Auf dem Weg zur Realisierung der Einheit Deutschlands: (Jahrbuch 1991) [1 ed.] 9783428475117, 9783428075119

VorwortDie erste Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung im wiedervereinigten Deutschland am 28. Februar

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Auf dem Weg zur Realisierung der Einheit Deutschlands: (Jahrbuch 1991) [1 ed.]
 9783428475117, 9783428075119

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Auf dem Weg zur Realisierung der Einheit Deutschlands Jahrbuch 1991

SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND35

Jahrbuch 1991

Auf dem Weg zur Realisierung der Einheit Deutschlands

Herausgegeben von

Alexander Fischer Maria Haendcke-Hoppe-Arndt

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Auf dem Weg zur Realisierung der Einheit Deutschlands I hrsg. von Alexander Fischer ; Maria Haendcke-Hoppe-Amdt. Berlin : Duncker und Humblot, 1992. (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 35 : Jahrbuch; 1991) ISBN 3-428-07511-0 NE: Fischer, Alexander [Hrsg.]; Gesellschaft für Deutschlandforschung: Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung I Jahrbuch

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Volker Spiess, Berlin 30 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-07511 -0

INHALT Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Friedrich Haffner Die Transformation der Kommandowirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft - Probleme und Aussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II

Günter Nötzold Neuordnung der außenwirtschaftliehen Beziehungen in den neuen Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Eckart Klein Der Einigungsvertrag- Verfassungsprobleme und -aufträge . . . . . . .

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Peter Hübner Von der friedlichen Herbstrevolution 1989 bis zur deutschen Einheit - Das Erbe . . . . . . .

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Siegfried Mampel Föderalismus in Deutschland

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Karlheinz Blaschke Das Werden der neuen Bundesländer

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Wilfried Fiedler Die Herstellung der Souveränität Deutschlands und die Auswirkungen auf das geeinte Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Keren Ansichten eines Israelis zum wiedervereinigten Deutschland

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Verfasser und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VORWORT

Der vorliegende Band enthält die überarbeiteten und zum Teil erheblich er· weiterten Vorträge auf der 13. wissenschaftlichen Arbeitstagung der Gesell· schaft für Deutschlandforschung am 28. Februar und 1. März 1991. Diese erste Jahrestagung der Gesellschaft im wiedervereinigten Deutschland stand unter dem Generalthema "Auf dem Weg zur Realisierung der Einheit Deutschlands", das aus ökonomischer, rechtlicher und politischer sowie aus zeitgeschichtlicher Sicht behandelt wurde. Bei der Wahl dieses Themas im Sommer 1990 war sich der Vorstand der Gesellschaft bewußt - und gehörte damals angesichts der "Einigungseuphorie" mit dieser Meinung sicherlich noch zu einer Minderheit - , daß sich der reale Prozeß der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten für die Menschen in den neuen Bundesländern äußerst schwierig gestalten würde. Die Neuartigkeit der Transformation eines sogenannten sozialistischen, zentral· geplanten Systems in eine Marktwirtschaft, aber auch der geringe Wissensstand in der alten Bundesrepublik über die Funktionsweise des Herrschaftssystems der SED und nicht zuletzt das Fehlen jedweder gedanklicher Vorarbeiten für eine Vereinigung bei allen Bundesregierungen seit der abrupten Auflösung des "Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands" im Jahre 1975 führte zur Unterschätzung der Probleme des Vereinigungsprozesses. Diese traten bereits vor dem Vollzug der politischen Einheit am 3. Oktober 1990 mit dem Beginn der Wirtschafts·, Währungs· und Sozialunion am 1. Juli 1990 schlagartig zutage. Dem Prozeß der ökonomischen Tranformation ist der erste Beitrag von Friedrich Haffner (Universität München) gewidmet. Haffner stellt fest, daß die Hoffnung, allein schon durch die Beseitigung der zentralen Planwirtschaft würde Marktwirtschaft in kurzer Zeit entstehen, getrogen hat. Dazu fehlte es an zu vielen Voraussetzungen, insbesondere an marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssubjekten, aber auch an institutionellen Voraussetzungen im Hin· blick auf Information und Marktorganisation. Im Gegensatz zur Währungsre· form von 1948 fehlte das damalige Umfeld des weltweiten Protektionismus der Nachkriegszeit. Für die neuen Bundesländer gab es im Jahre 1990 keinen derar· tigen Schutz; die Marktwirtschaft floß daher nicht, sondern sie "stürzte" in das Beitrittsgebiet. Von diesem "Sturzbach" wurden zunächst die einheimischen Gü· ter und Leistungen vom Binnenmarkt verdrängt. Große Teile der als Umtausch und Einkommen eingeflossenen DM·Finanzströme kommen damit nicht der ein· heimischen Produktion zugute, sondern fließen in die alten Bundesländer zurück.

