22 % für die Zeit 1800-10), 17 in der Stadt Speyer (20 % für die Zeit 1780-86) 18 oder in der Freien Reichsstadt Frankfurt war. 19 Aber diese anderen Verhältnisse in einer ländlichen Gemeinde lassen eben nicht auf ein geringeres Interesse der Bewohner dieses entlegenen ländlichen Fleckens am Buch überhaupt schließen. Im Gegenteil: Die Untersuchung der „Eventualteilungs"-Inventare Laichinger Haushalte, das heißt derjenigen Inventare, die nach dem Tode des ersten Ehepartners angelegt wurden und in denen die Verhältnisse vollständig ausgestatteter Haushalte wiedergegeben sind, hat bemerkenswerte erste Ergebnisse gebracht: Kaum einer der Laichinger Haushalte war zwischen 1748 und 1820 ohne jeglichen Buchbesitz. Von 557 erfaßten Eventualteilungsinventaren waren in lediglich 7 Fällen (das heißt 1,3 %) keinerlei Bücher erwähnt, und das bedeutet, daß in 550 der 557 Haushalte mindestens ein Buch vorhanden war. Auch in den Nachlaßverzeichnissen der Witwen und Witwer war gänzliche Buchlosigkeit selten, wenn sie hier auch häufiger vorkam als in den Verzeichnissen für voll ausgebildete Haushalte: In 31 von 293 Fällen (das heißt in 10,6 %) war keinerlei Buch verzeichnet. 20 Der im Vergleich zu den Witwen nahezu doppelt so hohe Anteil buchloser Witwer-lnventare21 verweist darauf, daß die in Laichingen feststellbare besondere Vorliebe der Frauen zum Buch von ihren jungen Jahren22 bis in das hohe Alter anhielt. Soweit Vergleichsdaten für das 18. Jahrhundert vorliegen 23 - sie stammen nahezu ausschließlich aus städtischen Sied-

17 Hildegard Neumann, Der Büch.e rbesitz Tübinger Bürger von 1750 bis 1850. Ein Beitrag zur Bildungsgeschichte des Kleinbürgertums, Phil. Diss. Tübingen 1955, als Buch im Selbstverlag München 1978, hier S. 35. Der errechnete Wert gilt nur für die Tübinger Stadtbürger ohne die Universitätsverwandten, die einem besonderen Rechtskreis angehörten . 18 Etienne Fran~ois, Buch, Konfession und städtische Gesellschaft im 18. Jahrhundert . Das Beispiel Speyers, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, Göttingen 1982, S. 34- 55, hie!' S. 37. 19 Walter Wittmann, Beruf und Buch im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Erfassung und Gliederung der Leserschaft im 18. Jahrhundert, insbesondere unter Berücksichtigung des Einflusses auf die Buchproduktion, unter Zugrundelegung der Nachlaßinventare des Frankfurter Stadtarchivs für die Jahre 1695-1705, 1746- 1755 und 1795 - 1805, Wirtsch. und sozialw. Diss. Frankfurt 1934, S. 51 ff., hier S. 64: Um 1750 war in 22 % aller Frankfurter Handwerkerinventare mindestens ein weltlicher Buchtitel erwähnt und in 9,2 % aller Handwerkerinventare mehr als drei weltliche Bücher. Um 1800 erwähnten nur noch 11 ,7 % aller Handwerkerinventare mindestens einen weltlichen Buchtitel und 5 % mehr als drei Bücher. 20 Auswertung der Real-Teilungsinventare. Zur ausführlicheren Dokumentation s . im übrigen meine in Anm. 10 erwähnte Studie. 21 Von den 100 erfaßten Witwerinventaren waren in 15 (15 %) keinerlei Bücher verzeichnet, von 193 Witweninventaren in 16 (d.h . 8,3 %). 23 Vgl. hierzu die u. Anm. 26 u. Anm. 27 erwähnten Zahlen. Für die nicht weit entfernt gelegene Universitätsstadt Tübingen lassen sich aus den Daten, die Hildegard Neumann zum Bücherbesitz Tübinger Bürger für drei ausgewählte Zeitperioden (1750-60, 1800- 1810 und 1840-50), aus Teilungen erhoben bat (Dies., Bücherbesitz Tübinger Bürger, wie Anm. 17, S. 6, S. 8, S. 11) Vergleichswerte errechnen , die ein durchgängig höheres Ausmaß an Buchlosigkeit zeigen als in Lai-

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lungen - erreichen sie, mit Ausnahme derjenigen für eine reformierte Region der Schweiz,24 in keinem Fall das Niveau unseres ländlichen Weberorts. Aussagekräftiger sind die Befunde zur Menge der in den Laichinger Haushalten vorhandenen Bücher. Der durchschnittliche Buchbesitz der Laichinger Haushalte lag in allen betrachteten Perioden des 18. und frühen 19. Jahrhundertsdeutlich über dem Buchbesitz der Haushalte des unweit gelegenen Universitätsstädtchens Tübingen, 25 wenigstens derjenigen, die nicht zu den Universitätsverwandten gehörten. Er dürfte aber auch den Buchbesitz in anderen Städten des bücherreichen deutschen Südwestens in dieser Zeit deutlich übertroffen haben. 26 chingen: Auf 516 lnventare der Jahre 1750-60 entfallen 56 Fälle (10,9 %) ,in denen keine Bücher verzeichnet sind, auf 524 Inventare von 1800-1810 152 Fälle (22 , l %) auf 453 Inventare von 1840-50 152 Fälle (33 ,6 %). Zur Auswahl der Teilungen in der Arbeit von Neumanns. Anm. 25. Interessant sind die Vergleichsdaten, die aus Jean Queniarts Untersuchung von Nachlaßinventaren westfranzösischer Städte im 18. Jahrhundert zu gewinnen sind: Hier machen die Nachlaßverzeichnisse, die Bücher erwähnen, 1697-98 27.5 % aller Verieichnisse aus, 1727 - 28 34,6 %, 1757-58 36,7 % und 1787-88 34,6 %. Jean Queniart, Culture et societes urbaines dans la France de l'Ouest au XVIIIe siecle, Paris 1978, S. 163 - 71. Wenn die Entwicklung in den einzelnen Städten auch unterschiedlich verläuft und sich eine Abhängigkeic von lokalen Wirtschaftskonjunkturen, von der Sozialstruktur und Alphabetisierungswellen zeigt , ergibt sich aus der Gesamtheit der Daten, ähnlich wie für Tübingen, ein Rückgang oder doch zumindest eine Stagnation des Buchbesitzes bereits in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Jedenfalls ist der Interpretation von Queniarts Daten durch Roger Chartier recht zu geben, wenn er von ihnen ausgehend festhält, .daß das 18. Jahrhundert nicht von einer kontinuierlichen Ausdehnung der Druckkultur gekennzeichnet ist , sondern von Aufschwüngen und Rückgängen, von Neuerschließungen , die von einem Stillstand gefolgt werden , wenn erst einmal eine erste gesellschaftliche Grenze des Buchbesitzes erreicht ist." Roger Chanier, Lesewelten. Buch und Lek1üre in der frühen Neuzeit, Frankfurt 1990, S. 94. 24 Vgl. u. Anm. 27. 25 S. hierzu u. Anm . 29 und Anm . 34. Es besieht zwar keine exakte, aber doch eine annähernde Vergleichbarkeit der von Neumann für Tübingen und der für Laichingen erhobenen Daten. Neumann schloß jedenfalls die Teilungs-Inventare solcher Ehegatten aus, bei denen das .Inventar des ersten Todesfalles" bereits berücksichtigt wurde (Neumann, Bücherbesitz, wie Anm. 17, S. 6 Anm . I, S. 8 Anm. 2 und S. 11 Anm. 1). Doppelungen kommen somit nicht vor. Doch schloß sie ferner - im Unterschied zur Datenerhebung für Laichingen - all diejenigen Nachlaßinventare aus, in denen sie keine Bücher verzeichnet fand (vgl. zu den erheblichen Zahlen buchloser Dokumente in Tübingen Anm . 23). Ihre Berechnungen durchschnittlichen Buchbesitzes stellen im Vergleich zu den Laichinger Daten deshalb auf jeden Fall Überschätzungen dar, dies bedeutet aber auch , daß die höheren errechneten Durchschnittswerte des Buchbesitzes Laichinger Haushalte keinesfalls auf einer Überschätzung der Laichinger Daten fußen. 26 Quarthal, Leseverhalten und Lesefähigkeit in Schwaben (wie Anm . 12), S. 346 Anm. 30 gibt auf der Grundlage einer von ihm benutzten Seminararbeit über die Stadt Herrenberg (Schwarzwald) für 130 untersuchte Teilungs-Inventare zwischen 1780 und 86 bei mehr als der Hälfte dieser Inventare einen Buchbesitz zwischen 5 und 10 Bänden an. Karl Kempf, Nagolder Bücherwelt um 1765, in: 1200 Jahre Nagold, Konstanz 1985, S. 95-117, hier S. 105 berechnet für 54 erfaßte Inventuren und Teilungen zwischen 1763 und 1766 gemeinsam einen Durchschnitt von 7 Büchern pro Dokument. Abgesehen von dieser methodisch problematischen Berechnung eines gemeinsamen Durchschnitts für Beibringensinventare und Teilungen legt die Arbeit von Kempf die Grundlagen ihrer Quellenauswahl und Berechnungen durchaus offen und ist von daher für Vergleiche interessant: Von den 27 erfaßten Teilungsinventaren verzeichneten 2 kein Buch, 2 je 1 Buch, 11 zwischen 2 und 5 Büchern, 7 zwischen 6 und 10 und 5 Inventare 11 und mehr Bücher (ebd . S. 106 ). Unklar bleibt bei Kempf jedoch, ob er sein sample aus Real-Teilungsinventaren, aus Eventual-Teilungsinventaren oder aus beiden Dokumentenarten zusammengesetzt hat.

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Sein Umfang und seine Größe beeindruckt vor allem auch im Vergleich mit dem Buchbesitz in anderen Orten innerhalb und außerhalb der Territorien des protestantischen Deutschland in der frühen Neuzeit. In diesem proto-industriellen ländlichen Ort sind Maximalwerte erreicht worden, wie sie selbst zur Zeit der höchsten Entfaltung religiöser Buchkultur in einer reformierten Region der Schweiz nicht übertroffen wurden.27 Deutlich überragte das „ Volk von Laichingen" in dieser Hinsicht das „ Volk von Paris" im 18. Jahrhundert. Vor allem der Prozentsatz buchbesitzender Haushalte war in diesem protestantischen Ort sehr viel höher als unter der arbeitenden Bevölkerung der französischen Metropole. Und auch diejenigen relativ wenigen Haushalte unter den Pariser Handwerksgesellen, Lohnabhängigen und Bediensteten, die überhaupt Bücher besaßen, hatten, sofern sie es nicht zu relativ großen Vermögen brachten, weniger Bücher aufzuweisen als der durchschnittliche Laichinger Haushalt dieser Zeit. 28 Der durchschnittliche Bücherbesitz pro Haushalt war in Tübingen und Laichingen um die Mitte des 18. Jahrhunderts - bei leicht größerem Bücherreichtum

Breining, Die Hausbibliothek des gemeinen Mannes vor hundert und mehr Jahren, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte N.F. 11 (1907), S. 48-63 wertet summarisch die Inventuren und Teilungen der Stadt Besigheim vom 16. -19. Jahrhundert aus . Dieser Arbeit kommt zwar das Verdienst zu, erstmals auf die württembergischen Inventuren und Teilungen als eine wichtige religionsund buchgeschichtliche Quelle aufmerksam gemacht zu haben, sie beschränkt sich in den Auswertungen jedoch auf die summarische Auflistung von Buchtiteln und Autoren. 27 Die sorgfältige Untersuchung von Marie-1..ouise von Wartburg-Ambühl , Alpbabetisierung und Lektü.r e. Untersuchungen am Beispiel einer ländlichen Region im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt etc. 1982 bietet für das Territorium der Züricher Landschaft im 17. und 18. Jahrhundert eine besonders aufschlußreiche Vergleichsmöglichkeit (hierzu insbes. ebd. Kap. 6 und 7: Bücherbesitz auf der Zürcher Landschaft, S. 100 ff.) . Obwohl sich das reformierte Kirchenregiment die Förderung der Lesefähigkeit der Bevölkerung und der religiösen Lektüre in ähnlich intensiver Weise angelegen sein ließ, wie die vom Pietismus inspirierten Reformer im Württemberg des 18. Jahrhunderts (s . hierzu u. S. 74 ff.), erreichte der durchschnittliche Buchbesitz pro Haushalt selbst in den bücherreichsten Orten zum Zeitpunkt seiner maximalen Entwicklung um die Mitte des 18. Jahrhunderts nicht das Ausmaß der Laichinger Buchkultur: In den Ackerbaugemeinden des Unterlandes Pfungen und Buchs erreichte er Werte von 7, 7 Büchern pro Haushalt (Pfungen 1760) und 7 ,6 Büchern (Buchs 1763), in der Oberlandgemeinde Wildberg 4,7 Bücher (1751) (ebd. S. 115). Der Anteil der gänzlich buchlosen Haushalte lag zumindest in den Gemeinden des Unterlandes mit 5 % (Pfungen) und 1 % (Buchs) dicht bei dem Wert für Laichingen (s. Tab. 2), für die Gemeinde Wildberg lag er mit 23 % jedoch weit darüber. Den 69,9 % aller Haushalte, die in Laichingen 9 und mehr Bücher aufwiesen, standen in Pfungen 46 %,in Buchs 21 % und in Wildberg 9 % der Haushalte mit 10 und mehr Büchern gegenüber (s. ebd. S. 116). 28 S. Daniel Roche, Le peuple de Paris. Essai sur la culture populaire au XVIII siecle, Paris 1981, S. 218, Tabelle 33. Die Zahlen Roches für den Buchbesitz Pariser Handwerksgesellen und Lohnabhängiger einerseits und Bediensteter in herrschaftlichen Häusern andererseits (die bei ihm für das Peuple de Paris stehen) sind, abgesehen von kaum vergleichbaren sozialen Schichtungsmerkma.len, Lebensverhältnissen und kultureller Sozialisation, auch deshalb nicht durchgängig mit den Laichinger Daten zu vergleichen, weil in Roches Erhebungen nur diejenigen Inventare zugrundegelegt sind, in denen überhaupt Bücher aufgeführt werden. Gleichwohl ergeben sieb aufschlußreiche Kontrastierungen und Unterschiede zwischen den extremen Verhältnissen einer Metropolitangesellschaft und eines Orts in dem Proto-industrie und Pietismus ein besonders hohes Maß an .Literarisierung• der gesamten Gesellschaft bewirkten: Während um 1700 nur 13 % der Nachlaßinventare der Pariser Lohnabhängigen überhaupt Bücher aufführen, sind es bei den Bediensteten 30 %. Um 1780 haben sich die Unterschiede nivelliert: 35 % der Inventare der Lohnabhängigen führen Bücher

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des ländlichen Orts - mit l 0- 11 Büchern noch annähernd gleich. 29 Dagegen öffnete sich im weiteren Verlauf des Jahrhunderts eine Schere zuungunsten der Stadt. Nicht die benachbarte Universitätsstadt und Schwäbische „Geistesmetropole" , sondern der ökonomisch prosperierende ländliche Weberort war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts - im Hinblick auf den Buchbesitz - „kulturell" überlegen. Die Verhältnisse in diesem Teil Württembergs paßten jedenfalls nicht in ein Schema, das sich auch in den Köpfen gebildeter Zeitgenossen bereits zu dieser Zeit festgesetzt hatte. Ihnen, die zumeist aus Städten stammten, galt die Stadt als Hort der „Kultur", das Land dagegen als Ort kultureller Rückständigkeit. Dies traf auch für den Tübinger Studenten Friedrich August Köhler ( 1768-1844) zu, der im Herbst 1790 über die Alb in das Laichinger Nachbardorf Suppingen wanderte. Er ging an Laichingen vorbei, an dem ihm vom Hörensagen her allenfalls die Größe seines Kirchenvermögens und dje Weberei bemerkens- und noüerenswert schienen, um in Suppingen die „gelehrte" Attraktion des Orts, den BauernschuJtheißen und Weber Bernhard Mangold (1724-1806) in Augenschein zu nehmen. An Mangold beeindruckte ihn freilich nicht dessen bäuerliche Art zu denken und zu politisieren, sein Verseschmieden oder gar seine Bibliothek, die er sich zeigen ließ, die ihm aber uninteressant, weil nicht aufklärerisch genug, erschien. Bemerkenswert war für ihn vielmehr vor allem die exotisch-kuriose Tatsache, daß der Schultheiß sämtliche Werke des unlängst verstorbenen Friedrich II. von Preußen auswendig wußte: „Er hat eine kleine Bibliothek, die aber nicht meinen wahren Beyfall haben konnte, denn statt der Statistik Wirtembergs und guter Volksschriften, die ich vergeblich suchte, fand ich unter anderem sämtliche Werke des verstorbenen Königs von Preußen Fridericus II. , die er so gut im Kopf hat, daß er die Seite beinahe wußte, auf der eine merkwürdige Begebenheit beschrieben stand". 30 Doch in unserem Zusammenhang sind nicht das Denken, das Verseschmieden oder die „politische Kannegießerei" dieses Schwäbischen Genies interessant, die den Besucher aus Tübingen ebenso irritierten wie das „Journal von und für Deutschland": Mangolds Ruhm fand seinen Weg bereits zu seiner Zeit in die Zeitschriften der „Aufklärung" .31 Freilich war es der Ruhm eines exotischen ländli-

auf, 40 3 bei den Bediensteten (ebd. S. 217). Der durchschnittliche Buchbesitz der weniger vermögenden Lohnabhängigen und Bediensteten betrug - sofern sie überhaupt Bücher besaßen - um 1780 6 bzw. 12 Bücher pro Haushalt (ebd. S. 218). 29 Tübingen 1750- 1760: Durchschnittsbesitz voo 10,3 Büchern in 460 Nachlaßinventaren, s. Neumann, Bücherbesitz Tübinger Bürger (wie Anm. 17), S. 75 Anm. I; Laichingen 1748-1751 : Durchschnittsbesitz von 10,8 Büchern io 31 . Eventualteilungs"-lnventaren erststerbender Ehepartner. 30 Friedrich August Köhler, Eine Alb-Reise im Jahre 1790 zu Fuß von Tübingen nach Ulm, Eckart Prahm, Wolfgang Kaschuba und Carola Lipp (Hg.), Tübingen 1978, hier S. 154(. 31 S. das ausführliche Portrait u.d.T. Bernhard Mangold, Bauer zu Suppingen im Wirtembergischen, in: Journal von und für Deutschland 4. St. 6 (1787), S. 542-547. Hier auch die Äußerung:.Die Politik ist sein Steckenpferd, so daß sie ihn zu einer Art von politischem Kannegießer (i.e. politischem Schwätzer H.M.) gemacht hat. und das finde ich bey einem gemeinen Manne, der etwas weiter sieht als seine Nachbarn, sehr natürlich" (Köhler, Eine Alb-Reise, wie Anm. 30, S. 154). In Köhlers Bericht

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chen Kuriosums und nicht der eines freiheitsliebenden politischen Kopfes, der frühzeitig Sympathien für die Französische Revolution entwickelte und propagierte, für die er schließlich auf Regierungsdruck hin von den eigenen Mitbürgern mundtot gemacht wurde. 32 Auch die Bibliothek des Bauernschultheißen, die mit kirchlicher Andachts- und Erbauungsliteratur und, zahlreicher noch, mit Werkenweltlicher Literatur ausgestattet war und in der besonders die geographischen und historischen Titel auffallen, kann hier nicht näher untersucht werden. (Vgl. Inventar 1).

Inventar 1: Buchbestand in der Realteilung des Bernhard Mangold, gewesenen, resignierten Schultheißen zu Suppingen am 26.2.1807 (Archiv der Gemeinde Suppingen) Büschings Erdbeschreibung, 3 Bde. Herbergers Predigtbuch Himmelspostill Amds Wahres Christenthum Handbibele SchmoLken Gebetbuch Urlspergers Gebetbuch Ringmachers Communionbuch Communionbuch [ohne Titel] Gebetbuch [ohne Titel] Jacob Otts Betrachtungen Historienbuch Kirchen-, Staat- und Welt-Sachen Historienbuch Pregezers Poesie Historienbuch Augsburgische Confession Rechnungsbuch Hübners Pontisches Handbuch Das gelehrte Wirttemberg Gerstlachers Extract der General-Rezesse Werke Friedrichs II. Atlas von 25 Charten

2 PI. 1 FI. 30 Kr. 30 Kr. 6 Kr. 5 Kr. 10 Kr. 8 Kr. 10 Kr. 5 Kr. 4 Kr. 2 Kr. 6 Kr. 2 Kr. 3 Kr. 2 Kr. 2 Kr. 2 Kr. 4 Kr. 3 Kr. 6 Kr. 4 Kr. 1 PI.

findet sich das Stereotyp vom .Politischen Kannegießer" wieder: .Sprach sehr treuherzig von politischen Dingen, und ich sahe mit Bedauern, daß er sich mit Kannegießereien und zwecklosen Speculationen der Politik der Höfe [.. .] die beste Zeit verderbe" (ebd. S. 152 f.), wohl ein Beispiel dafür, wie stark Köhlers Wahrnehmung des Schultheißen von der Lektüre einer Aufklärungszeitschrift und den Stereotypen der Aufklärer über angebliche ländliche Borniertheit geprägt war. 32 Vgl. Wümembergisches Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Bestand A 214, Oberrat, Kommissionen, Bü 116: Kommissarische Untersuchung der Beschwerde der Bürgerschaft von Suppingen gegen den Schultheißen Bernhardt Mangold und der Delata des letzteren gegen den neuen Schultheißen Wegener, Schulmeister Sandherr und andere 1794- 98; ebd. A 8, Kabinettsakten IU: Akten aus der Zeit Herzog Carl Eugens, Bü 72: Anzeigen, Berichte und Gutachten des Regierungspräsidenten von Gemmingen, betr. Gedicht des Schultheißen Mangold von Suppingen 1790. Bezieht sieb auf ein Gedicht

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Uns interessiert vielmehr der Bücherreichtum im Nachbarort Suppingens, in Laichingen, dem Ort, an dem Friedrich August Köhler vorbeigegangen war. Es war ein Bücherreichtum der Namenlosen und Vielen, der es nicht zum Ruhm in den Zeitschriften der Aufklärer brachte, sondern der allenfalls das amtliche Erstaunen der örtlichen Pfarrer hervorrief. 33 Dieser Reichtum nahm vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts stark zu und erreichte in einer Zeit der Hochkonjunktur des ländlichen Gewerbes und einer entsprechenden Prosperität des Fleckens zwischen 1781 und 1790 mit durchschnittlich 13-14 Büchern pro Haushalt einen Höhepunkt. In Tübingen dagegen nahm er ab: Zwischen 1800 und 1810 belief sich der durchschnittliche Buchbesitz eines Haushalts dort noch auf7-8 Bücher, um bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf 4-5 Bücher zurückzugehen. 34 Auch im gewerbereichen ländlichen Ort weitete sich der Buchbesitz nach dem Höhepunkt im 9. Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts nicht mehr aus, er blieb jedoch auf einem gleichbleibend hohen Niveau. Selbst im krisenreichen zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts betrug er noch 12 - 13 Bücher pro Haushalt. 35 (Vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Durchschnittliche Zahl der Bücher in den Haushalten der Weber und NichtWeber 1748-1820 (Eventual-Teilungen beim Tod des ersten Ehepartners im Zeitverlaut) Zeitraum

1748-1751 1766-1780 1781-1790 1791-1800 1809-1820

Alle Teilungen Exempl. N

10,6 L0,4 13,5 12,3 12,8

(31) (131) (97) (130) (147)

Teilungen Weber Exempl. N

12,6 10,0 14,4 13,3 12,8

(17) (68) (54) (89) (101)

Teilungen Nicht-Weber Exempl. N

8,3 10,8 12,4 L0,3 12,7

(14) (63) (43) (41) (46)

N = Inventarzahl

des "meisterlosen und superklugen Schulzen Mangold" von Suppingen gegen landesherrliche "Jägerei und Wildfuhr", in dem dieser, den "Geist der Empörung, der von America aus über Holland und Frankreich auch die wirtembergischen Köpfe angewandelt hat" in Gestalt eines Kirchenlieds auszubreiten versuchte. folgende "boshafte Stellen" werden in den Akten besonders moniert: "Doch lass dich nicht so kränken, vielleicht kommt bald die Zeit, man wird dem Recht nachdenken, das dich davon befreit [„.] So kanns in der Welt gehen, daß der Gros wird auch klein .• 33 Vgl. die Visitationsberichte der Laichinger Pfarrer in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, etwa die Visitationsrelation von 1762 "wird mans bei nicht vielen Gemeinden antreffen, daß die Leute mit Gesang- Geben- und Predigtbiichem versehen sind wie allhier.• Archiv der Kirchengemeinde Laichingen. 34 Neumann, Bücherbesitz Tübinger Bürger (wie Anm. 17), S. 75 Anm. 1: 1800-1810: 7,71 Bücher (4-08 Nachlaßinventare); 184-0-50: 4,68 Bücher (301 Nachlaßinventare). Vgl. auch Fran~is, Buch, Konfession und städtische Gesellschaft (wie Anm. 18), der für Speyer ebenfalls von einem "allgemeinen Rückgang des Buchs in den Inventaren des ausgehenden 18. Jahrhunderts" (S. 39) spricht.

