Die narrativistische Kritik am Wissenschaftsverständnis der Geschichtsschreibung und die Ausweitung der Wissenschaftsges
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German Pages 226 [228] Year 2010
Wissenschaftliches Erzählen im 18. Jahrhundert
Wissenschaftliches Erzählen im 18. Jahrhundert Geschichte, Enzyklopädik, Literatur Herausgegeben von Veit Elm
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung des History Department der University of California, Berkeley
Einbandgestaltung unter Verwendung eines Ausschnitts des Frontispizes der Encyclopedie ou Oictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers von Diderot und d'Alembert, Stahlstich von Bonaventure-Louis Prevost nach einer Zeichnung von Charles-Nicolas Cochin, der 1772 mitsamt der folgenden Erklärung an die Subskribenten verschickt und den folgenden Auflagen hinzugefügt wurde: „In einem ionischen Tempel [...] sieht man die in einen Schleier gehüllte Wahrheit. Die von ihr ausgehenden Lichtstrahlen durchbrechen die Wolken und vertreiben sie. Auf ihrer Rechten versuchen Vernunft und Philosophie, die eine den Schleier zu heben, die andere ihn zu entreißen. Die zu ihren Füßen kniende Theologie erhält ihr Licht von oben. Weiter rechts finden sich das Gedächtnis, die alte und die neue Geschichte. [...] Darunter sind Geometrie, Astronomie und Physik versammelt. [...] Zur linken der Wahrheit schickt sich die Imagination an, die Wahrheit zu schmücken und zu krönen. Unter ihr befinden sich verschiedene Gattungen der Poesie. [...]"
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004934-2
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übertragung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil des Buches darf ohne Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: pro:design, Berlin Druckvorlage: Peter Rotkehl, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
7 I. WISSENSCHAFTLICHE GESCHICHTE
JOHANNES ROHBECK
Die narrative Funktion der Geschichtsteleologie
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WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN
Die Gewalt der Erwartungen. Einige theoretische Bemerkungen 2ur Geschichtsschreibung am Beispiel Condorcets
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PETER-ANDRE ALT
Natur, Zivilisation und Narratio. Zur triadischen Strukturierung von Schillers Geschichtskonzept
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II. ENZYKLOPÄDIK SEBASTIAN NEUMEISTER
Pierre Bayle oder die Versuchung der Geschichten
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CLAUDIA ALBERT
Verschwendung, Verknappung, Leerstelle. Diderots ,Wissenschafitspoetik'
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PETER BROCKMEIER
Innovation und Destruktion in der Genieästhetik
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III. LITERATUR VEIT ELM
Wissenschaftliche Geschichte und Literatur bei Fontenelle, Montesquieu, Voltaire und Rousseau
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HELMUT PFEIFFER
Erzählte und entzogene Individualität. Rousseau zwischen Confessions und Riveries
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Inhaltsverzeichnis
6 Torsten König
„Etudier la nature comme font les grands peintres". Erzählung und Tableau in Bernardin de Saint-Pierres Naturbeschreibung
175
Yann Lafon
Die dialogische Transzendierung materialistischer Erkenntnistheorie in Diderots Reve de d'Alembert
195
Autorenverzeichnis
219
Namen- und Sachverzeichnis
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Einleitung
Die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts hat nicht nur die alte Naturwissenschaft entwertet. Die von der Erneuerung der Physik ausgelöste Neuordnung des Wissens betraf auch die anderen Formen des Wissens. Wie sie sich im Verhältnis zur neuen Wissenschaft positionierten, entschied über ihren Status in der Hierarchie des Wissens. Die literaturgeschichtliche Forschung zum 17. und 18. Jahrhundert hat das Verhältnis zwischen den belles-lettres und den neuen Wissenschaften immer wieder zum Gegenstand gemacht und Epochenphänomene wie die Aufklärung als Folge der Ausrichtung auf bestimmte wissenschaftstheoretische Schulen definiert. Dank der jüngeren, interdisziplinären Wissensgeschichte ist es möglich, das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft als Teilaspekt der die Wissensordnung insgesamt betreffenden Transformationen zu verstehen. Zwei Erklärungsmodelle haben sich dabei als besonders ertragreich erwiesen. Eines besteht darin, verschiedene Formen des Transfers zwischen den neuen Wissenschaften und den anderen in der Republique des lettres versammelten Wissensformen aufzuzeigen. Das andere versteht die Geschichte des Wissens als Abfolge bestimmter Denkstile, Methoden oder Epistemen und deutet das Verhältnis zwischen den Wissenschaften und den anderen Wissensformen im Bezug auf das jeweils herrschende Wissensparadigma. Der vorliegende Band behandelt mit der Erzählung ein Medium der Wissensvermittlung, das die Grenzen zwischen den neuen Wissenschaften und den anderen in der Republique des lettres versammelten Wissensformen transzendiert. Die Erzählung spielte bei der Vermittlung des alten Orientierungswissens eine zentrale Rolle. Erzählungen legitimierten Herrschaftsansprüche, konstituierten Identität und lieferten im Fall der Konfessionen Totalerklärungen von Natur und Kultur. Wenn sich die Wissenschaftstheorie des 17. Jahrhunderts in einem Punkt einig war, dann darin, dass die Erzählung als Medium des Wissens ungeeignet, ja gefahrlich sei. Die Erfolge der neuen Physik schienen zu bestätigen, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik verfasst sei. Der Deismus machte die neue Physik zur Grundlage der Theologie und sprach den religiösen Großerzählungen den Wissensstatus ab. Der historische Pyrrhonismus des 17. Jahrhunderts erklärte, dass es auch der profanen Geschichte unmöglich sei, sich als Wissenschaft zu konstituieren.
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Einleitung
Die Herabsetzung des im Medium der Erzählung vermittelten Wissens zum bloßen Meinen hatte zur Folge, dass Erzählungen verschiedenster Art der Status von Literatur zugeschrieben wurde. In seinen Lettres philosophiques behandelte Voltaire die Erzählungen der Konfessionen von Gott und der Welt nicht anders als die kartesische Wirbeltheorie. Für ihn handelte es sich in beiden Fällen um Romane. Während er die Gefahr, die von der schlechten Literatur der Theologen ausgehe, für gebannt hielt, sah er in Descartes physikalischem Roman eine Bedrohung neuer Art. Erzählungen, die sich den Anschein von Wissenschafitlichkeit geben, hätten, wie Voltaire hier ausführt, das Potential, Nationen zu spalten und die Glaubenskämpfe der Zukunft auszulösen. In der Tat entwickelten Literatur und Geschichtsschreibung Plausibilisierungsverfahren, die dem Medium der Erzählung zu einer erstaunlichen Renaissance verhalfen. Gleichzeitig mit der Kritik an den .Fabeln' entstanden schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als philosophisch bezeichnete Geschichten, die den Weg der Menschheit vom Irrtum zur Wissenschaft beschrieben und für sich selbst den Status der Wissenschaft reklamierten. Die Erzählung von Naturzustand und Gesellschaftsvertrag wurde zur Grundlage einer neuen politischen Wissenschaft. Die Zivilisationsgeschichte des 18. Jahrhunderts stellte nicht nur das Wissen über die Kulturen der Welt dar. Sie erhob auch den Anspruch, die Genese von Wissenschaft, den Status bestimmter wissenschaftlicher Leistungen und das Verhältnis von Wissenschaft, Religion, Moral und Kunst erklären zu können. In der vorrevolutionären Krise des Ancien Regime wurden diese vorgeblich wissenschaftlichen Großerzählungen zum wichtigsten Medium von Orientierungswissen und bildeten die Grundlage der in der Französischen Revolution entstandenen modernen politischen Kultur. Die Beschäftigung mit diesen Erzählungen neuen Typs drehte sich lange um die Frage, ob und worin sie sich von den alten Großerzählungen der Konfessionen unterschieden. Die Ideologiekritik hat sie so behandelt, wie das 17. und 18. Jahrhundert die ,Fabeln'. Die postmoderne Kritik sah in ihnen eine spezifisch moderne Form der Literatur. Der vorliegende Band hat das Anliegen, die Auswirkungen der neuen Wissenschaften auf den Status der Erzählung in ihrer ganzen Breite ins Auge zu fassen. Insbesondere in Frankreich war die Konstituierung der neuen, philosophischen Geschichte als Wissenschaft und ihre Loslösung von den belles-lettres eng mit der Reflexion über den Wissensstatus der literarischen Erzählung verbunden. Auch sie adaptierte die Plausibilisierungsverfahren der neuen Wissenschaften, wurde zum Medium der Popularisierung und erhob den Anspruch, gute von schlechter Wissenschaft unterscheiden zu können. Mit Fontenelle, Montesquieu, Voltaire und Rousseau widmeten sich wichtige Vertreter der französischen Aufklärung zugleich den neuen Wissenschaften, den belles-lettres und der neuen philosophischen Geschichtsschreibung und wurden damit zum Modell für Autoren wie Lessing oder Schiller. Die Erzählung war nicht das einzige Medium alten Wissens, das die Konkurrenz mit dem neuen Wissen aufnahm. Die Ordnimg des Wissens im Wege
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des Systems, die der antiken und mittelalterlichen Philosophie entstammte, blieb unbeschadet der Systemkritik nicht zuletzt von Erzählern wie Voltaire über das 18. Jahrhundert hinaus relevant. Die wichtigste Alternative zur narrativen Wissensvermittlung war insbesondere in Frankreich jedoch die Enzyklopädik. Der Pyrrhonist Pierre Bayle nutze sie in seinem Dictionnaire historique et critique schon am Ende des 17. Jahrhunderts mit großem Erfolg zur Diskreditierung von System und Erzählung. Das Programm der Encyclopedie, wissenschaftliche Theorien und Ergebnisse vollständig und aktuell zu vermitteln und in den Kontext technischer und künsderischer Innovationen zu stellen, ohne sie in ein historisches oder systematisches Ordnungsschema einzubinden, war eines der wenigen Projekte, das in der zweiten Hälfte des französischen 18. Jahrhunderts die Unterstützung so gut wie aller Aufklärer hatte. Der Band behandelt die Erzählung in drei Kontexten. Im ersten Teil stehen die großen zivilisationsgeschichtlichen Erzählungen neuen Typs im Vordergrund, im zweiten das Verhältnis von Enzyklopädik und Erzählung. Den Schwerpunkt des dritten Teils bilden die Belletristik sowie neue Formen naturwissenschaftlichen Erzählens. JOHANNES ROHBECK eröffnet mit seinem Beitrag Die narrative Funktion der Geschichtsteleologie den ersten Teil des Bandes. Er verfolgt das Projekt einer im Medium der Erzählung vermittelten Geschichtsphilosophie von dessen Anfängen im 17. Jahrhundert bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts. Rohbeck unterscheidet dabei eine Anfangsphase, in der die neue Naturwissenschaft zum Ausgangspunkt für eine deduktive Ableitung ihrer Entstehungsgeschichte gemacht wurde, von der Weiterentwicklung der Wissensgeschichte zur Stufentheorie des zivilisatorischen Fortschritts. Er unterscheidet zudem zwischen Frankreich, wo die Naturwissenschaft wichtigster Gegenstand und Modell für die neue Wissenschaft von der Geschichte geblieben sei, und Deutschland, wo mit Kant und Schiller die Differenz zwischen Natur und Geschichte in den Vordergrund gerückt sei. Die Fokus sierung zunächst auf die kognitiven und dann auf die sozialen Voraussetzungen von Wissen hat nach Rohbeck dazu geführt, dass sich die französische Geschichtsphilosophie anders als die deutsche zu einer Sozialwissenschaft: entwickelte. Rohbecks zentrales Anliegen ist es, den Wissenschaftsanspruch der zivilisationsgeschichtlichen Stufentheorien zu salvieren. Die Kriterien, die er dabei zugrunde legt - die Rolle der Teleologie und der Umgang mit Kontingenz und Normativität - standen in der jüngeren Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie im Vordergrund, waren aber auch schon im 18. Jahrhundert entscheidend. Dem Vorwurf des teleologischen Determinismus setzt Rohbeck entgegen, dass Fortschrittstheorien wie die Turgots die ökonomischen und institutionellen Voraussetzungen wissenschaftlicher und technischer Innovation aufzeigen und jede Überdetermination, die als teleologisch oder deterministisch erscheinen könnte, vermieden. Im Fall Schillers war das, wie Rohbeck argumentiert, anders. Indem er die Gegenwart zum Zweck erhob, habe er die Geschichte zum Mittel reduziert. Rohbeck schließt sein Plädoyer für die im französischen
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18. Jahrhundert entwickelten Erzählungen neuen Typs mit der Beobachtung, dass die Verwissenschaftlichung der Erzählung vom Fortschritt nicht zur Ausblendung der Moral führte. Die Fortschrittsgeschichte habe die historischen Bedingungen der Realisierung von Normen aufgezeigt und habe damit die Vergangenheit immer auch bewertet und Erwartungen an die Zukunft erzeugt. WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN vertritt in seinem Beitrag Die Gewalt der Erwartungen. Einige theoretische Bemerkungen 3ur Geschichtsschreibung am Beispiel Condorcets die Gegenposition. Ausgangspunkt seiner Kritik am Wissenschaftsanspruch von Fortschrittsgeschichten wie der Condorcets ist eine Existenzialanalyse des Erzählens. Erzählen ist demnach nicht bloß Verwaltung von Ereignissen. Wer erzählt, feiere sein Überleben und mache es für sich und seine Gemeinschaft verständlich. Um Zeit verständlich zu machen, bilde die Erzählung ein aus Anfang, Mitte und Ende zusammengesetztes Ganzes, das immer vom Ende her bestimmt werde. Je empirischer die Vorgeschichte, desto vertrauenswürdiger die von der Erzählung erwartete Zähmung der Zukunft. Wie Schmidt-Biggemann zeigt, entspricht die Fortschrittsgeschichte Condorcets diesen Topoi. Die Betonung der Empirizität und die Fokussierung auf die wissenschaftliche und technische Innovation taugten daher nicht dazu, Condorcets Fortschrittsgeschichte als wissenschaftlich auszuweisen. Die Feier des Überlebens angesichts der Bedrohung durch den Priesterbetrug sowie die Erwartung, der wissenschaftliche Fortschritt werde zu Freiheit, Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit führen, reproduzierten die heilsgeschichtliche Topik der Aufhebung des Bösen durch die mit dem Guten identifizierte Wahrheit. Für Condorcet war die Französische Revolution eine Bestätigung dafür, dass die Orientierung an der modernen Wissenschaft zur politischen Freiheit und moralischem Fortschritt führt. In den Augen Schmidt-Biggemanns bestätigt Condorcet, der im Angesicht der Guillotine an den Topoi der Fortschrittsgeschichte festhielt, dass die revolutionäre Politik das Ergebnis der Erwartungen war, die die vorgeblich wissenschaftlichen Erzählungen erzeugten. PETERANDRE ALT zeigt in seinem Beitrag Natur, Zivilisation und Narratio. Zur triadischen Strukturierung von Schillers Geschichtskon^ept, dass die Verwissenschaftlichung der Geschichte nicht unausweichlich mit der Ausblendung des konstruktiven Charakters der Erzählung und der von ihr generierten Zukunftserwartungen einherging. Mit Schiller behandelt er einen der Autoren, die wie Fontenelle, Voltaire oder Rousseau die Erzählung sowohl als Medium von Wissen wie als Kunstform nutzten. Wie Alt zeigt, mündete die Kontrastierung von historischer und poetischer Erzählung bei Schiller in einer Theorie der Geschichtsschreibung, die die zivilisationsgeschichtliche Großerzählung als narratives Konstrukt verstand. Alt verweist auf drei Etappen in Schillers Reflexion über das Verhältnis von literarischer und historischer Erzählung. Ein Schlüsselmoment sind demnach die Jahre zwischen der Jenaer Antrittsvorlesung (1789) und der Abhandlung Über das Erhabene von 1795. Hatte Schiller 1788 die höhere Wahrheit der Geschichte
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noch summarisch der Kunstwahrheit gegenübergestellt, entwickelte er in der Jenaer Zeit eine Theorie der Universalgeschichte, die deren narrative Ordnungsleistung als Konstruktion des Erzählers verstehe. Die nur im Wege einer konsekutiv seriellen Erzählung mögliche Darstellung des Fortschrittes zur moralischen Freiheit sei demnach eine Leistung der Vernunft. In Von den nothwendigen Grenzen des Schönen im Vortrag philosophischer Wahrheiten (1795) präzisiere Schiller das Verhältnis von historischer und Kunstwahrheit. Idealerweise solle der Zweck der Natur, der sich in der Geschichte der Menschheit offenbare, in der schönen Form vermittelt werden. In Über das Erhabene (1795) ändere sich Schillers Position. Hier komme Schiller zum Ergebnis, dass sich die dunkle Kontingenz der Geschichte der universalgeschichtlichen Projektion entziehe und die von Natur und Geschichte unabhängige moralische Autonomie allein in der Kunst zum Ausdruck komme. Der zweite Teil des Bandes behandelt das Verhältnis von Enzyklopädik und Erzählung. Kartesianismus, Mechanizismus und historischer Pyrrhonismus waren nicht die einzigen Gründe für deren Krise. Noch vor der wissenschaftlichen Revolution hatten die Glaubenskämpfe die Erzählung als Medium von Wissen diskreditiert. Die Vereinheitlichung und Dogmatisierung von Heils- und Weltgeschichte im Zeichen der Konfessionalisierung führten zu einer Vervielfältigung und Relativierung von mit absolutem Wahrheitsanspruch auftretenden Erzählungen, die die scientistische Kritik zu bestätigen schien. Ausgangspunkt für Pierre Bayles Kritik an der Möglichkeit narrativer Wahrheitsvermitdung waren nicht nur seine Parteinahme für Kartesianismus und Pyrrhonismus, sondern auch seine Position in der konfessionellen Auseinandersetzung. SEBASTIAN NEUMEISTER zeigt in seinem Beitrag Pierre Bay/e oder die Versuchung der Geschichten, dass die Erzählung bei Bayles Kritik an Welt- und Kirchengeschichte eine prominente Rolle spielte. Noch vor Bibelkritik und Mythologie sei die neuzeitliche Geschichte Frankreichs wichtigster Gegenstand des Dictionnaire historique et critique. Die alphabetische Anordnung quellen- und überlieferungskritischer Befunde sei aber nur ein Teil der Antwort auf die Relativierung der weit- und kirchengeschichtlichen Erzählmuster. An die Stelle der Kirchengeschichte, der Geschichte der Monarchen und der Dynastien träten eine Flut von Episoden und Anekdoten. Sie könnten literarischen Gattungen wie dem portrait oder, wie Neumeister am Beispiel der Einträge zu Lukrezia und Isabella Gonzaga deutlich macht, dem Frauenlob zugeordnet werden. Was sie von ihren belletristischen Vorbildern unterscheide, sei die Einbettung in die Überlieferungsgeschichte. Die über funfzigtausend Verweise auf die Überlieferung präsentierten das historische Material ihrerseits in der Form von kurzen Geschichten. Die Multiplizierung dieser Geschichten diene nicht nur dazu, die Absurdität jeden Versuchs zu illustrieren, die unerschöpfliche Vielfalt der Episoden zu einer Großerzählung zusammenzufassen. Wie Neumeister betont, verfolge Bayle ganz bewusst das Ziel, den Leser ein potentiell unerschöpfliches divertissement zu verschaffen und
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die historische Kritik damit auch für die mondäne Leserschaft interessant zu machen. CLAUDIA ALBERTS Beitrag Verschwendung, Verknappung, Leerstelle — Diderots , Wissenschaftspoetik' fasst die Ergebnisse der jüngeren Forschung zur Encyclopedie zusammen, die als Gemeinschaftsunternehmen der Aufklärer den jeweils aktuellsten Stand von Wissenschaft, Kunst und Technik vermitteln sollte. Wie Albrecht hervorhebt, haben sich die Herausgeber die Offenheit des alphabetischen Ordnungsschemas nie ohne Vorbehalt zu eigen gemacht. Ihre Versuche, die Flut der Informationen nach dem Schema des Wissensbaums oder durch ein System von Verweisen zu ordnen, wertet sie als Auseinandersetzung mit der Frage, wie ein „totalisierender", nicht linearer Text les- und nutzbar gemacht werden könne. Eine Lösung bestehe darin, die Überwältigung des Lesers durch ein Überangebot an Verweisen als ästhetische Strategie zu deuten. Wie Albert zeigt, wird diese Deutung durch Diderots Umgang mit der Erzählung in Jacques le fataliste bestätigt. Anstelle der linearen Erzählung trete die Kontinuität eines von der Frage nach Herkunft und Ziel ausgelösten Erzählstroms. Beide Fragen würden mit einer Flut von Anekdoten, blinden Motiven und Episoden ohne Ende beantwortet, die die ironisch als Erklärung angebotene Mustererzählung von der göttlichen Providenz als unbrauchbar erweise. Wie Claudia Albert bemerkt, hat Diderot klare Vorstellungen von seinem Leser. Der ideale Leser soll die Fähigkeit haben, bisher unbekannte und ungeahnte Zusammenhänge zu sehen. Wie wichtig die Bereitschaft, gegebene Ordnungsmuster zu zerstören und durch neue zu ersetzen, für Diderot ist, erhellt die Rolle, die er dem Genie in seiner Geschichte vom zivilisatorischen Fortschritt zuweist. Das Genie, das sich auf der Suche nach verborgenen rapports unerschrocken auf neue Wege und Abwege begebe, ist, wie Peter Brockmeier zeigt, entscheidend für die Konstituierung neuen Wissens. Wie PETER BROCKMEIER in Innovation und Destruktion in der Genieästhetik ausführt, stellt sich Diderot damit in die Tradition einer auf die Antike zurückgehenden Kunsttheorie. Schon bei Horaz diene die Verbindung von Imitatio und Innovation zur Erklärung zivilisatorischen Fortschritts. Die Mustererzählung, die künstlerische Qualität von Imitation und Innovation abhängig mache, bleibe demnach über Renaissance und Klassik hinaus bis zu den Fortschrittstheorien des 19. Jahrhunderts relevant. Ihre Modernität bestehe darin, dass sie dem großen Künsder abverlange, über die großen Vorbilder hinauszugehen. Schon Petrarca verstand, wie Brockmeier zeigt, das Diktat der imitatio auctorum als Aufforderung zur Innovation, die den großen Vorbildern gerade dadurch gerecht werde, dass sie neue Wege einschlägt. Der Beitrag des 18. Jahrhunderts zu dieser Theorie des Fortschritts, die die persönlichen Eigenschaften exzeptioneller Individuen ins Zentrum stellt, bestand Brockmeier zufolge in der Verwissenschaftlichung des Geniebegriffs. Genius sei für Diderot und Jaucourt nicht mehr göttliche Gabe, sondern. Resultat physiologischer Gegebenheiten. Wie Brockmeier zeigt, rückt dieses Erzählmuster am Anfang des 19. Jahrhunderts noch einmal in den Vordergrund. Angesichts der
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Ausdifferen2ierung der Wissenschaften und der Vervielfältigung von technischen, industriellen, sozialen und politischen Innovationsprozessen werde die Anlage bestimmter Personen zu Kreativität für Goethe, Saint-Simon, Tocqueville und Hugo zum wichtigsten Faktor historischer Dynamik. Angesichts der Parallelen zwischen Bayles Oictionnaire und d'Alemberts und Diderots Engclopedie scheint es möglich, das Verhältnis beider Enzyklopädien zur Erzählung auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Informationen werden zu Erzählungen gebündelt. Die Vervielfältigung und Parallelisierung dieser episodenhaften Geschichten macht es unmöglich, einzelne Erzählungen zu einer narrativen oder systematischen Totalerklärung zu ergänzen. Zur Legitimation dieses Verfahrens bedient sich auch die Enzyklopädik einer Großerzählung. Wichtigster Protagonist dieser Geschichte ist, wie Albert und Brockmeier zeigen, die Bereitschaft zur beständigen Auflösung und Neukonstitution von Ordnungsmodellen. Im dritten Teil geht es vorrangig um im weiteren Sinne naturwissenschaftliche und literarische Erzählungen. Mit Fontenelle, Voltaire und Rousseau behandelt VEIT ELM Autoren, die bei der Konstituierung der Zivilisationsgeschichte als Wissenschaft eine führende Rolle spielten. Sein Interesse gilt dabei der Rolle, die deren zivilisationsgeschichtliche Erzählungen Literatur und Naturwissenschaft zuweisen. Der Wendepunkt in Fontenelles Geschichte des Wissens war demnach Descartes. Die Vorgeschichte der kartesischen Revolution erscheine als Geschichte des Irrtums. Deren wichtigster Protagonist sei der manipulative Einsatz von Erzählungen als Medium der Welterklärung. D a es ihr nicht um Wahrheit, sondern um Vergnügen ginge, sei auch die Literatur eine Form der Manipulation. Ziel von Fontenelles Bemühungen um die Verwissenschaftlichung der Poetik sei die Maximierung des Vergnügens. D e n potentiellen Gegensatz von Wissenschaft und Literatur löse er durch den Einsatz der Literatur zum Zweck der Popularisierung sowohl der neuen Naturwissenschaft wie auch seiner eigenen Geschichte des Wissens. Voltaires und Rousseaus Geschichten des Wissens entstanden demnach in einer grundsätzlich anderen wissenschaftsgeschichtlichen Konstellation. Der Gegensatz zwischen Kartesianern, Newton und Leibniz hätte die Frage aufgeworfen, ob und wie berechtigte von unberechtigten Wissenschaftsansprüchen zu unterscheiden seien. Den Ausweg aus dieser Krise weise für beide die wissenschaftliche Zivilisationsgeschichte, die den sozialen Nutzen verschiedener Wissensansprüche aufzeige und für beide zum Metawissen werde. Auch die historische Rolle, die beide der Belletristik zuwiesen, sei ähnlich. Für beide sei die klassische Poetik eine Vorstufe zur Wissenschaft. Ähnlich wie Voltaire, der in der literarischen Vermittlung der wissenschaftlichen Geschichte der Zivilisation das Wissen zu erkennen glaubte, das der politischen Elite Orientierung unter den Bedingungen des offenen wissenschaftlichen Fortschrittes ermöglichen könne, habe Rousseau diese Form der Literatur als Speerspitze der im Namen der Tugend kritisierten Verwissenschaftlichung verstanden und durch eine anti-klassische,
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primitivistische Literatur zu ersetzen versucht, die die Ausbreitung der die Wissenschaften vermittelnden literarischen Hochkultur verhindern sollte. Helmut Pfeiffer und Thorsten König greifen in ihren Beiträgen zwei Fälle auf, die das affirmative Verhältnis Rousseaus und seines Adepten Bernardin de Saint-Pierre zur Erzählung als Medium von Wissen beleuchten. Anders als Voltaire, der den Wissenschaftsanspruch seiner Sittengeschichte mit der Verlässlichkeit der kritisch geprüften Quellen begründete und sich damit in die Tradition humanistischer Gelehrsamkeit stellte, griff Rousseau mit der hypothetischen Konstruktion, dem Erzählmuster des Gesellschaftsvertrages und dem Gedankenexperiment des Emile Modelle auf, die der neuen Natur- und Sozialwissenschaft entstammten. Das gilt nicht für seine autobiographischen Confessions, die er selbst in die Tradition von Augustins Bekenntnissen stellte. Rousseaus Anspruch war aber auch hier, eine neue Form autobiographischen Wissens zu begründen. HELMUT PFEIFFER zeigt in seinem Beitrag Erzählte und entzogene Individualität. Rousseau fischen Confessions und Reveries, dass Rousseau seine Confessions als völlig neuartige und in ihrer Art einmalige Offenlegung der eigenen inneren Natur ausgibt. Anders als für Locke habe Individualität für Rousseau substanziellen Charakter. Bildlich gesprochen produziere die Natur die individuelle Substanz in einer ihr eigenen, einzigartigen Form. Was Rousseau auszeichne sei die Vorstellung, in einer Gesellschaft, in der alle anderen eine einheitliche gesellschaftliche Prägung trügen, der einzige zu sein, der sich dieser Prägung entzieht und sich im Modus des Gefühls als Individuum erlebt. Pfeiffer beschreibt, wie die autobiographische Erzählung den Zugang zu der vorgeblich substanziellen Individualität als Resultat traumatischer Erfahrungen der Differenz und Ortlosigkeit konstruiert. Pfeiffer versteht das Erleuchtungserlebnis von Vincennes, bei dem Rousseau die Differenzerfahrung auf die Naturwidrigkeit der Gesellschaft zurückführt, nicht als Mitte oder Ende der Fabel. Was die Confessions auszeichne, sei die Betonung des Anfangs. Einer der Anfänge sei die durch das Gefühl von Schuld und Reue konstituierte Selbstreferenz. Anders als in den Confessions gehe es in den Reveries nicht mehr um die Vermittlung von Wissen, sondern die Steigerung des Selbstgenusses. Dessen Quelle sei das Gefühl der Existenz, das als Transparenz der Natur und im Extremfall als ozeanische Auflösung in der Natur erfahren werde. Die Gesellschaft erscheine demgegenüber als Instanz, die die authentische Erfahrung der inneren Natur diabolisiert. Zwischen Rousseaus Erzählung von der Ortlosigkeit des Individuums in der fortgeschrittenen Zivilisation und der vom Selbstgenuss in der Natur steht sein Rückzug aus der Gesellschaft. Er wird von einer historischen Wissenschaft motiviert, die den Anspruch erhebt, die naturgeschichtlichen Anfänge und die natürliche Bestimmung der Menschheit im Medium der Erzählung aufdecken zu können. In seinem Beitrag. „Etudier la nature comme font les grands peintres" — Erzählung und Tableau in Bernardin de Saint-Pierres Naturbeschreibung, weist TORSTEN KÖNIG auf die wissenschaftsgeschichtliche Rolle hin, die der Anspruch, die Inter-
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dependenz aller Naturerscheinungen im Wege einer Erzählung erklären zu können, bei der Verwissenschaftlichung der Naturgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gespielt hat. Bernardin de Saint-Pierres Etudes de la nature (1784) beruhen König zufolge auf der Annahme, dass die Natur nur in ihrer Gesamtheit zu erklären sei. Er wende sich damit gegen die Physik Newtons, den Mechanizismus und die taxonomische Methoden Linnes. Da sie den Zusammenhang zwischen den Reichen der Natur ausblendeten, könnten sie das die ganze Natur organisierende Lebensprinzip nicht erkennen. Bernardin setze dem eine Methode entgegen, die die Zusammenhänge zwischen geologischen Formationen, Klima, Flora und Fauna aufzeige. Eine solche Gesamtschau belege, dass alle Naturphänomene — der Verlauf der Flüsse, die Teile der Pflanzen, aber auch die Organe der Tiere - eine Funktion im zyklischen Zusammenwirken des Ganzen hätten und auf einem göttlichen Plan beruhten. Bernardin wähle in den Etudes de la nature und seinem Roman Paul et Virginie bewusst eine Darstellungsform, die König in die Nähe des Tableaus rückt. Sein Ziel sei, durch die Verzeitlichung des Tableaus die Rolle jedes einzelnen Elementes in den zyklischen Transformationen des Ganzen zu erfassen. Der Vitalismus, der Bernardins Etudes zugrunde liege, sei, wie König ausführt, keine wissenschaftsgeschichtliche Sackgasse. Die Radikalität, mit der Bernardin auf der Eigendynamik des Lebens bestand, habe einen wichtigen Beitrag zur Verselbständigung der Wissenschaft vom Leben geleistet. Mit Diderots Reve de d'Alembert behandelt YANN LAFON einen naturphilosophischen Text, der im Gegensatz zu denen von Bernardin de Saint-Pierre die Möglichkeit, Wissen in Form einer wahren, wissenschaftlichen Erzählungen zu transportieren, relativiert. Lafon beschäftigt sich in seinem Beitrag Die dialogische Trans^endierung materialistischer Erkenntnistheorie in Diderots Reve de d'Alembert mit der Funktion des Dialogs im Reve de d'Alembert, an dessen Anfang die Frage steht, ob die Geschichte von Natur und Menschheit auch ohne den Rekurs auf eine höhere Intelligenz erzählt werden könne. Die Dialogpartner Diderot und Bordeau vertreten die These, dass zufällige Transformationen einer anfangs- und endlosen, potentiell sensiblen Materie die Geschichte von Natur, Menschheit und Individuum ohne Alogismen und im Einklang mit den jüngsten Ergebnissen der Wissenschaft erklären könnten. Der Dialogpartner d'Alembert, der im Wachzustand die Gegenposition verteidigt hatte, übernimmt das materialistische Erzählmuster im Traum. Dass die Theorie der Imagination, die er in seinem Traum entwickelt, den eigenen Traum nicht erklären könne, deutet Lafon als performativen Widerspruch, dessen Funktion darin bestehe, auf ein drittes, von Lafon als transzendentaler Materialismus bezeichnetes Erzählmuster zu verweisen, das zwar nicht ausgesprochen werde, im Kontrast zwischen träumender Imagination und der im Traum vorgetragenen strikt immanentistischen Erkenntnistheorie aber impliziert sei. Der vorliegende Band erhebt nicht den Anspruch, die Geschichte der Erzählung zwischen wissenschaftlicher und Französischer Revolution erschöpfend
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zu behandeln. Die vielfaltigen Ansätze zur Verwissenschaftlichung der im engeren Sinne literarischen Erzählung werden nur in Ansätzen deutlich. Die Rolle der Erzählung in den neuen Naturwissenschaften, die Kritik an den .Fabeln* der biblischen Religionen, aber auch Phänomene wie die Entstehung und Verbreitung neuer, wissenschaftskompatibler Kunstmythen verdienten vertiefte Behandlung. Unbeschadet dieser Lücken erscheint eine Zwischenbilanz möglich. Die wissenschaftliche Revolution der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bildet eine Zäsur. Das mathematisch formulierte Naturgesetz, das messbare Veränderungen auf die gesetzmäßige Interaktion messbarer Faktoren zurückfuhrt, lässt das im Medium der Erzählung vermittelte Wissen als nachrangig erscheinen. Bei allen Unterschieden sind sich die Gesetzesaussagen der neuen Wissenschaft und das im alten Medium vermittelte Weltbild aber in einem Punkt ähnlich. Beide konstituieren Wirklichkeit als ein vom Zusammenwirken verschiedener Protagonisten gesteuerten Prozess. Die von Johannes Rohbeck skizzierte Konstitution von wissenschaftlichen Erzählungen neuen Typs erscheint vor diesem Hintergrund als Übertragung der Plausibilisierungskriterien der neuen Wissenschaften auf die historische Erzählung. Eine der Folgen dieser Angleichung war ein Statusgewinn der Erzählungen, die sich die Plausibilisierungsstrategien der Naturwissenschaften zu eigen machten. Der Fall Voltaires zeigt, dass sich die Erzählung neuen Typs angesichts der Krise des Kartesianismus und der damit verbundenen Relativierung der wissenschaftlichen Schulen als Metawissen profilieren konnte. Der Fall Bernardin de Saint-Pierres macht deutlich, dass der Statusgewinn der Erzählving auch Rückwirkungen auf die neue, die Naturgeschichte beerbende Wissenschaft vom Leben hatte. Für die historische Betrachtung der neuen Erzählformen ergibt sich daraus, dass die Verwissenschaftlichung der historischen, literarischen und naturwissenschaftlichen Erzählung als Resultat von Transfers verstanden werden muss, bei denen nicht nur die Naturwissenschaft, sondern auch Historiographie und Belletristik als Modell fungierten. Alle drei bilden den Kontext, in dem der Umgang mit Finalität, Kontingenz oder dem Konstruktcharakter von Gesetzesaussagen zu sehen ist. Eine nicht weniger weitreichende Folge der Statuserhöhung der Erzählung war ihre Vervielfältigung. Der wissensgeschichtliche Kontext von d'Alemberts und Diderots Encyclopedie entspricht insofern dem von Bayles Dictionnaire, als beide auf die Multiplizierung und Relativierung der Wissensansprüche narrativen Wissens reagieren. Die Reaktion bestand in beiden Fällen nicht im Verzicht auf narrative Ordnung, sondern in der alphabetischen und damit chaotischen Anordnung von Episoden. Claudia Alberts und Yann Lafons Beiträge zu Diderots Jacques le fataliste bzw. seinem Reve de d'Alembert geben Anlass zu der Annahme, dass Diderot auch hier auf die Wiedererstarkung der Erzählung als Medium von Wissen reagiert. Was beide Texte auszeichnet, ist die Multiplizierung und Parallelisierung von Episoden.
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Wie Peter Brockmeier zeigt, rekurriert die enzyklopädische Relativierung des narrativen Ordnungsmodells auf eine Mustererzählung, die die beständige Erneuerung von Erklärungsmustern zum Protagonisten des Fortschritts macht. Insofern sie das Überleben verständlich macht, ist auch diese Erzählung vom Ende her geprägt. Mit dem Neuanfang betont sie aber die Bereitschaft, die von den neuen Großerzählungen geschaffenen Erwartungen immer wieder zu frustrieren. Die Übertragung der Plausibilisierungsverfahren der neuen Wissenschaften auf die historische und literarische Erzählung hat also nicht nur die Krise und Renaissance der Erzählung als Medium von Wissen hervorgebracht. Mit den neuen Formen der Enzyklopädik schuf sie zudem ein Instrument, das erlaubte, die Erzählungen neuen Typs als Episoden in der Geschichte des Fortschritts zu verstehen und ihre Wissensansprüche kritisch zu revidieren. Veit Elm
I. WISSENSCHAFTLICHE GESCHICHTE
JOHANNES ROHBECK
Die narrative Funktion der Geschichtsteleologie
Die Teleologie der Geschichte markiert ein Kernproblem der neuzeitlich-klassischen Geschichtsphilosophie. Wenn der Fortschritt als aufsteigende Linie mit einem einheitlichen telos gedacht wird, stellt sich die Frage, woher die Einzelfortschritte ihre Richtung beziehen. Es fragt sich, wie aus den Handlungszielen der Individuen ein gemeinsames Ziel hervorgehen soll. Unmissverständlich schließt Turgot die Individuen als planende Subjekte der Geschichte aus: „Mir scheint, als sähe ich eine riesige Armee, deren Bewegungen von einem großen Genie gelenkt werden. Beim Anblick militärischer Signale, beim tobenden Lärm der Trommeln und Trompeten geraten ganze Schwadronen in Bewegung, selbst die Pferde werden von einem unerklärlichen Feuer erfüllt; jeder Teil geht seinen Weg über alle Hindernisse hinweg, ohne zu wissen, wie es endet; allein der Feldherr sieht die Wirkung so vieler vereinter Märsche. Auf ähnliche Weise sind es die Leidenschaften, welche die Ideen vermehrt, die Kenntnisse erweitert und die Geister perfektioniert haben — in Ermanglung der Vernunft."1 Bei Ferguson heißt es: ,Jeder Schritt und jede Bewegung der Menge wird sogar in denjenigen Zeitaltern, die man aufgeklärt nennt, mit der gleichen Blindheit für die Zukunft gemacht. Die Völker stoßen gleichsam im Dunkeln auf Einrichtungen, die zwar durchaus das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht jedoch die Durchführung irgendeines Planes."2 Was zunächst in militärischen Metaphern, dann auch mit den Begriffen „höhere Macht" oder „Vorsehung" formuliert wird, macht den teleologischen Charakter dieses Geschichtsdenkens aus. Doch mit dem Hinweis auf die Teleologie ist die Geschichtsphilosophie noch nicht erledigt. Meine Absicht ist hingegen eine kritische Rechtfertigung dieser Denkfigur. Dazu verwende ich ein defensives und ein offensives Argument. Das defensive Argument besteht im Hinweis auf den historiographischen Befund, dass teleologische Positionen in den Geschichtsphilosophien des 18. Jahrhundert relativ selten sind. Das offensive Argument besteht in einer systematischen Rekonstruktion der Teleologie, um deren rationalen Kern freizulegen.
1 Anne Robert Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. v. Johannes Rohbeck u. Lieselotte Steinbrügge, Frankfurt a. Μ. 1990,176; vgl darin die Einleitung von Johannes Rohbeck, 7-87. 2 Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hg. v. Zwi Batscha u. Hans Medick, Frankfurt a. M. 1988, 258.
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Für die erste Argumentation verweise ich auf die französische Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts. Hier zeigt sich nämlich, dass die Teleologie der Geschichte eher die Ausnahme bildete. Der einzige Autor, der explizit die „Vorsehung" in Anspruch nahm, war Ende des 17. Jahrhunderts Bossuet, der damit eine explizit theologische Position vertrat.3 Diese tauchte zwar bei Goguet noch einmal auf, wirkte dort aber bereits antiquiert und erfüllte keine theoretische Funktion mehr.4 Ausdrücklich gegen Bossuet wendeten sich Freret und Voltaire, 5 ohne jedoch eine säkulare Geschichtsteleologie an die Stelle zu setzen. Eine Kritik sowohl an einer theologischen als auch teleologischen Zielbestimmung der Geschichte übte bereits Rousseau, weil er die Idee des Fortschritts radikal in Zweifel zog; man könnte hier allenfalls von einer negativen Teleologie sprechen. Diderot und Raynal verhielten sich in dieser Hinsicht ambivalent,6 indem sie in ihre Kolonialgeschichte auch rousseauistische Elemente einfugten. Volney distanzierte sich bereits vom linearen Geschichtsbild und rehabilitierte den Zyklus der Lebensaltermetapher.7 Bei Condorcet könnte man eine Geschichtsteleologie vermuten, weil er die Fortschrittsidee am meisten propagierte; doch begründete er seine Zukunftserwartungen gerade nicht auf teleologische Weise, sondern mit Hilfe der rationalen Prognostik, die eine wirkliche Alternative zur Teleologie bot.8 Nach diesem Resümee bleibt allein Turgot übrig, der tatsächlich der erste und wohl auch einzige Vertreter der säkularen Geschichtsteleologie in Frankreich war. In Deutschland spielte dieser Denktypus eine größere Rolle. Während Kant ein eher skeptischer Anhänger der Fortschrittsidee war und die Idee der „Naturabsicht" erkenntnistheoretisch relativierte, sprach vor allem Hegel von einem „verborgenen Plan" der Geschichte und verwendete dabei die bekannte Formel „List der Vernunft". 9 Hegel war wohl der exponierteste Vertreter der Teleologie der Geschichte, wodurch er die heftigste Kritik auf sich zog. Ohne Übertreibung lässt sich feststellen, dass die meisten Kritiker der teleologischen Geschichtsphilosophie bis heute auf Hegel zielen. Aus diesem Grund ist es mir wichtig, dieser einseitigen Fixierung die Darstellung der französischen Aufklärung entgegen
3 Jacques-Benigne
Bossuet, Discours sur l'histoire universelle, Paris 1966. Antoine Yves Goguet, De l'origine des bis, des arts et des sciences; et de kurs prvgris cheζ les andern peoples, Paris 1758. 5 Nicolas Freret, Vuesgenerates sur l'origne & le melange des anciennes Nations, & sur la maniire d'etudier l'histoire, in: Histoire de l'Academie Rnyale des Inscriptions et Belles-hettres 18 (1753), 49—71; Voltaire, Essay sur l'histoire generale etsurles mceurs et l'esprit des nations, hg. v. Rene Pomeau, Paris 1963. 6 Denis Diderot, Guillaume Raynal, Die Geschichte heider Indien. Ausgewählt und erläutert v. HansJürgen Lüsebrink, Nördlingen 1988. 7 Constantin F r a n c i s Volney, Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche, hg. v. Günther Mensching, Frankfurt a. M. 1977. 8 Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet, Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. v. Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1976. 9 Immanuel Kant, Idee ψ einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Ders., Werke in ^wölf Bänden, Bd. 11, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1965, 34; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Ders., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1979, 25, 49. 4
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zu setzen. Sie demonstriert, dass es sehr unterschiedliche Spielarten geschichtsphilosophischen Denkens gab. Meine offensive Argumentation besteht in einer kritischen Rekonstruktion der Teleologie und damit der Geschichtsphilosophie überhaupt in systematischer Perspektive. Selbst dort, wo die Teleologie der Geschichte explizit vertreten wurde, handelt es sich um reflektierte Positionen, die es lohnt, genauer zu analysieren. Keineswegs wurde die Theologie durch einen naiven Glauben an eine angeblich höhere Macht ersetzt, von der die Geschichte geleitet würde. Weder die Vertreter der französischen Aufklärung noch die des deutschen Idealismus konzipierten ein reales Subjekt, das den historischen Prozess bestimmen oder auch nur beeinflussen könnte. Vielmehr ist die Teleologie der Geschichte von Anfang an eine hypothetische Konstruktion. Die Menschen stellen sich die Geschichte so vor, als ob sie auf ein Ziel hin geleitet würde. Formulierungen wie ,Genie', .Naturabsicht', ,Vernunft', ja selbst .Vorsehung' sind nur noch Metaphern, die lediglich der Orientierung dienen. So besteht kein Zweifel darüber, dass sich bereits die französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts über diesen hypothetischen Status im klaren waren. Bereits Hobbes konstruiert den Staat so, als ob seine Mitglieder in einen allgemeinen Vertrag eingewilligt hätten. Und sofern die Geschichtsphilosophen an diese Tradition anknüpfen, weil auch sie die sozialen Institutionen für von den Menschen „gemacht" halten, übernehmen sie den hypothetischen Charakter ihrer zentralen Aussagen. In diesem Sinn sieht auch Turgot seine Aufgabe nicht mehr darin, einen verborgenen Heilsplan zu vermitteln. Vielmehr spricht er in profanen Gleichnissen von einem „Genie", das die „Leidenschaften" der Menschen leiten soll. Erst Kant hat diese Als-ob-Konstruktion expliziert, indem er die von ihm unterstellte „Naturabsicht" als „regulative Idee" bezeichnete. Auch bei Hegel ist nur unter dieser Voraussetzung die Rede von Zweck und Mittel in der Geschichte sinnvoll. Vom Standpunkt eines Resultats, das sich erst am Ende einer historischen Entwicklung offenbart, hat es den Anschein, als ob die Handlungen der Menschen wie Mittel zur Realisierung eines Zwecks fungierten. Allerdings ist es Hegel vorbehalten, diese Vorstellung besonders drastisch zu formulieren, indem er die Individuen und Völker als „Mittel und Werkzeuge des Weltgeistes" bezeichnet. Der instrumentelle Charakter zeigt sich auch im Begriff „List der Vernunft", welche „die Leidenschaften für sich wirken lässt".10 Die „welthistorischen Individuen" wie ζ. B. Cäsar oder Napoleon spielen dabei eine besondere Rolle, weil sie mit ihren partikularen Handlungszwecken das geschichtlich Allgemeine befördern. Hegel formuliert hier eine Hypothese, die er durch die historische Darstellung zu überprüfen beabsichtigt. Wie Kant gewinnt er aus der bereits entwickelten 10 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (wie Anm. 9), 40, 49; vgl. zum Folgenden Pirmin Stekeler-Weithofer, Vorsehung und Entwicklung in Hegels Geschichtsphilosophie, in: Rüdiger Bubner, Walter Mesch (Hg.), Die Weltgeschichte - das Weltgericht?, Stuttgart 2001,141-168.
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Philosophie die Vernunftidee, welche das Kriterium zur Beschreibung und Beurteilung der Geschichte bildet. Doch anders als Kant postuliert Hegel die Vernunft nicht „a priori" als vage „Naturabsicht", sondern er versucht eine rationale Rekonstruktion der Geschichte, die er als Verwirklichung der Vernunft begreift. Während Kant letztlich an die Moral appelliert, will Hegel zeigen, in welchem Umfang die Vernunft in der bisherigen Geschichte verwirklicht worden ist. Unter dieser Voraussetzung stellt sich nun die Frage, worin die Bedeutung dieser Metaphorik besteht. Es soll gezeigt werden, dass sich hinter derartigen Ausdrücken vielschichtige Probleme verbergen, die erst noch freizulegen sind. Dazu gehe ich in zwei Schritten vor, in denen ich formale und materiale Aspekte berücksichtige. Im ersten Schritt untersuche ich die methodische Seite und betrachte die Teleologie als Erzählung. Dabei geht es nicht nur um die narrative Funktion, sondern insbesondere um das Verhältnis von Erzählung und Erklärung. Im zweiten Schritt behandle ich die inhaltliche Seite, zu der das Problem historischer Kontingenz und das Unbewusste im Geschichtsdenken gehören. Ferner analysiere ich die normative Dimension der Teleologie und die darin implizite politische Utopie. Die Frage, ob sich darin eine säkularisierte Heilsgeschichte verbirgt, versuche ich in der Weise zu beantworten, dass ich die Herkunft des teleologischen Modells erörtere. Hier sehe ich vor allem profane Gründe in der Sozialphilosophie dieser Epoche wie auch Analogien zur zeitgenössischen Naturtheorie.
Erzählperspektive Betrachtet man die geschichtsphilosophische Darstellung als Erzählung, erfüllt die Teleologie eine narrative Funktion. Die Metaphern „Genie", „Naturabsicht" oder „List der Vernunft" repräsentieren die Erzählperspektive eines fiktiven Subjekts. Es bezeichnet den gegenwärtigen Standpunkt, von dem aus vergangene Geschichte retrospektiv dargestellt wird. Die Gegenwart bildet das vorläufige Ende, aus dessen Sicht die historischen Ereignisse geordnet und interpretiert werden. Erst im Rückblick erhalten sie ihren Sinn und ihre spezifisch historische Bedeutung. Wenn Geschichte nun einmal nicht anders geschrieben werden kann, dann verfährt die Historiographie in diesem schwachen Sinn immer .teleologisch'. Die Teleologie steht für den finalen Standpunkt, von dem aus Geschichte rückblickend erzählt wird; sie verleiht der Historie eine narrative Synthesis. Welche inhaltlichen Deutungen sind mit der Teleologie gemeint? Versteht man das telos nicht nur als Zeitpunkt, sondern als einen Fluchtpunkt von Erfahrungen, die ein inhaltlich bestimmtes Bild auf die Geschichte werfen, stellt sich die Frage, auf welche Weise eine derart teleologische Perspektive das historische Material strukturiert. Natürlich gibt es einzelne Begebenheiten, welche die Sicht auf die Geschichte prägen können. Kant hatte ja mit der Französischen Revolution ein historisches Ereignis genannt, das zwar nicht für die
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Vorhersage tauge, aber 2ur Orientierung für die Historiographie dienen könne. In der französischen Geschichtsphilosophie geht es primär um etwas anderes: nicht um raum-zeitlich hervorgehobene historische Ereignisse, sondern um die Geschichte von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Wenn also gesagt werden konnte, dass die Geschichte vom Standpunkt der Gegenwart geschrieben wird, lässt sich jetzt präzisieren, dass es Systeme des Wissens, Könnens und der sozialen Praxis sind, die das Konzept der Universalgeschichte strukturieren. Diese Systeme sind keine singulären Handlungen, sondern repräsentieren bereits institutionalisierte Handlungszusammenhänge. Sie stellen sozusagen die geronnene und teilweise ja auch gegenständlich fixierte Erfahrung der Geschichte dar. In der Geschichtsphilosophie fungieren diese Systeme als Modelle der historischen Rekonstruktion. Paradigmatisch für ein solches Verhältnis von System und Geschichte dürfte die Geschichte der Mathematik sein. Im Grunde hat Descartes Methode der späteren Fortschrittstheorie den Weg gewiesen: Nachdem der Historiker das gegenwärtige mathematische System in elementare Einheiten zerlegt hat, kann er die darauf folgende Synthese aus diesen Elementen als Entstehungsprozess der Mathematik darstellen. Genau so verfahrt Turgot, indem er sie mit einfachen Vorstellungen wie Zahlen und Raumgrößen beginnen lässt und die weiteren Fortschritte als Kombinationen zu immer komplexeren und damit auch allgemeineren Ideen und Regeln beschreibt. Von dort lässt sich dann der zurückgelegte Fortschritt betrachten: „Eine Kette voneinander abhängiger Glieder bildet sich, in der die Menschen alle Schritte wiedererkennen können, die sie gemacht haben, um Wahrheit auf Wahrheit zu häufen."11 In Goguets Mathematikgeschichte ist dieselbe Methode zu beobachten, wenn er den Weg von „einfachen" zu „schwierigen" arithmetischen Operationen darstellt. Aber er reflektiert diese Methode mit einer interessanten Nuance: „Die moderne Arithmetik kann uns nur als Idee dienen für jene Zeitalter, die hier an uns vorbeilaufen; anstelle einer exakten Analyse führen wir diese Wissenschaft auf ihre ersten Elemente zurück. Das ist das einzige Mittel, um diejenigen Operationen aufzudecken, die sich, entsprechend ihrer Einfachheit, als erste dem forschenden Geist wohl angeboten haben dürften."12 In dieser Reflexion wird die Differenz zwischen aktueller Systematik und geschichtlicher Genese deutlich. Goguet orientiert sich lediglich an der zeitgenössischen Mathematik, ohne behaupten zu wollen, mit ihrer „Idee" im Sinne eines Modells bereits die historische Analyse geleistet zu haben. Die Rationalität der entwickelten Wissenschaft erfüllt bei der Erforschung der historischen Entwicklung lediglich eine heuristische Funktion. Eine ähnliche Verfahrensweise ließe sich auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und der Philosophie nachweisen. In der Physik ist es das System Newtons, das den vorläufigen Endpunkt der Retrospektive darstellt, so wie in 11 12
T u i g o t , Über die Fortschritte des menschlichen Geistes (wie A n m . 1), 204—205. G o g u e t , De l'ongine des lois, des arts, et des sciences (wie A n m . 4), Bd. 1 , 2 0 7 .
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der Philosophie der Lockesche Empirismus. Aber ich möchte noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam machen, der mit dem Verhältnis von System und Geschichte zusammenhängt. Es ist die Erfahrung von Veränderungen innerhalb einer bestimmten wissenschaftlichen Formation, die mir für die Idee des Fortschritts wesentlich ist. Descartes hatte ja noch geglaubt, mit seiner Methode ein Wissenschaftssystem etabliert zu haben, das in seinen Prinzipien nicht mehr verändert zu werden brauchte, so dass späteren Forschern nur noch die konkrete Ausarbeitung und Ergänzung eines bereits bestehenden und auf unbegrenzte Dauer geltenden Grundrisses übrig bliebe.13 Diese Selbsteinschätzung und wohl auch Uberschätzung wurde spätestens gegen Ende des 17. Jahrhunderts gründlich widerlegt: Galileis kinematische Physik musste der Dynamik von Huygens und Newton weichen. Und Descartes res cogitans erfuhr durch Lockes sensualistische Wende zumindest eine bedeutsame Modifizierung. Im 18. Jahrhundert entstanden sogar neue Wissenschaften wie Geographie, Geologie sowie eine Naturgeschichte, die auf die spätere Biologie verweist. Zaghaft deutet sich eine Abkehr vom mechanistischen Weltbild in Richtung organizistischer Modellvorstellungen an. Ohne auf diese wissenschaftsgeschichtlichen Prozesse eingehen zu können, ist an dieser Stelle festzuhalten, dass die Historiographen und Geschichtsdenker seit der Mitte dieses Jahrhunderts solche Veränderungen genau registrieren und daraus Schlussfolgerungen ziehen.14 Wie selbstverständlich setzen die Aufklärer die Einheit einer sich vervollkommnenden Menschenvernunft voraus, doch gleichzeitig machen sie im historischen Rückblick die wichtige Erfahrung, dass der Fortschritt sich nicht auf eine bloße Addition von immer mehr Wissen beschränkt, sondern dass er auch Korrekturen und Kehrtwendungen enthält. Sie entdecken also, dass diese Entwicklung aus Brüchen besteht, die das frühere Wunschbild eines einzigen und ewig wahren Systems des Wissens in Frage stellt und stattdessen eine Folge divergenter Systeme vor Augen führt. Solche Einsicht in die Kontinuität und Diskontinuität der Geschichte ist konstitutiv für das Fortschrittsdenken des 18. Jahrhunderts. Verallgemeinert man diesen Gedanken, lassen sich diese Beobachtungen auf das Selbstverständnis der späteren Aufklärung beziehen. Die Aufklärer gelangen zur Einsicht, dass die von ihnen getragene geistige Bewegung kein einmaliger Akt ist, sondern als eine lang andauernde, divergente und niemals abgeschlossene Entwicklung verstanden werden muss. So wird in der Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts die Aufklärung in einen Prozess umgedeutet.
13 Darauf verweist Blumenberg, obwohl er den folgenden Brüchen und entsprechenden geschichtsphilosophischen Reflexionen keine Beachtung schenkt und am Beispiel der Astronomie allein die Kontinuität betont: Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltweit, Frankfurt a. M. 1986, 180ff. 14 Deutlich bei Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes (wie Anm. 1), 99, 108-109; vgl. Condorcet, Entwurfeiner historischen Darstellung (wie Anm. 8), 170-171.
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Erklärende Historiographie Zur Teleologie der Geschichte steht das Selbstverständnis der Historiker des 18. Jahrhunderts in einem eigenartigen Kontrast. Denn auf der anderen Seite verstehen die Aufklärer ihre neue Wissenschaft als erklärende Historiographie, die sich an den zeitgenössischen Naturwissenschaften orientiert. Autoren wie Montesquieu, Voltaire, Turgot und Condorcet wollen in erster Linie die Ursachen historischer Veränderungen erforschen. „In diesem Sinn umfaßt die Universalgeschichte", schreibt etwa Turgot, „die Betrachtung der aufeinander folgenden Fortschritte der menschlichen Gattung und der einzelnen Ursachen, die dazu beigetragen haben."15 Dabei stellt sich dieser Typ der kausalen Erklärung in der konkreten Durchführung als wesentlich differenzierter heraus als diese programmatische Ankündigung. Denn das Neuartige der Geschichtsphilosophie besteht nicht allein in der Behauptung einer kontinuierlichen Serie von .Fortschritten', wobei immer Unterbrechungen und Rückschläge eingeräumt werden. Entscheidend ist, dass um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine Theorie technisch-ökonomischer Stadien entworfen wird, in der bestimmte Gesellschaftsformen aufeinander folgen. An die Stelle der Ereignisgeschichte tritt eine Geschichte institutioneller Strukturen. Der Fortschritt wird auf diese Weise zu einer sozialwissenschaftlichen Kategorie. Auf der Grundlage der politischen Ökonomie werden die Subsistenzweise der Menschen, ihre leiblichen Bedürfnisse und die Art, diese durch bearbeitete Lebensmittel zu befriedigen, zu einem zentralen Thema. Darüber hinaus liefert die Wirtschaftstheorie ein analytisches Instrument, um ökonomische Fortschritte beschreiben und begründen zu können. Zwar unterschied man schon vorher zwischen Jägern, Hirten, Ackerbauern und industrietreibenden Völkern, aber erst Turgot transformiert diese Zivilisationsstufen in einen Entwicklungszusammenhang. Dabei ist es aufschlussreich, wie er die Übergänge von einer Phase in die andere erklärt. Von den Ackerbauern heißt es: „Außerdem ernährt der Boden bei ihnen mehr Menschen, als zur Kultivierung nötig sind. Folglich gibt es Müßiggänger, Städte, Handel, all die nützlichen und angenehmen Künste; daher gibt es Fortschritte auf allen Gebieten."16 Es ist der jeweils erwirtschaftete Überschuss an Nahrungsmitteln, der das nächst höhere Niveau ermöglicht, weil er Menschen für die entwickeltere Tätigkeit freisetzt. Erst die ökonomische Analyse von Wirtschaftszyklen erlaubt es, einen quantitativen Wertzuwachs analytisch zu fassen und damit ein „surplus" zu identifizieren, das als Bedingung weiterer Fortschritte interpretiert werden kann. Die Kausalerklärung besteht längst nicht mehr in der Konstruktion linearer Kausalketten, wie die methodologischen Ankündigungen befürchten ließen; vielmehr geht es um den Nachweis gegenständlicher Voraussetzungen für erweiterte 15 Turgot, 16
Über die Fortschritte des menschlichen Geistes (wie Anm. 1), 169. Ebd., 175.
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Handlungsmöglichkeiten, mithin von Bedingungen der Möglichkeit weiterer Entwicklungsphasen. In der Stadientheorie werden Gründe angegeben, die ausdrücklich nicht teleologisch konstruiert sind: Es werden weder Handlungszwecke der beteiligten Individuen unterstellt — als ob etwa die Hirten das Ackerbaustadium mit einer vorausschauenden Absicht angestrebt hätten — noch gibt es in diesem Kontext Hinweise auf eine überindividuelle Instanz, die dabei auf ein allgemeines Ziel hin hätte einwirken können. Stattdessen bietet Turgot eine funktionale Erklärung, in der Faktoren angegeben werden, die bei der Herausbildung eines neuen gesellschaftlichen Systems eine bestimmte Funktion erfüllt haben. Das Kausalverhältnis schlägt in ein finales Verhältnis um. In diesem Sinn kann man von einer funktionalen Erklärung sprechen.
Erklärung und Erzählung Meine Absicht ist es zu zeigen, dass der Gegensatz zwischen erklärender Historiographie und Teleologie der Geschichte nur scheinbar besteht und dass hier in Wirklichkeit ein Zusammenhang vorliegt. Der zeigt sich, wenn man die Teleologie nicht nur als Erzählung versteht, sondern wenn man weiterhin zugesteht, dass auch Erzählungen eine erklärende Funktion besitzen können. Wird der Erzählung ein erklärender Status zugebilligt, enthält die Darstellung der Geschichte vom Ende her eine funktionale Erklärung. Mit Ricoeur gesprochen, gibt es auch in der Historiographie narrative Argumente.17 Deren Struktur wie auch deren Inhalte möchte ich am Beispiel von Friedrich Schiller demonstrieren. In seiner Vorlesung Was heißt und ψ welchem Ende studiert man Universalgeschichte?18 spricht Schiller von einer „stillen Hand der Natur" oder von einem „großen Naturplan", der seit dem Anfang der Welt die Kräfte des Menschen planvoll entwickelt.19 Das erinnert an die „Naturabsicht" in Kants Idee einer allgemeinen Geschichte, die Schiller ja bekannt war. Doch den narratologischen Aspekt der Teleologie verdeutlicht kaum jemand so klar wie Schiller. Mit der Gegenüberstellung von Anfang und Ende der Geschichte fuhrt er vor Augen, dass sich die Geschichte der Menschheit nur vom gegenwärtigen Ende her konstruieren lässt. Daraus ergibt sich eine Umkehrung von Verlauf und Darstellung: „Die Weltgeschichte geht also von einem Princip aus, das dem Anfang der Welt gerade entgegenstehet. Die wirkliche Folge der Begebenheiten steigt von dem Paul Ricoeur, Zeit undErzählung, München 1988-1991, Bd. 1,214. Friedrich Schiller, Was beißt und up welchem Ende studiert man Universa^eschichte?, in: Ders., Nationalausgabe, Schillers Werke, Bd. 17, hg. v. Karl-Heinz Hahn, Weimar 1970, 359-376; vgl. Johannes Süßmann, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserfählungen ^wischen Schiller und Ranke (1780-1824), Stuttgart 2000; Ulrich Muhlack, Schillers Konzept der Umversafaschichte, in: Otto Dann, Norbert Oellers, Ernst Osterkamp (Hg.), Schiller als Historiker, Stuttgart, Weimar 1995, 5-28, hier 13; Wolfgang Riedel, „ Weltgeschichte ein erhabenes Object". Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken, in: PeterAndre Alt, Alexander Kosenina, Hartmut Reinhardt, Wolfgang Riedel (Hg.), Prägnanter Moment. Studien %ur deutschen Literatur derAufklärung und Klassik. Festschnßßr Hans-Jürgen Schings, Würzburg 2002,193-214. 19 Schiller, Was heißt und welchem Ende studiert man Universalgschichte? (wie Anm. 18), 375. 17
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Ursprung der Dinge zu ihrer neuesten Ordnung herab, der Universalhistoriker rückt von der neuesten Weltlage aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen."20 Wenn diese Forschungsarbeit getan ist, besteht die Aufgabe des Historikers darin, „auf dem gemachten Weg umzukehren, und an dem Leitfaden dieser bezeichneten Fakten, ungehindert und leicht, vom Anfang der Denkmäler bis zu dem neuesten Zeitalter herunter zu steigen. [...] Es ist daher zwischen dem Gange der Welt und dem Gange der Weltgeschichte ein merkliches Mißverhältniß sichtbar."21 Obwohl Forschung und Darstellung entgegengesetzte Richtungen einschlagen, werden sie beide vom Endpunkt aus organisiert. Im Stil des 18. Jahrhunderts will auch Schiller den Fortschrittprozess erklären, indem er „eine lange Kette der Begebenheiten [...], die wie Ursache und Wirkung in einander greifen", konstruiert.22 Aus der polaren Konstruktion von Anfang und Ende ergibt sich dabei eine lineare Kausalreihe. Wie schon Kant übernimmt Schiller von Schlözer die Unterscheidung zwischen „Aggregat" und „System":23 Das „System" besteht aus einem Ganzen, das sich „in der Gleichförmigkeit und unveränderlichen Einheit der Naturgesetze" gründet. Schiller beansprucht damit Kausalerklärungen nach dem Vorbild der zeitgenössischen Naturwissenschaften. Die grundsätzlichen Schwierigkeiten, welche die spätere Hermeneutik zu überwinden versucht hat, sind hinreichend bekannt.24 Hier ist nur festzustellen, dass Schiller dem eigenen Anspruch auf Kausalerklärung in diesem Text nicht gerecht wird. Dazu fehlen die sozialwissenschaftlichen und speziell wirtschaftstheoretischen Erklärungsmuster, die bei der Herausbildung der Geschichtsphilosophie vor allem in Frankreich und England die entscheidende Rolle gespielt haben. Wie erwähnt, entwickelten Turgot wie auch Adam Smith, die sowohl Ökonomen als auch Geschichtsphilosophen waren, eine Theorie technisch-wirtschaftlicher Stadien, in deren Verlauf das erwirtschaftete Mehrprodukt die Bedingung der Möglichkeit für höhere Stufen darstellte.25 Kausalerklärung bedeutet das Aufzeigen von Möglichkeitsbedingungen, also von prinzipiell offenen Handlungsmöglichkeiten, die erst nachträglich zu einer „Kette" verknüpft werden. Diese Bedingungen sind nicht nur anthropologischer Art, sondern werden bereits gesellschaftstheoretisch bestimmt. Der .Fortschritt' wird zu einer soziologischen Kategorie.
Ebd., 372. Ebd.; in diesem Sinn später Johann Gustav Droysen, Historik, hg. v. Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, 9. 22 Schiller, Was heißt und ap welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (wie Anm. 18), 370. 23 Ludwig August Schlözer, Vorstellung seiner Untversal-Historie (1772173), hg. v. Horst Walter Blanke, Hagen 1990, insbes. Iff., 14,45; Kant, Idee ^u einer allgemeinen Geschichte (wie Anm. 9), 48. 24 Eine systematische Zusammenfassung dieser Problematik bietet Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einßhrung in die Geschichtstheorie, Köln, Weimar, Wien 1997. 25 Turgot, Über die Fortschritte des menschlichen Geistes (wie Anm. 1), 171ff.; Adam Smith, Vorlesungen über Rechts- und Staatswissenschtrften, Bonn 1996. 20 21
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In Schillers Antrittsvorlesung kommt eine solche Stadientheorie nicht vor.26 Er unterstellt von vornherein eine „Kette" historischer Ereignisse, womit er die Chance einer kausalen Erklärung verfehlt. Doch darf daraus nicht der Schluss gezogen werden, Schiller böte überhaupt keine Erklärung an. Er bemüht sich um eine andere Art Erklärung, die man als finale Erklärung bezeichnen kann. Das Argument lautet: Vom späteren Stadium der Zivilisation aus gesehen war dieses oder jenes Ereignis erforderlich - beispielsweise die Herausbildung des Christentums, die Entmachtung des Klerus, der Aufstand der Städte usw., kurz: „Wie viele Erfindungen, Entdeckungen, Staats- und Kirchenrevolutionen mußten zusammentreffen, diesen neuen, noch zarten Keimen von Wissenschaft und Kunst, Wachsthum und Ausbreitung zu geben! Wie viele Kriege mußten geführt, wie viele Bündnisse geknüpft, zerrissen und aufs neue geknüpft werden, um endlich Europa zu dem Friedensgrundsatz zu bringen [.. .]."27 Auffallend ist das „mußte", welches den ganzen Text durchzieht. Damit ist sicher kein historischer Determinismus gemeint, was mit Schillers idealistischer Einstellung unverträglich wäre. Das „mußte" ist vielmehr im Sinne einer notwendigen Bedingung für einen bereits erreichten und bekannten Zustand zu verstehen. In diesem Erklärungsmuster verwandelt sich, worauf Schiller selbst hinweist, das Verhältnis von „Ursache und Wirkung" in das Verhältnis von „Mittel und Absicht" oder „Zweck",28 d. h. ein Kausalverhältnis in ein instrumentelles Verhältnis. Metaphorisch gesprochen „benötigten" die Menschen für den Übergang in einen späteren Zustand diese oder jene Voraussetzung oder „nutzten" bestimmte Ereignisse für den Fortgang der Zivilisation. Da Schiller ausdrücklich von einem „System" spricht, kann man diesen Begründungstyp auch systemtheoretisch deuten. Damit verwandelt sich die finale Erklärung in eine funktionale Erklärung. Für ein bestimmtes System, hier die entwickelte bürgerliche Gesellschaft, erfüllen bestimmte Faktoren eine bestimmte Funktion: Frieden und Politik fungieren als Rahmenbedingungen für eine kulturelle Entwicklung. Auch wenn der ursprüngliche Anspruch der Kausalerklärung nicht eingelöst wird, bleibt diese Art der funktionalen Erklärung durchaus sinnvoll. Nachdem ich die methodologische Struktur der Teleologie analysiert habe, möchte ich die inhaltliche Seite der Teleologie untersuchen. Mit Hayden White und Ricceur lässt sich die Frage anschließen: Worin besteht die „Fabel" dieser Geschichtserzählung? Welche sachliche Bedeutung hat die Teleologie der Geschichte? Auch in diesem Fall beabsichtige ich eine kritische Rechtfertigung.