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Vorwort

Zu den dramatischen binnenwirtschaftlichen Veränderungen konunt eine völlige Neuordnung der außenwirtschaftliehen Beziehungen in den neuen Bundesländern, wie Günter Nötzold (Universität Leipzig) im zweiten Beitrag darstellt. Einerseits brachen die wichtigsten äußeren Märkte weg, insbesondere derjenige der - inzwischen aufgelösten - Sowjetunion, die mit einem Anteil von 40 vH am Außenhandelsumsatz über Jahrzehnte der wichtigste Handelspartner der ehemaligen DDR war. Andererseits stellt sich angesichts der EGMitgliedschaft der neuen Bundesländer und des bevorstehenden Europäischen Binnenmarktes nunmehr die Frage nach der Standortverteilung in den neuen Bundesländern aus europäischer Sicht. Das besonders in Sachsen und Thüringen vor der Teilung Deutschlands hochentwickelte Wirtschaftspotential wurde vier Jahrzehnte von der zentralen Planwirtschaft ignoriert und damit ausgehöhlt, aber es ging nicht verloren. Nötzold sieht Chancen der Wiederbelebung von Motivation und Kreativität und nicht etwa das Entstehen einer Billiglohnregion. Konsequenter Strukturwandel und nicht das Erhalten alter Strukturen sind angesichts der verlorenen Standortpräferenzen jedoch unumgänglich. Im dritten Beitrag analysiert Eckart Klein (Universität Mainz) den Einigungsvertrag im Kontext der Verfassungsprobleme und -aufträge. Bemerkenswert ist, daß die Deutsche Demokratische Republik dem Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland mit der Erklärung der Volkskammer am 23. August 1990 beitrat und damit zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts am 3. Oktober 1990 um Null Uhr unterging, während die zeitgleich gebildeten Länder, die es vorher nicht gab, Länder der Bundesrepublik Deutschland wurden. Der Wegfall der Vertragspartei DDR beendete aber nicht den Einigungsvertrag, da laut ausdrücklichem Willen der Vertragsparteien die aus dem Vertrag zugunsten der DDR bestehenden Rechte von jedem der fünf neuen Bundesländer geltend gemacht werden können. Neben den unterschiedlichen Problemen, die die im Einigungsvertrag vereinbarten Verfassungsänderungen aufwerfen, widmet sich Klein den zukünftig denkbaren Verfassungsänderungen und deren Durchflihrung.

Peter Hübner (Max-Planck-Gesellschaft, Berlin) zeichnet in seinem Beitrag den atemberaubenden Weg von der friedlichen "Herbstrevolution" 1989 bis zur Wiedervereinigung sowie das historische Erbe aus zeitgeschichtlicher Sicht nach. Unbeschadet der noch ausstehenden geschichtswissenschaftliehen Diskussion über die Verwendung des Revolutionsbegriffes liefert er einige Argumente für dessen Gebrauch. Als herausragende Erfahrung nennt er den keineswegs selbstverständlichen friedlichen Verlauf dieser Revolution; als deren reaktiviertes Erbe sieht er die dreiachsige Orientierung auf Europa, auf die Bundesrepublik Deutschland und nicht zuletzt auf die eigene Region, die auch durch die vierzigjährige Eigenstaatlichkeit der DDR und die damit verbundene Indoktrination nicht ausgelöscht werden konnte.