Ein Volk "mit" Büchern

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Dieser Bücherreichtum war für alle Vermögensgruppen und Berufe charakteristisch. Auch Tagelöhnerhaushalte und besitzarme Haushalte der untersten Vermögensgruppe kamen noch auf einen durchschnittlichen Besitz von 9-10 Büchem.36 Gleichwohl gab es zwischen armen und begüterten Haushalten erhebliche Unterschiede (vgl. Tabellen 3 und 4). Neben den reichen Webern zählten die Haushalte der Wirte, Bäcker und Metzger zu denjenigen mit dem größten Buchbesitz. Auch die Haushalte der Lehrer und Kaufleute, die unter „Sonstigen Berufen" erfaßt sind, gehörten zu den großen Buchbesitzern am Ort. Rein von der Anzahl der Bücher her waren sie jedoch kaum von den anderen Gruppen großer Buchbesitzer unterschieden. Zwar ist für die Gesamtheit aller untersuchten Teilungen eine deutliche Einflußbeziehung zwischen Vermögensgröße und Bücherreichtum erkennbar. Doch weder für alle Individuen noch für alle Berufs- und Sozialgruppen im Ort galt, daß Vermögensreichtum per se zum Bücherreichtum prädisponierte und Armut mit geringem Buchbesitz einherging. Tabelle 2: Verteilung der Buchzahlen pro Haushalt (Eventual-Teilungen beim Tod des ersten Ehepartners)

Buchbesitz bei Tlg.

Zahl der Bücher pro Haushalt kein Buch l bis 4 Bücher 5 bis 8 Bücher 9 bis 12 Bücher 13 bis 16 Bücher 17 bis 20 Bücher 21 bis 30 Bücher 31 und mehr Bücher

Prozent 1,3 6,0 22,8 30,4 20,5 8,4 9 ,7 0,9

7

32 122 163 110 45 52

5

Tabelle 3: Buchbesitz und Vermögen (Eventual-Teilungen beim Tod des ersten Ehepartners)

VermögensQuartil

1 geringe Vermögen 2 kleine Vermögen 3 mittlere Vermögen 4 große Vermögen

Alle Teilungen Buchbesitz je Tlg. Durchschn. N

Weber Buchbesitz je Tlg. Durchschn. N

Nicht-Weber Buchbesitz je Tlg. Durchschn . N

9,5

134

10,2

82

8,3

52

11 ,4

136

11,7

105

10,5

31

12, l

134

13 ,0

79

10,9

55

15 ,4

132

16,8

14,2

69

63

36 Diese Verbreitung der Buchkultur quer durch alle Vermögensgruppen unterscheidet sich deutlich von den Verhältnissen in den ebenfalls hausindustriell geprägten Siedlungen des Zürcher Ober-

70

Hans Medick

Der arme Tagelöhner, Totengräber und Weber Christoph Laichinger etwa zählte zu den größten Buchbesitzern am Ort. Als er am 14.6. J786 starb, hinterließ der passionierte Büchersammler neben einigen abgetragenen Kleidern, einer Flinte und wenigen anderen Gegenständen eine stattliche Bibliothek mit 54 Bänden als wesentlichen Teil seines immateriellen Erbes. 37 Für die Gruppe der Bauern und Maierbauern dagegen galt, daß sie zwar der obersten Vermögensklasse angehörten, in der Regel jedoch keineswegs zu den größten Buchbesitzern am Ort zählten. Tabelle 4: Buchbesitz nach Berufen (Eventual-Teilungen beim Tod des ersten Ehepan:ners) Berufsgruppe

Buchbesitz je Teilung

Median

N

Weber Tagelöhner Bauern, Maierbauern Nahrungsgewerbe, Wirte Sonstige Gewerbe Sonstige Berufe

12,6 9,2 10,7 15,4 10,4 15,3

12 9

329 33 52 36 78 7

10

14 10 14

Stellt man die Weber-Haushalte den übrigen Haushalten gegenüber (vgl. Tabellen 1, 3 und 4), wird deutlich, daß der außerordentliche Bücherreichtum des Laichinger Fleckens zwischen 1748 und 1820, wie er in den hohen Durchschnittswerten für die Teilungen aller Vermögensgruppen zum Ausdruck kommt, vor allem eine Folge der Entfaltung und Prosperität der intensiv betriebenen Weberei war. Auch noch die vennögensärmsten 82 Weberhaushalte kamen mit einem durchschnittlichen Buchbesitz von 10- 11 Büchern nahe an den der reichen Bauernhaushalte heran (vgl. Tabelle 3 und 4). Ihre Hausbibliotheken waren um durchweg zwei Bücher umfangreicher als diejenigen der ärmsten der Nicht-Weberhaushalte. Die vermögendsten Weber reichten mit ihrem materiellen Besitz zwar nur selten an die reichen Wirte, Bäcker und Metzger heran. Hinsichtlich ihrer Bücherschätze waren sie ihnen jedoch deutlich überlegen. Ihren Höhepunkt erreichte die Entfaltung der Buchkultur unter den Laichinger Webern, nach einem relativen Tiefstand in den 60er und 70er Jahren, in den 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts. Deutlich spiegeln sich in diesen Zahlen, wenn auch zeitlich verschoben, die Krisen und Konjunkturen des ländlichen Leinengewerbes während der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, dessen Aufschwung seit den frühen 70er Jahren freilich im Buchbesitz, wie er in den Sterbe-Inventaren verzeichnet wurde, erst verspätet zur Geltung kam.

lands im 18. Jahrhundert, für die von Wartburg-Ambühl , Alphabetisierung und Lektüre (wie Anm. 27), S. 126 gerade die Diskrepanz zwischen einem verhältnismäßig großen Anteil der Haushalte mit 5 und mehr Büchern und einem ebenfalls beträchtlichen Anteil der Haushalte ohne jegliches Buch feststellt, Verhältnisse, wie sie sich in den anderen Orten der Zürcher Landschaft gerade nicht fanden. 37 S. zu Christoph Laichinger u. S. 80.

Ein Volk ttmit" Büchern

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Jl. Die Laichinger Buchkultur und die besondere Ausprtigung

des württembergischen Pietismus Es wäre verfehlt, die reiche Buchkultur des Ortes im 18. und frühen 19. Jahrhundert allein als Folge der guten Konjunktur des ländlichen Leinengewerbes in seinem proto-industriellen „goldenen Zeitalter" während des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts anzusehen. Die relativ günstigen Einkommensmöglichkeiten der Weber während dieser Zeit wie auch ihre sitzende und routinisierte, zu geistiger „Nebentätigkeit" und zum religiösen „Sinnieren" gleichsam prädisponierende Arbeitsweise stellen sicherlich wichtige Faktoren dar, die ihren Mehrbesitz zumindest teilweise erklären. Doch auffällig ist gerade der Bücherreichtum aller Vermögensschlchten und Berufsgruppen am Ort und die durchgängige Wertschätzung religiöser Bücher, die sich in allen Schlchten und Gruppen zeigte. Ein Überblick über die Gattungen und Häufigkeiten der in Eventualteilungen erfaßten Titel erlaubt es, den Gründen für den außerordentlichen Bücherreichtum der Laichinger Haushalte auf die Spur zu kommen (vgl. Tabellen 5 und 6). Tabelle 5: Anzahl von Büchern der verschiedenen Gattungen je 100 Teilungen am Ende der Ehe 1748 - 1820 (Eventual-Teilungen beim Tod des ersten Ehepartners) Gattung

1748 - 1751 1766-1780 1781 - 1790 1791 - 1800 1809 - 1820 (N = 131) (N = 97) (N = 130) (N = 147) (N = 31)

Bibeln Gesangbücher Andachts-, Gebetsu. Erbauungsbücher Predigtbücher Kommunions- bzw. Abendmahls- und Beichtbücher Kinderlehren, Spruchbücher, Katechismen, Konfirmationsbücher Weltliche Literatur

168 187 584

162 170 533

219 212 618

192 196 599

182 228 523

23 13

52 29

106 77

100 76

137 114

58

50

90

52

49

19

7

11

11

17

Gesamtzahl der Bücher je 100 Teil.

1065

1039

1348

1235

1280

Anm.: In der Gesamtzahl der Bücher sind auch titellose Bücher eingeschlossen. N = Anzahl der untersuchten Inventare

Zunächst zeigt sich die Wichtigkeit von Bibel und Gesangbuch für die Laichlnger Haushalte. Für nahezu jeden Haushalt war es bereits im 5. Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts selbstverständlich, mindestens eine Bibel oder ein Gesangbuch

Hans Medick

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Tabelle 6: Bucbbesitz und Bucbhäufigkeit nach Gattungen am Ende der Ehe (EventualTeilungen beim Tod des ersten Ehepartners, N = 536) Gattung

kein Exemplar

N Bibeln 57 63 Gesangbücher Andachts-, Gebets- 22 u. Erbauungsbücher Predigtbücher 212 Kommunions- bzw. 286 Abendmahls- u. Beichtbücher Kinderlehren, 343 Spruchbücher, Katechismen, Konfinnationsbücher Weltliche Literatur 492

% (I0,6)

1 Exemplar 2 und 3 Exemplare

N

%

N

%

4 und mehr Exemplare

N

Exemplare je Teilung

%

(11,8) ( 4, 1)

177 (33,0) 138 (25,7) 30 ( 5,6)

250 (46,6) 271 (50,6) 105 (19,6)

52 ( 9 ,7) 64 (11 ,9) 379 (70,7)

1,9 2,0 5,7

(39,6) (53,4)

201 (37,5) 160 (29,9)

107 (20,0) 80 (14,9)

16 ( 3,0) 10 ( 1,9)

1,0 0,7

(64,0)

108 (20, J)

75 (14,0)

IO ( 1,9)

0,6

(91 ,8)

36 (6,7)

7 (1 ,3)

1 (0,2)

0,1

zu besitzen. Doch die herausragende Stellung im gesamten Spektrum der Bücher, die in Laichinger Haushalten zwischen 1748 und 1820 vorhanden waren, nahm die Gruppe der Andachts-, Gebets- und Erbauungsbücher ein , zu der im übrigen auch die Predigtbücher gehörten. Die Summe beider (der Andachts-, Gebets- und Erbauungsbücher sowie der Predigtbücher) bewegt sich über den gesamten Zeitraum hinweg stets bei über 50 % aller Bücher. Dieser außerordentlich hohe Anteil der Andachts- und Erbauungsliteratur verweist - dies ist für Württemberg und andere Regionen bereits herausgestellt worden 38 - auf die zentrale Stellung der häuslichen Andacht in der protestantischen Volksfrömmigkeit des 18. und 19. Jahrhunderts. Die hier separat berücksichtigte Predigtliteratur macht ein zusätzliches Moment deutlich; im Unterschied zur sonstigen Andachts- und Erbauungsliteratur wächst der Anteil der Predigtliteratur zwischen 1748 und 1820 ständig. Hierin dürfte die zunehmende Bedeutung gerade der sonntäglichen Hausandacht beziehungsweise des sonntäglichen Predigtlesens in den Laichinger Haushalten im Verlauf des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck kommen. Doch diese zunehmende Bedeutung der Predigtliteratur mußte nicht notwendig - wie man zunächst annehmen könnte - auf die „ Verinnerlichung" von Inhalten und Normen des am Ort praktizierten offiziellen Predigtgottesdienstes in der häuslichen Andacht hinauslaufen.

38 Für Württemberg s. Friedrich Fritz, Luthertum und Pietismus. Beiträge zu ihrer Kenntnis in Württemberg , in: J . Rauscher (Hg.), Aus dem Lande von Brenz und Bengel. 500 Jahre württembergische Kirchengeschichtsforschung, Stuttgart 1946, S. 122-196, hier S. 147 ff.; Fran9ois, Buch, Konfession (wie Anm. 18), S. 42.

Ein Volk „mit" Büchern

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Friedrich Fritz hat im Gegenteil darauf hingewiesen, daß die große Bedeutung der Predigtliteratur im württembergischen Haushalt Ausdruck einer „kritischen Stellung" sein konnte, wie sie von einer zunehmend pietistisch gestimmten Religiosität „ vielfach gegenüber den in den Kirchen gehaltenen Predigten eingenommen wurde" .39 Die häusliche sonntägliche Predigtlektüre also als eine Art stiller familienbezogener, pietistischer Gegenöffentlichkeit, bevor das Stundenwesen diese Gegenöffentlichkeit, zumeist ebenfalls auf stille Weise, halboffiziell machte? Jedenfalls bot die sonntägliche Predigtlektüre die Möglichkeit zur Gewinnung und Behauptung eines unabhängigen Standpunkts gegenüber dem, was der Pfarrer im sonntäglichen Predigtgottesdienst verkündete. Dies scheint sich zu bestätigen, wenn man die am Ort populärsten Autoren von Predigtbüchern berücksichtigt. Sie waren vielfach württembergische Pietisten: Immanuel Gottlob Brastberger, Johann Christoph Bilhuber, Andreas Hartmann, Johann Christian Storr. Der Laichinger Pfarrer Christian Sigel (1737-1812) hat aus genauer Kenntnis der örtlichen Verhältnisse im Jahre 1800 den Bücherreichtum der Laichinger Haushalte mit dieser besonderen Ausprägung der Frömmigkeit im Hausgottesdienst in Beziehung gebracht: „Sie bringen ihre Sonn- und Feiertage still und erbaulich zu, haben eine Freude am Wort Gottes, behandeln dasselbe auch fleißig zu Hause. Die sonn- und feiertäglichen Christen.leh.ren werden von Männern und Weibern so zah.l.reich besucht, als die Morgenpredigten. Sogleich nach letzterer wird fast von jedem Hausvater, sobald er von der Ki.rche heimkommt, noch vor dem Mittagessen eine Predigt gelesen. Beinahe alle Haushaltungen sind mit einem guten Vorrat von geistlichen Büchern versehen, dergleichen man selten in anderen Gegenden finden wi.rd. In der Erkaufung derselben lassen sie sich nicht dauren, wie dann an den drei hiesigen Jahrmärkten allemal ein Bücherantiquar von Augsburg feil hat und guten Verschleiß findet. " 40 Pfarrer Sigel machte mit seinen Bemerkungen deutlich, daß die hohe Wertschätzung religiöser Bücher in Laichingen vor allem auf ihrem aktiven Gebrauch durch das Lesen und Mit-teilen im Rahmen der häuslichen Frömmigkeit beruhte. Nicht einsame Leserinnen und Leser dürften hier dominiert haben, sondern die „erbauliche" Behandlung des Wortes Gottes vor und mit den Haushalts- und Familienmitgliedern durch sprechendes, betendes oder singendes Lesen der Gebets-, Andachts-, Erbauungs- und Predigtliteratur. Kam dem Hausvater - wie Sigel betont - bei der sonntäglichen Predigtlektüre eine dominierende Stellung zu, was im übrigen auch in der deutlichen männlichen Präferenz für Predigtbücher in den Sterbeinventaren der Witwer zum Ausdruck kam, so traf dies nicht für die religiöse Lektüre insgesamt zu: Bei den Frauen zeigte sich im Unterschied zu den Männern eine deutliche Präferenz für die Andachts- und Gebetsliteratur des alltäglichen Gebrauchs, besonders wenn sie pietistisch geprägt war. 41 Doch welche Rolle Sprechen, Singen, Hören und Sehen als sozialer Kontext

39 Fritz, Luthertum und Pietismus, S. 176. 4-0 Pfarrer Georg Christian Sigel, Notizen über Laichingen, als Beitrag der landwirtschaftlichen

und statistischen Beschreibung über die Alp-Orte, welche von dem sei. H. Pfarrer M. Steeb in Grabenstetten hat entworfen werden sollen, dat. 1800. Abschrift im Stadtarchiv Laichingen. 41 Dies ergibt sich aus einer Auswertung der Witwen- und Witwer-Inventare im Vergleich.

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Hans Medick

dieser Lektüre auch ge~pielt haben mögen, und vieles spricht dafür, daß sie wichtig waren, so viel ist den Außerungen des Laichinger Pfarrers jedenfalls zu entnehmen, daß „geistliche Bücher" als „heilige Texte" im Mittelpunkt der häuslichen Erbauung und Frömmigkeit standen. Eine solche Einstellung zu Büchern herrschte nicht allein in der Laichinger Gesellschaft dieser Zeit. Sie scheint für die Gesellschaft Altwürttembergs weithin charakteristisch geworden zu sein, seit sich im Lande, vom Ende des 17. Jahrhunderts an, eine „zweite" 42 oder vielleicht „dritte Reformation" 43 durchzusetzen begann. Pietistische Reformer, wie Johann Andreas Hochstetter (1637-1720) (der „württembergische Spener" genannt) und Johann Heinrich Hedinger ( 1664 -1704) gewannen zeitweilig die Oberhand. 44 Sie richteten ihr Augenmerk nicht nur auf die Abfassung eines reichen Kanons religiöser Literatur, in dem katechetische Schulschriften und Bibelausgaben überwogen. Gleichzeitig waren sie auch bemüht, die Bedingungen zu verbessern oder überhaupt erst zu schaffen, unter denen diese Literatur gelesen werden konnte. Ihr Versuch, die religiöse Einstellung der protestantischen Bevölkerung des Herzogtums insgesamt umzuorientieren und dauerhaft zu prägen, muß jedenfalls in engem Zusammenhang mit ihren Bemühungen um eine verbesserte Verbreitung, Erkenntnis und Anwendung des „Worts" gesehen werden. Das Mittel hierzu war ihnen eine Schulreform, die 1729 durchgeführt wurde. 45 Sie war durch das Vorbild der Schulgründungen des Halleschen Pietismus inspiriert, doch erfolgte sie auf eigenständige Weise. Vordringliches Lernziel für Kinder und Jugendliche wurde nun,

42 Der Begriff wird hier in dem Sinne aufgenommen, in dem er von Gerald Strauss und Richard Gawthorp eingeführt wurde, um den Impetus und die Folgen der pietistischen Reformbewegung zu charakterisieren, die seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts in zahlreichen deutschen Territorien, keineswegs nur in Württemberg, einsetzte. Diese Reformbewegung verfolgte das Ziel, der Reformation der .Lehre" die des .Lebens" folgen zu lassen , wobei, wie beide Autoren betonen, der Ausweitung der Literarisierung auf breite Volksschichten seit dieser Zeit i. U. zur ersten Phase der Reformation entscheidende Bedeutung zukam: vgl. dies. , Protestantism and Literacy in Early Modem Germany , in: Past and Present 104 (1984) , S. 31 - 55, hier bes. S. 43ff. Die Beschränkung des Begriffs der .zweiten Reformation" auf die reformiert-kalvinistische Konfessionsbildung seit den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts und die hiervon ausgehenden Impulse zur .KonfessionaHsierung" von Staat, Kirche und Gesellschaft allgemein, wie sie von Heinz Schilling vorgeschlagen wird (ders., Die . zweite Reformation " als Kategorie der Geschichtswissenschaft, in: ders. (Hg.) , Die reformiert.e Konfessionalisierung in Deutschland - Das Problem der .zweiten Reformation" , Gütersloh 1986, 387- 437) ist, wie bereits H. Lehmann in der Diskussion des Schillingschen Beitrags (ebd. , S. 449 f.) hervorgehoben hat, angesichts ihrer Ausrichtung auf Fragen der Konfessionstheologie und der obrigkeitlichen Konfessionspolitik, für frömmigkeits- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen eher unergiebig. 43 So ist ein Vorschlag von Hans Christoph Rublack in der Diskussion der hier vorgetragenen Interpretation auf der Tagung .Problems in the Historical Anthropology of Religion in Early Modern Europe" in Wolfenbüttel am 15.6.1991. 44 S. ltierzu Hartmut Lehmann, Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg vom 17. bis zum 20. Jahrhundert , Stuttgart 1969, S. 51 ff. Lehmann übersieht in seiner Arbeit allerdings die zusammenhänge und Auswirkungen der Schulreform von 1729. Ihre Berücksichtigung hätte ihn zu einer anderen Einschätzung der sozialen Breitenwirkung der frühen pietistischen Reformbewegung im Württemberg des 18. Jahrhunderts führen können. 45 S. Eugen Schmid, Geschichte des Volksschulwesens in Altwürttemberg, Stuttgart 1927, S. J26ff.

Ein Volk „ mit " Büchern

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statt des bisherigen Auswendiglernens des Katechismus, die lesende Bekanntschaft mit katechetischen Schriften und vor allem mit der Bibel. Eine möglichst frühzeitige Aneignung der „heiligen Texte" durch das Lesen - das freilich laut und kollektiv geübt und praktiziert wurde - erhielt Vorrang vor dem Schreiben oder gar dem Unterricht in den Realien. Wie Eugen Schmid hervorgehoben hat, zielte diese Reform auf die Elementarschulen oder „teutschen Schulen" der ländlichen Gebiete mehr noch als auf die der Städte. Hier waren die „dunklen Winkel des Landes", „the dark corners of the land" (Christopher Hill), die es in besonderem Maße zu erleuchten galt. Auch in Altwürttemberg gelang es so, die Dynamik des Pietismus vom „Konventikel ins Klassenzimmer" 46 zu verlagern. Gerade dadurch aber wurde der im Lande höchst umstrittene reformatorische Anspruch der Väter des Pietismus sichergestellt und zum dauerhaften Erfolg geführt. Doch der Beitrag des württembergischen Pietismus als „Bildungsbewegung" (Rudolf Vierhaus)47 war hiermit nicht erschöpft. Neben den Schulen als „Werkstätten des heiligen Geistes" 48 war das Bestreben der Reformer auf die dauerhafte Prägung der religiösen Einstellung der erwachsenen Christen gerichtet: Als Eckpfeiler kirchlichen Lebens trat der in der häuslichen Frömmigkeit verankerte „inwendige Gottesdienst" (Johann Andreas Hochstetter) neben den offiziellen kirchlichen Gottesdienst. Die Hausandacht war für die lutherisch-pietistischen Reformer Altwürttembergs zwar nicht der einzige, aber doch ein Hauptweg zur Heiligung des Alltags und zur religiösen Wiedergeburt. Während „Privatversammlungen", das heißt pietistische Konventikel, höchstens geduldet wurden, erfuhr die Hausandacht offizielle Förderung und Billigung. Auch das Reskript von 1743 „betr. die Privatversammlungen der Pietisten" 49 stellt - was bisher übersehen wurde - Hausandacht und häusliche religiöse Lektüre, und nicht die pietistische „Stunde", als die zweite Hauptform des Gottesdienstes neben die „öffentliche Gemeinschaft der Gläubigen in der Kirche". Nicht nur die Schule, sondern vor allem auch die literarisierte Frömmigkeit des Haushalts sollte also zur „Werkstatt des Heyligen Geistes" werden. Doch diese reformatorische Absicht einer „Literarisierung von oben" konnte „unten" ihre eigene Dynamik entfalten. Nicht in erster Linie die Verbreitung von Bibel und Gesangbuch als von oben „befohlenen" Büchern oder der geistlichen Literatur schlechthin, wohl aber die Ausbreitung der nicht „von oben" befohlenen Werke der Erbauungs- und Predigtliteratur, kann deshalb als Gradmesser bei der Erörterung der Frage dienen, inwiefern die Absichten der lutherisch-pietistischen Reformer einerseits erfolgreich waren, andererseits vom „Volk" aber auch eigenständig aufgenommen und weitergetragen wurden. 42), S. 48. Rudolf Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648 - 1763), Göttingen 1978,

46 Strauss und Gawthorp, Protestanlism and Literacy (wie Anm.

s.