26 Ansätze dazu finden sich in Schillers Schrift: Etwas über die erste Menscbengesellschtrft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde, in: Ders., Nationalausgabe, Schillers Werke, Bd. 17, hg. v. Karl-Heinz Hahn, Weimar 1970, 398-413. 27 Schiller, Was heißt und welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (wie Anm. 18), 370. 28 Ebd., 371.
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Kontingenzerfahrung Am meisten verbreitet ist der Vorwurf, die Teleologie sei ein untauglicher Versuch, um die Kontingenz in der Geschichte zu bewältigen.29 Die Menschen mögen zwar ihre privaten Zwecke verfolgen, aber den Endzweck der Geschichte können sie niemals anstreben. Sie stellen zwar Dinge her und erzeugen mit ihren Handlungen bestimmte Wirkungen, aber damit „machen" sie nicht die Geschichte im Ganzen. Die Menschen sind nicht Herr ihrer eigenen Geschichte. Stattdessen stellen die genannten Philosophen die Geschichte so dar, als ob sie von einer überindividuellen Vernunft geleitet würde. So gipfelt dieser Theorietyp in der Einsicht, dass die Menschen ihre Geschichte nicht zu planen und damit letztlich gerade nicht zu „machen" vermögen. In der Geschichtsteleologie erhält diese Kontingenzerfahrung ihre verkehrte theoretische Form. Mit Freud lässt sich hier von einer geschichtsphilosophischen Kränkung der Menschheit sprechen. Für Bossuet war Gott der Lenker der Geschichte. Im Laufe der Aufklärung setzte sich der Mensch an die Stelle Gottes als „Werkmeister" seiner eigenen Geschichte. Zugleich musste er erfahren, dass er die gesamte Geschichte nicht zu steuern vermag. Die Selbstermächtigung des Menschen erfahrt bereits in den Anfängen der Moderne eine eigentümliche Brechving. Die Teleologie der Geschichte kann man daher als unbewussten Ausdruck der Erfahrung mit der „Unverfügbarkeit" historischer Prozesse interpretieren. Wie das unbewusste Ich in der Psychoanalyse scheint es auch in der Geschichte ein kollektives Unbewusstes zu geben.30 Aus dieser Sicht erzeugt die Erfahrung historischer Kontingenz bei den Menschen Angst - eine traumatische Angst, die zu einer Verdrängung führt, die in der Geschichtsphilosophie ihren pathologischen Ausdruck findet. Folglich ist die Teleologie eine Kompensation der erfahrenen Ohnmacht in der Geschichte. Darin besteht die angebliche Psychopathologie der Moderne. Doch lassen sich gegen eine solche Interpretation sowohl historische als auch systematische Zweifel anmelden. Zunächst ist einzuwenden, dass um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein Interesse gerade an der angeblich unerträglichen Unverfügbarkeit sozialer Systeme bestand. Im Zuge der politischen Ökonomie wurde die Eigendynamik der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur entdeckt, sondern auch als Selbstregulation gegenüber staatlicher Steuerung politisch verteidigt. Namentlich die Physiokraten in Frankreich und die Vertreter des englischen Wirtschaftsliberalismus setzten in die „natürliche Ordnung" der Ökonomie großes 29 Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel, Stuttgart 1977, 25; Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, 158; Rüdiger Bubner, Geschichtsproqesse und Handlungsnormen. Untersuchungen %urpraktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1984, 34. 30 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M. 1998,162ff.; ders., Out of Control. Überdie Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin, Wien 2004, 34; ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006,18—19,23; siehe dazu schon Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Aalen 1977, 46—47.
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Vertrauen. Wenn überhaupt von „Angst" die Rede war, dann bestand sie in der konkreten Befürchtung, dass der erreichte Gipfel der Zivilisation in Frankreich wieder verloren zu gehen drohe, dass also auf den Aufstieg wieder ein Niedergang folge und dass der Fortschritt von Europa nach Amerika weiterziehen könnte. Auch aus systematischen Gründen ist die Rede von der Unverfügbarkeit problematisch. Denn die Geschichtsphilosophen belassen es ja nicht bei der Feststellung, die Geschichte werde von Zufallen beherrscht, sondern bieten dagegen eine kompensatorische Position auf, die immer noch erklärungsbedürftig bleibt. Es stellt sich daher die Frage, warum die negative Teillösung des Nichtplanen-Könnens durch die positive Vorstellung einer Planungsvernunft ersetzt wird, d. h., warum diese Leerstelle überhaupt ausgefüllt wird. Die psychopathologische Begründung verbleibt zu sehr im Analogischen und wird den theoretischen Ansprüchen nicht gerecht. Vor allem aber schreibt sie nur die vermeintliche Ohnmacht der an historischen Prozessen beteiligten Akteure fort, so dass die praktische Dimension der Geschichtsphilosophie auf der Strecke bleibt. Anstatt die Angst vor der Ohnmacht zu verstärken, wende ich mich den handlungsorientierten Strategien der Kontingenzbewältigung zu. Damit lese ich die Philosophie der Geschichte als Teil der praktischen Philosophie.
Teleologie in praktischer Absicht Wie gezeigt, sollte man das metaphorisch gemeinte „Genie" in der Geschichte nicht mit einem realen Subjekt verwechseln. Zweifellos handelt es sich um eine „regulative Idee", also um eine hypothetische Konstruktion. Als Subjekt der Geschichte betrachten die Geschichtsphilosophen vielmehr die menschliche „Gattung" oder die „Menschheit".31 Darunter verstehen sie weder eine abstrakte Totalität noch ein Mega-Individuum, sondern einen konkreten Handlungszusammenhang, der sowohl Tradierung des erworbenen Wissens und Könnens als auch ökonomische, politische und kulturelle Kooperation bedeutet. Die Teleologie drückt nur die Erwartung aus, dass diese Kooperation zum guten Ziel führen möge. Sie stellt die erhoffte kollektive oder politische Vernunft dar, welche die ökonomischen Handlungen in die richtigen Bahnen lenken soll. Insofern enthält sie eine politische Utopie. Nüchtern betrachtet, handelt es sich um die keineswegs triviale Entdeckung der Selbstregulierung sozialer Systeme. Denn mit der Metapher „unsichtbare Hand" verbindet sich die Erkenntnis, dass ökonomische Handlungszusammenhänge von Gesetzmäßigkeiten bestimmt werden. Wie erwähnt, hatten die Wirt31 Turgot, Über die Fortschritte (wie Anm. 1), 140, 169; Kant, Idee einer allgemeinen Geschichte in veitbürgerlicher Absicht (wie Anm. 9), 35, 39ff., 45ff.; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Ders., Werke in 20 Bänden, Bd. 7, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969,419.
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schaftstheoretiker der Aufklärung eine Ahnung davon, dass die Handlungskompetenz der Individuen von einer Kompetenz sozialer Systeme ergänzt zu werden beginnt. Für die Politik folgt aus dieser Einsicht, dass die Rückkehr zur staatlichen Steuerung weder möglich noch wünschenswert erscheint. So wie das politische Handeln auf wirtschaftlichem Feld abgewertet wird, so hat es seine Funktion als Planungsvernunft fur den technisch-ökonomischen Fortschritt im Ganzen verloren. Hinter der Geschichtsteleologie verbirgt sich daher ein völlig neues Problem der Moderne, das erst in der späteren Aufklärung des 18. Jahrhunderts entdeckt wurde. Es besteht in der Differenzierung von Ökonomie und Politik - mit zunehmender Dominanz der Ökonomie und dem Verschwinden der Moral in der Ökonomie. Daraus resultiert der moralphilosophische Überschuss der Geschichtsteleologie. Wenn das Wirtschaftssystem sich selbst reguliert und wenn die politische Regulierung ausgeschlossen bleibt, stellt sich die drängende Frage, wohin diese entfesselte Eigendynamik treibt. Da der ökonomische Mechanismus keinerlei Zwecksetzung enthält, bleibt die Rückbindung an bestimmte Ziele ein Desiderat. Meine These besteht darin, dass die Teleologie die Aufgabe der Vergewisserung eines vernünftigen Zwecks in der Geschichte erfüllen soll. Mit ihr wird die Moral nicht in die Zukunft vertagt, es geht vielmehr darum, den Prozess der Zivilisation normativ einzuholen. Die scheinbar verselbständigten Resultate des wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Fortschritts sollen an menschliche Ziele angebunden werden. Dahinter steht das praktische Interesse einer Humanisierung der bürgerlichen Gesellschaft. In praktischer Perspektive bedeutet Kontingenz, den Möglichkeitshorizont in einem nicht determinierten Wirklichkeitsbereich zu erkunden, d. h. Gegebenes im Hinblick auf mögliches Anderssein auszunutzen. Nicht in der Kompensation von Ohnmachts-Phantasien besteht die Aufgabe, sondern darin, die Spielräume praktischer Eingriffe auszuloten. Im Kontext der Geschichtsphilosophie fragt es sich, ob sich nicht gerade auch in dieser Disziplin Beispiele eines vernünftigen Umgangs mit Kontingenz finden lassen. Statt die bekannten ideologiekritischen Verdächtigungen zu wiederholen, suche ich nach Modellen, die Ansätze einer rationalen Verarbeitung enthalten. Ein solches Modell sehe ich gerade auch in der Teleologie der Geschichte, wenn man dieses Modell vom „Weltgeist" auf die Handlungen von Individuen und Institutionen überträgt. Die Denkfigur der „List der Vernunft" in Hegels Geschichtsphilosophie kann das besonders gut verdeutlichen. Dieser Begriff bezieht sich zunächst auf den Gebrauch der Maschine: Sie lässt „die Natur sich abreiben, sieht ruhig zu und regiert nur mit leichter Mühe das Ganze: List".32 Darin sehe ich ein geeignetes Verfahren, um mit Kontingenz in der Geschichte umzugehen. Denn der Sinn dieser „List" besteht darin, die Kräfte eines Systems
32 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 8, hg. v. der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968, 206.
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so gegeneinander wirken zu lassen, dass sie dem eigenen Zweck dienen. Es kommt darauf an, die Eigendynamik der sozialen Systeme „listig" zu nutzen und in die gewünschte Richtung lenken.33
Normative Dimension Zum politischen Handeln gehören Ziele, an denen man sich orientieren kann. Nun möchte ich zeigen, dass eine solche normative Dimension in der Geschichtsteleologie enthalten ist. Folgt man heutigen Kritikern der Geschichtsphilosophie, scheint deren eigentliches Skandalon darin zu bestehen, dass sie die Moral angeblich verdeckt. Zuerst hat Koselleck die These vertreten, die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts sei aus dem Widerspruch zwischen Politik und Moral hervorgegangen und habe dadurch die ungelösten moralphilosophischen Probleme in die Zukunft vertagt.34 Habermas forderte das Ende der Geschichtsphilosophie mit dem Argument, sie wolle sich an die Stelle der praktischen Philosophie setzen und deren kritische Potentiale usurpieren. Sein Vorwurf lautete, in der Geschichtsphilosophie würden die normativen Geltungsansprüche durch die Faktizität historischer Prozesse ersetzt, was auf eine Legitimierung des Bestehenden hinausliefe.35 Kaum ein Einwand dürfte indessen unbegründeter sein, wie schon ein grober Überblick zu belegen vermag. Bereits bei den französischen und englischen Aufklärern ist die normative Dimension fest verankert, weil sie auch in der Geschichtsphilosophie die Tradition des Naturrechts fortschreiben. Gerade weil sie die starre Trennung zwischen „Naturzustand" und „bürgerlicher Gesellschaft" aufheben, bleiben die naturrechtlich begründeten Normen bestehen und entfalten in der Historiographie ihre kritische Potenz. Dazu zählen ausdrücklich die Menschenrechte wie Freiheit des Individuums sowie rechtliche und soziale Gleichheit der Menschen. Nicht zu unterschätzen ist die Forderung nach Soziabilität, wie sie in der Mitleidsethik bis zur Proklamation der Brüderlichkeit in der Französischen Revolution zum Ausdruck kommt. Ebenso reklamieren die Aufklärer ein ökonomisch definiertes Allgemeinwohl, das möglichst allen Menschen zugute kommen soll. Daran knüpft sich die vorsichtig formulierte Hoffnung, dass
33 Diese Dialektik der Geschichte ist in den Sozialwissenschaften durchaus präsent, wie folgende Beispiele demonstrieren könnten: Ulrich Beck, Rinkogesellschaß. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfort a. Μ. 1986,14ff.; Peter Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, Bern 2001,131ff. 34 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise, Frankfurt a. M. 1973,105ff. 35 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985, 9ff.; ders., Faktiqtät und Geltung. Beiträge qtr Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a. M. 1994, 16-17; vgl. auch Herbert Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg 1974, 41-42; Wolfgang Bialas, Von der Revolution derKJasse %ur Evolution der Vernunft. Vernunftphilosophie in kommunikationstheoretischer Begründung, Frankfurt a. M. 1996,109.
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Wohlstand und bürgerliche Verkehrsformen einen günstigen Einfluss auf Recht, Politik und Moral ausüben mögen.36 Ohne eine Bewertung historischer Ereignisse ist die zentrale Idee des Fortschritts gar nicht denkbar.37 So hat der Fortschrittsbegriff eine sowohl deskriptive als auch evaluative Funktion. Nicht zuletzt die Geschichtserzählung erfüllt eine solche evaluative Funktion, indem bestimmte Veränderungen nicht anders als nach Maßgabe von ethisch gerechtfertigten Zielen beurteilt werden. Von einer „normativen Kraft des Faktischen" kann in der Philosophie der Geschichte also keine Rede sein. Die Geschichtsphilosophie ist normativ und auch ethisch hoch aufgeladen. Es geht nicht darum, faktische Verläufe nachträglich zu legitimieren. Vielmehr stellt sich im geschichtsphilosophischen Diskurs die Frage, wie sich die wie auch immer bestimmten Normen im tatsächlichen historischen Geschehen verwirklichen oder durch welche Anstrengungen sie verwirklicht werden können. Dadurch verschiebt sich der Akzent von der ethischen Begründung zur Problematik der Realisierung. Auf diese Weise hat die Teleologie der Geschichte eine normative Funktion. Bereits bei einer individuellen Handlung stellt der Zweck die Deutung bzw. Interpretation eines bereits erfolgten Ergebnisses dar - ein Zweck, der dann später als Motiv in den Ursprung einer Handlung zurückprojiziert wird. Ahnlich verhält es sich in der Geschichtsphilosophie. Das postulierte Ziel der Geschichte dient der Bewertung vergangener historischer Ereignisse, mit denen sich zugleich Erwartungen an die Zukunft verknüpfen. Zu dieser Bewertung bedarf es eines allgemeinen Maßstabes, anhand dessen die einzelnen Phänomene beurteilt werden können. In diesem Sinn repräsentiert die Fortschrittsidee einen Bewertungsmaßstab. Das behauptete Geschichts-Telos stellt die Norm dar, an der vergangene und künftige Ereignisse gemessen werden. Aus der Perspektive der Moral wird die Norm zum historischen Ziel deklariert. In dieser Umkehrung bestätigt sich die Feststellung, dass die Geschichtsphilosophie der Neuzeit moralphilosophische Inhalte fortschreibt. Die Moral wird verzeitlicht, was nicht bedeutet, sie aufzugeben.
Säkularisierte Heilsgeschichte oder Gesellschaftsmodell? Die Kritik an der Teleologie verbindet sich häufig mit der These, die Geschichtsphilosophie sei nur eine säkularisierte Heilsgeschichte. Nach Löwith und vielen anderen taucht hier die theologische Denkfigur der Vorsehung in säkularer Ge-
36 Jean Le Rond d'Alembert, Einleitung Enzyklopädie, hg. v. Günther Mensching, Frankfurt a. M. 1989, 41. 37 Vgl. Johannes Rohbeck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung, Frankfurt a. M., New York 1987,134135; Friedrich Rapp, Fortschritt. Entwicklung und Sinngebalt einer philosophischen Idee, Darmstadt 1992, 34ff.; Evelyn Gröbl-Steinbach, Fortschrittsidee und rationale Weltgestaltung. Die kulturellen Voraussetzungen des Politischen in der Moderne, Frankfurt a. M. 1994,228ff.
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stalt wieder auf.38 Insbesondere Bossuets Konzept der Heilsgeschichte fungiere als Vorbild für Turgots Philosophie der profanen Geschichte. Darin sehen die Kritiker eine Schwäche, die darin besteht, dass die Geschichte auf ein vorherbestimmtes Ziel fixiert bleibt und nichts wirklich Neues hervorbringt. Doch die Säkularisierungsthese, die hier nicht ausfuhrlich diskutiert werden soll,39 wirft mehr Problem auf, als sie zu lösen verspricht. Zunächst fallt auf, dass die temporale Struktur der Geschichtsdarstellung von Bossuet mit der Heilsgeschichte des Christentums nicht übereinstimmt. Augustinus hatte zwar erstmals die Metapher der Lebensalter durchbrochen und ein lineares Geschichtsbild konzipiert, aber seiner Konzeption zufolge verlief die Geschichte abwärts, bis an ihrem Tiefpunkt das Jüngste Gericht die Erlösung verheißen sollte. Demgegenüber stellt die Geschichte bei Bossuet einen aufsteigenden Pfeil dar. Der inhaltliche Grund besteht darin, dass Bossuet gar keine Heilsgeschichte im augustinischen Sinn erzählt, sondern die Erfolgsgeschichte der katholischen Kirche,40 die sich weltweit ausbreitet, deren „Wahrheit" sich durchsetzt und deren Macht ständig wächst. Diese Kirchengeschichte ähnelt damit der Fortschrittsgeschichte; die Kirche wird als Institution dargestellt, die wie andere soziale Systeme „Fortschritte" zu machen vermag. Offensichtlich hat Bossuet das Modell des Fortschritts aus der profanen in die sakrale Geschichte übernommen. Das ist plausibel, weil die Fortschrittsidee in der frühen Aufklärung, insbesondere in Act Querelle des anciens et des modernes,Αλ bereits vorhanden war und weil er in seiner eigenen profanen Geschichte diese Idee selbst eingearbeitet hat. Wenn hier also eine Übertragung vorliegt, dann wurde nicht die Heilsgeschichte auf die Weltgeschichte, sondern die säkulare Fortschrittsidee auf die „Heilige Geschichte" übertragen. Folgt man dieser Argumentation, ist eine Übertragung der christlichen Heilsgeschichte auf die säkulare Geschichtsphilosophie auszuschließen und damit die Säkularisierungsthese obsolet. Sollte Turgot von Bossuet beeinflusst worden sein, liegt allenfalls eine Rückübertragung vor. Denn die historischen Bedingungen der Fortschrittsidee liegen eindeutig im weltlichen Bereich; wie wir sahen, waren dafür die Entwicklung von Wissenschaft und Technik im 17. Jahrhundert und der soziale Wandel um die Mitte des 18. Jahrhunderts verantwortlich. Insbesondere die technische und ökonomische Dynamik inspirierte die politische 38 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie., Stuttgart 1953, l l f f . , 129ff., 168ff. 35 Zur Diskussion dieser These seien wenigstens erwähnt: Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a. Μ. 1974, 60; Odo Marquard, Schwierigkaten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973,15; vgL Walter Jaeschke, Die Suche nach den eschatologfschen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese, München 1976, 13ff.; demgegenüber Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie ^wischen Bayle und Kant, Basel 2006. 40 Siehe Hans Michael Baumgartner, Philosophie der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie. Bemerkung/m spm gegenwärtigen Stand des gescbichtsphilosopbischen Denkens, in: Herta Nagl-Docekal (Hg.), Der Sinn des Historischen, Frankfurt a. M. 1996,167-168. 41 Bernhard Le Bovier de Fontenelle, Exkurs über die Alten und die Modemen, in: Ders., Philosophische Neuigkeiten fir heute von Welt und fiir Gelehrte. Ausgewählte Schriften, Leipzig 1971,243—259.
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Ökonomie, die wiederum eine maßgebliche Voraussetzung der neuen Geschichtsphilosophie bildete. Dabei war das Modell der Akkumulation von Wissen, Können und Wohlstand leitend. Legt man das Modell der erweiterten Reproduktion zugrunde, lässt sich das Kriterium einer quantitativen Vermehrung von produzierten Gütern sowie von Wissen und Können formulieren. Vor allem ist damit eine am Verhältnis von Aufwand und Nutzen gemessene Steigerung der Effizienz gemeint. Dem entspricht eine qualitative Steigerung, die an Handlungsmodellen aus Wissenschaft und Technik ablesbar ist. Es geht um die Erweiterung von Aktionsspielräumen, die als besser, intensiver und mächtiger erfahren werden. In diesem Gesellschaftsmodell lassen sich auch die Gründe für die genannte Grenze des teleologischen Modells finden. Da die Entwicklung auf der einmal festgelegten Bahn verläuft, lässt die Zielbestimmung keine qualitativen Änderungen zu. Das soziale System entfaltet nur seine bereits vorhandenen Potentiale. Der praktische Grund liegt in der reformistischen Position der Anhänger der Fortschrittsidee. Denn Geschichtsphilosophen wie Voltaire, Turgot und Condorcet oder wie Adam Smith und Ferguson hatten keine Revolution im Sinn, sondern nur die „Perfektionierung" einer bereits etablierten bürgerlichen Gesellschaft. Auf diese Weise korrespondiert die Geschichtsteleologie mit einem gesellschaftlichen Reformismus, der einen offenen Prozess der Geschichte letztlich ausschließt.
WILHELM SCHMIDT-BIGGEMANN
Die Gewalt der Erwartungen Einige theoretische Bemerkungen zur Geschichtsschreibung am Beispiel Condorcets
1. Erzählte Geschichte als Verwaltung von Ereignissen: Feier des Überlebens — Sorge um die Vergangenheit Erzählen ist die Grundform aller Geschichtsschreibung. Aber was wird überhaupt erzählt und warum wird überhaupt erzählt?
a) Wiederholung: Erzählen als Feier der Selbstbehauptung im Ereignis Geschichte kommt nicht ohne Ereignisse aus. Ein Ereignis ist, wenn etwas passiert: das heißt sich unaufhaltsam ankündigt, eintritt und vergeht. „Es" passiert. Dieses Ereignis ist sprachlich unverfügbar; die Sprache macht das Ereignis zur Negativität, zum anderen, zu dem, was sprachlich ständig beredet, intentional angezielt, aber in seiner Realitätsmacht notwendig verfehlt wird. Denn wenn das Ereignis als Anfang begriffen wird, wird es aus dem Unvordenklichen und Unsagbaren des Indifferenten zur Differenz und Fasslichkeit. Aber das gilt nur, wenn es stattgefunden hat und eo ipso nicht mehr nur zukünftig ist. Erst wenn das Ereignis da ist, kann es als etwas identifiziert werden. Ereignis ist also der Umschlag vom Zukünftigen ins Vergangene. Wie sieht das aus? Wer diese Zukunft nicht überlebt, stirbt (definitionsgemäß), wenn das Ereignis eintritt. Das Eintreten eines Ereignisses ist ein Akt von unwiderstehlicher Gewalt - ob man es merkt oder nicht. Die wirkliche, also die wirkende Zeit geht unaufhaltsam weiter; und eines Tages wird jeden die Zukunft besiegt haben. Solange das nicht geschieht, verwalten wir die Zeit der vergangenen Ereignisse in Erzählungen; sie werden erzählt, weil uns die vergangene Zukunft eben nicht besiegt hat. In der Erzählung feiern wir die vergangenen Ereignisse. Der Akt des Erzählens ist deshalb selbst ein Akt der Zeitigung, der die Vergangenheit ständig neu inszeniert. In diesem Akt wird ständig dargestellt, wie das Ereignis, der Sprung von der beängstigenden Möglichkeit des Zukünftigen in die Realität, überstanden worden ist, indem das Ereignis in seiner Zeitigung und der begrifflichen Bewältigung als vergangenes gegenwärtig gesetzt wird. Der entscheidende Grund der Erzählung ist die Inszenierung und Feier der Selbstbehauptung. Das bedeutet: Der Moment, in dem der unaufhebbare Hiatus zwischen Möglichkeit und Realität durch den Sprung der Zeit von der Zukunft in die Gegenwart als Moment absoluter Gewalt sich ereignete, dieser Moment
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des Ereignisses ist vom Ich überstanden worden. Im Akt des Erzählens wird dieser Sprung gegenwärtig gesetzt und gefeiert, sei es in Trauer oder Freude, sei es in Entsetzen oder Entzücken, sei es als Farce. Der, der seine Geschichte erzählt, kann diesen Sprung von der Möglichkeit in die Wirklichkeit mit seiner eigenen Geschichte erzählen: es wird deutlich, wie seine Erwartungen waren, ob, und wie er von dem, was auf ihn zukam, überrascht wurde, ob er vom Zukünftigen beglückt oder geschädigt wurde, ob sich schon vorher zeigte, was in der Realisierung absolut und unausweichlich wurde; wie und warum er „es" überstanden hatte. Und je nach dem dieses Überstehen der Ankunft der absoluten Realität aussieht, ist das Erzählen eine Siegesfeier über das Realwerden des vorher noch Kontingenten, oder eine Trauerfeier über die Verletzungen, oder ein Nachschrei des Entsetzens, eine Farce- oder ein Trauerspiel. Allemal geht es um Selbstbehauptung: als Heldengeschichte, als Leidensgeschichte, als Versuch, sich selbst als Dasein in dieser Situation nicht so wichtig zu nehmen, als Tragödie, wo die Zukunft die Erwartungen durchkreuzt und die Betroffenen verstört und zerstört. Noch die Tragik ist die Anzeige davon, dass das Bestehen der Zukunft ein Akt der Selbstbehauptung ist - denn nur wenn man ihr standgehalten hat, dann kann man von der Realität erzählen. Die Zeit, die sich ereignete, wird in dieser Erzählung nicht aufgehoben, sondern inszeniert und geradezu sakramental vergegenwärtigt. Da es ums Bestehen geht, ist das Geschichtenerzählen der eigentliche Akt des Verstehens der eigenen Gewordenheit. Kulte und Mythen sind kollektive Feiern der Selbstbehauptung, das gilt für die griechischen wie für die jüdisch-christlichen. Sie werden in der dritten, der sozusagen objektiven Kollektivperson erzählt. Die eröffnet die Möglichkeit der gewissermaßen distanzierten Zugehörigkeit und Identifikation des Zuhörers mit dem Erzählten als „seine Geschichte". So werden Mythen durch ständiges Wiedererzählen zu Erzählmustern, die Gemeinschaft erzeugen - die Gemeinschaft, der die zugehören, die sich als die begreifen, die „es", das Ereignis, überstanden haben. Diese Kollektivierung durch Erzählungen ist der Grund für den Erfolg der Geschichtswissenschaft: Hier werden die Geschichten geschrieben, die die Feier der Selbstbehauptung (inklusive Schrecken und Verzweiflung) bestimmen. Das Darstellen und Erzählen von Tragödien ist schon als Erzählen entlastend: Es zeigt, dass der Erzähler es überlebt hat und sich darstellend, kultisch und erzählend mit dem Ereignis auseinandersetzen kann — und Auseinander-Setzen ist Distanzierung. Erzählte Mythen sind bereits als Erzählung Sublimation und Rationalisierung von Kult; ihr Charakter ist topisch. Sei verwalten eine Vergangenheit, die nicht mehr individualisiert werden kann und sind deshalb in ihrem Zeitbezug nicht mehr fassbar. Topische Erzählschemata können auf Vergangenheit und Zukunftserwartungen gleichermaßen angewandt werden. Das macht ihren so genannten „Ewigkeitscharakter" aus. Dieser Prozess von der individuellen Erzählung zum topischen Schema bleibt wissenschaftlich unkontrolliert, wenn ihn die Geschichtsphilosophie nicht bedachtsam verwaltet.
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b) Formale Merkmale der Erzählung Zwei Merkmale bestimmen jede Erzählung: 1. Die Erzählung inszeniert Zeitfolge - dieses Moment wird sie nicht los. Eine Erzählung ist deshalb immer zeitlich. 2. Die Erzählung geht auf ein Ganzes. Als solches hat sie einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Als bewusst erzählte ist sie auf ein Ende hin konzipiert, das vom gelungenen oder misslungenen Überleben und Bewältigen handelt. So verstanden schreiben nur Sieger Geschichte. Das Ende bestimmt die Binnenstruktur des Ganzen, vom Ende her bekommt eine Geschichte ihren Sinn. Und selbst dann, wenn eine Erzählung „offen" gestaltet ist, ist es das Fehlen des Endes, das sich als Merkmal des Sinns oder als das Spielen damit zeigt. Je „realistischer" sie ist, desto mehr wird die Individualität der Zeitlichkeit inszeniert und desto besser wird diese Konstruktion vom Ende her verborgen - denn das Individuelle ist ja das Ereignishaft-Zeitliche, das sich in der Differenz zeigte; aber darstellbar wird es nur im Ganzen. Diese heimlich finale Struktur ist eine Bedingung von Verstehen überhaupt. Deshalb ist Erzählung verstandene Inszenierung der Zeitlichkeit. Diese doppelte Konstitution: dass sie notwendig zeitlich ist, und dass sie vom Ende her konzipiert ist, macht die Erzählung zum Analogon der Sorge. Denn auch die Sorge kümmert sich um das Ende, um die Gegenwart des Zeitlichen zu verstehen. Erzählung hat also einen Doppelcharakter: Sie ist formal das Abbild der Sorge; und in ihrer unaufhebbaren Zeitlichkeit ist sie die verstandene Inszenierung des Ereignisses. In dieser Analogie zur Sorge ist sie auch final im Sinne
von Handlung: Omne agens agit propterfinem. c) Εreigniser^ählung und
Erwartungsschema
Erzählungen aus der Vergangenheit sind individualisierend, denn sie beanspruchen, von der Realität zu berichten. Ihr Pathos ist die Empirie. Werden Geschichten auf die Zukunft angewandt, verlieren sie diesen individualisierenden Status: Sie werden zu Schemata für die Zukunft. Erwartungen an die Zukunft sind schematisch; die Erzählungen der Vergangenheit sind individualisierend, weil sie sich auf Ereignisse beziehen. Die Wechsel zwischen individualisierender Sorge um die Vergangenheit in der Erzählung und der Erwartung der Zukunft durch Schemata geschieht im Umschlagpunkt des gegenwärtigen, die Zukunft erwartenden Daseins. Geschichtliche Ereignisse müssen individualisierend beschrieben werden, damit sie als real, eben empirisch gelten. Sie müssen deshalb real sein, weil nur im Falle ihrer Realität unterstellt werden kann, dass die Schemata, die aus ihnen gewonnen werden können, vertrauenswürdig sind. Mit dem Umschlag von der Sorge um die Vergangenheit zum Erwartungsschema wird die Erzählung als individuelle Feier der Selbstbehauptung entindividualisiert. Die Möglichkeit dazu ist dadurch gegeben, dass das Versprachlichen des Ereignisses immer schon eine Verallgemeinerung darstellt. Deshalb sind Geschichten im Prinzip verallgemeinerbar. Werden Geschichten erzählt, damit man „etwas lernt", damit sie also zukunftsgeeignet werden, dann werden sie sorgend
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erzählt und bekommen die Tendenz zum Abstrakten. Das ist der Ursprung der „lehrreichen" Mustergeschichten. Diese interpretieren die eigene Situation so, dass sie verallgemeinerte Erfahrungen als ständige Zukunftsschematisierungen aus erfahrener Ereignisverwaltung auffassen. Lehrreiche Mustergeschichten, die „ewig wahr" sind, verstetigen also die Erwartungen an die Zukunft — im Bezug auf Bekömmlichkeit. Diese Schemen-Funktion macht die Rolle der Mustergeschichten deutlich: Sie verlieren durch Abstraktion die historische Individualität und erreichen durch diesen Verlust eine vieldeutige Offenheit als Schema, die sie für Zukunftserwartungen geeignet macht. Zukunftserwartungen machen Geschichten schematisch, weil sie nur mögliche Szenarien darstellen; aus solchen schematisierten Erfahrungsszenarien werden Topoi.
d) Individuelles Ereignis und Erwartungsschema Auf die Individualität von Ereignissen, die als Individualität prinzipiell unfassbar ist, kann immer nur sprachlich (oder bildlich) verwiesen werden. In dem Moment, wo dieser Verweis stattfindet, ist das Ereignis selbst vorbei und „überlebt" nur sekundär in eben diesem sprachlichen oder bildlichen Verweis. Das heißt, in dem verweisenden Bezug auf ein Ereignis wird nicht nur die unfassliche Individualität des Ereignisses indiziert, sondern auch die Zeitlichkeit dieses individuierenden Erkenntnisprozesses festgestellt. In diesem strikt geschichtsphilosophischen Sinn konstituiert die sprachliche und ikonische Verwaltung den Begriff und die Zeitlichkeit eben dieses Ereignisses - sie bringt es gleichermaßen zur Erscheinung und zum Verschwinden. Der Prozess des Erzählens — der nicht vorschnell mit den literarischen Erzählformen identifiziert werden sollte — bringt wegen der unumkehrbaren Zeitlichkeit eben dieses Erzählprozesses die vergegenwärtigte Geschichte in ihrer vergangenen Einmaligkeit zur Erscheinung — bzw. in die Imagination. In dieser ,Wieder-Holung' wird das individuelle Ereignis notwendig entindividualisiert, verdoppelt und schematisiert. Das Ereignis steht immer paradigmatisch für etwas. Die Erzählung ist immer mimetisch, sie zielt intentional auf das Ereignis und nur, wenn es als historische Individualität, das heißt als Realität genommen wird, bekommt das Schema die Autorität, von ,wirklich Geschehenem' gewonnen zu sein. Nur dann kann es als Erwartungsschema für kommende Realitäten dienen. Damit wird das individuelle Ereignis, das in seiner Einmaligkeit nur intentional gefasst werden kann, paradoxerweise verallgemeinert. In der Nach-Erzählung ist die Geschichte je schon typologisiert. Diese typologisierten Erzählungen benutzen traditionelle Inhalte und Bauformen und variieren sie — hier liegt die spezifische Bedeutung der literarischen Narrationstheorie und Topik. Als topische Schemen der Zukunftserwartungen verlieren die Geschichten ihre Individualität. Sie werden zu Folgemustern und, wenn noch weiter abstrahiert, zu beinahe statischen Schemata. Topoi sind in diesem Sinne einerseits Erfahrungsschemata, die Vergangenheit verwalten, sie sind andererseits Erwartungsschemata und damit zukunftsorientiert: In diesem Sinne konstituieren sie
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die Zeitlichkeit im Wissensprozess. Die Zeitlichkeit des Wissensprozesses ist nicht dieselbe wie im historischen Ereignis, ihr fehlt der strikte Charakter der Kontingenz. Aber beide Prozesse zielen auf den Sinn in der Zeit - in diesem Sinn ist Topik immer geschichtlich.
e) Die Weltgeschichte und das erhoffte Gute Topik verhindert also nicht Geschichte, sondern verwaltet und strukturiert sie. Deshalb stellt sich die Frage, wie sich Topik und Geschichte zueinander verhalten. Geschichte erschließt sich uns in Form von Geschichten, die über sie erzählt werden. Deshalb zunächst zurück zur Geschichte und zur Geschichtsschreibung, zwischen denen ich keinen Unterschied ausmachen kann. Geschichte ist, auch wenn sie sich objektiv ereignet, uns doch nur durch Wiederholung — durch Kult, Mythos, Drama und Erzählung zugänglich und verfügbar.
f ) Die Form der Erzählung: Anfang — Mitte — Ende Ein Ganzes ist, was einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Was ein Ende hat, hat auch einen Anfang und eine Mitte. Jede Geschichte ist also die Inszenierung der Zeit als eines Ganzen, das seinen Sinn vom Ende her bekommt und wo der Weg zum Ende durch Binnenverknüpfung dargestellt wird. Nur der kann schließlich erzählen, der „es hinter sich hat", der also überlebt hat. Als Sorge um die Vergangenheit ist die Erzählung die individuierende Feier des Ereignisses, gleichgültig, ob es sich um eine fiktive oder reale Geschichte handelt. Als Geschichte, die einen dergestalt angeht, dass man immer noch ihr Teil ist, reicht sie über die Feier der Selbstbehauptung im Ereignis hinaus, indem sie Träger von Zukunftserwartungen wird. Eine solche Geschichte verbindet also die Feier des gewesenen Ereignisses mit der Sorge um die erwartete Zukunft. Damit bekommen Anfang, Mitte und Ende eine neue Dimension: Das Ende der erwarteten Geschichte ist das zukünftige Ende und ist mit der Hoffnung verbunden, dass es bekömmlich sei. Das gilt für alle Geschichten: Solange Geschichten performativ erzählt werden, inszenieren sie Zeit und damit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Uber Vergangenheit kann berichtet werden, weil sie real war — das ist das Pathos der Empirie. Die Gegenwart kann nur erschlossen werden, wenn sie als Vergangenheit zugänglich ist, wenn klar ist, was in ihr wirklich wurde und was „sich" an erwarteten Möglichkeiten nicht realisierte. Die Zukunft ist kontingent - in dem Sinne, dass eintreten wird, was eintritt — unabhängig von unseren Erwartungen. Gerade deshalb sind die Erwartungen so wichtig: Die Erfahrungsschemata, also die Topoi, mit denen wir die Zukunft erwarten, sind zugleich das Arsenal, mit dem wir sie zu bestehen hoffen. In diesem Sinne hat das Reden über die Zukunft den Charakter der interessierten Vorwegnahme; seine Gattung ist die Prophetie. Propheten denken vom zukünftigen Ende her. Das gilt nicht nur für Propheten: Solange Menschen glauben, Geschichte zu machen, sind sie zwangsläufig optimistisch, denn als Handelnde gilt für sie: Omne agens agit propter finem. Aber
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machen Menschen Geschichte wirklich gut? Was heißt geschichtsphilosophisch: Ende gut alles gut? Und was ist das Gute in der Geschichte? Formal das, bei dem sie sich beruhigt. Das Gute will erfüllt sein; semantisch ist „gut" kein rein deskriptiver Begriff, sondern einer, der Ansprüche ans Handeln stellt, einer, der erfüllt werden will. Das Gute ist solange wirksam, bis es erfüllt ist und das Böse absorbiert hat. Erst dann gibt es keinen Veränderungsdruck mehr. Wenn alles gut ist, endet die Zeit.
2. Condorcet als Beispiel für eine Konstruktion der Geschichte aus der Erwartung Condorcets Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain muss von hinten, von der Verwirklichung des Guten gelesen werden; unter diesen Bedingungen werden viele seiner sonst oberflächlichen und leichtsinnigen Behauptungen verständlich. Denn die Erwartungen sind die .Moral von der Geschieht', und das ist, was man als beständig — also zukunftstauglich befindet. a) Eine paradigmatisch-symbolische Biographie Condorcets Biographie illustriert die Macht der Erwartungsschemata. Selbst unter den Schwierigkeiten, die ihm die Revolution bereitete, hielt er an deren Zielen das heißt den Zukunftsschemata - fest, für die er sein Leben ließ. Die Revolution, deren Ziele er vergötterte, zerstörte ihn und machte zugleich seine Lehren zu ihrer geschichtsphilosophischen Dogmatik. 1743 geboren machte er eine glänzende Karriere im Annen Regime. Nach dem Studium im College de Navarre wurde er als Mathematiker 1770 Mitglied, 1773 Hilfssekretär und 1785 Sekretär der Academie des sciences. Als Ökonom war er einer der führenden Theoretiker der Physiokraten.1 Er gab 1776 Pascals Pensees mit einer Eloge heraus, brillierte als Geschichtsschreiber und Biograph2 und schrieb Abhandlungen zu Verfassungsfragen3. Von Beginn an hat er die Französische Revolution unterstützt: 1790 gründete er mit dem Abbe de Sieyes die Societe de 1789,1791 wählte Paris ihn als Abgeordneten in die gesetzgebende Versammlung, 1792 war er Sprecher der Unterrichtskommission. In dieser Funktion unterbreitete er Vorschläge zur Reorganisation des Schulwesens. 1793 stimmte er als Abgeordneter des Konvents gegen die Todesstrafe für den König und gegen die eilig neu ausgearbeitete Verfassung. Er ließ eine Flugschrift drucken: Aux citoyens franfais sur la nouvelle constitution, 1 Jean-Antoine-Nicolas marquis de Caritat Condorcet, Lettre d'un laboureur de Picardie α Μ Ν. INeckerj, auteurprohibitif, d Paris, s. 1. 1775. 2 Jean-Antoine-Nicolas marquis de Caritat Condorcet, Eloge de Michel de I'Höpital, chancelier de France, discourspresented l'AcademieJranfaise en 1777, Paris 1777; ders., Vie de Turgot, London 1786; ders., De I'influence de la Revolution d'Amerique sur l'Europe, Paris 1788; ders., Vie de Voltaire, Kehl 1785 (Paris 1994). 3 Jean-Antoine-Nicolas marquis de Caritat Condorcet, Essai sur la constitution et les fonetions des assemblies provinciates, s. 1. 1788.
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wurde von Fra^ois Chabot im Namen des Sicherheitsausschusses denunziert und am 3. Oktober für vogelfrei erklärt. Sein Vermögen wurde beschlagnahmt und sein Name auf die Liste der Emigranten gesetzt. Condorcet tauchte unter. In dieser Zeit konzipierte er sein Tableau historique des progres de l'esprit humain. In großer Eile verfasste er eine Esquisse und stellte das erste, fünfte und zehnte Buch fragmentarisch zusammen. Am 25. März 1794 verlässt Condorcet sein Versteck, begibt sich nach Fontenay les Roses, verbringt hungernd und frierend zwei Nächte und einen Tag in den Steinbrüchen von Montrouge. In einem Gasthaus, wo er wegen seiner Verwirrung Aufsehen erregt, wird er, der keinen Ausweis hat, festgenommen und interniert. Am nächsten Morgen, dem 28. März 1794, stirbt er im Gefängnis. Nach dem Ende der Grande Terreur wurde er 1795 rehabilitiert; der Konvent gab seine Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain heraus und ließ sie an die Abgeordneten verteilen. Damit wurde dieses Buch zur „offiziellen" Menschheitsgeschichte der thermidorianischen Republik. Condorcets Biographie zeigt, wie jemand, den die revolutionären Ereignisse zerstörten und der die Zukunft nicht überstand, gleichwohl bis zu seiner physischen Zerstörung an Erwartungsmustern festhielt, die durch die persönliche Realität Lügen gestraft wurden. Er blieb auch dann noch Revolutionär, als die Revolution ihr Kind fraß. Condorcets Erwartungsmuster haben seine Biographie überstanden, sie sind zur Mustergeschichte des Weltenverlaufs geworden und haben den Revolutions-Mythos des unaufhaltsamen Fortschritts stabilisiert, der seinen Kredit aus der Zukunft gewinnt. b) Mustergeschichte und Mythos des Fortschritts Condorcet ist strikter Sensualist; zugleich Mathematiker; darüber, wie diese beiden Überzeugungen zusammenpassen, hat er sich möglicherweise keine Gedanken gemacht. Fortschritt des menschlichen Geistes ist für ihn definiert als die Summe der Fortschritte der Individuen; zeitlich ist jeder folgende Moment vom vorherigen abhängig — Fortschritt ist also stetig - und so stellt sich Condorcet den progres humain mathematisierbar vor. Er stellt fest: „Die Betrachtung dessen, was der Mensch war, und dessen was er heute ist, wird dann zu den Mitteln führen, die weiteren Fortschritte, die seine Natur ihn noch erhoffen lässt, zu sichern und zu beschleunigen."4 Das ist Zukunftsfrömmigkeit; Aufgabe der Geschichte ist die Erfüllung der ganz technisch verstandenen Zukunftshoffnungen durch die Ausschöpfung der menschlichen Fähigkeiten. „Dies ist die Absicht des Werkes, das ich in Angriff genommen habe; und sein Ergebnis wird sein, durch Vernunftschlüsse und den historischen Fakten gemäß darzutun", „que la nature n'a marque aucun terme au perfectionnement des facultes humaines; que la perfection
4 Jean-Antoine-Nicolas marquis de Caritat Condorcet, Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain (1794), Paris 1988, Dt.: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, hg. v. Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1963, 29-30.
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est reellement indefinie".5 Die Betonung der historischen Fakten ist für den Empiristen wesentlich; die „Vernunftschlüsse" sind für ihn diejenigen Methoden, die aus den historischen Fakten Erwartungsmuster für die Zukunft machen. Die Kontingenz der Zukunft ist dabei völlig außerhalb von Condorcets Horizont. Die Grenzen seines Fortschritts sind der zeitliche Bestand der Menschheit und die Endlichkeit des Planeten. Der Fortschritt kann höchstens schneller oder langsamer erfolgen; „doch niemals werden es Rückschritte sein, wenigstens solange die Erde ihren Platz im System des Universums behält".6 Condorcet konzipiert seine Fortschrittsgeschichte in drei Tableaus. Nach seinem eigenen Anspruch müssten diese Stufen der Menschheitsgeschichte empirisch belegt sein. Das ist deshalb nötig, weil nur durch den Realitätsanspruch der Vergangenheitserzählungen der Anspruch gewonnen werden kann, die daraus gewonnenen „Vernunftschlüsse" seien Garant für eine Zukunftszähmung. Allerdings ist dieser Empirieanspruch prinzipiell nur zu geringen Teilen einlösbar; er hat eine andere Bedeutung: Empirismus bedeutet bei Condorcet vornehmlich den Ausschluss von Theologie. Condorcet teilt seine Weltgeschichte in drei Tableaus und zehn Epochen ein: Das erste Tableau, die Urgeschichte, umfasst drei Epochen: 1. Die Menschen vereinigen sich zu Stämmen. 2. Aus Hirten werden Ackerbauern. 3. Fortschritte der Ackerbauvölker bis zur Erfindung der alphabetischen Schrift. Auf dieser Entwicklungsstufe vervollkommnet die Menschheit ihre „habilite" und „adresse personelle".7 Im Gegensatz zu Rousseau geht Condorcet von der Ursprünglichkeit des Eigentums aus. Deshalb ist die erste Epoche lange stabil. Die zweite entsteht dadurch, dass kleine Erbschaften die Nachkommen allmählich in die Lage versetzen, Überfluss an bestimmten Dingen zu akkumulieren; die anderen empfinden ihren Mangel; ein Teil des Überflusses wird in Arbeit umgesetzt. Dadurch kommen Luxus und mit ihm neue Wünsche auf: Der Gewerbefleiß erwacht. Die ausgedehnteren Beziehungen, die so entstehen, „lassen das Bedürfnis nach einem Mittel verspüren, um ihre Gedanken Abwesenden mitzuteilen, die Erinnerung an eine Tatsache oder Begebenheit genauer als durch mündliche Überlieferung festzulegen, die Bedingungen eines Vertrages sicherer als durch das Gedächtnis von Zeugen festzuhalten und jene anerkannten Gebräuche, nach denen ihrer Übereinkunft gemäß die Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft ihr Verhalten richten, auf eine weniger der Veränderung ausgesetzte Weise zu überliefern".8 Aus Bilderschrift, die ursprünglich ist, wird Buchstabenschrift. Welches ist eigentlich der „Realitätsanspruch" dieser Empirie? Wer war dabei? Die am Ziel der Kulturentwicklung ausgewählten Mustergeschichten sind sämtlich überindividuell und abstrakt. Im Einzelnen haben sie den Charakter von Zeitraffer-Mustern. Dadurch wird der zeitigende Charakter dieser Erzählungen Ebd. Ebd. 7 Ebd., 30-31. 8 Ebd., 32-33. 5 6
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nicht aufgehoben; der Fortschritt bleibt ein Zeitphänomen. Empirisch im Sinne von Erfahrungswissen ist an diesen abstrakten Erzählungen wenig, es handelt sich vielmehr um topische Konjekturen, die u. a. aus der ökonomischen Theorie gewonnen und auf die Geschichte übertragen wurden. Wichtig ist der Naturalismus - Condorcet verzichtet völlig auf die alten weltgeschichtlichen Muster der Paradiesvorstellung und des transzendenten Heilsversprechens. Sein Heil ist von dieser Welt. Das zweite Tableau umfasst die Geschichte, die historisch belegbar ist. Erzählt werden muss die Geschichte der Fakten, die bekommen nur in einer Erzählung Sinn. Auch wenn die Geschichtsschreibung auf Realitäten verweist, werden diese nur in der Erzählung fassbar. Hier sind Geschichtsschreibung und Geschichte erneut ununterscheidbar. Condorcet erzählt in diesem Tableau die Geschichte des wissenschaftlichen Fortschritts; Naturwissenschaft und Mathematik sind für ihn das Ziel, auf das er seine Geschichte ausrichtet. Sie ist ganz als Handlung des Menschen gefasst — in diesem Sinne ist sipropter finem. Am Ende erweist sich das Gute, das in Natur und Vernunft besteht, und das Wahre, das das Wahre der Wissenschaft ist, auch als das Wirksame. Die Menschheitsgeschichte des zweiten Tableaus umfasst die Perioden vier bis neun. Zunächst wird in drei Perioden das Drama des Aufstiegs und Niedergangs der antiken Wissenschaft inszeniert: die vierte Periode umfasst die Fortschritte des menschlichen Geistes in Griechenland bis zur Differenzierung der Wissenschaften im Zeitalter Alexanders des Großen, die fünfte die Ausarbeitung der wissenschaftlichen Disziplinen und ihren Verfall; die sechste schließlich den „Niedergang der Aufklärung" bis zur Erneuerung der Wissenschaften zur Zeit der Kreuzzüge. Condorcet übernimmt seine Erzählmuster u. a. aus Voltaires Essay sur /es maurs et l'esprit des nations und aus Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire. In der griechisch dominierten Kultur seien Mathematik und empirische Wissenschaften, repräsentiert von Piaton und Aristoteles, die leitenden Disziplinen. Das Christentum und seine klerikalen Institutionen, Priester und Päpste, hätten den innern Zusammenhang der griechisch-römischen Kultur in Europa und in einigen Ländern des Morgenlandes zerstört: „Lä, les pretres etaient les juges de la morale: la vertu consistait dans l'obeissance ä la volonte d'un dieu, dont ils se disaint les seuls interpretes. Leur empire s'etendait sur l'homme tout entier, le temple se confondait avec la patrie; on etait adorateur de Jehova et de Jesus, avant d'etre citoyen ou sujet de l'empire; et les pretres decidaient ä quelles lois humaines leur dieu permettat d'obeir."9 Die Priesterbetrugs- und -herrschaftsthese wird breit ausgewalzt; dieser Topos enthält die Kampfansage der Profangeschichtsschreibung an die Heilsgeschichtsschreibung. Gerade hier zeigt sich bei Condorcet allerdings, dass auch er Heilsgeschichte schreibt. Er konkurriert mit der christlich-jüdischen Geschichtskonzeption - das Ziel ist beidemal ähnlich: Es geht um die endzeitliche Verwirklichung des Glücks der Menschen.
«Ebd., 150-151.
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Die Völkerwanderung, so die Fortsetzung des Tableaus, habe die griechischrömische Kultur restlos zerstört. Erst durch die Kultur des Islam, der die griechischen Traditionen bewahrt und weiterentwickelt habe, sei der Rückschritt aufgehalten worden. Ahnlich wie in Montesquieus heitres Persannes wird hier die ganze antiklerikale Tradition der französischen Geschichtsschreibung bedient, ohne das Konzept der Heilsgeschichte insgesamt aufzugeben. Vom dunklen Mittelalter an geht es nun aufwärts: Die siebte Epoche reicht von der ersten Wiederherstellung der Wissenschaften bis zur Erfindung des Buchdrucks, die achte von der Erfindung des Buchdrucks bis zu der Zeit, wo sich die Wissenschaften „vom Joch der Autorität frei gemacht" hätten. Diese beiden Epochen bilden den dramatischen Anfang der guten neuen Zeit: Die Erfindung des Buchdrucks und — paradoxerweise - die Eroberung Konstantinopels durch die Türken hätten zu verbesserten Kenntnissen der griechischen Wissenschaft gefuhrt. Zugleich ereignete sich die Entdeckung Amerikas; und hier wird nun die Legenda negra der spanischen Geschichte, wie sie Diderot und Raynal in der Histoire des deux Indes dargestellt haben, wieder aufgegriffen: „War es der edle Entdeckertrieb, der die Heroen der Seefahrt beseelt hatte, so waren es niedrige und grausame Habgier, stupider und wilder Fanatismus, der die Könige und Räuber bestimmte, aus den Mühen jener Profit zu ziehen. Die unglücklichen Bewohner der neu entdeckten Weltgegenden wurden keineswegs wie Menschen behandelt, denn sie waren keine Christen."10 Die Reformation beendet die weltweite Willkürherrschaft des Papstes. „Bis zu dieser Epoche waren die Anschläge des Klerus (attentats du sacerdoce) straflos geblieben."11 In Condorcets Antikatholizismus müssen die Positionen Luthers als Argumente für das Verbot des Katholizismus in der Französischen Republik herhalten. Luther wies „auf das vom Papst angemaßte Recht hin, von Verbrechen los zu sprechen und seine Vergebung zu verkaufen; auf die vermessene Herrschaft, die der Papst über die ihm einstmals gleichgestellten Bischöfe ausübte; auf das brüderliche Mahl der ersten Christen, welches unter der Bezeichnung der Messe ein magisches Ritual und Gegenstand des Handels geworden sei"; die Priester seien verdammt gewesen „ä la corruption d'un celibat irrevocable". Die Kirche sei den Orden ausgeliefert gewesen, die dem Papst in die Hände gearbeitet hätten. Die Beichte sei der Zwang, alle Geheimnisse zu offenbaren „aux intrigues et aux passions des pretres".12 Diese Gemeinplätze entsprechen präzise der antikatholischen Propaganda der Französischen Revolution. Das gilt auch im Positiven: Der Verfolgung der unaufhaltsam fortschreitenden Wissenschaft korrespondieren die „Märtyrer der Denkfreiheit"13, denn in dieser Periode „bedeckte die Heuchelei Europa mit
10 11 12 13
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
214-215. 216-217. 218-219. 225.
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Scheiterhaufen und bevölkerte es mit Mördern" 14 . Condorcet schwankt in seiner Topik hier zwischen den Mustern „Ketzer sind an sich Heilige" und „der wissenschaftliche Fortschritt ist unaufhaltsam". Manchmal scheint er eine Revolutionsdialektik zu entwickeln: je schlimmer die Umstände, desto größer die Fortschritte. So integriert er die Erfindung der Logarithmen, Galileis Bewegungslehre, die Astronomie von Kopernikus und Kepler, 15 aber auch die neue Bedeutung der Philologie16 umstandslos in die Geschichte der Verfolgungen der Wahrheit17: Bacon, Galilei und Descartes werden so gleichermaßen zu szientistischen Heiligen.18 Condorcet feiert in seiner neunten Epoche, die von Descartes bis zur Entstehung der Französischen Republik reicht, gleichermaßen die Aufklärung wie die Hegemonie der französischen Nation. In dieser Epoche seien die Fortschritte in der politischen Theorie und Ökonomie unübersehbar; und eine gute Ökonomie schaffe Freiräume für Staatsbürger. In der Philosophie wird Locke als Erlöser gefeiert, Leibniz als Genie der Mathematik, die amerikanische Revolution, an die die französische sich anschließt, als Freiheitsfanal der Menschheit.19 Die mathematischen und astronomischen Entdeckungen sowie die chemischen und medizinischen Erfindungen sind für Condorcet Hauptindizien des technischhumanen Fortschritts, der sämtlich auf Empirie beruhe und deshalb als Realität zukunftstauglich sei. Vor allem wird die soziale Zukunftstauglichkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung gepriesen, die Condorcet für seine Versicherungsmathematik braucht. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist die mathematische Garantie für die Tauglichkeit von Erwartungsmustern. Die Versicherungsmathematik ist der Versuch, durch wissenschaftliche Methoden die Kontingenz des Zukünftigen zu minimalisieren; und wenn das für den je Einzelnen nicht immer zutrifft, dann wenigstens für das Kollektiv. Das ganze zweite Tableau erzählt von den Siegen über Aberglauben und Despotie und feiert damit die Ereignisse, die der Zukunft ihren Schrecken nehmen. „Von der Epoche an, da die alphabetische Schrift in Griechenland bekannt wurde, bis auf unsere Zeit, bis auf den gegenwärtigen Zustand der Menschheit in den aufgeklärtesten Ländern Europas, reicht eine Folge von Tatsachen und Beobachtungen (faits et observations) in ununterbrochener geschichtlicher Verbindung; [...] La philosophic n'a plus rien a deviner, n'a plus de combinaisons hypothetiques ä former; il suffit de rassembler, d'ordonner les faits, et de montrer des verites utiles qui naissent de leur enchainement et de leur ensemble." Das ist das empiristische Bild der Weltgeschichte: unendlicher Fortschritt anstelle des Weltgerichts, eine scheinbar offene Geschichte, die durch ihre Hoffnungen, die auf Verwirklichung drängen, gleichwohl ein Ziel, damit ihre Gänze und ihr Ende beEbd., 234-235. Ebd., 234-237. " Ebd., 238. 17 Ebd., 246. '«Ebd. 19 Ebd., 252-295. 14
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kommt. Und diese glückliche Vollendung der Menschheit stellt Condorcet im dritten Tableau dar. Das dritte Tableau liefert die Erwartungsschemata, mit denen Condorcet die Zukunft bereits bewältigt sieht. Es umfasst allein die zehnte Epoche und handelt von den künftigen Fortschritten des menschlichen Geistes. Die Prophetie der profanen Heilsgeschichte lautet: Mathematik und Technik stehen im Dienste einer gerechten Humanität. Die Fortschritte des letzten Stadiums - „que la constance des lois de la nature semble leur assurer" - sind zukünftigen Generationen vorbehalten.20 Der Übergang von Erfahrungstopoi in Natur-Gesetzmäßigkeiten ist eine der Folgen der Naturalisierung von Geschichte. So hofft Condorcet, dass „das, was heute unbegründete Hoffnung sein mag, nach und nach möglich, ja selbst leicht werden muss, wenn erst die Vorurteile überwunden sind - d. h., wenn das scientistische Erziehungsprogramm durchgeführt ist und Erfolge zeitigt; und dieser Erfolg wird darin bestehen, dass „la verite seule doit obtenir un triomphe durable; par quels liens la nature a indissolublement uni les proges des lumieres et ceux de la liberte, de la vertu, du respect pour les droits naturels de l'homme".21 Was feiert Condorcet in seiner Geschichtsphilosophie? Er feiert offensichtlich die Topoi der Französischen Revolution: 1. Er feiert die Hauptmythen der naturwissenschaftlichen Heilsgeschichte, das Uberstehen der Bedrohungen durch Papsttum und katholische Kirche, die immer wieder erneut die wahre und freie Naturwissenschaft bedrohten und unterdrückten. Die neuen Heiligen stehen für die ewigen Wahrheiten einer verlässlichen, apokalypsefreie Natur: Kopernikus, Bruno und Galilei. 2. Er feiert die neue Religion des naturalisierten Humanismus. Das ist der prophetisch-konjektural vorhergesehene Endsieg der Revolution. Denn Condorcet erwartet von den Naturwissenschaften und der Mathematik die Freiheit vom Despotismus durch technische Beglückung. Sein Haupttopos ist: Naturwissenschaften machen frei. Sie lassen uns nicht mehr in die alte Barbarei zurückfallen, sondern garantieren Fortschritt für alle. Dabei sind ihm die Gleichheit der Völker, die Gleichheit innerhalb der Völker und die allgemeine Erziehung diejenigen Erwartungsschemata, die er durch die Revolution ihrer Realisierung näher gebracht sieht. Die Gleichheit der Völker soll die koloniale Ausbeutung beenden - Condorcet war selbst Mitglied in einem Ausschuss, der die Gleichberechtigung der Kolonien zum Ziel hatte. Die Gleichheit innerhalb des Volkes will der Mathematiker Condorcet durch ein Versicherungssystem erreichen, das die Unterschiede in den Vermögensstrukturen und deren Folgen ausgleicht. Die Erziehung will Condorcet, hier verwendet er die Topoi des barocken Enzyklopädismus, im Sinne einer Naturenzyklopädie vervollkommnen. Er will eine Enzyklopädie aller Realien erstellen, die durch eine Universalsprache erschlossen werden soll. Dadurch 20 21
Ebd., 38-39. Ebd.
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sollen der Natur ihre Geheimnisse entrissen und dem Menschen, ζ. B. füir die Verlängerung des Lebens, nützlich gemacht werden. Condorcet denkt sogar an die Vererbung der erworbenen Kenntnisse.22 Worum geht es bei Condorcets Esquisse? Es handelt sich um die Beschwörung der Aufklärung als monopolistisches Erwartungsschema für die Zukunft dadurch, dass die Fortschrittsvorstellung als Naturgesetz beschreiben wird, dessen Kontingenzgrad gegen Null tendiert. Wer sich natürlich verhält - und natürlich sind die Kombinationen von empirischer Naturwissenschaft, Freiheit und Tugend — der besitzt die Zukunft. Der eigentliche Reiz liegt in der Parallelisierung von Naturgesetz, dessen Geltung in der Zukunft „solange dieser Planet/ Kosmos existiert" sicher ist, mit den Gesetzen menschlichen Handelns. Das Naturmuster absorbiert in seinem Glücksabsolutismus die Freiheit, die Erziehung wird Teil der Naturalisierung, die Frage nach der Ethik hängt nicht von der Entscheidung ab, sondern von der zwangsläufigen Einsicht ins Richtige, das zugleich als human bekömmlich ausgegeben wird. Dieser Optimismus bedient geschichtsphilosophisch immer noch Leibnizens Theodizee, wenn es auch keines Gottes mehr bedarf - die Botschaft bei beiden ist dieselbe positive Eschatologie: Am Ende wird alles gut, wenn es denn natürlich ist. Die Frage des Übels und des Bösen wird als Irrtum oder Widerwilligkeit des Menschen interpretiert und durch Zwangserziehung zum Richtigen gelöst. Das Ziel von Condorcets Geschichtserzählung ist, dass Natur, Wahrheit und Glück am Ende identisch seien. Aus dieser Falle des beglückenden Naturalismus gibt es keinen Ausweg. Condorcet kommt anscheinend überhaupt nicht auf den Gedanken - trotz seiner persönlichen Erfahrungen —, dass Ereignisse eintreten könnten, die diese Zukunftserwartungen Lügen strafen könnten. Er beschwört unverdrossen die Zukunftstauglichkeit seiner Erwartungen und negiert vollständig die Kontingenz, die mit humaner Zukunft verbunden ist. Als naturalistischer Optimist geht er davon aus, dass die Welt im Prinzip gut ist und dass sich das Gute (was immer er dafür hält) am Ende durchsetzen wird. Die Natur komme dann sozusagen zu sich selbst. Bei Condorcet kann man, paradigmatisch für die Epoche der Aufklärung, sehen, wie der Stabilitätsanspruch topischer Kontingenzverwaltung Realitäten schafft.
22
Ebd., 389-391.
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Natur, Zivilisation und Narratio Zur triadischen Strukturierung von Schillers Geschichtskonzept
I. In einem Brief an Caroline von Beulwitz schreibt Schiller am 10./11. Dezember 1788, dass die Geschichte dem Roman gegenüber den „Vorzug der Wahrheit" besitze und daher über ihn zu „erheben" sei: „Es fragt sich nur ob die innre Wahrheit, die ich die philosophische und Kunstwahrheit nennen will, und welche in ihrer ganzen Fülle im Roman oder in einer andern poetischen Darstellung herrschen muß, nicht eben soviel Werth hat als die historische." (NA 25, 154)1 Die Unterscheidung zwischen der inneren Wahrheit des Romans und der Evidenz der geschichtlichen Erfahrung, die Schiller hier trifft, bezeichnet den Gegensatz von schöner Form und empirischer Authentizität. Er ist topisch, denn er wird bereits in der aristotelischen Poetik hervorgehoben (die Schiller zu diesem Zeitpunkt noch nicht näher kannte). Aristoteles weist auf den Hiatus von historischer und literarischer Darstellung hin, wenn er erklärt, dass die Geschichtsschreibung das „wirklich Geschehene" erfasse, die Poesie dagegen das, „was geschehen könnte".2 Betont Aristoteles, dass aus diesem Grund die Dichtkunst „etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als die Geschichtsschreibung"3 sei, dann nutzt er nahezu dieselbe Formulierung, mit der Schiller die Differenz zwischen literarischem und historiographischem Diskurs umreißt. Die topische Unterscheidung der Diskursformen, die nach Aristoteles zahlreiche Poetiken aufgreifen, scheint auch für Schiller ihre besondere Stimmigkeit zu haben. Im Hinblick auf seine eigenen historischen Schriften gilt freilich ein anderer Befund; hier zielt er, so ist zu erkennen, auf die Annäherung von historischer Wahrheit und schöner Form im Medium der Darstellung. Was er 1788 gegenüber Caroline von Beulwitz die „innre Wahrheit" des Romans nennt, sucht er gerade durch die narrative Struktur seiner historiographischen Studien herauszuarbeiten. Die nachstehenden Überlegungen sollen zeigen, dass die Adap1 Schiller-Zitate werden unter der Sigle „NA" mit der jeweiligen Bandziffer und Seitenzahl im laufenden Text nach der Nationalausgabe belegt (Weimar 1943ff., begr. v. Julius Petersen, fortgef. v. Lieselotte Blumenthal u. Benno v. Wiese, seit 1992 im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach a. N. hg. v. Norbert Oellers). 2 Aristoteles, Poetik. Griechisch-Deutsch, übers, u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, Kap. 9, 1451b. 3 Ebd., Kap. 9,1451b.
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tion der ästhetischen Form in Schillers Geschichtsschriften dazu beiträgt, eine spezifische Ordnung des historischen Prozesses selbst zu konstruieren. In der Konsequenz führt das zu einer Annäherung von literarischer und historiographischer Erzählung, die jedoch missversteht, wer in ihr nur ein Resultat der poetischen Imagination erblickt. Zu bedenken ist vielmehr, dass die narrative Organisation der historiographischen Diskurses auch eine epistemische Qualität besitzt, die dem Erzählen eine Schlüsselfunktion für die Interpretation der Geschichte zuweist. Am Beginn des Beitrags steht daher eine Analyse von Schillers zivilisationstheoretischem Konzept, der sich Ausführungen zur narrativen Struktur seiner Geschichtsschreibung und zur transzendentalphilosophischen Grundlegung seines Formbegriffs anschließen.
II. Die geschichtsphilosophische Abhandlung Etwas über die erste Menschengesellschaft, die Schiller im Herbst 1790 neben den Aufsätzen über die Gesetzgebung der griechischen Antike und den Propheten Moses als Extrakt seiner Jenaer Vorlesungen des Sommersemesters 1789 veröffentlicht, formuliert eine Theorie von Natur und Vernunft, die sich in einem metahistorischen ZivUisationskonzept verdichtet.4 Die Studie schildert das Leben im Paradies als Naturzustand, der zugleich „Vormundschaft" durch autoritäre Fürsorge bedeutet. Der Sündenfall bewirkt eine Befreiung vom einhegenden Diktat der Natur im Sinne einer Neubestimmung von Umwelt und Handlungshorizonten; durch ihn löst sich der Mensch, der zuvor „Sklave des Naturtriebes" war, aus den Fängen eines ihn behütenden Gottes und tritt in ein selbstverantwortetes Leben ein (NA 17, 398, 400). Dieser Schritt impliziert laut Schiller die Emanzipation von einer idealen Naturordnung, in der keine Zwänge und keine Hierarchien existieren. Ideal war die paradiesische Natur, insofern sie eine Einheit mit dem Menschen bildete. Ihr besonderes Kennzeichen lag darin, dass sie seine Erwartungen, Wünsche und Absichten erfüllte, indem sie für ihn „dachte, sorgte und handelte" (NA 17, 398). Unter den Bedingungen einer freundlichen Umwelt, die ihn vor Gewalt und Zwang schützte, konnte der Mensch seine intellektuellen Fähigkeiten, wie Schiller notiert, ohne äußere Abhängigkeiten entwickeln und seinen Geist hinreichend verfeinern. Mit den theologischen Begründungen des Sündenfalls - Intervention der Schlange, Werk des Bösen, Verführung, Gehorsamsverletzung und Erkenntnis als Folge der Entzweiung — befasst sich Schiller, anders als in vergleichbarem Kontext Kant und später Schelling, nicht näher. Ihn interessiert lediglich der Schritt in eine neue Existenz der Selbstverantwortung, die der Mensch nach der 4 Die derzeit beste Gesamtdarstellung zu Schillers historischen Schriften: Thomas Prüfer, Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft, Köln, Weimar, Wien 2002.