Vorwort

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Dem Entstehen der neuen Bundesländer sind die beiden folgenden Beiträge gewidmet. Nach der Analyse von Begriff und Wesen des Föderalismus und einem kurzen geschichtlichen überblick widmet sich Siegfried Mampel (Berlin) in einem wegen seines Grundsatzcharakters zusätzlich aufgenommenen Beitrag über "Föderalismus in Deutschland" ausführlich dem Wiederentstehen der deutschen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg und der Entstehungsgeschichte der beiden deutschen Teilstaaten Bundesrepublik Deutschland und DDR. Er untersucht auch die Frage der rechtlichen Identität der neuen Bundesländer mit den 1946/47 in der sowjetischen Besatzungszone gegründeten Ländern. Bei Annahme der Verfassungswidrigkeit der DDR-Maßnahmen von 1950, 1952 und 1968 wären den Ländern Rechtsansprüche verblieben. Derartige kaum angestellte staatstheoretische überlegungen hätten, wie Mampel demonstriert, eminent praktische Bedeutung. Denn bei Annahme der Identität hätte ein "originäres Mitspracherecht" der neuen Bundesländern bei der Privatisierung von Volkseigentum anerkannt werden n'lüssen. Karlheinz Blaschke (Dresden) setzt sich in seinem Beitrag vornehmlich mit den territorialen Aspekten bei der Wiedererrichtung der Länder auseinander. Die weitgehend territoriale Identität der neuen Bundesländer mit den alten Ländern entspricht nach seiner Meinung nicht dem aktuellen Stand der wissenschaftlich begründeten politischen Raumordnung. Die Länderbildung hätte zu sehr unter dem emotionalen Druck einer wenig informierten Bevölkerung gestanden. Von der "Weisheit", die bei der Gründung der Länder Baden Württemberg oder Niedersachsen geherrscht habe, seien die verantwortlichen Politiker weit entfernt gewesen.

Die beiden letzten Beiträge sind den internationalen Beziehungen des wiedervereinigten Deutschlands gewidmet. Wilfried Fiedler (Universität Saarbrücken) analysiert die Herstellung der Souveränität Deutschlands und die Auswirkungen auf das geeinte Europa. Erst die Feststellung des Zwei-plus-Vier-Vertrages (Souveränitätsvertrag) vom 12. September 1990, wonach das vereinte Deutschland - nach dem Ende der Rechte der Vier Mächte - die "volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten" erlangte, habe den schwankenden Boden der Souveränitätsdiskussion gefestigt und die Reduktion der Souveränität von Bundesrepublik Deutschland und DDR beseitigt. Im Hinblick auf die europäische Einigung soll nach der Präambel des Vertrages das vereinte Deutschland als "gleichberechtigtes souveränes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt" dienen. Mit dem nunmehr erreichten Status "normaler" Staatlichkeit ist erst jetzt die Gleichstellung der Bundesrepublik mit den anderen EG-Mitgliedstaaten vollzogen. Ein Rest staatlicher Aktivität bleibt damit nach Fiedler auch außerhalb europäischer Dimension erhalten. Der Beitrag von Michael Keren (Hebräische Universität, Jerusalem) beleuchtet die Wiedervereinigung aus der spezifischen Sicht eines israelischen Natio-

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Vorwort

nalökonomen und Kenners der DDR-Wirtschaft. Auf Grund des wenige Stunden vor der Tagung beendeten Golfkrieges steht dieser Beitrag unter dem Eindruck der damaligen Ereignisse in Israel. Bestinunte Verhaltensweisen in Deutschland wie die Exporte von Ausrüstungen an den Irak oder die vehementen Antikriegsdemonstrationen rückten die in deutschem Namen begangenen Verbrechen in der Vergangenheit- insbesondereangesichtsdes gerade wiedervereinigten Deutschlands - in Israel in den Brennpunkt. Berlin/Bonn, im Mai 1992

Die Herausgeber

Friedrich Haffner DIE TRANSFORMATION DER KOMMANDOWIRTSCHAFT IN EINE SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT

Probleme und Aussichten Der Zusammenbruch des DDR-Wirtschafts- und Sozialsystems ist im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung in Osteuropa zur Demokratie zu sehen, aber auch als Sonderfall. Die Gemeinsamkeiten liegen in der Funktionsuntüchtigkeit der sozialistischen Planwirtschaft, die in Osteuropa- und DDRForscherkreisen in Jahrzehnten analysiert und herausgestellt worden sind. Die Unterlegenheit der sozialistischen Systeme läßt sich im Vergleich zu westlichen Marktwirtschaften auf eine unzureichende statische allokative Effizienz und eine unzureichende Dynamik des Wirtschaftssystems zurückführen, das die Menschen nicht zur gewünschten Wohlstandssteigerung kommen ließ, sondern ihnen auch eine permanente politische und gesellschaftliche Einengung, u.a. auch durch die planwirtschaftliehen Erfordernisse, zugemutet hat. Die tieferliegenden Wurzeln ftir den Zusammenbruch sind in allen Ländern ähnlich, wenn nicht sogar gleich; gleichwohl war der äußere Ablauf der Veränderungen und der Übergang zur sich entwickelnden Marktwirtschaft im einzelnen doch sehr verschieden. Die Sonderrolle der DDR bestand vor allem darin, daß sie zu den Ländern gehört hat, die sich am längsten gegen wirtschaftliche und politische Reformen gewehrt haben und am alten sozialistischen System festhielten. Kennzeichnend war die Ablehnung der Gorbatschowschen Reformpolitik durch führende Mitglieder der DDR-Spitze, unterstützt durch manche Wissenschaftler, 1 wie sehr auch die Bevölkerung selbst anderer Meinung gewesen sein mag. Auch die Initialzündung zu einer grundlegenden Veränderung ging in der DDR nicht von oben wie in der UdSSR, nicht von den Gewerkschaften wie in Polen, sondern eher von Teilen der Bevölkerung aus, die das Land verlassen oder sich gegen das Regime in Demonstrationen gewehrt haben. Die sogenannte friedliche Revolution war eine Revolution von unten. Der dritte markante Unterschied liegt darin, daß sich die Transformation zur Marktwirtschaft nicht von innen heraus ent1 Zum Beispiel J. Kuczynski, in: Neues Deutschland v. 22.12.1988, und 0. Reinhold, ebd. v. 14.12.1989.

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Friedrich Haffner

wickeln mußte - ein extrem schwieriger Weg, den die anderen osteuropäischen Länder vollziehen müssen -, sondern daß sie mit der Vereinigung durch die Übernahme des westdeutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialsystems vollzogen werden konnte. Dieser Sonderfall DDR hatte zur Folge, daß der Zusammenbruch einerseits schneller und totaler erfolgte als in irgendeinem der anderen Länder, andererseits aber auch der Transformationsprozeß durch die fmanzielle Hilfe des Westens, durch Übernahme von Gesetzen und Verordnungen, durch Beratung und andere Hilfen relativ leichter vonstatten gehen konnte. Gleichwohl sind die Probleme der Transformation in Ostdeutschland im Jahre 1991 unüberschaubar. Viele hatten sich den Übergang erheblich leichter vorgestellt und sich - psychologisch verständlich - erheblich höhere Lebensstandardsteigerungen vorgestellt, als tatsächlich eingetreten sind. Die vielen Probleme, die nunmehr auf die Bevölkerung zukommen, sind unerwartet, weil sie weder kognitiv noch erfahrungsmäßig darauf vorbereitet waren. 2 Hinzu kommt, daß in vierzig Jahren Sozialismus in der DDR zwar nicht eine grundsätzlich neue Bewußtseinsqualität gewachsen ist, aber doch durch sozialistische Ideologie und Praxis viele Verhaltensweisen eingeschliffen wurden, aus denen heraus das Neue unverständlich ist. Sie sind jetzt obsolet und nicht mehr anwendbar. Im Hintergrund steht ein sozialistisches Weltverständnis, das immer schon nur eine sehr beschränkte Geltung gehabt hat und nunmehr aber als überwunden gelten muß. Im folgenden soll auf einzelne Probleme der Wirtschaft Ostdeutschlands, wie sie sich im Jahre 1991 darstellen, eingegangen werden, wobei zunächst ein allgemeiner theoretischer Hintergrund, von dem aus die Transformation zur Marktwirt· schaft theoretisch erfaßt werden kann, angedeutet werden soll; dann werden die bereits vollzogene Übernahme des westdeutschen Geldsystems, die Probleme des Aufbaus und der Entwicklung der Marktwirtschaft sowie makroökonomische Bedingungen und Hindernisse fill einen erfolgreichen Wirtschaftsablauf sowie schließlich die Übernahme westlicher Wirtschaftspolitik behandelt. Dabei soll auch gelegentlich auf die durch die reale Entwicklung veränderte Position der westlichen ehemaligen DDR-Forschung eingegangen werden. 1 Die Transformation als Systemwechsel