47

103. 48 Der Begriff ist enthalten im: General-Rescript wegen der teutschen Schulen und Emeurte Ord-

nung vor die teutsche Schulen des Herzogthums Wirtemberg ( ...]vom 16.6.1729, in: R. Vormbaum (Hg.), Evangelische Schulordnungen, Bd. 3 , Gütersloh 1864, S. 304- 337. 49 In: August Ludwig Reyscher, Sammlung der württembergischen Gesetze Bd. 8, Stuttgart 1834,

s.

641ff.

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Hans Medick

III. Bücherleben - leben mit Büchern Bücher im Kontext von Lebensläufen und Lebenszusammenhängen Hohe Durchschnittszahlen und die Untersuchung der Konstanzen und Veränderungen in den Präferenzen für bestimmte Büchergattungen allein geben noch keine befriedigende Antwort auf die entscheidende Frage, ob die „Bücherschätze" der Laichinger Haushalte denn auch wirklich benutzt, das heißt gelesen wurden. Einige Portraits und Momentaufnahmen, welche die Zusammensetzung von Hausbibliotheken im Lebenslauf ihrer Besitzer und Besitzerinnen verfolgen und sie in den Kontext der Lebensverhältnisse und Lebensweise dieser Besitzer stellen, versuchen dieser Frage nachzugehen, soweit es im Rahmen einer Inventaruntersuchung möglich ist. Die Hinweise auf Anschaffungen von Büchern, aber auch ihr Verschwinden im Laufe eines Lebens, werden hier gewissermaßen als „Spuren" verfolgt, die auf absichtsvolle oder möglicherweise auch zufällige Handlungen und Einstellungen der Besitzer schließen lassen, jedenfalls Handlungen, die Ausdruck einer religiösen Mentalität sein konnten und diese zugleich auch beförderten. Wie sich an diesen Portraits zeigen wird, war die Spannweite zwischen einem „normalen" und einem „außergewöhnlichen" Buchbesitz beträchtlich. Doch war auch das „Außergewöhnliche" Teil des alltäglichen Lebens am Ort und Folge einer Einstellung zum Buch und zu religiöser Lektüre, welche an diesem Ort nahezu allgemein war. Dieses „Außergewöhnliche" verdient nicht zuletzt deshalb dargestellt zu werden, weil es als „Grenzfall des Möglichen" Licht auch auf den Normalfall wirft, in einer Weise, die in der statistischen Darstellung des Durchschnitts allzuleicht untergeht. Als der Weber Johann Bernhard Fink am 7 .5.1782 die Webertochter Anna Barbara Koch heiratete, war das Vermögen beider Eheleute gering.so Das angesparte Bargeld des Mannes in Höhe von 120 fl. und das Bargeld der Frau (50 fl .) reichten gerade für den Kauf eines Viertelhauses mit Scheuer und kleinem Hausgarten von den Eltern der Anna Barbara Koch. si Die Kleider des Mannes (51 fl.) und die der Frau (37 fl.) stellten den bei weitem wertvollsten Teil der Fahrnis dar, die beide Eheleute in den gemeinsamen Hausstand einbrachten. Die spärliche Ausstattung mit Hausrat und Bettgewand stand dahinter erheblich zurück. Das Buchbeibringen beider Eheleute (vgl. Inventar 2) lag mit jeweils 6 Titeln um ein Buch über dem, was in diesem Jahrzehnt durchschnittlich von einem Laichinger oder einer Laichingerin in die Ehe gebracht wurde. Bernhard Fink brachte neben einer der preiswerten gängigen Handbibeln ein gebrauchtes Gesangbuch und eine Kinderlehre, ferner ein Abendmahls- beziehungsweise „Communions-

so L.1100 (L. kombiniert mit einer Zahl gibt die fortlaufende Numerierung der jeweiligen einzelnen Inventur oder Teilung in der Gesamtdatei Laichinger Inventuren und Teilungen an .) Zubringensinventar Johann Bernhard Fink und Anna Barbara Koch vom 6. 7 . 1782 (1. d .h. kleinstes Vermögensquartil). 51 S. die Eventualabteilung L. !035 von 1787, in der freilich auch erwähnt wird , daß von dem mit 150 fl. veranschlagten Haus- und Güterkauf bei der Eheschließung effektiv nur 110 11. gezahlt wurden.

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büchle" und zwei der zeitgenössischen und am Ort verbreitetsten Gebetbücher mit in die Ehe: Johann Arnds „Paradiesgärtle" und Johann Friedrich Starks Universalgebet- und Andachtsbuch „Tägliches Handbuch in guten und Bösen Tagen". Barbara Koch brachte neben einer Handbibel, einem zusätzlichen Neuen Testament und einem Gesangbuch diejenigen Bücher mit ein, die ihr als unverheirateter Frau zur katechetischen Unterweisung gedient hatten: Dies waren neben einer Kinderlehre und einem biblischen Spruchbuch auch ein Konfirmationsbuch, wie es seit Einführung der Konfirmation in Württemberg 1748 Verbreitung fand. Inventar 2: Buchbeibringen des Webers Johann Bernhard Fink 1782 Starken Gebetbuch Handbibel Arnds Paradiesgärtle Communionsbüchle Gesangbuch Kinder lehr

Buchbeibringen der Ehefrau Barbara Koch53

40 Kr. 50 Kr. 24 Kr. 10 Kr. 10 Kr. 12 Kr.

Handbibel Neues Testament Gesangbuch Kinderlehr Spruchbüchle Konfirmationsbüchlen

l FI. 36 15 4 8 10

Kr. Kr. Kr. Kr. Kr.

Inventar 3: Buchbestand in der Eventualteilung beim Tod der Barbara Fink-Koch 178754 Handbibel Bibel Handbibel Brastbergers Predigtbuch Neues Testament Starken Gebetbuch Communionsbüchle

Stoelzles Adlerstei.n Wirtembergisches Gesangbuch Wirtembergisches Gesangbuch Kinderlehr Schazkästle Confirmationsbüchle Condisio Perlenschmuck

Als Barbara Fink-Koch nur 4 1/2 Jahre nach der Heirat und wenige Wochen nach der Geburt ihres vierten Kindes, am 4 .11.1786, starb, hatte der Haushalt in der Zwischenzeit neben dem Besitz des Viertelhauses und einiger Wiesen beträchtliche Ressourcen an Fahrnis zusamrnengebracht. 52 Vor allem die ansehnlichen Leinwandvorräte im Wert von 238 fl., dem Mehrfachen des Jahresverdiensts eines selbständigen Webers, und das Weberhandwerkszeug im Wert von 20 fl. wiesen darauf hin, daß es der Haushaltung der beiden Finks innerhalb weni-

52 L.1035 Inventar und Eventualabteilung Johann Bernhard und Barbara Koch vom 11.1.1787 (2. Vermögensquartil). 53 L.1100 (s. Anm. 50). 54 L.1035 (s. Anm. 53).

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ger Jahre gelungen war, mit Hilfe des professionell betriebenen Weberhandwerks nicht nur ein Auskommen zu erlangen, sondern zusätzliche Ressourcen zu gewinnen. Doch wie prekär diese bescheidene Akkumulation von Vermögen war, die seit der Hochzeit stattgefunden hatte, ergab sich aus der beträchtlichen Verschuldung in Höhe von 165 fl, von der nur ein kleinerer Teil (65 fl.) als langfristiges Darlehen von der Schwester der Frau stammte, der bei weitem größte Teil (2) aber war vom Leinwandkaufmann und Pfarrerssohn Theodor Perrenon geborgt. Der Buchbesitz der Eheleute hatte sich seit 1782 (vgl. Inventar 3) rein zahlenmäßig nur um wenige Exemplare vermehrt. Er war von 12 auf 15 Bücher gestiegen. Doch ein genauerer Blick auf die einzelnen Titel und Autoren zeigt signifikante Umschichtungen durch Anschaffung neuer und Abstoßung älterer Bücher. Diese Umschichtungen lassen auf ein planmäßiges, bewußtes Verhalten schließen: So waren eine der doppelt vorhandenen „Kinderlehren" und das für die kindliche Unterweisung bestimmte biblische „Spruchbüchle", aber auch das gebrauchte Exemplar von Arndts „Paradiesgärtle" 55 verkauft oder weggegeben worden. Das „modernere", pietistisch ausgerichtete Gebetbuch von StarkS6 dagegen hatte das Ehepaar behalten, ebenso wie die beiden in die Ehe eingebrachten Handbibeln, das Neue Testament und die beiden Gesangbücher. Neu hinzugekommen waren neben einer teureren Quartbibel vor allem Werke der häuslichen Gebets- und Andachtsliteratur. Vom Umfang wie vorn Preis her stach eines der in der Region populärsten Bücher eines pietistisch orientierten württembergischen Autors hervor: das 1758 erschienene umfängliche Predigtbuch des Nürtinger Dekans Immanuel Gottlob Brastberger „Evangelische Zeugnisse der Wahrheit zur Aufmunterung im wahren Christenthum" .57 Daneben waren drei weitere Gebets- und Erbauungsbücher hinzugekommen, von denen zwei besonders für die Lektüre der Ehefrau bestimmt waren: Johann Condisius „Geistlicher Perlenschmuck, oder: des christlöblichen Gott- und tugendliebenden Frauenzimmers aJleredelster Leibs- und Seelen-Zierrath" (Nürnberg 1667) und des Ulmer Pfarrers Bonifacius Stöltzlin Gebets-, Andachts- und Ratgeberbuch für schwangere und gebärende Frauen, aber auch für Eltern kranker und sterbender Kinder „Geistlicher Adlerstein" (1652). 58 Ein „Biblisches Schatzkästle" rundete diese Hausbibliothek gemeiner Leute von der Schwäbischen Alb in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts ab, für die bemerkenswert ist, daß sich in ihr die Schriften lutherischer Autoren des 17. Jahrhunderts (Stöltzlin, Condisius) und die „moderne-

ss Johannes Arndt, Paradies-Gärtlein voller christlicher Tugenden, wie solche zur Übung des wahren Christenthums durch geistreiche Gebete in die Seelen zu pflanzen, 1. Aufl. Leipzig-Magdeburg 1612. S6 Johann Friedrich Stark, Tägliches Handbuch in guten und bösen Tagen. 1. Aufl. Frankfurt 1727. s1 lmmanuel Gottlob Brastberger, Evangelische Zeugnisse der Wahrheit zur Aufmunterung im wahren Christenthum theils aus denen gewöhnlichen Sonn-, Fest- und Feyertags-Evangelien, theils aus der Paßions-Geschichte unsers Erlösers, in einen vollständigen Predigtjahrgang zusammen getragen, und nebst dem Anhang einiger Casual-Predigten (. .. 1, Nürtingen 1758. ss Bonifacius Stöltzlin, Geistlicher Adlerstein. Das ist: Christlicher Unterricht, Trost und andächtige geistreiche und schriftmäßige Gebet für schwangere und gebährende Frauen. desgleichen auch für christliche Eltern, wenn ihre lieben Kinder krank werden und sterben, I. Aufl. Ulm 1652.

Ein Volk " mit " Büchern

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rer", pietistischer Autoren des 18. Jahrhunderts die Waage hielten. Die Aussonderung von überflüssigen Büchern im Lebenslauf wie die Anschaffung neuer Autoren und Titel verweisen jedenfalls auf einen aktiven Umgang mit Büchern, der diese nicht nur als ein zwar frommes, aber "totes" Erbe nahm, das als kultureller Ballast von der Heirat bis zum Tode lebenslang mitzuschleifen war. Der lebenszyklische Umgang mit dem Buch, wie er im Verhalten des Ehepaars Finlc deutlich wird, verrät vielmehr eine auswählende Einstellung und darüber hinaus ein geistig-religiöses Profil, das dem zeitgenössischen Pietismus gegenüber aufgeschlossen war, ohne jedoch die Gedankenwelt der lutherischen Andachtsliteratur abzulehnen. Diese Mischung von lutherischen „Alten Tröstern" und „moderneren" pietistischen Autoren war zweifellos für den Buchbesitz einer Vielzahl Laichinger Haushalte seit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts charakteristisch.59 Doch die individuellen Falluntersuchungen zeigen über solche typischen Gesamtbilder hinaus eine Vielzahl von Ausprägungen eines religiös-literarischen Geschmacks, die dieses Gesamtbild variieren. Sie lassen jedenfalls deutliche persönliche Präferenzen der betreffenden Buchbesitzer erkennen. Ein solch „außergewöhnlicher" und zugleich doch „normaler" Fall ist etwa derjenige der armen, allein lebenden ledigen Näherin Christina Scharnler.60 Als diese Tochter eines Feldschützen und Invaliden am 24.8.1790 im Alter von 44

Inventar 4: Bücherinventar aus der Realteilung derNäherin Christina Scharnier 1790 Gottfried Arnold Kirchen- und Ketzerhistorie l. und 2.Teil in einem Band dto. in einem Band dto. 3. und 4. Teil in einem Band Gottfried Arnold Ware Abbildung des inwendigen Christentums in 2 Bänd Gottfried Arnold Geistliche Erfahrungslehre Vermischte Theologische Schriften eines ungenannten Schriftstellers M. Gräters, Probsts zu Herbrechtingen Biblische Historien M. Seizens Katechismuspredigten Jakob Bömens Untersuchung der vornehmsten Irrtümer in sexto Predigtbucb (Pierre Poiret?) Die Göttliche Haushaltung Gezerdynus Des verborgenen Ackerschatzes Weg der Wahrheiten Wirttembergisches Gesangbuch Arnolds Betrachtungen über die Psalmen Davids Eberdorfisches Gesangbuch Bareters Morgen- und Abendgebete ungebunden Gesangbuch

50 50 50 40 48 24 6 30 12 6 6 4 12 12

Kr. Kr. Kr. Kr. Kr. Kr. Kr. Kr. Kr. Kr. Kr. Kr. Kr. Kr.

6 Kr. 2 Kr. 6 Kr.

S9 S. bjerzu meine in Anm. 10 erwähnte Studie.

L.1188 Realteilung der Näherin Christina Scharnier vom September 1790 (ohne genaues Datum). 60

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Jahren in äußerst ärmlichen Verhältnissen starb , hinterließ sie neben wenigem Hausrat und Kleidern, einem Scheffel Dinkel und ihrem Handwerkszeug: einer Schere und einigen Vorräten an Garn und Faden im Wert von 15 Kreuzern eine reiche Bibliothek von 18 Büchern im Wert von 6 Gulden und 4 Kreuzern . (Vgl. Inventar 4). Ihre Bücher weisen Christina Scharnier eindeutig als radikale Pieüstin einer mystisch-spiritualistischen Ausrichtung und als Jüngerin Gottfried Arnolds und Jakob Böhmes aus. Die radikal-pietistischen Schriftsteller ihrer Bibliothek dürften jedenfalls kein passiver Bücherschatz gewesen sein. Die Auswahl durch die Näherin verrät persönliche Züge und fällt in einer Weise aus dem ortsüblichen Rahmen, daß ein entsprechendes Lektüre-Interesse gefolgert werden kann, aber auch eine entsprechende religiöse Einstellung der Näherin als Voraussetzung und Grundlage dieser Lektüre. Jedenfalls dürfte es nicht ihrem Beruf zuzuschreiben sein, der sie zu einer Vielzahl von Kontakten in Laichingen und den umliegenden Dörfern führte, sondern eher ihren religiösen Einstellungen, daß Christina Scharnier in ihrem Heimatort in sozialer Isolation lebte. Diese Isolation wird am Netzwerk der sozialen Beziehungen der Näherin deutlich, wie sie an ihren Schuldund Kreditbeziehungen zum Zeitpunkt ihres Todes ablesbar sind. Diese waren nicht in Laichingen, sondern nahezu ausschließlich im Nachbarort Feldstetten lokalisiert. Von dort aus wurden auch die laufenden Kosten der Krankenpflege vor ihrem Tod, ja selbst ihre Begräbniskosten bestritten. Die religiösen Einstellungen wie der religiöse Umgang der Christina Scharnier, so darf gefolgert werden, sie waren nicht so beschaffen, daß die Krankheitskosten der Sterbenden wie auch ihre Begräbniskosten - wie in den meisten Fällen von „Bedürftigkeit" üblich, in denen das familiale Netzwerk nicht ausreichte - als ein Aktnachbarschaftlicher oder jedenfalls lokaler Solidarität und Pietät am Ort aufgebracht wurden. Der lesende Umgang mit Büchern könnte somit für diese arme Näherin im Leben wie im Sterben eine Möglichkeit gewesen sein, ihre Ledigkeit und das heißt auch Einsamkeit vor Ort zu kompensieren. Auch die Lebensgeschichten der „Gebildeten" am Ort wie etwa der Angehörigen der Lehrerfamilie Schwenk-Glenks61 oder die des größten Buchbesitzers im Laichingen des 18. Jahrhunderts, des Tagelöhners, Webers und Totengräbers Christoph Laichinge~2 zeigen die Bedeutung der Bücher für das Leben wie auch das Leben mit Büchern bei den Laichinger Haushalten und Individuen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Diese Bedeutung war keine feste Größe, die als Folge schulischer Ausbildung, kirchlicher Lehre oder aber der Weitergabe des Buchbesitzes der Elterngeneration an die Kinder, in Form von „Heiratsgut" bei der Eheschließung, festgestanden hätte und dann unverändert blieb. Die Bücher der Laichingerinnen und Laichinger waren Teil ihrer Lebensgeschichten. Doch konnten sie als „vergegenständlichte Lebenserfahrung" (Jan Peters) auch eine Bedeutung annehmen, die über das individuelle Leben hinausreichte.

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s. u. s. 81 ff.

62

Zu Laichinger s. meine in Anm. 10 erwähnte Studie.

Ein Volk „mit ·• Büchern

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Deutlicher als in den meisten anderen Laichinger Inventaren zeigen sich in denen der Provisor- und Schulmeisterdynastie Schwenk-Glenks im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zeit- und generationsspezifische Veränderungen der persönlichen Einstellungen in ihrer Verflechtung mit Mentalitäten und Lebensweisen. Die Familie Schwenk-Glenks hatte seit den Jahrzehnten unmittelbar nach dem 30jährigen Krieg Provisor-(das heißt Hilfslehrer-)stellen am Ort eingenommen, oft in Kombination mit dem Amt des Mesners. 63 Diese Kontinuität der Tätigkeit in der Schule vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bedeutete jedoch keineswegs auch eine Kontinuität des Lebensstils, der Lebensweise und der geistig-religiösen Einstellungen. Wie in anderen Familien des Orts, die einem „gelehrten" Handwerk nachgingen - etwa der Wundarzt- und Chirurgenfamilie Keller - oder bei den Kaufmannsfamilien Perrenon und Nestei kamen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch bei den Angehörigen der Familie Schwenk-Glenks die Impulse der Aufklärungsbewegung und des zeitgenössischen „Prozesses der Zivilisation" in charakteristischer Weise zur Geltung. Diese Impulse waren für das Leben des ältesten in den „Inventuren und Teilungen" genannten Vertreters der Schulmeisterfamilie: für den Provisor, Weber und Mesner Johann Heinrich Schwenk-Glenks (1710-1774) allerdings noch keineswegs prägend. Er war seit J745 in zweiter Ehe mit der Schulmeistertochter Maria Mangold (1720-1800)64 verheiratet. Das anläßlich Johann Heinrichs Tod am 29. 9 .1774 angelegte Eventualteilungsinventar65 weist ihn und seine Frau als relativ vermögende Haus- und Grundbesitzer aus, deren Lebensverhältnisse sich von den besonders wohlhabenden der zahlreichen kleinbäuerlichen Weber- und Handwerkerhaushalte im Ort nicht grundlegend unterschieden. Neben einem halben Lehengut des Klosters Blaubeuren im Wert von 500 fl. besaß das Ehepaar Schwenk zahlreiche weitere Äcker und Wiesen, aber auch zwei Kühe. Wie das umfängliche Weberhandwerkszeug (im Wert von 17 fl.) und vor allem die Vorräte von Leinengarn und Flachs (für 52 fl.) zeigen, betrieb Johann Heinrich Schwenk-Glenks das Weberhandwerk bis zu seinem Tod selbst. Doch auch wenn er in erheblichem Umfang als selbständiger Handwerker tätig war, galt ihm der Lehrerberuf gleichzeitig doch viel: Er trieb sein Handwerk, wie der Laichinger Pfarrer in seinen Visitationsberichten wiederholt betonte, „ohne Nachteil der Schul". 66 An der schwarzen Farbe seiner Amts-

63 Der erste Angehörige der Familie wurde nach dem 30jährigen Krieg in Laichingen als Mesner und Provisor ansässig: Georg Schwenk-Glenks (geb. 1648 in Ulm. ges1. 1724 in Laichingen). Er war der Sohn des in Merklingen ansässigen, doch während des Krieges nach Ulm geflüchteten Georg Schwenk-Linkh (1602-1674). Auch der Sohn des Georg Schwenk-Glenks, ebenfalls mit Namen Georg (1674-1736), bekleidete das Ami des Mesners und Provisors, in dem ihm auch sein Sohn Johann Heinrich (1710 - 1774), Weber, Provisor und Mesner, wiederum nachfolgte. 64 Sie stammte aus dem Nachbarort Suppingen. 65 L.24 Eventualteilung von Johann Heinrich und Maria Schwenk-Glenks vom 29.9.1774 (4„ d.h. reichstes Vermögensquartil). Eine vollständige Transkription dieses Inventars findet sich bei Gottlieb Oelhafen, Beiträge zur Geschichte von Laichingen 3, Laichingen 1964, S. 127-134. 66 Pfarrvisitalionsbericht 1774 u.ö. Archiv der Kirchengemeinde Laichingen.