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Vertreibung aus dem Garten Eden allein gestalten muss. Das Leben jenseits des Paradieses fuhrt permanente Entscheidungs- und Differenzierungszwänge herbei, weil die Natur, in der er sich jetzt bewegt, gänzlich anderen Bedingungen gehorcht als zuvor. Wo das Paradies die Einheit von Mensch und Natur stiftete, trennt der Sündenfall beide voneinander. Fortan lebt der Mensch im Gegensatz zur Natur, die er beobachtet, berechnet und ausbeutet, um sein eigenes Dasein materiell zu sichern. Der Akt der Erkenntnis, den der Sündenfall freisetzt, schafft, zugespitzt formuliert, Identität durch Differenzierung. Der Mensch nimmt sich im Gegensatz zu seiner Umwelt wahr. („Der Friede war aufgehoben zwischen ihm und den Thieren." NA 17, 400) Das hat notwendig zur Konsequenz, dass er die Natur, die er von sich unterscheidet, als fremden Raum registriert. Als ein Anderes des Menschen ist die Natur nicht mehr Teil seiner selbst, sondern unbekannt und unberechenbar - „in eine Wildniß verwandelt" (NA 17, 401). Schiller folgt hier, abweichend von Rousseaus Discours sur l'origine et /es fondements de l'inegalite parmi les hommes (1755), einem identitätsphilosophischen Argumentationsmuster.5 Die Emanzipation von der göttlichen Fürsorge führt zur Alterität und zur Kontingenz der Natur, insofern diese im Prozess menschlicher Identitätsbildung als Produkt der Differenzierung abgespalten wird. In dem Maße, in dem der Einzelne seine Umwelt durch Reflexion definiert, konstituiert er Fremdheit und Beliebigkeit als tragende Elemente ihrer Funktion, sein Anderes zu sein. Diesen Prozess der Naturverfremdung forciert der Mensch in Schillers Lesart eigenständig, indem er seine rationalen Vermögen aktiv formt und auf den Ernstfall vorbereitet: „Sobald seine Vernunft ihre ersten Kräfte nur geprüft hatte, verstieß ihn die Natur aus ihren pflegenden Armen, oder richtiger gesagt, er selbst, von einem Triebe gereitzt, den er selbst noch nicht kannte, und unwissend, was er in diesem Augenblicke großes that, er selbst riß ab von dem leitenden Bande, und mit seiner noch schwachen Vernunft, von dem Instinkte nur von ferne begleitet, warf er sich in das wilde Spiel des Lebens, machte er sich auf den gefährlichen Weg der moralischen Freiheit." (NA 17, 399) Der Weg in die moralische Freiheit ist deshalb gefahrvoll, weil er inmitten einer unfreundlich und inkalkulabel gewordenen Natur beschritten werden muss. An den Platz der paradiesischen Natur tritt eine Welt der Herausforderungen, der Gewalt und des Notzwangs. Schiller zeigt diese neue Seite der Natur am Neid, den der Bauer gegenüber dem Hirten hegt, da er ein Leben ohne die Rückschläge zerstörerischer Unwetter und Klimaeinbrüche führen darf. Aus dem Neid erwächst der Wille zum Raub, aus dem Raub Ungleichheit, aus ihr neuer Hass (NA 17, 408—409). In dieser Konstellation emergierender Gewalt ist der Schritt zur moralischen Selbstverpflichtung durch die Einführung von Gesetzen die einzige Lösung, die den gesellschaftsbildenden Austritt aus dem Kreislauf von Zerstörungsakten verheißt. „Meistens gelangen die Menschen nur durch die Folgen der Unordnung zu Einfuhrung der Ordnung, und Gesetzlosigkeit führt 5 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origne et ks fondements de l'inegalite parmi les hommes, in: Schriften sprKulturkritik. Französisch-Deutsch, eingel., übers, u. hg. v. Kurt Weigand, Hamburg 1983, 61—269.
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gewöhnlich erst zu Gesetzen." (NA 17, 407) Zivilisation, wie sie durch Moral und Gesetze geschaffen wird, ermöglicht die Kontrolle von Naturverhältnissen, die nach dem Verlust des Paradieses qua Differenzierung von Mensch und Umwelt als Gewaltverhältnisse erscheinen. Arbeit und gesellschaftliche Hierarchie werden nun durch die Gesetze zu Elementen des Zivilisationsprozesses, weil sie aus Übereinkünften, nicht mehr aus Usurpation und Anmaßung resultieren. Schillers Studie gilt der Frage, wie soziale Ordnung unter den Bedingungen gewalthafter Naturverhältnisse möglich ist. Einen ersten Versuch zur Beantwortung dieser Frage unternimmt der Essay, indem er implizit auf den Begriff der Naturteleologie rekurriert, wie ihn auch Kant nutzt, um die Prinzipien des Zivilisationsprozesses zu erläutern. Zivilisation ist demnach Ergebnis einer Entelechie der Natur selbst, die dazu tendiert, durch die Emergenz von Gewalt beim Menschen den Willen zur gesellschaftlichen Regelung von Konflikten freizusetzen. Der Zweck der Natur sei, wie Schiller 1789 am Schluss seiner Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und ψ welchem Ende studiert man Universalgeschichte? formuliert, langfristig nicht auf Chaos, sondern auf Ordnung abgestellt. Die Geschichte zeige, so heißt es dort, dass „die stille Hand der Natur schon seit dem Anfang der Welt die Kräfte des Menschen planvoll entwickelt"; im Detail offenbare sie die einzelnen Schritte einer folgerichtig ablaufenden Dramaturgie, indem sie sichtbar mache, „was in jedem Zeiträume für diesen großen Naturplan gewonnen worden ist" (NA 17, 375). Kants Aufsatz Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), den Schiller im Frühherbst 1787 auf Anregung von Karl Leonhard Reinhold in Weimar studierte, schließt mit einer ähnlichen Interpretationsvariante: die „Natur selbst" befähige den Einzelnen, am Fortschritt der Menschheit mitzuwirken, der zwar nicht vom Bösen zum Guten, aber doch vom „Schlechtem zum Besseren" führe.6 Auch im Hinblick auf die Duplizität des Naturbegriffs, die sich in der doppelten Differenzierung zwischen Instinkt und Vernunft, Unschuld und Gewalt manifestiert, nimmt Kant die Position Schillers vorweg. Während er das Paradies als Ort der Übereinstimmung des Menschen mit der Natur im Zeichen des reinen „Instinkts" deutet, betrachtet er den Aufbruch der Vernunft zur Selbstbestimmung als Ausgangspunkt für eine Veränderung der Natur, die jetzt nicht mehr durch Unschuld, sondern durch Hierarchien geprägt sei.7 Die Vernunft verhelfe dem Menschen zur Unterscheidung, jedoch trage sie auf diese Weise zugleich zur wachsenden Alterität der Natur bei; die Ausbeutung ihrer Ressourcen bilde die direkte Konsequenz einer Emanzipation der Ratio, die ihrerseits die Natur fungibel, damit aber auch fremd mache. Wenn der Einzelne begreift, dass er „Zweck der Natur" sei, führe das, wie Kant darlegt, zur Distanzierung gegenüber den vermeintlich nachgeordneten Wesen seiner Umwelt.8 6 Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, in: Ders., Werkausgabe in %wlf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 11, Frankfort a. Μ. 1977,102. 7 Ebd., 87-88. 8 Ebd., 90-91.
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Indem der Mensch seine Sonderstellung erkennt und sich zum Herr über die ihn zuvor hütende Natur macht, lässt er diese in die Kontingenz eintreten. Die neue Form der rationalen Ordnung und Hierarchisierung der Dinge setzt, mit einer Formulierung Niklas Luhmanns, die Einsicht frei, dass es „auch anders sein könne."9 Betrachtet man den Schluss der Jenaer Antrittsvorlesung, so drängt sich der Eindruck auf, als ob Schiller Kants Konzept der Naturteleologie adaptiere. Die Ordnung der Zivilisation erscheint in dieser Perspektive als Resultat einer inneren Folgerichtigkeit des Naturplans, als Zeichen ihrer immanenten Zweckmäßigkeit. Schiller spricht hier ausdrücklich davon, dass der „Fortschritt der Kultur" aus der Nachahmung der Natur erfolgte, insofern die ersten Menschen ihre Vernunft an deren Bauplan und Ökonomie ausgerichtet und geschult hätten (NA 17, 403). Das berührt eine maßgebliche Bestimmung des Zivilisationsprozesses, die eine dritte Bedeutung des Naturbegriffs sichtbar macht. Natur ist im Paradies eine hegende, hütende und - als Medium der gütigen Providenz göttliche Fürsorge vermittelnde Kraft. Nach dem Schritt in die - im doppelten Sinn erzwungene — Freiheit der Selbstbestimmung verwandelt sie sich in fremde, zu zähmende und ausbeutbare Natur. Schließlich aber ist die Natur - das wäre die dritte Bedeutung - ein Symbol der Zweckmäßigkeit und ein Medium jener Teleologie, die der Mensch als Leitfaden seines Handelns nachahmt. Die naturhafte Teleologie bezeichnet - implizit gegen Rousseau - ein Modell individuellen Handelns und zugleich das Prinzip eines historischen Verlaufs, der den Prozess der Zivilisation vorantreibt. Schillers zweiter Versuch, die Genealogie von Ordnung in der Geschichte der Zivilisation zu beschreiben, besteht darin, sie nicht auf die Objektivität der Ereignisse, sondern auf deren Organisation durch die Arbeit des Historikers zurückzuführen. Damit wird eine methodisch-reflexive Ebene erreicht, die man metahistorisch nennen könnte, soweit sie den geschichtlichen Gegenstand über die Prinzipien seiner Darstellung zu erfassen erlaubt. In der Jenaer Antrittsvorlesung vom Mai 1789 betont Schiller in Übereinstimmung mit August Ludwig Schlözers Theorie der Universalhistorie, dass Geschichte zweifach erzählt werden müsse - vom Ausgangspunkt der Gegenwart in fallender Linie zurück zu den Ursprüngen, um die Konsequenz der einzelnen Ereignisse erfassen zu können, und von den Anfangen progredierend zur Gegenwart, um die so erkannten Prinzipien der Kausalität in die Darstellung ihrer Konsekution einfließen zu lassen.10 „Die Weltgeschichte geht also von einem Princip aus, das dem Anfang der Welt gerade entgegenstehet. Die wirkliche Folge der Begebenheiten steigt von dem Ursprung der Dinge zu ihrer neuesten Ordnung herab, der
* Niklas Luhmann, Sociale Systeme. Grundnß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1999 (zuerst 1984), 159. 10 August Ludwig Schlözer, Vorstellung seiner Universal-Historie, mit Beilagen hg., eingel. u. komm, v. Horst Walter Blanke, Hagen 1990,46ff.
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Universalhistoriker rückt von der neuesten Weltlage aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen." (NA 17, 372)11 Schlözer hatte das Verhältnis zwischen .Spezial- und Universalhistorie' durch die Begriffe Aggregat' und .System' gekennzeichnet; während die Einzelereignisse sich in unverbundenen Aggregaten manifestieren, ohne dass ihr Status für die Gesamtgeschichte geklärt wäre, verdichtet sich ihr kausaler Sinn im übergreifenden Nexus des Systems. „Man kann sich", schreibt Schlözer, „die Weltgeschichte aus einem doppelten Gesichtspuncte vorstellen: entweder als ein Aggregat aller Specialhistorien, deren Sammlung, falls sie nur vollständig ist, deren bloße Nebeneinanderstellung, auch schon in seiner Art ein Ganzes ausmacht; oder als ein System, in welchem Welt und Menschheit die Einheit ist, und aus allen Theilen des Aggregats einige, in Beziehung auf diesen Gegenstand, vorzüglich ausgewählt, und zweckmäßig geordnet werden."12 Die beiden Kategorien Aggregat' und ,System' bezeichnen lediglich unterschiedliche Ordnungsgrade historischen Ereignissinns, wie sie sich der Optik des Geschichtsschreibers darbieten. Sie bergen einen objektiven Gehalt, der sich über die historische Erfahrung vermittelt, insoweit diese dichte und lockere Verknüpfungen von Begebenheiten kennt. Aggregat und System meinen differente Intensitätsstufen der Ereignisvemetzung, die im tatsächlichen Verlauf der Geschichte in wechselnder Ausprägung zutage treten können.13 Grundlage dieser Konstruktion ist hier die Annahme, dass der historische Faktenzusammenhang teleologisch geordnet bleibe — eine Prämisse, die Herder in seiner scharfen Rezension von Schlözers UniversalHistone, die am 28. Juni 1772 in den Frankfurter gelehrten Anzeigen erschien, aus der Perspektive seines eigenen organologisch-zyklischen Geschichtsdenkens kritisch in Frage stellte.14 Schlözers Verdienst besteht darin, dass er die Universalhistorie nicht mehr als Summe von Einzelhistorien auffasst.15 Sein Ansatz umgeht jedoch eine theoretische Bestimmung der historiographischen Epistemologie und hält vorwiegend an einer faktenbezogenen Verfahrensweise fest, ohne den eigentlichen Systemcharakter einer kausalitätsgestützten Methodik detailliert zu untersuchen.16 Anders als Schlözer interessiert sich Schiller nicht für die empirische Beziehung von ,Spezial- und Universalhistorie', sondern für die methodische Unterscheidung zwischen einer historiographischen Perspektive der annalistischen Akkumulation
11 Dazu Werner Frick, Der JAaler der Menschheit'. Philosophische und poetische Konstruktionen der Gattungsgeschichte bei Schiller, in: Otto Dann u. a. (Hg.), Schiller als Historiker, Stuttgart, Weimar 1995, 84ff. 12 Schlözer, Vorstellungseiner Universal-Historie (wie Anm. 10), 14. 13 Zu Schlözer vgl. Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft in Humanismus und Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, 97ff. "Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877-1913, Bd. 5, 436 ff. 15 Wolfgang Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung und die Asthetisierung der Darstellung, in: Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz, Jörn Rüsen (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982,161. 16 So auch Ulrich Muhlack, der Schlözer eine empirische Tendenz bestätigt Ders., Schillers Konzept der Universalgeschichte tQvischen Aufklärung und Historismus, in: Schiller als Historiker (wie Anm. 11), 19.
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von Begebenheiten und einer universalistischen Sichtweise, die die Teleologie geschichtlicher Prozesse durch den Nachweis von Kausalität und Konsekution der Begebenheiten zu begründen vermag. Er definiert die Begriffe so, dass sie den Gegensatz von Kontingenz und System ausleuchten — den Hiatus zwischen der Beliebigkeit des isolierten historischen Faktums und seiner systematischen Ordnung im historiographischen Diskurs.17 Während Schlözer beiden Modellen die Möglichkeit zugesteht, historischen Sinn zu generieren, betrachtet Schiller allein die systematische - universalgeschichtliche - Verfahrensweise als wissenschaftlich akzeptables Verfahren, das er erlaubt, vergangene Ereignisse zu verstehen und zu interpretieren. Ihr Prinzip ist die Erschließung von Kausalverhältnissen, die vom Standpunkt der Gegenwart über die Analyse ihrer Wirkung in konsequenter Rückführung auf ihre Genealogien erfasst werden können. Die Leistung der Universalhistorie sieht Schiller in ihrer konstruierenden — über den Erzählprozess manifesten - Arbeit jenseits der direkten geschichtlichen Erfahrung. An die Stelle eines ephemeren Vernetzungs- und Konzentrationsgrades von Ereigniszusammenhängen tritt eine programmatische Synthese, die es erlaubt, historischen Sinn über ihre aus späteren Folgen abgeleiteten Kausalitäten zu erzeugen. Erst der Finalismus des hier praktizierten Geschichtsdenkens ermöglicht die Rekonstruktion von Ursachen aus ihnen nachfolgenden Effekten; Universalhistorie, wie Schiller sie begreift, ist umgekehrte Zivilisationsgeschichte.18
III. Die optimistische Erwartung, aus der Schiller den historischen Prozess als Progression zu höherer Kultur deutet, vermittelt sich über die Ebene der diskursiven Darstellungsform.19 Dass Natur- als Zivilisationsgeschichte sichtbar wird, bleibt das Resultat der inneren Konsequenz, mit der der Historiker die Ereignisse narrativ verbindet. Indem er die versprengten Begebenheiten verknüpft und in ihrer Folgewirkung erfasst, entdeckt er ihre teleologische Bedeutung für die Konstitution des Gesamtprozesses. In seiner Antrittsvorlesung bemerkt Schiller: „Je öfter also und mit je glücklicherm Erfolge er den Versuch erneuert, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen: desto mehr wird er geneigt, was er als Ursache und Wirkung in einander greifen sieht, als Mittel und Absicht zu verbinden. Eine Erscheinung nach der andern fangt an, sich dem blinden Ohngefahr, der gesetzlosen Freyheit zu entziehen, und sich einem übereinstimmenden 17 Vgl. Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760-1860, Berlin, New York 1996,231. 18 Vgl. Peter-Andre Alt, Schiller. Leben - Werk - Zeit, Bd. 1, München 2004, 607. "Zur Karriere, die der Darstellungsbegriff im 18. Jahrhundert macht, vgl. Winfried Menninghaus, iDarstellung'. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas, in: Christian Haart Nibbrig (Hg.), Was heißt .Darstellen'?, Frankfurt a. M. 1994, 205-226; ferner Inka Mülder-Bach, Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der,Darstellung' im 18. Jahrhundert, München 1998. — Beide Studien setzen sich jedoch nicht näher mit dem Darstellungskonzept der Historiographie und dessen Emanzipation von der rhetorischen Mimesiskategorie auseinander.
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Ganzen (das freylich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist) als ein passendes Glied anzureyhen." (NA 17, 373) Im Gedicht Die Künstler (1789), das im zeitlichen Umfeld der Jenaer Antrittsvorlesung entstand, heißt es über den Prozess der Aufklärung: „Des Wissens Schranken gehen auf,/ Der Geist, in euren leichten Siegen/ geübt mit schnell gezeitigtem Vergnügen/ ein künstlich All von Reizen zu durcheilen,/ stellt der Natur endegenere Säulen,/ ereilet sie auf ihrem dunklen Lauf." (NA 1, 208, v. 274-279) Diese Verse reflektieren die in der Antrittsvorlesung beschriebene Einsicht, dass die Ordnung der Geschichte aus der Verstandesarbeit dessen, der sie erzählt, hervorgeht. Das aufgeklärte Wissen findet nur deshalb die „endegeneren Säulen" der Natur, weil es sich zunächst an „leichten Siegen" geübt hat und nun in der Lage ist, verborgene Strukturen zu durchschauen, die sich dem ersten Blick entziehen. Historische Erkenntnis ist eine Leistung der rationalen Reorganisation, deren objektive Evidenz von der Übung der sie vermittelnden Geisteskräfte abhängt. Die Ordnung der Geschichte entstammt laut Schiller der Ordnung im Kopf des Historikers, der sie nach Maßgabe der Harmonie von Aggregat und System, Ereignis und Telos beschreibt und deutet. „Er nimmt also diese Harmonie aus sich selbst heraus, und verpflanzt sie ausser sich in die Ordnung der Dinge d. i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt, und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte." (NA 17, 374) Schiller ist sich durchaus bewusst, dass dieses Verfahren immer wieder zur Konfrontation mit abweichenden Tatsachenbefunden zwingt. Die „blinde Herrschaft der Nothwendigkeit" diktiert nicht selten die historischen Fakten und lässt die chaotischen Wirkungen des Zufalls über die innere Folgerichtigkeit siegen (NA 17, 373). Angesichts des realiter kontingenten Charakters geschichtlicher Ereignisse ist es erforderlich, die Vor- und Nachteile der universalhistorischen Methodik genau gegeneinander abzuwägen. Einerseits birgt sie das Risiko, dass der „Geschichtsforscher" den „Begebenheiten Gewalt anzuthun" versucht, indem er diese einem theoretischen Schema unterwirft (NA 17, 374). Andererseits offeriert sie ein wissenschaftlich strenges Verfahren, das es erlaubt, Ereigniszusammenhänge systematischer zu beschreiben, als es eine chronikalische Perspektive vermag. Auch wenn sich Schiller der einebnenden Tendenzen der universalhistorischen Methode bewusst ist, gesteht er ihr Priorität gegenüber allen anderen Ansätzen zu, weil sie die Kategorien zu begründen versteht, die zuallererst geschichtliche Erkenntnis ermöglichen.20 Konzeptionell fällt es - gut kantianisch - der Vernunft zu, das geschichtliche Material nach Prinzipien a priori zu gliedern; auf formaler Ebene wird die Organisation der Quellenbefunde durch die Sprache geleistet, die als Instrument
20 Thomas Prüfer sieht in Schillers Ansatz Kants theoretisches durch ein ästhetisches Apriori das der sprachlichen Form - substituiert (ders., Die Bildung der Geschichte [wie Anm. 4], 292). Betrachtet man die methodische Konstellarion genauer, so erkennt man jedoch, dass sich beide Bereiche hier nicht gegeneinander ausspielen lassen, denn es fällt bei Schiller gerade der schönen Form zu, das innere Telos der Geschichte als ihr theoretisches Apriori zu beweisen.
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historiographischer Rationalität fungiert. Exemplarisch für die ideale Schreibpraxis ist das seriell-konsekutive Darstellungsprinzip in Schillers kleinen ThaliaAbhandlungen aus dem Fundus der universalhistorischen Vorlesungen des Jenaer Sommersemesters 1789. Hier wird die Logik des stringenten Ereignisablaufs als Prinzip der Zivilisationsgeschichte durch die gezielte Verwendung von Zeitadverbien verdeutlicht. Die zentralen Abschnitte der Studie über die erste Menschengesellschaft eröffnen Wörter wie Jetzt', ,So', ,Bald', ,Bis jetzt' und .Sobald', die den Ablauf der Geschichte, von der erzählt wird, temporal strukturieren und ihren Verlauf in teleologischer Folge ordnen (NA 17, 40ff.).21 Ahnlich verhält es sich im Essay über Die Sendung Moses, dessen narrativer Duktus für Markierungen und Neueinsätze sorgt, die ihrerseits eine Gliederung des geschilderten Zeitablaufs ermöglichen. „Einst sah er einen Hebräer unter den Streichen eines egyptischen Frohnvogts mißhandelt", so lautet der Beginn einer Episodenerzählung, die, in der Mitte des Essays anhebend, von Moses Vertreibung in die arabische Wüste berichtet (NA 17, 388). Der nächste Abschnitt konstatiert: „Mit diesem Exilium beginnt eine neue Epoche seines Lebens" (NA 17, 389); die folgenden Schritte der Erzählung setzen abschnittweise mit Zeitadverbien wie Jetzt' oder adversativen Konjunktionen wie ,Aber' ein, um die Entscheidungssituation, in der sich Moses befindet, genau erfassen zu können. Die Erzählhaltung bietet eine fixierte interne Fokalisierung, die es gestattet, eng an das geschilderte Geschehen heranzutreten und seine Ereignisfolgen aus der Mitsicht zu beschreiben. Wilhelm von Humboldt wird in einem 1821 gehaltenen Vortrag Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers die ,Verknüpfungsgabe' als dasjenige darstellungstechnische Vermögen bezeichnen, das der Historiker mit dem Dichter teile.22 Die interne Fokalisierung findet sich in den TW/a-Abhandlungen nur durch gelegentlich auftretende Elemente der Nullfokalisierung unterbrochen, wie sie bei rhetorischen Fragen erkennbar ist.23 Dass Schiller sich mit der Erzählerstimme explizit und auktorial zu Wort meldet, kommt höchst selten vor. Eine Ausnahme bildet der Beginn der Geschichte des Abfalls der vereinigen Niederlande von der Spanischen Regierung (1788), wo es im zweiten Absatz heißt: „Es ist nicht das Außerordentliche oder Heroische dieser Begebenheit, was mich anreizt, sie zu beschreiben." (NA 17, 10)24 Es folgt eine nähere Begründung, die den unspektakulären Charakter der niederländischen Rebellion und die pragmatischen Ambitionen ihrer Protagonisten hervorhebt, ehe die conclusio in eigener Sache den Abschnitt beendet: „Es ist also gerade der Mangel an heroischer Größe, was diese Begebenheit eigenthümlich und unterrichtend macht, und wenn sich andre 21 Erstmals hat Klaus Weimar die Leistung des nanativen Strukturierungsprinzips in Schillers ThaiaAufsätzen hervorgehoben (ders., Der Effekt Geschichte, in: Schiller als Historiker [wie Anm. 11], 191-204). 22 Wilhelm v. Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers, in: Ders., Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel, Darmstadt 1960-1981, Bd. 1, 587. 23 Vgl. NA 17, 391,416. 24 Zur Erzählhaltung in der Geschichte des Airfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung vgl. Johannes Süssmann, Denken in Darstellungen — Schiller und die Geschichte, in: Michael Hofmann, Jörn Rüsen, Mirjam Springer (Hg.), Schiller und die Geschichte, München 2006,61 ff.
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zum Zweck setzen, die Ueberlegenheit des Genies über den Zufall zu zeigen, so stelle ich hier ein Gemähide auf, wo die Noth das Genie erschuf, und die Zufälle Helden machten." (NA 17,11) Eine derartige Selbstreflexion des gewählten Vorgehens ist für Schillers Geschichtsstudien untypisch; man findet sie ähnlich noch im Vorbericht zur Allgemeinen Sammlung Historischer Memoire; (1790),25 sonst fehlt sie durchgehend; auch die große Studie über die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs (1790-92) verzichtet auf eine auktoriale Eröffnung. Diese Zurückhaltung entsprach den stilistischen Konventionen, die zu erfüllen der fachwissenschaftliche Anspruch verlangte. Der Göttinger Historiker Johann Christoph Gatterer bezeichnet 1767 als generelles Prinzip der historiographischen Darstellung die Unsichtbarkeit des Erzählers und umreißt damit, was die heutige Narratologie die ,auktoriale Perspektive der internen Fokalisierung' nennen würde: „Der Geschichtsschreiber muß sich seinen Lesern so sehr verbergen, als möglich ist."26 Schillers Technik der narrativen Zeitstrukturierung dient nicht nur der Gliederung des Materials, sondern hat übergreifende — metatextuelle — Funktionen. Im Rahmen seiner Studie über Über Handlung, Gespräch und Erzählung (1774) bezeichnet Johann Jakob Engel unter Rückgriff auf die Differenzierungen aus Lessings Laokoon (1766) als Kennzeichen der narratio das Prinzip der ,Succession'. Genauer heißt es über dieses Prinzip im Hinblick auf die Praxis der Geschichtsschreibung; „Das Successive ist hier keine abgerissene Folge von weit getrennten, unentwickelten Phänomenen; es ist eine näher zusammengebrachte Reihe von Veränderungen, wo uns immer die eine schrittweise zur andern führt; es ist eine Kette mehrerer von einander abhängender, aus einander sich entwickelnder Glieder, wovon das letzte ohne alle vorhergehenden, und jedes in der Reihe ohne seine vorhergehenden, entweder gar nicht seyn würde, oder doch nicht so, wie es jetzt ist."27 Die diskursive Konsequenz der historiographischen .Succession' ist bei Schiller nicht allein ein Mittel des Stils. Ihre Funktion liegt darin, dass sie die innere Ordnung der Natur als Prinzip des Zivilisationsprozesses im formalen Verfahren der sprachlichen Darstellung reflektiert. Die Vernunftäquivalenz der Naturgeschichte wird erst durch die Vernunft der historiographischen Erzählung beglaubigt, indem diese Zweckmäßigkeit und Teleologie als bewegende Prinzipien des Geschehens aufdeckt. Die auf temporalen bzw. kausalen Folgeschritten beruhende Zusammenführung des Quellenmaterials leistet bereits einen Beitrag zur Interpretation der Geschichte, und zwar durch das Medium der erzählerischen Form, in der sie sich artikuliert.
NA 19/1, S. 9-13. Christoph Gatterer, Vorrede von der Eviden^ in der Geschichtskunde, in: Horst Walter Blanke, Dirk Fleischer, Theoretiker der deutschen Aufklärungshistone, Bd. 2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990,468. 27 Johann Jakob Engel, Über Handlung, Gespräch und Erzählung, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und derfreyen Künste 16, Leipzig 1774,177—256, hier 189. Vgl. den Faksimiledruck, hg. u. mit einem Nachw. v. Ernst Theodor Voss, Stuttgart 1964. 25
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Mit diesem Verfahren steht Schiller Kant so fern nicht, wie man gern behauptet hat.28 Auch Kant sieht die teleologische Ordnung der Natur als Resultat einer interpretativen Arbeit der Vernunft, die vorab zu investieren ist. Nach den Bestimmungen der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft (1790) repräsentiert die Zweckmäßigkeit der Natur ein „transzendentales Prinzip", das es erlaubt, Mannigfaltigkeit in Gesetzen zu bündeln und systematisch zu gliedern. Die Zweckmäßigkeit der Natur ist ein Ergebnis synthetischer Urteile a priori, die ihren Bauplan als vernünftig annehmen, um sie heuristisch erfassen zu können.29 Diese vor aller Erfahrung über die Anwendung theoretischer Prinzipien lancierte Strukturierung lässt die Ordnung der Natur als Werk einer transzendentalen Erkenntnis auf der Basis allgemeiner Formen der Anschauung erscheinen. Sie bildet kein objektiv gegebenes Faktum, vielmehr ein Resultat der organisierenden Leistung des Verstandes, der die Phänomene der Natur nach Regeln und Mustern sortiert: „Dieser transzendentale Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, weil er gar nichts dem Objekte (der Natur) beilegt, sondern nur die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich ein subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft; daher wir auch, gleich als ob es ein glücklicher unsre Absicht begünstigender Zufall wäre, erfreuet (eigentlich eines Bedürfnisses endedigt) werden, wenn wir eine solche systematische Einheit unter bloß empirischen Gesetzen antreffen: ob wir gleich notwendig annehmen mußten, es sei eine solche Einheit, ohne daß wir sie doch einzusehen und zu beweisen vermochten."30 Für Kant ist die Einheit in der Vielfalt der Naturerscheinungen das Resultat einer a priori gewonnenen Perspektive der Gliederung und Organisation. Die Zweckmäßigkeit der Natur liegt nicht im Gegenstand, sondern ist das Produkt der theoretischen Erkenntnis; ihre empirische Bestätigung bleibt kontingent, insofern sie nicht zur systematischen Beweisführung des transzendentalphilosophischen Verfahrens gehört. Als Prinzip trägt sie jenseits einer qualitativen Bestimmung der Sache den Charakter einer Gussform, in die Wahrnehmung und Erfahrung ihre Daten überfuhren. Im selben Sinn fasst Schiller die Ordnung der Geschichte als durch den vernünftigen Kopf des Historikers a priori hergestellte Struktur. Telos und Zweckmäßigkeit der Zivilisationsgeschichte sind bei ihm im Sinne Kants transzendentale Prinzipien für den historiographischen Diskurs. Sie erscheinen nicht als objektive Elemente des historischen Ereigniszusammenhangs, so wenig, wie die Natur sich bei Kant über Gesetzmäßigkeiten direkt erfahren lässt. Vielmehr treten sie als Ergebnisse der heuristischen Operationen 28 Diese Parallele ignoriert Marion Heinz, „Die Harmonie des Menschen mit der Gottheit"Anthropologe und Geschichtsphilosophie hei Schiller; in: Georg Bollenbeck, Lothar Ehrlich (Hg.), Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker; Köln, Weimar, Wien 2007, 35. Ahnlich auch Heinz Dieter Kittsteiner, Von der Geschichtsphilosophie %ur Ästhetik. Von der Ästhetik %ur Geschichtsphilosophie, in: Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker., in: Ebd., 45. 29 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Ders., Werkausgabe (wie Anm. 6), Bd. 10, 90ff. 30 Ebd., 93.
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des Geschichtsschreibers auf, der ihnen vorab eine Form verleiht, in der sie konsekutiv gegliedert und kausal organisiert werden. Historischer Zeitsinn entsteht bei Schiller als Produkt einer erzählerischen Modellierung, die ihrerseits Ursachen und Wirkungen von Geschehenszusammenhängen in möglichst stringenter Weise arrangieren muss. Reinhart Koselleck hat diesbezüglich vermerkt, dass es erst das erzählerische Konzept des ,Vorher-Nachher' sei, das die geschichtliche Ereignisfolge konstituiere.31 Schillers besonderes Verdienst ist es, diese narrative Dimension fundamentaler historiographischer Ordnungsstiftung erstmals erkannt und beschrieben zu haben. Sein Ansatz beschränkt sich jedoch nicht nur darauf, die Bedeutung des Darstellungswissens für die Erzeugung geschichtlicher Bedeutung hervorzuheben; im weiteren Sinne betont Schiller die Analogie von Geschichtsschreibung und Kunst, indem er deren Strategien aus vergleichbaren Absichten ableitet - eine Perspektive, die von der etablierten Historiographie des Aufklärungszeitalters nicht geteilt wurde.
IV. Die Ordnungsleistung der Geschichtserzählung verbindet mit der poetischen Produktivität, dass sie sich auf die Arbeit der schönen Form stützt.32 In einem Brief an Christian Gottfried Körner vom 30. März 1789, der einen Kommentar zu Die Künstler formuliert, nennt Schiller als eine Folge der Zivilisation die Fähigkeit des Menschen, die Ungleichgewichte des geschichtlichen Lebens durch die ästhetische Strukturierung seiner Quellenmaterialien zu überwinden. Auch der Historiker partizipiert an diesem Vermögen, wenn er die „künstlichen Verhältniße" einer moralischen Betrachtung auf den „Lauf der Natur" überträgt (NA 25, 237).33 Der Einzelne steht vor der Aufgabe, Natur und Geschichte einen Ordnungsgehalt zu verleihen, den die erste Wahrnehmung nicht erschließt. „Um also sein Gefühl für Ebenmaaß zu befriedigen muß er der Natur eine künstliche Nachhilfe geben, er muß ihr gleichsam borgen. So zum Beispiel fehlte es ihm an dem nöthigen Lichte, das Leben des Menschen zu überschauen, und die schönen Verhältniße von Moralität und Glückseligkeit darinn zu erkennen. Er fand in seiner kindischen Einbildung Disproportionen; da sich aber sein Geist einmal mit dem Ebenmaaße vertraut gemacht, so schenkt er aus dichtender Eigenmacht dem Leben ein zweytes um in diesem zweyten die Disproportionen des jetzigen aufzulösen." (NA 25, 237-238) Wenn Schiller hier die strukturbildende Leistung der schönen Formen der Poesie betont, so korrespondiert das den gliedernden Funktionen des historiographischen Diskurses. Geschichtsschreibung und 31 Vgl. hier Reinhart Koselleck, Darstellung, Ereignis, Struktur, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeit, Frankfurt a. M. 1979, 145; ferner Lucian Hölscher, Neue Annalistik. Entwurf einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003, 57ff. 32 Heinz Dieter Kittsteiner sieht Geschichte bei Schiller als „Gesamtkunstwerk" (Ders., Von der Geschichtsphilosophie ψΓÄsthetik [wie Anm. 28], 49). 33 Detailliert dazu auch Thomas Prüfer, Die Bildung der Geschichte (wie Anm. 4), 130.
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Poesie schaffen gleichermaßen eine Perspektive der ,künstlichen Ordnung', die als Vernunftfolge ausweist, was zunächst wie Kontingenz wirkt. Die innere Logik der Zivilisation als Idee des historischen Prozesses hat damit ihre diskursive Form gefunden. Was Kant als transzendentale Ordnung der Natur bezeichnet, ist bei Schiller eine Leistung der Sprache, die das Telos der Geschichte im Sinne eines in der gefalligen Darstellung anschaubaren Vernunftgesetzes hervorhebt. Kant selbst fand übrigens solche Transferprozesse seiner Methodik im Hinblick auf den Gegenstand der Historiographie problematisch. In seiner Anthropologe (1798) kritisiert er die „Verwechslung der Zeichen mit Sachen", die dazu führe, dass sich „die Geschichte nach der Chronologie richten müßte".34 Die Priorität einer formalen Darstellungsordnung gegenüber der faktischen Ereignisfolge ist für Kant transzendentalphilosophisch nur vertretbar, sofern sie jenseits einer spekulativen Setzung Formen der Anschauung begründet, deren Apriori den Geist der .Sachen' durch ,Zeichen' erfassen, ohne ihm Gewalt anzutun. Eine ästhetische Organisation der Geschichte im Medium der schönen Darstellung wäre für Kant inakzeptabel, wenn sie ihre Sprünge und Widersprüche ignorierte. Die Form kann Priorität allein dort reklamieren, wo sie den inneren Geist der Dinge spiegelt, den sie zur Anschauung bringen soll. Auf die historische Erzählung bezogen, bedeutet das, dass sie auf doppelte Evidenz verpflichtet wird — in Bezug auf ihre interne Schlüssigkeit und im Verhältnis zum Gegenstand (dem Kant eine eigene virtuelle Ordnungsstruktur einräumt).35 Schiller hat sich der Frage nach derartiger Evidenz in prinzipieller Hinsicht gestellt, allerdings erst nach dem Abschluss seiner großen historiographischen Studien. Im September 1795 veröffentlicht er in den Hören den Essay Von den nothwendigen Grenzen des Schönen besonders im Vortrag philosophischer Wahrheiten, der die scharfe Auseinandersetzung bilanziert, die er im Sommer mit Fichte über dessen — von ihm abgelehnten — Hören-Beitrag Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie geführt hatte. Gemeinsam mit der zwei Monate später publizierten Fortsetzung (Ueber die Gefahr ästhetischer Sitten) publiziert er den Aufsatz fünf Jahre später im zweiten Band der Kleineren prosaischen Schriften unter dem leicht abgewandelten Titel Ueber die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. Grundsätzlich betont Schiller hier zwei Funktionen des diskursiven Verfahrens, die für die wissenschaftliche Darstellung unumgänglich sind: „Da, wo man eine strenge Überzeugung aus Principien zu bewirken sucht, da ist es nicht damit gethan, die Wahrheit bloß dem Inhalt nach vorzutragen, sondern auch die Probe der Wahrheit muß in der Form des Vortrags zugleich mit enthalten seyn." (NA 21, 5)36 34 Immanuel Kant, Anthropologe in pragmatischer Hinsicht, in: Ders., Werkausgabe (wie Anm. 6), Bd. 12, 502-503 (Anhang zu §35). 35 Thomas Prüfer demonstriert, dass diese Differenz auch durch die unterschiedliche Auffassung des Analogiekonzepts begründet wurde, die Kant und Schiller vertraten. Während Schiller die Analogie als Mittel der Beweisführung nutzt, betrachtet sie Kant als rein technisches Hilfsmittel, das Zusammenhänge, die a priori nicht gegeben sind, oftmals nur suggeriert (Prüfer, Die Bildung der Geschichte [wie Anm. 4], 296-297). 36 Vgl. zu diesem Konnex auch Daniel Fulda, Wissenschaß aus Kunst (wie Anm. 17), 245—246.
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Die besondere Leistung der wissenschaftlichen Abhandlung muss darin bestehen, neben der exakten Darlegung der Begriffe, die ihre Materialien bündeln, die stets auf willkürliche Assoziationen zielende Einbildungskraft der Leserschaft zu disziplinieren. Dieses Ziel erreiche man nicht durch Verzicht auf Anschaulichkeit, sondern durch die Integration genau derjenigen Reflexionsformen, die für die Arbeit der Imagination typisch seien. Indem der wissenschaftliche Vortrag eine Form wählt, die es erlaubt, Abstrakta durch individuelle Beispiele zu unterstreichen, vom Besonderen auszugehen und figürliche Ausdrucksformen als Mittel der Illustration begrifflicher Ordnungen zu nutzen, kontrolliert er die anarchischen Tendenzen der Einbildungskraft und macht sie der vernünftigen Argumentation gefügig. „So erschafft sich der beredte Schriftsteller aus der Anarchie selbst die herrlichste Ordnung, und errichtet auf einem immer wechselnden Grunde, auf dem Strome der Imagination, der immer fortfließt, ein festes Gebäude." (NA 21,10) Begriffliche Strenge und bildhafte Schönheit der Sprache müssen laut Schiller im idealen wissenschaftlichen Vortrag zusammentreten. Die Wahrheit der Sache ist für ihn über die Balance zwischen Bild und Begriff zugänglich, insofern diese eine Form der Vernunft repräsentiert. Auf eine derartige Balance, die aus anderer Perspektive auch die Matthisson-Rezension von 1794 reflektiert,37 bezieht sich Schiller, wenn er in der Jenaer Antrittsvorlesung von der Harmonie spricht, die der Historiker von seiner Gedankenwelt auf die Ordnung des Materials übertragen müsse (NA 17, 374).38 Die Festlegung rhetorischer Wirkungsprinzipien bildet für den aufgeklärten Geschichtsdiskurs, nach humanistischem Vorbild, durchaus eine Selbstverständlichkeit. Sie verstand sich als Teil einer Gesamtstrategie, derzufolge Geschichtsschreibung ,narratio rei gestae' war; ihr Ziel bildete die .Schilderung' von Ereignissen und deren Verknüpfung zu einer sinnvollen Sequenz von Fakten.39 Schon Gatterer hatte 1767 in einem Essay die Darstellungskunst des Historikers auf das Gebot der rhetorischen evidentia verpflichtet. Es besagt, dass die angenehme, unterhaltende und fesselnde Schilderung der Geschichte nicht nur Ornat, sondern auch Mittel zur Erzeugung argumentativer Stimmigkeit zum Zweck des
37 Die Landschaftsdichtung muss, so führt die Matthisson-Rezension aus, eine Annäherung von empirischem Gegenstandsbezug und ideeller Überhöhung leisten, die durch eine „symbolische Operation" (NA 22, 271) ermöglicht wird; auch hier geht es letzthin um die Harmonie zwischen Teil und System, Empirie und Begriff, die Schillers Geschichtsdenken reflektiert. 38 Angesichts dieses synthetischen Konzepts darf man Schillers Definition des ,schönen Vortrage', der in einer Wellenbewegung verläuft (NA 26, 321), nicht zum Maßstab für die Bestimmung des idealen historiographischen Erzählstils machen. Der ,schöne Vortrag' muss gerade mit den Prinzipien des wissenschaftlichen Diskurses balanciert werden. Insofern ist es auch fragwürdig, wenn Peter Hanns Reill neuerdings Schillers Definition zum Indiz für eine an Herders Organismusmodell angenäherte Geschichtsperspektive erklärt. Diese Analogie ist irreführend, weil sie von einer Alleinherrschaft des ästhetischen Gesetzes im Erzählduktus der Geschichtsdarstellung ausgeht. Die wellenförmige Bewegung der schönen Form soll laut Schiller gerade durch die Begriffe geordnet und zum Demonstrationsprinzip der historischen Teleologie ausgebaut werden (Peter Hanns Reill, Schiller, Herder, and History, in: Schiller und die Geschichte [wie Anm. 24], 76). 39 Dazu Wolfgang Hardtwig, Die Verwissenschtrfllichung der Geschichtsschreibung und die Astheüsierung der Darstellung (wie Anm. 15), 152-153.
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Nachweises von Wahrheitsgehalten aus Quellen ist. Evidenz, so fuhrt Gatterer in seinem Aufsatz aus, lässt sich durch Darstellung und durch Beweisführung erzeugen. Die Darstellungsevidenz beruht auf der „pragmatischen Entwickelung der Begebenheiten und auf Erweckung idealer Gegenwart", die argumentative Evidenz wird dagegen durch eine Demonstration von begrifflicher Konsistenz und Quellenwahrheit geschaffen.40 Die Überzeugungskraft des Stils entsteht wesentlich durch das Zurücktreten des historiographischen Erzählers, den Verzicht auf auktoriale Gebärden und die geschickte Steuerung der Ereignisschilderung nach Maßgabe von Spannungseffekten und Dynamik. Die narrative Form der Geschichtsschilderung zielt jedoch nicht auf die freie Erfindung, sondern auf die Beglaubigung von Fakten. Auch wenn sie sich aufgrund der Verwendung ihrer fiktionalen Mittel der „Wahrheit der Romane"41 nähert, ist sie nicht Poesie, sondern ein rhetorisches Verfahren zur Absicherung der sachlichen Stimmigkeit der Beweisführung. Ähnlich äußert sich Gatterer in seinem längeren Aufsatz Vom historischen Plan (1767), in dem er zugesteht, dass der Geschichtsschreiber die Kunst der „Uebergänge" beherrschen müsse, damit er sein Publikum fesseln könne.42 Die narrative Darstellung des Historikers ist ein maieutisches Prinzip, das die Wahrheit der Fakten ans Licht bringt; als Element der Wirkungsstrategie, die das in der Überlieferung zu verankernde Wissen transparent werden lässt, fungiert die Erzählung im Dienste der Überredung.43 Damit entspricht sie Zielsetzungen, wie sie bereits die ciceronische Rhetorik als Grundsatz der Verwendung tropischer Stilmittel formulierte.44 Die Forderung nach einer persuasiven Funktion des Stils schließt jedoch bei Gatterer stets die strikte Trennung von Poesie und Geschichtsschreibung ein. Während es für Gatterer außer Frage steht, dass die diskursive Struktur der Geschichtserzählung nur eine Hebammenfunktion für die Evidenz des Quellenmaterials erfüllt, geht Schiller einen Schritt weiter, wenn er von der Imaginationsleistung des Historikers spricht. Deren Wirkung besteht neben der Freisetzung des in den Quellen beschlossenen Sinnpotentials auch in der Organisation des historischen Bewusstsein selbst. In einem Brief an Caroline von Beulwitz formuliert Schiller am 10./11. Dezember 1788, dass sich der Geschichtsschreiber nicht mit der Erfassung der äußeren Wahrheit seiner Fakten begnügen dürfe, sondern deren „philosophische und Kunstwahrheit" kennzeichnen müsse (NA 25, 154). Um sein Ziel zu erreichen, habe er bei der Poesie in die Schule zu gehen, die „Herr
40 Johann Christoph Gatterer, Vom Je von der Evident in der Geschichtskunde, in: TheoreHker der deutschen Aufklärungshistorie (wie Anm. 26), Bd. 2,470-471. 41 Ebd., 470. 42 Johann Christoph Gatterer, Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen, in: Theoretiker der deutschen Au/klärungshistorie (wie Anm. 26), Bd. 2, 626. 43 Zu dieser Bestimmung Gatterers vgl. Fulda, Wissenschaft aus Kunst (wie Anm. 17), 172—173. 44 Marcus Tullius Cicero, De oratore/Über den Redner. Latein-Deutsch, übers, u. hg. v. Harald Merkün, Stuttgart 1976, Hb. 2,261-263.
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und Meister" über die inneren Geheimnisse des Menschen sei (NA 25, 154).45 Schiller hat diese Seite des historiographischen Darstellungsverfahrens auf die psychologische Evidenz der Schilderung bezogen; im weiteren Sinne berührt die Funktion, eine innere Wahrheit zu demonstrieren, aber auch die argumentative Architektur der Erzählung und damit die Ebene ihrer logischen Schlüssigkeit. Die poetische Form erst treibt aus den Quellen die Wahrheit des teleologischen Naturplans hervor, der dem Geschichtsverlauf zugrunde liegt. Für Schiller wird aus der rhetorischen Evidenz, die Gatterer in den Dienst der persuasio rückte, ein narratives Konstruktionsprinzip, das selbst epistemischen Charakter trägt. Dieser Schritt trägt dem neuen - erstmals von Schlözer vertretenen — Anspruch der Historiographie Rechnung, nicht nur eine Schilderung geschichtlicher Ereignisse, sondern auch Einsichten in ihren politischen, anthropologischen oder philosophischen Sinn zu bieten. Angelehnt an die Methodik Kants, macht Schiller die Darstellung zum transzendentalen Apriori der geschichtlichen Wahrheit. Er überführt das rhetorische Verfahren Gatterers in ein ästhetisches Prinzip, das seinerseits historische Bedeutung stiftet. Die Geschichtsschreibung erfüllt damit — im weiteren Sinne eine transzendentale Aufgabe, indem sie mit ihren formierenden Prinzipien eine Ordnung vor aller Erfahrung entwirft. Die diskursive Form der Historiographie ist gleichsam das gestaltende Verfahren, das die Vernunft der Natur als Element des Zivilisationsprozesses offenbart. Vernünftig ist diese Ordnung in dem Maße, in dem sie durch die schöne Anschaulichkeit der Erzählung beglaubigt wird. Der rhetorische wandelt sich so in einen ästhetischen Anspruch, der von einer eigenen Philosophie der Form gestützt wird. Schillers historiographisches Darstellungskonzept führt dergestalt zusammen, was Hegels Religionsphilosophie später der Idee des vom Unendlichen getragenen, zum freien Bewusstsein sich entfaltenden Geistes subsumiert, der Telos und Zweckmäßigkeit verbindet.46 Natur, Zivilisation und Erzählung bilden beim Historiker Schiller eine Einheit, die jener von Reflexionsgehalt und Form entspricht. Die Zivilisationsgeschichte als Schauplatz der Teleologie der Natur, die Kontingenz in Ordnung transferiert, wird erst durch die narrative Darstellung sichtbar. Das transzendentale Prinzip der Natur offenbart sich über die schöne Form, mithin im Rahmen einer ästhetischen Perspektive. Poesie und historiographischer Diskurs stützen sich dabei gleichermaßen auf die Arbeit der Einbildungskraft, die jene Balance schafft, welche es erlaubt, die Disproportion des Lebens in der Harmonie einer übergreifenden Organisation der Materialien der Erfahrung zu überwinden, wie es Schiller im Brief an Körner vom 30. März 1789 beschreibt. Die Annahme, dass die Einheit von Natur- und Zivilisationsgeschichte in der er-
45 Vgl. hier Claudia Oehlenschläger, „Wahn Geschichte". Schillers anekdotisches Erzählen zwischen Historiographie und Fiktion, in: Schiller und die Geschichte (wie Anm. 24), 170-171, mit Bezug auf die Schulung der historischen Systembildung durch den Geist der Erzählung. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, in: Ders., Werke, Bd. 17, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, 442ff.
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zählerischen Darstellung zu ihrer formalen Selbstreflexion finde, ist freilich ihrerseits das Element einer historiographischen Konzeption, die Schiller seit der Mitte der 1790er Jahre wieder modifiziert hat.47 In der Abhandlung Ueber das Erhabene, die um 1795 entstand, betrachtet er die Weltgeschichte bekanntlich als ,erhabenes Object', das sich teleologischen Projektionen ebenso wie geschichtsphilosophischen Konstruktionen in eine dunkle Kontingenz entzieht (NA 21, 49). Die Jenaer Antrittsvorlesung hatte noch die Möglichkeit umrissen, „die blinde Herrschaft der Nothwendigkeit" durch ein teleologisches Prinzip zu kontrollieren, das „dem Verstände die höhere Befriedigung" versprach (NA 17, 373-374). Diese methodische Option des Historikers, in der Voluntarismus und Optimismus sich die Waage halten, ersetzt der Essay Ueber das Erhabene durch den Hinweis auf die Wirkungen der kulturellen Erfahrung. Aus dem „tollen Zufall" historischer Ereigniszusammenhänge befreit hier allein die Kunst, indem sie die „Independenz" moralischer Autonomie gegenüber den Zwangsmechanismen von Natur und Geschichte zeigt (NA 21, 4S).48 Von den Hoffnungen des aufgeklärten Historikers bleibt das Bewusstsein, dass die theoretische Erwartung, die sie antreibt, primär das Produkt ihrer schönen Form ist. Epistemische und ästhetische Funktionen sind freilich in dieser Form vereint, denn ihre Ordnung reflektiert die höhere Vernunft der Geschichte über die Strukturen ihrer diskursiven Organisation.
47 Vgl. Wolfgang Riedel, „Weltgeschichte ein erhabenes Objeä". Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken, in: Peter-Andre Alt, Alexander Kosenina, Hartmut Reinhardt, Wolfgang Riedel (Hg.), Prägnanter Moment. Studien %ur Aufklärung und Klassik. Festschrift fir Hans-Jürgen Schings, Würzburg 2002, 193—214. Der These von der Relativierung des historischen Optimismus im Konzept des Erhabenen widerspricht Klaus Ries, Friedrich Schiller — ein politischer Professor?, in: Klaus Manger, Nikolaus Immer (Hg.), Oer gan^e Schiller - Programm ästhetischer Erziehung, Heidelberg 2006, 70ff., 83-84. Ries sieht keinen grundlegenden Gegensatz zwischen der Antrittsvorlesung und dem zweiten Essay zum Erhabenen, weil er bereits in der Jenaer Rede skeptische Elemente identifiziert Ries' Hinweise beziehen sich auf Schillers Vorbehalte gegenüber der zügigen Erreichbarkeit einer lückenlosen systemhistorischen Universalhistorie; dass er selbst 1789 dem teleologischen Ansatz folgt, sollte aber gleichwohl außer Frage stehen und die Differenz gegenüber den Positionen der mittleren 90er Jahre deutlich werden lassen. 48 Zum Konnex von Theorie des Erhabenen und Geschichtspessimismus beim späteren Schiller vgl. Wolfgang Riedel, „ Weltgeschichte ein erhabenes Object" (wie Anm. 47), bes. 205ff.
II. ENZYKLOPÄDIK
SEBASTIAN NEUMEISTER
Pierre Bayle oder die Versuchung der Geschichten
i. Das 18. Jahrhundert ist nicht ohne Grund das Jahrhundert der Nachschlagewerke genannt worden. Während zwischen 1680 und 1700 nur ungefähr fünfzig Wörterbücher und Enzyklopädien erschienen, sind es allein zwischen 1750 und 1769 fast zweihundert.1 D'Alembert, der Mitverfasser der Encyclopedie und des ihr vorausgehenden Discours preliminaire, unterscheidet drei Arten von dictionnaires·. dictionnaires des mots, also Wörterbücher, dictionnaires des choses, also Lexika des Sachwissens und dictionnaires historiques, d. h. Nachschlagewerke zur Geschichte im weitesten Sinne. Folgt man dieser Einteilung, so sind Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique von 1696 (2. Auflage 1701) und das Grand Dictionnaire historique von Luis Moreri von 1674 (mit 26 weiteren Auflagen bis 1759), das Pierre Bayle aufgrund seiner Fehler zur Abfassung seines eigenen Dictionnaire veranlasst hat, zweifellos dictionnaires historiques. Es sind nicht Enzyklopädien mit Sachartikeln, wie die spätere Enamse", „inconstance" und „curiositt. Das Regelwerk, das Fontenelle hier entwirft, bricht mit fast allen Vorgaben der Tradition. Er zögert nicht, die Einheit von Ort und Zeit zu verwerfen und durch die „unite d'interef zu ersetzen. Im Dienst des „intents" gesteht Fontenelle der Tragödie größtmögliche Freiheit im Umgang mit der historischen Wahrheit zu. Da die Neugier aber immer auch nach neuen Wahrheiten verlange, das Publikum mehrheitlich nicht an Geschichte oder Politik interessiert sei und Darstellungen der Liebe immer auf Anteilnahme stießen, sollte die Tragödie neue Wahrheiten über die Wirkungsweise insbesondere dieser Passion vermitteln.23 In seiner Preface zu den eigenen Tragödien und Komödien entwirft Fontenelle eine allgemeine Theorie der dramatischen Genres. Ihr Modell ist die Optik. Wie das Licht, das sich als Kombination bestimmter Komponenten erwiesen habe, seien auch die dramatischen Genres Kombinationen von Grundbestandteilen. Fontenelle klärt die Frage nach den Grenzen zwischen den dramatischen Gattungen, indem er diese Bestandteile - „le terrible, le grand, le pitoyable, le tendre, le plaisant" — und ihre Kombinationsmöglichkeiten aufzeigt.24 Neben diesen ahistorischen, allein auf die wissenschaftliche Analyse der menschlichen Natur gestützten Poetiken hat Fontenelle auch eine Reihe von Poetiken entworfen, die die Ableitung von der menschlichen Natur mit dem Blick auf die Geschichte verbinden. Im Discours sur la nature de l'eglogue (1688) geht er an den Anfang der Gattung zurück. Die Ekloge sei erfunden worden, um das 22 Fontenelle, Digression (wie Anm. 20), 424. Werner Krauss verweist auf den Nekrolog auf Gallois, in dem es heißt: „toutes les richesses, et meme Celles de l'esprit, dependent du commerce", Krauss, Fontenelle (wie Anm. 19), 33. 23 Bernard Le Bouvier de Fontenelle, Reflexions sur la poetique, hg. v. Alain Niderst, in: CEuvres completes de Fontenelle, Bd. 3, Paris 1989,111-117. 24 Bernard Le Bouvier de Fontenelle, Preface generale de la tragedte et des six comedies de ce neueil, hg. v. Alain Niderst, in: CEuvres completes de Fontenelle, Bd. 5, Paris 1993,10-13.
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Vergnügen von Hirtenkönigen an ihren Herden und ihren Liebschaften zu steigern. Die Frage, die er erörtert, lautet, ob diese Form des Vergnügens in die fortgeschrittene Zivilisation übertragen werden könne. Sein Vorschlag ist, Illusionen zu schaffen, die die Primitivität des Landlebens ausblenden und allein das mit dem Schäferleben assoziierte Bild komplikationslosen Glücks vermitteln. Da zur Steigerung des Vergnügens auch die Neugier befriedigt werden müsse, sollte das in der jüngeren Romanliteratur gewonnene Wissen über die Liebe in die Darstellung der verliebten Hirten einfließen.25 Auch in Sur lapoesie en general (1730—40, veröff. 1751) argumentiert Fontenelle zivilisationsgeschichtlich. Die Poesie sei eine Erfindung, die sich wie jede andere Erfindung nur dann durchsetze, wenn sie ein Bedürfnis befriedigt oder in einer anderen Weise nützlich sei. In der Frühzeit habe der Nutzen der für die Poesie konstitutiven Verkomplizierung der Sprache darin bestanden, die Memorisierbarkeit von Gesetzestexten zu erhöhen. Die Dichter hätten die Götter erfunden, um ihren sozialen Status zu erhöhen. Da in der Gegenwart Innovationen auf dem Gebiet des „merveilleux*' nicht möglich seien und die antiken Götter auch kein Respekt mehr einflößten, habe eine Dichtung, die an den Metaphern der Alten festhält, keine Zukunft. Was in der Gegenwart Respekt und Bewunderung auslöse, seien die sublimen Wahrheiten der Wissenschaft. Um in der Moderne zu überleben, sollten die Dichter die Entdeckungen der neuen Physik zur Quelle einer neuen Metaphorik machen.26 Fontenelle hat auch eine Geschichte des französischen Theaters geschrieben. Ihr Gegenstand ist das Verhältnis des Theaters zu den Lumieres des jeweiligen Jahrhunderts und seine Wirkung auf die Sitten. Was das Verhältnis zwischen Lumieres und belles-lettres angeht, stellt Fontenelle den Grundsatz auf, dass die Literatur immer den Wissensstand ihrer Zeit abbilde. Vom 17. Jahrhundert heißt es in der Vie de Μ Corneille (1690-1700), dass die Fortschritte der Lumieres Voraussetzung dafür waren, dass die belles-lettres ihre Vollendung erreichten. Die wissenschaftliche Revolution erscheint hier also als Voraussetzung der literarischen
25 Bernard Le Bouvier de Fontenelle, Discours Sur la nature de l'eglogue, hg. v. Alain Niderst, in: CEums completes de Fontenelle, Bd. 2, Paris 1991, 381^(09. 26 Fontenelles Ideal ist das des ,foete-phitosophi', der die schwierigsten Fragen der Wissenschaft in der „langue ordinaire" der Poesie ausdrückt, Bernard Le Bouvier de Fontenelle, Sur la poesie en general, hg. v. Alain Niderst, in: CEums competes de Fontenelle, Bd. 5, Paris 1993, 553. Philippe Chometry hebt Fontenelles programmatische Äußerung hervor, derzufolge die Aufgabe des Poeten darin besteht, „d'aider le public ä passer de l'äge de l'imagination ä l'äge de la raison", ders., „Philosopher en langage des dieux". La poesie d'idees en France au steck de Louis XIV, Paris 2006, 168. Michel Foucault und, nach ihm, MarieFranioise Mortureux haben die epistemischen Implikationen der Transposition von Astronomie in Sprache problematisiert, dies., L'entreprise de Fontenelle dans les Entretiens, in: Alain Niderst (Hg.), Colhque Fontenelle (wie Anm. 19), 105-115; dies., La formation et le fonctonnement d'un discours de la vulgarisation scientifique au XVIIIe siecle ä travers l'auvre de Fontenelle, Lille 1983. Andreas Gipper fuhrt das Verständnis von Vulgarisierung als Übersetzung u. a. auf Fontenelle zurück, ders., Wunderbare Wissenschaft (wie Anm. 6), 126.
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Klassik. Der Einfluss des literarischen Fortschritts auf die Sitten bestehe in der Verbannung schlechter Sitten aus der Literatur.27 Betrachtet man Fontenelles Geschichten des Wissens und seine Poetiken im Zusammenhang zeichnet sich folgende Konstellation ab. Sowohl die Poetik als auch die Geschichte werden neu gegründet: die Poetik als Wissenschaft von den Wirkungen von Kunst, die Geschichte als Wissenschaft vom Fortschreiten der Erkenntnis. Grundlage beider ist die wissenschaftliche Analyse der menschlichen Natur. Bei der Ausführung dieses Programms setzt Fontenelle verschiedentlich neu an, hält dabei aber an der Annahmen fest, dass der wissenschaftliche und der künsderische Fortschritt auf sich ausschließenden Prinzipien beruhen. Der wissenschaftliche Fortschritt verdanke sich der Eindämmung und Kontrolle des Vergnügens an der Affabulation, der künsderische bestehe hingehen darin, dieses Vergnügen zu maximieren.28 Wie sich diese Spannung in den verschiedenen poetologischen und zivilisationsgeschichtlichen Entwürfen niederschlägt, ist in unserem Kontext weniger wichtig als die Feststellung, dass das Nebeneinander von historischer und ahistorischer Poetik dazu zwingt, beide Ansätze zu koordinieren. Fontenelles Theorie zufolge sollten die in ahistorischer Analyse gewonnenen poetologischen Prinzipien die Rolle der Literatur in der Geschichte des Wissens erklären. Andere Kombinationen sind aber durchaus denkbar und werden im weiteren Entwicklung der historischen Poetik zur Geltung kommen. Die Auswirkungen von Fontenelles neuer Form der Poetik auf das Gattungssystem wurden bereits angedeutet. Die Anbindung der Poetik an den Fortschritt der exakten Wissenschaften fordert ständige Innovation. Wie sehr Fontenelle auf Innovation setzt, zeigt sich nicht nur in der Konsequenz, mit der er das Lustprinzip zur Grundlage der Poetik erklärt. Nicht weniger einschneidend sind seine Aufwertung des modernen Romans, dessen psychologische Entdeckungen den klassischen Gattungen den Stoff liefern sollen, die Substitution des klassischen Mythos durch die Allegorisierung der wissenschaftlichen Welt, die Ersetzung von Tragödie und Komödie durch eine Reihe von genres mixtes sowie die der Einheit von Handlung, Ort und Zeit durch die „unite d'interef. Fontenelles eigene Produktion wird diesen Postulaten nur in Teilen gerecht. Seine Eklogen widmen sich der Liebespsychologie und verbinden die Evokation
27 Mit den Remarques sur quelques comedies d'Aristophane, der Histoire du Theätre Franfois jusqu'ä M. Corneille (1742) und der Vie de M. Corneille hat Fontenelle eine Geschichte des Theaters von seinen griechischen Anfangen bis Corneille geliefert, Bernard Le Bouvier de Fontenelle, Histoire du Theätre Franfoisjusqu'ä M. Corneille, hg. v. Alain Niderst, in: (Eums completes de Fontenelle, Bd. 3, Paris 1989, 2 9 82; ders., Vie de M. Corneille, ebd., 83-109. Roger Marchai weist zu Recht darauf hin, dass die Histoire du Theätre Franfois konsequent die Thesen der Modernes bestätigt. Das französische Theater entstehe im Mittelalter ohne äußeren Anstoß, entwickele sich in Jahrhundertschritten in Abhängigkeit vom historischen Kontext und erreiche nicht durch die Orientierung an der Antike, sondern durch die eigenständige Leistung des Jahrhunderts Corneilles seinen Höhepunkt, Marchai, Fontenelle (wie Anm. 17), 81—84. 28 Die literaturhistorische Kontextualisierung von Fontenelles Kritik der Imagination und ihrer Indienstnahme für die Vermitdung von Wissenschaft ist Andreas Gipper zu verdanken, Gipper, Wunderbare Wissenschaft (wie Anm. 6), 143-147.
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ländlichen Glücks mit galantem Raffinement. 29 In Fontenelles Poesies diverses ist von der Integration der Wissenschaft in die Metaphorik kaum etwas zu erkennen. Wissenschaft spielt lediglich in den frühen Enkomien auf Ludwig XIV. eine Rolle, die den König für die Transformation Frankreichs in die fuhrende Wissenschaftsnation preisen.30 Der Großteil der Poesies bildet zusammen mit den heitres galantes (1683), den dem Kult Amors gewidmeten tragedies lyriques Psyche (1678), Bellerophone (1679), Thetis et Pellee (1689), Enee et Lavine (1690) sowie seinen pastorales ein Korpus, das das ästhetische Programm der Galanterie in seiner ganzen Breite umsetzt. Ihr Ziel ist, das Bedürfnis nach Vergnügung, Neuigkeit, Zerstreuung und Evasion durch erotisches Raffinement, Musik, Tanz und spielerischen Umgang mit dem merveilleux zu befriedigen, und superstition und Dogmatismus damit die Grundlage zu entziehen.31 Wie Perrault, der in seinem Parallele darauf besteht, dass die französische Galanterie die politesse und urbanitas der Alten übertreffe und den Höhepunkt sittlicher Entwicklung darstelle, macht auch Fontenelles Geschichte des Theaters die Galanterie zum Maßstab sittlichen Fortschritts.32 Fontenelles dramatische Produktion setzt sein Innovationspostulat mit großer Konsequenz um. Mit der Rivalität zweier Männer um eine Frau steht die Liebespsychologie im Zentrum der beiden Tragödien Brutus (1691 mit Catherine Bernard) und Idalie (1710). Mit der Kombination von Komik und Rührung durchbricht die Komödie Macate schon 1722 das klassische Gattungssystem.33 Auch Fontenelles Beitrag zur Popularisierung lässt sich als Umsetzung seines poetologischen Programms verstehen. Die Komödie La Comete (1681) folgt dem Modell von Molieres Femmes savantes. Der Astrologe, der sich unter Berufung auf seine .Wissenschaft' einer Liebesehe entgegenstellt, wird verlacht, seine pseudowissenschaftlichen Wissensansprüche werden als Instrument der Manipulation entlarvt. 34 Gegenstand der Entretiens sur la pluralite des mondes habites (1687) ist die zeitgenössische Himmelsmechanik. Da sie zum Ausgangspunkt von Entwürfen extraterrestrischen Lebens gemacht wird, die bei der Marquise sublime Schauer auslösen, kann man in diesem Dialog einen ersten Versuch sehen, den alten 29 Bernard Le Bouvier de Fontenelle, Poesies pastorales, hg. ν. Alain Niderst, in: (Entires completes de Fontenelle, Bd. 2, Paris 1991, 319—380. Alain Niderst und Roger Marchai verweisen auf die Distanzierung vom Preziosentum, Roger Marchai zudem auf die Harmonisierung von „nature" und ,politesse", Marchai, Fontenelle (wie Anm. 17), 32-33. 30 Zu La Gloire des armes et des lettres sous Louis XIV und ähnlichen für die Academie franfaise geschriebenen Gedichten siehe Marchai, Fontenelle (wie Anm. 17), 21. Zurpoesiegalante siehe ebd., 29—37. 31 Zur Rolle der Oper im literarischen Programm der Galanterie: Alain Viala, D'une politique des formes: lagalanterie, in: XVIIe Siede 183 (1994), 143-144. 32 Zur zivilisationsgeschichtlichen Rolle, die Perrault der Galanterie einräumt Jean-Michel Pelous, Amourprecieux, amour galant (1654-1675), Paris 1980,475. 33 Roger Marchai fasst die Forschung zu Fontenelles Theater mit der Bemerkung zusammen, dass er ähnlich wie Diderot als Theoretiker des Theaters Größeres geleistet habe als als Dramatiker, Marchai, Fontenelle (wie Anm. 17), 65. 34 Bernard Le Bouvier de Fontenelle, La Comete, in: CEuvres completes de Fontenelle, Bd. 4, hg. v. Alain Niderst, Paris 1992, 127-166. Zum Problem der Autorschaft: Francis Moureau, Fontenelle auteur comique, in: Niderst (Hg.), Colloque Fontenelle (wie Anm. 19), 191.