Dem Slogan vom Übergang von der Kommandowirtschaft zur Marktwirtschaft liegt ein bestimmtes Systemverständnis zugrunde, das auf der einen Seite die sozialistischen Planwirtschaften als Kommandowirtschaft apostrophiert und im Begriff der Marktwirtschaft die Gesamtheit westlicher Wirtschaftsformen umfaßt. Es versteht sich von selbst, daß mit diesen Begriffen allein nicht die 2 K. Belwe: Psycho-soziale Befindlichkeit der Menschen in den neuen Bundesländern nach der Wende im Herbst 1989; Gesamtdeutsches Institut, Bonn 1991.

Transformation der Kommando- in eine soziale Marktwirtschaft

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Gesamtheit der komplexen Koordinationssysteme einer modernen Volkswirtschaft erfaßt werden kann. hnmerhin bedeutet die Übernahme des im Grunde ordoliberalen Begriffs der Kommandowirtschaft in Osteuropa für das alte System die Anerkennung, daß mit diesem Begriff wesentliche Teile des sozialistischen Wirtschaftssystems erfaßt und auf den Begriff gebracht werden können. Tatsächlich kann man unter dem Begriff Kommandowirtschaft sowohl das System der staatlichen Planung der Wirtschaft, das sich im wesentlichen mit den Techniken der Bilanzierung und Kennziffernplanung beschreiben läßt, als auch das der direkten Leitung durch obere Führungsorgane, denen gegenüber die unteren unmittelbar zur Observanz verpflichtet sind, zusammenfassen. Aber das sozialistische System alter Prägung umfaßte auch Koordinationsformen, die nicht unmittelbar der Zentrale zugänglich waren, wie die Entscheidungen der Betriebe in den verbliebenen Restfreiräumen, von denen manchmal Prozesse ausgingen, die als Marktelemente oder Marktbeziehungen bezeichnet wurden. Auch die indirekte Steuerung der Betriebe durch den Staat über die sogenannten ökonomischen Hebel wie Preise, Steuern, Zinsen u.a. stellen eine eigene Methode in der Koordination der Volkswirtschaft dar, wie ungenügend sie im Konkreten auch funktioniert hat. Ohne auf das alte System im einzelnen einzugehen, muß doch festgestellt werden, daß nur dann, wenn man in sehr abstrakten Begriffen der Kommandowirtschaft denkt, eine Konstanz des Systems von der Schaffung der stalinistischen Planwirtschaft bis zu ihrem Ende in den 80er Jahren bestanden hat. Tatsächlich entwickelten sich in ihm Verfeinerungen und Vervollkommnungen der Steuerungsformen. Allerdings konnten auf diese Weise ihre grundlegenden Mängel, die Ineffizienz in statischer und dynamischer Hinsicht, die Versorgungsengpässe u.a., nur zeitweise gelindert, nicht beseitigt werden. Dies ist manchmal von denjenigen, die auf eine Evolution des sozialistischen Systems hofften oder sie auch nur flir möglich hielten, wie der Verfasser, nicht hinreichend beachtet worden. Auch der beabsichtigte Übergang zur Marktwirtschaft ist mit der Charakterisierung als Marktwirtschaft nur unzureichend erfaßt, da konkrete Marktwirtschaft im Westen durch eine vielfältige Ausgestaltung des marktwirtschaftliehen Systems, durch wirtschaftspolitische Steuerung, durch CollectiveBargaining-Prozesse, durch unterschiedliche Organisationsgrade und Organisationsfomen, sehr komplex und von Land zu Land verschieden gestaltet ist. Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft kann also nicht eine Lehrbuchmarktwirtschaft gemeint sein, sondern ein Wirtschaftssystem, das weitaus komplizierter ist und sich aus verschiedenen Steuerungsformen zusammensetzt, als dessen Grundlage der Markt-Preis-Mechanismus in seiner konkreten Ausgestaltung durch Marktformen, Marktprozesse und Marktentwicklung gelten muß. Dieser muß als das primäre Koordinationssystem betrachtet werden, das durch andere sekundäre Formen der volkswirtschaftlichen Koordination ergänzt und mit ihnen zusammen in unterschiedlicher Gewichtung die konkreten marktwirt-