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tracht, dem langen Mantel und dem Rock, aber auch am Camisol, den Hosen und anderen schwarzen Kleidungsstücken des Lehrer-Webers und Mesners ist jedenfalls erkennbar, daß er großen Wert darauf legte, als Amtsträger angesehen zu werden. Doch gleichzeitig lassen seine einfache übrige Kleidung wie auch die seiner Frau, vor allem aber die sonstige sparsame Ausstattung des Haushalts mit Hausrat, Möbeln und Geschirr deutlich werden, daß im Alltag dieses Lehrers ein Lebensstil geherrscht haben dürfte, der mehr mit dem der zahlreichen asketisch lebenden Handwerker und Kleinbauern im Ort gemeinsam hatte als mit dem der begüterten Vertreter der Ehrbarkeit, wie etwa den wenigen Kaufleuten67 und reichen Wirten des Orts. Ganz im Gegensatz auch zum Haushalt seines aus der städtischen Ehrbarkeit stammenden Schulmeisterkollegen, des Hauptlehrers Johannes Bayha, waren im Hause des Johann Heinrich SchwenkGlenks Heu- und Dunggabeln, Krauthauen, Äxte und Beile in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts noch wichtiger als Messer, Gabeln, silberne Löffel und Porzellangeschirr. Diese „Zivilisationsinstrumente" kamen nicht vor. Im Hause Bayha dagegen verfügte man zur gleichen Zeit zwar keineswegs über größeres Vermögen, doch man pflegte einen anderen Lebensstil. Man kleidete sich distinguiert, weit über die reiche, farblich außergewöhnliche Amtskleidung des Mannes hinaus, und man speiste von Porzellangeschirr. Die Benutzung von Besteck dürfte alltäglich gewesen sein, einschließlich silberner Löffel und einer Kaffeekanne. 68 Im Haushalt der Schwenk-Glenks dagegen waren diese Gegenstände nicht zu finden. Auch eine Uhr kam hier nicht vor, wie sie zur gleichen Zeit bereits in zahlreichen anderen Weber- und Handwerker-, selbst Bauernhaushalten am Ort vorhanden war. Allein ein Spiegel verwies darauf, daß im Hause des Lehrers augenscheinlich Wert auf eine „ansehnliche Modellierung" der Persönlichkeit gelegt wurde. Ein spezielles „Bücherkästlen" im Wert von 15 Kr., das sich im Verzeichnis der Möbel genannt findet, in dem im übrigen typische ältere „Verwahrmöbel" wie Truhen und Siede! dominieren, könnte auf eine hervorgehobene Rolle der Bücher als protestantischen „Seelenschmucks" in diesem Haushalt verweisen. Eine solche Erwartung wird allerdings durch einen genaueren Blick auf die vorhandenen Bücher selbst nicht bestätigt. Sowohl hinsichtlich ihrer Größe von 21 Bänden wie ihrer Zusammensetzung fällt die Bibliothek der Scbwenk-Glenks nicht aus dem Rahmen dessen, was in einem wohlhabenden Weber- oder Handwerkerhaushalt des Ortes in dieser Zeit üblich war. (Vgl. Inventar 5).

67 Vgl. etwa das Heiratsinventar des Kaufmanns Theodor Wilhelm Perrenon und seiner Frau Anna Margareta Kraemer vom 24.1.1776 (L.336). 68 Vgl. L. 260 Zubringensinventar Johannes Bayha und Maria Dorothea Waiblinger vom 22.8. 1748 (4. Vermögensquartil) und L. 335 Eventualteilungsinventar, ders . (Tod der Frau) vom 1.9. 1776 (4. Vermögensquartil).

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Ein Volk „mit" Büchern

Inventar 5: Buchbestand in der Eventualteilung beim Tod des Provisors,Webers und Mesners Johann Heinrich Schwenk-Glenks 177469 Scrivers Seelenschaz 2 ° Johann David Frischen Neu klingende Harpfe Davids 4 ° Brastberger Predigtbuch Othonis Kranckentrost Johann Reinhard Hedinger Neues Testament Storren Handbibel Arndt Wahres Christenthum Arndt Paradiesgärtlen Predigtbuch über das Buch Tobiä Starken Handbuch 2 Exemplare Arnold Gebetbuch Heinrich Müller Gaistliche Erquickstunden Heiler Süße Jesusgedanken Heiler Brauthkammer Ringmacher Kommunionbücblen Scriver Andächtiges Christentum [Wudrian] Kreuz-Schul Gesangbuch Wirttembergische Chronick

5 FI. 2 FI. 1 Fl.

20 Kr. 50 50 30 36 10

Kr. Kr. Kr. Kr. Kr. 40 Kr. 42 Kr. 8 Kr.

8 Kr. 10 Kr. 8 Kr. 8 Kr . 9 Kr. 6 Kr . 4 Kr.

Das deutliche Übergewicht, das pietistische Autoren des späten 17. und 18. Jahrhunderts gegenüber den lutherischen „alten Tröstern" hatten, deutet freilich auf eine entsprechende Einstellung des Lehrers wie seiner Frau. Aus dem Rahmen des Ortsüblichen fallen allenfalls zwei Werke von Günther Heiler (1645-1707), einem Schwager Philipp Jakob Speners und „lutherischen Subjektivisten" (Hermann Beck).70 Auffällig ist das Fehlen jeglicher didaktischer Literatur im Haushalt des Lehrers, aber auch die marginale Rolle weltlicher Literatur: Als einziges Buch weltlichen Inhalts fand sich ein Exemplar der „ wirttembergischen Chronik". Auch Johann Georg Schwenk (1749-1807), der dem Vater als Schulmeister und Mesner nachfolgte, konnte oder wollte, wenigstens in der ersten Hälfte seines Berufslebens, 71 nicht darauf verzichten, sein Schulmeisteramt durch eine Nebentätigkeit als Weber zu ergänzen. Sein Eventualteilungsinventar beim Tode seiner ersten Frau im Jahre 179072 weist ihn bereits im Alter von 39 Jahren als 69 L.24 (s. Anm. 79). 70 Hermann Beck, Die religiöse Volkslitteratur der evangelischen Kirche in Deutschland in einem Abriß ihrer Geschichte, Gotha 1891, S. 175. 11 In den Pfarrvisitationsberichten bis 1785 ist regelmäßig erwähnt, daß Schw. sein Weberhandwerk .ohne Nachteil der Schul" treibe, und auch noch im Eventualteilungsinventar von 1790 sind erhebliche Leinwandvorräte und Weberhandwerkszeug erwähnt. Im Pfarrvisitationsbericht von 1791 dagegen ist ausdrücklich erwähnt, daß Schw. sein erlerntes Weberhandwerk nicht mehr betreibe. 72 L.J 194A Eventualabteilung von Johann Georg und Anna Schwenk v. 13.9.1790 (4. Vermögensquartil).

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den Besitzer eines stattlichen Vermögens aus, das ihn zur obersten Kategorie der Begüterten in Laichingen gehören ließ. Hierzu trug der von den Eltern ererbte Reichtum an Haus- und Grundbesitz wohl mehr bei als die Einkünfte aus Amt und Gewerbe, obwohl diese keineswegs zu unterschätzen waren. 73 Doch was sich bei Johann Georg Schwenk seit seiner Heirat im Jahre 1771 und dem Antritt seines Amts im Jahre 1774 - zunächst als Provisor, später (ab 1787, dem Todesjahr des Hauptlehrers Bayha) als Hauptlehrer und Ludi Magister - bis zum Jahre 1790 geändert hatte, das waren zwar auch die Vermögensverhältnisse. Vor a1lem aber fa1len im Vergleich mit dem Haushalt seiner Eltern Veränderungen des Lebensstils und der Lebensweise ins Auge. Zwei schwarztuchene Amtsmäntel neben drei schwarztuchenen Röcken, einem schwarztuchenen Wams , einem schwarzseidenen Halstuch und einer Vielzahl anderer schwarzer Kleidungsstücke verweisen auf den Wert, den der Schulmeister auf ein feierlich-amtliches Aussehen legte. Die Massierung dieser Kleidungsstücke freilich deutet darauf hin, daß der Sohn - ganz im Unterschied zu seinem Vater - in den 16 Jahren seit seiner Heirat begonnen hatte, zunehmend Wert auf die Demonstration eines gewissen Überflusses an solcher Kleidung zu legen. lm Unterschied zum äußeren Erscheinungsbild hatte sich im Inneren des Hauses die Zusammensetzung des Hausrats und der Möbel bis auf wenige signifikante Gegenstände im Vergleich zum Elternhaushalt (noch) nicht geändert. Zwei Stubenuhren und ein Klavier allerdings deuten auch hier auf den Einzug wichtiger Spuren einer neuen Lebensart, neuer Bedürfnisse und Gewohnheiten. Sie lassen erkennen, wie die stündliche Zeitmessung und die musikalische Ästhetisierung des Haushalts in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts für diese Familie wichtig geworden sein dürfte. Doch die verändernde Wirkung dieser zeittypischen neuen Bedürfnisse und Gewohnheiten für die gesamte Lebensweise der Schwenks wird begrenzt geblieben sein, denn typische Statusgüter des zeitgenössischen bürgerlich-kultivierten Konsums wie Porzellan, Trinkgläser, Kaffeetassen, aber auch Messer und Gabeln fehlten . Luxl!rierender Stil dagegen fällt im Buchbesitz des Haushalts auf (vgl. Inventare 6 und 7). Hier dominierte zwar weiterhin - mit Ausnahme eines Noten-

Inventar 6: Buchbeibringen des Schulmeisters und Mesners Johann Georg Schwenk 1771 74

Buchbeibringen der Ehefrau Anna Michler

Wirttembergisches Gesangbüchle 24 Kr. Handbibel 1 Fl. Gaistlicher Seelentempel 10 Kr. Weimarische Bibel 2 ° 4 Fl.

Bilhubers Predigtbuch Handbibel Starken Handbuch Gesangbuch

1 FI. 30 Kr. 36 Kr. 24 Kr. 15 Kr.

73 Das Weberhandwerkszeug für 15 fl . und die Leinwandvorräte für 138 fl . verweisen auf einen erheblichen Umfang der gewerblichen Tätigkeit, s. L 1194 A. 74 L.176 Zubringensinventar Johann Georg Schwenk und Anna Michler vom 14. 10. 1771 (3. Vermögensquartil).

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Inventar 7: Buchbestand in der Eventualteilung beim Tod der Frau Anna Schwenk 179075 Scrivers Seelenschaz 2 Bände 2 ° Weimarische Bibel 2 ° Ulmer Bibel 2 ° Arnds Wahres Christenthum Bilhubers Hauspostill Müllers Liebeskuss Luthers Kirchenpostill 2 Bände Gebetbuch Frischs Psalter Gerbers Unerkannte Sünden Handbibel Handbibel Starken Gebetbuch Huebners Historien Gebetbuch Celltners Leichenreden 2 Bände Mosners Hochzeits- und Leichenreden Marpergers Passionsbetrachtungen Notenbuch

3 Fl. 3 FI. 1 Fl. 1 FI. 1 Fl. 1 Fl.

30 Kr.

40 Kr. 30 Kr. 30 Kr.

12 Kr. Kr.

30 15 45 30

Kr.

Kr. Kr.

1 FI. 50 30 30 24 1 Fl.

Kr. Kr.

Kr.

Kr. 36 Kr. 24 Kr. 24 Kr. 30 Kr.

buchs - die religiöse Literatur. Doch war sie weniger pietistisch ausgerichtet als die im Haushalt der Eltern. Die ganz überwiegend teuren Ausgaben der Bücher lassen erkennen, daß neben dem Gebrauchswert der Bücher die Ästhetik ihres Schmucks als wichtig empfunden wurde. Deutlicher als in zahlreichen anderen Haushalten galt ein Großteil der Bücher hier auch als repräsentative Konsumgüter. Freilich ist bemerkenswert, daß sich - von der Kleidung des Mannes, vom Klavier und von den Uhren abgesehen - keine anderen Gegenstände im hause befanden, mit denen repräsentativer Aufwand getrieben wurde. Der Schmuck dieses Haushalts bestand um 1790 noch hauptsächlich im „geistlichen Seelenschmuck" seiner Bücher. Erst in den 17 Jahren zwischen 1790 und 1807, dem Todesjahr Johann Georgs, dürften Lebensstil und Lebensweise der Schwenks einen tiefgreifenden Wandel mitgemacht haben. 76 Er brachte diesen ländlichen Haushalt eines „Geisteshandwerkers" auf die Höhe des zeitgenössischen „Prozesses der Zivilisation" (N. Elias). Der zum Hauptlehrer bestellte Provisor gab seine handwerkliche Tätigkeit als Weber bald nach 1790 auf. Doch diese Entscheidung ist nur zum Teil unter Gesichtspunkten einer zunehmenden „Professionalisierung" zu sehen, denn der Hauptlehrer verzichtete, als er sein manuelles Handwerk an den Nagel hängte, keineswegs auf die agrarische Basis seiner häuslichen Ökonomie. Auch noch 1807 gehörte ein

15 L. l 194A

76 S. hierzu die Eventualabteilung von Johann Georg Schwenk und Agnes Marie Keppeler vom 27.9.1807 (4. Vermögensquartil).

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beträchtlicher Besitz an Äckern und Wiesen, aber auch eine Viehhaltung mit einer Kuh, 2 Kälbern und 5 Hennen - sie entsprach der eines Kleinbauern - zum Haushalt der Schwenks. Doch die Verwurzelung in einer solch kJeinbäuerlichen Existenzgrundlage stand in dieser Zeit der späten Aufklärung, in der die Vorstellung einer gebildeten und kultivierten „Bürgerlichkeit" verhaltensprägende Kraft entfaltete, der Entwicklung eines Lebensstils nicht entgegen, in dem diese kultivierte und gebildete Bürgerlichkeit Ausdruck fand. Charakteristisch für diesen neuen Lebensstil war, daß er seine Wirkung über die Kleidung hinaus entfaltete und vor aUem das Innere des Hauses erfaßte. Er wurde in der Ausbildung einer „kultivierten" Häuslichkeit wirksam . Das Klavier und die zwei Stubenuhren, zu denen inzwischen eine teure silberne Sackuhr des Mannes hinzugekommen war, blieben nicht mehr die alleinigen Schrittmacher der neuen Zeit und ihrer kulturellen Leitvorstellungen. Diese hatten inzwischen in Gestalt neu angeschaffter Gegenstände einen erheblichen Teil der Haushaltsausstattung geprägt: Ob Pot de Chambre, Waschzuber, aichener Waschstuhl, Nachtstuhl oder Schreibpult, ob Kleiderbürste, Waschbürste, Kehrwisch oder Schuhanzieher, eine Ansammlung von Leuchtern und Oelampeln, Porzellantellern, Suppenschüsseln oder eine Saladiere, 1 rundes Dutzend Tassen samt Kaffeelöffeln und 7 Messern, überall im Hause war ein Bestreben nach „bürgerlicher" Verbesserung erkennbar, bis hin zu zwei Gemälden „Die Auferstehung Christi" und „Der Tod Abels", welche die Wohnstube zierten. Freilich zeigte sich an charakteristischen Einzelheiten, zum Beispiel im Fehlen einer gleichen Anzahl von Gabeln neben den Tischmessern und im Uberwiegen der älteren „Bewahrmöbel" in der Ausstattung des Hauses mit „Schreinwerk" - wie es hieß-, daß die verhaltensprägende Kraft der neuen Gegenstände noch durchaus begrenzt war und die neuen Zeiten ihren Stempel dem „ganzen Haus" der Schwenks noch keineswegs durchgängig aufgeprägt hatten. Auch die Bibliothek hatte sich in den 17 Jahren seit 1790 grundlegend verändert (vgl. Inventare 7 und 8). Ihr Umfang hatte sich von 22 auf 46 Exemplare, und damit um mehr als das Doppelte, vergrößert. Hierbei fällt ins Auge, daß sich gleichzeitig Zahl und Anteil der wertvollen Bücher,77 die auch als repräsentative Schmuckstücke dienten, erheblich - von 9 auf 4 Exemplare - reduziert hatten. Am deutlichsten sichtbar werden die Veränderungen in den Unterschieden der Zusammensetzung der Bibliothek nach Autoren und Titeln. Aussagekräftig ist hier nicht nur das, was neu hinzukam, sondern vor allem auch das, was in den Jahrzehnten seit 1790 ausgeschieden wurde. Von den 22 Büchern, aus denen die Bibliothek von Johann Georg Schwenk und seiner Frau Anna damals bestanden hatte, „überlebten" allenfalls 11 bis zum Jahr 1807. Besonders bemerkenswert ist das Ausscheiden des größten Teils der Gebets- und Andachtsliteratur, vor allem derjenigen Autoren und Titel, die zu den sog. „alten Tröstern" zu rechnen sind. Bilhubers „Hauspostill" - und damit ein Buch desjenigen Geistlichen, der den Schul-

77

die über 1

n. veranschlagt wurden.

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Ein Volk flmit" Büchern

Inventar 8: Buchbestand in der Eventualteilung beim Tod des Schulmeisters Johann Georg Schwenk 180778 Nürnberger Bibel mit Kupferstichen 2 ° Ulmer Bibel mit Holzstich Scriver Seelenschaz 2 Bände 2 ° und Register 4 ° Frisch Neu klingende Harpfe Davids 4 ° Walchs Kirchenpostill 2 Bände 4 ° Dr. Luthers Hauspostill 4 ° Weiß Christliches Konkordienbuch 4 ° Erklärung des Buch Tobias 2 ° Burl's Evangelienpostill Marbergers Passionsbetrachtungen Gerbers Unerkannte Sünden der Welt [Scriver] Gottholds Andachten Löschers Zustand der Seelen nach dem Tod Herrenhuter Gesangbuch Hübners Biblische Historien Alt Gesangbuch Nürnbergische Prediger Ermahnung und Warnung Handbibel Handbibel Handbibel Rambachs Weise unterrichtete Katecheten Rambachs Entwurf der Predigt Text Comrnunionbüchle Neumanns Gebetbüchle Gebetbuch, zerrissen Schmolken Gebetbuch [Heiler] Süße Jesusgedanken Scheitberger Sendbrief Rothens Memorabilia Europaea Hübners Fragen aus der Geographie Faulhabers Rechenkunst [R.Z.Becker] Noth- und Hülfsbüchlen Faulhabers Rechenkunst Helds Rechenbuch Gebetbuch von 1690 Bischoffs Catechismus neu Wirtembergisches Gesangbuch Psalter Chronik ohne Titel Evangelisches Denkmal Kleiner Seelenschaz Neues Testament Gebetbuch, ganz alt Kinderlehr , Spruch- und Konfinnationsbüchlen

2 Fl. 1 FJ.

3 Fl.

30 Kr. 36 Kr. 40 Kr.

2 Fl.

40 Kr. 48 Kr. 24 Kr. 48 15 10 10 12 15 10

Kr.

Kr. Kr. Kr .

Kr. Kr. Kr.

2 Kr. 8 Kr. 48 Kr. 45 Kr. 20 Kr. 12 Kr. 10 Kr. 6 Kr.

2 Kr. 3 Kr. 6 Kr. 8 Kr. 10 Kr.

4 Kr. 6 Kr.

6 Kr. 12 Kr.

5 Kr. 8 Kr. 4 Kr. 10 Kr.

4 Kr. 2 Kr.

6 Kr. 1 Kr. 4 Kr. 4 Kr. 2 Kr. 2 Kr.

78 Eventualabteilung des Johann Georg Schwenk und seiner Frau Agnes Maria Keppeler vom 27.9.1807 (4. Vermögensquanil).

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unterricht des Vaters von Johann Georg Schwenk häufig persönlich visitiert hatte79 - verschwand ebenso wie Heinrich Müllers „Liebeskuss". Selbst Johannes Arndts „ Wahres Christenthum" und das am Ort außerordentlich verbreitete und populäre pietistische Gebetbuch von Johann Friedrich Stark hatten für den Lehrerhaushalt - im Unterschied zu den meisten anderen Laichinger Haushalten der Zeit80 - so deutlich an Interesse verloren, daß sie ausgeschieden wurden. Charakteristischerweise blieb Christian Gerbers Text „Unerkannte Sünden der Welt" 81 erhalten, eine vor allem unter der Ehrbarkeit des Ortes verbreitete Auseinandersetzung mit unchristlichen Sprichwörtern und unflätigem Wortgebrauch und in dieser Eigenschaft zugleich eine Art christlich-protestantisches Anstandsbuch für den Umgang mit Wörtern, das der restriktiven Verhaltensmodellierung in der Sphäre alltäglichen Umgangs diente. Am deutlichsten zeigen sich jedoch die Änderungen der Präferenzen und des literarischen Geschmacks im Einzugweltlicher Literatur. Sie war zum Teil - wie die Rechenbücher - für den Schulunterricht bestimmt, zum Teil diente sie der Erweiterung des Weltbilds - wie die geographische Literatur - oder sie verfolgte - wie das 1788 erstmals erschienene „Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersleute" des Rudolf Zacharias Becker82 weitergespannte volksaufklärerische Ziele. Johann Georg Schwenk war neben dem Wundarzt und Chirurgen Narcissus Keller d.J. 83 in seiner Zeit allerdings der einzige örtliche Besitzer dieses wichtigen, in seiner Bedeutung allerdings überschätzten Werkes der volksaufklärerischen Literatur . Seine Verbreitung gelangte wenigstens in Laichingen und auf der Schwäbischen Alb zumeist nicht über den Kreis der intellektuellen Vermittler und einzelner gelehrter Handwerker hinaus. 84 Aber der Einzug aufgeklärter und aufklärender Literatur in den Haushalt des Leh-

79 Vgl. etwa den Pfarrvisitationsbericht 1754, auf dem Dekan Bilhuber aus Urach als Visitator erwähnt ist. so S. hierzu die in Anm. 10 genannten Arbeiten. 81 1. Auflage Dresden 1690. 82 Rudolph Zacharias Becker, Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute oder lehrreiche Freudenund Trauergeschichte des Dorfes Mildheim. Für Junge und Alte beschrieben, Gotha und Leipzig 1788, Nachdr. Hg. mit einem Nachwort von Reinhart Siegen, Dortmund 1980; vgl. zu Becker und seinem . Hülfsbüchlein" auch: Reinhart Siegen, Aufklärung und Volkslektüre, exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem .Noth- und HülfsbücWein", mit einer Bibliographie zum Gesamtthema, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978). Sp. 565- 1348. 83 S. L.1201 Eventualahteilung von Narcissus Keller d.J. (1750-1819) und Anna Keller-SchwenkEdel vom 19.1.1791 (4. Vermögensquartil). 84 Reinhart Siegens Behauptung, in: ders, Aufklärung und Volkslektüre (wie Anm. 82), Sp. 1109, daß dieses Buch zu Beginn des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum allgemeine Verbreitung gefunden habe und .durchschnittlich" 1 Exemplar dieses Buches auf 65 Einwohner oder auf 10 Haushaltungen gekommen sei, findet in Laichingen, sicherlich einem der bücherreichsten und leserintensivsten Orte in den ländlichen Gesellschaften Mitteleuropas im 18. Jahrhundert, keine Entsprechung. Hier kamen zwischen 1791 und 1820 gerade 2 Exemplare des Buches in den für diesen Zeitraum untersuchten 277 Teilungsinventaren (1. Teilungen) vor. Auch Siegerts These, daß Beckers Noth- und Hülfsbüchlein zu Beginn des 19. Jahrhunderts .in Tübingen, der Hochburg des Schwäbischen Pietismus, der Einbruch in die Phalamc der Habermänner, Arndts, Brastberger und sonstigen pietistischen Erbauungsmatadoren" (ebd. Sp. 1112) gelungen sei, hält einer genaueren Überprüfung anhand der von Hildegard Neumann gegebenen (und von S. falsch zitierten!) Daten nicht stand: die 7 von Neumann für den Zeitraum zwischen 1800 und 1810 erwähnten Exemplare verteilten sich auf 408 Teilungsinven-