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Mythos durch eine neue, wissenschaftskompatible Form des merveilleux zu ersetzen. 35 Bei der Wahl der Gattungen - Gelehrtenkomödie und Dialog — folgt Fontenelle der humanistischen Tradition. Die zentrale Rolle, die die Galanterie in beiden Texten spielt, zeigt, wie Fontenelle seine Poetik des „plaisit'' in den Dienst der Popularisierung stellt.36 Die in unserem Kontext relevanteste Innovation besteht wohl darin, dass Fontenelle neben der Naturwissenschaft auch die neue Wissenschaft von der Geschichte zum Gegenstand der Popularisierung macht. Die großen Linien der Geschichte des Wissens werden nicht nur in historischen Abhandlungen wie der Histoire des oracles entwickelt.37 Seine Totendialoge sind zwar fiktiv und, ähnlich wie die Entretiens sur la pluralite des mondes habites galant. Das Geschichtsbild, das sie veranschaulichen, ist das, das Fontenelle in seinen historischen Abhandlungen entwickelt.38Ahnlich wie bei Bacon umfasst auch Fontenelles Theorie des Fortschritts einen utopischen Entwurf. Die Fontenelle zugeschriebene, clandestine Histoire des Ajaoiens (1682) ist der Bericht von einer Reise zu einem Volk, das sich in der Tradition der neuzeitlichen Wissenschaftsutopien dadurch auszeichnet, dass es dem wissenschaftlichen Denken den höchsten Stellenwert einräumt. Die Ajaoiens sind Materialisten und leben in einem wohlgeordneten, demokratischen Staat, dem die Übel des christlichen Abendlandes unbekannt sind.39
35 Ders., Les Entretiens sur la pluralite des mondes habites, in: (Euvres completes de Fontenelle, Bd. 2, hg. v. Alain Niderst, Paris 1991, 7-130. Für Roger Marchai bedienen die Gegenwelt der Eklogen und die extraterrestrischen Lebens das gleiche Bedürfnis nach Kompensation, das Fontenelle in seinem Discours sur la nature de l'eglogue den Modernen attestiert, Marchai, Fontenelle (wie Anm. 17), 33. 36 Zur Brückenfunktion von Dialog und entretien im Verhältnis von savants und mondains·. Denis Lopez, Discours savant et style mondain: les Entretiens sur la pluralite des mondes au centre d'une tradition d'echange, in: Niderst, Colloque Fontenelle (wie Anm. 19), 117. Ciaire Cazanave sieht in der honnete savante, als die die Marquise hier erscheine, das Gegenbild zu Molieres Satire auf die femme savante, dies., Le dialogue ä l'äge classique. iitude de la litterature dialogque en France au XVIIe siecle, Paris 2007, 420. Entscheidend zum Verständnis von Fontenelles Rekurs auf die Galanterie ist Alain Vialas Identifizierung der Galanterie als Geselligkeitsideal der Modernes, das den art de plaire zur Grundlage der Verkehrsform der honnetes gens machte, ders., Les Signes Galants: A Historical devaluation of Galanterie, in: Yak French Studies 92 (1997), 11—29. Genauer zum Zusammenhang zwischen Modernität und Preziosität: Gipper, Wunderbare Wissenschaft (wie Anm. 6), 122-126. Auch Gipper kommt hier zu dem Ergebnis, dass Fontenelles „Vulgarisierungsdiskurs eher zur Seite des divertir denn zur Seite des instruire neigt", ebd., 128—129. 37 Schon mit der Histoire des oracles verfolgt Fontenelle erklärtermaßen das Ziel, einen gelehrten Text — die Vorlage Van Dales — so aufzuarbeiten, dass er für das grand public lesbar wird. 38 Bernard Le Bouvier de Fontenelle, Nouveaux dialogues des morts, hg. v. Donald Schier, Chapel Hill 1965. Der Austausch der männlichen und weiblichen „Toten" über die Geschichte von Sitten und Wissen ist ein Modell galanter Wissenskommunikation. Genauer: Jörn Steigerwald, Galante Gespräche: Bernard de Fontenelles Dialogues des Morts, in: Gabriele Vickermann-Ribemont, Dietmar Rieger (Hg.), Dialog und Dialogjsjtät im Zeichen der Aufklärung Tübingen 2003, 23—30. Die apriorische Festlegung der Forschung zur Popularisierung auf die Vermittlung der Naturwissenschaften hat dazu geführt, dass das Problem der Vermitdung der neuen Wissenschaft von der Geschichte und sein Bezug zur Wissenschaftspopularisierung nicht gesehen wurden. Gipper macht sich die Fokussierung auf die Naturwissenschaft zu eigen, hebt aber hervor, dass Fontenelle die Vermittlung physikalischen Wissens in den Entretiens und die historischen Wissens in der im gleichen Jahr erschienenen Histoire des Oracles als Teil eines gemeinsamen Projektes verstand, Gipper, Wunderbare Wissenschaft (wie Anm. 6), 126. 39 Ders., Histoire des Ajaoiens, in: (Euvres completes de Fontenelle, Bd. 9, hg. v. Alain Niderst, Paris 2001, 999—1066. Vgl. auch Hans-Günter Funke, Fontenelle. Histoire des Ajaoiens. Kritische Textedition mit einer
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Fontenelles Position als Sekretär der Academie royak des sciences war mit dem Auftrag verbunden, die Geschichte der Akademie und die Leistungen ihrer Mitglieder zu dokumentieren. In den Tätigkeitsberichten der Akademie und den eloges werden die Leistungen der Wissenschaftler für den Laien verständlich gemacht. Indem er sie als Beitrag zu einem humanitären Projekt darstellt, verleiht Fontenelle ihnen zudem den Reiz eines neuen Modells heroischen Lebens.40
Montesquieu Das Werk Montesquieus ähnelt in verschiedener Hinsicht dem Fontenelles. Als Präsident der Academie de Bordeaux stand auch er an der Spitze einer Schlüsselinstitution der neuen Wissenschaft. In dieser Funktion hat er eine Reihe von Discours produziert, in denen er von der Akademie initiierte Forschungsprojekte bewertet. Wie Fontenelle tritt er schon früh als Autor galanter Lyrik auf den Plan. Sein Temple de Gnide (1725) ist der Bericht einer Reise von Sybaris in das von Venus beherrschte Reich der Liebe.41 Wie Fontenelle ist auch Montesquieu Autor einer Poetik. Sein Essai sur legoüt (1751) folgt dem Modell von Fontenelles Reflexions sur la poetique. Ziel seiner Poetik ist die Maximierung des Vergnügens. Ihre Grundlage ist die Wissenschaft von den Mechanismen menschlichen Lustempfindens.42 Selbst Montesquieus Ansatz zur Verwissenschaftlichung der Geschichte ähnelt dem Fontenelles. Der Wissenschaftsanspruch von L'Esprit des his (1748) wird damit begründet, dass historische Gesetzte von der wissenschaftlichen Analyse der menschlichen Natur abgeleitet werden. Entscheidend sind dabei die vorgeblich empirisch verifizierbaren Veränderung des Nervensystems durch das Klima.43 Dokumentation ?ur Entstehung*-, Gattmgs· und Resgptionsgeschichte des Werkes, Heidelberg 1982; Giuseppe Lissa, Fontenelle e l'Histoire desA/aoiens, in: Luigi Fiipo (Hg.), Studi sull'utopia, Florenz 1976,245-286. 40 Andreas Gipper und Charles Paul betonen den aristokratischen Charakter der Tugenden des neuen Heros, Gipper, Wunderbare Wissenschaft (wie Anm. 6), 166—167; Paul verweist zudem auf den stoischen Tugendkanon, den Fontenelle refunktionalisiere. Elemente der Ekloge fanden insofern Eingang, als der Rückzug von der Gesellschaft Objektivität garantiere, Charles B. Paul, Science and Immortality. The Eloges of The Paris Academy of Sciences (1699-1791), Berkeley 1980. Zu Fontenelles Geschichte der Akademie: Simone Ma^auric, Fontenelle et l'invention de l'histoire des sciences a I'aube des Lumieres, Paris 2007,142-156. 41 Carole Dornier ordnet den Temple de Gnide der nouveüe galanterie zu, die sich nach dem Vordringen der devots in den letzten Jahren Ludwigs XIV. neu konstituiere. Auch ginge es Montesquieu weniger um den Ausweis von Mondanität, als um eine konsequent sensualistische Ethik des Glücks, Carole Dornier, Montesquieu et l'esthetique galante, in: Revue Montesquieu 5 (2001), 6-21. 42 „Les sources du beau, du bon, de l'agreable, etc. sont done dans nous-memes; et en chercher les raisons, c'est chercher les causes des plaisirs de notre äme", Montesquieu, Essai sur le g>üt, hg. v. CharlesJacques Beyer, Genf 1967, 66, 62. Die von Beyer vertretene Auffassung (15-17), dass Fontenelle als wichtigstes Modell gelten kann, hat Andre Charrak jüngst mit dem Hinweis auf weitere Bezugspunkte ergänzt: Andre Charrak, heplaisir et Vordre:pour une nouvellt lecture de l'essai sur legoüt de Montesquieu, in: Jean Ehrard, Catherine Volpilhac-Auger, Dugoüt α l'esthetique: Montesquieu, Bordeaux 2007,178-179. 43 Montesquieus „Leitwissenschaft" ist die Physiologie. Die Verbindung von Klima, Physiologie und Charakter, auf die er seine Theorie des Verfassungswandels in L'Esprit des lois gründet, ist eine Variante der vielen zeitgenössischen Theorien der sensibiüte. Wie diese betont sie den Einfluss des
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Anders als bei Fontenelle spielen die belles-lettres in Montesquieus Geschichte der Sitten keine Rolle. In den Considerations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur decadence (1734) ist das noch anders. Hier erscheint die translatio litteris von den Griechen zu den Römern als Anfang vom Ende der republikanischen Tugend.44 In L'Esprit des lots kommt Montesquieu jedoch zu anderen Ergebnissen. Der historische Wandel der Sitten und Verfassungsformen folgt Gesetzen, auf die die belles-lettres keinen Einfluss haben.45 Auch wenn man diese Theorie des gesellschaftlichen Wandels wegen der Nichtthematisierung der Literatur allenfalls im negativen Sinne als historische Poetik bezeichnen kann, zeichnet sich im Werk Montesquieus doch eine Konstellation von belles-lettres und Geschichtswissenschaft ab, die in der weiteren Entwicklung eine wichtige Rolle spielen wird. Sie besteht darin, dass die neue historische Wissenschaft selbst zum wichtigsten Protagonist des Forschritts erklärt wird und die belles-lettres dazu bestimmt werden, dieses Wissen zu popularisieren. Gleich zu Anfang von L'Esprit des lots heißt es, dass nur die wissenschaftliche Kenntnis der Dynamik des Verfassungswandels erlaubt, die Effekte der Gesetzgebung richtig einzuschätzen. Es wird aber ausdrücklich festgehalten, dass sich die Darstellung dieser Wissenschaft nicht nur an die Gesetzgeber wende. Sie sei auch für das Volk von Nutzen, erlaube es ihm doch, aus der Notwendigkeit des Gehorsams ein Vergnügen zu machen. „Si je pouvais faire en sorte que ceux qui Commandern augmentassent leurs connaissances sur ce qu'ils doivent prescrire, et que ceux qui obeissent trouvassent un nouveaux plaisir a obeir, je me croirois le plus heureux des mortels."46 Schon vor der Vollendung seines Hauptwerkes hat Montesquieu Formen belletristischer Popularisierung geschaffen, die in besonderer Weise geeignet scheinen, den methodologischen Ansatz seiner Gesellschaftswissenschaft - die Kombination von synchronem Gesellschaftsvergleich und diachroner Analyse langfristiger Veränderungen — an ein Laienpublikum zu vermitteln. Fontenelle hatte zur Vermittlung der neuen Geschichtswissenschaft den Totendialog refunktionalisiert. Montesquieu experimentiert in der Histoire veritable (1734—39) ebenfalls mit einem antiken Vorbild. Ähnlich wie der Dialog zwischen antiken Nervensystems auf das menschliche Verhalten. Renato Giuseppe Mazzolini, Όalio ,spirito nerveo' alio ,spirito delk kgp': un commento alle osservasjoni di Montesquieu su una lingua dipecora, in: Giles Barber et al. (Hg.), Enlightenment essays in memory of Robert Shackkton, Oxford 1988,205—221; Sean Quinlan, Sensibility and human science in the Enlightenment, in: Eighteenth Century Studies 37 (2003/04), 296-301. Jüngst: Denis de Casabianca, Montesquieu. De l'etude des sciences a L'Esprit des lois, Paris 2008, 350-392. 44 In Kapitel 10, „De la corruption des Romains", heißt es, dass die römische Tugend auch darauf beruhte, dass die „arts" als eines Römers unwürdig erachtet wurden. Neben der Verbreitung der griechischen Künste und Wissenschaften, insbesondere der Philosophie Epikuis, führten demnach Luxus und die Schwächung der Religion zum Fall der Republik, Montesquieu, Considerations sur les causes de la grandeur des Remains et de leur decadence, in: CEuvres completes de Montesquieu, Bd. 2, hg. v. Roger Caillois, Paris 1951,120-122. 45 Man kann Montesquieus Geschichtstheorie pointiert formuliert dem historischen Materialismus zuordnen. Denis de Casabianca spricht von einer „physique sociale", Casabianca, Montesquieu (wie Anm. 43), 125-162. 46 Montesquieu, L'Esprit des lois, in: CEuvres completes de Montesquieu, Bd. 2, hg. v. Roger Caillois, Paris 1951, 230.
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und modernen Toten erlaubt die Fiktion der Seelenwanderung, langfristige historische Entwicklungen mit dem Anschein von Authenti2ität darzustellen.47 Der Reisebericht, der bis dahin dazu diente, Wissen über reale oder fiktive Völker außerhalb des europäischen Kulturkreises zugänglich zu machen, dient in den Leftres persanes der Erkundung der eigenen Kultur mit dem Mittel eines von außen vorgenommenen Vergleichs.48 Montesquieus Essai sur le goüt folgt, wie schon gesagt, sowohl in der Methode wie auch im Ansatz dem Modell Fontenelles. Er unterscheidet sich lediglich dadurch, dass Montesquieu die Neugier, die für Fontenelle eine Konstanten der menschlichen Natur neben anderen ist, zum Grundbedürfnis erklärt. Die curiosite wird hier zur Lust an der möglichst totalen Erfassung der Wirklichkeit. Der Höhepunkt der Kunst bestehe demnach darin, eine möglichst große Menge von Fakten und ursächlichen Verkettungen so darzustellen, dass neben dem Grundbedürfnis nach Wissen auch das nach Ordnung, Kontrast und Symmetrie befriedigt werde.49 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht abwegig, in L'Esprit des bis selbst das literarische Werk zu sehen, mit dem Montesquieu seine Wissenschaft der Geschichte den „magistrats" und dem „peuple" vermittelt.50
Voltaire und Rousseau Obwohl beide auf so gut wie allen Feldern als Antagonisten wahrgenommen wurden, gibt es gute Gründe, Voltaires und Rousseaus Werke in unserem Kontext zusammen zu behandeln. Beide entsprechen dem gleichen Typ. Beide beschäftigen sich mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft und haben Geschichten verfasst, in denen die Wirkungen von Wissenschaft, Kunst und Belletristik auf die Sitten im Zentrum stehen. Wie zu zeigen sein wird, reagieren beide auf die gleiche wissenschaftsgeschichtliche Konstellation. Trotzt dieser Übereinstimmungen könnte ihr Einfluss auf das literarische System nicht unterschiedlicher sein. Der Apologet des Fortschritts Voltaire verteidigt die Klassik. Der Kritiker des Fortschritts Rousseau idealisiert das archaische Griechenland und wird damit 47 Montesquieu, Histoire veritable, hg. v. Roger Caillois, Genf 1948. Zum Zusammenhang zwischen der Histoire veritable und Montesquieus Geschichtstheorie: Alberto Postigliola, L'Histoire veritable. Prelude epistemologtqm ά L'Esprit des lois. Lectures de Montesquieu, in: Cabiers Montesquieu 1 (1993), 147—167. 48 Man könnte argumentieren, dass Montesquieu mit der Integration der Haremsintrige an Fontenelles Verbindung von Galanterie und Popularisierung anknüpft. 49 Zu den „plaisirs de notre äme" zählt Montesquieu insbesondere J e plaisir d'embrasser tout d'une idee generale, celui de voir un grand nombre de choses, etc. celui de comparer, de joindre et de separer les idees", Montesquieu, Essai sur le goüt (wie Anm. 42), 63. Jean Goldzink sieht in Montesquieus Verständnis der curiosite als wichtigstem „plaisir naturel de l'äme" den Schlüssel zu seiner Ästhetik, Jean Goldzink, Montesquieu et Us passions, Paris 2 0 0 1 , 1 1 4 - 1 1 7 . 50 Denis de Casabianca nimmt Montesquieus Vergleich zwischen L'Esprit des lois und dem Werk großer Maler zum Anlass, um aufzuzeigen, wie sich die Ästhetik des Essai sur le goüt im Esprit des lois niederschlägt, Denis de Casabianca, „Ed io anche son pittore": Poetique du regard et politique dans LEsprit des lois, in: Jean Ehrard, Catherine Volpilhac-Auger (Hg.), Du goüt ä l'esthetique (wie Anm. 42), 245; ausführlicher: Ders., Montesquieu (wie Anm. 43), 8 2 1 - 9 0 2 .
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zum Protagonisten des politischen Neoklassizismus. Mit seiner Kritik am Theater und seiner Poetik des Romans trägt er zugleich maßgeblich zur Überwindung des klassischen Gattungssystems bei. Im Folgenden werde ich der Frage nachgehen, wie beide die historische Poetik weiterentwickelt haben und warum der gleiche poetologische Ansatz zu so unterschiedlichen literarischen Programmen führte. Als Fontenelle 1686 die neue Physik mit der Naturphilosophie von Antike und Mittelalter verglich, stand nicht nur für ihn außer Frage, dass die Modernen ihre Erfolge einer bestimmten Methode verdanken. Seit dem Auftreten von Leibniz und Newton konnte von Konsens über die Methode keine Rede mehr sein. Wie eingangs erwähnt entsprach das Bild der Physik auf dem Kontinent nach dem Auftreten Newtons eher dem Streit antiker Philosophenschulen als dem einer Disziplin, die verbindlich zwischen Wissen und Meinen unterscheidet. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Vordergrund tretenden Gegensätze zwischen Protoevolutionisten und Fixisten, Mechanizisten und Vitalisten oder Plutonisten und Neptunisten auf dem sich ausdifferenzierenden Feld der Naturgeschichte konnten diesen Eindruck nur verstärken. 51 Für die Literaten und Historiker, die die neue Wissenschaft zum Orientierungspunkt machten, ergaben sich daraus weitreichende Konsequenzen. Eine dieser Konstellation angemessene Form der Information über Wissenschaft konnte darin bestehen, dem Laienpublikum alle relevanten Informationen zur Verfügung zu stellen und sich eines Urteils zu enthalten. Die in der zweiten Jahrhunderthälfte einsetzende Blüte der Enzyklopädik hat ihren Grund auch darin, dass man in diesem Genre Information über Wissenschaft vermitteln konnte, ohne Partei für bestimmte Systeme, Methoden oder Theoreme ergreifen zu müssen. Die Frage, wie das Laienpublikum die neue Erfahrung der Offenheit des wissenschaftlichen Fortschritts verarbeiten sollte, beantwortete die Enzyklopädik aber nicht.52
51 Zur Frontstellung von Kartesianern und Anhängern Newtons: Jean Ehrard, L'Idee de nature en France a l'aube des Lumieres, Paris 1970, 73-96; Pierre Brunet, L'Introduction des theories de Newton en France au XVIlie siecle avant 1738, Nachdr. Genf 1970; ders., Un grand debat sur la physique de Malebranche au XVJIle siecle, in: Isis 20 (1934), 367-395; A. R. Hall, Newton in France: Α New View, in: Histoy of Science 13 (1975), 233-250; Robert L. Walters, W. H. Barber, Newton in France before Voltaire, in: Elements de la philosophie de Newton, hg. v. R. L. Walters, W. H. Barber, The Complete Works of Voltaire, Bd. 15, Oxford 1992, 3-28. W. H. Barber, Leibniζ in France, Oxford 1955. Gabriel Gohau beschreibt die Entwicklung der Naturgeschichte zwischen Descartes und Lavoisier als Zeit der Spekulation. Ders., Les sciences de la tem auxXVIIe et XVIIIe siecles. Naissance de lageologe, Paris 1990. 52 Auch die Encyclopedic beruht auf einer historischen Poetik. D'Alembert vertritt mit seiner Skepsis gegenüber der Verlässlichkeit historischer Fakten die Position des historischen Pyrrhonismus. Verlässlich und damit nützlich ist für ihn nur die u. a. mittels der Encyclopedic dokumentierte Geschichte der Wissenschaft: Judith Shklar, Jean D'Alembert and the Rehabilitation of History, in: journal of the History of Ideas 42 (1981), 643-664; Michel Malherbe, D'Akmbert: enyclopedie et histoire, in: Eliane Martin-Haag (Hg.), Lumieres et histoire, Toulouse 1999, 112—130. Zum Ordnungssystem der Engclopedie: Claudia Albert, LArbre, le labyrinthe et le theatre. Les apories de Diderot (en tant qu' encyclopediste), in: Paul Michel et al. (Hg.), Allgemeinwissen und Gesellschaft, Aachen 2007, 451—459. Zur Transformation der Enzyklopädik zwischen Humanismus und Aufklärung: Federico Luisetti, Plus Ultra. Enciclopedismo, barocco e modemitä, Turin
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Voltaire und Rousseau gaben diese Antwort und bedienten sich dabei der gleichen Mittel. Wenn hier zunächst Voltaire zur Sprache kommt, dann weil er in seinen Lettresphihsophiques sechzehn Jahre vor dem ersten Discours aufgezeigt hat, wie die Geschichte des Wissens zur Beurteilung verschiedener Wissensansprüche eingesetzt werden konnte. Indem er verschiedene Wissensansprüche danach beurteilte, welchen gesellschaftlichen Nutzen sie in der jüngeren Geschichte entfalteten, machte er ein wissenschaftsexternes Kriterium zum Maßstab der Beurteilung der Wissenschaft. Indem er den Wissenschaftsanspruch der neuen Wissensgeschichte relativierte, bewahrte er die neue Disziplin vor der Glaubwürdigkeitskrise, zu der der Gegensatz zwischen den wissenschaftstheoretischen Schulen geführt hatte. Beide Ansätze, das Abheben auf die Gemeinwohlfunktion von Wissen, wie auch das Festhalten an der Literarizität der Geschichte, haben auch damit zu tun, dass der Historiker Voltaire anders als Fontenelle zunächst nicht mit der humanistischen Tradition brach. Die im weiteren Sinne historischen Arbeiten, die Voltaires Lettres pbilosophiques vorhergingen, sind ein der jüngeren Nationalgeschichte gewidmetes Epos und eine nach dem Modell von Plutarchs vitae parallelae angelegte Herrscherbiographie Karls XII. von Schweden und Peter des Großen (1731). Zentrales Thema sind die verheerenden Wirkungen des Krieges.53 Die neue Wissenschaft wird in der Henriade insofern relevant, als Voltaire vorgibt, das antike Genre an den esprit geometrique seiner Zeit angepasst zu haben. So erwirbt der Held der Henriade (1723) das Wissen, auf das sich sein Beitrag für Frieden und Versöhnung gründet, bei einer vor der Inthronisierung angetretenen Reise durch den im Sinne Descartes geordneten Kosmos. Bei diesem Flug durch Himmel und Hölle offenbaren sich ihm neben der kartesischen Himmelsmechanik auch die Vergangenheit und Zukunft Frankreichs.54 Das Muster, an das Voltaire mit seinem Epos und seiner Herrscherbiographie anknüpft, ist das der humanistischen Erzählung vom wohltätigen Einfluss von Königen, die die Wissenschaften und Künste unterstützen, auf Prosperität und Sitten.55 Indem Voltaire die kartesische Wissenschaft
2001. Zum impliziten Leser: Daniel Brewer, Constructing philosophers, in: Ders., Julie Chandler Hayes (Hg.), Using the Encyclopedic. Ways of knowing ways of reading in: SVEC (2002:05), 21-36. 53 Jose-Michel Moureaux, Dans U droitfilde „IM Henriade". Charles XII ou Pierre K Grand?, in: Revue Voltaire 2 (2002), 147-162. Zur literarizität von Voltaires Geschichtsschreibung: Lionel Gossman, Voltaire's Charles XII: History into Art, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 25 (1963), 691-720. 54 Voltaire, La Henriade, hg. v. O. R. Taylor, The Complete Works of Voltaire, Bd. 2, Oxford 1970, 512. Die Darstellung der Tourbillons in der Ausgabe von 1723 und der englischen Ausgabe von 1728 wird 1730 durch eine mit Newton kompatible Version ersetzt. Voltaire erwägt im selben Jahr zudem, seine Explication de !a philosophic de Newton an die Henriade anzufügen. Seine eigene Konversion zu Newton wird ins Jahr 1732 datiert. Rene Pomeau, Les Lettres phihsophiques: k pnjet de Voltaire, in: SVEC 179 (1979), 18; Paolo Casini, Voltaire et Newton, ebd., 66. Siehe auch: Sylvain Menant, Henri, heros classique, hems moderne, in: Revue Voltaire 2 (2002), 27—36. 55 Walther Ludwig, Erasmus und Schöffertin — vom Nutzen der Historie bei den Humanisten, in: August Buck (Hg.), Humanismus und Historiographie, Weinheim 1991, 61-69; Ulrich Muhlack, Humanistische Historiographie, in: Johannes Helmrath, Ulrich Muhlack, Gerritt Walter (Hg.), Diffusion des Humanismus. Studien %ur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, 31—33.
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und die Geschichte der Nation zum gemeinnützigen Wissen erklärte, aktualisierte er das humanistische Erzählmuster, ohne es im Kern zu verändern. Voltaires Englandaufenthalt und die u. a. durch Maupertuis vermittelte Kenntnis Newtons markieren einen Einschnitt.56 Betrachtet man die Clements de la philosophie de Newton (1738) oder La Metaphysique de Newton (1740), mit denen er sich nach seiner Rückkehr aus England als einer der aktivsten Verfechter Newtons auf dem Kontinent profilierte, könnte man meinen, dass er sich mit der gleichen Unbedarftheit zu Newton bekannte, mit der er vor seinem Englandaufenthalt die Sache Descartes vertrat. In den Elements tritt er als Fachmann auf, der kompetent ist, im Streit der physikalischen Schulen zu entscheiden, und verlangt dem Laien ab, sich die mathematischen Kenntnisse zu erwerben, die zur Überprüfung der Theorien Newtons erforderlich sind.57 Die Lettres philosophiques zeigen jedoch, dass er die Probleme, die sich aus dem Streit der Schulen für jede Form von Popularisierung ergaben, erkannt hat. Die Kapitel zu Newton und Descartes beginnen mit der Feststellung, dass die Auseinandersetzung zwischen den wissenschaftlichen Schulen sowohl in England als auch in Frankreich eine Angelegenheit von nationalem Interesse ist. Anders als an den Anfangen der neuen Wissenschaft, als sich nur einen kleiner Kreis von Experten für sie interessierte, nehme die zeitgenössische Öffentlichkeit Frankreichs und Englands regen Anteil am Streit um Newton und Descartes. Da es unmöglich sei, einem Laien zu erklären, warum Descartes Wirbeltheorie falsch sei und Newton Recht habe, könne der Laie sich nur an sachfremden Kriterien orientieren. Dass alle Franzosen Descartes und alle Engländer Newton folgen und die eloge des Kartesianers Fontenelle auf Newton als eine Beleidigung empfanden, ist für ihn nicht bloß eine kuriose Nebenwirkung des Patriotismus, sondern Menetekel der Glaubenskämpfe der Zukunft.58 Das „non nostrum inter vos tantas componeri Utes", mit dem der Korrespondent diese Exposition schließt, ist aber nicht das letzte Wort. Das Palliativ, das Voltaire in den Lettres philosophiques entwickelt, ist eine Geschichte Englands, in der er alle Wissensansprüche, die seit der Christianisierung der Insel geltend gemacht wurden, danach beurteilt, ob sie zu Frieden, Freiheit und Wohlstand oder aber zu Krieg und Despotismus geführt haben. Der Dogmatismus der Konfessionen erscheint als die radix malorum, die England im 17. Jahrhundert in den Ruin getrieben hat und jederzeit droht, einen neuen Bürgerkrieg zu entfachen. Die Theologie der Quäker ist zwar absurd. Da ihre Toleranz, ihr Pazifismus und ihre Vertragstreue sie zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft machten, sei ihre Ira O. Wade, The Intellectual Development of Voltaire, Princeton 1969, 367-401. Wie Andreas Gipper zeigt, entwickelt Voltaire hier eine neue Form der Vulgarisierung, die dem Leser abverlangt, sich den Wahrheitsdiskurs der Wissenschaft zu eigen zu machen, Gipper, Wunderbare Wissenschaft (wie Anm. 6), 279-283. 58 Voltaire, Lettres philosophiques, hg. v. Raymond Naves, Paris 1964, 70-71. „Tres peu de personnes ä Londres lisent Descartes, [...] tres peu lisent aussi Newton, parce qu'il faut etre fort savant pour le comprendre; cependant tout le monde parle d'eux; on n'accorde rien au Fran^ais et on donne tout ä l'Anglais." Ebd., 74. 54
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Theologie aber all denen vorzuziehen, die solche Wirkungen nicht entfalten. Wichtigste Quelle sozialen Nutzens ist der Handel. Er bereichere nicht nur, sondern fördere auch die Verbreitung empirischen Wissens. Das gilt auch für die Literatur. Wenn sie sich an der Wahrheit orientiert und in Epen wie Buders Houdibras und historischen Tragödien die politische Geschichte der eigenen Nation wahrheitsgemäß behandelt, könne sie dazu beitragen, den Einfluss der Theologie auf die politische Elite einzudämmen und die Gefahr des religiösen Bürgerkrieges abzuwenden.59 Der Beitrag der neuen Wissenschaft erscheint, wie schon erwähnt, als ambivalent. Das Wissen der Galileis, Kepplers und Newtons sei zwar geeignet, Konsens unter Experten herzustellen. In der Sprache der Mathematik formuliert sei es aber immer nur einer kleinen Elite zugänglich. Voltaire versucht in den Lettres, Newtons Theorie mit wissenschaftsexternen Argumenten zu plausibilisieren. Was Newton glaubwürdig mache, sei, dass er an die Ergebnisse seiner Vorgänger anknüpfe und Wahrheitsansprüche nur für das geltend mache, was durch Messung erwiesen ist.60 Das entscheidende Argument für Newtons Empirismus ist aber dessen Wirkung auf die englische Gesellschaft. Wann immer Wissensansprüche auf mess- und beobachtbare Tatsachen gestützt wurden, hätten sie zur Erhaltung von Friede und Prosperität beigetragen. Nicht überprüfbare Aussagen wie die der Theologen oder der Physik Descartes erzeugten Dissens und Unfrieden. 61 Voltaire propagiert in den Lettres die Physik Newtons. Nicht weniger wichtig ist das Plädoyer für den Empirismus. Er erscheint als der gemeinsame Nenner, der sozial nützliche Wissensansprüche auszeichnet und England zu Friede und Prosperität verholfen hat. 62 Mit dieser Argumentationsform schließen die Lettres an die Henriade und Voltaires frühere historischen Schriften an: Wissensansprüche sind gut, wenn sie Friede und Wohlstand generieren. Der Status, den die Lettres reklamieren, ist nicht der einer Wissenschaft. Die Autorität der Lettres ist die eines honnete homme, der seine Beobachtung über ein .exotisches Volk' nach Hause übermittelt und das letzte Urteil seinem Leser überlässt. Die Instanz, an die er dabei appelliert, bezeichnet Voltaire als „esprif. Voltaires an die Lettres philosophiques anschließende historiographische Produktion folgt diesem Muster. Im Kern handelt es sich um eine Fortschreibung der huma-
Ebd., 104-119. Ebd., 79, 90. Die Form der drei der Naturwissenschaft gewidmeten Briefe ist die der Höge, genauer der von zwei parallelen Wissenschaftlerleben. Eines ihrer Ziele ist der Aufweis, dass die Empörung der Royal Society über Fontenelles Vergleich zwischen Newton und Descartes berechtigt ist. Voltaire bestätigt auch, dass die öffentliche Meinung Englands, die Descartes für einen Träumer und Newton für einen Wissenschaftler hält, das Wesentliche erfasst hat. 61 Die Vorstellung, dass die Herrschaft der Wissenschaft mit Frieden und allgemeinem Wohlstand einhergeht, ist auch ein Topos der Utopie, mit der die Lettres nicht nur das Motiv der Reise auf eine .exotische' Insel teilen. In einem Brief von 1726 heißt es: „You will see a nation fond of their liberty, learned, witty, despising life and death, a nation of philosophers" (zitiert in: Pomeau, Les Lettres philosophiques [wie Anm. 54], 12). 62 Voltaire greift damit ein Schlüsselmotiv der Whig history auf, vgl. Dennis Fletcher, Voltaire. Lettres philosophiques, London 1986,22—28. w
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nistischen Erzählung von der Hebung der Sitten durch die Kultivierung von Kunst, Wissenschaft und Belletristik. Neu ist der u. a. von Montesquieu übernommene weite Begriff der Sitten und der Ausgriff auf die gesamte zivilisierte Welt sowie Voltaires Historik, die die Geschichtsschreibung zugleich als belletristisches Genre und Wissenschaft eigener Art konstituiert. Die Geschichte der Geschichtsschreibung, die Voltaire in dem für die Entyclopedie verfassten Artikel Histoire (1765) skizziert, entspricht weitestgehend der, die Fontenelle in De l'Origine des fables entworfen hat. Geschichtsschreibung, die sich der menschlichen Neigung zur Affabulation entzieht, ist ein Produkt der jüngsten Vergangenheit. Wie auf dem Gebiet der Mathematik und Physik habe auch die Geschichte in jüngster Zeit große Fortschritte gemacht. Voltaire geht es anders als Fontenelle nicht darum, Geschichte unter Umgehung der nie mit letzter Sicherheit zu etablierenden historischen Fakten aus der Natur des Menschen abzuleiten. Auch und gerade hier fordert der Empirist, von jeder Spekulation abzusehen und sich ausschließlich an nach eingehender Kritik für glaubwürdig befundene Fakten zu halten. Die Konzentration auf die Geschichte der Künste, Wissenschaften und Sitten begründet er auch damit, dass sie seit der Erfindung des Buchdrucks verlässlich dokumentiert wurden.63 Unbeschadet der Parallele zwischen dem Fortschritt der Physik und der der Historiographie ist Geschichtsschreibung für Voltaire aber auch eine Kunst.64 Während er als Epiker und Tragiker an Antike und Klassik anknüpft, optiert er im Fall der Historiographie für den Traditionsbruch. Weil auch die großen Historiker der Antike Fiktionen als Fakten ausgegeben haben, könnten sie kein Vorbild mehr sein. Gegenstand der Kritik ist vor allem die von den Humanisten übernommene und im 17. Jahrhundert weitergeführte Fokussierung auf Charakter und Motive der Protagonisten. Weil die exempla, durch die die klassische Geschichtsschreibung ihre didaktische Wirkung zu entfalten glaubte, ein Wissen vom Innenleben der Protagonisten erfordern, das dem Empiriker nicht zugänglich sei, schließt Voltaire die Darstellung der inneren Wirklichkeit aus der Historiographie aus.65 Die Etablierung der Geschichte als Metawissen, das über den Status von Wissenschaftsansprüchen entscheidet, hat erhebliche Konsequenzen für Voltaires auf die Lettres philosophiques folgenden Beiträge zur Popularisierung. Voltaire bedient sich verschiedener Formen der Wissenschaftskommunikation. Traktate wie die Elements de la Philosophie de Newton, die dem Leser mit wissenschaftlicher 63 Zum Einfluss von Desartes und Newton auf Voltaires Theorie der Geschichtsschreibung: Eliane Martin-Haag, Voltaire. Du cartesianisme aux Lumierts, Paris 2002. 64 „[...] l'art de bien ecrire l'histoire sera toujours tres rare. [...] II en est des lois pour ecrire l'histoire comme de Celles de tous les arts de 1'esprit; beaucoup de preceptes, et peu de grands artistes." Voltaire, Histoire, hg. v. Jeroom Vercruysse, in: Les CEuvres completes de Voltaire, Bd. 33, Oxford 1987,
186. 65 „Doit-on dans l'histoire inserer des harangues, et faire des portraits?" Ebd., 184-186. Gianni Iotti betont, dass Voltaire im Gegensatz zur Tendenz zur Annäherung von romanesker und historischer Geschichtsdarstellung an Bayles Forderung nach strikter Trennung von Geschichte und Fiktion festhält, Iotti, Le Steele de Louis XIV: de l'histoire etdelafiction, in: SVEC (2006:10), 82-83.
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Nüchternheit eine bestimmte Theorie vermitteln, bleiben die Ausnahme. Sehr viel wichtiger sind Voltaires am Beispiel Lukians ausgerichtete Dialoge.66 In unserem Kontext ist sein Gebrauch des conte besonders aufschlussreich. Beide, Dialog und conte behandeln aktuelle wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Debatten. Contes wie Micromegas zeichnen sich gegenüber dem Dialog dadurch aus, dass sie den Dialog über Philosophie und Wissenschaft in die Lebenswelt einbetten und dabei den Sozialnutzen verschiedener Positionen unmittelbar vor Augen fuhren. Beispielhaft sei auf Micromegas verwiesen. Hier stoßen extraterrestrische Wesen auf die Vertreter gegensätzlicher wissenschaftlicher Schulen. Worüber sie sich verständigen können, sind nicht wissenschaftliche Systeme, sondern messbare Daten.67 Die wichtigste Konsequenz der Ersetzung der Wahrheitsfrage durch die nach der zivilisatorischen Wirkung besteht darin, dass die Vermitdung der Zivilisationsgeschichte zur zentralen Aufgabe der Popularisierung wird. Voltaire bedient sich dabei auch des Totendialogs und eines historisch-kritischen Wörterbuchs nach dem Vorbild von Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique. Genauso wichtig sind die Historiographie und deren Dramatisierung in der Tragödie. Voltaires Geschichte der maurs behandelt neben goüt und politesse die Qualität der Regierung, ihr Verhältnis zum Krieg, den Grad bürgerlicher Freiheit und die Menschlichkeit des Rechtswesens. Maßstab des Fortschritts ist der Luxus und der Stand der zu seiner Vermehrung nötigen technischen und wirtschaftspolitischen Mittel. Wichtigster Protagonist des Fortschritts sind verschiedene Formen des Wissens. Der moralische, politische und wissenschaftliche Fortschritt haben ein gemeinsames movenr. Wissensbehauptungen, die streng zwischen Fiktion und überprüfbaren Tatsachen unterscheiden. Ursache von Krieg, Armut und Rückständigkeit ist, wie bei Fontenelle, die Affabulation, die den Unwissenden als wissend erscheinen lässt. Als gefahrlichste Form der Fabelbildung erscheinen die Geschichtsdeutungen der christlichen Konfessionen.68 Voltaires im Anschluss an die Lettrvs philosophiques entstandenes monumentales historiographisches Werk richtet sich unbeschadet des in ihm verarbeiteten Fundus an Gelehrsamkeit an das grand public. Voltaires Histoire generale, der Essai sur les maurs, beginnt mit der Geschichte der Erde, behandelt die Entstehung der Arten und Rassen und präsentiert die Geschichte nicht nur der europäischen, sondern auch der chinesischen oder aztekischen Wissenschaft mit dem Anspruch, den jeweils jüngsten Stand der naturwissenschaftlichen und historischen Forschung abzubilden. Voltaire macht die Zivilisationsgeschichte damit zu einem 66 Nach Stephane Pujol unterscheiden sich Voltaires Dialoge u. a. dadurch vom klassischen Modell, dass sie Elemente der Erzählung einfuhren: Dies., Le Dialogue d'idees au dix-huitieme siicle, in: SVEC (2005:06), 34-53. 67 Roger Pierson sieht in Micromegas eine Antwort auf Fontenelles Entretiens-, Ders: The Fables of Reason. Α Study of Voltaire's "contes philosophiques", Oxford 1993, 65-66. 68 Zu Voltaires Konzept des Fortschritts: Jean-Fran^ois Dunyach, L'histoire voltainenne entreprogris et decadence: du Grand Siede ά l'idee de dviüsation, in: SVEC (2006:10), 133-146. Rene Pomeau spricht von einer „philosophie du developpement", Pomeau, Les Lettresphilosophiques (wie Anm. 54), 19.
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Medium, das mit ähnlicher Vollständigkeit über Wissenschaft informiert, wie die zeitgenössische Enzyklopädik. Mit dem historisch belegbaren gesellschaftlichen Nutzen liefert es dem Leser aber ein Kriterium, das es erlaubt, den Wert verschiedener Wissensanspriiche zum Gegenstand eines auf historische Erfahrung gestützten Urteils zu machen. Was Voltaires Zivilisationsgeschichte als Poetik ausweist, ist die zentrale Rolle der Literatur. Sie rechtfertigt, Voltaires Sittengeschichte als historische Soziologie der Literatur zu bezeichnen. Eines ihrer wichtigsten Themen ist der Einfluss der belles-lettres auf die Politik. In den Lettres philosophiques beschreibt Voltaire das Leseverhalten der englischen Bevölkerung. Den Einfluss der belles-lettres auf die politische Elite erklärt er mit den Auswirkungen der parlamentarischen Regierung auf das Leseverhalten.69 Das Kriterium, nach dem er nicht nur die englische Literatur bemisst, ist ihr Beitrag zur Wertschätzung empirischen Wissens. 70 Die Verbannung fiktionaler Darstellungen des Innenlebens der Akteure aus der Geschichtsschreibung heißt nicht, dass die Subjekte der Geschichte nicht zum Gegenstand würden. Wie insbesondere seine Tragödien zeigen, wird die fiktionale Annäherung an die innere Wirklichkeit der Protagonisten aus der Geschichtsschreibung in das als fiktional ausgewiesene Genre der Tragödie übertragen. In seiner Geschichte der Tragödie bezeichnet Voltaire den Schritt von der Darstellung des Mythos zu der der Geschichte als den wichtigsten Beitrag zum Fortschritt des Genres. 71 Seine eigene Poetik der Tragödie schließt hier an. Entscheidende Kategorie ist die Wahrscheinlichkeit. Sie besteht darin, die Sitten der Vergangenheit wahrheitsgemäß darzustellen.72 Ziel der Dramatisierung der Sittengeschichte ist es, beim Zuschauer ein Höchstmaß an Anteilnahme zu erzeugen. Wie das möglich ist, entnimmt Voltaire nicht einer bestimmten Theorie der Emotionalität, sondern der Auswertung konkreter Zuschauerreaktionen.73 Betrachtet man die Themen der im Anschluss an die Lettres philosophiques entstandenen Tragödien, zeigt sich, wie Voltaire die Zivilisationsgeschichte zum Gegenstand macht. Uber zwanzig Stücke behandeln teils Wendepunkte in der 69 „En Atlgjeterre communement on pense, et les lettres y sont plus en honneur qu'en France. Cet avantage est une suite necessaire de la forme de leur gouvernement II y a ä Londres environ huit cents personnes qui on le droit de parier en public et de soutenir les interets de la Nation; environ cinq ou six mille pretendent au meme honneur [...] tout le monde s'erige en juge de ceci et chaqun peut faire imprimer ce qu'il pense [...]. Ainsi toute la Nation est dans la necessite de s'instruire." Voltaire, Les Lettres philosophiques (wie Anm. 58), 116. 70 Die Poetik, die Voltaire in seiner Geschichtsschreibung entwickelt, wurde kaum untersucht. Auch Catherine Volpilhac-Auger behandelt die Insistenz, mit der der Historiker die zivilisatorische Rolle von fabulierenden und überprüfbaren Geschichtsdarstellungen behandelt, im Kontext seiner ars historicα. Dies., Mervetlleux et vraisemblance dans l'Essai sur les mceurr. L'ars historica de Voltaire, in: SVEC 1997, 1379-1389. 71 Voltaire, Dissertation sur la tragedie anäenne et moderne, in: The Complete Works of Voltaire, Bd. 30A, hg. v. Nicolas Cronk, Oxford 2003,147. 72 Ebd., 152—153. Das schlägt sich auch in Voltaires Einsatz für die Historisierung der Kostüme und des Dekors nieder, vgl. Sylvain Menant, L'esthetique de Voltaire, Paris 1995, +4—45. 73 Als Beispiel für eine Analyse der Wirkung eines seiner Stücke sei hier auf die Vorrede von Oreste verwiesen: Voltaire, Λ son altesse setenisame maJame la duchesse Du Maine, in: The Complete Works of Voltaire, Bd. 31A, hg v. David H. Jory, Oxford 1992,402-408.
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Geschichte bestimmter Kulturen, teils den Zusammenstoß zwischen Kulturen auf verschiedenen Stufen der Zivilisation. Voltaire bedient sich bei der Darstellung der Geschichte eines Verfahrens, das Corneille in seinen Römertragödien entwickelt hat.74 Aufstieg und Fall Roms, des antiken Griechenlands, der muslimischen Welt und die Geschichte des mittelalterlichen und frühneu2eitlichen Frankreichs werden durch die Dramatisierung von aufeinander folgenden Wendepunkten dargestellt. Durch die Thematisierung des Zusammenstoßes von primitiven Völkern und Hochzivilisationen, christlicher und muslimischer, sowie europäischer und außereuropäischer Völker wird seine Zivilisationsgeschichte in ihrer ganzen Breite zum tragischen Gegenstand. Der tragische Konflikt ist der Zusammenstoß von Wahrheit und Menschlichkeit mit Superstition und Machtstreben.75 Voltaire nutzt nicht nur die Tragödie zur Vermittlung seiner Analyse des Zivilisationsprozesses. Während er die Gegner des Fortschritts hier durch das von ihnen verursachte Leid diskreditiert, verlacht er sie in seinem komischen Epos über den Hundertjährigen Krieg.76 Auch der literarische Tabubruch, der Voltaire als militanten Gegner der alten Ordnung auswies, diente der Popularisierung seiner Geschichte. Voltaire nutze nicht nur gelehrte Genres wie das Dictionnaire oder die kritische Geschichte der Bibel, um seine Kritik am Geschichtsbild der biblischen Religionen an le grand public zu vermitteln. Er bediente sich auch Genres der religiösen Literatur wie des Evangeliums, des Apostelbriefs oder des Katechismus.77 Im Umgang mit der Systemphilosophie, die aus seiner Sicht zu unrecht den Status einer Wissenschaft reklamierte, verfuhr er auf ähnliche Weise. Voltaire nutzt Genres der Gelehrtenkommunikation wie den Traktat oder die Diatribe für die Auseinandersetzung mit nicht empirisch belegbaren Wissenschaftsansprüchen und wendet sich dabei immer auch an das grand public. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Etablierung der Geschichte als Metawissen dazu fuhrt, dass die Historiographie als nichtfiktional streng von der fiktionalen Literatur unterschieden wird und neben klassischen Genres wie Tragödie und Epos auch solche der 74 Veit Elm, Die Eigendynamik der Medien: modernistische und klassizistische Rombilder in Voltaires politischem, historischem und dramatischem Werk, in: Veit Elm, Günter Lottes, Vanessa de Senarclens (Hg.), Die Antike der Moderne. Vom Umgang mit der Antike im Europa des 18. Jahrhunderts, Hannover Laatzen 2009, 131-141. 75 Ders., Tragödie und Geschichtsschreibung bei Voltaire, in: Vanessa de Senarclens (Hg.), Das Tragische im Jahrhundert der Aufklärung, Hannover Laatzen 2007, 21-51; ders., Les Guerres de religfon en France et dans l'histoire du monde. Representation epique, historique et dramatique de la violence religeuse dans l'ceuvre de Voltaire, in: Marie-Madeleine Fragonard, Jacques Berchtold (Hg.), Le souvenir des Guerres de Religion. Enjeu historique, enjeu politique, 1760-1830, Genf 2009,137-165. 76 Zu den Wirkungen dieses Verfahrens: Fransoise Bessire, De l'epopee burlesque ä l'histoire. La Jeanne dArc de Voltaire, in: Jean Maurice (Hg.), Images de Jeanne dArc, Paris 2000,189-196. 77 Beispielhaft sei verwiesen auf Voltaires Collection d'anciens evangples, hg. v. Bertram E. Schwarzbach, in: The Complete Works of Voltcure, Bd. 69, Oxford 1994, 47-245; siehe auch Voltaires Epitre ecrite de Constantinople aux freres, Le Sermon preche ä Bale, Lettre de l'anheveque de Cantobby ά l'archeveque de Paris, Instruction du gardien des capucins de Raguse äfrere Pediculoso partantpour la terre sainte, in: The Complete Works of Voltaire, Bd. 67, Oxford 2007, 1-10, 11-46, 47-60, 217-240; Alexandra Kleihues sieht in Voltaires Katechismen eine Sonderform seiner Lehrdialoge: Alexandra Kleihues, Der Dialog als Vorm. Analysen Shaftesbuy, Diderot, Madame d'Epinay und Voltaire, Würzburg 2002, 231-235.
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religiösen und gelehrten Kommunikation zur literarischen Vermittlung des Prozesses der Zivilisation refunktionalisiert werden. 78 Auslöser für die epistemische Aufwertung der Historiographie ist die Relativierung der Plausibilisierungsverfahren der neuen Physik. Dass der Mechanizismus Descartes' und Newtons Gravitationstheorie über ein halbes Jahrhundert als sich ausschließende Alternativen wahrgenommen wurden, schuf eine Konstellation, in der die Erzählung vom Inbegriff der Unwissenschafitlichkeit zum Medium aufsteigt, das die Wissensansprüche der Wissenschaft überprüft. Movens dieses Aufstiegs ist die Entwicklung neuer Plausibilisierungsverfahren. Das Modell, an dem sich Voltaire orientiert, ist das Newtons. Wie Newton macht er die Unterscheidung von hypothetischer Fiktion und empirischem Beleg zum Ausweis wissenschaftlicher Seriosität. Seine philosophischen Erzählungen, Himmelsreisen oder Totendialoge evozieren ihre Fiktionalität und werden damit zum seriösen Pendant von Systemen oder Theorien, die ihre phantastischen Komponenten nicht ausweisen. Durch die Purgierung fiktionaler Elemente aus der Geschichtsschreibung macht Voltaire sie zum Inbegriff der Wissenschaftlichkeit. Diese Purgierung beschränkte sich nicht auf die Eliminierung von Portraits. Die Protagonisten und ihre Interaktionen vermitteln den Eindruck empirischer Verifizierbarkeit. Die Handelnden sind weniger Personen, als Vermögen bzw. Kulturstufen. Handlungsformen sind Kulturtechniken wie Arbeitsteilung oder Priesterbetrug. Ebenfalls von Newton übernimmt Voltaire die Strategie, Wissenschaftlichkeit durch Einschränkung des Wissensanspruchs zu untermauern. Voltaire hütet sich, allgemeine Entwicklungsgesetze zu formulieren und betont die Besonderheiten verschiedener Kulturen. Voltaire nutzt auch das Prestige der Quantifizierung zum Ausweis von Wissenschaftlichkeit. Mit Luxus und Genuss werden Größen zum Maßstab der Zivilisation, die den Anschein der Quantifizierbarkeit erwecken. Auch Rousseau macht im Umgang mit der Fragmentierung der neuen Wissenschaften den gesellschaftlichen Nutzen bestimmter Wissensansprüche zum Leitfaden. Wie der erste Discours zeigt, stimmt seine Wahrnehmung der Dynamik des wissenschaftlichen Fortschrittes in vielen Punkten mit der Voltaires überein. Wie bei Voltaire heißt es im ersten Discours, dass die Wiederentdeckung der antiken Literatur dem mittelalterlichen Obskurantismus ein Ende bereitete und die neue Wissenschaft hervorbrachte. 79 Die Abwertung der Konfessionen und die Aufwertung der literarischen Vermittlung der Wissenschaften, für die Voltaire
78 Andreas Gipper zufolge führt Voltaire gegenläufig zum Prozess der Autonomisierung von Wissenschaft und Literatur durch die entrhetorisierte, aber immer noch literarische Vermittlung der Naturwissenschaften noch einmal beide „Kulturen" zu der die französische Aufklärung auszeichnenden Einheit von philosophic und belles-lettres zusammen, Gipper, Wunderbare Wissenschaft (wie Anm. 6), 296-299. 79 „Bientöt les sciences suivirent les Lettres; ä l'Art d'ecrire se joignit l'Art de penser, gradation qui paroit etrange et qui n'est peut-etre que trop naturelle." Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts, hg. v. Francois Bouchardy, in: Ders., (Eums completes, Bd. 3, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond, Paris 1964, 6.
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noch kämpfen zu müssen glaubte, hält Rousseau für bereits vollzogen.80 Die gesellschaftliche Wirkung von Literatur und Wissenschaft erklärt Rousseau ähnlich wie Voltaire mit der Ausbreitung einer neuen Form der Geselligkeit, in der nicht mehr Glaube oder Stand, sondern allein literarische und wissenschaftliche Leistungen zählen. Ihr Verhaltenskodex sei geprägt von Höflichkeit und Kosmopolitismus. Die politische Ordnung, in der sie sich am besten entfalten könne, entspricht dem politischen Ideal Voltaires: eine moderne Monarchie, die sicherstellt, dass sich ihre Bürger ungestört der Literatur, den Wissenschaften und der Mehrung des Wohlstandes widmen können.81 Auch Rousseaus Einschätzung der Probleme, die sich aus der Orientierung an der Wissenschaft ergeben, kommt der Voltaires sehr nahe. Beide sind sich einig, dass die Beschäftigung mit Wissenschaft und der Luxus, den sie voraussetzt, einer kleinen Minderheit vorbehalten bleiben. Das für beide zentrale Problem ist die Pluralisierung der wissenschaftlichen Schulen. Beide schließen daraus, dass die Naturwissenschaft sich nicht zum Orientierungswissen eignet.82 Rousseau beschreibt den Prozess der Differenzierung der neuen Wissenschaft als Übergang von einer Pionierphase, in der Wissenschaft von wenigen großen Genies betrieben wurde, zu einer Phase, in der das soziale Prestige der Wissenschaft einen Wissenschaftsbetrieb hervorbringt, der die Gesellschaft mit pseudowissenschaftlichen Theorien überschwemmt. Rousseaus Folgerung ist radikal. Wenn es nicht nur Laien, sondern auch dem Gros der Wissenschaftler nicht möglich ist, echte von Pseudowissenschaft zu unterscheiden, eigne sich die Wissenschaft nicht zum Herrschaftswissen. Der erste Discours entspricht dem Modell von Voltaires Wissensgeschichte auch insoweit, als er diese These im Rückblick auf die Weltgeschichte belegt. Rousseau entwickelt hier ein Bild der Weltgeschichte, demzufolge Gesellschaften, die sich an Wissenschaft orientieren, untergehen. Stabilität finde man dort, wo das Herrschaftswissen allen zugänglich sei und klare Abgrenzungen zwischen
80 Eines der Argumente, das Rousseau im ersten Discours in verschiedenen Varianten gegen Sciences und Lettres vorbringt ist, dass sie die religiösen Fundamente der französischen Gesellschaft unwiederbringlich unterhöhlt hätten, ebd., 18-19,21,24,27-28. 81 „Tandis que le Gouvernement et les Loix pourvoient ä la sürete et au bien-etre des hommes assembles; les Sciences, les Lettres et les Arts [...] en font ce qu'on appelle des Peuples polices." Ebd., 7. Einer der vielen Texte, in denen sich Voltaire gegen die von Rousseau bemühte „liberte originelle" des klassischen Republikanismus und für die negative Freiheit des modernen Liberalismus erklärt, ist: L'A. B. C , in: Les (Eums completes de Voltaire, hg. v. Louis Moland, Bd. 27, Paris 1879, 350, 353. Maurizio Viroli betont zu Recht, dass auch Rousseau von der modernen politischen Wissenschaft die Lösung der Probleme der wissenschaftlichen Gesellschaft erwartet. Schon am Ende des ersten Discours wird deutlich, dass er die zeitgenössische politische Wissenschaft aus der Perspektive einer noch zu gründenden „science morale" kritisiert, also mehr noch als Voltaire auf den Fortschritt der Gesellschaftswissenschaft setzt, Maurizio Viroli, La theorie de la sodete bien ordomee che% Jean-Jacques Rousseau, Berlin, New York 1988,36-37. 82 Rousseaus Darstellung des Problems der „fausses routes dans l'investigation des Sciences" schließt mit der rhetorischen Frage: „Dans cette foule de sentiments differens, quel sera notre Criterium pour en bien juger?" Rousseau, Discours sur les sciences et Its arts (wie Anm. 79), 18. Die typographische Hervorhebung von „Criterium" ist die einzige, die er im zweiten Teil vornimmt.
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Wahrheit und Irrtum erlaube. Für Rousseau ist das Wissen, das diesen Anforderungen genügt, die Moral. Nur die Gesellschaften, in denen die Ethik als höchstes und einziges gesellschaftsrelevantes Wissen galt, hätten sich als stabil erwiesen. Diese Entgegensetzung von Wehrhafrigkeit, Bürgertugend und Frugalität auf der einen und Luxus, Literatur und Wissenschaft auf der anderen Seite ist alles andere als neu. Es handelt sich bekanntermaßen um einen Topos der antiken Verfassungstheorie und Geschichtsschreibung, der vom Bürgerhumanismus rezipiert, im Zuge der Luxus-Debatte reaktiviert und von Montesquieu und Rousseau an den republikanisch-egalitären Flügel der Französischen Revolution weitergegeben wurde. 83 Montesquieu hatte ihn zunächst in seiner Geschichte Roms aufgegriffen und dann in eine Theorie des Verfassungswandels integriert, die sich am Modell der neuen Wissenschaft ausrichtete. Auch Rousseau stellt seine Geschichte des Wissens auf den Boden der neuen Wissenschaft. Die Vorüberlegungen zu seinem zweiten Discours zeigen, wie er u. a. von Fontenelle und Montesquieu entwickelte Methoden aufgreift. 84 Wie sich das in seiner Darstellung des Zivilisationsprozesses niedergeschlagen hat, braucht hier nicht im Einzelnen erörtert zu werden, kommt es hier doch darauf an, ob und wie sich seine Analyse der historischen Rolle von Wissenschaft und belles-lettres auf seine literarische Produktion ausgewirkt hat. Schon der erste Discours zeigt, dass sich Rousseau auch bei seiner Beurteilung des literarischen Fortschrittes eng an die historische Poetik Voltaires anlehnt. Literarische Klassik und wissenschaftlicher Fortschritt werden miteinander verbunden. Die Beschäftigung mit der antiken Literatur habe die neue Wissenschaft nicht nur hervorgebracht. Auch im weiteren Verlauf blieben beide verbunden. Die Fortschritte der Wissenschaft hätten ihr Pendant in denen der Literatur. Voltaire selbst erscheint als der Klassiker, der wie Newton auf dem Gebiet der Physik auf dem des Geschmacks einen Höhepunkt markiert.85 Rousseau verweist aber auch auf einen Unterschied zwischen der Fortschrittsdynamik von Kunst und Wissenschaft, der sich nicht aus dem Gegenstand, sondern aus dem Verhältnis zwischen dem Künstler bzw. dem Wissenschaftler und der Gesellschaft ergibt. Ein großer Wissenschafder könne seine Arbeit um ihrer selbst
83 Immer noch aufschlussreich: Keith Michael Baker, Transformations of Classical Republicanism in Eighteenth-Century France, in: The Journal of Modern History 73 (2001), 32-53. 84 Rousseau macht nicht historische Fakten, sondern die menschliche Natur zum Ausgangspunkt und folgt damit u. a. Fontenelle. Mit der Betonung der Historizität selbst der anatomischen Konstitution des Menschen greift er die protoevolutionären Thesen der im Entstehen begriffenen Paleoanthropologie auf. Dass er es ähnlich wie Voltaire ablehnt, deren Thesen den Status wissenschaftlicher Erkenntnis zuzubilligen, ist nicht Indiz seiner Wissenschaftskritik, sondern wird damit begründet, dass die Disziplin noch an ihren Anfangen stehe, Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inegakte, hg. v. Jean Starobinski, in: CEuvres completes, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond, Bd. 3, Paris 1964, 134, note III. Zur Frage, wieweit sich die Vergesellschaftungstheorie des zweiten Discours dem Paradigma der Naturgeschichte annähert: Etienne Gehin, Rousseau et l'histoire naturelle de l'homme social, in: Revuefran(aise de socioloffe 22 (1981), 51-31. 85 Perse Siofra, he silence des passions? Rousseau and Voltaire on the sciences and the arts, in: SVEC (2001:12), 451-457.
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willen betreiben. Der große Künstler bedürfe hingegen eines Publikums. Dem ersten Discours zufolge wird die wissenschaftlich-literarische Gesellschaft auch in Zukunft große Wissenschaftler hervorbringen. Große Kunst sei wegen des vom Luxus generierten Sittenverfalls und des sich daraus ergebenden Verfalls des Geschmacks im Frankreich der Gegenwart aber nicht mehr möglich. Ein Autor wie Voltaire stehe daher vor der Wahl, sich entweder dem schlechten Geschmack des Publikums anzupassen, oder zu schweigen. Auch Voltaire ordnet die auf das Zeitalter Ludwigs XTV. folgende Literatur immer wieder einer Periode des Verfalls zu. Der Gedanke, diesen Verfall auf den wachsenden Luxus und die Ausweitung des Interesses an der Wissenschaft zurückzuführen, liegt ihm denkbar fern. 86 Rousseaus nach dem ersten Discours entstandene Poetiken knüpfen an diese Geschichtsdeutung an. Der Entretien sur les romans, den er der Nouvelle Heloi'se voranstellt, ist das Programm für eine Gegenliteratur, die den moralischen Verfall aufhalten soll. Sie richtet sich an Leser in der ländlichen Peripherie, weil sich dort die Tugenden einfachen Lebens bewahrt hätten. Indem sie Einfachheit und Tugend idealisiere und die Bewohner des Landes gegen die Verlockungen der Metropole immunisiere, solle sie die Ausbreitung der literarisch-wissenschaftlichen Welt eindämmen. Ihr ästhetisches Programm besteht darin, die Regeln des perfektionierten Geschmacks zu ignorieren und sich die Kunstlosigkeit ihres Publikums zu eigen zu machen. 87 Was den Roman aus Sicht der klassischen Poetik disqualifizierte, macht ihn für Rousseau zum Genre der Zukunft. Er findet seinen Leser in der Abgeschiedenheit des Privaten, entzieht sich der literarischen Kritik und steht nicht in Verdacht, sich der Wissenschaftsvermittlung zu widmen. Rousseaus Erziehungsroman Emile hängt ebenfalls eng mit der im ersten Discours entwickelten historischen Poetik zusammen. Schon hier heißt es, dass es in Frankreich anders als in Sparta, wo aus Kindern Bürger gemacht wurden, darum gehe, Kinder zu Gelehrten und Wissenschaftlern zu machen. Für den Bestand der Gesellschaft wäre es besser, gänzlich auf Erziehung zu verzichten.
86 „Dites-nous, celebre Aroüet, combien vous avez sacrifie de beautes males et fortes ä notre fausse delicatesse, et combien l'esprit de la galanterie si fertile en petites choses vous en a coüte de grandes. C'est ainsi que la dissolution des moeurs, suite necessaire du luxe, entraine a son tour la corruption du gout." Rousseau, Discours sur les sciences (wie Anm. 79), 21. D'Alembert entwickelt in seinem Essai sur la societe des gens de lettrts et les grands drei Jahre später eine ganz ähnliche Theorie. Rousseaus Revolte gegen die Klassik wurde oft als Vorbote der Romantik missverstanden. Rousseau stellt die „perfection du gout" von Klassizisten wie Voltaire oder Carle Van Loo aber nicht in Frage. Indem er die Kunst, anders als die Wissenschaft selbst, mit der Verfallsdynamik der wissenschaftlichen Gesellschaft in Verbindung bringt, konstatiert er die Unausweichlichkeit des „Todes der Kunst". Dieser Aspekt bleibt auch bei Samuel Taylor unbeachtet, der ansonsten zutreffend auf Rousseaus Klassizismus hinweist, Samuel Taylor, Rousseau's romanticism, in: Simon Harvey et al. (Hg.), Reappraisals of Rousseau, Manchester 1980, 2-24. 87 Jean-Jacques Rousseau, Preface de la Nouvelle Heloi'se: ou entretien sur les romans entre l'editeur et un homme de lettres, in: J.-J. Rousseau, CEuvres completes, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond, Bd. 2, Paris 1964, 13—30; James F. Jones, LM Nouvelle Helo'ise: Rßusseau and Utopia, Genf 1978.
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Auch im Emile unterscheidet Rousseau zwischen der Erziehung zum Bürger einer Republik und der für die Wissensgesellschaft. In ihr müsse Erziehung darauf abzielen, dem Zögling ein Leben abseits der Gesellschaft zu ermöglichen.88 Das Gedankenexperiment, das zeigen soll, wie sich ein Kind entwickelt, von dem der Erzieher jeden äußern Einfluss fernhält, hängt auch in anderer Hinsicht mit Rousseaus Geschichte der gesellschaftlichen Wirkungen des Wissens zusammen. In der methodologischen Vorrede zu seinem zweiten Discours wirft er die Frage auf, wie man unter den Bedingungen der Zivilisation untersuchen kann, wie sich ein Mensch entwickelt, der allein der Natur folgt.89 Emile beantwortet diese Frage in Form eines Romans, der sich der Plausibilisierungsverfahren der experimentellen Wissenschaft bedient — aus dem Blickwinkel Voltaires die gefährlichste Form von Pseudowissenschaft.90 Rousseaus autobiographische Schriften stehen in einem ähnlichen Zusammenhang mit seiner Geschichtsdeutung. Wie er in den Rechtfertigungen seines ersten Discours ausfuhrt, ist die richtige Deutung des Zivilisationsprozesses wenigen Personen vorbehalten. Sie müssten zu der kleinen Elite von großen Genies gehören, die die Wissenschaft um ihrer selbst willen betreiben, mit der polite society vertraut seien und dabei ihre moralische Integrität bewahren. 91 Rousseaus Confessions zeigen, wie seine Wanderung zwischen Rand und Zentrum der literarisch-wissenschaftlichen Zivilisation ihm und nur ihm die Endeckung ihrer Dynamik ermöglicht hat. Indem sie die Abhängigkeit historischer Erkenntnis vom moralischen und gesellschaftlichen Status des Betrachters aufzeigen, machen die Confessions die Selbstdokumentation zur epistemischen Grundlage seiner Wissenschaft von der Geschichte.92 Die Funktion, die Rousseau und Voltaire den belles-lettres zuweisen, könnte nicht unterschiedlicher sein. Rousseau will den Leser vor dem Kontakt mit der Wissenschaft schützen. Seine Sitten sollen nicht verbessert, sondern konserviert
88 „[...] il faut opter entre faire un homme ou un citoyen; [...] L'homme naturel est tout pour lui:" Jean-Jacques Rousseau, Emile ou de {'education, hg. v. Charles Wirz, in: Ders., CEuvres completes, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond, Bd. 4, Paris 1969,248,249. 89 ,j2Melles experiences servient necessaires pourparvenir ä connoitre l'homme naturel; et quels sont les moyens de faire ces experiences au sein de la societe?', Cette meme etude de l'homme originel, [...] est encore le seul bon moyen qu'on puisse employer pour lever ces foules de difficultes qui se presentent sur l'origme de l'inegalite." Rousseau, Discours sur les orignes et les fondements de l'inegalite (wie Anm. 84), 123—124, 126. Lionel Gossman, Time and History in Rousseau, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 30 (1964), 311-349. 90 „[...] il faudroit avoir observe ses penchans, νύ ses progres, suivi sa marche: il faudroit, en un mot, connoitre l'homme naturel. Je crois qu'on aura fait quelques pas dans ces recherches apres avoir lu cet ecrit." Rousseau, Emile (wie Anm. 89), 251. 91 „Ces vrais S^avans sont en petit nombre, car pour bien user de la Science, il faut reunir de grands talents et de grandes Vertues; or, c'est ce qu'on peut ä peine esperer de quelques ämes privilegiees." Rousseau, Sur la reponse qui a etefaite ä son Discours, in: Rousseau, (Euvres completes (wie Anm. 79), 39. 92 Christopher Kelley hebt zurecht hervor, dass Rousseau in den Confessions die Zufälligkeit und extreme Unwahrscheinlichkeit seiner Entdeckung hervorhebt, Christopher Kelly, Rousseau's exemplary life. The Confessions as Political Philosophy, Ithaca 1987,243-246.
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werden. Während Voltaire den Blick des Lesers auf die ganze Zivilisationsgeschichte ausweitet, will Rousseau ihn auf das private Glück auf dem Lande einengen. Das Projekt einer literarischen Gegenkultur, das Rousseau in der Preface sur les romans entwirft, wendet sich nur an die ländliche Peripherie. In der Metropole gelten andere Standards. Folgt man dem ersten Discours kann die Metropole nur durch die Vermittlung der Geschichte vor dem Untergang bewahrt werden. So heißt es im ersten Discours, dass die Gemeinschaft der Gelehrten nützlich würde, wenn sie eine Darstellung der Geschichte produzierte, die den Menschen die Gefahren, die Wissenschaft und Literatur für Glück und Moral darstellen, aufzeigt. 93 Mit seinem zweitem Discours hat Rousseau eine solche Darstellung geliefert. Auch die Wissenschaft kann, dem ersten Discours zufolge, eine positive Funktion haben. Diese Wissenschaft müsse, wie es hier heißt, aber erst noch erfunden werden. Sie solle zeigen, wie eine Gesellschaft unter den Bedingungen fortgeschrittener Zivilisation auf den Weg der Tugend gebracht werden könne. 94 Rousseaus Contrat social erfüllt diese Aufgabe. Anders als die neuzeitliche Utopie präzisiert dieser Entwurf einer auf eine neue Wissenschaft von der Moral gestützten Gesellschaft die historischen Bedingungen seiner Realisierung. Da sie mit den Entwicklungsprognosen des zweiten Discours übereinstimmen, hat man es bei dem Contrat mit einer futuristischen Weiterfuhrung von Rousseaus Zivilisationsgeschichte zu tun. 95 Wie Voltaire geht auch Rousseau davon aus, dass die historische Erzählung Wert und Nutzen der neuen Wissenschaften beurteilen kann. Anlass dieser Aufwertung ist auch hier die Pluralisierung und Relativierung der wissenschaftlichen Schulen und Disziplinen. Viele der Plausibilisierungsverfahren, mit denen dieser Anspruch begründet wird, finden sich bereits bei Fontenelle, Montesquieu und Voltaire. Anders als der Empiriker Voltaire hat Rousseau ein ungebrochenes Verhältnis zu Hypothese und Fiktion und knüpft damit auch an die kartesischen Ursprünge wissenschaftlichen Erzählens bei Fontenelle und deren Weiterentwicklung bei Montesquieu an. Neu ist die Rehabilitierung der Subjektivität. Empirische Grundlage der weltgeschichtlicher Hypothesenbildung ist die Erfahrung der inneren Natur. Die Genres, die Rousseau für die Vermitdung
93 „Allez, ecrits celebres dont l'ignorance et la rusticite de nos Peres n'auroient point ete capables; accompagnez chez nos descendans ces ouvrages plus dangereux encore d'oü s'exhäle la corruption des mceurs de nötre siecle, et portez ensemble aux siecles ä venir une histoire fidelle du progres et des avantages de nos sciences et de nos arts. S'ils vous lisent, [...] ils leveront leurs mains au Ciel et diront [...] Dieu [...] delivre-nous des Lumieres", Rousseau, Discours sur les sdences (wie Anm. 79), 28. 94 Ziel der neuen Wissenschaft, die von tugendhaften Genies im Dienst eines aufgeklärten Monarchen begründet werden soll, ist „d'engager les hommes ä bien faire de leur bon gre", ebd., 30. 55 Im zweiten Discours prognostiziert Rousseau, unter welchen Bedingungen das Wachstum der Ungleichheit zu einer Revolution fuhren werde. In den Passagen von Du Contrat social, die die Realisierbarkeit des Gesellschaftsvertrages behandeln, knüpft er an diese Prognose an: Discours sur ks orignes et fondements de l'inegaüte (wie Anm. 84), 191—193; Du Contrat social (1e version), hg. v. Robert Derathe, in: J.-J. Rousseau, CEuvres completes, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond, Bd. 3, Paris 1964, 319.