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schaftliehen Systeme einzelner Uinder ergibt. Versteht man auf diese Weise die Transformation von der Kommandowirtschaft zur Marktwirtschaft, kann sie nicht nur darin bestehen, das planwirtschaftliche System zu beseitigen und statt dessen einen Marktmechanismus zu installieren, sondern es müssen eine Vielzahl von Transformationsprozessen auf Teilgebieten in Gang gesetzt werden, die, wie die Teilkoordinationssysteme selbst sowie die Märkte untereinander, in einem interdependenten Zusammenhang stehen. Für die ehemalige DDR war mit der Obernahme der bundesdeutschen sozialen Marktwirtschaft die Frage des Zielmodells weitgehend gelöst, nicht so für andere sozialistische Uinder. Die Transformation durch Obernahme des westdeutschen Wirtschaftssystems bringt gegenüber anderen Formen der Transformation (marktwirtschaftliche Entwicklung aus sich selbst) bedeutende Vorteile. Sie liegen vor allem darin, daß ein relativ gut funktionierendes marktwirtschaftliches System mit austarierten Rahmenbedingungen bei nur relativ wenigen Anpassungen zur Anwendung kommen konnte. Allerdings bestehen auch erhebliche Schwierigkeiten insofern, als vom Stadium des alten planwirtschaftliehen Systems aus gesehen diese Obernahme als ein "überstülpen" und als ein fremdbestimmter Konstruktivismus verstanden werden konnte. Hierbei sind Fragen der Geltendmachung neuen Rechts und des Nachwirkens alter Mentalitäten angesprochen, die im folgenden noch zu erörtern sind. Die Obernahme des marktwirtschaftliehen Systems in der ehemaligen DDR erfolgte in relativ sehr kurzer Zeit. bn nachhinein kann man eher das Modell der Schocktherapie auf die überflihrung in eine Marktwirtschaft in Anspruch nehmen als das des Gradualismus, das eher einen langsamen Obergang projiziert hätte. Aber die rasche Obernahme des Geld-, Wirtschafts- und Sozialsystems am 1. Juli 1990 und die Erweiterung durch den Einigungsvertrag zum 3. Oktober 1990 mit der Obernahme und Anpassung weiterer Gesetze haben die Obernahme des westlichen Systems nur auf der Ebene der juristischen Geltung, noch nicht auf der Ebene des tatsächlichen Vollzugs und des Entstehens einer neuen Wirtschaftsordnung erreicht. Im Gegenteil, die Probleme der realen Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft in Ostdeutschland sind im wesentlichen erst danach entstanden und bedürfen noch der Lösung, die erst allmählich, auch in Trial-and-Error-Prozessen, gefunden wird. In gewisser Weise sind sogar Probleme des Obergangs erst durch die Transformation entstanden, wenn auch ein Großteil davon seine Wurzeln im alten planwirtschaftliehen System hat. Die gegenwärtige Zeit ist dadurch gekennzeichnet, daß wir erst am Anfang der Lösung dieses Transformationsproblems stehen. Nur ein kleiner Teil kann schon als gelöst betrachtet werden. Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik, ein hochkomplexes, gesellschaftliches Koordinationssystem, wird durch die Vereinigung auch neue Entwicklungen und bnpulse erfahren. Nur von einem unhistorischen Standpunkt aus kann man von der Optimalität eines Wirtschaftssystems sprechen. In der Realität unterliegt es immer

Transformation der Kommando- in eine soziale Marktwirtschaft

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der Veränderung. So haben mit der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland auch Veränderungen der konkreten Formen der Koordination im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft stattgefunden. Mit der Erweiterung dieses Systems auf Ostdeutschland werden neue Impulse hinzukommen, die, wenn auch im Grundsätzlichen die soziale Marktwirtschaft beibehalten wird, bestimmte Entwicklungen Vorschub leisten werden. Darauf ist im einzelnen einzugehen. /1 Die Währungsunion als Ausdehnung des Währungsgebietes der DM