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rers ist nicht als Indiz eines durchgängigen Säkularisierungsprozesses zu betrachten. Er erfolgte keineswegs auf Kosten einer überwiegend religiösen Orientierung seiner Lektüre, die unter den 46 Bänden noch bei weitem überwog. Allerdings fallen hier mehrere der genannten Autoren und Titel durch die besondere Position auf, die sie vertreten: Walchs KirchenpostiU, 85 Löschers Zustand der Seelen nach dem Tod 86 und Marpergers Passionsbetrachtungen81 ist eine eher aufgeklärt lutherische als eine pietistische Position gemeinsam, für die charakteristisch ist, daß sich die Autoren in der Auseinandersetzung mit dem Pietismus engagierten. Auch der Besitz eines „Herrenhuter Gesangbuchs" dürfte auf diesem Hintergrund nicht als Parteinahme für diese auch im zeitgenössischen Württemberg verbreitete Richtung des Pietismus ausgelegt werden, sondern eher der Aufklärung und Information gedient haben. Er könnte aber auch, jenseits aller religiösen Auseinandersetzung, zur musikalischen häuslichen Erbauung genutzt worden sein, die ja im Hause Schwenk eine große Rolle spielte. Die spezifische Auswahl der Titel dieser Hausbibliothek, wie auch die Einrichtung einer von Johann Georg Schwenk betriebenen Schulbibliothek, in der wichtige Werke der zeitgenössischen pädagogischen Aufklärung vorhanden waren,88 läßt jedenfalls vermuten, daß es dem Lehrer nicht nur auf private Lektüre ankam, sondern auf die Verbreitung eines aufgeklärten Weltbildes, gerade auch in der Auseinandersetzung mit einer im Ort dominierenden Form pietistischer Religiosität.

tare (s. Neumann, Bücherbesitz Tübinger Bürger, wie Anm. 17, S. 90 f.) eine Zahl, welche jedenfalls die Schätzungen Siegerts wie seine Schußfolgerungen hinsichtlich der allgemeinen Verbreitung dieses . Bestsellers" volksaufldärerischer Literatur für den süddeutsch-schwäbischen Raum als unbegründet erscheinen läßt. Bemerkenswert ist an diesen Daten auch, daß die Häufigkeit des Buches in der benachbarten Stadt größer war als auf dem Lande. Das Bild der bildungsbeflissenen und verbesserungswilligen .Bauerleute", das Becker in seiner .Freuden- und Trauergeschichte des Dorfes Mildheim" konstruierte, war augenscheinlich für gebildete Städter - gewissermaßen als vertrautes Gegenbild einer fremden Welt - attraktiver als für lesewillige und lesefähige Bauern und Landleute selbst. In einem Nachbarort Laichingens, in Feldstetten, findet sich unter den 75 für den Zeitraum von 1800 bis 1810 von Angelika Bischoff-Luithlen aufgenommenen Teilungsinventaren nur eine einzige Erwähnung von Beckers Noth· und Hilfsbüchlein, und zwar in der Eventualteilung für einen Weberhaushalt (Eventualteilung der Dorothea Schneider, Bürgers und Webers Eheweib, gest. mit 77 Jahren 1808) während die für diesen Zeitraum erfaßten Teilungen für Lehrerhaushalte (2) kein Buch dieses Titels erwähnen. (Angelika Bischoff-Luithlen, Auszüge aus den Inventur- und Teilungsakten der Gemeinde Feldstetten (heute Laichingen Feldstetten) Kreis Münsingen über den Besitz an Büchern (und Bildern) 1650-1852, Ms. Feldstetten 1964. Kopie im Besitz des Verf.). Bei den von Bischoff-Luithlen erhobenen Daten ist freilich zu be.rücksichtigen , daß sie nur eine Auswahl der größeren Buchbesitzer bzw. Besitzerin· nen darsteUen. Inventare mit wenigen Büchern, d.h. solchen, die nur Bibel, Gesangbuch und katechetische Literatur enthalten, wurden ebensowenig aufgenommen wie buchlose Inventare. ss Vermutlich handelt es sieb bei diesem Titel um einen Band der von Johann Georg Walch (1693-1775), Theologieprofessor in Jena, herausgegebenen Halleschen Ausgabe der Werke Luthers (vgl. ADB). Das gleiche Werk könnte bereits 1790 unter dem Titel .Luthers Kirchenpostill" in der Bibliothek Johann Georg Schwenks vorhanden gewesen sein. 86 Valentin Ernst Löscher (1673-1749) wird in der ADB als ein Vorkämpfer der lutherischen Orthodoxie gegen den Pietismus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dargestellt. 87 Bernhard W. Marperger ( 1682- 1746), lutherischer Theologe und Oberhofprediger in Dresden, der sich in den zeitgenössischen Streitigkeiten mit dem Pietismus engagiert. S8 Vgl. Visitationsrelation 1796.•es sind die brächtigste Bücher bei der Schul, welche von der Heiligen Bibliothec abgegeben worden, die seilerischen Schriften, Mosers Taschenbuch und andere" .

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Hans Medick

Insgesamt hatte die „bürgerliche Verbesserung" im Haushalt des Johann Georg Schwenk noch einen durchaus ungleichzeitigen und partiellen Charakter. Jedenfalls löste sie sich nicht von der agrarischen Basis. Obwohl sich der Hausherr nach 1790 ausschließlich dem Lehrerberuf widmete und sein Gewerbe aufgab, betrieb er mjt seiner Frau bis zu seinem Tode eine kleinbäuerliche Landwirtschaft. Im Haushalt seines Sohnes und Nachfolgers als Schulmeister (ab 1808) zeigten sich deutliche Veränderungen. Johann Heinrich Schwenk-Glenks (1786-1856) scheint gleich zu Beginn seiner Ehe - und vermittelt durch seine Eheschließung - denjenigen Aufstieg auch sozial realisiert zu haben, den seine Eltern gewissermaßen lebenslang kulturell erarbeiteten. Mit Ursula Schwenk heiratete er 1809 die Tochter des Rößlewirts, eines der reichsten Besitzer des Ortes, und rückte damit in den Kreis der örtlichen Ehrbarkeit auf. Ein erhebliches Beibringen an Grundbesitz bei beiden Ehepartnern deutete zwar auf eine Fortdauer der agrarischen Basis der Lehrerexistenz, gleichzeitig dürfte aber die drastische Reduzierung des Umfangs der Viehhaltung einen Rückgang der eigenen agrarischen Tätigkeit angezeigt haben. 89 Auch wenn das Heiratsinventar von Johann Georg Schwenk.-Glenks und Ursula Schwenk keinen Einblick in einen volJ ausgebildeten Haushalt gestattet, so läßt es doch auf eine Aufwandsbestrebung und -gestaltung schljeßen, die höher und anders war als im Haushalt der Eltern. Der soziale Aufstieg kam gewissermaßen auch kulturell zum Ausdruck, in der Durchstilisierung des Haushalts mit den Kulturgütern der Zeit. Der reiche Silber- und Goldschmuck des Mannes und der Frau, die farbige Kleiderpracht beider Ehepartner, die zumindest beim Manne einen bürgerlichen Zuschnitt im Stil der Zeit aufwies, in dem das amtliche Schwarz des 18 . Jahrhunderts nicht mehr dominjerte, waren hier aussagekräftig. Sie zeigten an, daß die Eheleute vor allem mü ihrer äußeren Aufwandsgestaltung bestrebt waren, zu demonstrieren, daß sie den Status eines kleinbürgerlichen Amtsträgerhaushalts wie desjenigen der Eltern Schwenk überschritten hatten. Doch auch für das Innere des Hauses manifestierte sich ein ähnlicher Gestaltungswille. Jedenfalls lassen die Erstausstattung mit Kommoden und doppeltürigem Kleiderschrank, mit Sesseln, Stühlen, einem Schreibpult und einem Tisch aus hartem Holz sowie mit Porzellantellern, Kaffeetassen und silbernen Löffeln, aber auch mit Regenschirm und Wetterglas, beschlagenen Rohr-Spazierstöcken und einem Reise-Koffer die Absicht der Entfaltung eines zeitgemäßen, mittleren bürgerlichen Lebensstils auf dem Lande erkennen. Aus all diesen Gegenständen ragt die vom Mann in die Ehe gebrachte Sammlung von Musikinstrumenten heraus: Ein Cembalo oder Pantalon, ein Klavier, eine Violine und eine Flöte lassen eine Absicht erkennen, die über die berufsbedingte Wahrnehmung der Einübung und Anleitung der Kirchenmusik hinausführte, wie sie zur Ve!Jlflichtung eines Lehrers als Ludi Magister gehörte. Sie zielte auf die musikalische Asthetisierung des Haushalts, eine Bestrebung, die der Land-

89 L.703 Zubringensinvencar Johann Heinrich Schwenk-Glenks und Ursula Schwenk vom 9.11.1809 (4. Vermögensquartil). Der Mann bringt bei einem Gesamtbeibringen im Wen von 852 11. für 258 11. Äcker und Wiesen in die Ehe ein, an Vieh lediglich eine Henne im Wen von wenigen Kreuzern, die Frau bei einem Beibringen von insgesamt 1853 11. Äcker und Wiesen für 75011. und keinerlei Vieh.

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. mit~

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Büchern

schullehrer Johannes Schwenk-Glenk:s mit dem kultivierten städtischen Bildungsbürgertum der Zeit und in Württemberg vor allem auch mit den Lehrern teilte. 90 Inventar 9: Buchbeibringen des Schulmeisters Johann Heinrich Schwenk-Glenks 180991 Handbibel Weimarische Bibel Neu Wirtembergisches Gesangbuch Rambachs Predigten [R. Z. Becker] Noth und Hülfsbüchle Schmalrieds Rechenbuch Faulhabers Rechenbuch Sturms Morgenandachten Gellerts Schriften 8 Bände Seilers Lesebuch Seilers Geschichte der geoffenbahrten Religion Rosenmüllers Christliches Religionsbuch Erklärung des Spruchbuchs Unterweisung in den vornehmsten Künsten und Wissenschaften, mit Kupfer Wagners Rechenbuch Universal Historie Braunschweigischer Katechismus Jacobi Messkunst Knechts Elementarwerk samt Notentafel Schellers Lexicon Knebels Gramatic Bröder Gramatic Bröder Gramatic, kleine Ausgab Werners Anleitung zur Lateinischen Sprache Comelius Nepos Justinus Rotbs Gramatic Französische Grammaire Langs Französische Grammai.r e Dictionaire Modelle des Jeunes Gens Langs Lesebuch allerhand Musicalien [Musikliteratur]

48 Kr.

2 Fl. 30 20 12 24

Kr. Kr. Kr. Kr. 5 Kr. 48 Kr.

2 Fl.

36 Kr.

40 Kr. 20 Kr. 18 Kr. l Fl.

2 Fl.

20 Kr. 12 Kr. 4 Kr. 2 Kr. 24 Kr. 40 Kr. 20 Kr.

l Fl.

36 48 15 48 30 24 1 Fl. 1 Fl. l Fl.

5 Fl.

Kr. Kr. Kr. Kr. Kr. Kr.

12 Kr. 36 Kr. 30 Kr.

Buchbeibringen der Ehefrau Ursula Schwenk-Edel Handbibel Kinderlehr

40 Kr. 4 Kr.

90 Vgl. hierzu Heinz Bühler, Das beamtete Bürgertum in Göppingen und sein soziales Verhalten 1815-1848 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göppingen, Bd. 12), Göppingen 1976, S. 126ff. (zur Lebenshaltung der nicht-akademischen Beamten) und S. 129 f . (zur Musikkultur der Lehrer). 91 L.703 (s. Anm . 89).

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Hans Medick

Die "Modernität" des Haushalts der Schwenk-Glenks hinsichtlich des beabsichtigten Lebensstils und seiner Voraussetzungen in der bürgerlichen Mentalität der Zeit kommt in dem, was beide Ehepartner an Büchern mitbrachten, auf jeweils spezifische Weise besonders deutlich zum Ausdruck: Der äußerst sparsame Buchbesitz, den die Frau ihr eigen nannte, ist auf dem Hintergrund ihres sonstigen reichen Beibringens zu lesen. Er deutet auf eine Einstellung hin, wie sie in Laichingen zu dieser Zeit für Frauen noch keineswegs typisch war. Bei Ursula SchwenkGlenks-Schwenk war der reiche „geistige Seelenschmuck", der das Beibringen Laichinger Frauen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zumeist in Gestalt erheblicher „Bücherschätze", zierte (Bücherschätze, die im übrigen die Buch-Beibringen der Männer der Anzahl der Bücher nach häufig übertrafen) , zugunsten einer reichen Ausstattung mit Silber- und Goldschmuck auf das Allernotwendigste reduziert. Besonders deutlich war dies daran zu erkennen, daß zwei silberbeschlagene Gesangbücher zum „Geschmeide" der zahlreichen goldenen Ringe, granatenen Nuster und vergoldeten Anhänger gerechnet wurden und nicht mehr als Bücher zählten. Ganz anders die Präferenzen des Lehrers. Sie waren in hohem Maße auf ein „Leben mit Büchern" hin orientiert und von diesem geprägt. In seiner Bibliothek von mindestens 40 Bänden, die er in die Ehe mitbrachte, überwogen die weltlichen Titel (mindestens 30) bei weitem die Bücher mit religiösem Inhalt (10). Es war die Bibliothek eines aufgeklärten Zeitgenossen, deren reicher Anteil an pädagogisch-didaktischen Werken zugleich Zeugnis dafür ist, daß es Johann Heinrich Schwenk-Glenks, wohl noch in entschieden höherem Maße als seinem Vater, darauf ankam, den aufgeklärt-zivilisierten Zeitgeist nicht nur passiv, als Leser, zu konsumieren, sondern auch praktisch-lehrend zu verbreiten und anzuwenden. Er durfte dieses Bildungsziel nicht zuletzt für sich selbst verfolgt haben, wofür seine beiden französischen „Grammaires" und das „Dictionnaire" ebenso sprechen wie das Anstands- und Verhaltensbuch für die Jugend „Modelle des Jeunes Gens", das er sein eigen nannte. Auch die „Gesamtausgabe" von Gellerts Schriften bezeugt eine Vorliebe für die moralisch-didaktische Richtung der Aufklärung und eine milde gestimmte aufgeklärte Empfindsamkeit. Selbst die religiöse Literatur, die sich Schwenk-Glenks über die von den Eltern ererbten Exemplare der Bibel und Rambachs pietistisches Predigtbuch hinaus angeschafft hatte, atmete den Geist der Aufklärung (Seiler, Braunschweigischer Katechismus, Neues württembergisches Gesangbuch) oder den des religiösen Supranaturalismus der Zeit (Rosenmüller, Stunn).92 Die reiche Musikalienliteratur schließlich verweist auf ein Interesse an Musik, das sich nicht in der Pflege der kirchlichen Musiktradition erschöpft haben dürfte.

*** Diese deutlichen Zeichen des Einzugs aufgeklärt-zivilisierter und bürgerlicher Lesekultur und Lebensart in die Haushalte der Lehrerdynastie Schwenk zu Ende des

92 Zum religiösen Supranaturalismus vgl. Beck, Die religiöse Volkslitterawr (wie Anm. 70), S. 265 ff.

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18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts sollten freilich nicht überschätzt werden. Sie sollten nicht zu dem Schluß verleiten, daß dieser Lese- und Lebensstil in den Jahrzehnten zwischen 1790 und 1820 verhaltensprägend für weite Schichten der Laichinger Bevölkerung geworden sei. Er war vielmehr auf wenige, aber keineswegs alle Haushalte am Ort beschränkt, die zur bürgerlichen Ehrbarkeit zählten oder ihr sozial zustrebten: die Chirurgenfamilie Keller, die Kaufleute Perrennon und Nestei, die Pfarrer Perrennon und Sigel und den Amtmann März. Die Lesekultur und Lebensart der Vielen am Ort wurde zur gleichen Zeit zunehmend von einer pietistischen Mentalität93 geprägt, die sich eher im Gegensatz zum aufgeklärten Zeitgeist als im Einklang mit ihm entwickelte. Der sich in Laichingen wie an anderen Orten Württembergs nach 1791 heftig artikulierende und jahrzehntelang anhaltende Widerstand gegen die Einführung eines „aufgeklärten" Kirchengesangbuchs 94 läßt deutlich werden, daß die Position einer aufgeklärten und aufklärenden „Literalität" am Ort einen schweren Stand hatte. Ebensowenig wie der pädagogischen „Volksaufklärung" gelang es auch der „Aufklärung in der württembergischen Kirche" ,9s eine breitere gesellschaftliche Verankerung zu finden. Sie war - und dies zeigt auch das Beispiel Laichingens - gegenüber einer anderen, frommen Form der „Literalität" nicht durchsetzungsfähig, die deutlich von der Mentalität eines spezifisch württembergischen „lutherischen Pietismus" bestimmt war. Für diese fromme Liberalität dürften allerdings - wie unsere Untersuchung zu zeigen versuchte - Buchbesitz und intensive Lektüre keineswegs weniger vorstellungs- und verhaltensprägend gewesen sein als für eine aufgeklärte Existenz.

Die Ergebnisse dieser Untersuchung des Buchbesitzes, der in den Heirats- und Sterbeinventaren des südwestdeutschen l.ändlichen Ones Laichingen zwischen 1748 und 1820 aufgefahrt ist, stellen eine weit verbreitete Modernisierungsperspektive in der Einschätzung neuzeitlicher „literalittit" in Frage. Sie machen deutlich, daß Buchbesitz und Lektüre bereits vor dem 19. Jahrhunden eine wesentlich größere Verbreitung haben konnten, als gemeinhin angenommen wird. Der außerordentliche Umfang des Buchbesitzes an diesem Ort und die große Bedeutung der Lektüre verdanken sich freilich nicht den Impulsen der Aujk/lirung, sondern denen des südwestdeutschen Pietismus. Die Wirkung der Aujkldrung im religiös bestimmten kulturellen Milieu dieser dörflichen Gesellschaft blieb dußerst begrenzt. Im Hinblick auf die Entfaltung neuzeitlicher Literalität tritt das Ende der frühen Neuzeit als eine wichtige Epochenschwelle in den Blick, von der aus die „Modernisierungen" des 19. und 20. Jahrhunderts keineswegs als kontinuierliche Fonsetzung erscheinen.

93

S. hierzu meine in Anm. 10 erwähnte Studie.

94 Zu Württemberg insgesamt s. Hartmut Lehmann, Der politische Widerstand gegen die Einfüh-

rung des neuen Kirchengesangbuchs von 1791 in Württemberg, in: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte N.F. 59 (1959), S. 247 - 263. 9S Hierzu Christian Kolb, Die Aufklärung in der württembergischen Kirche, Stuttgart 1908.

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Hans Medick

The results ofthis investigation ofbook ownership, as registered in the inventories at marriage and at death of the south-west German village of Laichingen between 1748 and 1820, question a wide-spread assumption about the growth of literacy in the modern period. They make clear that book ownership and reading before the 19th century could be much more wide-spread than is commonly assumed. The exceptional spread of book ownership in this village was due however much more to the impulses stemming from early modern pietism than from the enlightenment. With regard to the spread of literacy the end of the early modern period around 1800 emerges as an important epochal watershed in realtion to which the „ modernizations" of the 19th and 20th centuries cannot be seen as a continuation. Hans Medick, Max-Planck-Institut für Geschichte, Hermann-Föge-Weg 11, D-3400 Göttingen

HANS ERICH BÖDEKER

Die Bibliothek eines Aufklärers: Georg Forster

Ein Gelehner, und ein Buch ausschlagen; solchen Gedanken hab' ich (G. Forster an J.K.Ph. Spener, 29.10. 1776) in Israel nicht funden

l.

„Ich habe alle Zweige der Naturgeschichte, einschließlich Physik und Chemie, betrieben[ ... ] Ich habe einige Kenntnis von der Philosophie, den schönen Wissenschaften und Künsten. Aber Geographie, die Geschichte, die Politik, die öffentlichen Angelegenheiten haben für mich immer Reiz gemacht, und ihnen habe ich meine Mußestunden gewidmet. " 1 So beschrieb 1787/88 der zu den umstrittensten Persönlichkeiten der Spätaufklärung zählende Georg Forster das Spektrum seiner Wißbegierde, seiner weit gestreckten Leseinteressen. Die Briefe und Tagebücher des Weltreisenden und Revolutionärs, des Naturforschers und Schriftstellers enthalten zahlreiche Äußerungen über literarische und wissenschaftliche Werke, die von skeptisch ablehnenden Urteilen bis zu begeisterndem Lob reichten.2 Sie dokumentieren zugleich, wieviel ihm seine Bücher bedeuteten. Der Buchbesitz bildete für den aufklärerischen Gelehrten Georg Forster eine unerläßliche Voraussetzung seiner lntellektualität, seines Forschens, seiner Lehre, seiner Schriftstellerei. Er war Arbeitsinstrument und Existenzgrundlage. Die rastlose, vielfältige wissenschaftliche wie literarische Tätigkeit war ohne die mit wichtigen Neuerscheinungen laufend aufgefüllte Bibliothek kaum denkbar. Sie mani-

1 Zitiert nach Gerhard Steiner, Manfred Häckel (Hg. ), Forster. Ein Lesebuch für unsere Zeit, unter der Mitarbeit von Lu Märten, Weimar 1952, S. 19. 2 Vgl. Georg Forsters Werke , Bd. 12: Die Tagebücher, bearbeitet von Brigitte Leuschner, Berlin 1973 (zitiert als Tagebücher); Georg Forsters Werke, Bd. 13: Briefe bis 1783, bearbeitet von Siegfried Scheibe, Berlin 1978 (zitiert als Briefe 0; Georg Forsters Werke, Bd. 14: Briefe 1784- Juni 1787, bearbeitet von Brigitte Leuschner, Berlin 1978 (zitiert als Briefe Georg Forsters Werke , Bd. 15: Briefe Juli 1787-1789, bearbeitet von Horst Fiedler, Berlin 1981 (zitiert als Briefe III); Georg Forsters Werke, Bd. 16: Briefe 1790- 1791, bearbeitet von Brigitte Leuschner und Siegfried Scheibe, Berlin 1980 (zitiert als Briefe IV); Georg Forsters Werke, Bd. 17: Briefe 1792 bis 1794 und Nachträge, bearbeitet von Klaus-Georg Popp, Berlin 1989 (zitiert als Briefe V); Georg Forsters Werke, Bd. 18: Briefe an Forster, bearbeitet von Brigitte Leuschner u. a ., Berlin 1982 (zitiert als Briefe

m;

vn.