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seiner Geschichtsdeutung wählt - discours und traite — sind die der Gelehrtenkommunikation. Erreichen -will er weniger die Gelehrten als das grand public. Dass ihm das gelungen ist, liegt auch daran, dass Montesquieu und Voltaire ihre politische bzw. historische Wissenschaft zum Lesestoff des grand public und Bestandteil der Belletristik gemacht haben. 96 Rousseau nutzt diese neue Form der Belletristik zum Kampf gegen die wissenschaftlich-literarische Zivilisation, die Montesquieu und Voltaire herbei zu schreiben versuchten, bezieht sich dabei aber auf die gleiche Ordnung des Wissens. Auch für ihn ist die Wissenschaft von der Geschichte das Metawissen, das über den Status und die soziale Funktion von Naturwissenschaft, belles-lettres und Religion entscheidet.
Zusammenfassung Die Analyse des Verhältnisses von Literatur und Wissenschaft in der französischen Aufklärung hat Kontinuitätslinien aufgezeigt, die zu Humanismus und Antike zurückreichen. Antike Formen und Genres der Popularisierung bleiben nach der wissenschaftlichen Revolution relevant. Die wissenschaftsfundierte imitatio steht über das ganze 18. Jahrhundert im Zentrum der Poetik. Bei der Konstitution der Gegenstände wie bei der Analyse von Produktion und Wirkung der Künste ersetzen die jeweils jüngsten wissenschaftlichen Modell die der Antike. Auch die historische Poetik knüpft an ein humanistisches Vorbild an, schafft durch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aber eine neue Konstellation. Die Geschichtswissenschaft wird aus den belles-lettres ausgegliedert und zum Metawissen erklärt. Die Genres der Gelehrsamkeit wie auch die der Belletristik werden zur Popularisierung dieser Geschichte refunktionalisiert. Die alteuropäische Wissensordnung konnte eine Verschiebung im Verhältnis zwischen untergeordneten Wissensformen absorbieren. Entscheidend für ihren Fortbestand war, dass das Wissen der Konfession um die Geschichte von Natur und Gesellschaft den Primat behielt. Seit der humanistischen Revitalisierung der antiken Geschichtsschreibung und Naturgeschichte wurden unter dem Dach des konfessionellen Staates auch nicht-biblische, wissenschaftsfundierte Großerzählungen entworfen und diskutiert. Das war möglich, solange streng zwischen kirchlicher und weltlicher Geschichte und ihrem jeweiligen Wissensstatus unterschieden wurde. Die den belles-lettres zugeordnete humanistische Geschichtsschreibung galt gegenüber der Heilsgeschichte als bloß menschliches Wissen und gegenüber den scientiae als bloße Kunst. Im Umgang mit der neuen Geschichte war diese Abgrenzung nicht mehr möglich. Ais Wissenschaft war sie nicht mehr bloß poetisches Genre. Indem sie die Frage aufgriff, wie verschieden Formen des Wissens zum Gemeinwohl beitragen, übernahm sie die Funktion des Metawissens, die die
96 Gerhard Rudolph, Le traite, l'essai, k compte rendu scientifique, in: Peter Eckhard Knabe, Roland Mortier, Francois Moureau (Hg.), l^'Aube Je la modemite 1680-1760, Amsterdam, Philadelphia, 406-426.
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alteuropäische Wissensordnung der Konfession vorbehielt. Die belles-lettres behielten zwar ihren nachgeordneten Status. Die neue historische Poetik veränderte aber ihre gesellschaftliche Funktion. Sie bestand darin, die wissenschaftliche Geschichte von Natur, Mensch und Gesellschaft an das Laienpublikum zu vermitteln, die Rolle, die das Individuum hier spielen konnte, zum Gegenstand eines breiten öffentlichen Diskurses zu machen und damit die Orientierungsfunktion der Konfession zu übernehmen.
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Erzählte und entzogene Individualität Rousseau zwischen Confessions und Reveries Hab ich dir das Wort Individuum est ineffabile Woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben? (Goethe an Lavater, um den 20. September 1780)
I. Individualitätsanzeigen Auch im 18. Jahrhundert, in dem Traditionsbruch und Diskontinuitätssetzung zur Rhetorik eines aufklärerischen Selbstverständnisses gehören, dürfte es kaum einen Text geben, der die Intention von Innovation und Differenz derart hypertroph vorträgt, wie das Jean-Jacques Rousseau am Anfang seiner Confessions tut. Es geht Rousseau keineswegs nur um einen Bruch mit dem Überlieferten, sondern um die Modellierung einer Differenz, die nicht nur diskursive Traditionen distanziert, sondern zugleich die Möglichkeit eigener Traditionsbildung verwirft. Die affichierte Singularität ist eine doppelte: Sie meint zum einen den Gegenstand des Textes, die Individualität der Person Jean-Jacques Rousseaus, zum zweiten die Singularität der diskursiven (literarischen, narrativen) Leistung. Rousseau beansprucht nicht nur, mit den tradierten Formen und Modalitäten der Selbstdarstellung zu brechen,1 er schreibt seinem Text vielmehr eine Position exzentrischer Differenz zu, so dass er selbst keine diskursive Kontinuität zu stiften in der Lage sein soll. Der Sog der Nachahmung, den die Confessions ausgelöst haben, ist bekannt, und die Literaturgeschichte scheint durchaus geneigt, Rousseaus Autobiographie den Status eines diskursbegründenden Textes zu konzedieren. Rousseau selbst aber hat entschieden die Vorstellung der Nachahmung und der Traditionsstiftung zurückgewiesen. Der Text der Confessions beansprucht einen Modus der Unmittelbarkeit, der weder durch die Vorgaben der Tradition vermittelt ist, noch als traditionsbildendes Modell fungieren kann. Die Traditionalisierung der Autobiographie impliziert in seiner Perspektive das Ende ihrer Authentizität, die Durchkreuzung von Unmittelbarkeit durch Konventionalität. So werden Rousseaus Confessions, deren Titel selbst einen kanonischen Text zitiert, ja wiederholt, in einen radikalen Antitraditionalismus getrieben, der nicht nur die Vorgänger 1 In den Ebauches nimmt Rousseau dazu einlässlicher Stellung: „[...] je ne connois jusqu'ici nul autre homme qui ait ose faire ce que je me propose. Des histoires, des vies, des portraits, des caracteres! Qu'est-ce que tout cela? Des romans ingenieux bätis sur quelques actes exterieurs [...]." JeanJacques Rousseau, Ebauches des Confessions, in: Ders., (Euvres completes, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond (Bibliotheque de la Pleiade), Bd. 1, Paris 1959, 1149. Wie man sieht, ist Rousseau mit der Vielfalt der einschlägigen Traditionen der Selbstdarstellung wohl vertraut, sein eigenes Unternehmen hat hier auch noch nicht den Charakter absoluter Exzeptionalität, den es in der Endversion annehmen wird.
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distanziert, sondern zugleich potentielle Nachahmer in eine grundsätzliche Inauthentizität verbannt. Es ist das fundamentale Paradoxon von Rousseaus Unternehmen, dass er die Ekstase einer Unmittelbarkeit der Selbstbezüglichkeit nur über den Umweg der Darstellung, d. h. der Schrift, und darüber hinaus der retrospektiven Narration zur Geltung bringen kann. Bereits der Essai sur l'origine des langues hatte die einschlägige Problematik unterstrichen: „L'ecriture [...] substitue l'exactitude a l'expression. L'on rend ses sentimens quand on parle et ses idees quand on ecrit."2 Die Schrift drückt Ideen, die Stimme Empfindungen oder Gefühle aus. Der Eingang der Confessions greift diese Distinktion auf und wendet sie in zwei Richtungen: Einerseits bedarf autobiographische Verschriftlichung einer gewissen Verselbständigung gegenüber der Unmittelbarkeit vorprädikativer Selbstreferenz, andererseits kompensiert die Schrift den Verlust unmittelbarer Selbstreferenz durch supplementäre Selbstaffektion. Bereits die Präambel des Textes ist dafür bei aller polemischen Plakativität — einschlägig. Sie ist das Ergebnis von Ausgrenzungen, die das antitraditionaüstische Moment erheblich verschärfen. Nachdem der Titel Augustinus und das Epigraph die Satiren des Persius zitieren, weist der erste Satz des Textes - wie der zweite beginnt er mit einem apodiktischen je — auf die absolute Exzentrizität des Unterfangens hin: Je forme une entreprise qui n'eut jamais d'exemple, et dont l'execution n'aura point d'imitateur. Je veux montrer ä mes semblables un homme dans toute la verite de la nature, et cet homme, ce sera moi. 3
Rousseaus entreprise ist ohne vorgängiges Beispiel und ihre Durchführung wird und kann keine Nachahmer haben. Weder die Modellierung gnadenabhängiger Individualität noch der distanzierte Blick des Satirikers erreichen jene Form der Selbstreferenz, die auf die naturhafte Individualität des Individuums zielt. Nun ist die Rede von der Naturwahrheit des Menschen oder eines Menschen eine notorisch elusive Rede. In seinem zweiten Discours offeriert Rousseau eine Antwort, die auf die Fiktion (oder Hypothese) eines Naturzustands rekurriert. Vom Ursprung der Ungleichheit zu reden, legt im Hinblick auf den Menschen im Allgemeinen die Vermutung einer ursprünglichen Gleichheit nahe, die sich nicht in einem sozialen Sinn erschöpft, sondern anthropologischen Stellenwert hat.4 Die Fiktion des Naturzustandes erlaubt die Vorstellbarkeit dessen, was der 2 Jean-Jacques Rousseau, (Earns completes, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond (Bibliotheque de la Pleiade), Bd. 5, Paris 1995,388. 3 Jean-Jacques Rousseau, Les Confessions de ]. J. Rüusseau, in: Ders., CEums completes, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond (Bibliotheque de la Pleiade), Bd. 1, Paris 1959, 5. - Zitate nach dieser Ausgabe werden im Folgenden nach dem Erstbeleg mit Band- und Seitenzahl im Text zitiert. 4 Rousseau unterscheidet in der Präambel des zweiten Discours zwei Arten der Ungleichheit die natürliche oder physische, die von der Natur selbst stammt, und die Alter, Gesundheit, körperliche Beschaffenheit und geistige Gaben betrifft; die zweite, die inegalite sociale, die sich auf die Institution gründet, und die Macht, Reichtum, differensprivileges, etc. betrifft, Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origine et lesfondements de l'inegaliteparmi les hommes, in: Ders., (Eupres completes, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond (Bibliotheque de la Pleiade), Bd. 3, Paris 1964,131. Es liegt auf der Hand, dass die Autobiographie diese Grenze immer schon problematisiert, und zwar insbesondere in Hinblick
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Mensch vor aller Vergesellschaftung in seiner anthropologischen Natur war. Diese Ausstattung mag, retrospektiv gesehen, karg sein, aber sie ermöglicht in der Konstruktion Rousseaus doch sowohl die Subsistenz des einzelnen wie das Überleben der Gattung. Für den Rousseau des zweiten Discours ist die Natur eine Matrix, die bei aller Verschiedenheit anthropologische Gleichheit hervorbringt, während die Gesellschaft Institution von Ungleichheit ist5. Die Differenzen der menschlichen Natur sind akzidentell, ihre Gleichheit Substanz; demgegenüber sind die Ungleichheiten des Sozialen dessen Substanz selbst. Allerdings lässt bereits das Vorwort zum zweiten Oiscours mit dem Verweis auf die Statue des Glaukus offen, ob die anthropologische Konstitution des Menschen, „tel que l'a forme la Nature" (III, 122) angesichts der Arbeit der Institution und der Fortschritte der Ungleichheit überhaupt noch erkennbar ist.6 Der zweite Absatz der Confessions bringt in äußerster Verknappung das doppelte Thema, Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit der Natur und des Menschen als Gattung und als Individuum, zur Sprache, um daraus die spezifische Form der Autobiographie zu begründen. Moi seul. Je sens mon cceur, et je connois les hommes. Je ne suis fait comme aucun de ceux que j'ai vus; j'ose croire n'etre fait comme aucun de ceux qui existent. Si je ne vaux pas mieux, au moins je suis autre. Si la nature a bien ou mal fait de briser le moule dans lequel eile m'a jette, c'est ce dont on ne peut juger qu'apres m'avoir lu. (I, 5)
a) Zunächst ist der Modus der Selbstreferenz, den die Confessions in die Schrift transponieren, nicht der des connaitre, das heißt der Erkenntnis in einem philosophischen oder satirischen Sinn, sondern der des sentir, das heißt einer Selbstbezüglichkeit, deren Unmittelbarkeit keinen Spielraum der Heteronomie eröffnet. Wenn Rousseau von sich sagt, er kenne die Menschen, dann meint er damit offenkundig die in ihrer Ungleichheit instituierten Menschen und das von ihnen inszenierte Maskenspiel gesellschaftlicher Beziehungen. Das sentir hingegen ist der adäquate Modus einer Selbstreferenz des außergesellschaftlichen Ichs, im Falle Rousseaus eines Ichs, welches in seiner Einsamkeit die Isoliertheit des homme naturel nachspielt, nun allerdings im Modus einer polemischen Verweigerung von Gesellschaftlichkeit. b) Es ist unverkennbar, dass das Motiv des moi seul, das heißt der Sezession, Isolierung, später der Vereinsamung eines der stärksten literarischen Momente von Individualisierungsschüben darstellt. In der syntaktisch isolierten Nominalphrase stellt Rousseau seine Individualität gewissermaßen monumentalisiert aus. auf das Individuum als moralische Instanz, die einerseits natürlich fundiert, andererseits gesellschaftlich geprägt ist. 5 Vgl. Rousseaus Widmung an die Republik Genf, in der er die „egalite que la nature a mise entre les hommes" von der „inegalite qu'ils ont instituee" unterscheidet, ebd., 111. 6 „[...] semblable a la statue de Glaucus, que le tems, la mer et les orages avoient tellement defiguree qu'elle ressemblait moins ä un Dieu qu'ä une Bete feroce, l'ame humaine alteree au sein de la societe par mille causes sans cesse renaissantes [...] a pour ainsi dire, change d'apparence au point d'etre presque meconnoissable", ebd., 122.
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Aber er führt seine Differenz zu den anderen gerade nicht auf Instituierungsprozesse, auf die abgeleiteten Verwerfungen des gesellschaftlichen Lebens und der dort herrschenden komparativen Existenz, sondern auf die Instanz der Natur selbst zurück. Angesichts der normativen Besetzung des Naturbegriffs, die der zweite Discours durchgesetzt hatte, verliert seine Individualität damit ihr Rechtfertigungsbedürfnis. Die „Natur" konstituiert Individualität im Medium der Empfindung als Differenz und als Form7 noch vor der konzeptuellen Opposition von Natur und Gesellschaft. Individualität ist jene Seite der Form, die sich in der Empfindung beobachten lässt. Rousseau rekurriert an dieser Stelle in einer überraschenden Volte auf das Analogon von Kunst und Natur, um eine naturhafte Inkommensurabilität zu plausibilisieren. Allerdings gelingt das nur um den Preis einer Deformation der Analogie. Die Analogie, die Rousseau bemüht, ist die der bildenden Kunst, genauer des moule, d. h. jener Form, in die der bildende Künsder sein Erz gießt, um nach dem Erkalten des Metalls durch das Zerschlagen der Form die fertige Statue zu enthüllen. Benvenuto Cellinis Vita hat wie kein anderer Text die Dramatik dieses Ereignisses zur Darstellung gebracht, vor allem in der Darstellung der Herstellung seiner Perseusstatue.8 Auch die Natur, so Rousseau, habe die Form, den moule, zerbrochen, in den sie ihn geworfen habe. So wird es keine zweites Naturprodukt, kein etre commun, mehr geben, das mit Rousseau identisch wäre. Was er unterschlägt ist, dass das Analogon der bildenden Kunst die Anerkennung der Tatsache nahe legt, dass jede einzelne Figur zum Zerbrechen der sie ermöglichenden Form nötigt. Die bildende Kunst bringt immer nur Einzelwesen hervor, Ähnlichkeiten resultieren aus Nachahmungen. Die Analogie von Natur und bildender Kunst schließt daher im Grunde das Konzept des homme en general aus. Diese Implikation entfaltet Rousseaus Text gerade nicht. So fungiert das Bild des moule als Figur der Individualitätssteigerung. Für Rousseau ist die Natur ein Produzent von Gleichheit und in seinem Fall ein Produzent von Ungleichheit, und die Ungleichheit der Individualität artikuliert sich nicht über die instituierten Differenzen der komparativen Existenz, sondern über eine Struktur von naturhafter Differenz, die als Form empfunden und damit beobachtbar wird. „Die großen Umkehrungen, wie die des Rousseau, hätten keine Ausdrucksmittel, wenn sie nicht stabilisierte ikonische Institutionen vorfänden, an denen 7 Zum hier vorausgesetzten Formbegriff vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschrrft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1977, 60-61: „Formen sind danach nicht länger als (mehr oder weniger schöne) Gestalten zu sehen, sondern als Grenzlinien, als Markierungen einer Differenz, die dazu zwingt, klarzustellen, welche Seite man bezeichnet [...] Form ist gerade die Unterscheidung selbst, indem sie die Bezeichnung (und damit die Beobachtung) der einen oder der anderen Seite erzwingt und die eigene Einheit (ganz anders als der Begriff) gerade deshalb nicht realisieren kann." Die Einheit der Form ist nicht ein höherer Sinn, sondern „das ausgeschlossene Dritte, das nicht beobachtet werden kann, solange man mit Hilfe der Form beobachtet", ebd., 62. 8 Benvenuto Cellini, La Vita, hg. v. Guido Davico Bonino, Turin 1973, S. 420ff. - Vgl. auch Friedrich Schillers Lied von der Glocke. „Nun zerbrecht mir das Gebäude,/ Seine Absicht hats erfüllt,/ Daß sich Herz und Auge weide/ An dem wohlgelungnen Bild./ Schwingt den Hammer, schwingt,/ Bis der Mantel springt,/ Wenn die Glock soll auferstehen,/ Muß die Form in Stücken gehen." Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte. Dramen I, München 1987,439.
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sie sich vergreifen können."9 Der Autor der Confessions ruft eine Tradition auf, die wirkungsmächtiger und autoritativer nicht sein könnte. Mit ihr rivalisiert nun sein eigenes autobiographisches Unternehmen: Que la trompette du jugement dernier sonne quand eile voudra; je viendrai ce livre ä la main me presenter devant le souverain juge. Je dirai hautement: voila ce que j'ai fait, ce que j'ai pense, ce que je fus. J'ai dit le bien et le mal avec la meme franchise. [...] j'ai devoile mon interieur tel que tu l'as vu toi-meme. Etre etemel, rassemble autour de moi l'innombrable foule de mes semblables: qu'ils ecoutent mes confessions, qu'ils gemissent de mes indignites, qu'ils rougissent de mes miseres. Que chacun d'eux decouvre ä son tour son cceur au pied de ton tröne avec la meme sincerite; et puis qu'un seul te dise, s'il l'ose: j e fus meilleur que cet homme-lä. (I, 5)
Die Evokation der Trompete des jüngsten Gerichts spielt die Topik des Buchs Gottes ein. Sie bezieht sich auf eine Vorstellung des göttlichen Buchs als des Buchs der Wahrheit und zugleich auf jene Modellierung des Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Wissen um das Selbst, das die Confessiones des Augustinus zum Ausdruck bringen. Rousseaus Buch der Individualität des eigenen Selbst, das in der Schrift paradoxerweise die Selbstreferenz in der Empfindung (und das heißt insbesondere: der inneren Stimme) zur Geltung bringen will, gründet sich auf den Anspruch einer Allwissenheit, mit der Rousseau umstandslos die göttliche Allwissenheit usurpiert.10 Sein Text setzt den Bezug auf Augustinus, um eine fundamentale Differenz anzuzeigen. Die Confessions Rousseaus ersetzen das Zwiegespräch mit Gott durch das Zwiegespräch mit dem Leser, und diese Instanz des Publikums ist identisch mit der espece humaine insgesamt. Macht sich Augustinus zum bloßen Medium der Vermittlung von Gottes Wort an die sündhafte Menschheit, so tritt Rousseau in der doppelten Rolle einer Instanz des Wissens und eines Demonstrationsobjekts auf. Was Augustinus als Bekenntnis seiner Sünden vorführt, kehrt bei Rousseau in der Ausstellung der indignites und miseres wieder. Mit dem Austausch der Wissensprädikate verwandelt sich allerdings die Pragmatik des Textes. Mit der Inanspruchnahme autoritativer Selbstreferenz kassiert Rousseau die Notwendigkeit des externen Beobachters. Dieser war bei Augustinus die Instanz des Schöpfers, die nicht nur Wissen, sondern zugleich Allmacht und liebende Zuwendung zu den Geschöpfen verkörperte. Deshalb entspricht der Verdoppelung, mit der Augustinus jedes autobiographische Geständnis in die Sprechakte des Lobs, der Bitte und des Gebets einbettet, bei Rousseau der triumphalistische Gestus apodiktischer Behauptung. Was Augustinus seinem Schöpfer gesteht, weiß dieser kraft seiner Allwissenheit ohnehin. Seine Wahrnehmung zeigt allenfalls an, wie weit das Geschöpf in der gottgewährten Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit gediehen ist. Aber diese Anzeige ist kein Gott zu Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt,, Frankfurt a. M. 1981,32. Vgl. dazu ausfuhrlicher Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfart a. Μ. 1982,232ff. 9
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2eigendes Wissen, sondern allenfalls Indiz der Anwesenheit Gottes, zunächst aber Bitte, Gott möge in das ,enge Haus' des Sünders einziehen und es aus seiner Gottesferne erlösen: Angusta est domus animae meae, quo venias ad eam: dilatetur abs te. Ruinosa est: refice earn. (I. V. 6)11 Die Confessiones sind von dieser performatdven Mehrstrahligkeit sowohl in ihrer Makro- wie in ihrer Mikrostruktur geprägt. Das Sündenbekenntnis dient dem Lobpreis Gottes, es hat kein eigenes Gewicht als Buchstabierung kontingenter Individualität. So hatte bereits der Beginn des zehnten Buches im Rückblick auf die Suche nach und die Begegnung mit Gott eine zirkuläre Struktur thematisiert. Da Gott der Abgrund des menschlichen Gewissens, der „abyssus humanae conscientiae" (X.II. 2)12 ohnehin nicht verborgen sei, wäre der Nichtvollzug des Sündenbekenntnisses nur der Ausweis der Gottesferne, der Tatsache, dass sich Gott gegenüber dem Sünder fern und verborgen halte und nicht umgekehrt: Das Geschöpf liegt unverborgen vor dem göttlichen Blick: „Tibi ergo, Domine, manifestus sum, quicumque sum." Da sich der Mensch vor Gott nicht verbergen kann, sondern ihm immer schon bis in sein Innerstes enthüllt ist, ist das verweigerte Geständnis nur ein Zeichen der Gottesferne. An die Menschen gerichtet aber sind die Confessiones — sofern sie denn im Wahren sind — nichts anderes als ein Medium des göttlichen Wortes. Keine andere Wahrheit sage er den Menschen als das, was er von Gott gehört habe, also jedenfalls keine eigene Wahrheit als Wahrheit über das Eigene.13 Die zirkuläre Performativität, die auf einer wechselseitigen Implikation der Sprech- und Erkenntnisakte beruht, hat Augustinus bereits im ersten Absatz der Confessiones zur Sprache gebracht, welcher die Frage aufwirft, wie Gott anzurufen (invocare) sei: Da mihi, Domine, scire et intellegere, utrum sit prius invocare te an laudare te et scire te an invocare te. (I. I.l) 1 4
Die Sprechakte der Anrufung, des Lobs (als Ausdruck des Begehrens) und der Behauptung (als Ausdruck des Wissens) sind in wechselseitiger Implikation verklammert. Um Gott anrufen zu können, muss man ihn bereits kennen, in der eigenen Unvollkommenheit ist man aber auf ihn verwiesen, ohne ihn zu kennen. Der Mensch preist Gott, ohne ihn kennen zu können, aber er kann ihn zugleich nicht preisen, ohne zu wissen, wen er preist. So ist die Selbstreferen2 der Con11 Augustinus, Cmfessionum Ubri XIII, hg. v. Lucas Verheijen (Corpus Christianorum Series Latina, 27), Turnhout 1981, 3. 12 Ebd., 155. 13 So argumentieren die Confessiones (XIII. XXV.38): Augustinus wird wahr sprechen, wenn ihn Gott inspiriert': „Vera enim dicam te mihi inspirante" (ebd., 264). Der Mensch hingegen ist lügnerisch: „omnis autem homo mendax", wie es im Zitat des Römerbriefes (3, 4) heißt, ebd., 265. Das aber bedeutet: wenn der Mensch lügt, so bringt er das Seinige zum Ausdruck. Nur wenn er Gottes Wort zu Wort kommen lässt, ist er in der Wahrheit: „[...] qui loquitur mendacium, de suo loquitur. Ergo ut verum loquor, de tuo loquor!" Ebd., 265. "Ebd., 1.
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fessiones, das Bekenntnis der eigenen Sünden, immer schon über sich hinaus verwiesen auf eine Fremdreferenz, die sie unvermeidlich zur Geltung bringen muss und in der sie Erlösung finden will. Der Anfang der Confessiones artikuliert eine Situation des Mangels, der immer schon das Begehren der Aufhebung des Mangels eingezeichnet ist, jedes Wissen ist immer schon von einem Appell gedoppelt. Die Confessiones entfalten die Individualität einer Biographie der Sünde und der Konversion, die zur Auslöschung dieser Individualität drängt und diese Auslöschung am Ende auch vorfuhrt, indem sie das Wort Gottes an die Stelle des gefallenen Wortes des Sünders setzt. Rousseau seinerseits präsentiert sich selbstbewusst vor dem Richterstuhl Gottes, weil er das, was Gott ihm in seinem göttlichen Buch allenfalls vorzuhalten vermöchte, immer schon weiß, so sein hypertropher Anspruch, denn er hat es in seinem eigenen Buch, das die Aufzeichnung seiner Taten, Gedanken und Zustände beinhaltet, niedergelegt. Dort hat er das Gute wie das Böse mit der gleichen unfehlbaren Offenheit (franchise, sincerity gesagt. An die Stelle des performativen Zirkels tritt die apodiktische Apophantik. Sein Innerstes habe er enthüllt, so wie Gott selbst es gesehen habe. Aber unverkennbar legt Rousseau doch nahe, dass sein Buch, auch wenn es an Allwissenheit mit dem göttlichen Buch wetteifert, gleichwohl eine andere Struktur besitzt. Immerhin will es ein Buch der unmittelbaren Transparenz des sentir, nicht der vermittelten Transparenz des connaitre sein. Augustinus will seinen Text zum Medium des göttlichen Wortes, Rousseau den seinen zum Medium der Natur machen. Aber das können die Confessions offenbar nur, wenn sie nicht die Struktur des göttlichen Buches nur wiederholen, dem traditionell die Struktur einer doppelten Buchführung, das Gute und Böse jeweils getrennt katalogisierend, zugeschrieben wurde.15 Rousseaus Buch des Selbst ist keine achrone, digitale Liste von Meriten und Verfehlungen, sondern die narrative Entfaltung einer Biographie. Sie hat einen retrospektiven Erzähler, der die gleiche Individualität zu sein bzw. zu haben beansprucht wie der, von dem er erzählt, und dessen Erfahrungen und Zustände er im Schreiben wiederholt, in vielschichtigen Modi der Nähe und der Distanz. Individualität als Substanz und Individualität als Prozess geraten in Konkurrenz, Individualität als Produkt der Natur und Individualität als narratives Konstrukt werden zu rivalisierenden Konzepten. Die Confessions müssen sowohl auf Sujetlosigkeit wie auf Sujethaftigkeit, auf Substanz und Prozess, auf Stabilität und Transgression setzen. So wird die Selbstreferenz zum letzten, wenn auch fragilen Einheitsprinzip, denn auch sie ist der Spannung von erinnertem und erzähltem Ich ausgesetzt. Rousseau hat diesen Sachverhalt in den Ebauches der Präambel auf eine bemerkenswerte Formel gebracht: „En me livrant ä la fois au souvenir de l'impres15 Allerdings manifestiert sich auch bald das Bedürfiiis nach einer mittleren Ebene und einer noch nicht endgültigen Sortierung, vgl. etwa die Äußerung des Rabbi Jochanan aus dem 3. Jahrhundert: „Drei Schreibtafeln gibt es, eine für die völlig Gerechten und eine für die völlig Gottlosen und eine für die Mittelmäßigen." Zitiert nach Blumenberg, Lesbarkeit (wie Anm. 9), 26.
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sion receue et au sentiment present je peindrai doublement l'etat de mon ame, savoir au moment ού l'evenement m'est arrive et au moment oü je Tai decrit [...]." (I, 1154.) Die Formulierung macht die ganze Spannung von substantieller und erzählter Individualität deutlich. Sie setzt eine Differenz von Vergangenheit und Gegenwart, also eine Prozesshaftigkeit der Individualisierung, und sie postuliert zugleich die substantielle Identität einer naturhaft gegründeten und sich durchhaltenden Individualität, der der Text ein Monument setzt. Die Vermittlung von vergangenem und gegenwärtigem Augenblick lässt eine Doppelung sichtbar werden, die doch in eine Differenzlosigkeit zurückgenommen werden soll, die palimpsestartige Uberschreibung des Vergangenen durch das Gegenwärtige postuliert eine Teleologie der Ununterscheidbarkeit, die durch das bloße Faktum der Erzählerstimme immer wieder subvertiert wird. Die zitierte Passage findet sich in der publizierten Version der Confessions nicht mehr. Aber auch dort wird das Grundproblem sichtbar. Im Kontext der postulierten Identität von göttlichem und eigenem Wissen um das Selbst räumt Rousseau immerhin ein, dass ihm auf Grund eines defaut de memoire gelegentlich ein ornement indifferent (I, 5) unterlaufen sein mag. Die passivische Konstruktion lässt im Übrigen offen, ob das mit oder ohne Absicht geschah. Was aber ist ein gleichgültiges Ornament? Was bedeutet, Lücken der Erinnerung durch supplementäre Erfindung zu schließen? Im Blick auf das Individuum das Mögliche in ornamentaler Absicht zu fingieren, impliziert unvermeidlich, das vermeintliche Gegebene, nämlich die individuelle Form in ihrer naturhaften Differenz, durch Darstellung allererst zu konfigurieren. Empfindung und Fiktion werden ununterscheidbar. Die Kategorie des indifferenten Ornaments zerrt an der hypostasierten Naturform der Individualität und stellt gerade das in Frage, was Rousseau als seinen höchsten Anspruch proklamiert, sein Inneres so zu enthüllen, wie es Gott selbst gesehen habe.
II. Diskontinuität der Individualität und Kontinuität der Selbstreferenz Unübersehbar sind die ersten Bücher der Confessions von einer unruhigen Ambivalenz von Substanz und Geschichte geprägt. Rousseau wird nicht müde, seine singularites und die daraus resultierende bi^arrerie des Verhaltens auszustellen und beispielsweise auf eine bestimmte Struktur seiner naturhaften Prägungen, Antriebe und Leidenschaften zurückzufuhren.16 Allerdings steht ihm dafür nur ein tradiertes Kategorienrepertoire des Charakters, der humeurs und der passions zur Verfügung, und schon die Tatsache, dass Rousseau die tradierte Terminologie weitgehend unspezifisch, ja austauschbar verwendet, deutet darauf hin, dass sie an deskriptiver oder explikativer Leistung verloren hat. Rousseau spricht die 16 Vgl. ζ. B. Rousseau, Confessions (1,36): „Cette bizarrerie rient ä une des singularites de mon caractere; eile a eu tant d'influence sur ma conduite, qu'il importe de l'expliquer."
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alten Sprachen der Charaktere und der Humoraltheorie, aber er hat im Grunde gar keine andere Wahl als sie zu distanzieren, denn sie laufen auf eine codierte Unterscheidungspraxis hinaus, die die Individualität des Individuums als Form und Differenz zum Verschwinden bringen muss. Rousseaus Zitat des Charakterund Humoraldiskurses bestätigt nur, was dieser immer schon wusste, nämlich die vielfaltigen, harmonischen oder agonalen Verzahnungsoptionen von menschlicher Natur und sozialer Ordnung in einer quasimechanischen Form. Zwar lässt der Diskurs viel Platz für Idiosynkrasien, pathologische oder nichtpathologische Übersteigerungen oder Mängel, aber gerade nicht fur das, was Rousseau mit der Vorstellung der individualitätsschaffenden Natur im Auge hat. Deshalb kann Rousseaus Text dort, wo er die Ressourcen des tradierten Diskurses ausbeutet, auch gar nichts anderes tun, als die Individualität des Individuums als Differenz und Form zu vernichten. Das Zitat der alteuropäischen Diskurstraditionen, das Rousseau durchaus umständlich ausbreitet, hat eher die rhetorische Funktion, die exzentrische Individualität des Außenseiters zu den eingespielten Zuschreibungspraktiken der Lebenswelt in eine Beziehung zu bringen. Zweifellos ist der Rousseau der Confessions ein grandioser Erzähler. Die Kunst des Erzählens zeigt sich zuallererst an der virtuosen Inszenierung ihrer divergierenden Modalitäten: Strukturen der Novelle und der Anekdote, des Pikaresken und des Elegischen, des Distanzierten und der simulierten Präsenz lassen die Confessions zu einem Text erstaunlicher narrativer Heterogenität werden. Der empfindsame Erzähler ist zugleich ein virtuoser Artist im Umgang mit den Erzählschablonen.17 Die Confessions sind, allen spektakulären indignites und miseres zum Trotz, nicht frei von komischen Episoden, in denen das Erzählsubjekt aus überlegener Distanz an ein einverständiges Lachen des Lesers appelliert, und sie sind auch nicht frei von Situationen des Unbewältigten, wo die Distanz von Erzähler und Erzähltem zu kollabieren droht. Vor allem aber muss man wohl sagen, dass die Confessions in einer höchst signifikanten Weise das Schema der aristotelischen Fabel, die Struktur von Anfang, Mitte und Ende, verfehlen. Man kann als Mitte zwar durchaus die im achten Buch dargestellte Genese der eigenen Autorschaft, die illumination de Vincennes, gelten lassen. Für Rousseaus autobiographische Selbstwahrnehmung hat sein erster Auftritt als Autor — zu dem er durch den geradezu diabolischen Freund Diderot provoziert wird — zweifellos den Charakter eines fundamentalen Einschnitts. Andererseits sind die Confessions wesentlich unvollendet,18 und das ist kein Zufall. Hier liegt offensichtlich ein entscheidender Unterschied zu Augustinus: Während Augustinus seine Confessiones nachdrücklich als einen Text des Nichtwissens präsentiert, gelingt ihm am Ende doch eine Figur des Abschlusses, indem er an die Stelle des eigenen Text den autoritativen Text des göttlichen Wortes, den Wortlaut der Genesis, den es
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Vgl. dazu eine exemplarische Analyse von Jean Starobinski, La Relation critique, Paris 1970, 82—
169. 18 Vgl. etwa die Bemerkung am Ende des 12. Buches: „On verra dans ma troisieme partie si jamais j'ai la force de l'ecrire [...]" (I, 656).
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zu kommentieren gilt, setzt Rousseau hingegen präsentiert seine Confessions spektakulär als einen Text des Wissens, und lässt ihn doch am Ende in einer Unabgeschlossenheit, ja Offenheit, die auch durch die nachfolgenden autobiographischen Komplementärtexte, insbesondere die Reveries du promeneur solitaire, nicht getilgt, sondern eher noch gesteigert, wird. Rousseaus Confessions dezentrieren die aristotelische Struktur der Fabel durch ihre intensive Anfangsmarkiertheit. Wieder geraten Individualität als geprägte Form und Individualität als Emergenz in ein Rivalitätsverhältnis. Alle großen Episoden der ersten Bücher sind Geschichten von Anfangen, Ursprüngen, supplementären Einprägungen — Anfänge, die es dann nicht gegeben hätte, wenn die hypostasierte Individualität des Individuums sich selbst überlassen geblieben wäre, oder wenn die Biographie sich im stabilen Rahmen der Republik Genf abgespielt hätte. Rousseaus Autobiographie erzählt von zerbrochenen Ordnungen (der Interaktion, des Sozialen, des Moralischen), und selbst wenn die Ordnung zu existieren scheint, so ist sie doch so verfasst, dass sie dem exzentrischen Individuum keinen Platz bietet. Die glücklichen Stationen der Biographie sind immer nur momenthafte Oasen, Unterbrechungen jener Asymmetrien, in denen Rousseau auf Provokationen reagiert, um eine sekundäre Prägung zu produzieren, die die Individualität des Individuums steigert. Es sind die extern induzierten Anfänge, die eine bisher stumme Dynamik der Individualität freisetzen, und deren Kontingenz jene Substanz der Individualität konstituiert oder markiert, die der Naturdiskurs nur zu beschwören vermag. Allein das erste Buch erzählt mehrere solcher Anfange, und der Anfang aller Anfange ist - gewissermaßen die Grenzlinie der Ununterscheidbarkeit von Bewirken und Erleiden — natürlich die Geburt, mit der Rousseau seiner Mutter das Leben kostet, und die damit zugleich jede Möglichkeit einer symbiotischen Einheit zerreißt. Aus dieser initialen Entwurzelung und Dezentrierung resultiert ein zweiter Anfang: Die fatale Exuberanz des Imaginären wird in den gemeinsamen Lektüren mit dem Vater ausgeprägt; die fessee, die durch das Muttersubstitut Mile Lambercier verabreicht wird, führt zur lebenslangen Fixierung einer in perverser Passivität verharrenden Sexualität, und die Anschuldigung, den Kamm der Ersatzmutter zerbrochen zu haben, führt zum Sündenfall einer initialen Erfahrung der Ungerechtigkeit und damit zu einer nie mehr auflösbaren Opazität der Interaktion. Es dürfte schwerfallen, die Fülle dieser narrativen Anfange zu totalisieren. Bekanntlich neigt die Rousseauliteratur zu solchen Totalisierungen, aber sie kann das offensichtlich nur tun, indem sie ihren eigenen Interpretationsdiskurs in den Text hineinprojiziert und damit seine Serialität asymmetrisiert. Entscheidend ist vielmehr, dass die Struktur der Anfänge als Ursprung, in denen sich die Kontingenz des Ereignisses mit der Konsistenz der Prägung verbindet, eine offenkundige Homologie zur Struktur von Individualität als Differenz und Form besitzt. Während die Bildlichkeit des moule und seines Zerbrechens in eine Darstellungsaporie mündet, weil die in der Empfindung gegenwärtige absolute Differenz in der Schrift nicht darstellbar ist, und die traditionalistischen Krücken der
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Darstellungsermöglichung (der Charakter-, Humoral- und Leidenschaftsdiskurs) nur zur Tilgung von Individualität fuhren, produziert das narrative Muster des Anfangs als Ursprung Individualität als Geschichte und Substanz, als Differenz und Form, und macht sie damit dar- und vorstellbar. Es sind gerade nicht die regelmäßigen, stetigen und erwartbaren Zumutungen der gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Institutionen - sie hätten die träge Natur Rousseaus nur zu einem durchschnittlichen Bürger geformt —, sondern die unerhörte Kontingenz singulärer Ereignisse, die nur möglich werden, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse destabil geworden sind, und weil der marginalisierte und exilierte Jean-Jacques unentwegt das Substrat einer Neigung zu exzentrischen Reaktionen mitbringt. Die Episode, mit der Rousseau das zweite Buch der Confessions abschließt, die berühmte Geschichte des gestohlenen Bandes, betrifft die Individualitätsthematik in mindestens dreifacher Hinsicht: 1) Sie inszeniert ein Spiel von sozialen Positionen und Interaktionen, das um das Verhältnis von Individuum und sozialer Rolle organisiert ist; 2) sie exemplifiziert die Struktur von kontingentem Ereignis und dauerhafter Prägung, von momenthafter Einschreibung und dauerhafter Schrift (oder Gravur); 3) sie ist insofern zwieschlächtig organisiert, als die Thematik der Individualität einerseits im Kontext vergangener, und als vergangen artikulierter Oppositionen, der sozialen Komödie von Individuum und Rolle, artikuliert wird, andererseits im Kontext unbewältigter Gegenwärtigkeit, das heißt einer Art Dringlichkeitssteigerung des Vergangenen.19 Die Individualitätsthematik wird damit selbst temporalisiert, in ihr treffen sich abgelegte, unverbindlich gewordene Tradition und gegenwärtiger, im Schreiben abgearbeiteter Bewältigungsdruck. Im Kern der zweigipfligen Geschichte geht es um Folgendes. Der sechzehnjährige Rousseau, aus seiner Vaterstadt Genf exiliert, findet eine Anstellung im Hause der Comtesse de Vercellis in Turin. Der Zeit seines Lebens auf den Titel eines citoyen de Geneve pochende Republikaner Rousseau verdingt sich bei einer „Dame de condition" (I, 80). Für den Leser der Confessions ist mit dieser Situation bereits unübersehbar ein Zeichen des zu erwartenden Misslingens gesetzt. Der junge Rousseau allerdings, von den Romanlektüren seiner Kindheit nach wie vor geprägt, lebt in imaginären hautes aventures, er erwartet für sich die Funktion eines favori, während die ihm zugedachte Rolle sich in der eines schlichten Lakaien erschöpft, der am unteren Rand der Hauspyramide angesiedelt ist. Der Gegensatz zwischen literarisch vermittelter Erwartung und sozialer Wirklichkeit hat auch für den Autor Rousseau die Qualität eines komischen Kontrasts,
15 Diderot hat in seinem Neve« de Rameau (zitiert nach Diderot, Contes et romans, hg. v. Michel Delon [Bibliotheque de la Pleiade], Paris 2004, 587) die Funktion des Neveu als eines original auch darauf bezogen, dass er ein „grain de levain" sei, „qui fermente et qui restitue ä chacun une portion de son individualite naturelle". Es ist der Parasit der Gesellschaft, der hinter dem gesellschaftlichen Rollenspiel einen Kern naturhafter Individualität zum Vorschein bringt. Allerdings sind es auch hier Bestände einer moralischen Natur, die zum Vorschein kommen und nicht die absolute Singularität Vgl. dazu die aufschlussreichen Anmerkungen von Jean Starobinski in Individualität (Poetik und Hermeneutik, XIII), hg. v. Anselm Haverkamp u. Manfred Frank, München 1988,637ff.
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darüber hinaus entbehrt die Szene nicht komischer Elemente, selbst noch in der Darstellung des Sterbens der Gräfin. Als nämlich am Ende ihres stoisch ertragenen Leidens die Unwillkürlichkeit eines gros pet die Dimension unbeherrschbarer Kreatürlichkeit ins Spiel bringt, reagiert die Gräfin geistesgegenwärtig mit dem witzigen Kommentar, dass eine furzende Frau nicht tot sei, und diese komische Brechung zeigt, dass sie auch angesichts des Todes die Rolle öffentlichkeitszugewandter Selbstbeherrschung und Geistesgegenwart nicht aufgibt. Ihr Tod ist eine, wie man mit Philippe Aries sagen könnte, mort apprivoisee, ein sozial eingebetteter, aber vor allem von ihr selbst stilisierend gezähmter Tod. Gezähmt ist er allerdings nicht für den jungen Rousseau, der in aller Heimlichkeit larmes sinceres vergießt, weil er jeden Anschein der Interessiertheit vermeiden möchte. Anders gesagt: Auf die souveräne Rolleninszenierung der Gräfin antwortet Rousseau mit den affektiven Ressourcen seiner Individualität, die eine rollentranszendente persönliche Beziehung unterstellen, welche die Gräfin ihm stets verweigert hat. Weil Rousseau hartnäckig auf der Unmittelbarkeit der Individualität besteht, die Comtesse aber nur für rollencodiertes Verhalten empfanglich ist, stößt sich sein caur sensible an der secheresse der adligen Dame, die schüchternen Individualitätsprätentionen Rousseaus können sie nur langweilen. Die Möglichkeit oder das Scheitern der Reziprozität von Individuen auf der Basis und vor dem immer wieder in Szene gesetzten Hintergrund gesellschaftlicher Ungleichheit, dieses Thema prägt zahlreiche Episoden der Confessions, und seine Artikulation verleiht dem Text gerade deshalb eine so außerordentliche Schärfe der Sozialbeobachtung, weil sich Rousseau in ihnen aus der Distanz der autobiographischen Narration als einen sozialen Akteur unter anderen, freilich einen stets exzentrischen, beobachtet. So steht Rousseaus Verhältnis zu der Comtesse im Zeichen eines Gegensatzes von Person und Stand, von Individualität und Rolle, ein Gegensatz, der in der Interaktion immer wieder aufs Neue bestätigt wird, wo doch die Möglichkeit bestünde, nur das sentiment sprechen zu lassen. Aber da die Bedingungen der Interaktion von der Gräfin bestimmt werden, kann Rousseau sich nicht in dem zur Geltung bringen, was seine individuelle Identität ausmacht: Elle me jugea moins sur ce que j'etois que sur ce qu'elle m'avoit fait, et ä force de ne voir en moi qu'un laquais, eile m'empecha de lui paroitre autre chose. (I, 82)
Die Gräfin sieht nur die Standesdifferenz und die von ihr oktroyierte Rolle, für das Individuum Rousseau, das immer schon stumm einen Ort jenseits der subalternen Lakaienrolle reklamiert, bleibt sie blind. Anders die anderen Domestiken, an denen Rousseau nach dem Tod der Gräfin die Entfesselung materieller Interessiertheit beobachtet. Für sie stellt er deshalb eine beunruhigende Figur dar, weil sie seine Schieflage im Hinblick auf die stratifizierte Ordnung des adligen Oikos sehen und erkennen, dass er nicht „ä ma place" ist. Das Konzept des Platzes oder Ortes ist für die Episode im Hause Vercelüs deshalb von fundamentaler Bedeutung, weil es eine historische Übergangssituation bündelt: Für die
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Vertreter der Ordnung des Hauses bezieht es sich auf die Schichtung der Gesellschaft, für Rousseau auf die Individualität des Individuums (in seiner moralischsentimentalen Identität). Rousseaus Unglück liegt gerade darin, dass er in der sozialen Ordnung keinen Platz hat (bzw. die Optionen, die ihm angeboten werden, verwerfen muss), und dass seinem individualitätsgegründeten Verortungsanspruch kein sozialer Platz entspricht. In den Rollentypisierungen kann es keinen Platz für die nach dem Zerbrechen der Form unwiederholbare Individualität geben. Damit läuft seine Individualitätskarriere präzise jener Maxime zuwider, die er im Emile formuliert hatte: Assigner a chacun sa place et l'y fixer, ordoner les passions humaines selon la constitution de l'homme est tout ce que nous pouvons pour son bien-etre.20
Rousseau begehrt eine place assignee, aber die Gesellschaft ist in ihrer realen Ordnung alles andere als die gerechte Ordnung der Menschengattung. Erst von dieser wäre allenfalls eine angemessene place individuelle zu erwarten. Die faktischen Ortszuweisungen, mit denen er sich konfrontiert sieht, kann Rousseau nur zurückweisen, denn in ihnen verkörpert sich eine individualitätsblinde Rollentypik. Schon die Person des jungen Jean-Jacques ist exzentrisch gegenüber den sozialen Positionen, die ihm zugemutet werden und die er durchläuft. Immerhin vermag Rousseau seine Exzentrizität gelegentlich anzuzeigen - sichtbar wird sie allerdings nicht für das adlige Haus, sondern erst für den Leser der Confessions. Er bringt seine Differenz mit stummen Gesten auch dort zur Geltung, wo man ihm die Anerkennung der Individualität verweigert, aber lesbar wird sie erst in der Autobiographie als ihrem narrativen Monument. Nun zeigt allerdings der zweite Teil der Episode, dass die Lektion, die der junge Rousseau den anderen zum Abschluss seines Aufenthalts im Hause Vercellis erteilt, zugleich eine Lektion für ihn selbst ist. Wiederum geht es um eine Struktur von kontingent-momenthaftem Ereignis und dauerhafter Persistenz, oder: um die traumatische Komponente, die der Individualität aus dieser Struktur zuwächst, und die durchaus nicht einem Modell organisch entfalteter Biographie entspricht. Rousseaus emergente Individualität bildet sich gerade nicht in dem, was Hegel den „Stoff für die Individualisierung" nennt, „die äußerlichen Umstände, die Zeit der Geburt, die angeborenen Anlagen, Eltern, Erziehung, Umgebung, Zeitverhältnisse, der ganze Bereich relativer innerer und äußerer Zustände".21 Sie verdankt sich nicht der Traditionalität der Ordnung, sondern der Einmaligkeit einer Traumatisierung. Die Seriaütät vergleichbarer Episoden ist allerdings selbst eine Struktur des Textes. Das Ereignis, das Rousseau nun erzählt, und zu dem er im Gegensatz zum ersten Teil der Geschichte auch im Abstand von vierzig Jahren keine Distanz zu
20 Jean-Jacques Rousseau, Gßuvns completes, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond (Bibliotheque de la Pleiade), Bd. 4, Paris 1969, 303. 21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik fll), in: Ders., Werke in Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 14, Frankfurt a. M. 1970, 93-94.
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gewinnen vermag, hat für seine soziale Situation kaum Gewicht - in der pervertierten Gesellschaft gibt es ohnehin keinen richtigen, verbindlichen Platz - , aber es bewirkt, dass in Zukunft auf Rousseau das Gewicht einer Reue lastet, von der er sich nicht befreien kann, weil er sie nicht nach außen zu wenden vermag und weil ihre Kommunikation (als peinlicher Exhibitionismus) tabuisiert ist. Die Reue ist eine Form auf Dauer gestellter Selbstreferenz, die die postulierte Differenz der Natur durch die Individualität einer Selbstreferenz verdoppelt, welche ihre Struktur zwar durchaus einer institutionellen Ordnung der Selbstthematisierung verdankt, für den Erzähler Rousseau allerdings ganz aus der Kontingenz des Ereignisses erwächst. Zugleich ist sie eine Selbstreferenz, der da sie zwischen dem Ereignis und seiner Verschriftlichung in den Confessions stumm bleibt - eine Tendenz zur Steigerung innewohnt, noch am Ende seines Lebens wird Rousseau sie in der vierten Reverie thematisch machen. Es sind insbesondere zwei Aspekte der durch das Geschehen im Hause Vercelüs initiierten Selbstreferenz der Reue, die individualitätseinschlägig sind: Zum einen ist das Ereignis selbst durch Rousseaus Verhalten provoziert. Indem er immer wieder auf seine Konsequenzen zurückkommt, macht er deutlich, in welchem Maße die Reue eine Selbstverwerfung impliziert. Nichts deutet nämlich darauf hin, dass Rousseau sein Verhalten aus jenen gesellschaftlichen Depravationen ableiten möchte, denen er vorher in Genf und Turin ausgesetzt war. Zum zweiten hat die Reue als insupportable poids den Charakter einer überwältigenden Insistenz und damit die Struktur einer Heteronomie, so dass der Selbstreferenz eine Dimension der Fremdheit, der Intransparenz und der Unverfügbarkeit eingezeichnet ist. Erst mit dem späten Bericht der Confessions, dem nunmehr öffentlich-demonstrativen Geständnis, dem Appell an die Gerechtigkeit des Lesers, tritt das Ereignis aus dem sich selbst beobachtenden Binnenraum der Subjektivität heraus, die sich in dieser Beobachtung selbst fremd ist. Die Episode ist in ihrem ereignisgeschichtlichen Kern bekannt. Im Durcheinander nach dem Tod der Gräfin entwendet Rousseau ein Band, un petit ruban couleur de rose et argent dejä vieux (I, 84). Nichts könnte deutlicher seine Distanz zum jeu malin des interets caches (I, 82), welches im gräflichen Haus als einer Synekdoche des gesellschaftlichen Ganzen herrscht, zum Ausdruck bringen als der Diebstahl eines praktisch wertlosen Gegenstands. Das Band hat weder Gebrauchs- noch Tauschwert, deshalb kann es eine monumentale Zeichenfunktion annehmen, es wird zum Signifikant, der die Genese von Individualität als Einheit von moralischer Identität und kontinuierlicher Selbstreferenz artikulierbar macht. Die Codes des sozialen Verhaltens, mögen sie auf ungebremste materielle Interessiertheit oder auf die Verwerflichkeit eines Habitus zielen, greifen für die Motivanalyse offenkundig nicht. Rousseau lässt sein Verhalten aus einem intransparenten Grund des Individuums entspringen. Andererseits kollidiert sein Handeln so offensichtlich mit jedem Code der Moral, und es steht auch in so offenkundigem Widerspruch zu dem ursprünglichen anthropologischen Ausstattungsrepertoire, das Rousseau im zweiten Discours durch die beiden Pole der Selbst-
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erhaltung und des Mitleids besetzt, dass der traumatische Druck der imaginären Konsequenzen die Emergenz einer von der Reue initiierten Selbstreferenz bewirkt, welche eine vorher unverfügbare (oder schlicht nicht vorhandene) Form des Individuums beobachtet. So könnte man also sagen: Das Malum der unmoralischen Tat ermöglicht das Bonum einer kontinuierlichen (allerdings auch: zwanghaften) Selbstreferenz als Selbstbeobachtung des Individuums in seiner moralischen Identität. Wegen des Diebstahls, den zu verheimlichen er sich keinerlei Mühe gibt, zur Rede gestellt, beschuldigt Rousseau mit allen Anzeichen der Verwirrung eine junge Küchenhilfe. ,Je me trouble, je balbutie, et enfin je dis en rougissant que c'est Marion qui me l'a donne." (I, 84) Von dieser Marion war bisher nicht andeutungsweise die Rede. Aber die Nennung des Namens erlaubt es Rousseau, den Schwindel, der ihn erfasst hat, zu bannen. Mit dem Kollaps seiner Reaktionsmöglichkeiten zeigt Rousseau eine Spaltung von Individualität und Selbstreferenz an, die er mit der Beschuldigung der Marion momenthaft zum Verschwinden bringt, die aber durch die provozierten Konsequenzen erneut aufbricht und in der Struktur traumatisierter Individualität auf Dauer gestellt wird. Warum aber wird gerade die unschuldige Marion zum Gegenstand der Anklage? Die Lüge, die mit allen Zeichen kognitiver und emotionaler Desorientierung einhergeht, lässt sich schwerlich als strategisches Kalkül begreifen. Es ist vielmehr bezeichnend, dass der Kontext eine Reihe von Gegenläufigkeiten ins Spiel bringt, die es gerade erschweren, dem Verhalten eine transparente und stabile Motivlage zuzuordnen; gerade die widersprüchlichen Motive treiben die mangelnde Transparenz des Individuums für sich selbst nachhaltig hervor. So behauptet Rousseau, das Band sei ein Geschenk der Marion, lässt aber zugleich durchblicken, er selbst habe sie deshalb genannt, weil er ihr das Band schenken wollte, die inwncible honte angesichts der Beschuldigung schlägt in einen diabolischen Exhibitionismus der Selbstzurschaustellung um. Aber vielleicht lohnt es sich doch, den Implikationen von Rousseaus retrospektiven Anmerkungen nachzufragen, wenn er sagt, seine Freundschaft für Marion sei der Grund für die Denunziation gewesen. Sie ist einerseits das „premier objet qui s'offrit", aber zugleich war sie doch „presente a ma pensee". So viel ist offensichtlich: Rousseau stiehlt das Band einer „fine mouche", einer Person, die in der Rollenwelt des Hauses positioniert ist. Er beschuldigt Marion, die zugleich alle Attribute einer ursprünglichen Natürlichkeit besitzt: Sie stammt aus den Bergen der Maurienne, versorgt die Gräfin, die die adlige Küche der „fins ragouts" nicht mehr verträgt, mit der substantiellen Einfachheit von „bons bouillons", sie verteidigt sich gegen die ungerechtfertige Anklage mit der Natürlichkeit der Tränen, aber auch mit simplicite und fermete (I, 85) - gerade dass sie keiner rhetorischen Selbstinszenierung fähig ist, wird ihr in der Anklage schaden. So wird sie zur „innocence avilie". Indem Rousseau sie anklagt, rettet er sich, vernichtet aber genau jene Qualitäten, auf die er selbst Anspruch erheben möchte, die einer ungebrochenen und mit sich selbst identischen moralischen Natur. Er
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subvertiert jenen paradierenden Anspruch naturhafter Individualität, mit dem er im Haus der Gräfin aufgetreten war. Indem er das vermeintlich beliebige Objekt anklagt, denunziert er seinen eigenen Abstand zu all dem, was die Identität einer positivierten Natur ausmachen könnte. Die „innocence avilie" der Marion, deren Freundschaft in ihrer Spiegelfunktion für ihn selbst gründet, konnotiert in Wirklichkeit seinen eigenen Sündenfall, seine eigene „innocence avilie", die eine unheilbare Entzweiung hervorbringt, welche jene Instanz der Selbstreferenz zum Vorschein bringt, die Rousseau conscience nennt. Diese ist kein immer schon eingeschriebener und lösbarer Text des göttlichen Gesetzes, sondern bedarf der Konversion des von ihm selbst provozierten Sündenfalls. Für die emergente Individualität der Narration ist das Analogon der zerbrochenen moule immer schon obsolet. Sie ist Form nicht als selbstidentische Substanz, sondern als kontinuierende Selbstreferenz, die in der Selbsttraumatisierung gründet. Verlust der Selbstkontrolle, Exteriorisierung durch die Anklage der Marion, infernalischer rhetorischer Triumphalismus vor dem versammelten Oikos, Konversion durch Identitätswechsel — in der retrospektiven Dramatisierung der Confessions erhält die Episode, deren Gegenwärtigkeit Rousseau insistent unterstreicht, eine eigene theatralische Verlaufsform. Sie lebt dabei von einer charakteristischen Spannung anwesender oder abwesender Beobachter. Wovon Rousseau selbst nichts weiß, ist das weitere Schicksal des Opfers seiner Lüge, die mit ihm das Haus Vercellis (und damit ihre gesellschaftliche place) verlassen muss. Es ist allerdings gerade dieses fehlende Wissen, das die Möglichkeit einer präzisen Selbstinkulpation eröffnet, die mit dem doppelten Code arbeitet, der durch die Metaphorik des Platzes oder Ortes eingespielt wird. Er habe Marion die Möglichkeit des se bienplacer genommen. Marion geht zunächst ihres gesellschaftlichen Ortes, der für Rousseau nichts, nur Perversion der natürlichen Ordnung ist, verlustig, aber sie wird auch — als Lügnerin und Verführerin abgestempelt - für jede Öffentlichkeit ihrer naturhaften moralischen Identität beraubt, die sie anders als Rousseau nicht durch rhetorische Selbstbehauptung zur Geltung bringen kann. Wenn aber Rousseau seinem Opfer seinen Platz, und damit seine soziale wie moralische Identität, nimmt, so gibt er sich mit dem Infernalismus der Lüge die Fülle einer individuellen Identität, die nicht nur die Differenz zum gesellschaftlichen Repertoire impliziert, sondern auch in der Permanenz der Selbstbeobachtung und Selbstreferenz jene Form der Individualität hervorbringt, die sich am Ende in der singulären Selbstverschriftlichung der Confessions selbst monumentalisiert. Dabei sind zwei Aspekte von zentraler Bedeutung. a) Die Konversion impliziert die Aktivierung einer Virtualität, der conscience als einer Stimme der Natur. Diese ist nicht einfach jederzeit lesbare Inskription der Hand Gottes oder der Natur, sondern bedarf einer von außen erzwungenen Selbstspaltung. (Vielleicht könnte man sagen, dass Rousseaus Virtuosität der Individualitätsproduktion sich darin zeigt, dass er seinerseits eine externe Instanz erzwingt, welche diese Virtualität zur Geltung bringt.) Damit wird einerseits eine Identität gegen die Perversion der Gesellschaft unterstützt, andererseits eine
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geradezu zwanghafte Permanenz der Selbstreferenz instituiert. Ein monolithischer Blick der Gesellschaft hat die Lüge, die in der affektzentrierten Interaktion der Intimität sofort zusammengebrochen wäre, provoziert und stabilisiert. Die Singularität des Vergehens und seiner traumatischen Konsequenzen immunisiert auf Dauer gegen seine Wiederholung, in der Imagination speist es sich aus der Doppelcodierung des geraubten und behaupteten Platzes. Die Scham, die Rousseau erfasst, ist das Produkt eines vom Blick der Gesellschaft erzeugten amourpropre, die presence de tout le monde löst einen trouble universel aus, den Rousseau sowohl als unvermeidlich wie als massiven Selbstverlust erfährt. Er muss erst zu sich selbst kommen, revenir ä moi-meme, um in der Nachträglichkeit des Gewissens triumphieren zu können, aber nur um den Preis einer neuerlichen Selbstspaltung. An die Stelle der Entzweiung durch die Heteronomie des gesellschaftlich erzeugten amour-propre tritt die nicht mehr stillzustellende Selbstreferenz der Reue und des Gewissens. Eine solche Struktur aber macht die Berufung auf seine essentiell guten Intentionen zu einer nostalgischen Beschwörung. „Toute la moraüte de la vie humaine est dans l'intention de l'homme" heißt es etwa am Anfang der fünften Lettre morale (IV, 1106). Auch in den Confessions verweist er auf die Unschuld seiner dispositions interieures (I, 86). Aber die Episode des gestohlenen Bandes demonstriert gerade, wie weit sich Rousseau von einem Tugendbegriff, der auf Natur oder einen traditionellen und eingespielten Habitus setzt, entfernt hat. Das Gewissen ist nicht lumiere naturelle oder instinct, sondern Emergenz unter den Bedingungen gesellschaftlicher Ortlosigkeit der Individualität. b) Am Ursprung des autobiographischen Textes steht die Reue über das Vergehen, das ist vielleicht die grundsätzlichste Korrektur, welche die Confessions gegen Montaigne ins Spiel bringen, der die durch seine Essais inszenierte Selbstverschriftlichung explizit gegen die Selbstspaltung der Reue ausrichtet und damit der von ihm initiierten Tradition eine spezifische Linie vorgibt. Und ebenso steht bei Rousseau am Ende des Textes das Ende der Reue. Es ist gerade die Ungesagtheit des aveu, die die Fortdauer des remords angesichts der Lüge und des geraubten Platzes garantiert. Einmal in der Schrift exteriorisiert, wird das Ich für andere Formen der Selbstreferenz zugänglich. Die Reveries tragen dieser Situation Rechnung. Für die Confessions aber wird die Selbstspaltung zum auslösenden Moment. Der entscheidende Sprung von den Memoiren zu den Confessions verdankt sich in Rousseaus Perspektive gerade dem Ausfall einer primären Exteriorisierungsform in der Stimme, womit der Aufschub und die substitutive Schriftlichkeit der Confessions erzwungen wird: „[···] je puis dire que le desir de m'en delivrer en quelque sorte a beaucoup contribue ä la resolution que j'ai prise d'ecrire mes confessions." (I, 86)
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III. Anthropologie der Individualität Rousseaus Selbstverortung in der Geschichte des Individualitätsdiskurses ist offenkundig von zwei Voraussetzungen geprägt. Zum einen teilt er mit der theologisch-metaphysischen Tradition die Auffassung, dass Individualität Substanzcharakter besitzt. Allerdings ist bei ihm Individualität nicht mehr eine unteilbare rationale Substanz göttlichen Ursprungs, sondern sie wird in einem Naturkonzept verankert. Die wesentlichen Attribute dieses Individualitätskonzepts sind nicht mehr Identität und Unteilbarkeit, sondern Differenz und gestalthafte Form. Andererseits ist diese historisch-konzeptuelle Semantik des Individualitätskonzepts immer schon überlagert (und auch irritiert) von einer theologischen und literarischen Tradition, die den Grund der Individualität in die Unverfügbarkeit entzieht. Der kanonische Text dieser Tradition sind natürlich die Confessiones des Augustinus, die Rousseau mit seinem Titel explizit ins Spiel bringt. Die negative Anthropologie des 17. Jahrhunderts, die einer jansenistisch geprägten Moralistdk, hat diese Thematik an einem neuralgischen Punkt wieder aufgenommen, indem sie die durchkreuzte Selbstreferenz an einer Struktur des sich selbst entzogenen amour-propre festgemacht hat.22 Rousseau unternimmt in seinem zweiten Discours den Versuch, diese Struktur der Selbstentzogenheit durch die Unterscheidung von amour de soi und amour-propre, von ursprünglicher und abgeleiteter Selbstliebe zu entschärfen. Die Positivierung der Selbstreferenz des sentir (und seine implizite Opposition zur Struktur des connattre) in den Confessions greift diese Unterscheidung auf. Wenig deutet allerdings in der säkularen Geschichte des Individualitätsbegriffs auf seine Konjunktur, ja Entfesselung seit dem 18. Jahrhundert hin. Bis zu dem Zeitpunkt ist der Begriff wesentlich ein terminus technicus, der sich aus spezifischen Fragestellungen der Philosophie (und der Theologie) entfaltet. Die traditionelle philosophische Rede über das Individuum meint zunächst nichts anderes als ein unteilbares Einzelding, ein „echantillon indivisible a l'interieur d'une espece", 23 eine „einfache, unteilbare Einheit",24 und sie ist damit zunächst keineswegs auf den Menschen und seine Natur beschränkt. Die klassische Begriffsbestimmung der Scholastik, die man Thomas von Aquin verdankt, hält diesen Sachverhalt mit lakonischer Prägnanz fest: „Individuum [...] est, quod in se indistinctum, ab aliis vero distinctum" (Summa theol. I. 29,4c).25 Es ist deshalb 22 Vgl. dazu Karlheinz Stierle, Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologe und funktionaler Stil, in: Französische Klassik, hg. v. Fritz Nies u. Karlheinz Stierle, München 1985, 82-128. 23 Paul Ricceur, Soi-meme comme un autre, Paris 1990, 39. 24 Niklas Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in: Ders., Gesellschaßsstruktur und Semantik, Studien %ur Wissenssovjokge der modernen Gesellschtfi, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1989,176, vgl. auch 175: „Bis weit ins 18. Jahrhundert herrscht das wortgeschichtlich ursprüngliche Verständnis von .Individuum' vor, das den Menschen vor anderen Individuen nicht besonders auszeichnet, vielmehr seine Individualität auf Natur zurückfuhrt. Die Person ist nur ein Sonderfall: die Individualisierung der rationalen Substanz. Jedes Individuum ist etwas Unteilbares." 25 Thomas von Aquin, Summa theologiea, hg. v. Heinrich Maria Christman O.P. (Die deutsche Thomas-Ausgabe), Bd. 3, Salzburg, Leipzig 1939, 58.