Aufklärung 6/ 1

4:> Felix Meiner Verlag, 1991 , lSSN 0178-7128

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Hans Erich Bödeker

festiert zugleich die intensive Teilnahme Forsters am zeitgenössischen kulturellen Leben. Das legt die Analyse seines Buchbesitzes nahe. 3 Forsters Bibliothek ist nkht erhalten. Allerdings ist von seiner Büchersammlung ein Auktionskatalog überliefert, 4 durch den große Teile seiner Bibliothek im Jahr 1797 zum Kauf angeboten wurden. Dieser Katalog beruht vermutlich auf der Neuordnung und dem Verzeichnis seiner Bücher vom Frühjahr 1794, war doch Forsters Bibliothek bei der Konfiszierung seines Eigentums während der Mainzer Clubistenverfolgung völlig durcheinander geraten. Auf der Titelseite des Auktionskataloges war entgegen den Gepflogenheiten allein Forsters Name ausgedruckt; der Buchbestand wurde ohne die üblichen, mehr oder weniger näheren Spezifizierungen angegeben. Natürlich wurde auch der Ort - die Zeit stand traditionellerweise fest - der Versteigerung erwähnt. Die Rückseite des Titelblattes informierte über die Geschäftsbedingungen der Auktion. Dazu gehörte neben der Erklärung der Notwendigkeit der Barzahlung der ersteigerten Bücher auch die Angabe des Wechselkurses sowie die Auskunft, daß die Hofräte Bodmann, Weidemann und Sömmerring sowie der Hofgerichtsrat Köhler sich erboten, die Kommissionen für auswärtige Besteller zu übernehmen. Forsters Freund Samuel Thomas Sömmerring allerdings wohnte, entgegen der Angabe des Katalogs, nicht mehr in Mainz, sondern schon seit langem in Frankfurt. Der Hinweis auf den Syndikus und Universitätssekretär Schlebusch auf der letzten Seite des Katalogs bedeutete wohl, daß Schlebusch für die Auktion verantwortlich zeichnete. Die Auktion zog sich wegen des schleppenden Verkaufs vom 4. bis zum 20. September 1797 hin. 5 Auf den 83 Seiten des Katalogs sind die Titel traditionell nach vier Formaten - folio , in quarto, in octavo, in duodecimo - und innerhalb der Formate alpha-

3 Vgl. als anregenden ersten Versuch Horst Fiedler, Über die Büchersammlung Georg Forsters und ihre Versteigerung, in: Hans Werner Seiffert (Hg.). Studien zur neueren deutschen Literatur, Berlin 1964, S. 65 - 74; zum zeitgenössischen Konteiu vgl. Paul Raabe (Hg.) , Öffentliche und private Bibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert. Raritätenkammern, Forschungs instrumente oder Bildungsstätten? (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 2) Bremen, Wolfenbüttel 1977, sowie den zusammenfassenden Überblick von Paul Raabe, Gelehrtenbibliotheken im Zeitalter der Aufklärung, in: Werner Arnold , Peter Vodosek (Hg.), Bibliothek und Aufklärung (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, Bd. 14) Wiesbaden 1988, S. 103-122; Buch und Sammler. Private und öffentliche Bibliotheken im 18. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte der Literatur und Kunst des 18. Jahrhunderts, Bd. 3) Heidelberg 1979; vgl. auch noch Hermann Staub, Privatbibliotheken der frühen Neuzeit. Probleme ihrer Erforschung , in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 9, 4 (1984), S. 110- 124. Einen umfassenden , methodisch reflektierten Überblick zum Stand der Erforschung der Privatbibliotheken hat jüngst Wolfgang Adam , Privatbibliotheken im 17 .und 18. Jahrhundert, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15, 1 (1990), S. 123-173 vorgelegt. 4 Verzeichnis der hinterlassenen Bücher von Georg Forster, welche den 4ten September 1797 zu Ma.inz auf der sogenannten Bursch öffentlich versteigert werden sollen, Mainz 1797. s Zur Auktion vgl. die Hinweise bei Horst Fiedler, Über die Büchersammlung Georg Forsters und ihre Versteigerung (wie Anm . 1), S. 64 ff. sowie Franz Dumont, Naturerkenntnis-Welterkenntnis. Das . Seelenbündnis" zwischen Georg Forster und Samuel Thomas Soemmerring, in: Gunther Mann , Franz Dumont (Hg .), Gehirn - Nerven - Seele. Anatomie und Physiologie im Umfeld S. Th. Soemmerrings (Soemmerring-Forschungen, 3) Stuttgart, New York 1988, S. 381 - 440, S. 437.

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betisch geordnet. Die Titelaufnahme ist nicht immer vollständig. In der Regel wurden Autor und Titel, Verlagsort und Erscheinungsjahr sowie die Anzahl der Bände angegeben. Bei den Autoren fehlen häufig die Vornamen. In seltenen Fällen wurden Verlag und Seitenzahlen genannt; Anonyma und Pseudonyme wurden nicht immer aufgelöst, Einbände nicht erwähnt. Das legt den Verdacht nahe, daß Forsters Bibliothek mit weniger Sorgfalt und Kompetenz als andere Bibliotheken aufgenommen wurde. Insgesamt enthält der Katalog 1240 Titel. Die Bandzahl liegt jedoch weitaus höher, da mehrbändige Werke oder Reihen beziehungsweise Zeitschriften nur als ein Titel aufgenommen worden sind. Demnach dürfte Forsters Bibliothek wohl etwa 2000 Bände umfaßt haben. Verglichen mit anderen zeitgenössischen Bibliotheken von Aufklärern war sie nicht besonders groß; 6 ihre Bedeutung liegt jedoch darin, daß Forster seine Bibliothek gezielt und systematisch zusammengestellt hat. Zweifellos sind die Auktionskataloge, die im 18. Jahrhundert in Deutschland ihre Blütezeit hatten, 7 eine hervorragende Quelle der Rekonstruktion des individuellen Buchbesitzes. Sie ermöglichen die Analyse der Zusammensetzung, der Schwerpunkte und der Zielsetzung dieser Bibliotheken. Der Anteil der Bücher einzelner wissenschaftlicher Disziplinen läßt sich ebenso ermitteln, wie sieb die Hauptwerke beschreiben, die Hauptautoren oder die Aktualität beziehungsweise Traditionalität der Bestände anhand der Erscheinungsjahre erfassen, die sprachliche Zusammensetzung und die Herkunft der Bücher aus verschiedenen Produktionszentren untersuchen lassen. Allerdings sollte der Quellenwert der Auktionskataloge auch nicht überschätzt werden. 8 Das gründet allein schon in ihrer Funktion: Sie wurden nicht primär aus konservierenden oder wissenschaftlichen Absichten angelegt, sondern aus wirtschaftlichen Interessen.9 Die Bücher sollten verkauft werden und einen hohen Preis erzielen. Nur wenige Auktionskataloge sind deshalb sorgfältig gearbeitet und sachlich geordnet.

6 Diese These wird nahegelegt durch die Hinweise bei Paul Raabe, Die Gelehrtenbibliotheken im Zeitalter der Aufklärung (wie Anm. 3), bei Wolfgang Adam, Privatbibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert (wie Anm. 3) sowie Gerhard Streich, Die Büchersammlungen Göninger Professoren im 18. Jahrhundert, in: Paul Raabe (Hg.), ÖffentUcbe und private Bibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert, Raritätenkamrnem , Forschungsinstrumente oder Bildungsstätten (wie Anm. 3), S. 241- 300. 7 Vgl. dazu zusammenfassend zuletzt Reinbard Wittmann, Bücherkataloge des 16. - 18. Jahrhunderts als Quellen der Buchgeschichte. Eine Einführung, in: Ders. (Hg.), Bücherkataloge als buchgeschichtliche Quellen in der frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, Bd. 10) Wiesbaden 1984, S. 7 - 18; dort auch Reinhard Breymayer, Auktionskataloge deutscher Pietistenbibliotheken, S. 113- 208. Vgl. auch noch Wolfgang Adam , Privatbibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert (wie Anm. 3), passim. 8 Dieser Gefahr ist die vorliegende Forschung nicht immer entgangen; umso wichtiger die einschränkende Beurteilung dieser Quellenkategorie durch Paul Raabe, Bibliothekskataloge als buchgeschichtlicbe Quellen. Bemerkungen über gedruckte Kataloge öffenilicher Bibliotheken in der frühen Neuzeit, in: Reinhard Wittmann (Hg.), Bücherkataloge als bucbgescbichllicbe Quellen in der frühen Neuzeit (wie Anm. 7), S. 275-297, und vor allem durch Wolfgang Adam , Privatbibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert (wie Anm. 3), passim. 9 Darauf macht Gerhard Streich, Die Büchersammlungen Göttinger Professoren im 18. Jahrhundert (wie Anm. 6), S. 246 nachdrücklich aufmerksam.

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Die immer wieder gegen die Auktionskataloge vorgebrachte Kritik ihrer mutmaßlichen Unzuverlässigkeit und Unvollständigkeit trifft zu. Forsters Auktionskatalog ist unvollständig; es fehlen Bücher, die er eindeutig besessen hat. 10 Die Eingriffe seiner Freunde und Angehörigen vor der Auktion - um des Ansehens des Verstorbenen willen - lassen sich nicht mehr genau rekonstruieren. Broschüren, Flugschriften, Literatur zum politischen Tagesgeschehen findet man im Auktionskatalog kaum, da die Mainzer Kameralbehörde nach der Konfiszierung der Forsterschen Bibliothek deren Durchsuchung angeordnet hatte, um "dasjenige, was allenfalls in die damalige französische Administration und darum hierauf Bezug hat, auszusondern" . 11 Schließlich konnte der Katalog selbst ohne die Druckerlaubnis durch die Zensur nicht erscheinen; auch Auktionskataloge unterlagen der Zensur. Über die Entstehung einer Bibliothek sagt der Auktionskatalog zunächst nichts aus. Seine Untersuchung ermöglicht auch keine Aussage darüber, wann und in welchem Zusammenhang ein Buch in die Bibliothek gelangte, mit welcher Sorgfalt eine Sammlung aufgebaut und gepflegt wurde. Die Bestimmung der Herkunft einzelner Bücher oder ganzer Bestandskomplexe bedeutet eine unüberwindbare Schwierigkeit, wenn in die Analyse nicht weitere Quellen zum Bucherwerb, also Rechnungen, Korrespondenzen, Ausgabebücher, Zugangsbücher und so weiter herangezogen werden. 12 Die Anschaffungsmotivationen und Kaufgewohnheiten Forsters lassen sich durch den Auktionskatalog allein nicht erhellen. Erst die Einbeziehung seiner Tagebücher und seines Briefwechsels, in denen häufig vom Büchererwerb oder von der Lektüre von Büchern die Rede ist, ermöglicht eine Analyse der Entstehung seiner Bibliothek, wobei eine lückenlose Entwicklung der Sammlung nicht mehr zu rekonstruieren ist; es werden aber Motivationen, Phasen und Zäsuren des Entstehungsprozesses der Forsterschen Bibliothek sichtbar. Zwar kann man anhand des überlieferten Versteigerungskatalogs große Teile von Forsters Buchbesitz überblicken, aber es ist nicht möglich, sich ein Bild von Forsters Umgang mit seinen Büchern, von seiner Aneignung der Bücher zu machen. Der Besitz eines Buches läßt sich nicht ohne Vorbehalt mit Lektüre gleichsetzen. Vom Katalog läßt sich nicht unmittelbar auf die Leseinteressen und

10 Vgl. die expliziten Hinweise in den Anmerkungen zu Forsters Briefwechsel; aufschlußreich auch Franz Dumont, Naturerkenntnis-Welterkenntnis. Das .Seelenbündnis" zwischen Georg Forster und Samuel Thomas Soemmering (wie Anm. 5), der auf die Möglichkeit hinweist, daß Soemmering etwa einen Teil seiner Schriften aus der Bibliothek entnommen haben könnte . II Zitiert nach Horst Fiedler, Über die Büchersammlung Georg Forsters (wie Anm. 3), S. 70. 12 Vgl. Wolfgang Adam, Privatbibliotheken im 17. und 18. Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 132; als interessante, anregende Versuche vgl. Gabriele Crusius. Georg Friedrich Brandes und seine Bibliothek. Ein Beitrag zur Kultur- und Bildungsgeschichte des Hannoveraner Staatspatriziats im 18. Jahrhundert, in: Euphorion 80 (1986), S. 83-103, sowie dies., Briefe als Quellen der Privatbibliotheksgeschichte. Georg Friedrich Brandes und seine Bibliothek im Spiegel der Brandessehen Korrespondenz mit Christian Gottlob Heyne, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 10 (1985), s. 1-16.

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Lektüregewohnheit schließen. Sie sind in lesergeschichtlicher Perspektive eine ambivalente Quelle. 13 Auch die Mikroanalyse der Lese- und Gebrauchsgewohnheiten Georg Forsters setzt andere und zusätzliche Quellen und Dokumente als den Auktionskatalog voraus. Dennoch gewähren die Auktionskataloge den zuverlässigsten Zugang zur Beantwortung der Frage nach Zusammensetzung, Aufbau und Umfang der Privatbibliotheken des 18. Jahrhunderts. 14 Der Buchbesitz stellt eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Rekonstruktion des Gelesenen, der Benutzung der Bücher wie der Formen des Lesens dar. Die überlieferte Bibliothek, der Buchbestand also ist für die Leserforschung eine erste Voraussetzung. Erst nach einer Untersuchung des Buchbesitzes läßt sich ein Bild vom Gebrauch der Bücher machen. Sie ist ein Beitrag zur Geschichte des Leseverhaltens. Von den Bestandskatalogen kann man grundsätzlich auf die Leseinteressen und Lektüregewohnheiten schließen. Jedes Buch hatte eine potentielle Bedeutung für seinen Besitzer, zumal angesichts der hohen Buchpreise des 18. Jahrhunderts. „L'achat demeure, parmi les criteres psychiques de Ja motivation l'un des plus sOres. Quanta la circulation sociale du livre, le Jivre possede est un livre r~u . " 15 Allerdings erst wenn weitere Informationen über Lebens- und Arbeitsweisen, über Interessen und Neigungen Forsters herangezogen werden, kann der Auktionskatalog in lesergeschichtlicher Perspektive erschlossen werden. II.

Wiederholt beklagte Forsterden Verlust seiner ersten, in England zusammengestellten Bibliothek. Die Besoldung als Professor für Naturgeschichte am Collegium Carolinum in Kassel erlaubte ihm „durchaus nicht[ ... ], einen eigenen kleinen Büchervorrath zu sammeln. " 16 Die Bücher benötigte er jedoch dringend, da die Bestände der Kasseler Bibliothek für den Naturforscher und Aufklärer Forster unzureichend, veraltet und überholt waren. Er war gezwungen - woUte er

13 Vgl. dazu die konzisen Überlegungen von Paul Raabe, Bibliotheksgeschichte und historische Leserforschung. Anmerkungen zu einem Forschungsthema, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 7 (1982), S. 433 - 441 , und zuletzt Wolfgang Adam, Privatbibliotheken im 17. und 18. Jahrhu.ndert (wie Anm. 3), passim. 14 Daran halten ausdrücklich fest: Paul Raabe, Bibliotheksgeschichte und historische Leserforschung. Anmerkungen zu einem Forschungsthema (wie Anm. 13) sowie Daniel Roche , Noblesses et culture dans la France du XVille siecle. Les lectures de la noblesse, in: Buch und Sammler. Private und öffentliche Bibliotheken (wie Anm. 3), S. 9 - 28, der S. 16 nach seiner ausführlichen Erörterung des Quellenwertes von Auktionskatalogen, der dieser Aufsatz sich verpflichtet weiß, ausdrücklich auf die enorme Bedeutung ihrer Auswertung hinweist. 1s Alphonse Dupront, Livre et culture dans la Societe Fran~aise du 18e siecle: Reflexions sur une enquete, in: Francois Furet (Hg.), Livre et societe dans la France du XVUie siecle, Paris, La Haye 1965, Bd. I, S. 185- 238, S. 213. 16 Briefe 1, S. 223f. (an F. H. Jacobi, 22. Juli 1779). S. 223; vgl. auch die häufigen Klagen über die ungenügenden Kasseler Bibliotheksverhältnisse ebd., S. 332 ff. (an J. K. Ph. Spener, 19.7. 1781), S. 425 ff. (an F. H. Jacobi, 11.2. 1783), S. 497 ff. (an J . W. v. Archenholtz, 12.11.1780).

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sich an der wissenschaftlichen, literarischen und kulturellen Diskussion beteiligen - eine eigene Bibliothek aufzubauen. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Kassel begann er, den Grundstock für seine Bibliothek zu legen. Schon im Spätsommer des Jahres 1779 konnte Forster berichten: „Jetzt fange ich an , so gut ich kann, einige Bücher zusammen zu sammeln und meine Arbeit fortzusetzen" .17 Er war bestrebt, seine Arbeits- und Studienbibliothek kontinuierlich zu vermehren. Die genaue Herkunft von Forsters Büchern läßt sich kaum noch verfolgen. Seine Buchkäufe sind nur bruchstückartig überliefert. Allerdings enthalten seine Briefe wertvolle Hinweise auf die Art und Weise des Aufbaus seiner Bibliothek. Sie dokumentieren seine Bücherkäufe in Kassel, Wilna, Göttingen und Mainz sowie die Möglichkeiten, die er beim Buchkauf ausschöpfte. Forster benutzte systematisch die ihm zugänglichen Informationsquellen über das zeitgenössische Bücherangebot; regelmäßig sah er die Messkataloge durch, ebenso die Bücherlisten, die er gewöhnlich vom Haude-Spenerschen Verlag in Berlin erhielt. Daneben verfolgte er die führenden Rezensionszeitschriften des Inlandes, weniger des europäischen Auslandes, allen voran das führende Rezensionsorgan der deutschen Aufklärung, die Göttingischen Gelehrten Anzeigen, die er durch die Vermittlung seines Schwiegervaters Christian Gottlob Heyne fast vollständig besaß. 18 Später abonnierte Forster auch noch die Jenaer Allgemeine Literaturzeitung. 19 Eine untergeordnete Rolle spielte für seine Informationsbedürfnisse offensichtlich die Allgemeine Deutsche Bibliothek seines Briefpartners Friedrich Nicolai, des Haupts der Berliner Aufklärung. Natürlich waren Auskünfte und Mitteilungen von Freunden und Bekannten, von Kollegen und Briefpartnern wertvolle Unterlagen für Forsters Buchkäufe. In ihren Korrespondenzen tauschten sie Ansichten über literarische und wissenschaftliche Neuerscheinungen aus, diskutierten sie über Lesefrüchte, gaben sie Hinweise auf einflußreiche Bücher, fragten sie nach neuerer und älterer Literatur. Forsters Briefwechsel belegt, daß er stets, vor allem während seines Aufenthalts im abgelegenen Wilna (1784-1787), darauf bedacht war, mit der aktuellen wissenschaftlichen und kulturellen Diskussion Schritt zu halten. Zahlreiche seiner Bücher sind auf solche Empfehlungen hin gekauft worden. Forster erwarb seine Bücher bei verschiedenen Buchhändlern. Während seiner Zeit in Kassel natürlich bei dem dort ansässigen Buchhändler Johann Jakob Cramer20 beziehungsweise bei seinem guten Freund und Bekannten, dem Berliner Buchhändler Johann Carl Philip Spener. Die engen freundschaftlichen Beziehungen zu Spener, der Forsters „Reise um die Welt" verlegt hatte, verbanden Forster zugleich

11 J[ohannl G(eorg) Forster's Briefwechsel, hg. von Th[erese] H[uber] geb. H[eyne), Theil 1, Leipzig 1829, S. 217 (an F. H. Jacobi). 18 Vgl. Briefe IU, S. 205ff. (an Chr. G. Heyne, 17.11.1788), S. 206f. 19 Vgl. Briefe Tl, S. 71 ff. (an F. J. Bertuch, 8. 12. 1787); Forster besaß die Jahrgänge 1785 und 1786; beide Bände sind in seinem Auktionskatalog nicht aufgeführt. 20 Vgl. etwa Briefe 1, S. 244 (an J. K. Ph. Speoer. 6.10.1779), S. 244.

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mit der Bücherwelt seiner Zeit. Spener, einer der führenden Buchhändler Berlins, versorgte ihn mit literarischen und wissenschaftlichen Neuerscheinungen. Daneben kaufte Forster bei den Göttinger Buchhändlern Vandenhoeck21 und Johann Christian Dietrich22 sowie bei Varrentrapp in Frankfurt23 und Johann Treuttel in Straßburg.2A Während des Wilna-Aufenthalts war der Kommissionär Paul Gotthelf Kummeris ein wichtiger Vennittler wissenschaftlicher Neuerscheinungen. Spener blieb auch noch in der Mainzer Zeit der wichtigste Buchhändler für Forster, wenngleich angesichts der Spannungen mit Spener das Gewicht des Buchhändlers Christian Friedrich Voss in Berlin zunahm. 26 Damals knüpfte Forster auch Beziehungen zum Buchhändler Johann Benjamin Andreae27 in Frankfurt, der die Mainzer Lesegesellschaft versorgte, und er kaufte bei Le Roux, dem Buchhändler französischer Bücher in Mainz. 28 Seit 1791 lassen sich auch Beziehungen zur Buchhandlung Schwan und Götz in Mannheim nachweisen. 29 Selbst wenn sich das empirisch kaum eindeutig nachweisen läßt, wird Forster gut zwei Drittel aller seiner Bücher bei Spener gekauft haben. Die restlichen Buchhandlungen spielten bei weitem nicht die herausragende Rolle Speners. Während er sich durch Le Roux zeitweise seine französischen Bücherwünsche erfüllte, hatte er gleichzeitig durchgehend gute Verbindungen zum englischen Buchmarkt, und zwar durch den Kaufmann Zumbrock in London, der als Agent der HaudeSpenerschen Buchhandlung in England Forster mit literarischen Neuerscheinungen versorgte, 30 sowie zu Alexander Donaldson, einem Buchhändler in Edinburgh.31 Entscheidend für die Beschaffung englischer Literatur war allerdings der Londoner Buchhändler Charles Heydinger.32 Zwar vollzog sieb Forsters Kauftätigkeit im europäischen Rahmen, doch dominierte die englische beziehungsweise französische Orientierung.

21 Vgl. Briefe II, S. 471 ff. (an S. Th. Sömmerring, 29.4. 1786), S. 472; .Bis nach der Ostermesse sehe ich es noch mit Spener an, alsdann aber warte ich keinen Augenblick länger, sondern wende mich geraden Wegs an Vandenhoecks, die mich immer prompt und ehrlich nach Cassel hin bedient haben." 22 Vgl. etwa Briefe 1, passim, vgl. Briefe II, passim. 23 Vgl. Briefe II , S. 56ff. (an S. Th. Sömmerring, 14.5.1784), S. 61. 24 Vgl. etwa Briefe II, S. 448ff. (an S. Th. Sömmerring, 19.-20.3. 1786), S. 454; vgl. Briefe m, S. 359ff. (an Ch. G. Heyne, 24.10.1791). 2$ Vgl. Briefe II, S. 586ff. (an Ch. G. Heyne, 20.11.1786), S. 586: .Mit den Biicherspeditionen geht es jetzt gut. Ich bekomme von den Messen meine Bestellungen in einer billigen Zeit, durch den Buchhändler Kummer, einen überaus artigen und ordentlichen Mann." 26 Vgl. Briefe IV , passim. 27 Vgl. Briefe II, S. 227 (an J. Müller, 22.12.1788). 28 Vgl. Briefe m, S. 219ff. (an Ch. G. Heyne, 2 . 12.1788), S. 220: .Ich habe hier einen französischen Buchhändler le Roux, einen sehr wohlhabenden Mann, gefunden, mit dem ich auf einem guten Fuß bin [ ... ] Allein ich lese alles was er hat, umsonst, und schicke es dann wieder zurück. Das ist immer ein kleiner Vortbeil der in Mainz nicht zu verachten ist." Vgl. auch Briefe IV , S. 24f. (an Ch. G. Heyne, 19.2 . 1790). 29 Vgl. Briefe IV, S. 278ff. (an Chr. Voß, 21.12.1792). 30 Vgl. etwa Briefe I, S. 438 ff. (an Ch. G. Heyne, 10.3.1783). 31 Vgl. Briefe I, S. 51 f. (an J. K. Ph. Spener, 17.9 . 1776). 12 Vgl. Briefe l, passim; Briefe 111, passim; Brie fe IV , passim; Briefe V, passim.

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Auch wenn die meisten seiner Bestellungen nicht überliefert wurden, lassen sich dennoch strukturelle Momente seines Kaufverhaltens herauskristallisieren. Forster bestellte meist gezielt anhand der Kataloge. Er kreuzte die gewünschten Bücher an beziehungsweise stellte eine eigene Liste auf, oder er bestellte die Kurztitel brieflich. Nur selten bestellte er summarisch. In seinen wissenschaftlichen Fachgebieten allerdings sollte sein buchhändlerischer Freund Spener Neuerscheinungen auch ohne Bestellung schicken. 33 1783 etwa bat er, im Vertrauen auf den besseren Überblick des Buchhändlers Spener, für Unterrichtszwecke um ein englisch-deutsches Wörterbuch, eine englisch-deutsche Chrestomathie für Anfänger sowie um Nachdrucke leicht verständlicher englischer Autoren.H Im März 1784 bat er Spener dann um eine Auswahl von Titeln zeitgenössischer deutscher belletristischer Literatur, um, wie er es nannte, ein "deutsches Bibliothekgen" für seine spätere Frau. Allerdings präzisierte der belesene Forster diese vorläufige Liste fast umgehend im nächsten Brief. 35 Forsters Bücherkäufe auf Bücherauktionen spielten entgegen der damaligen Praxis keine Rolle, auch wenn der antiquarische Markt im 18. Jahrhundert große Bedeutung beim Zustandekommen der privaten Büchersammlungen hatte. Forster hat, soweit noch feststellbar, nur gelegentlich an Bücherauktionen teilgenommen. Der antiquarische Buchhandel war für ihn von untergeordneter Bedeutung; selten, daß er antiquarisch Bücher kaufte. Eines der wenigen nachweislich antiquarisch gekauften Bücher waren die Colloquia des Erasmus von Rotterdam, die er in Dresden bei der berühmten Buchhandlung Walther kaufte. 36 An den damals üblichen Subskriptionen und Pränumerationen hat sich Forster offensichtlich selten beteiligt. Und Bücher als Rezensionsexemplare zu erwerben, war damals noch undenkbar. Er mußte vielmehr die für seine zahlreichen Besprechungen37 benötigten Bände oftmals ausleihen oder mit der Rezension zurückschicken. Der Anteil der Buchgeschenke in Forsters Bibliothek muß jedoch umfangreich gewesen sein. Freunde und Bekannte schickten Forster ihre Veröffentlichungen in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Fächern ebenso wie ihre literarischen und politischen Publikationen. Sein langjähriger engster Freund Sömmerring sandte ihm regelmäßig seine neuesten Veröffentlichungen, etwa seine preisge-

33 Vgl. Briefe 11, S. 463 ff. (an J. K. Ph. Spener, 10.4.1786), S. 467f.: .Einen Meßkatalog vergeßen Sie ja nicht , mitzuschicken, und die wesentlichsten Neuen Produkte, die des Lesens wenh sind, oder ins Naturfach einschlagen legen Sie ohnehin bey, ohne weitere Bestellung. " 34 Briefe I, S. 444ff. (an J. K. Ph. Spener, 20.3 . 1783). 35 Vgl. Briefe II , S. 27 ff. (an J . K. Ph. Spener, 3 .3.1784), S. 28: • Was ich daher als ganz vorzügliches Merkzeichen Ihrer Liebe und Güte mir von Ihnen erbitte ist dieses: Machen Sie mir eine gute Auswahl von deutscher belletristischer Lektüre - worunter doch mehr solide Speise sey alle unsere Classiker, und unsere besten lehrreichsten Romane und Dichter, Sachen von dem entschiedenen Wenh wie Lessings, Zollikofers, Spaldings, Herders, Göthe 's, Wielands , Schmidts (Geschichte der Deutschen) Gellerts, Hermes, Bürgers, Rammlers, Rabeners - Schriften. Mit einem Wone, geben Sie mir e.in deutsches Bibliothekgen, welches meine Frau (eine Frau mu ss ich bald, bald haben) lesen, und benutzen, und woraus sie ihren Kindern Gutes lehren, allenfalls auch der Nachbarin Ideen geben kann.• Vgl. ebd., S. 36 (an J. K. Ph. Spener, Ende März 1784). 36 Vgl. Tagebuch, S. 85: .zu Walthers. Erasmus' Colloquia gekauft.• 37 Vgl. Briefe, passim.

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krönte Schrift über die "Schnürbürste" und sein Buch über das "Gehirn", das aus einem Artikel für die Deutsche Enzyklopädie entstanden war, ebenso wie seine Schrift über den "Mohren" .38 Der Berliner Aufklärer J. E. Biester übermittelte ihm als einer der Herausgeber einzelne Bände der "Berlinischen Monatsschrift". 39 Der erfolgreiche Übersetzer Bode ließ Forster seine deutsche Übersetzung des „ Vicars of Wakefield" zukommen. 40 Friedrich Heinrich Jacobi, mit dem Forster in Abständen in intensivem geistigen Austausch gestanden hatte, schickte ihm einige seiner Veröffentlichungen, unter anderem seine Arbeiten über „Hume" und den „Spinozismus". 41 Forsters Kasseler Kollege am Collegium Carolinum, Christian Wilhelm Dohm, ließ ihm dann und wann Hefte des „Deutschen Museums" zusenden und schickte Mitte 1790 auch ein Exemplar seiner Schrift über die „Aachener Verfassung" .42 Der Schriftsteller und Verleger Friedrich Nicolai sandte seinen „Versuch über die Entstehung der Freimaurergesellschaft.e n"; mit dessen Inhalt und dessen Resonanz setzte sich Forster im späten Frühjahr 1782 auseinander. 43 Zumindest gelegentlich erhielt Forster als Mitarbeiter der „Minerva" als Geschenk des Herausgebers Archenholtz auch einzelne Hefte dieser Zeitschrift. 44 Sein Schwiegervater, der Göttinger Altphilologe und Universitätsbibliothekar Heyne, ermöglichte Forsterden fast vollständigen Besitz der „Göttingischen Anzeigen" einschließlich des gerade publizierten lndexes. 4s Und von Heynes Göttinger Nachfolger im Amte, Jeremias David Reuß, erhielt Forster 1791, als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Englandkenner, den ersten Band von dessen biographischer Kompilation des „Gelehrten Englands" .46 Auch aus Weimar erhielt Forster Bücher, Herder ließ ihm 1783 einen Band seiner „Hebräischen Poesie" zukommen, und er vergaß im Frühjahr 1787 nicht, Forsterden ersten Teil seiner „Ideen" zu dedizieren. Noch Mitte Mai 1792 hat Herder seine „Zerstreuten Blätter" an Forster geschickt. 47 Und von Goethe erhielt Forsterden ersten Bogen des ersten Bandes der „Neuen Schriften" von 1792, die den „Groß-Cophta" enthielten. 48 Aber auch von seinen Buchhändlern erhielt Forster Buchgeschenke. Der Buchhändler Dietrich aus Göttingen49 sowie der langjährige Freund Spener in Berlin haben ihm gelegentlich Bücher geschenkt.

38 Vgl. Briefe 11, S. 292ff. (an S. Th. Sömmerring, 5.-7.3. 1785), S. 293; vgl. Briefe IV, S. 222ff. (von S. Th. Sömmerring, 21.12.1787). 39 Vgl. Briefe l , S. 462 (an J. K. Ph. Spener, 7.7.1783): "Biester hat mir den Julius von der Monatsschrift geschickt. Nun fehlt mir der Junius noch. u Vgl. ebd., S. 524. 40 Vgl. Briefe I, S. 59ff. (an J. K. Ph. Spener, 22.-25.11.1776), S. 60, S. 583. 41 Vgl. Briefe III, S. 244ff. (an F. H. Jacobi, 16. 1.1789), S. 245. 42 Vgl. Briefe IV, S. 158ff. (an Chr. W. Dohm, Mitte Juli 1790), S. 159. 43 Vgl. Briefel, S. 373 (an Chr. F. Nicolai, 1.4.1782), S. 374f. (anJ. R. Forster, 7.4.1782), S. 376 f. (an Chr. F. Nicolai, 13.5.1782). 44 Vgl. Briefe V, S. 181 (an J. W. von Archenholtz, 22.9.1792). 4S Vgl. Briefe l, S. 460ff. (an Ch. G. Heyne, 30.6.1783). S. 461. 46 Vgl. Briefe IV, S. 331 ff. (an F. H. Jacobi, 12.8.1791). 47 Vgl. Briefel, S. 465ff. {anJ. K. Ph. Spener, 31.7.1783), S. 465; vgl. Briefel, S. 32ff. (an J. G. Herder, 1.9.1787), S. 33; vgl. Briefe V, S. 64 (an Chr. G. Heyne, 29.5. 1792). 48 Vgl. Briefe V, S. 91 f. (an F. H. Jacobi, 6.4.1792). 49 Vgl. etwa Briefe 1, S. 225ff. {an J. K. Ph. Spener, 28.7.1779). S. 227.

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Spener schickte ihm unter anderem CJaudius ' Gesammelte Werke und Lessings 1779 bei Voß in Berlin erschienenen „Nathan". so Schließlich vermehrten jüngere Kollegen und Autoren Forsters Büchersammlung, indem sie ihm ihre neuesten Bücher schickten. s1 Neben Kauf und Geschenk spielte der verabredete Austausch von Büchern und Zeitschriftenheften beziehungsweise Jahrgängen eine gewisse Rolle für die Entstehung und Erweiterung von Forsters Bibliothek. Forster tauschte, zumindest zeitweise, das von Lichtenberg und ihm herausgegebene „Göttingische Magazin" gegen das „Deutsche Museum" . Allerdings hat Forster im Juli 1781 die Übersendung des „Göttingischen Magazins" an Dohm untersagt, da er seit Anfang 1781 das „Deutsche Museum" nicht mehr erhalten hatte. 52 Forster hat auch andere Titel, die er herausgab, übersetzte oder selbst schrieb, getauscht. Offensichtlich gehörte dieses Verhalten zum Habitus der Aufklärer, wobei nicht alle Freunde und Bekannte dieses Ritual ernst nahmen. Nur allzu oft erhielt Forster die erhoffften Titel nicht. Manchmal bat er dann ihm nahestehende Bekannte um einen solchen Titel: 1789 etwa ersuchte er Friedrich Heinrich Jacobi um dessen im „Deutschen Museum" erschienene Aufsätze. 53 Und halb im Scherz, halb im Ernst, konnte er festhalten , daß seine Frau alle Korrespondenten notiert habe, die ihm Bücher versprochen, aber nicht geschickt hätten. 54 Es läßt sich indes nicht mehr sicher bestimmen, welche Bücher Forster durch Kauf erworben, welche Titel er auf andere Weise erhalten hatte. Die Geschenkexemplare beziehungsweise die seltenen überlieferten Bücher mit Autorenwidmungen lassen das dichte Netz von Beziehungen und Kontakten erkennen, in das Forster hineinwuchs und das er mittrug. Der private Buchbesitz Forsters ermöglicht insoweit die Rekonstruktion seiner sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Lebenswelten. ss Bereits bis zum Ende der Kasseler Zeit im Jahre 1784 war Forsters Bibliothek beachtlich angewachsen, wog doch sein Gepäck bei der Übersiedlung nach Wilna - ohne Möbel - „etwa 24 Zentner" . s6 Dennoch klagte Forster im abgelegenen polnischen Wilna über Büchermangel für seine Arbeit. Während er in Kassel noch die nahegelegene Göttinger Universitätsbibliothek, die modernste und beste ihrer Zeit zur Verfügung hatte,s7 waren die Bücherbestände der Wilnaer

so Vgl. Briefe l, S. 18ff. (an J. K. Ph. Spener, 19.9. 1775), S. 21 ; vgl. Briefe I, S. 206ff. (an J. K. Ph. Spener, 5.6. 1779), S. 206. Vgl. auch noch Briefe 1, S. 267ff. (an J. K. Ph. Spener, 9. 1.1780) und passim. SI Vgl. etwa Briefe m, S. 446 (an G. A. von Breitenbauch, 10.8.1788); vgl. Briefe IV, S. 532 f. (von J . J. de Magalhäes, 14.4.1780); vgl. Briefe III, S. 238f. (an H. A. 0 . Reichard , 5.2. 1789). s2 Vgl. Briefe I, S. 475 (an G. Chr. Lichtenberg, Herbst 1783) ; vgl. auch ebd „ S. 337ff. (an F. H. Jacobi, 8.8.1781), S. 340. SJ Vgl. Briefe I, S. 472ff. (an F. H. Jacobi, 29.8. 1783), S. 473. S4 Vgl. Briefe II, S. 292ff. (an S . Th. Sömmerring, 5. -7.3. 1785), S. 293. ss Darauf macht aufmerksam Wolfgang Adam, Privatbibliotheken im 17 . und 18. Jahrhundert (wie Anm. 3), S. 138. S6 Briefe II , S. 56ff. (an S. Th. Sömmerring, 14.5. 1784). S. 59. S1 Vgl. Bernhard Fabian, Göuingen als Forschungsbibliothek im 18. Jahrhundert. Plädoyer für eine neue Bibliotheksgeschichte, in: Paul Raabe (Hg.), Öffentliche und private Bibliotheken (wie Anm. 3). S. 209-240 sowie ders„ Die Göuinger Universitätsbibliothek im achtzehnten Jahrhundert , in: Göttinger Jahrbuch 28 (1980), S. 109 - 124.

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Universitätsbibliothek nicht nur schwer zugänglich, sondern auch veraltet. So war es noch notwendiger als in Kassel, trotz der Mehrausgaben, die sich aus Forsters Heirat ergaben, die private Bibliothek als Arbeitsbibliothek konsequent weiter auszubauen. Zahlreiche Briefe aus den Wilnaer Jahren schlossen ansehnliche Buchbestellungen ein. Nach eigener Einschätzung umfaßte seine Bibliothek bereits im Jahre 1785 annähernd 1100 Bände, 58 fast unglaublich, wenn man bedenkt, daß Forster nach dem Verlust seiner ersten Bibliothek, Mitte des Jahres 1779, tatsächlich kein Buch mehr besaß . In ungefähr 6 Jahren muß er also mehr als 1000 Bände erworben haben. Auch während seiner Tätigkeit in Mainz muß die Bibliothek nochmals um ca. 1000 Bände angewachsen sein; als Bibliothekar der Universität konnte er sich durch sein Amt etwas besser mit Literatur versorgen. Bis nach dem Einmarsch des französischen Heeres in Mainz im Herbst 1792, als Forster sich immer stärker politisch zu engagieren begann, hat er seine Bibliothek systematisch vergrößert. Auch wenn zu ihren Beständen noch Titel aus dem Jahre 1793 gehören , bedeutete doch das Jahr 1792 den Abschluß der Sammlung. 59 Forster bezahlte seine Bücher in unterschiedlicher Weise, teils in bar, teils gegen Honorarverrechnung, teils nahm er sogar - wahrscheinlich von Spener - Bücher auf Kredit, um sie langfristig durch die Ablieferung von Manuskripten abzuarbeiten.60 Leider ermöglichen die überlieferten Quellen keine präzisen Aufschlüsse über das Ausmaß seiner finanziellen Anstrengungen zur Errichtung der Bibliothek, weder über den absoluten Aufwand noch über den Anteil seiner Bücherkäufe an seinem Einkommen, seinen festen oder unregelmäßigen Einkünften aus schriftstellerischer Tätigkeit. Offensichtlich aber hatte Forster sich bei der Errichtung seiner Bibliothek finanziell übernommen. Es gelang ihm bis an sein Lebensende nicht, seine eingegangenen Schuldverschreibungen einzulösen. In der Auseinandersetzung mit dem ihm freundschaftlich verbundenen Buchhändler Spener über das Ausmaß seiner Verschuldung schätzte Forster am Ende der 80er Jahre seine jährlichen Ausgaben für Buchkäufe auf rund 100 Dukaten. Zu Recht begriff er sich deshalb als einen für den Buchhändler nicht zu verachtenden Kunden. 61 Diese Summe muß etwa 1/6 seiner damaligen Einnahmen ausgemacht haben. Und im Frühjahr 1794, auf dem Höhepunkt seines politischen Engagements, gab Forster allein für Zeitungen und Journale jährlich etwa 80 Reichstaler aus. 62 Hält man dagegen seine Jahresgehälter als ordentlicher Pro-

Vgl. Briefe Il, S. 309ff. (an S. Th. Sömmerring, 1. - 4.4. 1785), S. 312. Vgl. auch Horst Fiedler, Über die Büchersammlung Georg Forsters (wie Anm. 3), S. 68. Vgl. Briefe, passim. 61 Vgl. Briefe II, S. 47lff. (an S. Th. Sömmerring, 29.4.1786), S. 472: .Da ich jährlich doch gegen 100 Dukaten für Bücher ausgebe (für akademische Rechnung wenigstens alle Jahre 50, 60, auch wohl 80 Dukaten), so denke ich, muß das ein Objekt für einen Buchhändler sein, das nicht zu verachten ist. Und geht es nicht, so suche ich so lange unter den Buchhändlern herum, bis ich einen ordentlichen und pünktlichen finde, der mich prompt bedient; ich glaube aber es muß recht gut angehen, nämlich die großen Packe, zwei Mal des Jahres mit Oster- und Michaelismeßgelegenheit , und kleine interessante Nova, mit fahrender Post bis Königsberg. • 62 Vgl. Briefe V, S. 36f. (an Chr. F. Voß, 28. 1.1792), S. 37. S& S9 60

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fessor beziehungsweise Bibliothekar, dann werden die enormen finanziellen Anstrengungen deutlich, die er für seine Bibliothek erbrachte. Bücher waren ihm Arbeitsmittel und in gewissem Maße Existenzgrundlage. In diesem Sinne müssen die zahlreichen Briefe der letzten Jahre verstanden werden, die einerseits von drückenden Geldsorgen berichteten und zugleich begierig nach bestimmten wissenschaftlichen Neuerscheinungen verlangten. Angesichts dieser finanziellen Misere war es nur allzu verständlich, daß Forster immer wieder Bücher zurückschickte, weil er sie schon besaß oder weil er sie für zu „geldspielig und unbrauchbar" hielt.63 Immer wieder kommt er in seiner Korrespondenz mit Spener auf seine „Idee vom Zurückschicken der Bücher" zu sprechen. 64 Und inständig plädierte Forster wiederholt für die Möglichkeit von Ansichtssendungen.6s Dabei wies er Spener mehrfach auf das Verhalten anderer Buchhändler hin. Der Göttinger Buchhändler Dietrich etwa ermöglichte ihm die kostenlose Lektüre von Büchern, ebenso der Buchhändler Le Roux in Mainz die kostenlose Lektüre französischer Neuerscheinungen, die er dann wieder zurückgeben konnte.

lll. In Forsters lebendig empfundener literarischer und wissenschaftlicher Zeitgenossenschaft gründen seine Anschaffungswünsche bestimmter Bücher. Als wichtigstes Auswahlprinzip läßt sich herauskristallisieren, daß für ihn vornehmlich das, was anerkannten literarischen und wissenschaftlichen Rang besaß, Wen zur Anschaffung hatte. Damit vermittelt die Büchersammlung einen Eindruck von den fachlichen und literarischen Interessen ihres Besitzers. Die progressive Spezialisierung der wissenschaftlichen Arbeiten erzwang Forsters interessenbedingt stringentes Kaufverhalten. Das berufliche Interesse an naturwissenschaftlicher und verwandter Spezialliteratur wird bei einem quantitativen Vergleich der einzelnen Schwerpunkte der Bibliothek offensichtlich. 66 Die naturwissenschaftlichen Arbeiten im weiteren Sinne machten mit rund 300 Titeln etwa 25 % von Forsters Bibliothek aus. Sie teilten sich auf in 96 botanische Schriften, 54 zoologische Schriften, 40 mineralogische, 30 chemische, 22 physikalische sowie 20 Titel zum Problemkomplex der „Naturgeschichte". Die Masse der botanischen

Vgl. Briefe V, S. 36f. (an Chr. F. Voß, 28.1.1792), S. 36. 64 VgJ. Briefe, passim. 6S Vgl. Briefe 1, S. 410ff. (an J. K. Ph. Spener, Mitte November 1792). S. 410; vgl. ebd., S. 408 (an J. K. Pb. Spener, 10.12. 1782) und passim. 66 Die Kategorien der thematischen Analyse orientieren sich am bibliographischen System des ~Allgemeinen Repertitoriums der Literatur für die Jahre 1785 bis 1790". Die Unterschiede zwischen dieser Uniersuchung und der 1hematischen Aufgliederung der Forsterschen Bibliothek durch Horst Fiedler gründen nich1 zuletzl auch in der noch vordisziplinären Phase der Wissenschaften. Methodisch anregend ist Friedhelm Beckmann, Französische Privatbibliotheken. Untersuchungen zu Literatursystematik und Buchbesitz im 18. Jahrhundert, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 31 (1988), S. 1-160. 63

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Literatur entsprach Forsters wissenschaftlicher Ausbildung und seiner wissenschaftlichen Entwicklung. Die Botanik stand bis zum Ende der 1780er Jahre im Zentrum seines Interesses, das bezeugen nicht nur seine Veröffentlichungen, sondern auch die bisher noch ungedruckten botanischen Manuskripte.61 Forster hatte das gesamte Spektrum der zeitgenössischen botanischen Literatur vom botanischen Lexikon über die Anleitung zur Einrichtung eines universitären botanischen Gartens bis hin zur systematischen botanischen Analyse erworben. Die mehr als 50 zoologischen Titel beweisen jedoch auch, daß sich Forster mit Zoologie eingehender befaßt haben muß, als seine Publikationen vermuten lassen. Der überraschend umfängliche Anteil der mineralogischen Literatur dokumentiert, wie ernst Forster die ihm in Kassel und Wilna gestellte Aufgabe der Lehre der Naturgeschichte nahm, zu der etwa auch die Erschließung einheimischer Bodenschätze gehörte. Die 30 chemischen Titel entsprachen seinem naturwissenschaftlichen Interesse, das ihn auch in rosenkreuzerische Aktivitäten verstrickte. 68 Daneben kaufte Forster rund 22 zu den gängigsten Titeln gehörende physikalische Schriften. Die im engeren Sinne naturgeschichtliche Literatur waren Einführungen in die Thematik, die der Autodidakt Forster, der in Kassel und in Wilna Naturgeschichte las, als Hilfsmittel für seine Lehrtätigkeit, aber auch als die notwendige Literatur für sein geplantes Handbuch der Naturgeschichte bemühte. Zu den Autoren zählten Haller, vor allem aber Buffon, Linne sowie Blumenbach. Forsters politische Aufgeschlossenheit, sein politisches Bewußtsein spiegelt sich in seinen Büchern zu politischen, ökonomischen und sozialen Problemen. Sie machten rund 20 % seiner Bibliothek aus. Hier ist an die zensorischen Eingriffe der Mainzer Verwaltung zu erinnern. Politische Titel im engeren Sinne umfaßten 15 %, Geschichte war mit etwa 9 % und Kameralwissenschaften mit etwa 4 % vertreten. Theoretische und empirische politische Studien erschienen 43 mal. Neben Pütters "Grundriß der Staatenveränderung" besaß Forsterauch Teile der Schriften Friedrichs Il. von Preußen sowie die französische und die deutsche Fassung der Lobrede Engels auf den preußischen König. Die politischen Schriften des damals führenden preußischen Politikers Hertzberg zählen ebenso zum Bestand der Bibliothek wie Christian W. Dohms Analyse der Lütticher Revolution und dessen Entwurf einer Verfassung für die Stadt Aachen. Neben den Arbeiten des England-Kenners Archenholtz stand eine für die zeitgenössische deutsche Montesquieu-Rezeption wichtige Veröffentlichung Ungern-Sternbergs. Zwar taucht unter den politischen Titeln Tittels Zusammenfassung der Argumentationen des Hugo Grotius auf, es fehlten allerdings unter den damals führenden politischen Schriftstellern Autoren wie Justi, Schlözer, Bielfeld oder lselin. Bei den französischen politischen Schriftstellern standen neben Volney, dessen Hauptwerk zu übersetzen Forster anregte, neben den " Handbüchern für den

Sie sind als 6. Band von Georg Forsters Werken geplant. 68 Vgl. jetzt Gerhard Steiner, Freimaurer und Rosenkreuzer. Georg Forsters Weg durch Geheimbünde. Neue Forschungsergebnisse auf Grund bisher unbekannter Archivalien, Berlin 1985; im lesergeschichtlichen Zusammenhang sind weiterführend und instruktiv S. 118ff. ~Weitere alchimistische und freimaurerische Literatur in Forsters Privatbibliothek und ihre Verwendung im Zirkel." 61