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unmittelbar einsichtig, dass der mittelalterliche Gebrauch des Begriffs zwischen einer sprachlich-logischen und einer ontologisch-metaphysischen Bestimmung changiert. Die Individualität des Individuums wirft also zunächst einmal das Problem seiner Identifizierbarkeit auf und damit die Frage der zur Verfugung stehenden spezifischen sprachlichen Mittel, seien es Beschreibungen, Eigennamen, Personalpronomina, Deiktika. Im Hinblick auf die Identifizierbarkeit des Individuums in Raum und Zeit stellt sich das Problem der .Reidentifikation',26 die Frage nämlich, wie unter Bedingungen unterschiedlicher Orte im Raum bzw. zeitlicher Veränderungen die Rekurrenz des Individuums als ,Selbigkeit' identifiziert werden kann. Hinter all dem steht die Kardinalfrage nach der Instanz der Identifikation. Alles ,Wie' der Identifikation und Beschreibung verweist auf die Frage des ,Wer*. Die neuere sprachanalytische Diskussion des Problems der individuals hat diesen Sachverhalt in den Vordergrund gerückt, aber seine Problematik hatte sich schon lange vorher aufgedrängt. Zunächst sieht es ja durchaus so aus, als seien die Identifikation des Individuums und die Beschreibung seiner Individualität durch die Instanz eines externen Beobachters sicherzustellen. Das ist zumindest die fraglose Perspektive der mittelalterlichen Philosophie. Sie rechnet allerdings kaum mit den Äußerungsfähigkeiten von Individuen mit hoher Eigenkomplexität. Dabei ist evident, dass sprachfähige Individuen die Fähigkeiten zur Selbstbezeichnung und zur Selbstbeschreibung besitzen und dass das Sprachsystem dafür spezifische Ressourcen zur Verfügung stellt. Die Vermutung liegt nahe, dass die Frage der perspektivischen Beobachtung der Individualität des Individuums in dem Maße virulent wird, wie Fremdbeschreibung und Selbstbeschreibung auseinandertreiben und damit in Konkurrenz zueinander geraten. Es liegt auf der Hand, dass dafür auch Gründe geltend zu machen sind, die sich nicht einer immanenten Entfaltung des Individualitätsdiskurses verdanken. Das wird auch an den Konsequenzen deutlich: Die Individualität ist unter den Prämissen der angedeuteten Perspektivenkonkurrenz kein logisch-ontologisches Problem mehr, sondern ein politisches, auch ein soziales, moralisches und nicht zuletzt ästhetisches. Der von Niklas Luhmann rekonstruierte Übergang von der alteuropäischen Inklusionsindividualität, die das Individuum im Kontext einer stratifikatorischen Gesellschaftsordnung beschreibt, zu einer Exklusionsindividualität, für die das Individuum zur Umwelt des einer funktionalen Differenzierung unterliegenden Gesellschaftssystems wird, beschreibt die semantischen Korrelate eines gesellschaftsstrukturellen Umbruchs, die gleichfalls zunehmend eine Divergenz, ja gelegentlich Inkommensurabilität von Fremd- und Selbstbeschreibungen, Fremdund Selbstzuschreibungen zur Geltung bringen.27 Vgl. dazu Peter-Frederick Strawson, Individuais, London 1960. Alexis de Tocqueville, CEums, hg. v. Andre Jardin u. a. (Bibliotheque de la Pleiade), Bd. 2, Paris 1992, v.a. 612ff., ζ. B. 612: „L'individnalisme est une expression recente qu'une idee nouvelle a fait naltre. Nos peres ne connaissaient que l'egoi'sme [...] L'individualisme est d'origine democratique, et il menace de se developper ä mesure que les conditions s'egalisent" Vgl. dazu Jean-Claude Lamberti, La Notioa d'individttalisme cheζ Tocqueville, Paris 1970. 26 27
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Die Tatsache, dass der Begriff des Individualismus, des individualisme, um 1825 zum ersten Mal im Umkreis des Saint-Simonismus auftaucht, dass er sich im wesentlichen Motiven der Gegenrevolution verdankt, und dass er auf die gens de lettres der Aufklärung, vor allem auf Autoren wie Rousseau und Diderot gemünzt ist, bringt einen epochalen Fokus prägnant zur Geltung. Individualisme benennt für die Gegenaufklärung die Exponenten einer partikularisierenden und atomisierenden epoque critique im Gegensatz zu den holistischen epoques organiques, die nach dem Verständnis der Gegenrevolution allein gesellschaftliche Ordnung zu garantieren vermögen. Aus der Erfahrung der revolutionären Erschütterung heraus greifen Gegenaufklärer wie der Vicomte de Bonald und Joseph de Maistre eine Selbststilisierung der Autoren der Aufklärung auf und verleihen damit ihrer polemisch affichierten Differenz die Anerkennung einer epochalen Signatur. Es blieb allerdings Alexis de Tocqueville vorbehalten, in seiner Democratic en Amerique das Konzept des Individualismus für die Struktur der modernen Demokratie insgesamt in Anschlag zu bringen. Vermutlich die prägnanteste Formulierung eines Individualitätsbegriffs, der die Vorgaben der traditionellen Metaphysik nicht zur Disposition stellen will, aber in ihrer Verteidigung zu neuen, letztlich aporetischen Differenzierungen gezwungen ist, findet sich in Gottfried Wilhelm Leibniz' dialogischen Nouveaux Essais sur l'entendement humain von 1704. Rousseau hat mehrfach seine zustimmende Leibniz-Lektüre dokumentiert.28 „Das Grundprinzip des Leibniz ist das Individuelle", so wird später Hegel resümieren.29 Auch wenn man sagen kann, dass Leibniz' Monadologie insgesamt eine Philosophie der Individualität darstellt, so nehmen doch die Essais insofern eine Sonderstellung ein, als sie auf eine epochale Herausforderung reagieren, die jeden substanzgegründeten Individualitätsbegriff ablehnt, den Empirismus nämlich, genauerhin John Lockes Essay Concerning Human Understanding von 1693. Leibniz behandelt die Individualitätsthematik explizit im 27. Kapitel der Nouveaux Essais: „Ce que c'est qu'identite ou diversite". Philalethes ruft dort die empiristische Fassung des Individuationsprinzips, das jede Substantialität der Individualität verabschiedet, in Erinnerung. Individualität bestehe für den Empirismus „dans l'existence meme, qui fixe chaque Estre ä un temps particulier et a un lieu incommunicable a deux Estres de la meme espece".30 Das Prinzip der Individuation bedeutet in empiristischer Per28 Rousseau berichtet von seiner Leibnizlektüre im sechsten Buch der Confessions, während seiner Zeit mit Mme de Warens auf den Charmettes. Leibniz steht dort in einer Reihe mit Port-Royal, Locke, Malebranche, Descartes. In Le verger de madame de Warens heißt es: „Dans ce verger charmant, j'en partage l'espace,/ Sous un ombrage frais, tantöt je me delasse,/ Tantöt avec Leibnitz, Mallebranche, et Newton/ Je monte ma raison sur un sublime ton,/ J'examine les Loix des corps et des pensees [...]." J.-J. Rousseau, CEums completes, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond (Bibliotheque de la Pleiade), Bd. 2, Paris 1964,1128. 29 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: Ders., Werke in %van%igBänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 20, Frankfurt a. M. 1971, 233. 30 Seitenangaben verweisen auf die Ausgabe: Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, in: Ders., Philosophische Schriften. Frz. und dt, hg. und übers, von Wolf v. Engelhardt u. Hans Heinz Holz, Bd. 3.1, Frankfurt a. M. 1996, 392. — Zitate nach dieser Ausgabe im Folgenden mit Seitenangabe im Text.
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spektive also nichts anderes als die raumzeitliche Positionierung und Sonderung des Einzeldings. Leibniz' Sprachrohr, Theophilus, meldet bereits im Hinblick auf die Materie wie auch die Monade Korrekturbedarf an, einschlägig ist aber insbesondere, was er über die Individualität des Menschen, d. h. des mit einer Seele und dem dazu gehörigen Bewusstsein ausgestatteten Lebewesens zu sagen hat: [...] quant aux Estres substantiels, quae uno spiritu continentur [...] c'est ä dire qu'un certain esprit invisible anime, on a raison de dire qu'elles demeurent parfaitement le meme individu par cette ame ou cet esprit, qui fait le moy dans Celles qui pensent (396).
Die Identität der Individualität als Substanz entsteht nur über die „conservation de la meme ame" (398), denn der der Seele verbundene Körper ist in ständiger Veränderung begriffen. Und diese Feststellung gilt für Theophilus auch dann noch, wenn das Individuum als Träger der Individualität von seiner zugleich rationalen wie individualisierten seelischen Substanz keinen rechten Gebrauch macht oder auch machen kann, weil es beispielsweise — Leibniz' Beispiel — stumpfsinnig wie ein Orang-Utan wird, denn die substantielle Identität der ame raisonnable lässt sich nicht nach den apparences beurteilen, sie bleibt vielmehr auch dort erhalten, wo die Ausübung des vernünftigen Vermögens suspendiert ist. Warum aber ist — gegen die Lockesche Identifikation von personal identity mit Bewusstsein - ein substanzgegründeter Begriff der Individualität des Individuums überhaupt unverzichtbar? Drei Aspekte der Leibnizschen Überlegungen sind auch in einer weiteren historischen Perspektive relevant: 1) ein Ökonomieprinzip im Hinblick auf den Charakter der von Gott instituierten Ordnung, ein Theodizeeargument also: Weil Gottes Ordnung vollkommen und ohne jede Nachlässigkeit sei, muss angenommen werden, dass die rationalen Seelen „ne sont pas indifferentes ä l'egard de quelque portion de matiere que ce soit" (416). Der Unterscheidung der körperlichen Substanz müssen also Unterscheidungen im Hinblick auf die Individuation der rationalen Seele entsprechen.31 2) Das Bewusstsein ist bewusste Selbstwahrnehmung, apperception. Daneben gibt es aber, und in unüberschaubarer Vielfalt, perceptions insensibles, unbewusste aber potentiell bewusstseinsfähige Wahrnehmungen. Diese haben immer statt, vor allem aber im Schlaf und in Situationen der Erschütterung des Bewusstseins.32 Die unbewussten Wahrnehmungen oder konfusen Empfindungen garantieren aber im Prinzip die temporale Selbstvermitdung der Individualität. Da es indes in der göttlich garantierten Ordnung nichts Unnützes gibt, können die unbewussten Wahrnehmungen
31 Oder, wie es bereits vorher hieß: „Les ames humaines different non seulement des autres ames, mais encor entr'elles, quoyque la difference ne soit point de la nature de Celles qu'on appelle specifiques" (100). 32 Vgl. 106: ,Je dis bien plus: il reste quelque chose de toutes nos pensees passees et aucune n'en sauroit jamais estre effacee entierement. Or quand nous dormons sans songe et quand nous sommes etourdis par quelque coup, cheute, Symptome ou autre accident, il s'en forme en nous une infinite de petits sentimens confus [...]."
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eines Tages ins Bewusstsein gehoben werden. Dort verhindern sie dann den „divorce entre l'apperceptible et la verite" (420). 3) Die eingeborenen Wahrheiten, die Leibniz gegen die empiristische Figur des Bewusstseins als ursprünglicher tabula rasa verteidigt, haben nicht nur den meist betonten Bezug auf die nichtempirischen, .analytischen' Wahrheiten, sie sind vielmehr überaus einschlägig für das Thema der moralischen Identität. Die Lehre von den idees innees veranlasst Leibniz nämlich zu einer bemerkenswerten Verklammerung von Individualität und Moral, bei der das moralische Bewusstsein sich aus zwei Quellen, der rationalen Einsicht und dem Trieb, der lumiere naturelle und dem instinct, speist. Ein solcher Dualismus ist offenkundig nicht unproblematisch und er prägt die Ambivalenzen des Gewissensbegriffs im 18. Jahrhundert, gerade wenn er sich gegen die empiristische Aushöhlung seiner Substantialität versichern möchte. In seiner Polemik gegen den Empirismus greift Leibniz immer wieder auf eine Analogie zurück, die er der Bildhauerkunst endehnt. Sie ist individualitätstheoretisch offenbar die naheliegendste Verbildlichung. Wenn die Seele tatsächlich der empiristischen tabula rasa entspräche, so Leibniz, wenn alles, was in sie eingeschrieben ist, aus der Erfahrung käme,33 dann gliche sie einem Marmorblock, der vollkommen indifferent gegenüber der Gestalt wäre, die der Bildhauer aus ihm formt.34 Leibniz appelliert hingegen an die Vorstellung, dass die dem Marmor inhärenten Gesteinsadern und Linien bereits eine bestimmte Figur vorgeben oder vorzeichnen, so dass damit eine Analogie zu den eingeborenen Ideen nahe läge, etwa wenn in einem Marmorblock „Hercule y seroit inne en quelque fa£on, quoyqu'il faudroit du travail pour decouvrir ces veines" (XVI). Die Statue, die der Künstler hervorbringt, entsteht mithin aus dem Widerspiel von natürlicher Struktur und Formgebung. Analog dazu formuliert Leibniz eine Fassung des Individuationsprinzips, das er auf virtualites naturelles gründet, das heißt auf ein Ensemble von Neigungen und Dispositionen, die allerdings weder in der Beobachtung noch in Handlungen sich verkörpern müssen. Wie und wo sind sie dann überhaupt zugänglich? Leibniz' Antwort bemüht wiederum das Konzept der unbewussten, aber prinzipiell bewusstseinsfähigen Wahrnehmungen und Handlungen. Nun ist diese Vorstellung individualitätstheoretisch allerdings durch eine erhebliche Zweideutigkeit belastet. Die gemeinten Handlungen und Wahrnehmungen sind nicht nur unbewusst, sie verlangen darüber hinaus eine Unterscheidung, deren faktische Vollziehbarkeit selbst in Frage steht. Virtuell ist bei Leibniz nicht nur das Eingeborene, sondern auch das Erworbene. Nicht nur die Virtualität der Natur äußert sich in Modi des Unmerklichen, sondern ebenso die erworbenen Dispositionen, die habitudes acquises (XVIII). Auch diese bleiben unbemerkt und
33 Dagegen formuliert Leibniz unter Berufung auf Piaton und Romerbrief 2,\5: „[...] l'ame contient originairement les principes de plusieurs notions et doctrines que les objets externes reveillent seulement dans les occasions" (VIII). 34 XVI: „tout ä fait indifferent ä recevoir ou cette figure ou quelque autre".
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stehen dem Zugriff nicht zur Verfugung. So entzieht sich die postulierte Individualität in doppelter Hinsicht in die Unzugänglichkeit. Leibniz' Individualitätskonzeption gerät damit in einen unlösbaren Zwiespalt. Einerseits sind Individuen nicht nur numerisch oder durch ihre Erfahrungsgeschichte verschieden. Die Hand des Schöpfers selbst hat ihre ursprüngliche Verschiedenheit hervorgebracht.35 Aber die Wahrnehmung dieser Differenz verlangt selbst einen überlegenen externen Beobachter, letztlich den Blick Gottes. Weil das, was die (göttlichen, natürlichen) Inschriften der Prinzipien (Gesetze, Wahrheiten, Ideen) ausmacht, den Charakter der Allgemeinheit und Universalität trägt, muss das Individuationsprinzip in die Virtualität verlegt werden. Deren Beobachtbarkeit wird aber dadurch prekär, dass die (ohnehin nicht unmittelbar zugängliche) Virtualität der Natur im Laufe einer Biographie durch die Kontingenz der Erfahrung überschrieben wird. Wenn das Individuum durch die perceptions insensibles sowohl konstituiert als auch markiert ist, dann hat Individualität den Charakter eines Palimpsests, dessen (Text-)Schichtungen für den immanenten Beobachter nicht unterscheidbar sind. Für alle praktischen Zwecke der Lebenswelt ist das Individuum daher in seiner Individualität sich selbst entzogen. Als Individualität in den Händen des Schöpfers geformt, besitzt das Individuum doch zugleich eine eigene Lebensgeschichte, in der sich die unbewussten Wahrnehmungen gewissermaßen auftürmen, denn die Seele denkt bekanntlich immer, auch im Schlaf und in Phasen des Bewusstseinsverlusts. Was aber denkt die Seele beispielsweise in einer Situation des Ubergangs von der Bewusstlosigkeit zum Bewusstsein? Die Literatur seit dem 18. Jahrhundert wird sich solchen transitorischen Zuständen als potentiellen Indizien des Individuellen zuwenden, sie durchläuft gewissermaßen die von Leibniz artikulierte Problematik. Keine Gattung vermochte mit dem Roman in der Darstellung von Bewusstseinskrisen zu rivalisieren. Er wird zum Ort der Individualitäten und Individualismen. Natürlich gibt es, so Leibniz' Postulat, eingeborene Prinzipien, die durch ihren Schriftcharakter sowohl Allgemeinheit als auch Zugänglichkeit beanspruchen können. Der Ort ihres Erscheinens ist die lumiere naturelle. Allerdings stellt sich sofort der Verdacht ein, kulturelle Selbstverständlichkeiten könnten im Schein der Natürlichkeit auftreten. John Locke hatte bereits energische Warnungen im Hinblick auf den Geltungsanspruch kulturrelativer Konzepte von Tugend und Laster formuliert,36 und die Aufklärung wird ihm darin weitgehend folgen. Auch Leibniz sieht, dass der Blick auf andere Kulturen nahe legt, der lumiere naturelle nicht übermäßig viel an spontaner Selbstaktivierung zuzutrauen. Die moralische
35 Vgl. XXXf.: „deux ames humaines ou autrement d'une meme espece ne sottent jamais parfaitement semblables des mains du Createur". 34 „"Virtue" and Vice' are names pretended and supposed everywhere to stand for actions in their own right or wrong [...] But yet, whatever is pretended, this is visible, that these names, Virtue' and Vice', in the particular instances of their application, through the several nations and societies of men in the world, are constantly attributed only to such actions as in each country and society are in reputation or discredit [...]." John Locke, An Essay concerning human understanding (II, XXVIII,10, 4— 12), hg. v. Peter Nidditch, Oxford 1979, 353.
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Maxime, man solle tristesse vermeiden und joye suchen, ist eben keine Wahrheit, die die Vernunft als Schrift kraft ihres lumen naturale erkennt, sie beruht allenfalls auf diffuser Selbstreferenz. Leibniz hat für den Erscheinungsmodus der Moral den Begriff des Instinkts.37 Dessen konfuse Gegebenheitsweise eröffnet nun allerdings tatsächlich trübe Aussichten. Auch die Maximen der Moral sind eingeschriebene oder eingravierte Wahrheiten, aber sie entziehen sich dem kanonischen Erkenntnismedium des lumen naturale?* Leibniz fuhrt die moralischen Instinkte ein, weil das moralische Wissen wichtiger sei als das theoretische39. Aber gerade diese vermeintliche Zuverlässigkeitssteigerung des Handelns pflegt häufig nicht zu funktionieren: „on y resiste par des passions, on les obscurcit par des prejuges et on les altere par des coutumes contraires" (58). Die moralischen Instinkte sind naturgegeben, sie sind eingeschrieben durch den Finger Gottes, aber gleichwohl wird ihre ordnungsstiftende Funktion durch die Macht der Vorurteile permanent gefährdet. Der Leibnizsche Instinkt ist die paradoxe Figur einer Verstärkung, die sich als Schwäche manifestiert. Als Verlässlichkeitssicherung des lumen naturale konzipiert, wird er von konkurrierenden (natürlichen oder sozialen) Antrieben überschattet. Denn sowohl der Körper und seine Bedürfnisse (besoins du corps) als auch die Verzerrungen des Sozialen {mauvaises coustumes) fungieren als ständige Bedrohungen, sei es, dass sie als Überschreibung der Schrift, sei es, dass sie als Übertönung der Stimme fungieren. Die Leibnizsche Philosophie der Individualität hat für Rousseaus narrative Artikulation von Individualität die Funktion einer Selbstvergewisserung von Innovation durch Rekurs auf Konzepte der metaphysischen Tradition. Das zielt zum einen gegen die empiristische Desubstantialisierung der Individualität. Vor allem aber ist es die Selbstentzogenheit der Individualität, gegen die Rousseau provokativ anschreibt, und die er in unübersehbarer Explizität von Anfang an ins Spiel bringt. Sowohl das Konzept der Individualität als naturhafte Gestalt, die aus dem zerbrochenen moule hervortritt, wie auch die narrative Modellierung ereignishafter Prägung unterstreichen die Transparenz und Kontinuität der Selbstreferenz des Individuums. Dass Rousseau die Confessions in einen augustinischen Horizont stellt, um ihn polemisch zu distanzieren, hat zweifellos damit zu tun, dass der im Kontext der augustinisch-jansenistischen Moralistik des 17. Jahrhunderts ausgebildete Traditionsstrang einer negativen Anthropologie die Selbstvergewisserung der Individualität als Form und Differenz prinzipiell in Frage gestellt hatte. Er ist ein augustinisches Rezidiv unter den Bedingungen der höfischen Gesellschaft. Jede Selbstreferenz steht in ihr unter Illusionsverdacht,
37 „[...] eile (die moralische Maxime) n'est pas connue par la raison, mais pour ainsi dire par un instinct. C'est un principe inne, mais il ne fait point partie de la lumiere naturelle, car on ne le connoit point d'une maniere lumineuse." (50) 38 Allerdings gibt es auch moralische Wahrheiten, die auf beiden Kanälen, „par lumiere et par instinct", manifest werden. Wir vollbringen menschenfreundliche Taten erstens, weil sie uns Vergnügen bereiten, zweitens aber auch, weil wir erkennen, dass sie gerecht sind. 39 Vgl. „Dieu a donne a l'homme des instincts qui portent d'abord et sans raisonnement ä quelque chose de ce que la raison ordonne." (58)
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ist nichts anderes als affektiv verzerrte Selbststeigerung. So sind La Rochefoucaulds Maximen immer wieder gegen den Anspruch einer Selbstvergewisserung von Individualität als Form und Differenz gerichtet. Sie dementieren sowohl die Form als Grenze wie die Transparenz der Selbstbeobachtung. Chaque homme n'est pas plus different des autres hommes qu'il Test souvent de lui-meme. (Max. 99, Ms. Liancourt)40 La coutume que nous avons de nous deguiser aux autres pour acquerir leur estime fait qu'enfin nous nous deguisons ä nous-memes. (Max. 101, Ms. Liancourt)41
Die Differenz liegt nicht nur zwischen den Individuen, sondern im Individuum selbst. Die Selbstreferenz bleibt bezogen auf den fremden Blick und wird zur Selbsttransformation im Blick auf die Instanz der anderen. Selbstreferenz wird damit zum Antrieb der Dissimulation im Interesse sozialer Konformität. La Rochefoucaulds Maximen untergraben den Individualitätsbegriff von Form und Differenz wie die Unterscheidbarkeit von Natur und Habitus. Das zeigt sich unübersehbar an dem zentralen Konzept der Selbstliebe, des amour-propre, das zum Auslöser von Rousseaus Auseinandersetzung mit der negativen Anthropologie der Moralistik im zweiten Discours wird. Amour-propre ist für La Rochefoucauld eine Struktur des Begehrens, die Selbstreferenz und Selbststeigerung verklammert, dabei aber gerade nicht auf ein Konzept der Individualität setzt. Der amour-propre sabotiert naturhafte Individualität, weil er auf soziale Inklusion und Distinktion zielt. Er ist für La Rochefoucauld zwar ein unhintergehbares Merkmal der menschlichen Natur, aber zugleich das am wenigsten greifbare. Es ist daher kein Zufall, dass La Rochefoucaulds große maxime supprimee über den amour-propre (Max. 94, Ms. Liancourt)42 in einer unverkennbar barocken Attitüde der Metamorphose in Bilder extremer Entdifferenzierung und Gestaldosigkeit ihres Gegenstands getrieben wird: als eine „grande et longue agitation" ist die Selbstliebe allenfalls dem Meer und der „violence de ses vagues continuelles" vergleichbar. Sie ist Dynamik ohne Form, Kontinuität des Selbstentzugs und nicht Gestalt gesteigerter Interessiertheit. Was die Maxime anfangs als Prinzip der Selbstliebe und der Selbstvergottung präsentiert, schlägt im Fortgang des Textes in eine Unzugänglichkeit um, die nicht nur den fremden Beobachter, sondern das Individuum als seinen Träger betrifft: der amour-propre ist auch „invisible ä lui-meme". Er ist ein nach außen, in den Raum des Sozialen dirigiertes Prinzip des Verhaltens, deshalb sieht er auch „parfaitement ce qui est hors de lui", aber er sieht sich nicht selbst, eine „obscurite epaisse" verbirgt ihn vor sich selbst, er bleibt der blinde Fleck des sich selbst beobachtenden Individuums.
40 Francis de La Rochefoucauld, Manuscrit de Liamourt, in: La Rochefoucauld, Maximes, hg. v. Jacques Truchet, Paris 1967, 420. 41 Ebd. 42 Ebd., 417-420.
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La Rochefoucauld unterstreicht die Individualitätsirrelevanz des amour-propre nicht nur im Blick auf die Ununterscheidbarkeit von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt, sondern vor allem durch die im amour-propre sich ereignende Interiorisierung des Prinzips der Fortuna als der klassischen Verkörperung von Formlosigkeit, Inkonstanz und mangelnder Selbstidentität: il est naturellement inconstant des toutes manieres; il est inconstant d'inconstance, de legerete, d'amour, de nouveaute, de lassitude et de degout.43
Die Tradition hatte in der Fortuna stets ein Prinzip ausgemacht, welches das Äußerste an Heteronomie, an Nichteigenem verkörperte. Unablässig hat die sich als Selbstkultur verstehende philosophische Tradition spätestens seit der Stoa in der Unterscheidung einer Substanz des Eigenen von der fremden Zudringlichkeit der Fortuna ein Prinzip der Grenze gesetzt. Ausgrenzung der Fortuna heißt Ermöglichung von Selbstidentität auf dem Grund einer transindividuellen Substanz. Bannung der Fortuna ermöglicht Individualität als Form, nicht als Differenz, vor dem Hintergrund einer substantiellen Identität der Vernunft. Mit der am Leitfaden des amour-propre vollzogenen Interiorisierung des heteronomen Äußeren treibt La Rochefoucauld die paradoxe Deindividualisierung des Individuums ins Äußerste. Indem er den amour-propre in der Gestaldosigkeit der Fortuna als eine Dynamik des Begehrens in das Individuum selbst hineinzieht, ruiniert er die Grenze von Selbst- und Fremdreferenz und tilgt zugleich die Formkonnotationen der Individualität.
IV. Gelöschte Individualität Rousseau präsentiert sein letztes, zwischen 1776 und seinem Tod geschriebenes und unvollendet hinterlassenes Werk, die Reveries du promeneur solitaire, als eine Art Fortsetzung der Confessions, allerdings unter veränderten Bedingungen, die sich auch dezidiert in der Darstellung niederschlagen. In den Reveries will er das examen severe et sincere44 fortsetzen, das er mit den Confessions begonnen hatte. Die mangelnde Abgeschlossenheit der Confessions verfolgt Rousseau offenbar als unzureichende Repräsentation der Differenz und Gestalthaftigkeit der Individualität. Der Einsatz der Reveries dokumentiert diese inkonklusive Situation: Einerseits sind die Reveries fur Rousseau eine Art Anhang (appendice) der Confessions, also deren Fortschreibung für die von ihnen nicht berichtete Zeit, andererseits verdienen sie kaum mehr den Namen .Bekenntnisse', weil der Autor im Grunde nichts mehr zu gestehen habe, „ne sentant plus rien ä dire qui puisse le meriter" (1,1000). Nichts mehr zu sagen zu haben heißt, dass die Zeit der Veränderungen und Selbstveränderungen, die Struktur von Ereignis und geprägter Form, am «Ebd., 419. 44 Jean-Jacques Rousseau, Les BJveries du promeneur solitaire, in: Deis., CEums completes, hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond (Bibliotheque de la Pleiade), Bd. 1, Paris 1959,1000.
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Ende ist. So schreibt Rousseau aus einer Situation der Endastung vom Druck der Welt, die zugleich eine Situation der Leere ist. Damit aber erscheint die Individualität des Individuums in einem neuen Licht. Die rhetorische Hyperbolik, in der Rousseau am Anfang der Reveries seine aktuelle Situation evoziert, ist kaum weniger spektakulär als die zu Beginn der Confessions formulierte Gleichrangigkeit von Selbsterkenntnis und göttlichem Wissen. Aber die Achse der Opposition bezieht sich nun auf den Gegensatz von Ich und Anderen, Individuum und Gesellschaft: „Me voici done seul sur la terre, n'ayant plus de frere, de prochain, d'ami, de societe que moi-meme." (I, 995) Gesellschaft wird in dieser Oppositionsfigur zur Abwesenheit, und zwar nicht nur im Hinblick auf ihr Rollenrepertoire, sondern auch als Ort der Interaktion, der Nähe und Differenz. Nicht umsonst zitiert Rousseau die klassischen Interaktionsfiguren der Individualität: den Bruder, den Nächsten, den Freund. Die Situation des promeneur solitaire ist also sowohl die der Vereinzelung (im Blick auf das gesellschaftliche Rollengeflecht) als auch die der Einsamkeit (im Blick auf die Reziprozität der Interaktion von Individualität). Damit muss sich nun allerdings die Funktion des Schreibens und des eigenen Textes verschieben. Der Nexus von Hervorbringung des Textes und Selbstaffektion durch das Geschriebene — der bereits in den Confessions thematisch wurde — intensiviert sich, denn nicht nur die Zeit der narrativ zu vergegenwärtigenden Selbstkonstitutionen und Selbstveränderungen ist zu Ende gekommen, es fehlt überhaupt jede Instanz des Publikums. Nun gibt es nichts mehr zu enthüllen, das Monument des Charakters steht, auch wenn ihm die definitive Selbstabschließung abgeht. Rousseaus literarisches Modell sind deshalb auch nicht mehr die augustinischen Confessiones, sondern die entlasteten Formen der Selbstbesprechung und Selbstverschriftlichung, die Montaignes Essais fur ihn darstellen. Wie bei Montaigne ist die Formlosigkeit Zeichen einer Diskontinuität, die sich im Text mimetisch abbildet. Der Initialzustand des Textes sind verstreute Notizen, die Rousseau bei seinen Spaziergängen auf Spielkarten kritzelte. Ihre Fortschreibung in der Form der reverie dient aber pragmatisch gesehen nicht der Etablierung von Wissen (was auch immer die zitierten Modelle der Naturwissenschaft oder der Buchhaltung nahe legen mögen), sondern soll in einer Selbstverdoppelung den vorgängigen Selbstgenuss im sentiment de /'existence verdoppeln. P/aisir du texte also durchaus, aber eines für den Autor selbst, das sich gerade nicht einem referenzlosen Spiel des Textes verdankt, sondern als Wiederholung eines vorausliegenden Genusses der reverie zu verstehen ist. Die Affektion durch das sentiment de /'existence wiederholt sich in der Affektion durch den Text. Rousseau koppelt in den Reveries die aus dem Text für den Autor als Leser erwachsende jouissance in mehrfachen Variationen und Wiederholungen an eine Struktur der Wiederholung: [...] leur lecture me rappellera la douceur que je goute ä les ecrire, et faisant renaitre ainsi pour moi le tems passe doublera pour ainsi dire mon existence. (1,1001)
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Eine Wiederholung im Modus der Schrift also, deren Differen2 gerade nicht dem Medium angelastet wird, sondern selbst in der Positivierung unverfügbarkontingenter Erinnerung zu einem Modus der Entlastung wird. Die Wiederholung unterscheidet sich damit wesentlich von den großen Erinnerungsepisoden der Confessions, die eine unruhige Dynamik von distanzierter Abgeschiedenheit und überwältigender Präsenz durchspielen. Die Reveries sind insgesamt keineswegs nur verschriftlichte Verdoppelungen von Zuständen des Selbst- und Fremdgenusses. Selbst die fünfte, die Beschreibung des sentiment de /'existence während des Aufenthalts auf der lie de Saint-Pierre im Bieler See, folgt diesem Schema nur mit Einschränkungen - und stellt ihrerseits die Wiederholung einer Wiederholung dar, denn der Aufenthalt war ein erstes Mal bereits im zwölften Buch der Confessions erzählt worden. Auch die zweite Promenade ist keineswegs umstandslos dem Schema des doppelten Genusses in der verdoppelten Selbstreferenz zuzurechnen. Gleich zu Beginn hält der Text die Erfahrung eines Mangels, einer Leere, fest. Rousseaus Vorhaben ist es, wie die Promenade in Erinnerung ruft, den etat habituel de mon ame (I, 1002) darzustellen, und zwar eben dadurch, dass er in einer Situation absoluter Vereinzelung und Einsamkeit ein „regitre fidelle de mes promenades solitaires et des reveries qui les remplissent" führen will. Aus dem Blickwinkel der Gesellschaft ist das zwar eine höchst merkwürdige und exzentrische Beschäftigung, aber sie kann gerade deswegen Natürlichkeit beanspruchen. Ganz bei sich selbst, pleinement moi et a moi sans diversion, Individualität und Selbstreferenz der Individualität, scheint das Individuum wieder transparent zu werden für jene Natur, die es hervorgebracht hat. Rousseau allein kann behaupten, das zu sein, was die Natur gewollt hat, etre ce que la nature a voulu (I, 1002): Die traumatischen Ereignisse der Kindheit scheinen vergessen, ihre Kontinuität gelöscht. N u n ist der finale Naturzustand am Ende allerdings keineswegs eine Wiederholung des hypothetischen Naturzustands am Anfang, und Rousseau sieht sich sofort gezwungen, sein Projekt zu revidieren. Die Selbstreferenz auf die eigene Individualität, der doppelte Genuss der propre substance, die Selbstvermittlung der eigenen Existenz in derpature au dedans de moi, bricht sich an einer Situation des Mangels. Die Beschränkung auf die unmittelbare Gegenwart scheitert an der Leere eben dieser Gegenwart: Das ganze Repertoire des Selbstgenusses, die delices internes, die ravissemens, die extases und jouissances (I, 1003) gehören unwiderruflich der Vergangenheit an. Damals allerdings hat sie Rousseau nicht niedergeschrieben. Wie hätte er es auch tun können? „Au milieu de tant de richesses comment en tenir un registre fidelle?" (I, 1003) Die Zeit der Fülle erlaubt keine Buchhaltung; die Zeit der Verschriftlichung besitzt keinen Gegenstand mehr, dessen Register sie sein könnte. Damit aber gerät das Modell der Verdoppelung von Kontemplation und Schrift, von begleitender und nachträglicher Selbstreferenz außer Kurs, denn zwischen beide legt sich eine Kluft, welche die Struktur des doppelten Genusses als Wiederholung ruiniert. So verstellt sich das Individuum die Möglichkeit, seiner Individualität habhaft zu
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werden, statt Wiederholung erzeugt es Aufschub. Die postulierte Balance des doppelten Genusses gerät zu Beginn der zweiten Promenade in eine unübersehbare Aporie: Die Zeit der reveries erzeugt im Versuch, sie zu erinnern, immer neue reveries, die nicht Wiederholung, sondern Verschiebung sind. Die Zeit der schwindenden Einbildungskraft45 lebt von der ausgeblichenen Erinnerung an die vergangenen jouissances, denen sie doch höchstens eine schattenhafte Gegenwart zu verleihen vermag. Die Promenade als Text ist immer schon endeertes Surrogat, nicht substantielle Verdoppelung. Die zweite Promenade berichtet von einem Unfall, der Rousseau am 24. Oktober 1776 auf einem Spaziergang in der Umgebung von Paris zustieß. Es geht in dem Text nicht um eine spontane Sukzession von Gedanken und Vorstellungen, sondern um einen accident imprevu, dessen Plötzlichkeit die Kontinuität des Vorstellungsstroms zerreißt. In Leibniz' Sinne geht es um einen klassischen Fall von perceptions insensibles. Der Unfall ist Rousseau tatsächlich widerfahren, seine Beschreibung ist aber auch intertextuelle Replik auf jenen Sturz, von dem Montaignes Essay De l'exercitation handelt. In beiden Fällen geht es um eine Grenzerfahrung, um die Grenzen der Selbstreferenz der Individualität, aber auch um die Grenze der Individualität. Auf den Höhen von Menilmontant spaziert Rousseau durch Wiesen und Weinberge; der Blick auf die sites agreables (I, 1003) der Landschaft wechselt mit detaillierten Pflanzenbeobachtungen, menues observations, denen sich der dilettierende Botaniker Rousseau widmet, ehe er sich wieder dem Gesamteindruck der (damals noch) idyllischen Landschaft überlässt. So wechselt das Angenehme mit dem Rührenden ab.46 Diese Bewegung der Aufmerksamkeit ist alles andere als zufallig, wird sie doch durch die zunächst nur halbbewusste Analogie mit Rousseaus innerer Verfassung reguliert: II resultoit de son aspect un melange d'impression douce et triste trop analogue ä mon age et ä mon sort pour que je ne m'en fisse pas Implication. (1,1004) 47
Ein metaphorischer Transfer lässt Fremdreferenz in Selbstreferenz zurücklaufen. Angewandte Herbsdandschaft - das heißt konkret, dass sie zum Spiegel der naturhaften Zeitlichkeit des alternden Rousseau wird, der in einer Bewegung ausgreifender Totalisierung im Ausgang vom metaphorischen Anmutungscharakter der Landschaft seine Individualität in einer Reihe von Oppositionsfiguren sich vor Augen stellt: „[...] je recapitulois les mouvemens de mon ame" (I, 1004). Metaphorische Produktivität der Landschaft, überschaubare Bewegungsfigur der biographischen Zeit, Individualität als Opposition — was Rousseau als Reflexion oder Meditation qualifiziert, ist eine (vielleicht unbewusste) Strategie, die sowohl von den bedrängenden äußeren Realitäten wie auch vom Einschuss unkontrol45 Vgl. 1,1002: „Mon imagination deja moins vive ne s'enflamme plus comme autrefois ä la contemplation de l'objet qui l'anime [...]." 46 Vgl. 1,1004: „[...] l'impression non moins agreable mais plus touchante que faisait sur moi l'ensemble de tout cela." 47 Über die Landschaft selbst heißt es: „La Campagne encor verte et riante, mais defeuillee en partie et dejä presque deserte, offroit par tout l'image de la solitude et des approches de l'hiver." (1,1004)
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lierbarer Phantasmen entlastet. So konturiert die Selbstreferenz Individualität als bruchlose Totalität, als Einheit von Differenz und Form, und genau dies ermöglicht Selbstgenuss: „Je m'attendrissois sur ces reflexions [...]" (1,1004). Aber die in die Selbstreferenz zurücklaufende Fremdreferenz und die topische, raumzeitliche Totalisierung der Individualität konstituieren eine zirkuläre Immanenz des Selbstgenusses, der durch die folgende blutige Episode konterkariert wird. Die körperliche Läsion figuriert zugleich eine Läsion der zirkulären Selbstteferenz, das Ereignis verursacht einen Bewusstseinsverlust, in dessen Folge die Stilisierungen der Individualität dem Sog einer kritischen Grenze ausgesetzt werden. Dabei geht es hier nicht mehr um die traumatische Struktur von Ereignis, dauerhafter Spur und unkontrollierbarer Wiederkehr, sondern um eine Figur der Grenzüberschreitung, die den Grenzcharakter der Individualität sichtbar werden lässt. Auf dem Rückweg wird Rousseau von einem heranstürmenden Hund überrannt und verliert das Bewusstsein. Der Text präsentiert das Ereignis in einer dramatischen Zuspitzung, die flagrant mit dem idyllischen Tenor der vorangehenden Landschaftstopik kontrastiert. Umso beeindruckender stellt sich für Rousseau deshalb der Augenblick des wiedererlangten Bewusstseins dar, nämlich als eine Art zweiter Geburt. Für Montaigne wie für Rousseau ist die Sequenz von Bewusstseinsverlust und -Wiedergewinnung eine Möglichkeit, Unverfügbares zu thematisieren, dem entzogenen Grund der Individualität momenthafte Präsenz zu verleihen. Der Sturz ermöglicht exemplarisch die Exploration der perceptions insensibles. Wenn aber für (den noch relativ jungen) Montaigne das Ereignis die Unverfügbarkeit des Endes vergegenwärtigt, so markiert es für Rousseau, der keine zwei Jahre mehr zu leben hat, die Unverfügbarkeit des Anfangs.48 Als singuläre Kontingenz ist das Ereignis von Verlust und Wiederkehr des Bewusstseins eine Erfahrung der Grenze, die den Blick auf einen Grund richtet, der ansonsten entzogen ist: La nuit s'avan9oit. J'apperfus le ciel, quelques etoiles, et un peu de verdure. Cette premiere sensation fut un moment delicieux. Je ne me sentois encor que par la. Je naissois dans cet instant a la vie, et il me sembloit que je remplissois de ma legere existence tous les objets que j'appercevois. Tout entier au moment present je ne me souvenois de rien; je n'avois nulle notion distincte de mon individu, pas la moindre idee de ce qui venoit de m'arriver; je ne savois ni qui j'etois ni ο ύ j'etois; je ne sentois ni mal, ni crainte, ni inquietude. Je voyois couler mon sang comme j'aurois vu couler un ruisseau, sans songer settlement que ce sang m'appartint en aucune sorte. (1,1005)
Die Reinheit der Empfindung ist ozeanisch, und das heißt sie ignoriert die Differenz von Selbst- und Fremdreferenz. Die Selbstbezüglichkeit hat nicht Differenz- und Formcharakter, sondern expandiert in eine potentielle Grenzenlosig44 Wenn Jauß in den Mythen des Anfangs eine „geheime Sehnsucht der Aufklärung" ausgemacht hat, so gibt es dafür vielleicht kein schlagenderes Beispiel als Rousseaus zweite Promenade, vgl· Hans Robert Jauß, Studien Epochenvandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt a. M. 1989, 24ff.
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keit. Das macht auch ihre Differenz zum metaphorischen Konnex von Fremdund Selbstreferenz aus, von dem vorher im Hinblick auf die Landschaft die Rede war. Das Ozeanische ist ein Modus der Expansion, der keine Lesbarkeit der Individualität zuzuordnen ist. Der in der ersten Empfindung anvisierte Grund verweist daher nicht mehr auf eine Struktur von Individualität als Form und Differenz, das Analogon des mottle mit seinen notorischen Kreativitätskonnotationen ist außer Kraft gesetzt. Der Selbstgenuss im Ozeanischen ist ein Genuss, dem die Formqualität des Selbst abhanden gekommen ist. Überdies fuhrt die Tilgung der Zeithorizonte - jegliche Erinnerung ist ausgefallen, der Horizont der Zukunft bleibt leer — zugleich zum Suspens jener traumatischen Prägungen, in denen der Rousseau der Confessions seine Biographie als Individualitätsgeschichte skandiert. Dezentrierung des Raums (im Sinne seiner Strukturierung durch eine Ich-Origo), Vernichtung der Zeit (im Sinne einer Tilgung ihrer Horizonthaftigkeit), ozeanische Besetzung und Überschwemmung kontingenter Wahrnehmungsobjekte — in diesen Dimensionen artikuliert Rousseau den Grund einer Empfindung, die Individualität als sei es naturhafte, sei es traumatisch spezifizierte Individualität dementiert. Wenn die premiere sensation der Anfanglichkeit des neugeborenen Bewusstseins einen moment delicieux darstellt, der essentiell über Negationen bestimmt ist,49 so ist die anschließende Reorientierung im Raum und in der Zeit eine Wiedergewinnung von Bestimmtheit, die nicht Individualität als Form und Differenz restituiert, sondern als Partialität und Dezentrierung erfahren wird. Negation und Inkommensurabilität bestimmten den Mythos momenthafter Anfänglichkeit; heteronome Detailliertheit und projektive Präzision die Darstellung der Rückkehr in die Zeitlichkeit. Die Bilanz, die Rousseau am folgenden Tag aufstellt, etabliert eine Liste von Verletzungen, die das Phantasma des zerstückelten Körpers aufruft, auch wenn die Lebensfunktionen intakt geblieben sind. Gravierender sind allerdings die gesellschaftlichen Konsequenzen, denen die Läsionen des Körpers nur präludieren. Durch sie wird der entstellte Rousseau auf Dauer unkenntlich, defigure. Und dieser gesellschaftlichen Defiguration vermag er kein 49 Verfahren der Negation und der Paradoxierung bestimmen auch die Beschreibung des sentiment de l'existence in der fünften Promenade: „sentir avec plaisir mon existence, sans prendre la peine de penser" (also eine Wiederaufnahme der Opposition von sentir und connaitn vom Anfang der Confessions, die Selbstreferenz bleibt auf Selbstempfindung beschränkt), „sans aucun concours actif de mon ame" (I, 1045): „un etat oü l'ame trouve une assiete assez solide pour s'y reposer tout enoere et rassembler lä tout son etre [...] oü le tems ne soit rien pour eile, oü le present dure toujours sans neanmoins marquer sa duree et sans aucune trace de succession, sans aucun autre sentiment de privation ni de jouissance, de plaisir ni de peine, de desir ni de crainte que celui seul de notre existence" (1,1046). Abwesenheit von Genuss also, zugleich nichts anderes als Selbstgenuss: „De quoi jouit-on dans une pareille situation? De rien d'exterieur ä soi, de rien sinon de soi-meme et de sa propre existence, tant que cet etat dure on se suffit ä soi-meme comme Dieu. Le sentiment de l'existence depouille de toute autre affection est par lui-meme un sentiment precieux de contentement et de paix qui suffiroit seul pour rendre cette existence chere et douce ä qui sauroit ecarter de soi toutes les impressions sensuelles et terrestres qui viennent sans cesse nous en distraire et en troubler ici bas la douceur." (1,1047) Selbstgenuss also als eine Selbstreferenz, die nicht auf das Individualitätsschema von Form und Differenz rekurriert. Weil sie keine Grenzmarkierung besitzt, ist sie stets von außen gefährdet, schon durch die impressions sensuelles.
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eigenes monument sür mehr entgegenzusetzen. Der verletzte Körper, der Rousseau als partialisierter Fremdkörper entgegentritt, ist restituierbar, die gesellschaftliche Defiguration, die den wiedergeborenen Rousseau entstellt, dagegen ist unheilbar. Die Geschichten, die man über ihn erzählt, deformieren ihren Gegenstand, der nicht mehr durch Selbstmonumentalisierung reagieren kann. Der substitutive Tod und die substitutive Wiederauferstehung konfrontieren Rousseau mit einem doppelten Verlust individueller Identität als Form und Differenz: in der Selbstreferenz als Entgrenzung, in der Fremdreferen2 als Defiguration. Diese Situation schlägt noch einmal auf die Selbstbeschreibung durch: War sie bereits fur die Reveries insgesamt vom monument sür zu einer supplementären Differenz geworden, so wird der Text, in dem die Nachwelt Rousseau begegnen wird, als gefälschter Text denunziert. Der Leser wird damit in eine logische Paradoxic manövriert. Der entstellte und totgesagte Rousseau provoziert nämlich in der Perspektive der zweiten Reverie bei seinen Zeitgenossen hektische Aktivitäten, die darauf abzielen, ihn in entstellter (oder erfundener) Textform zu präsentieren und zu publizieren. Die Verschwörung setzt den Ruin des Monuments ins Werk. Die Jagd auf die (authentischen oder gefälschten) Manuskripte des totgesagten Jean-Jacques hat begonnen, die Maskeraden fingierter Individualität treten auf den Plan. Nicht der in seinen Texten authentische Rousseau, sondern ein recueil d'ecrits fabriques (I, 1009), gefälschte Texte unter dem Autornamen Rousseau, werden nach seinem Tod für die Fortdauer seines Namens sorgen. Die grandiose Hybris vom Anfang der Confessions, er werde keine Nachahmer finden, schlägt in die grausame Rache der Verschwörung um, die Fälschungen auf den Markt wirft. Und nirgendwo gibt es mehr eine Instanz, die das Authentische vom Erfundenen zu unterscheiden vermöchte. So begegnet Rousseau der prospektiven Rezeptionsgeschichte seines CEuvres mit dezidiertem Fälschungsverdacht. Die ,anderen' sind Meister der Fälschung und der Fiktion. Rousseau, der exzeptionelle Garant von Aufrichtigkeit und Selbstdarstellung ist aller Mittel beraubt, sein Monument im Medium der Schrift zu sichern, zum einen, wegen der unhintergehbaren Differenz des aufgeschobenen und verspäteten Textes, zum andern, weil die Verschwörungsmaschinerie, der er ausgesetzt ist, undurchdringlich ist. Ein verlässliches, nicht entstelltes Monument seines Charakters hatten die Confessions angekündigt. Jetzt steht jeder Text, der unter dem Namen Rousseau erscheint, unter dem Verdacht der Fälschung. Und natürlich steht auch der Protest gegen die Fälschung unter Fälschungsverdacht. Die Rückkehr in eine Welt, der sich der Grund der Individualität entzieht, trifft auf ein universelles Komplott. Zwischen Rousseau und die (Nach-)Welt schieben sich undurchdringliche Verwandlungen, misteres und tenebres. Was von ihm in die Welt gelangt, ist immer schon durch fremde Hände, und damit die pervertierenden Machinationen der Feinde gegangen. Der pacte autobiographique als Monument der Individualität ist zugleich sein Dementi.
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„Etudier la nature comme font les grands peintres" Erzählung und Tableau in Bernardin de Saint-Pierres Naturbeschreibung In der Geschichte der Wissenschaften vom Leben hat das „Einzigartige", folgt man Georges Canguilhem, eine wichtige epistemologische Funktion.1 Der Hinweis auf die Einzigartigkeit eines Naturphänomens indiziert im ordnenden und klassifizierenden 18. Jahrhundert, der Zeit, in der diese Wissenschaften beginnen sich zu formen, die Vergeblichkeit aller Zuordnungs- und Klassifikationsversuche. Funktion des „Einzigartigen" ist damit, die Grenzen der Systeme aufzuzeigen und gleichzeitig die Einbildungskraft zur Aufstellung neuer Systeme anzuregen.2 Nach Canguilhem ist es die Anerkennung der Einzigartigkeit grundlegender Strukturen der als lebendig identifizierten Materie, die dazu führt, sie nicht mehr, wie in der Nachfolge von Descartes üblich, unter Annahme von Analogien zwischen Organismus und Maschine mit den mechanistischen Modellen der Physik zu erklären. Es entsteht eine „Wissenschaft vom Organismus, die nicht die Ausweitung einer anderen Disziplin [d. i. die „Wissenschaft von der Mechanik'*] darstellt, sondern durch die Ablehnung aller Analogien ihre Einzigartigkeit verteidigt."3 Sie entwickelt sich mit der schrittweisen Etablierung eines begrifflichen Diskurses, dessen Versatzstücke, - die Definition lebendiger Materie über ihre Reizbarkeit und Selbstaktivität oder die Bestimmung des Organismus als Funktion der ihn konstituierenden Einzelelemente bzw. als Organisationsform, die sich ihrer Zerstörung widersetzt - bekannt sind.4 Geht man davon aus, dass die Frage nach den historischen Bedingungen von Wissensgegenständen untrennbar mit der nach den sie ermöglichenden Aussageweisen verbunden ist, dass also jede
1 Georges Canguilhem, Die epistemologische Funktion des »Einzigartigen« in der Wissenschaft vom Leben, in: Ders., Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Wolf Lepenies, Frankfurt a. M. 1979, 59-74. 2 Ebd., 61-62. 3 Ebd., 72. Dass die Unterscheidung von Maschine und Organismus Voraussetzung für die Bestimmung der Eigenheiten des Lebendigen und die Entwicklung einer Wissenschaft vom Leben im 18. Jahrhundert war, entwickelt Canguilhem ausfuhrlich im Kapitel „Machine et oiganisme" in: Ders., La connaissance de la vie, Paris 1952,101-128. 4 Einschlägige Namen, die in Frankreich mit diesen Entwicklungen verbunden werden, sind die des Mediziners und Chemikers Georg Ernst Stahl, des Mediziners Paul Joseph Barthez als Vertreter der sog. Schule von Montpellier oder des Physiologen Marie Francis Xavier Bichat. Vgl. dazu zusammenfassend Giulio Barsanti, La naissance de la biologie. Observations, theories, metaphysique en France, 1740-1810, in: Claude Blanckaert (Hg.), Nature, Histoire, Societe. Essais en hommage a Jacques Roger, Paris 1995,197—228. Umfassend informiert u. a. Francois Duchesneau, Laphysiologie des Lumieres: empinsme, modeles et theories, Den Haag 1982.
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„epistemologische Klärung [...] mit einer ästhetischen Entscheidung verknüpft" ist,5 muss auch mit Blick auf das Wissen vom Organischen nach den historischen Bedingungen von dessen spezifischen Artikulationsformen gefragt werden. Vor dem Hintergrund dieses wissensgeschichtlichen Problemfeldes soll im Folgenden die Aufmerksamkeit auf einen homme de lettres gelenkt werden, der sich auch als homme de science begriff, dessen Ferne zu dem, was in seiner Zeit als wissenschaftlich avanciert, ja als Standard galt, allerdings zum Topos geworden ist. Bernardin de Saint-Pierre (1737-1814) diskreditierte sich in seinen naturphilosophischen Schriften Etudes de la nature (1784) und Harmonies de la nature (posthum 1818) mit seinem apologetisch motivierten, bis zum Grotesken überzogenen Finalismus, seinem obsoleten Analogiedenken, vor allem aber mit seinen geophysikalischen Spekulationen bei den zeitgenössischen naturalistes. Für nachfolgende Generationen wurde sein Werk gar zu einer „einzigen Parodie auf das wissenschaftliche Denken".6 Bei der ungeprüften Fortschreibung dieses Urteils wurde übersehen, dass eine Reihe von Bernardins Überlegungen mit denen der Denker der neuen Wissenschaft vom Organismus konvergierten. Die Theorie und Praxis der Naturbeschreibung, die er in den erwähnten Texten entwickelt, sind lesbar als Suche nach Ausdrucksformen, die der Einzigartigkeit des Lebendigen gerecht werden. Im Folgenden wird diese Problematik in drei Schritten vertieft: Zunächst werden die diskursiven Schnittstellen zwischen Bernardins Naturauffassung und vitalistischen bzw. organizistischen Modellen aufgezeigt. In einem zweiten Schritt rücken Bernardins Theorie und Praxis der Naturbeschreibung ins Zentrum. Abschließend werden seine Aussageweisen in den wissensgeschichtlichen Kontext gestellt. Textbasis sind in erster Linie die Etudes de la nature. Die Harmonies de la nature können wegen ihrer problematischen Editionsgeschichte nur am Rande berücksichtigt werden.7
5 Joseph
Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002,13. Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag ψ einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1978,140. 7 Keiner der beiden Texte liegt in einer modernen kritischen Ausgabe vor. Für die i.tudes de la nature ist ein Neudruck der Ausgabe von 1804 (Paris: Deterville) verfügbar: Etudes de la nature, edition presentee et annotee par Colas Duflo, Saint-Etiene 2007. Im Folgenden wird aus der Ausgabe Stüdes de la nature, Paris (Deterville) 1804 zitiert. Deren Seitenumbrüche wurden auch im Neudruck kenntlich gemacht. Die zitierten Stellen werden in Klammern im Text angemerkt: Sigle Ε verbunden mit einer römischen Ziffer gibt die Nummer der Etude an, die folgende arabische Ziffer die Seitenzahl. Die posthumen Harmonies de la nature wurden vom Autor nicht vollendet, Bernardins Verleger und Nachlassverwalter edierte die vorgefundenen Fragmente. Der Umgang mit ihnen gestaltet sich wegen einer fehlenden kritischen Ausgabe problematisch. Darüber hinaus repräsentiert der Text eine Erweiterung, Vertiefung und damit letztlich Wiederholung der schon in den Etudes de la nature erschöpfend erörterten Gegenstände. Im Folgenden wird aus der Ausgabe Harmonies de la nature, Paris (Ledentu) 1840 zitiert. Die zitierten Stellen werden in Klammern im Text angemerkt: Sigle Η mit einer arabische Ziffer, die die Seitenzahl angibt. 6
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Die „Lebenskraft" als Korrektiv mechanistischer Naturerklärungen Bernardin de Saint-Pierres zwischen 1772 und 1784 entstandenen Etudes de la nature präsentieren sich als großangelegter Versuch einer finalistischen Erklärung der gesamten natürlichen Welt. Ihr Ziel ist, den Plan einer ordnenden Vernunft in allen Bereichen der Natur nachzuweisen und die Zweckmäßigkeit ihrer Elemente in einem Gesamtzusammenhang aufzeigen. Auf diese Weise sollen die harmonischen Beziehungen einsichtig werden, die alle Teile des Universums zueinander unterhalten. Der Autor liest die Werke der Schöpfung in der Tradition der physikotheologischen Apologetik als Indikator fur die Güte ihres Schöpfers und akkumuliert zum Beleg Beispiele, die er nach den Reichen der Natur ordnet. Er wendet sich der Erdgeschichte bzw. dem Reich der Mineralien zu, der Pflanzen- sowie der Tierwelt, vertieft aber auch anthropologische und gesellschaftstheoretische Fragen. Besonderes Interesse gilt den Phänomenen der Botanik. Im Rahmen seiner finalistischen Naturerklärung setzt er sich mit verschiedensten Bereichen und Problemen des naturgeschichtlichen Wissens auseinander. Neben Erläuterungen zur Verbreitung und zur Funktion der Pflanzen und Tiere, den Ursachen geophysikalischer Erscheinungen wie der Gezeiten oder der Entstehung der Erde thematisiert er auch theoretische Fragen wie die nach der Klassifikation der Naturphänomene, der Tragfähigkeit mechanischer Modelle zur Erklärung der gesamten Natur oder die Kritik am Systemdenken. Die finalistische Perspektive lässt die Etudes gemessen an den Konventionen, die für eine als wissenschaftlich qualifizierte Betrachtung der Natur ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelten, als obsolet erscheinen.8 Plausibilität jenseits ihrer apologetischen Motivation erhält sie jedoch, wenn man die Konvergenzen in Betracht zieht, die sich zwischen Bernardins Entwürfen und den zeitgenössischen Modellen zur Naturerklärung finden, die in der Geschichte des Wissens mit Attributen wie „vitalistisch" oder „organizistisch" belegt werden.9 In den Etudes de la nature diskutiert Bernardin wiederholt die allgemeinsten Organisationsformen der Natur. Vehement spricht er sich in diesem Zusammenhang dagegen aus, Lebewesen mit denselben physikalischen Gesetzen zu erklären wie unbelebte Körper. Die Kraft, die für ihre Bildung, Erhaltung und Fortpflanzung verantwortlich sei, nennt er „esprit de vie" oder „principe de vie". Sie gehe nicht in den Erklärungskategorien der Mechanik auf und lasse die Lebewesen zu einer einzigartigen Kategorie unter den physischen Körpern werden. Über die Pflanzen, Bernardins bevorzugte Anschauungsgegenstände, heißt es: 8 Diese Ablehnung findet ihren Niederschlag beispielsweise im von d'Alembert verfassten Artikel causes finales der Encydopedie (1752) oder in Diderots Pensees sur /'.interpretation de la nature (1753/54). Umfangreiche Darstellungen zum Verhältnis von neuem Wissenschaftsverständnis und finalite im 18. Jahrhundert liefert Colas Duflo, La finalite dans la nature. De Descartes a Kant, Paris 1996. 9 Beim Gebrauch des vielfältig besetzten und daher nicht unproblematischen Begriffs „vitalistisch" folgt die vorliegende Untersuchung Georges Canguilhem, der mit ihm jenes Denken bezeichnet, das von der Einzigartigkeit, von der „originalite du fait vital" ausgeht. Vgl. Canguilhem, Connaissance (wie Anm. 3), 156.
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Les plantes, dit-on, sont des corps mecaniques. Essayez de faire un corps aussi mince, aussi tendre, aussi fragile que celui d'une feuille qui resiste des annees entieres aux vents, aux pluies, ä la gelee et au soleil le plus ardent. Un esprit de vie, independant de toutes les latitudes, regit les plantes, les conserve et les reproduit. Elles reparent leurs blessures, et elles recouvrent leurs plaies de nouvelles ecorces. Les pyramides de l'Egypte s'en vont en poudre, et les graminees du temps des pharaons subsistent encore. (Ε I, 358-359) 1 0
Aufgrund der den lebendigen Wesen innewohnenden Kräfte, deren Ziel in der Wahrung ihrer organischen Unversehrtheit und dem Fortbestehen in der Zeit bestehe, sei das Naturreich der Pflan2en mehr als ein, wie es an anderer Stelle heißt, „triste theatre compose de leviers, de poulies, de poids et de ressorts" (Ε IX, 113). In diesen Überlegungen spiegelt sich die von Georg Ernst Stahl schon im 17. Jahrhundert aufgebrachte und von Forschern wie Marie Frangois Xavier Bichat Ende des 18. Jahrhunderts aufgenommene Bestimmung des Lebens als Prinzip, das sich der Zerstörung des Körpers entgegenstellt.11 Eine Passage, die Bernardins Positionen zur Problematik noch einmal zusammenfassend illustriert, findet sich in den Harmonies de la nature. Der Autor stellt dort die Universalität des mechanischen Prinzips der Anziehung zwischen Körpern, „que toutes les lois du mouvement et de la vie viennent de l'attraction" (H, 104) in Frage und bestimmt für die lebendige Materie ein von diesem differentes „principe de vie". Es sei als immanentes Prinzip verantwortlich für die Organisation und selbstaktive Bewegung der lebenden Körper sowie für deren Fähigkeit zu fühlen und zu denken (H, 143). Die „Sensibilität" als distinktives Merkmal lebendiger Materie hat im vitalistischen Denken des 18. Jahrhunderts eine lange Tradition. Sie teilt diese Geschichte mit dem Begriff der „Irritabilität" und reicht bis zu Stahl und noch davor zurück. Zur der Zeit, in der Bernardins Stüdes entstehen, wird dieses Denken u. a. in einem einflussreichen Text des Mediziners Paul Joseph Barthez, den Nouveaux eliments de la science de l'homme (1778) virulent. Barthez, Mitglied der sogenannten Ecole de Montpellier; die maßgeblich an der Verbreitung vitalistischer Ansätze beteiligt ist, geht von der empfindsamen Reaktion auf Eindrücke als Merkmal aller organischen Funktionen aus und ordnet die Empfindsamkeit einem aktiven Lebensprinzip zu.12 Denis Diderot, der sich mit der Schule von Montpellier intensiv auseinandersetzt, nimmt knapp zehn Jahre früher in Le Reve de d'Alembert (geschr. 1769, EA 1830) die Idee von der Sensibilität der Materie als Grundlage aller Lebensfunktionen auf. Die materialistischen Konsequenzen, die aus Diderots Konzeption der sensibilite als einer universellen Eigenschaft der Materie erwachsen, die entweder aktiv — in lebendiger Materie — oder passiv — in nicht lebendiger Materie — angelegt sei, sind einem Apologeten wie Bernardin fremd. Weit davon entfernt, 10 Der Hinweis auf Vitalkräfte und die Kritik an mechanistischen Konzeptionen findet sich an mehreren Stellen in den £tude.r. Ε1,133; Ε IV, 371; Ε VIII, 58; Ε Χ, 210. 11 Vgl. zu Stahl Duchesneau, Physiologie (wie Anm. 4), 16-18, zu Bichat ebd., 432-441. 12 Vgl. zu Barthez sowie zur Schule von Montpellier und ihrem Einfluss Duchesneau, Physiologie (wie Anm. 4), 361^30.
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den Dualismus von Materie und Geist aufheben zu wollen, sind Lebensfunktionen wie die sensibilite für ihn vielmehr der Beweis für die Existenz eines göttlichen, in allen lebendigen Wesen zu findenden Lebenshauches, ohne den sie nur tote Materie wären.13 Über die Bedeutung des hier aufscheinenden Animismus wird noch zu sprechen sein. Gemeinsam ist beiden Autoren allerdings, dass sie auf der Grundlage der Sensibilität die Analogie von lebendigen und mechanischen Organisationsformen ablehnen. Besonders interessant erscheint vor diesem Hintergrund der Umstand, dass Bernardin von 1771 bis 1776 den Salon der Mile de Lespinasse frequentierte und nach deren Tod bis etwa 1780 den von Mme Necker. Zu den hier versammelten Kreisen gehörten mit Diderot und Buffon maßgebliche Vertreter einer Naturauffassung, welche die Universalität der physikalischen Gesetze in Frage stellt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Autor der Etudes an diesem Ort mit organizistdschen und vitalistischen Konzeptionen der Natur in Berührung kam.14 In einem wichtigen Punkt differieren Bernardins Auffassungen allerdings von denen eines Diderot oder Buffon: er lehnt die Annahme von Entwicklungen in der Natur, die zur Herausbildung grundlegend neuer Formen führen, vehement ab. Diese Position kommt besonders in seinen Einlassungen zu erdgeschichtlichen Fragen zum Tragen.15 Gleichwohl ist Bernardins Natur keine statische, sondern eine, die nicht nur ständig in Bewegung, sondern auch der Veränderung unterworfen ist, denn „le mouvement est l'expression de la vie" (Ε Χ, 191). 16 Die widersprüchliche Konzeption einer Veränderung ohne Fortschritt versucht er als zyklische Bewegung oder Kreisbewegung zu beschreiben. „La vie est une sphere", fasst er in den Harmonies de la nature zusammen (H, 285). Mit 13 Die Frage nach der Möglichkeit einer selbstaktiven Lebenskraft und einer der Materie eingeschriebenen Intelligenz beantwortet Bernardin mit Blick auf alle Lebewesen, nicht nur den Menschen: „Iis existent sans doute, car il y a des etres materiels organises qui se meuvent, se propagent, sont sensibles et raisonnables, et ne sont plus que de la matiere lorsqu'ils sont separes de Tame qui les anime." (H, 143) Der „esprit de vie", „un sentiment et une volonte", Eigenschaften der Atome lebendiger Materie „qu'ils n'avaient pas eux-memes" (Ε VIII, 26) sind nach Bernardins Vorstellung göttlichen Ursprungs. 14 Zum Leben Bernardin de Saint-Pierres ist keine neuere, umfassende Studie verfugbar. Vgl. zu den genannten Perioden die kritische Rekonstruktion von Bernardins Leben anhand unveröffentlichter Korrespondenz und unveröffentlichter Manuskripte in Maurice Souriau, Bernardin de Saint-Pierre d'apris ses manuscrits, Paris 1905,121—132,162—172. Aufschluss über die Kontakte in den Salons gibt auch die veröffentlichte Korrespondenz Bernardins aus diesen Jahren: Comspondance de J.-H. Bernardin de Saint-Piem, prtcedee d'un supplement aux memoires de sa vie par L. Aime-Martin, 4 Bde., hg. v. L. Aime-Martin, Paris 1826, Bd. 1. Konkrete Hinweise auf die Rezeption bestimmter Ideen sind allerdings nicht zu finden. Zum Personal des Salon Lespinasse vgl. Frar^ois Bott, La demoiselle des Lumieres, Paris 1997. 15 Bernardin äußert sich in Etude IV anhand aktueller Fragen wie dem Vulkanismus oder der Erklärung fossiler Funde eingehend zur Erdentwicklung. Auch eine von ihm entwickelte und vehement an verschiedenen Stellen seines Werkes verteidigte Theorie zur Entstehung der Gezeiten steht in enger Verbindung zur Erdgeschichte. In einem abschließenden Urteil zum Thema formuliert er, offenbar auf Buffons „epoques de la nature" zielend: „Ce n'est point dans les ouvrages de Dieu, mais dans ceux des hommes, que nous pouvons distinguer des epoques. Tous nos monumens nous annoncent la nouveaute de la terre que nous habitons." (Ε VII, 469) 16 Der Biologe und Wissenschaftshistoriker Louis Roule kommentiert das Prinzip der Bewegung bei Bernardin: „Dans la nature etalee devant lui, il ne voit, et ne veut voir, que le mouvement et Taction." Louis Roule, Bernardin de Saint-Piem et l'harmonie de la nature, Paris 1930,142.
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diesem Modell durchbricht er genau wie Diderot die Statik der Mechanik und dynamisiert die Natur, anders als Diderot fuhrt ihn dieses Denken aber nicht zu einer Entwicklungsperspektive.17 Vor diesem Hintergrund werden eine Reihe von Axiomen der Etudes de la nature, die sich aus der finalistischen Naturbetrachtung ableiten, pertinent. Nach Bernardin offenbart sich der Sinn eines jeden Naturelementes in den Beziehungen, die es mit einem ihm komplementär entgegengesetzten Element unterhält. „Chaque chose a son contraire; l'une est opposee ä l'autre, et rien ne manque aux oeuvres de Dieu [...] Je regarde cette grande verite comme la clef de toute la philosophic" (Ε Χ, 159) unterstreicht er die fundamentale Bedeutung, die er diesem dialektischen „Naturgesetz" beimisst. Als Konsequenz aus dem Axiom sieht er in der Konzentration auf die Beziehungen, die „relations" zwischen den einzelnen Elementen, das vornehmliche Ziel jeder erkennenden Betrachtung der Natur.18 Eine solche Sichtweise erlaubt es dem Apologeten einerseits die Relationen als „convenance" zu lesen, jede Erscheinung als Kompensation einer anderen zu deuten und die Natur damit als vollkommen harmonische Struktur zu erklären.19 Andererseits kann in dem sich hier abzeichnenden Interesse an verborgenen Verbindungen eine Schnittmenge mit den zeitgenössischen Philosophien des Organischen ausgemacht werden. Diese sind charakterisiert durch eine zunehmende Konzentration auf die Interaktion zwischen Teilen, die einem Ganzen - dem Organismus — seine Bedeutung gebe. Analyse und Vergleich erstrecken sich nicht mehr ausschließlich auf sichtbare Oberflächen, sondern mehr und mehr auf die inneren Beziehungen zwischen den Elementen, die unter der äußeren Tätigkeit des Gesamtorganismus als deren „Finalität" verborgen seien.20 Das Organismuskonzept des 18. Jahrhunderts ist dem der Maschine entgegengesetzt, insofern sich in letzterem die Bedeutung des Einzelelementes nicht über die Funktionabilität eines Ganzen definiert. Als Strukturmodell dient es genauso wie die Irritabilität oder die Selbstaktivität der Differenzierung von lebendiger und nichtlebendiger Materie. Im Dienste dieser Differenzierung steht auch eine weitere in den Etudes entwickelte Vorstellung. Sie erscheint als Konsequenz einer Natur, in der alles 17 Dass sich Bernardin der Widersprüche dieser Position bewusst ist, wird auch darin deutlich, dass er die zu seiner Zeit im Kontext des Entwicklungsdenkens vieldiskutierten Generationstheorien nicht thematisiert. 18 Mit Blick auf den bevorzugten Gegenstand seiner Analysen, die Pflanzenwelt, stellt Bernardin fest: „Si nous jetons un simple coup-d'oeil sur les plantes, nous verrons qu'elles ont des relations avec les elemens qui les font croitre, qu'elles en ont entre elles lorsqu'elles se groupent les unes avec les autres, qu'elles en ont avec les animaux qui s'en nourrissent, et enfin avec lTiomme qui est le centre de tous les ouvrages de la creation. J'appelle ces relations harmonies, et je les distingue en elementaires, en vegetales, en animales et en humaines." (Ε XI, 364) "Jean Svagelski betrachtet die von Leibniz „comme principe de relation" konzipierte convenance als „clef de toutes les ,etudes de la nature' de Bernardin de Saint-Pierre", Jean Svagelski, Lldee de compensation en France, 1750-17SO, Lyon 1982,164. 20 Vgl. zu dieser Entwicklung zusammenfassend Francois Jacob, La logique du vtvant, Paris 1970, Kap. 2.
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mit allem verbunden ist: Bernardin begreift sie in ihrer Gesamtheit als einen Organismus. In Etude X findet er ein Bild, das diese Auffassung zum Ausdruck bringt. Ausgehend von Beobachtungen zur Doppelung der Organe bei Tieren und Menschen macht er diese „duplicite de formes" (Ε Χ, 216) auch in der geophysikalischen Organisation der Erde aus, was ihm erlaubt, sie mit einem Tier zu vergleichen: Je lui [le globe] trouvais done, sous cet aspect nouveau, je ne sais quelle analogie avec un animal dont la tete aurait ete au nord par l'attraction de l'aimant, particuliere a notre pole, qui semble y determiner un sensorium comme dans la tete d'un animal; le cceur sous la ligne par la chaleur constante qui regne dans la zone torride et semble y fixer la region du coeur; enfin les organes excretoires dans la partie austtale [...]. (Ε X, 218)
Die hier entwickelte Analogiefigur der Erde als einem Wesen mit Körperfunktionen wie Empfindungen, einem Herzschlag oder einer Verdauung hatte lange vor Bernardins Zeit, in der Renaissance, Konjunktur. Im 18. Jahrhundert erscheint der Vergleich als ein Anachronismus, ist doch seit dem 17. Jahrhundert das Denken in solchen Analogien erkenntnistheoretisch obsolet. Die nahe liegende Erklärung — Ignoranz gepaart mit apologetischem Eifer - ist allerdings zu kurz gegriffen. Bei genauerer Betrachtung erweist sich der Rückgriff auf das veraltete Bild des Tieres zur Kommunikation von Bernardins spezifischer Naturauffassung als sinnfällig. Die Voraussetzung fur Analogien dieser Art war in der Renaissance eine animistische Konzeption der Natur. Solche Analogien zu behaupten, kann im Umkehrschluss auch im 18. Jahrhundert als Affirmation einer animistischen Naturauffassung gewertet werden. Der Animismus der Renaissance lebte in der Tat in den vitalistischen Theorien des 18. Jahrhunderts in Form hylozoistischer Tendenzen weiter.21 Bernardins Vergleich der Erde mit einem Lebewesen ist aber nicht als Theorie mit Anspruch auf Empirizität zu verstehen, sondern als rhetorisches Element, mit dem er sich einmal mehr antimechanistisch und anticartesianisch positioniert. Der rhetorische Rückgriff auf veraltete Topoi von der belebten Erde lässt die spezifische Art und Weise erkennen, in der vitalistische Theorien bzw. mit ihnen verbundene naturphilosophische Ansätze im 18. Jahrhundert an der Herausbildung einer Wissenschaft vom Leben beteiligt waren. Wenngleich sie sicher keine operationalen theoretischen Systeme oder spezielle Untersuchungsmethoden lieferten und mit ihrem teilweise metaphysisch-spekulativen Charakter einen nicht zukunftsweisenden Umgang mit der Natur repräsentieren, verkennt man ihre wissensgeschichtliche Bedeutung, wenn man sie ausschließlich als Rückfall hinter einen bereits erreichten Erkenntnis stand wertet. Indem sie zu einem Perspektiv21 Schon Stahl führt das Konzept der Lebenskraft mit der alten Idee einer die gesamte Natur durchdringenden Seele eng. Anklänge an hylozoistische Naturkonzeptionen lassen sich stellenweise, wenngleich mit Reserven u. a. bei Diderot, etwa in Le BJve de d'AIembert oder beispielsweise bei Goethe finden. Vgl. Jean-Michel Pouget, La säence goetheenne des vivants. De l'histoire naturelle a la biologie evolutionniste, Bern u. a. 2001,107-112.
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Wechsel aufforderten, übernahmen sie die Funktion eines Korrektivs zum reduktionistischen, die Erforschung des Lebendigen dominierenden Mechanismus. Sie veränderten die Sicht auf die Lebewesen, formulierten neue Fragestellungen zu diesem Gegenstand und lieferten ein neues Vokabular zu dessen Beschreibung. Die vitalistischen Tendenzen erscheinen aus dieser Sicht „aussi essentiel aux debuts de la biologie que le mecanisme a Tage classique".22 Die erkenntnistheoretischen Aporien, die mit der Suche nach universellen Lebenskräften verbunden waren, werden u. a. von der wandelnden Haltung Alexander v. Humboldts dokumentiert. Humboldt zeigte sich in seinen frühen Jahren von vitalistischen Ansätzen inspiriert. Er erkannte jedoch bald deren Dilemma. Da sich die Erforschung der Lebenskraft einem experimentellen Zugang entzieht, ist sie keine empirische Wissenschaft. Humboldt sah, dass sie letztendlich eine Blockade der Erkenntnis suche bedeutet und lehnte die Lebenskraft schließlich als zur Naturerklärung untaugliche Kategorie ab.23 Die Entwicklung seines Umganges mit der Problematik kann als emblematisch für seine Zeit gelten. Es setzen sich Positionen wie die von Jean-Baptiste Lamarck durch, der das Leben als „produit de Forganisation" beschreibt und jede Form immaterieller Lebensprinzipien ablehnt.24 Dass der Vitalismus im naturwissenschaftlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts schließlich verschwindet, muss vor diesem Hintergrund nicht als Scheitern gelesen, sondern kann als Zeichen dafür interpretiert werden, dass er seine historischen Aufgaben erfüllt hat, nämlich die mechanistisch geprägte Wissenschaft auf einen Weg zu bringen, der dem Studium des Lebens angemessen war. Was Bernardin de Saint-Pierre betrifft, kann festgehalten werden, dass er sicher kein Vitalist war. Gleichwohl konvergiert sein naturphilosophisches Unternehmen im Zeichen einer finalistischen Theodizee in wichtigen Punkten mit vitalistischen Positionen der Zeit. Das ergibt sich auch daraus, dass die Etudes de la nature parallel zur diskursiven Auseinandersetzung mit der Lebensproblematik die Suche nach Artikulationsmodi dokumentieren, die den Gegenstand „Leben" angemessen repräsentieren können.
22 Jacob,
Logque (wie Anm. 20), 106. Alexander v. Humboldt entwickelt in dem 1795 erstmals in Schillers Hören veröffentlichten Prosatext Die Lebenskraft oder der rhodische Genius eine vitalistische Theorie des Lebens. 1849 erklärt er in der dritten Auflage der Ansichten der Natur, in welche der Text integriert wurde, seine Abkehr von der Annahme einer besonderen Lebenskraft. Vgl. zur Entwicklung Humboldts in dieser Frage Maike Arz, Literatur und Lebenskraft. Vitalistische Naturforschung und bürgerliche Literatur um 1800, Stuttgart 1996, 35-46. 24 Barsanti, Naissance (wie Anm. 4), 207-209. 23
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Mechanistische und organizistische Naturbeschreibung Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts gehört es unter Naturforschern und philosophes zum guten Ton, die „systemes", d. h. als spekulativ und scholastisch wahrgenommene Ordnungen der Wirklichkeit zu kritisieren.25 Auch Bernardin stellt die Systeme ins Zentrum wissenschaftskritischer Einlassungen, die in den Etudes einen breiten Raum einnehmen. „Si j'ai combattu nos sciences naturelles dans le cours de cet ouvrage", heißt es bei ihm, „ce n'est que du cote systematique; je leur rends justice du cöte de l'observation. [...] si le temps me l'eüt permis, j'eusse combattu pied ä pied nos methodes et nos systemes. [...] Ce sont nos methodes qui nous egarent." (Ε IX, 98-99) Bei den „methodes" und „systemes", die aus seiner Sicht auf Irrwege fuhren, hat er zwei Paradigmen im Blick, welche die wissenschaftliche Weltaneignung im 18. Jahrhundert prägen. Es handelt sich einmal um die Nomenklaturen in den kompilatorischen Wissenschaften Botanik und Zoologie, wie sie etwa durch Carl von Linnes Systeme naturae (1735) repräsentiert werden. Zum anderen zielt seine Kritik an den Systemen auf jede Form einer kohärenten, mechanistischen Welterklärung durch Wirkursachen, für Bernardin beispielhaft verkörpert durch die Physik Newtons. In beiden Fällen erscheint die Kritik sowohl apologetisch als auch wissenschafts- bzw. erkenntnistheoretisch motiviert. Botaniker verfehlten mit ihren Klassifikationen auf der Basis des Vergleichs einzelner Merkmale die Einsicht in die convenance der Naturerscheinungen. Hierin glichen sie den mechanistischen Naturerklärungen.26 In wissenschaftlicher Hinsicht liege der Fehler der taxonomischen, die Relationen vernachlässigenden Naturbeschreibung in deren Unfähigkeit, den Zusammenhalt der verschiedenen Natursphären und damit des Universums einsichtig zu machen. Mit ihr würden die „productions de l'univers [...] morcelees et sequestrees dans les petits tiroirs de nos systemes mecaniques." (Ε X, 300) Zu den Klassifikationen der Botaniker bemerkt der Autor: Quoique les botanistes aient fait de grandes et laborieuses recherches sur les plantes, ils ne se sont occupes d'aucun de ces rapports. Enchaines par leurs systemes, ils se sont attaches particulierement ä les considerer du cöte des fleurs, et ils les ont rassemblees dans la meme classe, quand ils leur ont trouve ces ressemblances exterieures, sans chercher meme quel pouvoit etre l'usage particulier des differentes parties de la floraison. (Ε XI, 366)
Die Nomenklaturen erweisen sich nach Bernardin damit als inadäquat zur Erfassung der Lebensvorgänge, die in den „rapports" zwischen den Elementen beschlossen seien. Der Blick auf den „usage particulier des differentes parties de la 25 Vgl. zur Systemkritik bei D'Alembert, Diderot und vor allem bei Buffon Julie Candler Hayes, Reading the French Enlightenment. System and Subversion, Cambridge 1999, 26-39. 26 „Les savans", kritisiert Bernardin hinsichtlich der metaphysischen Defizite der Wissenschaften, „trouvent [...] plus commode d'exposer le systeme du monde sans en tirer aueune consequence. [...] Iis representent Dieu comme un geometre ou un machiniste qui s'amuse a faire des spheres pour le plaisir de les faire tourner. [...] C'est le defaut qu'on peut reprocher ä la plupart des sciences, qui, sans consulter la fin des operations de la nature, n'en etudient que les moyens." (Ε IX, 111—112)
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floraison" würde im Fall der Pflanze eine Verbindung zwischen ihren Teilen und den Umweltbedingungen, in denen sie lebt, herstellen und Aspekte wie Stoffwechsel oder Anpassung an das Milieu betrachten. Dass es für Bernardin vor allem die Beziehungen zwischen Lebewesen und Umwelt sind, welche die Lebensfunktionen begreifbar machen, wird auch deutlich, wenn er hinsichtlich dieser Beziehungen bei Tieren bemerkt: C'est lä [in den „rapports", Anm. d. Α.] que l'on peut reconnoitre l'element oü ils doivent vivre, le site qu'ils doivent habiter, les alimens qui leur sont propres, et les premieres Ιεςοηβ d'industrie, d'amour ou de ferocite qu'ils regoivent de leurs parens. Le plan de leur vie est renferme dans leurs berceaux. (Ε 1,153)
Mit Blick auf die Sammlungen der „cabinets d'histoire naturelle", die mit der Dekontextualisierung ihrer Gegenstände ein physisches Äquivalent zu den Nomenklaturen sind, fragt er polemisch: „Quel spectacle nous presentent nos collections d'animaux, dans nos cabinets? En vain Part des Daubentons leur rend une apparence de vie [...]." (Ε I, 133) Mit der Klassifikation nach Einzelmerkmalen vermitteln die taxonomischen Systeme die Illusion, jedes Lebewesen sei eine Zusammenstellung klar voneinander unterscheidbarer Teile. Die klassifizierende Betrachtung einer Pflanze unterscheidet sich in ihrer Herangehensweise nicht von der eines beliebigen, unbelebten Gegenstandes. Sie wird als unbeweglicher Körper, isoliert im Raum und ohne zeitliche Dimension betrachtet, als invariante geometrische Figur. Die Nomenklatur bildet weder den Zusammenhalt zwischen den Körpern noch ihre Veränderung oder Entwicklung ab. Sie erweist sich damit als eine Darstellungsordnung der Mechanik. Der Kritik an den „mechanischen" Naturbeschreibungen stehen in den Etudes Überlegungen zum richtigen Naturstudium und einer der Organisationsform der Natur adäquaten Darstellung gegenüber. Sie gehen vom Grundsatz aus „Pour etudier la nature avec intelligence, il en faut Her toutes les parties ensemble." (Ε Di, 144) Seine Methode resümiert der Autor folgendermaßen: II me suffit de recommander aux naturalistes d'etudier la nature comme font les grands peintres; c'est-ä-dire, en reunissant les harmonies des trois regnes. Tout homme qui l'observera ainsi, verra un jour nouveau se repandre sur ses lectures de voyages et d'histoire naturelle. (Ε X, 261)
Die Natur wie die großen Maler studieren, heißt für Bernardin, vermittels eines deskriptiven Tableaus einen Naturausschnitt zu erfassen, in dem die wechselseitigen dynamischen Beziehungen zwischen bestimmten Gegenständen und den anderen Elementen der verschiedenen Naturreiche deutlich werden: II suffit a l'homme, pour etudier la nature avec fruit, de se borner ä l'etude d'un seul vegetal. II faudroit pour cet effet choisir un vieux arbre antique dans quelque lieu solitaire. On jugeroit aisement, aux caracteres que j'ai indiques, s'il est dans son site naturel [...] On observeroit d'abord ses relations elementaires et les caracteres frappans qui distinguent les especes du meme genre, dont les unes naissent aux sources des fleuves, et les autres a leurs embouchures. On examineroit ensuite ses convolvulus, ses mousses, ses guis, ses scolopendres, les champignons de ses
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racines, et jusqu'aux graminees qui croissent sous son ombre. On apercevroit dans chacun de ses vegetaux de nouveaux rapports elementaires, convenables aux lieux qu'ils occupent et ä l'arbre qui les porte ou qui les abrite. On donneroit ensuite son attention a toutes les especes d'animaux qui viennent y habiter, et on seroit convaincu que, depuis le lima^on jusqu'ä l'ecureuil, il n'y en a pas un qui n'ait des rapports determines et caracteristiques avec les dependances de sa vegetation [...] On auroit alors un chapitre entier de cette immense et sublime histoire de la nature, dont nous ne connoissons pas encore l'alphabet." (Ε XI, 34—35)
Dass diese Überlegungen mit einer Poetik der Naturbeschreibung zusammenfallen, die bewusst als Gegenprogramm zum Ansatz der nach Identität und Differenz isolierter Teile einer Pflanze oder eines Tieres fragenden Nomenklatur konzipiert ist, zeigt sich auch in Bernardins Versuchen, sie praktisch umzusetzen. Die Beispiele, die sich hierfür in den Etudes und in anderen Texten des Autors finden, sind zahlreich. Zu den charakteristischsten und wohl auch bekanntesten Passagen gehört die Beschreibung eines Teiles der Insel Mauritius im Indischen Ozean. Bernardin kannte die Insel, damals französische Kolonie unter dem Namen lie de France, aus eigener Anschauung - er war dort in den Jahren 1768-1770 als Ingenieur tätig. In dem „tableau bien imparfait" (Ε V, 349), das er von ihr zeichnet, liefert er eine Darstellung der Natur, die seinen Anforderungen an eine gute Beschreibung entsprechen soll. Er erläutert die Verbindungen zwischen klimatischen und topographischen Gegebenheiten und den Arten in Biotopen, Habitaten und Biozönosen. Die Windverhältnisse determinieren in dieser Darstellung den Küstenbewuchs (346), botanische Arten werden in ihrer Beziehung zu topographischen Schichten beschrieben (347), Flussläufe in ihrer Funktion als Wasserspender für die Pflanzen, Sandbänke, welche die Inseln umschließen, sind Laichplätze der Schildkröten, die muschelgepanzerten Wurzeln der Mangrovenwälder an den Küsten brechen die Wucht der Wellen (349) usw. Neben den funktionalen Beziehungen zwischen den Naturerscheinungen stehen die ästhetischen im Mittelpunkt der Beschreibung. So wird geschildert, wie das „beau vert-gris" des die Insel umschließenden Rasenstreifens mit dem Grün der Wälder und dem Blau der Fluten harmoniert (346) oder die Formen verschiedener Baumarten in ihrer schichtentopographischen Anordnung komplementäre Kontraste ergeben. (347) Aus der Einbettung der Passage in den Text der Etudes geht hervor, dass sie an dieser Stelle die Funktion hat, die providenzielle Ordnung der convenance vor Augen zu führen.27 Gleichzeitig verweist sie auf die funktionale Verbundenheit der beschriebenen Elemente und damit auf den „plan de leur vie". Die Opposition, in der diese Tableaus nach Bernardins Verständnis zu Naturerfassungen stehen, wie sie durch Linnes Sjstema naturae repräsentiert werden, zeigt sich auch in Verweisen auf seine Vorbilder. Zu diesen zählen all jene, die 27 Der Autor gibt an, nach seiner Methode eine Skizze liefern zu wollen, um eine Idee „de la miniere dont la nature dispose ses plans" (Ε V, 346) zu geben.
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Natur nicht nach den gängigen taxonomischen Mustern beschreiben, u. a. die Reiseberichte. So lobt er beispielsweise Jean-Baptiste de Villers, von 1701 bis 1709 Gouverneur der lie Bourbon, für seine Beschreibung der Abhängigkeit zwischen Topographie und hydrologischen Verhältnissen auf der Insel, sowie Jean de la Roque, der Villers Schilderung in seiner Voyage de l^'Arabie Heureuse (1716-1720) wiedergibt. Ausdrücklich hebt Bernardin hervor, dass diese Darstellung, die die Zusammenhänge zwischen Mikroklima, Topographie und Flora bzw. Fauna beispielhaft erkläre, nicht von einem „philosophe a systemes" stamme, sondern von einem „voyageur simple et nai'f du siecle passe, qui raconte les choses telles qu'il les a vues et sans en tirer aucune consequence" (Ε XI, 403407). An anderer Stelle sagt er: „Pour jouir de quelques tableaux imparfaits en ce genre, il faut avoir recours aux voyageurs." (Ε XI, 35) Dass die Tableaus, die Bernardin als Modell hinstellt, keineswegs die Dinge „telles qu'il les a vues" erzählen, wird noch eingehender zu besprechen sein. Festzuhalten ist, dass sie in jedem Fall von denen der „philosophes ä systemes" zu differieren beanspruchen. Neben der Darstellung der rapports zwischen den Elementen der Natur ist es ihre Fähigkeit, die Prozesshafügkeit von Erscheinungen zu thematisieren, die die von Bernardin geforderten Tableaus der Nomenklatur überlegen machen. Als Beispiel hierfür sei auf eine weitere Naturbeschreibung verwiesen, die sich nicht in den Etudes, sondern in einem fiktionalen Text des Autors befindet, in seinem großen Romanerfolg Paul et Virginie.2% Die Tropenidylle, die auf der lie de France, der damaligen französischen Kolonie im Indischen Ozean spielt, gibt wiederholt Gelegenheit für Schilderungen exotischer Flora und Fauna, als deren Grundstruktur sich die Poetik des deskriptiven Tableaus abzeichnet. So schildert der greise Erzähler der Geschichte in einer viel kommentierten Passage29 die Umgebung seiner Hütte inmitten tropischer Wildnis. Die beschriebenen Phänomene sind nach den Reichen der Natur, die auch die Struktur der Etudes bestimmen, geordnet. Der Fluss als topographische Gegebenheit eröffnet das Tableau, es folgt die Flora mit verschiedenen Baumarten und Lianen sowie Hinweisen auf ihre Gerüche. Als nächstes wird die Fauna anhand der den Wald bewohnenden Vögel und Affen besprochen und verbunden mit der Geräuschkulisse, die sie verursachen. Der Exkurs schließt mit dem Fluss, der an seinem Beginn stand und an dessen Ende in Form eines Wasserfalles wieder auftaucht.30
28 Der Roman erscheint 1788 im vierten Band der 3. Auflage der Stüdes de la nature. Er steht, was die Kritik bisher häufig vernachlässigt hat, nicht nur editionsgeschichtlich in enger Verbindung mit den Etudes. Bernardin selbst bezeichnet den Roman in der langen Preambuk zur Ausgabe von 1804 als „delassement" von den Etudes und als „application" der in ihnen erstellten Gesetze „au bonheur de deux families malheureuses". In einem unveröffentlichten Manuskript bekräftigt der Autor, der Roman beschließe das Ergebnis seiner gesamten Philosophie in sich, Maurice Souriau, Bernardin de Saint-Pierre d'apres ses manusmts, Paris 1905,235. 29 Vgl. u. a. Wolfgang Raible, Literatur und Natur. Beobachtungen %ur literarischen Landschaft, in: Poetica 11 (1979), 105-123, hier 112-116. 30 Die Passage findet sich in der Ausgabe Bernardin de Saint-Pietre, Paul et Virpnie, hg. v. Pierre Trahard, Paris 1989,170-173.
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An diesem Panorama ist zu beobachten, dass es sichtlich keinen statischen Zustand wiedergeben will, sondern ein dynamisches Geschehen. Sowohl unbelebte als auch belebte Erscheinungen werden durch Verben in Bewegung gesetzt: „la riviere [...] coule", „les singes [...] se jouent [...] se balancent [...] sautent". Die Beschreibung von Klangszenarien — „cris de joie" der Affen, „mille bruits confus sortent de ces eaux tumultueuses" - verleiht dem Bild eine zeitliche Dimension. Darüber hinaus wird das Ensemble von Flora und Fauna als eines dargestellt, das sich im Rhythmus der Jahreszeiten verändert. So wird beispielsweise beschrieben, wie sich am Ende des Sommers die Population der Vogelarten aufgrund des sich ändernden Nahrungsangebotes durch die fruchttragenden Bäume verändert, zu einer anderen Jahreszeit erscheinen die Bäume durch die Überfülle an weißen Blüten „demi couverts de neige". Wenn die Bewegung für den Autor der Etudes Ausdruck des Lebens ist, kann die Beschreibung der dynamischen Interaktionen von klimatischen, botanischen und zoologischen Faktoren durch den Alten als Versuch gewertet werden, jenen „esprit de vie" (Ε I, 358) greifbar zu machen, der als grundlegendes Prinzip allen Naturvorgängen innewohnt. Schließlich versucht auch diese Passage, die Kohärenz des natürlichen Geschehens durch Verweis auf dessen ästhetische convenances herzustellen. In den Etudes widmet der Autor umfangreiche Passagen dem Versuch, die Gesetzmäßigkeiten der ästhetischen Wirkung der Natur aufzudecken. Diese Kategorien scheinen die Selektion der im Tableau geschilderten Phänomene zu steuern. So lässt sich die schichtentopographische Beschreibung verschiedener Stufen des Pflanzenbewuchses als einer „foret plantee sur une autre foret" auf das Prinzip der contrastes verschiedener pflanzlicher Formen zurückfuhren, die sich zu einer Einheit ergänzen, deren ästhetische Wirkung durch die Gegensätze verstärkt wird. Auf dasselbe Prinzip wird hingewiesen, wenn die Farben der Tiere mit denen ihrer Habitate kontrastiert werden: die Vögel „opposent l'eclat de leurs couleurs ä la verdure des arbres rembrunie par le soleil", die Affen „se detachent par leur poil gris et verdätre, et leur face toute noire" vom dunklen Grün des Geästs.31 Bernardins Beschreibungen von Naturszenen sind entgegen ihrem ausgestellten mimetischen Anspruch nicht Abbilder natürlicher, sondern Ausdruck einer textuellen Ordnung. Sie strukturieren die Kontingenz des natürlichen Geschehens, als dessen Abbild sie auftreten, durch Herstellung von Beziehungen, Etablierung von Hierarchien oder durch Benennung von Determinanten für Zustandsänderungen. Auf diese Weise versuchen sie einen Sinnzusammenhang zwischen den evozierten Phänomenen zu schaffen, den die Nomenklaturen als Beschreibungsmodus nicht liefern können.32 Die Sinnkonstitution entfaltet sich zum einen in apologetischer Absicht als Verweis auf den transzendenten Grund der natürlichen Ordnung. In diesem Zusammenhang spielt die ästhetische Di31 Die Kategorien, „loix de la nature" genannt, werden in Etude X entwickelt Zu den „contrastes": Ε X, 234-237. 32 Bernardins Naturbeschreibungen rücken damit insofern in den thematischen Rahmen dieses Bandes, als sie ein sprachlich-literarisches Verfahren der Sinnkonstitution darstellen.
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mension der Tableaus Bernardins eine zentrale Rolle.33 Auf einer weiteren Ebene erfolgt die Schaffung eines Bedeutungszusammenhanges in Form einer Bestimmung von Funktionen, die Naturelemente in einem Gesamtgefüge, einem Einzelorganismus oder einem Biotop haben. Die sich abzeichnende Schnittmenge zwischen der finalistischen Naturphilosophie Bernardins und den Versuchen von Naturalisten wie Buffon, natürliche Vorgänge als organische Prozesse zu denken, umfasst damit insbesondere Überschneidungen bei der Suche nach adäquaten Artikulationsformen.
Das Tableau im literarischen und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext Buffon unterzieht im „Premier discours" der Histoire naturelle (1749) die Nomenklatur als Form der Naturbeschreibung einer radikalen Kritik und greift in diesem Zusammenhang Linne als deren Vertreter an. Er wirft ihr vor, das Ganze anhand eines einzelnen Teiles beurteilen zu wollen und Merkmalsgruppen zu schaffen, die ohne Verbindung zueinander seien. Ein richtiges Begreifen der Natur könne dagegen nur erfolgen, wenn man alle Teile einer Pflanze oder eines Tieres in die Betrachtung einbeziehe und sie zum Kontext ihres natürlichen Vorkommens in Beziehung setze.34 Für Buffon ist die Erfassung der funktionalen Interaktion einzelner Naturelemente, sei es einer Pflanze oder eines Tiers, sei es in einer als gigantischer Organismus verstandenen Natur, an Beschreibungsformen gebunden, die den von Bernardin gewählten ähneln. Er fordert eine vom Modus der Nomenklatur differierende, „vollständige" Beschreibung der Natur: „Aussi les methodes de nomenclature, et les definitions qu'elles renferment, ne sont que des esquisses tres-imparfaites du tableau de la Nature, qui ne peut etre exprime que par des descriptions completes."35 Mit der Thematisierung funktionaler Interaktionen greift die Artikulationsform des Tableaus einen Aspekt auf, der im Diskurs um die Herausbildung einer Wissenschaft vom Lebendigen eine zentrale Rolle spielte. Bei der Entwicklung dieser Wissenschaft war sie auch insofern relevant, als sie aufgrund ihrer semiotischen Strukturen vitalistischen Naturkonzeptionen Ausdruck verleihen konnte. Für die Vitalisten waren die Lebenskräfte etwas Unsichtbares, nicht Greifbares, das lediglich durch Signaturen auf der Oberfläche der Dinge erkannt werden konnte. Ihr Verständnis war weder durch einfache Beobachtung noch auf dem 33 Die Beschreibung des Alten ist eingebettet in eine Reflexion über das Glück im Schöße der freien Natur und, aufgrund dieser Nähe, die mögliche Erkenntnis Gottes in ihn „par le spectacle des harmonies actuelles de la nature, je m'eleve vers son auteur". Folglich ist eine Aufgabe der wiedergegebenen Passage in der Logik der Erzählung des Alten, die gottliche Harmonie des Universums durch Schilderung der ästhetisch erfahrbaren convenances nachzuweisen. 34 Vgl. Georges-Louis Ledere, comte de Buffon, Histoire naturelle, generale etpartimliere, Bd. 1, Paris 1749, 9, 20-23, und Bd. 4,115-116. 35 Ebd.
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Weg formaler Logik zu erlangen, sondern konnte als universelles Prinzip nur über „intuition" oder, wie es in der deutschen Terminologie häufig heißt, durch „Anschauung" begriffen werden.36 So unterscheidet Buffon in der Histoire naturelle zwei untrennbar miteinander verwobene Formen der Naturbetrachtung, die Detail- und die Gesamtschau, zu deren Umsetzung es beim Betrachter der jeweils entsprechenden mentalen Prädisposition bedarf. Bei der Gesamtschau handele es sich um ein intuitives Erfassen verborgener Zusammenhänge des Ganzen vermittels eines „coup d'ceil".37 Auch der Mediziner und Philosoph PierreJean-Georges Cabanis greift in seinen Exkursen zur Geschichte der Medizin auf den Begriff des „coup d'ceil" zurück, um eine Grunddisposition beim Betrachter als Voraussetzung zur Erfassung des Naturganzen zu beschreiben. Cabanis verweist bezeichnenderweise auf den Vitalisten Georg Ernst Stahl, der aufgrund dieser Fähigkeit, gekoppelt mit der Gabe zur minutiösen Beobachtung der Details, zu seinen epochalen Einsichten habe kommen können.38 Die Kategorie des „coup d'ceil" erscheint in den Diskussionen zunächst an die Begabung des Betrachters gebunden. Es besteht eine Schnittmenge zwischen der Fähigkeit des Individuums zur Gesamtschau der Natur und einer „Ästhetik der Intuition", die in der Nachfolge Shaftesburys neben Vernunft und Erfahrung einen intuitiven Verstand setzt, der allein den Künstler verborgene Zusammenhänge des Universums erfassen lässt.39 Wahre Naturerkenntnis bedürfe des Genies genauso wie das echte künstlerische Begreifen der Welt. Auch die Rede vom intuitiven Erfassen verborgener Zusammenhänge wirft die Frage nach der Vermittlungsform auf. In diesem Kontext ist das Tableau, das den Zusammenhang der Naturerscheinungen über die Beschreibung ästhetischer Aspekte konstruiert, als Ausdrucksform lesbar, die einem intuitiv zu erfassenden Naturganzen gerecht
36 Eine Zusammenfassung der vitalistischen Zeichenlehre findet sich bei Peter Hanns Reill, The Legaey of the (Scientific Revolution}: Science and the Enlightenment, in: Roy Porter (Hg.), The Cambridge History of Science. Vol. 4: Eighteenth-Century Science, Cambridge 2003, 23—43, hier 38—39. Nach Michel Foucault ist die von ihm sog. Episteme der Repräsentation bzw. der Klassik, die er für die Zeit von ca. 1650 bis ca. 1800 ansetzt, im Veigleich zur vorangehenden Episteme der Ähnlichkeiten in semiotischer Hinsicht durch die Annahme absoluter Transparenz und Klarheit der analogischen Relationen zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem charakterisiert. Die Semiotik der Vitalisten funktioniert damit, folgt man Foucault in seiner Bestimmung, in einer der vorklassischen Episteme vergleichbaren Weise. Albrecht Koschorke hat in einer Studie zum Wandel sinnesphysiologischer Erklärungen von Kognitionsprozessen im 18. Jahrhundert mit Blick auf den Wandel epistemologischer Grundparadigmen darauf hingewiesen, dass die „früheren Ähnlichkeiten nicht einfach an den Bruchrändern der Episteme" verschwinden, sondern „sozusagen als subkultureller Fundus in die ihnen nachfolgenden semiotischen Ordnungen" eingehen, Albrecht Koschorke, Wissenschiften des Arbiträren. Die Revolutionierung der Sinnesphysiologie und die Entstehung der modernen Hermeneutik um 1800, in: Joseph Vogl (Hg.), Voetologen des Wissens um 1800, München 1999, 19-52, hier 42. Möglicherweise handelt es sich bei den Zeichenlehren der Vitalisten um einen solchen Fundus. 37 Buffon, Histoire (wie Anm. 34), 4: „[...] l'amour de l'etude de la Nature suppose dans l'esprit deux qualites qui paroissent opposees, les grandes vues d'un genie ardent qui embrasse tout d'un coup d'ceil, et les petites attentions d'un instinct laborieux qui ne s'attache qu'ä un seul point." 38 Pierre-Jean-Georges Cabanis, Coup d'ail sur les Revolutions et sur la Reforme de la Mededne, Paris 1804,146. 39 Vgl. zu Shaftesbury und dem Begriff „Ästhetik der Intuition" Ernst Cassirer, Die Philosophie der Alfklärung (1932), Hamburg 1998,424-426.
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wird.40 Für Bernardin präsentieren sich die Naturerscheinungen als ein ästhetisch erfahrbares, harmonisches Zusammenspiel von Formen, Farben, Bewegungen, Gerüchen und Tönen, das er mit Kategorien wie Kontrast, Parallele oder Serie zu erfassen versucht. Die hierüber generierte Empfindung führt zur Erkenntnis der universellen Ordnung.41 Auf die Bedeutung des ästhetischen Moments verweist auch der Vergleich mit Bildern, den Bernardin immer wieder bemüht: Cette maniere de decrire la nature par des images et des sensations communes, est meprisee de nos savans; mais je la regarde comme la seule qui puisse faire des tableaux ressemblans, et comme le vrai caractere du genie. Quand on l'a, on peut peindre tous les objets naturels, et se passer de methodes; et quand on ne l'a pas, on ne fait que des phrases. (Ε XI, 359)
Bei der Ausschreitung der Kontexte, in denen Bernardins Tableaus ihre Bedeutungsdimensionen entwickeln, wäre schließlich auch auf Alexander von Humboldt zu verweisen. Humboldt versucht in seinen Forschungen empirisches Wissen, das aus genauer Beobachtung von Details gewonnen ist, mit einer synthetisierenden Gesamtschau auf die Natur zu verbinden. Der Vermittlungsform einer solchen Schau, die für ihn das eigentliche Ziel der Naturforschung ist, gibt er verschiedene Namen: „Naturgemälde", „tableau physique", „physische Weltbeschreibung" oder ganz global „Kosmos" 42 Nicht unbedeutend erscheint in diesem Zusammenhang, dass Humboldt unter den Vorbildern für seine Naturgemälde auch auf die Beschreibungen von Bernardin de Saint-Pierre verweist.43
40 Vgl. zur Verbindung von ästhetischer Erfahrung und Intuition auch Kant, der mit Blick auf Formen der sprachlichen Darstellung von Sachverhalten unterscheidet zwischen „diskursive (logische) Deutlichkeit, durch Begriffe" und „intuitive (ästhetische) Deutlichkeit, durch Anschauungen". Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, nach der ersten und zweite Originalausgabe, hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1993,11. 41 In Etude X, De quelques loix generates de la nature, et premierement des loix physiques und Etude XI, Application de quelques loix generates de la nature auxplantes versucht Bernardin eine Systematisierung der ästhetischen Kategorien. Er klassifiziert sie als „loix de la nature". Die Bedeutung des „sentiment" in den Etudes kommentiert Annie Becq, Genese de l'esthetique franfaise moderne 1680-1840, Paris 1994, 578 folgendermaßen: „Bernardin de Saint-Pierre designe par sentiment la perception humaine de l'Ordre universel et lui attribue, de preference ä la raison qui ne sait que montrer les cbalnons des harmonies naturelles, le sens de leur auteur invisible." 42 Der programmatischen Ausgestaltung des Begriffes „Naturgemälde" ist ein gleichnamiges Kapitel in Kosmos gewidmit (Alexander v. Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, 1845-1862, hg. v. Ottmar Ette u. Oliver Lubrich, Frankfurt a. M. 2004, 38-188). Vgl. zum Gegensatz von empirischer Detailforschung und holistischer Anschauung in der Wissenschaftskonzeption Alexander v. Humboldts und den hieraus erwachsenden Aporien Hartmut Böhme, Ästhetische Wissenschaft. Aporien der Forschung im Werk Alexander von Humboldts, in: Ottmar Ette, Ute Hermanns, Bernd M. Scherer, Christian Suckow (Hg.), Alexander von Humboldt - Aufbruch in die Moderne, Berlin 2001,17-32. 43 „Er wußte die Natur darzustellen", urteilt Humboldt in seiner Reise in die Aquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents über Bernardin, „nicht weil er sie als Forscher kannte, sondern weil er für all ihre harmonischen Verhältnisse in Gestaltung, Farbe und inneren Kräften ein tiefes Gefühl besaß" (Alexander v. Humboldt, Reise in die Aquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents, 1805—1834, hg. v. Ottmar Ette, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1991, 911). In Kosmos formuliert er seine Einschätzung zur Bedeutung der Etudes für die Geschichte der Naturerkenntnis noch deutlicher. Sie würden „leider durch abenteuerliche Theorien und physikalische Irrtümer verunstaltet", jedoch seien „der Anblick des Meeres, die Gruppierung der Wolken, das Rauschen der Lüfte in den Bambus-Gebüschen, das Wogen der hohen Palmengipfel mit unnachahmlicher Wahrheit geschildert", Humboldt, Kosmos (wie Anm. 42), 221.
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Das beschreibende, literarische Tableau, wie es bei Bernardin, bei Humboldt und einer Reihe anderer Autoren, wie etwa Sebastien Mercier ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zu finden ist, erweist sich in Form und Intention als das genaue Gegenteil einer anderen Art des Tableaus, das in der Wissensordnung des 17. und 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte. Es handelt sich um tabellarische und schematische Übersichten bzw. Zusammenstellungen mit der Aufgabe, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu registrieren, zu komprimieren und zu ordnen. Der Begriff kann Tabelle, Liste, Verzeichnis bedeuten. Gemeinsamer Nenner ist die Idee einer systematisch gegliederten Übersicht. Exemplarisch für diese Form der Wissensaufbereitung sind die taxonomischen Tableaus Carl von Linnes. Auf der Basis einer universellen mathesis wird die Wissensordnung auf die sichtbaren Differenzen der Phänomene gestützt. Das taxonomische Tableau bildet in diesem Sinne die histoire naturelle als statisches, historisch unveränderliches, räumliches Nebeneinander der Dinge ab.44 Das literarische Tableau speist sich dagegen zunächst aus einer anderen Tradition, aus der des Tableaus im Sinne einer „künstlerischen Kompositionsfigur". Dieser Gebrauch des Begriffs ist seit dem Mittelalter dokumentiert. Das literarische Tableau trägt auch Züge des taxonomischen Tableaus und versucht beide Formen — Taxonomie und künstlerische Komposition - miteinander zu verbinden.45 Während es im Anschluss an letzteres die empirische Fülle von Erscheinungen in einem bestimmten Bereich registrieren und komprimieren will, orientiert es sich, was die Ordnung der Gegenstände betrifft, am künstlerischen bzw. dramatischen Tableau. Dessen Fähigkeit, die dargestellten Einzelgegenstände zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, soll in den sequentiellen Darstellungsmodus des Sprachlichen übertragen werden. Damit erhält der Begriff „literarisches Tableau" eine Bedeutung, die über das Unspezifische des „Bildes" hinausgeht. Durch seine „Organisationskraft" setzt es „Menschen, Dinge und umweltlichen Raum in ein scheinbar naturnahes, zugleich aber bedeutungsmächtiges Beziehungsgefüge".46 Mit den literarischen Tabelaus entsteht in dem hier untersuchten Zeitraum eine neue Form, die sich gegenüber dem traditionell in der Wissenschaft verwandten taxonomischen Tableau dadurch auszeichnet, dass sie nicht „feststehende Ordnungsgefüge, sondern prozesshafte und interdependente Abhängigkeiten darstellen will". Ihrem Ziel, Veränderungsprozesse und dynamische Beziehungen darzustellen, kommt besonders die Sequenzialität des Textmediums entgegen 47 Das literarische Tableau erscheint damit nicht als Ausbreitung von Erkenntnissen in einem zeitindifferenten System, d. h. als Tableau wie
44 Vgl. zur Charakterisierung des taxonomischen Tableaus die einschlägigen Passagen bei Michel Foucault, Les mots et les choses. Utie archeologie des sciences humaines, Paris 1966, 88-91. 45 Vgl. zur Genese des literarischen Tableaus die umfangreiche Studie von Annette Graczyk, Das literarische Tableau fischen Kunst und Wissenschaft, München 2004,11—22. « E b d . , 17. 47 Ebd., 20.
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es im Zentrum der klassischen Episteme stand,48 sondern als dessen Überschreitung und Kritik. Die Unmöglichkeit, die intuitive Gesamtschau und die mit ihr verbundenen Darstellungsformen für die Naturwissenschaft des 21. Jahrhunderts operabel zu machen, sollte nicht den Blick auf die wissensgeschichtliche Funktion dieser Ausdruckformen verstellen. Sie trugen dazu bei, dass mechanische Modelle der Naturerklärung teils aufgegeben, teils differenziert wurden und schufen damit die Voraussetzungen für die neue Wissenschaft vom Leben. Als Beleg für diesen Zusammenhang mag ein Brief von 1788 dienen, in dem Georges Cuvier, der Begründer der vergleichenden Anatomie und Repräsentant der neuen Wissenschaft vom Leben, Christoph Heinrich Pfaff die Lektüre der Etudes de la nature empfiehlt. Cuvier schließt seine Kritik der taxonomischen Systeme, von denen er seine eigene Suche nach den Lebensfunktionen in einem veränderlichen Beziehungsgeflecht von Organen abgrenzt, mit den Worten: „Les Etudes de la nature de Bernardin de Saint-Pierre, que je te conseille d'acheter dans la succession d'Uriot, repondent jusqu'ä un certain point ä mes idees; mais l'auteur avait trop peu de connaissances, ce qui le fait tomber dans une foule de theories absurdes."49 Versucht man Bernardins Wissenschaftskritik und Deskriptionsmethode wissensgeschichtlich einzuordnen, erscheinen sie auch als Indikator für eine Veränderung im Verhältnis von Naturwissen und Literatur. Chateaubriand wird diese Verschiebung der Geltungsbereiche von Literatur und Naturwissenschaft zwanzig Jahre nach den Etudes in Le Genie du Christianisme zum Ausdruck bringen: im Gegensatz zu den „sciences exactes" habe die Literatur bei der Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur die Aufgabe der kulturellen und moralischen Orientierung, da es ihr allein zukomme, durch Aufzeigen von Kohärenz Sinn zu stiften.50 Die Etudes Bernardins, der nicht zufällig großen Einfluss auf Chateaubriand ausübte, stehen für diese Neuordnung des Verhältnisses von Naturwissen und Literatur. In bestimmter Hinsicht wird der literarische Ausdruck zu einer Artikulationsform, die dem wissenschaftlichen Wissen nicht affin ist, sondern als Ergänzung zu ihm erscheint. Auf einer anderen Ebene jedoch konvergiert er mit diesem. Er erscheint, wie die vorangehenden Ausführungen zeigen sollten, als Medium, in dem sich das Einzigartige des Lebens artikulieren kann und trägt insofern zu einer Hinterfragung der Universalität des mechanischen Systems bei. Diese wiederum war eine Voraussetzung für die Entwicklung der modernen Biowissenschaften. Dass Bernardins Überlegungen auch darüber hinaus ein Fortleben Vgl. zu dieser Definition der Repräsentation des Tableaus Foucault, Mots (wie Anm. 44), 89. Georges Cuvier, Brief vom 17. November 1788 an Christoph Heinrich Pfaff, i n : Lettns de Georges Cuvier ä C. M. P f a f f sur l'bistoire naturelle, la politique et la litterature 1788—1792, traduites de l'allemand par Louis Marchant, docteur en mediane, Paris 1858, 73. Das Urteil Cuviers spiegelt auch in den Einschränkungen, die es zur Bedeutung von Bernardins Ideen vornimmt, paradigmatisch den zeitgenössischen Umgang mit Bernardin. 50 Francis Rene de Chateaubriand, Le Genie du Christianisme (1802), hg. v. Pierre Reboul, 2 Bde., Paris 1966, Bd. 1 , 4 0 9 ^ 1 9 . 48
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beschieden ist, zeigt sich in den Entwicklungslinien, die man von seiner Philosophie der rapports über Humboldts Geographie der Pflanzen bis zur modernen Geobotanik und zum ökologischen Denken ziehen kann. Der Mediziner und Zoologe Louis Roule, Professor für Ichthyologie am Museum National d'Histoire naturelle bezeichnete Bernardin 1930 als „chercheur passionne des manifestations variees de toute action vitale" und beurteilte seine Bedeutung für die Geschichte der „nature vivante" folgendermaßen: II a invoque l'accord indispensable, et l'existence necessaire, d'une « harmonie » liant entre eux tous les organes, puisqu'ils concourent ä une meme fin, la conservation et la vie de l'individu. II a pressend la correlation organique, telle que Cuvier l'a fondee, et l'interdependance mutuelle des parties chez tout ce qui vit. Un siecle plus tard, Claude Bernard s'inspirera d'une pensee identique, quand il admettra la presence, dans les corps organises, d'une « finalite harmonique et preetablie dont toutes les actions partielles seraient solidaires et generatrices les unes des autres ».51
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Roule, bernardin (wie Anm. 16), 137,143.
YANN LAFON
Die dialogische Transzendierung materialistischer Erkenntnistheorie in Diderots Reve de d'Alembert Der Dialog Le Reve de d'Alembert ist eine thesenartigen Zusammenfassung von Diderots jahrelanger Beschäftigung mit Naturforschung und Naturbetrachtung. 1 Die drei aufeinander folgenden fiktionalen Dialogsequenzen setzen sich kritisch mit der materialistischen Naturanschauung der Aufklärung auseinander. 2 Im Folgenden werde ich die Darstellung der materialistischen Hypothesen und deren erkenntnistheoretische Zuspitzung in diesem Dialog nachzeichnen und zeigen, vermittels welcher fiktionaler Strategien der Materialismus und seine erkenntnistheoretischen Konsequenzen kritisch hinterfragt werden. 3 Der Materialismus des 18. Jahrhunderts ist das Resultat einer epochalen Ablösungsbewegung vom cartesianischen Rationalismus, den d'Alembert als „systeme des idees innees" bezeichnet hat.4 Die materialistische Erkenntnistheorie erklärt die Ideengenese rein immanent. Grundlage des Erkenntnisprozesses ist auch im EJve de d'Alembert allein die empfindsame Materie. Deren evolutionäre Transformationen zu einer Organisations form, die sinnliche Wahrnehmung ermöglicht und damit die Voraussetzung für Erkenntnis schafft, werden zwar als faktisch gegeben hingestellt.5 Die Problematisierung dieser Erkenntnistheorie impliziert aber, wie gezeigt werden soll, dass der rein immanente Materialismus erkenntnistheoretische Defizite aufweist. Darüber hinaus soll deutlich werden, dass der Reve de d'Alembert eine neue Form der Transzendenz einführt und es dem Leser überlässt, diese Transzendenz mit den materialistischen Grundlagenhypothesen in Einklang zu bringen. Unter Transzendenz verstehe ich eine von jeglicher Erfahrung losgelöste, apriorische Erkenntnis, wie etwa die der Einbildungskraft. Dass
1 Diderots 1753 veröffentlichte Pensees sur Interpretation de la nature und der 1769 entstandene he Reve de d'Alembert geben einen Eindruck von dem hier gemeinten zeitlichen Rahmen. 2 Im Gegensatz zu der in der älteren Literatur vertretenen Meinung, Diderot habe im Verlauf seines Schaffens verschiedene naturphilosophische Positionen vertreten, verweist Ursula Winter auf die Konstanz seines Materialismus, Ursula Winter, Der Materialismus bei Diderot, Genf 1972. Wilda Anderson geht soweit, allen Texten Diderots eine materialistische Dynamik zuzuschreiben, wobei sie darin das kohärenzstiftende Element seines Werkes sieht, Wilda Anderson, Diderot's Dream, London 1990,2. 3 Gerhard Stenger hebt in seiner vornehmlich dem Reve de d'Alembert gewidmeten Studie Diderots Kritik am Materialismus hervor und bezieht sich dabei insbesondere auf seine Kritik an La Mettrie und d'Helvetius, Gerard Stenger, Nature et liberie che^ Diderot apres L'Encyclopedie, Paris 1994,151-178. 4 Vgl. D'Alembert, Discours preHminaire de l'Encyclopedie, hg. v. F. Picavet, Paris 1894,13-14. 5 Hier sei auf Beatrice Didier verwiesen, die im Reue de d'Alembert verarbeitete Theoreme in den Kontext zeitgenössischer Theorien gestellt hat, Beatrice Didier, Diderot dramaturge du nvant, Paris 2001, 131-136.
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es sich bei der Imagination, die im Text eine Sonderstellung einnimmt, um ein apriorisches Erkenntnisvermögen handelt, ist in der fiktionalen Veranschaulichung implizit angelegt.6 Abschließend wird erörtert, warum Diderot diese Positionen in der Form der Fiktion präsentiert.
1. Der Repe de d'Alembert als fiktionaler Rahmen
einer Erkenntnistheorie Bevor ich auf die die erkenntnistheoretischen Implikationen von Diderots materialistischen Hypothesen eingehe, soll der fiktionale Rahmen vorgestellt werden, in dem diese Theoriebildung stattfindet. Als erstes fallt auf, dass die medias in resTechnik des Dialoganfangs den Leser des ersten Dialogteils sogleich mitten in ein Gespräch zwischen Diderot und d'Alembert eintauchen lässt, das die Gretchenfrage materialistischer Theorie stellt Ist Materie empfindsam? Auch der Titel dieses ersten Teiles, ha suite d'un entretien entre M. d'Alembert et M. Diderot, und nicht zuletzt die Namen der Protagonisten selbst erwecken den Eindruck, es handle sich hierbei um die Wiedergabe eines Gesprächs, das tatsächlich zwischen den Herausgebern der Encyclopedic stattgefunden hat. Dass fiktionale Literatur im Allgemeinen nicht das ist, was sie zu sein vorgibt, trifft auch auf den Dialog Le Keve de d'Alembert zu. Allerdings lässt sich die Fiktionalität7 des Textes nicht ohne weiteres erkennen. Aus formaler Sicht ist streng genommen aber bereits die medias in w-Technik als Fiktionssignal interpretierbar, das einerseits eine Wirklichkeitsillusion erzeugt und andererseits als Illusionskonvention der Tragödie und Komödie des 17. Jahrhunderts erkennbar ist, sodass der Text als ein grundsätzlich mit fiktionalen Strategien operierender ausgewiesen wird. Darüber hinaus lassen sich sämtliche e f f e t s de reels, wie ein „natürlicher Ton, die Beweglichkeit und die wechselnden Tempi, das Alternieren von knappen Wendungen und langen Ausführungen, rasche Folgen von Fragen und Antworten, 6 Elisabeth Potulicki geht auf Diderots Nähe zu Kant ein. Wie er habe Diderot Wechselwirkung von apriorischen Verstandesleistungen und Erfahrung reflektiert, Elisabeth Potulicki, ha modemite de la pensee de Diderot dans les otuvres philosophiques, Paris 1980, 75-95; auch Paolo Quintiii schlägt vor, den Kantianischen Transzendenzbegriff auf Diderots Konzept des biologischen Individuums zu übertragen, Paolo Quintiii, ha pensee critique de Diderot. Materialisme, science etpoesie ä l'äge de l'Encydopedte 1742-1782, Paris 2001,1-24. 7 Nach der hier verwandten Definition des Begriffs weisen fiktionale Texte eine Als-ob-Struktur auf. Darunter ist zu verstehen, dass fiktionale Texte durch gezielte Referenzbezüge eine Wirklichkeitsillusion erzeugen. Andererseits lassen sie aber auch durchscheinen, dass sie eine Referenzillusion oder vielmehr eine Scheinwirklichkeit konstruieren und insofern eine eigene Art des Umgangs mit der Wirklichkeit für sich in Anspruch nehmen. Die hier beschriebene Als-ob-Struktur ist als historisch unveränderliches Fiktionsmerkmal zu begreifen. Im Einzelnen hebt der fiktionale Text die beiden genannten Facetten der Als-ob-Struktur durch die Verwendung von historisch variablen Fiktionssignalen hervor. Dementsprechend gibt es zwei Arten von Fiktionssignalen: Signale, die als literarische Strategien zur Erzeugung einer Wirklichkeitsillusion und solche, die als Strategien der Illusionsdurchbrechung zu begreifen sind, vgl. Klaus W. Hempfer, Die Poetik des Dialogs im Cinquecento und die neuere Dialogtheorie: Zum historischen Fundament aktueller Theorie, in: Ders. (Hg.), Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis, Stuttgart 2004, 66—96.
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Rede und Gegenrede" als konventdonalisierte Elemente des fiktionalen Dialogs interpretieren.8 Gemeint ist in diesem Zusammenhang die Mündlichkeitsfiktion. Darunter ist zu verstehen, dass ein Text beispielsweise unter dem Einsatz der soeben genannten e f f e t s de reel die Illusion eines unmittelbaren mündlichen Gesprächs erweckt. Es handelt sich bei dieser Fiktionsform um eine auf Piaton zurückgehende Gattungskonvention, die auch in Renaissance-Dialogen weit verbreitet war.9 Ebenso ist die Bevölkerung der Gesprächswelt mit „empirisch referenzialisierbaren" Individuen,10 die als namhafte Zeitgenossen bekannt sind, eine auf die platonischen Philosophengespräche zurückgehende Gattungskonvention. Als Beleg für Diderots bewusste Bezugnahme auf diese antike Dialogtradition führt Pujol an, dass der Autor zunächst einen in die Antike verlegten Totendialog vorgesehen hatte, der den Titel Reve de Democrite tragen sollte.11 Es bedarf allerdings weder besonderer Kenntnisse des Referenzkontextes noch eines besonderen Wissens um die Gattungskonventionen des Dialogs, um den Reve de d'Akmbert spätestens im gleichnamigen zweiten Teil als fiktionalen Dialog zu erkennen, der mit seinem Authentizitätsanspruch spielt. Denn dem Mittelteil, der d'Alemberts Traum zum Gegenstand hat, ist komödiantisches Potential zu eigen.12 Die durch die spärliche Handlung vermittelte Komik besteht vor allem in dem Aus-der-Rolle-Fallen d'Alemberts - einem binnenstrukturellen Rollenbruch, der sich zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Reve de d'Alembert vollzieht: Während d'Alembert im ersten Teil im Gespräch mit Diderot durch seine von skeptischer Vernunft geprägten Redebeiträge charakterisiert wird, vermittelt er im zweiten Teil den Eindruck eines bemitleidenswerten Träumers, der unter Wahnzuständen leidet.13 Da der Arzt Bordeu zunächst mutmaßt, der Mathematiker d'Alembert würde auch im Traum14 seiner lebensweltlichen Rolle entsprechend von mathematischen Überlegungen („geometrie") heimgesucht, belehrt ihn Mile de l'Espinasse eines Besseren: Der Träumer ist in ihren Augen verrückt geworden. Aber damit nicht genug, denn der Rollenwechsel d'Alemberts beruht nicht auf einer vordergründigen Statuskomik, wie es der komisch anmutende Fall d'Alemberts zunächst nahelegt, sondern viel weitgehender auf einer Ironisierung der Haltungen der historischen Person d'Alembert. Das ist so zu verstehen, dass sich sämtliche Herbert Dieckmann, Die künstlerische Form des Reve de d'Alembert, Köln 1966,17. Vgl. Stephane Pujol, h£ dialogue des idees au dix-huitieme steck, Oxford 2005, 37; Hempfer, Die Poetik des Dialogs (wie Anm. 7), 81. 10 Vgl. Bernd Häsner, Der Dialog: Strukturelemente einer Gattung %wischen Fiktion und Theoriebildung, in: Klaus W. Hempfer (Hg.), Poetik des Dialogs, Stuttgart 2004,48. 11 Vgl. Pujol, Le dialogue des idees (wie Anm. 9), 24. 12 Auch die Komik ist eine seit der Antike verbreitete Spielart und somit eine Gattungskonvention desfiktionalenDialogs. „In der Geschichte der Gattung stehen dafür beispielhaft die parodistischen und satirischen Dialoge Lukians." Häsner, Der Dialog (wie Anm. 10), 38. 13 Diderot, Le Reve de d'Alembert, in: Ders., (Eums completes, Bd. 17, hg. v. Herbert Dieckmann, J. Proust u. J. Varloot, Paris 1987,116. 14 D'Alembert träumt in der Nacht nach seinem Gespräch mit Diderot laut vernehmbar im Fieberwahn. Dem Leser zur Kenntnis gebracht werden seine Träume durch die Vermittlung von Mile de l'Epinasse, die sie besorgt mitschreibt, um sie am Morgen dem Arzt Bordeu mitzuteilen. 8
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Trauminhalte d'Alemberts aus der Sicht des Arztes, des passionierten Physiologen und Naturforschers Bordeu anders als es die Mutmaßung von Mile de l'Espinasse nahelegt als äußerst kohärent und sinnvoll erweisen. Bordeu geht soweit, d'Alemberts Träume mit seinen naturphilosophischen Anschauungen zu identifizieren und ihnen dadurch ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und Vernunft zuzuschreiben.15 Damit aber stehen die Trauminhalte d'Alemberts teilweise in komischem Widerspruch zu den Anschauungen der historischen Person d'Alembert, die keinesfalls vorbehaltlos mit den naturphilosophischen Vorstellungen der träumenden Textfigur übereinstimmen. Diese Diskrepanz wird auch vom Text selbst widergespiegelt, da d'Alemberts Aussagen aus dem ersten Textteil durchaus mit den Ansichten der historischen Person in Einklang zu bringen sind.16 Insoweit setzt der Repe de d'Alembert referentielle Kenntnisse über die historische Person d'Alembert voraus, obschon auch ohne dieses Wissen die Diskrepanz der Standpunkte des träumenden und des im Gespräch mit Diderot befindlichen d'Alembert deutlich wird. In Bezug auf die Qualität der Fiktion lässt sich damit bereits eine erste Aussage treffen: Durch die Verwendung dialogspezifischer Gattungskonventionen wird im Text eine Authentizitätsillusion erweckt, die darauf abzielt, an historische Personen der Aufklärungsbewegung rückgebunden möglichst wirklichkeitsgetreu zentrale Themen und Theoreme des Aufklärungsdiskurses vorzustellen. Andererseits führt der Text insbesondere mittels illusionsstörender Fiktionssignale der Komödientradition vor, dass hier eine die aufgerufene Referenzsituation überschreitende Wirklichkeitsmodellierung bzw. Theoriebildung vorgenommen wird, wenn die historischen Ansichten d'Alemberts gezielt durch komödiantische Fiktionsstrategien ironisiert werden. Im Folgenden soll besagte fiktionsvermittelte Theoriebildung im Spannungsfeld von historisch referenzialisierbaren Fakten und sie transzendierender fiktionaler Modellierung im Detail vorgestellt werden. Dabei werde ich bei den einzelnen Analyseschritten zeigen, welche Funktion der fiktionalen Ästhetisierung einer faktual stets dem Aufklärungsdiskurs zuzuordnenden Thematik zukommt. Mit anderen Worten, es soll hier vorgeführt werden, warum die im fiktionalen Gespräch zwischen Diderot und d'Alembert verhandelten Themen des Aufklärungsdiskurses und insbesondere die Gretchenfrage materialistischer Weltanschauung - ist Materie grundsätzlich empfindsam? - nicht in Form eines Traktates behandelt werden bzw. warum sie dramatisiert sind, und welche Funktion den Traumsequenzen und ihren metaphorisch angereicherten Kommentaren zukommt. Dieser Fragestellung werde ich im Rahmen der Vorstellung der Textstruktur nachgehen, um so zugleich die Komposition des Reve de d'Alembert zu veranschaulichen. 15 „Mlle de l'Espinasse: „[...] Je puis done assurer a present ä toute la terre qu'il n'y a aucune difference entre un medecin qui veiile et un philosophe qui reve." Bordeu: „On s'en doutait. Est-ce tout lä?" Ebd., 122. 16 Vgl. Dieckmann, Die künstlerische Form (wie Anm. 8), 19.
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Deshalb möchte ich hier die These formulieren, dass im BJve de d'Alembert mittels seiner dreigliedrigen Kompositionsstruktur komplexe Themen des Aufklärungsdiskurses kondensiert vorgestellt werden, um sie im exploratorischen Rahmen der Fiktion über die Grenzen des faktisch Belegbaren hinauszufuhren, ohne dabei die Haltung skeptischer Distanziertheit aufzugeben. Auch in diesem Text Diderots wird skeptische Distanz dadurch zum Ausdruck gebracht, dass den Aussagen einzelner Protagonisten grundsätzlich keine letztgültige Richtigkeit zugebilligt wird. Aus diesem Grund wird jede von einer Figur vertretene komplexere Anschauung auf die eine oder andere Weise ironisiert, wobei ihr ein ausschließlicher Geltungsanspruch verweigert wird.17 Bliebe es bei dieser Entwertungsstrategie, wäre ein heilloses Durcheinander zu befürchten, doch gibt es im Text einige Hinweise, die es dem Leser ermöglichen, die einzelnen Anschauungen in eine gewisse Ordnung zu bringen. Allerdings werden auch bei dieser Ordnung letzte Widersprüche nicht aufgehoben oder endgültig erklärt, sondern in einen für Ergänzungen offenen systematischen Rahmen gestellt.
2. La suite d'un entfetten entre M. d'Alembert et M. Diderot 1. Matenalistische Hypothesen Die grundlegende materialistische Hypothese, die bereits in den einleitenden Sätzen des dreiteiligen BJve de d'Alembert in den Raum gestellt wird, ist weltanschaulich von zentraler Bedeutung, da sie die Einheit von Materie und Empfindsamkeit/,.sensibilite" voraussetzt. Das monistische Konzept einer empfindsamen, belebten Materie ist vor dem Hintergrund der cartesianischen Vorstellung einer von der Materie unabhängigen immateriellen Seelensubstanz zu sehen und steht ihr diametral gegenüber. Dementsprechend gründet das dualistische Konzept auf der Unabhängigkeit einer rein vegetativ gedachten Materie von einer apriorisch mit Ideen aufgeladenen Seele, die letztinstanzlich mit göttlichem Wissen beseelt ist. Ihren Platz hat diese Seele trotz ihrer Immaterialität im Körper, weil sie diesen bewegt. Der Figur d'Alembert ist es im Text vorbehalten, diesem dualistischen Konzept das von der Figur Diderot eingebrachte monistische Materialismuskonzept gegenüberzustellen: J'avoue qu'un etre qui existe quelque part et qui ne correspond ä aucun point de l'espace; un etre qui est inetendu et qui occupe de l'etendue; qui est tout entier sous chaque partie de cette etendue; qui differe essentiellement de la matiere et qui lui
17 Dadurch unterscheidet sich der BJve de d'Alembert von einem ebenfalls geläufigen Dialogtypus, bei dem eine besonders exponierte Summe die Autorposition darstellt. Da es im Reve de d'Alembert eine Figur Diderot gibt, wird die Erwartung geweckt, dass es sich um einen solchen Dialog handelt. Da diese Erwartung nicht bestätigt wird, gilt gerade fur den BJve de d'Alembert das, was Häsner über die Gattung Dialog sagt: Wie jeder fiktionale Text sei auch der Dialogtext als ,Makroproposition' eines Autors zu betrachten, die „semantisch komplexer ist als jede der in ihr enthaltenen Teilpropositionen". Dem Leser fallt deshalb die „explizite Formulierung" besagter ,Makroproposition' zu, sodass er gleichsam zum Subjekt der Theoriebildung wird, Häsner, Der Dialog (wie Anm. 10), 21.
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est uni, qui la suit, et qui la meut sans se mouvoir, qui agit sur eile et qui en subit toutes les vicissitudes; un etre dont je n'ai pas la moindre idee, un etre d'une nature aussi contradictoire est difficile ä admettre. Mais d'auttes obscurites attendent celui qui le rejette, car enfin cette sensibilite que vous lui substituez, si c'est une qualite generale et essentielle de la matiere il faut que la pierre sente.18
D'Alemberts skeptischer Argumentation ist zweifelsfrei zu entnehmen, dass die Annahme, wonach die Ideen des Geistes unabhängig von der empirischen Welt existieren, obschon sie in unerklärlicher Weise an die materielle Erscheinung des Menschen rückgebunden sind, schlichtweg nicht hinnehmbar ist. Allerdings scheint er auch die von der Figur Diderot eingebrachte These von der generellen Empfindsamkeit der Materie nicht zwingend für die richtige Antwort auf den widersprüchlichen Dualismus zu halten. Aus der Ablehnung des Konzepts eingeborener und somit transzendenter Ideen folgt in der Logik eines monistischen Weltentwurfes die Notwendigkeit, die Ideengenese immanent nachzuvollziehen. Ausgehend von empfindsamer bzw. vitalistischer Materie muss dementsprechend empirisch nachvollziehbar veranschaulicht werden, wie Ideen entstehen. Dass dieser erkenntnistheoretische Entwurf nicht problemlos zu bewältigen ist, ahnt d'Alembert, impliziert er doch letztlich eine Erklärungstheorie der lebendigen Welt. Das ist so zu verstehen: Geht man von der Hypothese der prinzipiellen Empfindsamkeit der Materie aus und setzt man darüber hinaus voraus, dass es irgendwann ein empfindsames Wesen gibt, dann lässt sich auch mutmaßen, wie das fühlende Wesen zu einem denkenden Wesen wird.19 Mit anderen Worten, die Beantwortung der erkenntnistheoretisch relevanten Frage, wie ein empfindsames Wesen zu einem denkenden Wesen wird, lässt sich zumindest aus Sicht der Figur Diderot allein auf der Grundlage der generellen Empfindsamkeit der Materie nachvollziehen. Dem Mathematiker d'Alembert kommt angesichts jenes materialistischen Welterklärungsmodells die Rolle des nachfragenden Skeptikers zu, der sowohl das Konzept für den Übergang von einem fühlenden zu einem denkenden Wesen wie auch die Grundlage hierfür, die Hypothese der grundsätzlichen Empfindsamkeit der Materie, keineswegs für erwiesen hält.20 Es lässt sich bereits erkennen, dass das erkenntnistheoretische Modell, das im Text einleitend vermittelt wird, auf dem Prinzip einer von der Empfindung aufsteigenden kausalen Kette beruht, die bis hin zum Denken reicht.21 Hierbei gilt es, zwei Aspekte zu unterscheiden: zum einen den im engeren Sinne erkenntnistheoretischen Aspekt und damit die Frage, wie ausgehend von den Sinneseindrücken und -leistungen im bereits denkbefähigten Wesen der Prozess der Diderot, Le Reue de d'Alembert (wie Anm. 13), 89-90. „Diderot: [...] car vous m'avouerez qu'il y a bien plus loin d'un morceau de marbre ä un etre qui sent, que d'un etre qui sent a un etre qui pense." Ebd., 95. 20 „D'Alembert: J'en conviens. Avec tout cela l'etre sensible n'est pas encore l'etre pensant." Ebd. 21 Vgl. Bernard Baertschi, Les rapports de l'ime et du corps. Descartes, Diderot et Maine de Biran, Paris 1992,102. 18
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Erkenntnisbildung zu verstehen ist, und zum anderen den Aspekt wie rein entstehungs- bzw. organisationssystematisch ausgehend von rein empfindsamer Materie überhaupt ein denkendes Wesen entsteht.22 Diese beiden Aspekte werden im einleitenden Kapitel des BJve de d'Alembert in der von der Kausalkette vorgegebenen Reihenfolge diskutiert - insofern wird zuerst die Hypothese der empfindsamen Materie dargelegt, dann in groben Zügen eine Entwicklung des Menschen ausgehend von der „sensibilite" entworfen und im Anschluss daran die eigentliche Erkenntnistheorie geliefert - , um dann aufgrund verschiedener Einwände d'Alemberts aus jeweils veränderter Perspektive Einzelaspekte erneut zu diskutieren. Insbesondere bei diesen kritischen Erörterungen entsteht der Eindruck, es handle sich dabei um nicht unmittelbar mit dem Thema zusammenhängende Digressionen. Sie lassen sich indes unter die Textstrategie der Evokation einer authentischen, vermeintlich assoziativen Gesprächsführung subsumieren, denn die Dialogkomposition bleibt grundsätzlich der erwähnten Kausalkettenordnung verpflichtet. Vor dem Hintergrund dieser Ordnung komme ich jetzt eingehender auf den Dialog zu sprechen, wobei ich zunächst auf die Hypothese der Empfindsamkeit als genereller Eigenschaft der Materie eingehe, die das kausale Weltmodell begründet. Dem empfindsamen Materieverständnis liegen, wie es im Text recht ausdrücklich dargestellt wird, zwei Hypothesen zugrunde: zum einen die hylozoistische und zum anderen die der Emergenz.23 Beide hängen miteinander zusammen. Die hylozoistische Hypothese beruht auf der Annahme, dass alle Materie grundsätzlich und damit a priori empfindsam ist, wenngleich nicht in jedem Körper die gleiche Form der „sensibilite" gebunden ist, wie d'Alembert, von Diderot inspiriert, schlussfolgert: Zum einen gibt es die „sensibilite active qui se caracterise par certaines actions remarquables dans l'animal et peut-etre dans la plante" und zum anderen die „sensibilite inerte dont on serait assure par le passage ä l'etat de sensibilite active".24 Darunter ist zu verstehen, dass die Empfindsamkeit in Analogie zur physikalischen Unterscheidung von potentieller und kinetischer Energie im anorganischen Bereich nur potentiell vorhanden ist und lediglich die Möglichkeit der Entfaltung in sich trägt, während sie im organischen Bereich eine aktive Empfindsamkeit kennzeichnet.25 Der Übergang von der potentiellen „sensibilite inerte" zur „sensibilite active" wird im Dialog von der Figur Diderot als Assimilationsprozess beschrieben, der in dem auf Analogie beruhenden Statuenbeispiel seinen Ausdruck findet. Dementsprechend gibt es eine Ahnlichkeitsrelation zwischen einer Marmorstatue und einem Tier, denn die potentielle Empfindsamkeit des Steines der Statue kann im Vertilgungsprozess durch Assimilation in aktive Empfindsamkeit transformiert werden.26 22 Diese Unterscheidung kommt im Text nicht explizit zum Ausdruck, sie zwingt sich aber anhand der von den Figuren vorgebrachten Überlegungen logisch auf. 23 Baertschi, Les rapports de l'ame et du corps (wie Anm. 21), 106—108. 24 Diderot, Le BJve de d'Alembert (wie Anm. 13), 92. 25 Vgl. Winter, Der Materialismus (wie Anm. 12), 31. 26 Diderot, Le Repe de d'Alembert (wie Anm. 13), 93-95.