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Staatsmann", die Auszüge aus den wichtigsten französischen Theoretikern zusammenführten, und theoretischen Texten, darunter die französische Verfassung, vor allem Schriften, die stärker in die politischen Auseinandersetzungen des Ancien Regime und der französischen Revolution verwoben waren. Dazu zählten noch die „Lettres du Comte Mirabeau", die „Lettres a Mr de Calonne", Talleyrandes Rapport oder Neckers „Du Pouvoir Executif". Unter den englischen Schriften ragten Humes moralische und politische Essays und Delolms weitverbreitete Studie über die Verfassung Englands heraus. Mehrere Titel bezogen sich auf die bedeutungsvolle, weitreichende Auseinandersetzung über die Deklaration der Menschenrechte zwischen Edmund Burke und Thomas Paine, einschließlich der Veröffentlichungen Mary Wollstonecraftes zu den Menschenrechten der Frau. Forster veranlaßte eine Übersetzung von Paines Arbeit über die Menschenrechte. Wichtig ist, daß Forster dieser Veröffentlichung eine glänzende Übersetzung der von Ludwig XVI. angenommenen französischen Verfassung beifügte. Geschichte und Archäologie waren in Forsters Bibliothek mit 97 Titeln vertreten, was ungefähr 9 % aller Titel ausmachte. Neben grundlegenden Werken der zeitgenössischen Welt- und Menschheitsgeschichten standen Studien zur spanischen, portugiesischen, französischen, englischen, amerikanischen - dazu gehörten die europäisches Aufsehen bewirkende Arbeit Raynals und die weitverbreiteten Arbeiten seines Schwagers Sprengel - persischen, italienischen, polnischen und vor allem zeitgenössischen deutschen Geschichte. Überraschend Forsters Interesse an der antiken Geschichte, und zwar sowohl der antiken Historiker wie der zeitgenössischen Bemühungen um die antike Geschichte etwa Fergusons, Meiners' oder Gibbons. Forster war ebenso an der Theorie der Geschichte interessiert. Überdies sammelte er die einschlägigen hilfswissenschaftlichen Schriften zur Heraldik, zur Genealogie, zu Maßen und Gewichten. Kameralistische Schriften machten 4 % der Bestände seiner Bibliothek aus. Darunter zählte ein Lexikon ebenso wie staatenkundliche Überblicke über England, Spanien, Frankreich, Schottland und das deutsche Reich, Einführungen in die Handlungswissenschaften, aber auch der Mainzer Staatskalender. Die gängigen Darstellungen der Theorie der Kameralwissenschaften waren allerdings, verglichen mit dem englischen oder französischen Diskurs, ausgesprochen traditionell. Insgesamt prägte sich in den Titeln dieses Sammelgebietes ein starkes agrarwissenschaftliches Interesse aus; dahinter traten Handel und Gewerbe zurück. Interessant auch, daß die antiken Autoren Varro und Columella noch als agrarwissenschaftliche Autoren in Forsters Bibliothek erscheinen. Geographisches Schrifttum war mit 160 Titeln vertreten. Darin spiegelte sich Forsters Interesse und Wirksamkeit als geographisch-ethnographischer Beobachter und als Reiseschriftsteller. Die Geographie, die sich im Ausgang des 18. Jahrhunderts noch nicht zur wissenschaftlichen Disziplin entwickelt hatte, war damals außerordentlich vielgestaltig. Sie bildete eine Art äußeren Rahmen, innerhalb dessen nautische, topographische und entdeckungsgeschichtliche Fragen, verschiedenartige Entwicklungen in der Natur, aber auch in der Gesellschaft thematisiert wurden. In diese Themenstellungen spielten ethnographische, kulturhistorische, aktuell-politische, geschichtsphilosophische und ästhetische Fragestellungen mit hinein. Zu den rund 50 im engeren Sinne geographischen Schriften

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zählten Lexika, Einführungen in die Geographie, Erdbeschreibungen, geographische Überblicke, aber auch verschiedene Einführungen in die historische Geographie. Die wenigen (6) Karten und Atlanten überraschen angesichts der Anstrengungen Forsters, sich eine niveauvolle Kartensammlung zusammenzustellen. Entweder war vor dem Verkauf der Bibliothek in die Bestände eingegriffen worden oder es waren - was ungewöhnlich wäre - die Kartenwerke außerhalb der Büchersammlung geführt und aufbewahrt worden. Die Reisebeschreibungen dominierten mit 100 Titeln eindeutig unter dem geographischen Schrifttum. 69 Sie machten rund 70 % aller geographischen Titel aus. Bei ihnen kreuzte sich Forsters wissenschaftliches Interesse mit ökonomischen Notwendigkeiten. Der Reiseschriftsteller Forster war natürlich aus wissenschaftlicher Liebhaberei an Reisebeschreibungen interessiert; andererseits boten die Übersetzungen der modisch gefragten Reisebeschreibungen, möglichst der neuesten, eine Möglichkeit des finanziellen Zubrots. Eine besondere Rolle spielten unter seinen Bucherwerbungen die verhältnismäßig teuren englischen Reisewerke, die Forster möglichst umgehend durch seine Kommissionäre Zumbrock oder Heydinger aus London besorgen ließ, um sich bei seiner aus finanziellen Gründen zunehmenden Übersetzertätigkeit vor den immer zahlreicher werdenden Konkurrenten einen Vorsprung zu sichern. Neben der geographischen Literatur steht ebenbürtig die schöne Literatur. Sie machte rund 14 % aller Titel aus. Forster hatte seit frühester Jugend neben dem Interesse an praktisch-nutzbaren naturkundlichen und geographischen Büchern eine ausgeprägte Vorliebe für belletristische Literatur; auch in der von materieller Dürftigkeit und drängender Brotarbeit geprägten frühen Londoner Zeit. Die deutsche Dichtung machte unter der schönen Literatur rund ein Drittel aus. Sie war vertreten durch die in der zeitgenössischen Literatur dominierenden Autoren wie Blumauer, Claudius, Goethe, Gottsched, Heinse, Herder, lffland, E. Kleist, Klinger, Klopstock, Kotzebue, Lavater, Lessing, Maler Müller, Meißner, Pezzel, Sturz, Wezel, Wieland. Neben den noch heute gelesenen Autoren zählten zu seinen Beständen auch teilweise vergessene oder als Trivialliteraten abgetane Autoren. Eine besondere Vorliebe hatte Forster für Wieland, den meistgekauften Autor in seiner Bibliothek. Aufschlußreich ist weiterhin, daß Forster keinen Titel von Geliert, dem Erfolgsautor der Jahrzehnte um die Mitte des 18. Jahrhunderts, besaß. Von Schiller fehlt - abgesehen von den 12 Heften der „Thalia" - jeder Titel; doch ist kaum denkbar, daß Forster keine weiteren Werke Schillers besaß, fühlte er sich doch herausgefordert, Schillers „Götter Griechenlands" zu verteidigen. Der in England aufgewachsene Forster war ein vorzüglicher Kenner Englands, der sich in späteren Schriften wiederholt mit dem Phänomen England beschäftigte. So ist es nur allzu verständlich, daß neben den 46 deutschen 45 englische literarische Titel standen. Dazu zählten mehrere Ausgaben Shakespeares, die

69 Zu Georg Forster als Autor und Kritiker von Reisebeschreibungen vgl. Helmut Peitsch, Georg Porsters .Ansichten vom Niederrhein" . Zum Problem des Übergangs vom bürgerlichen Humanismus zum revolutionären Demokratismus, Frankfurt/Main usw. 1978.

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Werke Spensers und Popes. Neben den Klassikern der englischen Literatur fehlte aber auch nicht die zeitgenössische Literatur, also Thompson, Ossian, ChurchiU, Gay, Goldsmith, Sterne und so weiter. Auffällig ist allerdings, daß die zeitgenössischen englischen Romanschriftsteller entgegen der allgemeinen Verbreitung in Forsters Bibliothek einen unbedeutenden Anteil ausmachten. Einen großen Anteil unter den Werken der englischen Literatur machten die zahlreichen Chrestomathien aus, die Forster zusammenkaufte. Umfaßten die englischen und deutschen Titel ungefähr 2/3 aller literarischen Werke, machte die antike Literatur etwas mehr als 20 % der literarischen Titel aus. Die griechischen Autoren waren in lateinischen Ausgaben erworben worden. Zu den antiken Autoren zählten Apuleius, Aischylos, Cäsar, Cicero, Horaz, Juvenal, Livius, Martial, Ovid, Sophokles, Terenz, Vergil, aber auch Theokrit, und natürlich auch der jüngere Plinius. Homers Odyssee tauchte in zwei Fassungen auf. Dieser große Anteil antiker Literatur überrascht bei dem Naturwissenschaftler und Autodidakten Forster, dessen Lateinkenntnisse nach eigenem Eingeständnis immer zu wünschen übrig ließen. Doch die Vertrautheit mit antiken Autoren gehörte zum repräsentativen Bildungsstand der Aufklärer; die Kenntnis eines Kanons antiker Autoren war für die aufklärerischen Gebildeten unabdingbar. Überraschend schwach vertreten war in Forsters Bibliothek mit nur 19 Titeln die französische Literatur. Von den Autoren der französischen Klassik waren Corneille und Racine vorhanden; selbstverständlich gehörten Lafontaines Fabeln zum Bestand. Moliere hingegen fehlte. Von den zeitgenössischen Autoren hatte Forster Ausgaben von Voltaire, Mariveaux, Beaumarchais, Choderlos de Laclos, Diderot und verschiedenen anderen erworben. Wie bei den englischen Titeln fäJlt auch bei der französischen Literatur Forsters ausgesprochenes Interesse an dramatischer Literatur auf, während im Gegensatz zur zeitgenössischen Tendenz die Romanliteratur in den Hintergrund trat. Die italienische und spanische Literatur ist fast gar nicht vertreten. Als einziger spanischer Autor taucht Cervantes Don Quichotte in französischer Übersetzung auf, außerdem die Werke von Petrarca und Tasso in französischer Übersetzung. Die kleine Anzahl von etwa einem Dutzend Schriften aus der arabischen und der Sanskrit-Literatur verdankt sich wesentlich Forsters Arbeit an der deutschen Übersetzung der „Sakontala" , die er 1791 veröffentlichte. Stark vertreten war hingegen die philosophische Literatur. Sie machte etwa 6 % seines Buchbestandes aus. Forster besaß des Buddeus weit verbreitete Einführung in die Philosophie. Wie selbstverständlich standen grundlegende Werke Christian Wolffs zur Metaphysik und Politik in seiner Bibliothek. Vor allem aber hatte Forster die Schriften der führenden deutschen Popularphilosophen Feder, Garve, Engel, Eberhard und Mendelssohn erworben. Sie bildeten eindeutig das Schwergewicht seiner philosophischen Sammlung. Der Göttinger Popularphilosoph Christoph Meiners war mit 6 Titeln vertreten, nicht zuletzt weil Forster ihn als einen seiner wissenschaftlichen Hauptgegner begriff. Neben damaligen Bestsellern, wie Knigges „Umgang mit Menschen" und Jakob Mauvillons „Mann und Weib", standen die einschlägigen Schriften der Auseinandersetzungen zwischen Moses Mendelssohn und Jacobi über den Spinozismus. Es verblüfft, daß Forster neben Kants „Metaphysischen Anfangsgründen" und dessen Schrift „Über

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eine Entdeckung nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll" auch dessen drei kritischen Hauptwerke besaß. Die verstärkte Beschäftigung mit den philosophischen Fragestellungen, vor allem in der ersten Mainzer Zeit, schlägt hier durch. Zu seinen philosophischen Büchern gehörten auch einige Schriften aus dem Umfeld der zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit der kritischen Philosophie Kants, die Forster interessiert und kenntnisreich verfolgte. 10 In Forsters Bibliothek waren nur wenige französische Philosophen mit ihren Arbeiten vertreten. Er besaß Helvetius' „De l'Homme" und dessen „De l'Esprit". Daneben standen in seiner Bibliothek noch die „Lettres Helvetiennes" . Holbach war mit einer Übersetzung seines „Systeme de la Nature" vorhanden. Montaignes klassische Essays gab es gleich zweimal. In dem Katalog fehlten auffällig die vielgelesenen zeitgenössischen französischen Autoren Montesquieu und Rousseau oder auch Mably, Brissot und so weiter. Unbegreiflich ist der unbedeutende Anteil englischer oder schottischer Moralphilosophen in der Bibliothek Georg Forsters, eines der vorzüglichsten Kenners der englischen Philosophie und Ökonomie. 71 Aus der philosophischen Tradition fanden sich neben den Essays Montaignes und der Colloquia des Erasmus von Rotterdam noch Schriften der antiken Philosophen Epictet und Platon sowie des im 18. Jahrhundert viel gelesenen Cicero. Aristoteles hingegen fehlte. Zu diesen antiken philosophischen Titeln kann man auch noch eine Zusammenstellung der antiken Mythologie aus Homer und Hesiod zählen. Medizin war in Forsters Büchersammlung mit 55 Titeln, was ungefähr 5 % der gesamten Titel entspricht, vertreten, trug sich doch Forster längere Zeit mit dem Plan einer medizinischen Ausbildung; 1785 erwarb er in Halle seinen medizinischen Doktorgrad.72

10 Vgl. Briefe Ill, S. 207 ff. (an F. H. Jacobi, 19.11.1788), S. 208: .Mein nächstes Studium, wenn ich Muße gewinnen kann, soll seyn die Kantische Philosophie, mit der ich gar gerne aufs Reine wäre. Noch kenne ich sie nur, so zu reden, durch den dritten Mann , nämlich nach Sulzer's und Reinhold's Darlegung, und sehe einstweilen nur so viel ein, daß der Mann eigentlich noch keinen Widersacher gefunden hat, der ihm gewachsen wäre. Sie gehen alle um den Brei, und fürchten sich vor dem Verbrennen. Weißhaupt's neueste Schrift habe ich noch nicht. Eberhard ist ein gar lieber Mann und ein guter Kopf, nur in dieser Beziehung, als Kant's Gegner, bin ich sein nicht sicher. Feder löset seine Schuhriemen nicht auf und der Polterer Meiners kann nichts mehr als seinen ungeheuem Collectaneensack voll Cruditäteo ins Publikum ausleeren. Denken und Kritik hat er längst verlernt. Ulrichs schimpft trotz ibm, und Abel scheint mir kei11 heller klarer Denker zu seyn. Wollen Sie gegen Kant zu Felde ziehen? Sie können ihn aber zu gut leiden, bis an den Punkt, wo sich der Weg scheidet. Ich werde also wohl selbst zur Fahne schwören müssen. Bald hätte ich unsern Freund Herder vergessen, der es auch mit dem Archisophisten und Archischolastiker des Jahrhunderts zu thun hat.• 71 Vgl. Michael Maurer, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 19) Göttingen, Zürich 1987, S. 370 ff.: Georg Forster (1754-1794) : Empire und .public spirit". 72 Vgl. Wolfram Kaiser, Georg Forsters Promotion in Halle 1785, in: Hans Hübner, Burchhard Thaler (Hg.), Georg Forster (1754-1794). Ein Leben für den wissenschaftlichen und politischen Fortschritt, Halle 1981 , S. 21 - 43.

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Sprachwissenschaftliche Titel machten etwa 3 % seiner Bibliothek aus. Dazu zählten die unterschiedlichsten zeitgenössischen Wörterbücher und Grammatiken, so Adelungs Wörterbuch und das Wörterbuch der Academie Fran~aise ebenso wie die Sprachlehren und Einführungen in die verschiedenen Sprachen - Deutsch, Französisch, Englisch, Russisch, Polnisch - beziehungsweise Bücher für entsprechende Sprachübungen. Die andere Hälfte waren philologische Studien im engeren Sinne, darunter Arbeiten Gottscheds, Eschenburgs oder seines Schwiegervaters Heyne, des damals bedeutendsten Altphilologen. Forster besaß rund 30 theologische Werke unterschiedlicher Gattungen, darunter drei Bibelausgaben, Ausgaben von zeitgenössischen Predigttexten, elementare Religions- und biblische Lehrbücher, offensichtlich für die Kindererziehung, ein Gesangbuch, einige Texte einflußreicher zeitgenössischer Theologen wie des Göttinger Moraltheologen Leß, des namhaften pietistischen Theologen Lavater, aber auch des führenden Neologen Semler sowie die Schriften des Reimarus , die den Fragmentenstreit, eine der intensivsten theologischen Diskussionen des 18. Jahrhunderts, provozierten. Forster hat offensichtlich intensiver an der zeitgenössischen theologischen Auseinandersetzung teilgenommen, als man lange wahrhaben wollte. Während Forster nur ein Buch über die Musik besaß , und zwar bezeichnenderweise Rousseaus Abhandlung zur Musik, gehörten ihm rund 20 Titel zur Kunst und Architektur, von Anleitungen zum Zeichnen - Forster selbst war ein hervorragender Zeichner - über Gemmenkataloge bis hin zu den Texten zeitgenössischer Ästhetiker, etwa von Sulzer oder Lessing, sowie der Schauspielkunst, Engels Mimik, oder Texten zur Malerei . Bei den 12 pädagogischen Titeln dominierten eindeutig die Philanthropen Resewitz, Stuve und vor allem Campe. Allerdings besaß Forster auch A. W. Rehbergs ablehnende Kritik der Philanthropen. Zu seinen pädagogischen Büchern zählten eine antiquarische Ausgabe der Werke Plutarchs sowie das damals weit verbreitete „Not- und Hülfsbüchlein" R. z. Beckers. 73 Aufschlußreich, daß die berühmten pädagogischen Autoren des 18. Jahrhunderts wie Fenelon und Rousseau in Forsters Bibliothek fehlten. Die ganz praktischen Bücher der Anleitungen zur Kindererziehung fehlten hingegen nicht. Die Lexika als die Arbeitsinstrumente des gelehrten Forster machten ungefähr 1 % der Titel aus. Zu den 15 Lexika gehörten vollständig oder in Teilen Gelehrtenlexika, etwa Reuß' Gelehrtes England oder das alte Jöchersche Compendium Deutscher Gelehrten beziehungsweise dessen von Hamberger und Meusel initiierte Neuauflage. Auch die grundlegenden Lexika für Forsters wissenschaftliche Arbeiten von der Geographie und den Kameralwissenschaften bis hin zu den Naturwissenschaften, so etwa der naturwissenschaftliche Teil der Encyclopedie Methodique, waren vorhanden .

n Vgl. dazu Reinhan Siegert, Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem ,Noth- und Hülfsbüchlein". Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978) Sp. 565-1348, der allerdings die soziale Reichweite der Verbreitung des . Noth- und Hülfsbüchleins• überschätzt.

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Schließlich sind im Auktionskatalog 29 Titel von Zeitschriften, Periodika beziehungsweise Schriften von Akademien aufgelistet. Forster besaß die Hefte beziehungsweise Bände der Schriften der Königlichen Sozietät der Wissenschaften in Göttingen, der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig, der Royal Society in London, der Universität Uppsala, der Akademie der Schönen Wissenschaften in Paris sowie der Societe des Antiquites in Kassel. Unter den von ihm abonnierten Zeitschriften dominierten die deutschen Titel, etwa die Göttingischen Gelehrten Anzeigen. Dazu gehörten auch Bände der Berlinischen Monatsschrift, der Briefe die neueste Literatur betreffend, der von Schiller edierten Thalia, der Zeitschrift Bragur, der Annalen der Britischen Geschichte, der PhysikalischÖkonomischen Bibliothek oder auch Crells Chemische Annalen sowie Rochows Kinderfreund. Es fehlten - und das ist aufschlußreich - die führenden zeitgenössischen Zeitschriften wie „Der Deutsche Merkur", „Das Deutsche Museum", Schlözers „Staatsanzeigen" oder dessen Gegenpart, Schirachs „Politisches Journal". Die englischen Zeitschriften waren unterrepräsentiert und französische Zeitschriften fehlten ganz. Unter den Zeitschriften findet man auch die Jahrgänge 1783 des Archivs für Freimaurerei sowie die Ephimeride der Freimaurerei vom Jahr 1786, ein Zeichen für Forsters zeitweilig intensives freimaurerisches Engagement.74 Forster besaß das damals verbreitetste Bücherverzeichnis Stockhausens „Kritischen Entwurf einer auserlesenen Bibliothek für Liebhaber der Philosophie und schönen Wissenschaften".

w. Georg Forster baute seine Bibliothek innerhalb von 15 Jahren auf. Die Untersuchung seiner Bücher nach ihrem Erscheinungsjahr, das nahezu durchgehend in die Titelaufnahmen des Auktionskatalogs eingegangen ist, belegt eindringlich die Modernität dieser Bibliothek. Vor 1700 erschienene Titel sind selten, obwohl sie auf dem Auktionsmarkt damals leicht zu erwerben waren. Von den 1240 Titeln sind insgesamt nur rund 60 vor 1700 erschienen. Das älteste Werk der Bibliothek ist eine Duodezausgabe aus dem Jahre 1500: „Hesiodi theocriti, moschi, bionis, aliorumque, poemata, graece et latini". Bei den 9 im 16. Jahrhundert erschienenen Titeln in Forsters Bibliothek handelte es sich mit der Ausnahme von Gessners geographischen Werken im wesentlichen um Ausgaben antiker beziehungsweise zeitgenössischer Literatur. Und die 48 im 17. Jahrhundert produzierten Titel umfaßten literarische, philosophische, geschichtliche, rechtliche, naturwissenschaftliche und theologische Werke. Auch unter ihnen ragten die 9 Reiseberichte hervor. Forster erwarb also keine Inkunabeln im eigentlichen Sinne, kaum Erstausgaben aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Seltenheitswert, historische oder bibliophile Sonderinteressen spielten bei seinen Erwerbungen von

74 Vgl. Gerhard Steiner, Freimaurer und Rosenkreuzer. Georg Forsters Weg durch die Geheimbünde (wie Anm. 68).

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Büchern keine Rolle. Nur etwa 10 % aller Titel sind vor 1750 erschienen; 9 Titel sind aus dem 16. , 48 Titel aus dem 17. Jahrhundert. 74 Titel erschienen zwischen 1701 und 1750, 15 % zwischen 1750 und 1779; damals mußte Forsterden Verlust seiner ersten Bibliothek beklagen. Fast 2/ 3 aller Titel in Forsters Bibliothek sind nach 1780 veröffentlicht worden. Anders formuliert: ca. 90 % der von Forster erworbenen Publikationen kamen zwischen 1700 und 1794 auf den Buchmarkt, davon 60 % zu seiner eigenen Lebenszeit. Der Großteil seiner Bestände stammte also aus der laufenden Buchproduktion. Sein Hauptaugenmerk richtete sich auf die Primär- und Sekundärliteratur seiner Zeit. Die wenigen Schriften der zurückliegenden Jahrzehnte und Jahrhunderte interessierten ihn offensichtlich vorrangig unter dem Aspekt der Entwicklungen im Hinblick auf die zeitgenössische wissenschaftliche und literarische Diskussion. Der Schwerpunkt von Forsters Erwerbungen lag eindeutig auf der Aufklärungsliteratur. Die großen zeitgenössischen Themen machten den Inhalt seiner Bücher aus. Das charakteristische Kriterium der Aktualität, der Modernität dieser Bibliothek bestätigt ein Blick auf die Autoren; rund 90 % der Verfasser der erworbenen Bücher lebten im 18. Jahrhundert, 2/3 zu seinen Lebenszeiten. Die Aktualität des Werkes war für Forster ganz im Gegensatz zur Tradition der enzyklopädistischen Gelehrsamkeit ein entscheidendes Anschaffungsprinzip. Die Kenntnisnahme der Literatur der eigenen Gegenwart dokumentiert sein Interesse für die aktuellen wissenschaftlichen, philosophischen und politischen Themen. Als aufklärerischer Gelehrter nahm Forster teil an den seine Zeitgenossen bewegenden Debatten; er konnte und wollte sich nicht zurückziehen in die Welt der Büchergelehrsamkeit. Dieser strukturelle Wandel der Auffassung von Gelehrsamkeit schlug sich einerseits nieder in der zunehmenden Spezialisierung von Buchanschaffungen sowie andererseits im Erwerb zentraler Titel zeitgenössischer Diskussionen. Die Untersuchung der Druckorte von Forsters Büchern, die in den meisten Fällen aufgenommen worden sind, zeigten ambivalente Ergebnisse. Läßt sich noch länger vom aufl