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Aus der hylozoistischen Hypothese, die ihrerseits von der Assimilationstheorie flankiert wird, leitet sich in der Konsequenz die Emergenzhypothese ab. Diese wiederum besagt, dass die „sensibilite" eine Eigenschaft ist, die aus der Materie hervorgeht, wenngleich bestimmte Qualitäten der „sensibilite" erst mit gewissen Organisationszuständen in Erscheinung treten. Mit anderen Worten, alle Formen des Fühlens sind ebenso Teil der „sensibilite" wie das Denken, wobei die unterschiedlichen Qualitäten der „sensibilite" etwa im Rahmen der Entwicklung des Menschen, von der Befruchtung bis hin zum Erwachsenen, den progressiven Organisationszuständen entsprechend hervortreten. In diesem Sinne ist meines Erachtens auch zu verstehen, warum die Figur Diderot auf die für d'Alembert noch unbeantwortete Frage, wie aus dem fühlenden ein denkender Mensch wird, mit der vordergründig unpassenden Beschreibung der Menschwerdung d'Alemberts antwortet. Den Vortrag der einzelnen Etappen dieser besonderen Geschichte, die vom Zeugungsakt über den fötalen Zustand, über Geburt und Wachstum bis hin zu d'Alemberts Tätigkeit als Literat und Mathematiker reichen, beendet der Diderot des Textes mit der schließlich erhellenden Einschätzung: Et celui qui exposerait ä l'Academie le progres de la formation d'un homme ou d'un animal n'emploierait que des agents materiels dont les effets successifs seraient un etre inerte, un etre sentant, un etre pensant, un etre resolvant le probleme de la precession des equinoxes, un etre sublime, un etre merveilleux, un etre vieillissant, deperissant, mourrant, dissous et rendu ä la terre vegetale.27
Damit ist gesagt, dass es eine von der potentiellen Empfindsamkeit des „etre inerte" aufsteigende und wieder absteigende kausale Kette gibt, wobei auf dem Höhepunkt der materiellen Organisation des Menschen d'Alembert eine „sensibilite" freigesetzt wird, auf die letztlich auch hochkomplexe Denkprozesse, „un etre resolvant le probleme de la precession des equinoxes", zurückzufuhren sind. Darüber hinaus zeigt sich, dass die zuvor von d'Alembert gestellte Frage, wie der Übergang von der Qualität des Fühlens zu der des Denkens zu verstehen sei, implizit doch beantwortet oder zumindest geschickt umgangen wird. Denn wenn Denken und Fühlen jeweils Qualitäten der „sensibilite" sind, deren jeweilige Freisetzung vom Entwicklungsstand der organisierten Materie abhängt, dann gibt es auch keinen Kategoriensprung vom Fühlen zum Denken, sondern lediglich eine schwache Emergenz. Darunter ist zu verstehen, dass die durch die Organisation der Materie freigesetzte Qualität der „sensibilite" immer schon potentiell vorhanden sein muss und es somit keinen qualitativen Sprung, sondern lediglich eine an der Organisation der Materie ablesbare Freisetzung empfindsamer Qualität gibt. Die Tragweite dieser Antwort ist weitreichender als es zunächst den Anschein haben mag, denn von einem Materialismus, der die Phänomene des Fühlens und Denkens allein auf der Grundlage immanenter Voraussetzungen erklärt, kann hier nicht die Rede sein. So ist bereits das Konzept der generell mit vitalistischer 27
Ebd., 96.
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„sensibilite" begabten Materie insoweit transzendental, als es eine apriorisch-irreduzible und dabei vitalistische Qualität gibt, die der Materie inhärent ist. Wenn diese apriorisch-irreduzible Qualität darüber hinaus selbst für die komplexesten Phänomene wie das Denken verantwortlich zeichnet, dann ist das EmergenzKonzept durch eine noch ausdrücklicher transzendentale Anlage gekennzeichnet, weil damit auch die Denkbefähigung als Qualität der Materie apriorisch zu eigen ist. Es bleibt dann allerdings zu fragen, welcher Natur die transzendentale beziehungsweise apriorische Qualität des Denkens ist. Berücksichtigt man, dass in Diderots Ausführung das Denken nicht als ein bereits abgeschlossener Vorgang apriorisch angelegt ist, sondern dass es sich dabei vielmehr um eine emergente Qualität handelt, die kausal unmittelbar von einem empirischen Entwicklungsprozess abhängt, dann ist der Transzendentalbegriff, der hier implizit in Anschlag gebracht ist, im Sinne einer Anlage zu verstehen. Anders gewendet, der „sensibilite" als Qualität der Materie sind a priori grundlegende Vermögen zu eigen, die die Anlage zum Fühlen und Denken einschließen, welche wiederum nur in kausaler Verbindung mit einem empirisch nachvollziehbaren Entwicklungsprozess entfaltet werden. Dennoch bleibt festzuhalten, dass der Text weit davon entfernt ist, im Sinne Kants apriorische Qualitäten bzw. transzendentale, von der Erfahrung unabhängige Vermögen kritisch zu analysieren.28 Insofern stellt sich die Frage, ob im Reve de d'Alembert über die bereits beschriebene implizite Veranlagung apriorischer Erkenntnisvermögen hinaus eine weitergehende Thematisierung des Transzendentalkomplexes nachweisbar ist. 2. Erkenntnistheoretische Konsequenzen und discours de la methode In der Ordnung der Kausalkette folgt im Gespräch von Philosoph und Mathematiker auf die Beschreibung der Organisierung der Materie die eigentlich erkenntnistheoretische Frage, wie der Erkenntnisprozess in einem dafür ausgerichteten System ausgehend von den Empfindungen zu erklären ist. Da in der Logik der Emergenzhypothese ein Organismus eine bestimmte Entwicklung durchlaufen und eine bestimmte Organisationsform entwickelt haben muss, um denken zu können, macht die Figur Diderot den Denkvorgang im Rahmen der maieutischen Gesprächsführung vom Gedächtnis abhängig: „Si done un etre qui sent et qui a cette organisation propre ä la memoire lie les impressions qu'il Γ ε ς ο ί ζ forme par cette liaison une histoire qui est celle de sa vie, et acquiert la conscience de lui, il nie, il affirme, il conclut, il pense."29 Dabei wird das Gedächtnis nicht in seiner materiellen Gestalt beschrieben, sondern als Ergebnis eines Organisationsprozesses ausgewiesen. Beschrieben wird allerdings die Funktion des Gedächtnisses, 28 Für Baumgartner besteht die Leistung der Kritik der reinen Vernunft in der „positiven Analyse der Struktur der Erfahrungserkenntnis", die Kant von den apriorischen Begriffen des Verstandes abhängig macht. Zentral ist in dieser Hinsicht Kants Lehre von den Stammbegriffen des Verstandes, den Kategorien, deren objektive Geltung als aus dem Verstand entsprungene Begriffe er nachweist, Hans M. Baumgartner, Kants „Kritik der reinen Vernunft". Anleitung %ur Lektüre, Freiburg, München 1985,18—21. 29 Diderot, Le Reve de d'Alembert (wie Anm. 13), 99-100.
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die darin besteht, die Eindrücke, die sich ihm einschreiben, miteinander zu verbinden und sie zu einer Lebensgeschichte zu bündeln, sodass sich sagen lässt, das Gedächtnis erfüllt die Funktion des Verstandes, weil es verneint, affirmiert, urteilt und somit denkt. Der Eindruck, der hierbei vordergründig vermittelt wird, ist der, dass ausgehend von den Gefuhlseindrücken das materielle Gedächtnis, das seinerseits aus einem Organisationsprozess hervorgeht, gleichsam aposteriorisch, ohne jedwede apriorischen Erkenntnisvermögen die Sinneseindrücke mechanisch miteinander verknüpft. Dieser Verknüpfungsprozess wird als Denkvorgang bezeichnet. Legt man an diesen Ablauf die aus den Hypothesen zur „sensibilite" ableitbaren Prinzipien an, dann ist das Gedächtnis, das hier offensichtlich allein die Funktionen des Verstandes zu erfüllen scheint, die Organisationsform der Materie, welche die an sich apriorische Verstandeskraft („il nie, il affirme, il conclut, il pense") als Qualität der vitalistischen „sensibilite" freisetzt. Die Verstandeskraft wiederum ist dafür zuständig, die von der Sinneswahrnehmung im Gedächtnis abgelegten Eindrücke miteinander zu kombinieren. Aber diese transzendentalen Qualitäten der Materie werden nicht explizit als solche ausgewiesen. Wie man sich den komplexen Denkprozess genauer vorzustellen hat, das wird in der „clavecin"-Analogie veranschaulicht. Grundlage für die Analogie ist die Vorstellung d'Alemberts, wonach das Urteilen voraussetze, dass dem Verstand die von den Sinneseindrücken dargebotenen Wahrnehmungen als Gegenstände präsent sind, während er sie beurteilt.30 Diderot entwirft eine diese Vorstellung veranschaulichende Analogie und vergleicht die Funktionsweise des Verstandes mit einem Cembalo: [...] ce qui m'a fait quelquefois comparer les fibres de nos organes ä des cordes vibrantes sensibles. La corde vibrante sensible oscille, resonne longtemps encore apres qu'on l'a pincee. C'est cette oscillation, cette espece de resonance necessaire qui dent l'objet present, tandis que l'entendement s'occupe de la qualite qui lui convient Mais les cordes vibrantes ont encore une autre propriete, c'est d'en faire firemir d'autres; et c'est ainsi qu'une premiere idee en rappelle une seconde, ces deuxla une troisieme, toutes les trois une quatrieme, et ainsi de suite, sans qu'on puisse fixer la limite des idees reveillees, enchainees du philosophe qui medite ou qui s'ecoute dans le silence et l'obscurite. Cet instrument a des sauts etonnants, et une idee reveillee va faire quelquefois fremir une harmonique qui en est ä un Intervalle incomprehensible.31
Nachdem die Figur Diderot mechanistisch veranschaulicht hat, wie der Verstand zugleich Eindrücke vergegenwärtigen und sie beurteilen kann, imaginiert sie die Entstehung von Ideenkomplexen. Auch hier wird mit der Analogie, dass die Schwingung einer Saite verschiedene Obertöne erklingen lässt, eine mechanische Erklärung für die Entstehung von Ideenkomplexen bemüht. Dadurch ist gewährleistet, dass im Rahmen einer transzendentale Vorstellungen kategorisch ausschließenden Aufklärungsideologie allein auf der Grundlage immanent-aposteriorischer » Ebd., 100. 51 Ebd., 101.
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Prinzipien eine Erkenntnistheorie entworfen wird. Dennoch impliziert die „clavecin"-Analogie auch einen transzendentalen erkenntnistheoretischen Ansatz. Denn würde hier ein rein mechanisches Bild der Ideengenese aufgerufen, so müsste beim Anriss einer spezifischen Saite gleichsam mechanisch ein bestimmtes, immergleiches Obertonintervall erklingen. Dem ist aber nicht so, da das Instrument ungewöhnliche, nicht nachvollziehbare Harmonien hervorbringt. Mit anderen Worten, hier wird die Erfahrung zum Ausdruck gebracht, dass Ideenkomplexe nicht auf ein mechanisches Entstehungsschema reduzierbar sind, sondern vielmehr einem eigentümlich schöpferischen Geist der Assoziation zu entspringen scheinen, der hier geradezu mystifizierend als „Intervalle incomprehensible" umschrieben wird. Wenn auf diese Weise die Quintessenz der Ideengenese auf ein schöpferisch-irreduzibles Assoziationsprinzip zurückgeführt wird, so wird zumindest implizit auf ein transzendentales Erkenntnisvermögen, das der Einbildungskraft entspricht, verwiesen. Gleichwohl wird diese implizite Transzendierung mechanischer Prämissen in Diderots Zusammenfassung seiner Analogie scheinbar vollständig zurückgenommen, denn hier wird der Mensch als sinnliches Wesen wieder auf die Mechanik des Cembalos reduziert: L'instrument philosophe est sensible, il est en meme temps le musicien et l'instrument. Comme sensible, il a la conscience momentanee du son qu'il rend; comme animal, il en a la memoire; cette faculte organique en liant les sons en luimeme, y produit et conserve la melodie. Supposez au clavecin de la sensibilite et de la memoire, et dites-moi s'il ne se repetera pas de lui-meme les airs que vous aurez executes sur ses touches. Nous sommes des instruments doues de sensibilite et de memoire. Nos sens sont autant de touches qui sont pincees par la nature qui nous environne, et qui se pincent souvent elles-memes; et void, ä mon jugement, tout ce qui se passe dans un clavecin organise comme vous et moi. II y a une impression qui a sa cause au-dedans ou au dehors de l'instrument, une sensation qui nait de cette impression, une sensation qui dure; car il est impossible d'imaginer qu'elle se fasse et qu'elle s'eteigne dans un instant indivisible; une autre impression qui lui succede et qui a pareillement sa cause au-dedans ou au dehors de l'animal; une seconde sensation et des voix qui les designent par des sons naturels ou conventionnels.32
Insofern lässt sich die Cembalo-Analogie so verstehen, dass das menschliche Wesen von äußeren oder inneren Sinneseindrücken bewegt wird, die es, seiner selbst bewusst, im Gedächtnis zu einer zusammenhängenden Lebensgeschichte zu verknüpfen vermag. Die Art der Verknüpfung dieser Sinneseindrücke, und damit der eigentliche Denkprozess, wird in der Zusammenfassung allerdings nicht mehr erläutert, da genau dieser Aspekt angesichts seiner Komplexität und einer gänzlich ungesicherten Faktenlage am wenigsten mechanisch dargestellt werden kann. Deshalb nimmt es auch nicht Wunder, dass die von Diderot vorgetragene Systematik von d'Alembert ironisch quittiert wird:
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Ebd., 102-103.
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J'entends. Ainsi done si ce clavecin sensible et anime etait encore doue de la faculte de se nourir et de se reproduire, il vivrait et engendrerait de lui-meme ou avec sa femelle de petits clavecins vivants et resonants.33
Auf diese Weise wird zumindest dem mechanischen Anteil der Cembalo-Metapher, die den Eindruck vermittelt, ein Menschenleben könne quasi nach dem Muster der Konstruktion eines Cembalos demiurgisch erzeugt werden, mit äußerster Skepsis begegnet. Wie aber ist die ironisch vermittelte Skepsis der Figur d'Alembert, die sich in diesem Fall gegen den Mechanismus der Figur Diderot richtet, im Allgemeinen zu bewerten? Diese Frage ist insoweit entscheidend, als die die erkenntnistheoretischen Überlegungen des ersten Teils vorläufig abschließende ironische Bemerkung d'Alemberts beileibe nicht die einzige skeptische Note ist, die dem Mathematiker zugeschrieben wird. Im Rahmen seiner skeptischen Haltung stellt er nichts weniger als die gesamte Konzeption der Empfindsamkeit der Materie in Frage, wenn er zu bedenken gibt, dass die „sensibilite" eine mit der Materie inkompatible Qualität ist, weil die Materie im Gegensatz zur einfachen und unteilbaren Qualität der Empfindsamkeit, die hier den Charakter einer vitalistischen Kraft hat, teilbar ist.34 Die Figur Diderot räumt zwar ein, dass die materialistische „sensibilite"-Konzeption hypothetischer Natur ist, da es für sie keinerlei empirischen Beleg gibt. Dennoch ist Diderot nicht bereit, d'Alemberts Einwand hinzunehmen. Denn der fuhrt in der Logik der Textfigur Diderot unweigerlich zum traditionellen Dualismus,35 der als Alternative völlig inakzeptabel wäre: Soyez logicien, et ne substituez pas ä une cause qui est et qui explique tout, une autre cause qui ne se οοηςού pas, dont la liaison avec l'effet ne se con9oit encore moins, qui engendre une multitude infinie de difficultes et qui n'en resout aueune.36
So bleibt zwar das Rätsel um Materie und Empfindsamkeit nach wie vor ungelöst, aber dank d'Alemberts skeptischer Nachfrage tritt das vom Text transportierte Problembewusstsein zu Tage: Da die materialistische Konzeption der „sensibilite" hypothetischer Natur ist und ein empirischer Beleg für ihre Richtigkeit nicht erbracht werden kann, lässt sich, anders als es die Textfigur Diderot intendiert, auch keine unumstößliche materialistische Systematik aufrecht erhalten. Doch selbst der Philosophenfigur wird schließlich eine das eigene System relativierende Haltung zugeschrieben, wenn sie sich dazu bekennt, dass ihrer Systematik die gleiche Schwäche zu eigen sei wie der Systematik Berkeleys, der in seinem idealistischen Denken davon ausgeht, dass es keine von der subjektiven
Ebd., 103. Ebd., 106. 35 Es ist der Figur Diderot vorbehalten, das mit dem Dualismus verbundene Problem zu formulieren. Wie und vor allem wann sollte ein der Materie nicht inhärentes vitaüstisches Element der Materie hinzugefugt werden und wäre es räumlich ausgedehnt oder nicht? Ebd., 105. 36 Ebd., 107. 33 34
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Wahrnehmung unabhängige Wirklichkeit gibt.37 Insofern bestünde wie bei Berkeley die Gefahr, dass das empfindsame Cembalo, der Mensch, in einem Moment des Irrsinns glaube, es sei allein auf Erden und in ihm allein spiegle sich das Universum wider: „que toute l'harmonie de l'univers se passait en lui."38 Hiermit ist gesagt, dass es unabdingbar ist, das eigene System beständig an der Wirklichkeit zu messen, damit nicht das geschieht, was unweigerlich aus Berkeleys idealistischem Subjektivismus folgt: In diesem Kontext existiert die Wirklichkeit nur in Abhängigkeit von der subjektiven Wahrnehmung, sodass allein die Wahrnehmung für die Richtigkeit des Wirklichkeitsbildes einsteht, wobei die Wirklichkeit selbst niemals Korrektiv der Wahrnehmung sein kann. Diese Annahme führt wiederum zu einem unumstößlichen Dogmatismus, der die eigenen Ansichten per Definition als die einzig möglichen und somit wahren Aussagen über die Wirklichkeit ansieht. Vor diesem Hintergrund kommt der Skepsis die Funktion zu, den spekulativen Charakter der grundlegenden materialistischen Hypothesen aufzuzeigen, um dadurch der latenten Gefahr eines systematischen Dogmatismus vorzubeugen. In der Konsequenz lässt sich darüber hinaus schlussfolgern, dass angesichts der Prekarität der den Materialismus begründenden Hypothesen auch alle auf dieser Anschauung beruhenden Aussagen über die Natur einen nur auf Wahrscheinlichkeit beruhenden Wahrheitsgehalt haben, der in Anbetracht genauerer Kenntnisse jederzeit falsifizierbar ist. Das bedeutet auch, dass die von der Figur Diderot verbreitete mechanisch-materialistische Erkenntnistheorie, die auf diesen Hypothesen fußt, keinesfalls der Wahrheit letzter Schluss ist. Ein neuer Ansatz zeichnet sich zugleich in dem impliziten Zusammenspiel der Figurenansichten ab, insoweit als der mechanisch gedachte erkenntnistheoretische Materialismus — im Sinne rein sinnlich-aposteriorischer Erkenntnisbildung — in Verbindung mit einem neu gefassten Transzendentalbegriff — im Sinne apriorischer Erkenntnisvermögen - zu denken ist. Dass sich aus dieser Konstellation ein höchst widersprüchliches Konstrukt ergibt, ist nicht zu leugnen: Zum einen werden durch die skeptische Haltung d'Alemberts vermittelt die grundlegenden Hypothesen des Materialismus in Frage gestellt, weil sie empirisch nicht nachweisbar sind. Zum anderen wird die Analogiebildung, die empirisch keineswegs nachweisbare Erkenntnisse zu Tage fördert, im Gespräch der Philosophen zur Methode wissenschaftlich-philosophischer Durchdringung der Natur erhoben.39 Beide Aspekte erfüllen miteinander kombiniert den Tatbestand eines Widerspruches:
37 Vgl. Arend Kulenkampff, Erfahrung und Metaphysik. Zum Idealismus George Berkeleys, in: George Berkeley. Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, hg. u. übers, v. Arend Kulenkampff, Hamburg 2004, VII-XLIX. 38 Diderot, Le PJve de d'Alembert (wie Anm. 13), 109. 39 Das veranschaulicht insbesondere das auf das Philosophengespräch folgende Kapitel he Rive de d'Alembert. Im Hinblick auf die Bedeutung der Analogie als Methode des innovativen Denkens sei insbesondere verwiesen auf: C. J. Betts, The Function of Analog) in Diderot's Reve de d'Alembert, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 185 (1980), 267-281.
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Yann Lafon L'analogie dans les cas les plus composes n'est qu'une regle de trois qui s'execute dans l'instrument sensible. Si tel phenomene connu en nature est suivi de tel autre phenomene connu en nature, quel sera le quatrieme phenomene consequent ä un troisieme ou donne par la nature, ou imagine ä l'imitation de la nature? Si la lance d'un guerrier ordinaire a dix pieds de long, quelle sera la lance d'Ajax? [...] C'est une quatrieme corde harmonique et proportionnelle a trois autres dont l'animal attend la resonance qui se fait toujours en lui-meme, mais qui ne se fait pas toujours en nature. Peu importe au poete, il n'en est pas moins vrai. C'est autre chose pour le philosophe; il faut qu'il interroge ensuite la nature qui lui donnant souvent un phenomene tout ä fait different de celui qu'il avait presume, alors il s'apersoit que l'analogie l'a seduit.40
Angesichts der äußerst beschränkten Mittel empirischer Naturforschungen kann es nicht ausbleiben, dass die meisten Fragen, die sich auf die Natur beziehen, unbeantwortet bleiben. Entsprechend stellen die Cembalo-Analogie wie auch die im weiteren Textverlauf angeführten Bienenstock- und Spinnenanalogien die einzigen Möglichkeiten dar, ohne spezifische physiologische, neurologische und in modernem Sinne psychologische Erkenntnisse einen weitreichenden materialistisch-epistemologischen Entwurf zu wagen. In seiner auf die Analogie bezogenen mathematischen Gleichung fuhrt Diderot auch aus, dass die im Dienste der Erkenntnis stehende Analogie keineswegs völlig aus der Luft gegriffen ist. Die Analogiebildung folge dementsprechend einer „regle de trois", die besagt, dass auf der Grundlage einiger bekannter Parameter qua Analogie auf ein viertes, in der Ursachenkette unbekanntes Element geschlossen werden könne. Wie mit der Widersprüchlichkeit von empirischem Anspruch und hypothetisch-analogischer Wissenschaftsmethodik umzugehen ist, die sich auf den ersten Blick nicht allzu sehr von der geschmähten cartesianischen Hypothetik zu unterscheiden scheint, darüber gibt die dem philosophischen Naturforscher zugewiesene Verhaltensregel Auskunft: Er muss die Phänomene, die ihm die Naturbetrachtung erschließt, beständig mit seinen Analogien abgleichen und letztere verwerfen, wenn es die Natur der Dinge erfordert. Insofern ist trotz der empirisch keinesfalls überzeugenden Forschungsmethode ein Bewusstsein für die Vorläufigkeit der Forschungsergebnisse vorhanden. Es lässt sich aber auch nachvollziehen, dass die analogische Behauptung - mag sie auch eine auf subjektiven Neigungen beruhende Ansicht sein - für den zeitgenössischen Wissensdiskurs unabdingbar ist. Denn ein auf Assoziationsleistung bzw. Einbildungskraft beruhender Entwurf erschließt Wissensräume, wiewohl sie nur in der Vorstellung existieren mögen, die einem allzu skeptischen Geist, angesichts der wenigen empirisch belegbaren Erkenntnisse, für immer verschlossen blieben. Zusammenfassend lässt sich für das erste Kapitel des BJve de d'Alembert schlussfolgern, dass auf der Grundlage materialistischer Hypothesen in der Logik der Ursachenkette ein materialistisches Weltmodell bis hin zum Entwurf einer Erkenntnistheorie skizziert wird. Damit geht eine skeptische Infragestellung der 40
Diderot, Le BJve de d'Alembert (wie Anm. 13), 110.
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materialistischen Erkenntnistheorie einher, wobei die Idee ihrer Erweiterung um die transzendentale Dimension apriorischer Vermögen der Erkenntnisbildung gleichsam .obertonartig' mitschwingt, um im Klangbild der Cembalo-Analogie zu bleiben. Abschließend findet eine die Ästhetik des weiteren Textverlaufes ankündigende Diskussion um die Methoden des Wissen schaffenden Diskurses statt. Denn in dem Maße, wie der Text den als Spielart der Einbildungskraft ausweislichen Analogieschluss zum methodischen Dreh- und Angelpunkt der Wissensbildung erhebt, kündigt sich ein Textverlauf an, der aus methodischen Gründen einen Rahmen für Analogiebildungen und andere Ausdrucksformen der Einbildungskraft bietet.41 Dass die Kunst des analogischen Veranschaulichens, die Grenzen des empirisch Belegbaren transzendieren kann, zeigt sich an der CembaloAnalogie, in der ein Bild des Denkvorganges im Modus des Als-ob entworfen wird, was die Frage nach der Funktion der Fiktion aufwirft. Im Kapitel La suite d'un entretien entre M. d'Alembert und M. Diderot hat die Fiktion, wie es der Paratext ankündigt, zunächst die Funktion, die Illusion einer historischen Gesprächssituation zwischen dem illustren Aufklärungsphilosophen und dem nicht minder bekannten Mathematiker zu erzeugen. In vordergründiger Übereinstimmung mit den historischen Personen treten dementsprechend Diderot als überzeugter materialistischer Denker und d'Alembert als nicht minder überzeugter rationaler Skeptiker auf den Plan, um möglichst glaubwürdig ein thematisch breites Spektrum des Aufklärungsdiskurses, der von den historischen Personen entscheidend mitgeprägt wurde, im Rahmen eines Gesprächs wiederzugeben. Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass die Funktion der Illusion nicht darin besteht, ein Gespräch wiederzugeben, wie es sich historisch zwischen d'Alembert und Diderot hätte zutragen können. Als Signal hierfür kann die überzogene Rigidität der Haltungen der Figuren gelesen werden, die Diderot als dogmatischen Materialisten und d'Alembert als eingefleischten Skeptiker ausweist. Insofern hat es der Leser mit vergleichsweise starren dramatischen Typen zu tun, die bestimmte Standpunkte repräsentieren, wie dies am ehesten in Typenkomödien üblich ist.42 Der Text signalisiert somit qua Gattungskonvention, dass er als ein fiktionaler zu lesen ist, der keineswegs in historisch adäquater Weise mit den realen Charakteren Diderot und d'Alembert übereinstimmende philosophische Anschauungen abbildet. Für die Bedeutungskonstitution entscheidend ist dennoch, dass ein möglichst breiter mit den historischen Personen Diderot und d'Alembert zusammenfallender Referenzhorizont des Aufklärungsdiskurses evoziert wird. Dazu gehören im weitesten Sinne die materialistische Natur-
41 In diesem Zusammenhang sei auch auf den Traum hingewiesen, der im noch zu besprechenden zweiten Kapitel als Mittel der Wissensbildung funktionalisiert wird. 42 Selbstverständlich handelt es sich beim Rfae de d'Alembert nicht um eine Typenkomödie, da weder die Figur d'Alembert noch die Figur Diderot einem klischeehaften Muster zeitgenössischer Charakterologie oder Sozialtypologie entspricht, wie dies etwa in Molieres Typenkomödien der Fall ist Da aber der Skeptiker und der Materialist als vergleichsweise starre und klischeehafte Vertreter einer philosophischen Geisteshaltung ausgewiesen sind, lässt sich eine Überschneidung mit Gattungskonventionen der Typenkomödie nicht leugnen.
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anschauung und ihre kritische Hinterfragung vor dem Hintergrund der Ablösung von dem cartesianisch-rationalistischen Epochenparadigma. Zum anderen weisen die Typen Diderot und d'Alembert in ihrer Überzeichnung, die bei der Textfigur Diderot das Ausmaß dogmatischer Sturheit und bei d'Alembert skeptischen Blockierens annimmt, darauf hin, dass ihre Positionen keinesfalls unhinterfragt zu übernehmen sind. Vielmehr zeichnet sich im Text ein diskretes Zusammenspiel der an sich überzeichneten Haltungen ab, das auf ironischen Signalen und impliziten logischen Zusammenhängen beruht. Diese kaschierte Rezeptionsästhetik des Textes nötigt den Leser, die Synthese in der Zusammenschau der Einzelansichten zu bilden, die die Form eines um transzendentale Aspekte erweiterten materialistischen Wirklichkeitsentwurfes annimmt. Dieser Ausführung entsprechend ist im ersten Kapitel ein fiktionales Spiel angelegt, welches zunächst durch gezielte Referenzbezüge die skizzierte Wirklichkeitsillusion erzeugt, um diese wiederum durch spezifische Fiktionssignale zu durchbrechen, sodass letztlich vom Leser ein fiktionsvermittelter eigenständiger Wirklichkeits- bzw. Theorieentwurf erstellt werden kann. Im zweiten Kapitel ist dieses fiktionale Spiel dagegen mit umgekehrten Vorzeichen angelegt, insofern die Textfigur d'Alembert im Stile der Komödientradition zunächst aus der Rolle fallt und so mit der im ersten Kapitel aufgebauten Referenzillusion bricht. Da bislang noch nicht zwingend begründet wurde, warum der im Text angelegte erkenntnistheoretische Wurf im Rahmen fiktionaler Ästhetik entwickelt wird, werde ich die Bedeutung der Fiktion für die Erkenntnistheorie anhand des zentralen Textkapitels, dem Keve de d'Alembert, veranschaulichen.
3. Die fiktionale Veranschaulichung der Einbildungskraft als transzendentales Erkenntnisvermögen Das zweite Kapitel, Le Reve de d'Alembert, liefert mit seinem im Vergleich zum ersten Kapitel stärker dramatisierten Setting einen Rahmen für den mit Analogien angereicherten Traum d'Alemberts, der wiederum von den Kommentaren Bordeus und Mile de l'Espinasses flankiert wird. Auch sie operieren mit Analogien. Die fiktionale Dramatisierung ermöglicht die Verwebung von Dialogen und Traumpassagen, wobei die als Statthalterin der Einbildungskraft fungierende Analogiebildung in den Dienst des materialistischen Weltentwurfes tritt. Die fiktionale Textgestalt ermöglicht zudem, die Einbildungskraft selbst als apriorisches Vermögen der Erkenntnisbildung erfahrbar zu machen. Diesen Aspekt möchte ich hier abschließend veranschaulichen. Zunächst signalisiert das komische Aus-der-Rolle-Fallen d'Alemberts, dass diese Figur gezielt in Kontrast zur historischen Person d'Alembert angelegt ist. Anders als im ersten Kapitel gibt er nicht mehr den Skeptiker, sondern entwickelt im Traum nach Ansicht des Arztes Bordeu geradezu geniale naturphilo-
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sophische Weltenwürfe.43 Dieser desillusionierende Bruch erzeugt die Komik des Textes, denn der dem Materialismus skeptisch gegenüberstehende d'Alembert des ersten Teils wird im zweiten Teil entgegen aller referentiellen Wahrscheinlichkeit zum träumenden Vertreter des von der Figur Diderot entwickelten vitalistisch-mechanischen Materialismus. Der den komischen Effekt erzeugende Bruch in der Figurenkonzeption ist auch als Fiktionssignal lesbar, das den Leser dazu auffordert, die vermeintliche Korrespondenz zwischen dem Materialismus der Textfigur Diderot und dem des träumenden d'Alemberts in Frage zu stellen. Mit anderen Worten, da das unwahrscheinliche Geschehens signalisiert, dass mit der Figurenkonzeption nicht die Abbildung von Wirklichkeitsverhältnissen intendiert ist, sondern eine eigene Wirklichkeitsmodellierung vorgenommen wird, ist auch die Figur d'Alembert im Hinblick auf ihre fiktionale Konsistenz zu verstehen. Im ersten Kapitel beruht diese darauf, den Materialismus im Allgemeinen und den mechanischen Materialismus im Besonderen in Frage zu stellen. Insofern spricht einiges dafür, dass die Figur d'Alembert trotz des äußeren Rollenbruches, der sich im Traumkapitel vollzieht, der fiktionalen Rollenkonsistenz entsprechend im Dienste einer den Materialismus kritisch in Frage stellenden Haltung steht. Auf den ersten Blick wird der vitalistische Materialismus Diderots in den Traumbildern d'Alemberts und den Kommentaren von Bordeu und Mile de l'Espinasse lediglich erweiternd veranschaulicht: Auch hier geht es um die Annahme einer generellen Empfindsamkeit der Materie und die Entstehung von fühlenden Wesen und ihrer materiellen Organisation. Mile de l'Espinasse bringt dem Arzt Bordeu ihre Aufzeichnung eines Traumes d'Alemberts zur Kenntnis, in dem dieser die Bienenstockanalogie entwickelt, die, wie Bordeu im Anschluss kommentierend erklärt, den Wechsel vom Kontiguitätsprinzip zum Kontinuitätsprinzip veranschaulicht.44 Damit ist die Vorstellung verbunden, dass molekulare Verbände, die wie im Falle des Bienenstocks lose miteinander verbunden sind, angesichts evolutionärer Entwicklungen in eine Kontinuitätsrelation überführt werden können, wie dies in einem aus Einzelmolekülen bestehenden Individuum der Fall ist.45 Eine solche molekulare Verbandstruktur vorausgessetzend, werden mit der Polypenanalogie auf Teilung beruhende Fortpflanzungsszenarien entwickelt und mit der von Mile de l'Espinasse vorgetragenen Spinnenanalogie Funktionsweisen komplexer Organismen imaginiert. Diese Entwicklung vom einfachen Molekül zum komplexen empfindungsbefähigten Organismus trägt dem Kausalitätsprinzip Rechnung.46 Abschließend stellen Bordeu und Mile de l'Espinasse die Bedeutung des Gehirns in den Vordergrund, laufen doch sämtliche Empfindungseindrücke, welche die Nervenfasern übermitteln, in jenem Zentralorgan zusammen, wo sie im Gedächtnis abgespeichert werden.47 Es folgen im
Diderot, Le Reue de d'Alembert (wie Anm. 13), 121. «Vgl. ebd., 121. 45 Vgl. ebd., 120-123. 46 Vgl. ebd., 124-154. 47 Vgl. ebd., 154-176. 43
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engeren Sinne erkenntnistheoretische Erörterungen, die Verstand, Urteilskraft, Imagination, Wahnsinn, Debilität, Grausamkeit und Instinkt als Leistungen des zuvor skizzierten organischen Systems hinstellen.48 Wenn es sich hier lediglich um eine detailreiche Ergänzung des ersten Teils handelte, müsste man die Frage stellen, welchem Zweck die komplexe dramatische Szenerie mit dem Dialog Bordeus und Mile de l'Espinassens und den darin eingebetteten Traumsequenzen d'Alemberts dienen. Eine mögliche Funktion dieser fiktionalen Textgestalt werde ich am Beispiel einiger Passagen aufzeigen, die im Modus von Dialog und Traum die Bedeutung des Traumes und übergeordnet der Einbildungskraft thematisieren bzw. implizit veranschaulichen. Dabei erklärt sich auch das Verhältnis der beiden Modi zueinander. Die zunächst vorgestellte Dialogsituation befindet sich in dem Textteil, in dem erkenntnistheoretische Fragestellungen das Gespräch zwischen Bordeu, Mile de l'Espinasse und d'Alembert bestimmen. Letzterer ist aus seinem Traum erwacht und beteiligt sich an der Diskussion mit einer an Bordeu gerichteten Frage zur Bedeutung des Schlafes. Der entscheidende Teil der Antwort des Arztes beinhaltet eine Art Traumtheorie: Dans la veille le reseau obeit aux impressions de l'objet exterieur. Dans le sommeil c'est de l'exercice de sa propre sensibilite qu'emane tout ce qui se passe en lui. II n'y a point de distraction dans le reve; de la sa vivacite: c'est presque toujours la suite d'un erethisme, un acces passager de la maladie. [...] Les concepts y sont quelquefois aussi lies, aussi distincts que dans l'animal expose au spectacle de la nature. Ce n'est que le tableau de ce spectacle reexcite: de lä sa verite, de lä l'impossibilite de le discerner de l'etat de veille; nulle probabilite d'un de ces etats plutot que de l'autre. Nul moyen de reconnaitre l'erreur que l'experience.49
Tatsächlich handelt es sich um eine auf den Traumzustand bezogene Erkenntnistheorie, die wiederum in Relation zum Wachzustand gesetzt wird. Eine Unterscheidung zwischen beiden Zuständen gibt es laut Bordeu nur in Bezug auf die Herkunft der Eindrücke, die im Wachzustand von außen kommen, während sie im Traumzustand von innen aufsteigen, sei es in Form von Erregungen, die von den Sinnesorganen ausgehen oder als Vorstellungen, die unmittelbar vom Gehirn („l'origine du faisceau") selbst ausgehen.50 Die Vorstellungen an sich unterscheiden sich allerdings nicht von denen des Wachzustandes, da im Traum, zugespitzt formuliert, lediglich wieder aufgerufen wird, was im Wachzustand an von der Außenwelt vermittelten Sinneseindrücken in der Erinnerung abgespeichert wurde. Aus Bordeus Kommentar lässt sich damit ein mechanistischer und streng deterministischer erkenntnistheoretischer Ansatz ableiten. Denn Bordeus Theorie beinhaltet, dass sowohl im Traum wie auch im Wachzustand letztlich die von der Außenwelt induzierten Sinneseindrücke in der von der Natur vorgegebenen Weise miteinander kombiniert werden, insofern als die Empfindungen von « Vgl. ebd., 176. 45 Diderot, Le Reve de d'Alembert (wie Anm. 13), 183. 50 Ebd., 182.
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den Sinnesorganen in ihrer natürlichen Ereignisfolge an die Erinnerung weitergeleitet und dort abbildlich miteinander verbunden werden. Diese Verbindungen sind kontingent und dabei mehr oder weniger sinnvoll. Im Traum wird der Abbildungsvorgang im Vergleich zum Wachzustand, vereinfacht gesprochen, lediglich zeitlich verschoben wiedergegeben. Ein Spielraum für eine individuelle Kombinatorik der Impressionen ist dieser Logik zufolge ausgeschlossen. Wie ernst dieser erkenntnistheoretische Determinismus Bordeus zu nehmen ist, das kündigt sich in dem auf den ersten Blick unverfänglich erscheinenden Kommentar d'Alemberts im Anschluss an Bordeus Ausführungen zumindest an: „Voilä done tout ramene a de la sensibilite, de la memoire, des mouvements organiques; cela me convient assez. Mais l'imagination? mais les abstractions?"51 Ein stärkerer inhaltlicher Einwand gegen den mechanischen Determinismus des Bordeuschen Materialismus als der in unverfänglicher Frageform vorgebrachte Hinweis auf die Einbildungskraft lässt sich kaum vorbringen. Zumindest dann, wenn der Einbildungskraft in einer für die Aufklärungsbewegung ebenfalls gebräuchlichen Begriffsverwendung ein kombinatorisches, mitunter sogar genialisches Schöpfungsvermögen zugeschrieben wird. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang allen voran Voltaire, der in seinem 1765 veröffentlichten Entyclopedie-Krukei Imagination davon spricht, dass die Sinnesorgane für die Wahrnehmung, das Gedächtnis für die Erinnerung der Wahrnehmungen und die Imagination schließlich für ihre Kombination zuständig sind. Er geht soweit, der Imagination die Verknüpfung der Ideen zu Ideenkomplexen („composition des idees") zuzuschreiben, ein Vorgang der sich anhand der Beispiele, die er anführt, auch als Abstraktionsvermögen charakterisieren lässt. Insofern spricht er von einer „imagination active", der zumindest im Bereich der Kunst schöpferische Kreativität zu eigen ist.52 Bringt man diesen schöpferisch-kombinatorischen Aspekt einer am Erkenntnisprozess maßgeblich beteiligten Einbildungskraft in Anschlag, der sie als apriorisches Erkenntnisvermögen ausweist,53 so muss dem Individuum in erkenntnistheoretischer Hinsicht ein gewisses Maß an individueller Eigenständigkeit konzediert werden. Auch wenn es sich um eine eingeschränkte Freiheit handelt, kontrastiert diese mit dem unumstößlichen Determinismus, der aus Bordeus 51
Ebd., 188. Vgl. Voltaire, (Bums completes, hg. v. W. Η. Barber, Bd. 59, Oxford 1987, 204-214; auch Condillac schreibt der Imagination ein kombinatorisches Vermögen zu, wenn er ihr die Fähigkeit attestiert, im Gedächtnis abgespeicherte Sinneseindrücke mittels Zeichenzuordnung frei kombinieren zu können, Condillac, Essai sur l'oripne des connoissances bumaims, in: (Emms philosopbiques, hg. v. G. Le Roy, Paris 1947, 17-21. Selbst La Mettrie, der vermeintliche Vertreter eines mechanischen Materialismus, lässt sich in diese Reihe stellen: „L'imagination elevee par l'art, a la belle et rare dignite de Genie, saisit exaetement tous les rapports des idees qu'elle a congües, embrasse avec facilite une foule etonnante d'objets, pour en tirer enfin une longue chaine de consequences, lesquelles ne sont encore que de nouveaux rapports, enfantes par la comparaison des premiers, auxquels l'Ame trouve une parfaite ressemblance." La Mettrie, Uhomme machine, übers, u. hg. v. C. Becker, Hamburg 1990, 64. 53 Voltaire charakterisiert die Imagination aufgrund der ihr innewohnenden irreduziblen Kombinationskapazität als apriorisches Erkenntnisvermögen, wenn er von ihr als „don de dieu" spricht, Voltaire, (Bums completes (wie Anm. 52), 204. 52
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Materialismus hervorgeht. Wie um diesen erkenntnistheoretischen Determinismus auf komische Weise zu desavouieren, fuhrt die Figur Bordeu eine Definition der Imagination ins Feld, die zum einen mit dem Begriff selbst in Konflikt gerät, weil sie eigentlich einen anderen Begriff definiert, und zum anderen in überzogener Weise den erkenntnistheoretischen Determinismus bestätigt: L'imagination, c'est la memoire des formes et des couleurs. Le spectacle d'une scene, d'un objet monte necessairement Pinstrument sensible d'une certaine maniere; il se remonte ou de lui-meme ou il est remonte par quelque cause etrangere; alors il fremit au dedans ou il resonne au dehors; il se recorde en silence les impressions qu'il a revues, ou il les fait eclater par des sons convenus.54
Tatsächlich identifiziert Bordeu die Einbildungskraft mit einer Funktion des Gedächtnisses, wobei er sie in dezidiert mechanistischer Diktion auf eine Art Uhrwerk reduziert, das, nachdem es aufgezogen ist, mittels nicht näher bestimmter Auslösermechanismen wiederholend abspulen kann, was ihm an natürlichen Impressionen eingeschrieben wurde. Um den im Text angelegten Imaginationsbegriff und die sich daraus ergebenden erkenntnistheoretischen Konsequenzen zu erfassen, muss man Traum und Dialog als Modi der Wissensvermittlung betrachten. Wenn die theoretische Auslassung Bordeus über den Traum eine mechanisch eingefärbte materialistische Erkenntnistheorie vorstellt, stellt sich die Frage, welche Erkenntnistheoire der Traum selbst impliziert. Anders gewendet, die Traumtheorie Bordeus, der einem streng mechanisch-deterministischen Materialismus das Wort redet, muss insbesondere hinsichtlich einer möglichen Desavouierung dieser Ausformung des Materialismus die Praxis des Träumens selbst gegenüber gestellt werden. Deshalb möchte ich auf d'Alemberts Traum und im Besonderen auf seine darin entwickelte Bienenstockanalogie zurückkommen. Bevor d'Alembert im Traum auf besagte Analogie kommt, scheint er gemäß der Transkription von Mile de l'Espinasse eine Dialogsequenz aus dem am Abend zuvor mit Diderot geführten Gespräch träumend zu rekapitulieren, in der es in Anlehnung an das Assimilationsprinzip um das Verhältnis von Kontiguität und Kontinuität geht: Mon ami d'Alembert prenez-y-garde, vous ne supposez que de la contigui'te oü il y a continuite ... Oui, il est assez malin pour me dire cela ... Et la formation de cette continuite? Elle ne l'embarassera guere ... Comme une goutte de mercure, une molecule sensible et vivante se fond dans une autre.55
Richtiger ist sicherlich, dass d'Alembert die Positionen des Philosophen gleichsam markiert in seine Traumrede integriert, wobei er, den Tenor von Diderots Gedanken wieder aufnehmend, diese Ideen scheinbar schon weiterentwickelt. Bezieht man diese Traumpraxis auf die von Bordeu entwickelte Traumtheorie, so lässt sich feststellen, dass Theorie und Praxis insoweit übereinstimmen, als im Traum zunächst Gesprächseindrücke in der Erinnerung aufsteigen, die im Wach54 55
Diderot, Le Elve de d'Alembert (wie Anm. 13), 189. Ebd., 118.
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zustand im Gedächtnis abgespeichert wurden. Diese mit der Theorie Bordeus koinzidierende Stufe wird aber spätestens dann überschritten, wenn d'Alembert das bislang nicht eingehender bezeichnete Verhältnis von Kontiguität und Kontinuität in seiner Analogie vom Bienenstock veranschaulicht. Denn hier findet in der assoziativ-kreativen Analogiebildung genau der schöpferische Prozess statt, den Voltaire der „imagination active" zuschreibt. Damit ist Bordeus Theorie eines rein abbildend-rekonstruierenden Träumens hinfällig, da diese mechanische Vorstellung von der praktischen Anschauung des Träumens widerlegt wird. Anstelle dessen wird der Traum d'Alemberts wie die Analogiebildung zur Chiffre kreativer Einbildungskraft.56 Die Pointe besagter Imaginationsleistung ist, dass Bordeu die Bienenstockanalogie d'Alemberts selbst vollendet. Er tritt sogar mit d'Alembert in einen indirekten Imaginationswettbewerb, wenn er Mile de l'Espinasse vorführt, dass er in der Lage ist, das Ende ihrer Traummitschrift dem Entwurf d'Alemberts entsprechend zu imaginieren: „Voulez-vous transformer la grappe d'abeilles en un seul et unique animal? AmolHssez les pattes par lesquelles elles se tiennent, de contigues qu'elles etaient rendez-les continues."57 Damit ist gesagt, dass es zwischen einem träumenden Philosophen und einem Arzt im Wachzustand keinen Unterschied gibt, denn im Schlaf wie auch im Wachzustand manifestiert sich die Einbildungskraft als eine für die Erkenntnisbildung entscheidende Kategorie. Bevor ich zusammenfassend auf die erkenntnistheoretischen Konsequenzen dieser Konstellation zu sprechen komme, möchte ich auf den performativen Widerspruch eingehen, der die beschriebene fiktionale Konstruktion charakterisiert, weil sich erst auf dieser Grundlage zweifelsfreie erkenntnistheoretische Schlüsse ziehen lassen. Wenn im Text nicht zwischen Traum und Wachzustand unterschieden wird, so wird doch zwischen Behauptungen und ihren empirischen Überprüfungen, soweit sie sich im fiktionalen Explorationsraum darstellen lassen, unterschieden. Konkret ist darunter zu verstehen, dass d'Alemberts Traumaktivität der theoretischen Auslassung Bordeus über den Traum widerspricht. Das ist der Fall, weil im Traum d'Alemberts in Form der Analogiebildung das Wirken einer kreativen Einbildungskraft veranschaulicht wird, während Bordeu in seiner theoretischen Ausführung über den Traum die schöpferische Dimension der Einbildungskraft negiert.58 Der im Zusammenspiel von Traum und Dialog zur Geltung gebrachte 56 Insofern hat Behrens Recht, wenn er d'Alemberts Traum attestiert, dass er nur bedingt mit dem „zeitgenössischen Traumwissen und auch nur partiell mit den psychophysiologischen Bestimmungen übereinstimmt, die sich in Diderots direktem Umfeld, etwa bei La Mettrie, in der Ecole de Montpellier oder in seinen eigenen Ausführungen über den Traum finden", Rudolf Behrens, Dialogische Einbildungskraft. Z» einer,auseinandergesetzten' Theorie der Imagination in Diderots Reve de d'Alembert, in: G. Vickermann-Ribemont, Dietmar Rieger (Hg.), Dialog und Dialop^tät im Zeichen der Aufklärung, Tübingen 2003,141. 57 Diderot, Li Reue de d'Alembert (wie Anm. 13), 121. 58 Hempfer verweist im Hinblick auf den performativen Widerspruch, den er als Gattungsmerkmal des Dialoges charakterisiert, auf genau diese Form der Komplexitätspotenzierung des argumentativen Diskurses, die er auf die „Dissoziierung von Aussagesubjekt, Aussagemodus und propositionalem Gehalt" zurückführt, Klaus W. Hempfer, Lektüren von Dialogen, in: Ders. (Hg.), Möglichkeiten des Dialogs. Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien, Stuttgart 2002,21.
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Widerspruch zwischen Theorie und Praxis wiegt umso schwerer, als er sich am Theoretiker Bordeu selbst vollzieht, als er die Traumsequenz d'Alemberts eigenständig vollendet. An seiner einfallsreichen Abstraktionsgabe wird veranschaulicht, dass er von der Einbildungskraft geleitet einen komplexen Vorgang begrifflich fixiert. Dabei bestätigt sich, dass es im Keve de d'Alembert nicht um eine zeitgemäße psycho-physiologische Beschreibung des Traumes geht, sondern dass man es mit einer literarischen Chiffre der Einbildungskraft zu tun hat.59 Weil beide die Wirkung der Einbildungskraft veranschaulichen, sind Traum und Wachzustand letztlich austauschbare Größen, wie das gleichberechtigte Zusammenspiel des wachen Bordeus und des träumenden d'Alemberts und der Umstand, dass d'Alembert so träumt, als wäre er wach, zeigen. In erkenntnistheoretischer Hinsicht fuhrt der performative Widerspruch, den die fiktionale Textstruktur ermöglicht, zu einer eindeutigen Desavouierung des Bordeuschen Modells einer allein auf mechanistisch gedachten Abbildungsvorgängen beruhenden Vorstellung. Denn Bordeus am Traum festgemachte Theorie der Erkenntnisbildung beinhaltet, dass die von der Außenwelt induzierten Sinneseindrücke in der von der Natur vorgegebenen Reihenfolge im Gedächtnis kompilatorisch kombiniert werden. Die Kritik an diesem krude deterministischen Materialismus bezieht sich indessen nur auf den Aspekt der Qualität der Kombination von sinnlich vermittelten Ideen zu Ideenkomplexen. Denn die Einbildungskraft, deren Wirken anhand der Analogiebildung veranschaulicht wird, wird hier nicht als kreative Imagination im Sinne einer Fähigkeit des Komponierens referenzloser Bilder vorgestellt.60 Vielmehr veranschlaulicht d'Alemberts Bienenstock-Analogie, wie die Einbildungskraft auf der Grundlage wieder auftauchender Sinneseindrücke bzw. aus dem Gedächtnis abgerufener Ideen, die den Tenor einer Gesprächssequenz des Vorabends reflektieren, einen erkenntnisbildenden Kombinationsprozess freisetzt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der im Text angelegte erkenntnistheoretische Entwurf die Erweiterung der materialistischen Erkenntnistheorie um eine transzendentale Dimension beinhaltet. Transzendental wird der Materialismus insoweit, als mit der Einbildungskraft ein genuin apriorisches Erkenntnisvermögen, das an sich irreduzibel ist oder um es mit Voltaire zu sagen, das als Gabe Gottes im Sinne einer Anlage zu betrachten ist, in die materialistische Theorie integriert wird. Damit ist ein transzendentaler Materialismus entworfen, der ein Zusammenspiel zwischen Erfahrung und der Erfahrung vorausgehenden, apriorischen und somit nicht weiter analysierbaren Erkenntnisvermögen impliziert.
59 Von einer literarischen Chiffre spreche ich hier, weil der Traum traditionell mit der Imaginationsleistung assoziiert wird. 60 Behrens verweist darauf, dass Bordeu einen auf referenzloser Kreativität beruhenden Imaginationsbegriff verwirft. Er verkennt aber, dass im Zusammenspiel der Textelemente ein Imaginationsbegriff eingeführt wird, der gerade auf einer referenzialisierbaren Kreativität beruht, Behrens, Dialogische Einbildungskraft (wie Anm. 56), 155.
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In Bezug auf die Funktion der Fiktion im Reve de d'Alembert möchte ich abschließend hervorheben, dass ein an sich irreduzibles Vermögen wie die Einbildungskraft nur im exploratorischen Rahmen der Fiktion, in dem Wirklichkeiten mittels fiktionaler Strategien modelliert werden können, zur Anschauung gebracht werden kann. Die Pointe des Reve de d'Alembert besteht fiktionsästhetisch gesprochen darin, dass die Textfigur d'Alembert zunächst in Anlehnung an die historische Person eine materialismusskeptische Rolle übernimmt, um sie dann im Wege der komischen Verzerrung vorübergehend gegen die Rolle des überzeugten Materialisten einzutauschen. Die Pointe des Textes besteht darin, dass der fiktional modellierte d'Alembert ausgerechnet in seiner Traum-Rolle als überzeugter Materialist zur Gallionsfigur eines kritisch geläuterten transzendentalen Materialismus wird.
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. C L A U D I A A L B E R T lehrt neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die deutsche und französische Literatur des 18. Jahrhunderts. Zu Diderot: Der melancholische Bürger. Ausbildung bürgerlicher Oeutungsmuster im Trauerspiel Diderots und Lessings, Frankfurt a. M. 1983; Tönende Bilderschrift:,Musik' in der deutschen und französischen Erzählprosa des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2002; Imitation de la nature? Probleme der Darstellung in der ,E.ncyclopecUe', in: Franz Eybl, Wolfgang Harms, Hans-Henrik Krummacher, Werner Welzig (Hg.), Enzyklopädien der frühen Neuheit. Beiträge ψ ihrer Erforschung, Tübingen 1995, 200-214, sowie: LArbre, le labyrintbe et le theatre. Les apories de Diderot (en tant qu 'encyclopedists), in: Paul Michel, Madeleine Herren, Martin Rüesch (Hg.), Allgemeinwissen und Gesellschaft, Aachen 2007, 451—459. Prof. Dr. P E T E R - A N D R E A L T lehrt neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Beispielhaft für seine zahlreichen Publikationen zu Schiller und zur Literatur- und Wissensgeschichte des 18. Jahrhunderts: Schiller, lieben — Werk — Zeit, München 2009; Aufklärung, Stuttgart, Weimar 2007; Kopemikanische Lektionen. Zur Topik des Himmels in der Literatur der Aufklärung, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 48 (1998), 141-165; Der Schlaf der Vernunft. Traum und Traumtheorie in der europäischen Aufklärung, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 25 (2001), 55—82; Kartographie des Denkens. Literatur und Gehirn um 1800, in: Norbert Eisner, Werner Frick (Hg.), ,Scientia poetica'. Literatur und Naturwissenschaft, Göttingen 2004, 163—192. Prof. Dr. em. P E T E R B R O C K M E I E R lehrte französische und italienische Literatur sowie allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Einen Schwerpunkt seiner Forschungen bildet die französische Aufklärung: La raison en marche. Über Form und Inhalt der Belehrung bei Montesquieu, Marivaux und Voltaire·, in: Hans-Gerd Rötzer, Herbert Walz (Hg.), Europäische Lehrdichtung. Festschrift für Walter Naumann, Darmstadt, 1982, 159-173; Bildung, Glück und das allgemeine Interesse. Wielands ,JAusarion" (1768) und La Mettries „Discours sur le bonheur" (1748), in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 20 (1996), 113—133; Die Kritik der Vorurteile in derfranzösischen Literatur des 18. Jahrhunderts, in: Peter Brockmeier, Hermann H. Wetzel (Hg.), Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1981, Bd. 1, 321-399. Zur Genieästhetik des 18. Jahrhunderts: Die Frau als Naturgenie. Sades Juliette und Madame de Staels Corinne, in: Brunhilde Wehinger (Hg.), Konkurrierende Diskurse. Studien zur französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Zu Ehren von Winfried Engler, Stuttgart 1997 (ZfSL Beihefte, 24), 42-56.
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Dr. VEIT ELM lehrte französische Literatur am French Department der Princeton University und neuere Geschichte am History Department der University of California Berkeley. Sein Interesse gilt der Geschichte der Geschichtsschreibung, der französischen Aufklärung und hier insbesondere dem Verhältnis von Geschichte und Literatur. Hierzu: Wissenschaft und Literatur in Rousseaus frühen Erziehungsschriften, dem ersten ,Discours' und,Emile ou de l'education', in: Ivo Cerman, Lubos Velek (Hg.), Adelige Ausbildung. Die Heraurforderung der Aufklärung und ihre Folgen, Internationale Tagung, Tschechische Akademie der Wissenschaften, Prag 26—27. November 2004, München 2006,17—44; Tragödie und Geschichtsschreibung bei Voltaire, in: Vanessa de Senarclens (Hg.), Das Tragische im Jahrhundert der Aufklärung, Hannover 2007, 21-51; Die Eigendynamik der Medien: modernistische und klassizistische Rombilder in Voltaires politischen, historischen und dramatischen Werk, in: Veit Elm, Günther Lottes, Vanessa de Senarclens (Hg.), Die Antike der Moderne. Vom Umgang mit der Antike im Europa des 18. Jahrhunderts, Hannover 2009, 109—147; Les guerres de religion en France dans l'histoire du monde. Representation epique, historique et dramatique de la violence religieuse dans l'auvre de Voltaire, in: Marie-Madeleine Fragonard, Jacques Berchtold (Hg.), Le souvenir des Guerres de Religion. Enjeu historique, enjeu politique, 1760-1830, Genf 2009,137-65. Dr. YANN LAFON, -wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin, wurde 2008 mit der Arbeit Zur Interdependent von Fiktion und Epistelolgie in Denis Diderots Erzähltexten promoviert. Dr. THORSTEN KÖNIG, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanistik der Technischen Universität Dresden, wurde 2007 mit der Arbeit Naturwissenschaft, Ästhetik und Religion in Bemardin de Saint-Pierres „Etudes de la nature " an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Prof. Dr. em. SEBASTIAN NEUMEISTER lehrt französische, italienische und spanische Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zu Pierre Bayle und der französischen Frühaufklärung: Pierre Bayle oder die Lust an der Aufklärung, in: Hans-Albrecht Koch, Agnes Krup-Ebert (Hg.), Welt der Information. Wissen und Wissensvermittlung in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1990, 62-78; Enzyklopädische Sichtbarkeit. Eine problemgeschichtliche Skivge, ebd., 49-61. Pierre Bayle und der Mythos. Postmoderne Lektüre eines protestantischen Querdenkers, in: Sebastian Neumeister (Hg.), Frühaufklärung, München 1994, 127—148; Unordnung als Methode: Pierre Bayle in der Geschichte der Enzyklopädie, in: Franz M. Eybl, Wolfgang Harms, Hans-Henrik Krummacher, Werner Welzig (Hg.), Enzyklopädien der Frühen Neuzeit, Tübingen 1995, 188-199. Pierre Bayle. Ein Kampffür religiöse und politische Toleranz, ^ Lothar Kremendahl (Hg.), Philosophen des 17. Jahrhunderts, Darmstadt 1999, 222-237; Der Artikel,Loyola' in Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique (1696), in: Iberoromania 18, Tübingen 1983,116-128. Prof. Dr. HELMUT PFEIFFER lehrt romanische Literaturen und allgemeine Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört neben der französischen Aufklärung die frühneuzeitliche
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Selbstkultur. Hierzu: Der sociale Nutzen der Kunst. Kunsttheoretische Aspekte der frühen Gesellschaftstheorie in Trankreich, Darstellung und Materialien, München 1988; mit Roland Galle (Hg.), Aufklärung München 2007; Wahrheit, Läge, Fiktion: JeanJacques Rousseau, in: Franziska Sick, Helmut Pfeiffer (Hg.), Lüge und (Selbst-)Betrug, Würzburg 2001, 45-59; Machiavellis Anthropologie der Selbsterhaltung und ihre Schreibart. Das Beispiel der Ghiribiigi, in: Walter Haug, Burkhart Wachinger (Hg.), Innovation und Originalität, Tübingen 1993, 133-161; Das Ich als Haushalt. Montaignes ökonomische Politik, in: Roland Galle, Rudolf Behrens (Hg.), Historische Anthropologe und Literatur. Romanistische Beiträge ψ einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft, Würzburg 1995, 69—90. Montaignes Enteignungen, in: Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle, Peter Schulz (Hg.), Geschichte und Votgeschichte der modernen Subjektivität, Berlin, New York 1998, 641-670. Prof. Dr. JOHANNES ROHBECK lehrt praktische Philosophie und Didaktik der Philosophie an der Technischen Universität Dresden. Sein besonderes Interesse gilt der Geschichtsphilosophie. Zur Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts: Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der \weiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M., New York 1987; Turgot und die Geschichtsphilosophie derfranzösischen Aufklärung, in: Iwan D'Aprile, Thomas Gil, Hartmut Hecht (Hg.), Französische Aufklärung, Berlin 2001,123—142; Laphilosophie de l'histoire che\ι Antoine-Yves Goguet: Chronologe biblique et progres historique, in: DixHuitieme Steele 34 (2002), 257—266; Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie. Laßtau und Turgot - Zur aufgeklärten Gegenaufklärung in Frankreich, in: Horst Dippel, Helmut Scheuer (Hg.), Georg-Forster-Studien II, Berlin 1998, 57-78; Historisierung des Menschen. Zum Verhältnis von Naturgeschichte und Geschichtsphilosophie, in: Walter Schmitz, Carsten Zelle (Hg.), Innovation und Tranrfer — Naturwissenschφ, Anthropologe und Literatur im 18. Jahrhundert, Dresden 2004, 121-130; Erklärende Historiographie und Teleologie der Geschichte, in: Jörn Garber, Heinz Thoma (Hg.), Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologe im 18. Jahrhundert, Tübingen 2004, 77-99; Von der Heilsgeschichte %ur Weltgeschichte. Histoire universelle bei Bossuet und Turgot, in: Rene Kaufmann, Holger Ebelt (Hg.): Srientia et Religio. Riligonsphilosophische Orientierungen. Festschriftför Hanna-Barbara Gerl-Falkovify Dresden 2005,111-123. Prof. Dr. WILHELM SCHMIDT-BlGGEMANN lehrt Geschichte der Philosophie an der Freien Universität Berlin. Sein Interesse gilt der Phänomenologie des Erzählens sowie dem Geschichtsdenken des 17. und 18. Jahrhunderts und dessen theologischen Grundlagen. Beispielhaft sei verwiesen auf: Theodi^ee und Tatsachen: das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988; Geschichte als absoluter Begriff: der Lauf der neueren deutschen Philosophie, Frankfurt a. M. 1991; Politische Theologie der Gegenaufklärung: Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004; Apokalypse und Philologe. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuheit, Göttingen 2007.
Namen- und Sachverzeichnis
Algarotti, Francesco 114 Aristoteles 113,115 Astronomie 26, 49 Augustinus 14, 36,147,148,160,165 Bacon, Francis 49,102,111,114,123 Barthes, Roland 93 Barthez, Paul Joseph 178 Bayle, Pierre 9,11,13,16, 73-79,132 Bergerac, Cyrano de 114 Biologie 26,112,127,192 Blumenberg, Hans 26,147,149 Bossuet, Jacques-Benigne 22, 31, 36, 75 Bruno, Giordano 50 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 179,183,188-189
Diderot, Denis 12, 13, 22, 47, 86, 9192,178-181,195-217 Jacques le Fataliste 12,16, 92 Le Neveu de Rameau 153 Pensees sur l'interpretation de la nature 195 Le Reve de d'Alembert 15,16,178, 195-199,208 Histoire des deux Indes 47 Droysen, Johann Gustav 29 Encyclopedic 9,12-13,16,73,75,85, 93, 99-100,105,114,127,213 Engel, Johann Jakob 62 Enzyklopädismus 50,51,113
Ferguson, Adam 21, 37, 75-76 Fichte, Johann Gottlieb 65 Flaubert, Gustave 91 Canguilhem, Georges 175,177 Fontenelle, Bernard Le Bouyer de 10 Chateaubriand, Rene de 192 13,114,117-124,126,129,131, Chemie 49,112 132,137,140 Cicero, Marcus Tullius 67 Condorcet, Marie-Jean-Antoine-Nicolas Foucault, Michel 113,120,189,191, 192 Caritat de 10, 22, 26-27, 44-49, 102,112 Französische Revolution 8,10,15, 24, Coste, Hilarion de 79 34,44,45,48, 50,102,137 Freret, Nicolas 22 D'Alembert, Jean Le Rond 13, 72, 97, Freud, Sigmund 31 Furetiere, Antoine 76 138,197-198 Derrida, Jacques 91,93 Descartes, Rene 8, 11, 13, 16, 25-26, Galilei, Galileo 26,49,130 49, 84,102,111,116,128,130,175, Gatterer, Johann Christoph 62, 66-67, 199, 208 68
Namen- und Sachverzeichnis
224 Genie 12, 21, 23, 24, 32, 62, 99,100102,104,106,190 Geologie 26 Gibbon, Edward 47 Goethe, Johann Wolfgang von 13, 84, 98, 99,106,181 Gossman, Lionel 74,128,139 Gott 31,47,54,55,99,106,147-150, 163
Lamarck, Jean-Baptiste 182 Leibniz, Gottfried Wilhelm 49,102, 112,127,162-166,171,180 Lessing, Gotthold Ephraim 8, 62 Lessing, Theodor 75 Linne, Carl von 14,183, 185,188,191 Locke, John 14, 26, 49,102,162-163, 165 Löwith, Karl 35,36 Luhmann, Niklas 57,146,160,161 Lukian von Somosata 132 22, Lukrez 102,114
Habermas, Jürgen 34 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23,33, 68,75,155,162 Herder, Johann Gottfried von 58, 66 Hermeneutik 29 Hobbes, Thomas 23 Horaz 12 Hugo, Victor 13,106 Humboldt, Alexander von 182,190, 191,193 Humboldt, Wilhelm von 61 Huygens, Christiaan 26
Maimbourg, Louis 82-83 Mathematik 25,44-47,49,50,91 Maupassant, Guy de 74 Maupertuis, Pierre Louis Moreau de 129 Menschenrechte 34, 50 Mercier, Sebastien 191 Montaigne, Michel de 171 Montesquieu, Charles-Louis de 27,47, 114,124-126,137,140 Imitatio 12, 42, 95-97, 105, 115, 141, Moral 33,34,35,44,51,55,56,64,68, 187 115 Mythos 40,43,45,50,73,111,115, 117,118,121,123,133 Jaucourt, Louis de 12, 99,100-101 Kant, Immanuel 9, 22, 23, 24,190, 196, 203 Anthropologie 65 Idee zu einer allgemeinen Geschichte 28 Kritik der Urteilskraft 63 Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte 56 Kirchengeschichte 11, 36, 48,141 Koestler, Arthur 101 Kontingenz 43, 46, 50, 51 Koselleck, Reinhart 34, 64 La Rochefoucauld, Francis de 167, 168
Naturgeschichte 16, 26, 59, 62, 68, 76, 127,137,177,180 Naude, Gabriel 82 Newton, Isaac 13,15, 25,102,112, 127,129,130 Novalis 91 Ökonomie 27, 29, 31-33, 36, 44, 47, 49, 57, 91,106, 132 Pascal, Blaise 44 Perrault, Charles 96, 97,116 Petrarca, Francesco 12, 95, 96 Philologie 49
Namen-und Sachverzeichnis Physik 25, 26, 76, 111, 112,120, 127, 175 Physiokraten 31,44 Physiologie 113,114,124 Psychologie 31,68,113,121 Pyirhonismus 7, 9,11
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Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung 61 Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde 30, 54 Geschichte des Dreyßigjährigen Kriegs 62 Querelle des Anciens et des Modernes Thalia-Abhandlungen 61 36, 96,116 Über das Erhabene 69 Quintiiianus, Marcus Fabius 95, 97, 98 Von den nothwendigen Greifen des Schönen besonders im Vortrag Raynal, Guillaume-Thomas 22, 47 philosophischer Wahrheiten 65 Republique des lettres 7,111,112,113 Was heißt und 2u welchem Ende Ricceur, Paul 28,30 studiert man Universalgeschichte? Roman 53,67,74,83,121,138,186 28,30, 56-57, 59-60, 66,69 Rousseau, Jean-Jacques 10,13, 14, 22, Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich von 46,126-128,135-141,144 91 Confessions 14,144—161,166 Contrat social 140 Schlözer, Ludwig August 29, 57, 58, Discours sur les sciences et les arts 59, 68 136,137,140 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper Discours sur l'origine et les fonde3th Earl of 189 ments de l'inegalite 55,137, 140, Simon, Claude 96 156 Smith, Adam 29,37 Stahl, Georg Ernst 178,181,189 Emile 14,114,139 Entretien sur les romans 138 Reveries 14,168-174 Tableau 15, 46, 47,175,184,186,187, 188,190-191 Sade, Donatien Alphonse Franfois de Technik 36,45,49-50, 86, 93,104, 106,132 93,102,107 Säkularisierung 35, 36, 47 Teleologie 21-24, 27-28, 30-35, 56, Saint-Pierre, Bernardin de 13,14,15, 57, 60, 62, 68,69,112,177 Theologie 46,54,83,113,130,177 16,176-188 Saint-Simon, Claude-Henri de Rouvroy Tocqueville, Alexis de 13,105,161, 162 de 13,102,103-106, 162 Tragik / Tragödie 40,100,115,119, Schapp, Wilhelm 75 121,130-134 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von Troeltsch, Ernst 31 54 Turgot, Anne Robert Jacques 9 , 2 1 Schiller, Friedrich von 8, 9,10,11, 23,27,36,37 28-30, 58-59 Allgemeine Sammlung Historischer Memoires 62 Utopie 24,114,123,140 DieKünsder 60,64
226 Vasari, Giorgio 98, 99 Vitalismus 15,177,181-182,188,200, 203, 206, 211 Volney, Constantin Francis 22 Voltaire 8, 10, 13, 14, 16, 22, 27, 37, 47, 98,100,126-136 Dictionnaire philosophique 83 Elements de la philosophie de Newton 129,131 Essai sur les mceurs et l'esprit des nations 132 Henriade 128,130
Namen- und Sachverzeichnis
Histoire 131 Lettres philosophiques 8,128,129, 130 Micromegas 114,132 Tragödien 133-134 Weinrich, Harald 76 Weltgeschichte 11, 25, 28, 29, 49, 58, 69,140 White, Hayden 30 Zufall 32,60,63,68