Zu Recht wurde darauf verwiesen, daß das, was als Währungsunion galt, eigentlich nicht eine Vereinigung, sondern eine Ausdehnung des Währungsgebietes der DM auf Ostdeutschland gewesen ist, wobei lediglich die Umtauschsätze der Mark der DDR in DM einer gewissen, übrigens sehr einseitigen, vertraglichen Bestimmung unterlegen haben. Der Umtausch der Mark in DM im Verhältnis I: I für alle laufenden Zahlungen (Stromgrößen) und für 2000 Mark bei Kindern und 4000 Mark bei Berufstätigen und 6000 Mark bei Rentnern sowie der Umtausch im Verhältnis I :2 bei allen übrigen fmanziellen Größen (Bestandsgrößen) stellten die Eckpfeiler dieser Währungsreform dar, die bei den Betrieben durch eine Vielzahl von Regelungen der Umstellung ergänzt worden sind. Die Bundesbank hat insgesamt beim Währungsumtausch 180 Mrd. DM der Geldmengenkategorien M3 geschaffen, was 15% der westdeutschen Geldmenge M3 ausmachte. 3 Sie lag damit ungefähr etwas über dem Wertschöpfungsniveau der DDR-Wirtschaft. überdies ist die Geldmengenentwicklung in Ostdeutschland nach der Währungsreform rückläufig gewesen, während sie irrfolge des Vereinigungsprozesses in der Bundesrepublik noch erheblich zugenommen hat. Will man die Währungsunion nach relativ kurzer Zeit einigermaßen zuverlässig beurteilen, so bieten sich unterschiedliche Beurteilungskriterien an: Das erste besteht darin, daß die banktechnische Durchftihrung, eine enorme technische Aufgabe, relativ reibungslos und ohne erhebliche Probleme bewältigt wurde. Ein zweites Kriterium könnte darin liegen, ob die DM widerstandslos als Rechnungs-, Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel von der Bevölkerung akzeptiert wurde. Wie zu erwarten war, gab es auch hier keine Probleme. Beide Beurteilungskriterien sind von relativ geringer Bedeutung gewesen. Entscheidend ist jedoch die Frage, ob diese komplizierte Aktion unter geldpolitischen Gesichtspunkten erfolgreich gewesen ist. Dabei kommt es vor allem auf die innere Stabilität der Währung, die sich in Inflationsraten ausdrückt, und auf den Außenwert der Währung, die sich im Wechselkurs ausdrückt, an. Beide Erfolgsindikatoren waren positiv. Der Währungsumtausch in Ostdeutschland hat 3

Geschäftsbericht der Deutschen Bundesbank für das Jahr 1990, S. 120 ff.

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nicht zu einer Inflation und Geldentwertung der DM geführt. In Ostdeutschland sind die Preise sogar noch stark von den alten DDR-Preisen beeinflußt gewesen, sie lagen deshalb zumeist nicht unerheblich unter dem westdeutschen Niveau. Auch im Hinblick auf den Wechselkurs kann mit Ausnahme einiger vorübergehender Schwächen, die auch sonst gelegentlich eintreten, eine relative Stabilität des Wechselkurses der DM festgestellt werden. Die Währungsunion liegt auch inzwischen lange genug zurück, so daß der Transmissionszeitraum, in dem währungspolitische Aktionen erst mit Zeitverzögerung ihre Wirkung zeigen, inzwischen ausgelaufen sein dürfte. Inflationsanstiege und evtl. Währungsschwächen, die eintreten können, würden nicht mehr unmittelbar auf die Einführung der DM in Ostdeutschland zurückgeführt werden können, wenn auch indirekte Wirkungen nicht auszuschließen sind. Insgesamt wird man feststellen können, daß im Hinblick auf rein monetäre Kriterien die Bundesbank ihre Ziele der Währungsstabilität beim Umtausch der Währung gewahrt hat. Zu einem kritischen Urteil würde man jedoch kommen, wenn man andere Kriterien der Bewertung heranzieht: Ob der Umtausch in der genannten Relation gerecht gewesen sei, kann nur schwer festgestellt werden und wird ein Diskussionsfeld auch künftighin sein; denn man kann sowohl den Standpunkt vertreten, daß 4000 Mark pro Berufstätigen und die Umstellung der Ersparnisse 1:2 den Eintritt der ostdeutschen Bevölkerung in das Gesamtdeutschland von der Vermögensverteilung her eher zu schlecht gestellt hat. Umgekehrt kann man auch die Meinung vertreten, daß der tatsächliche Wert des Volksvermögens bei weitem nicht der modernen Entwicklung entspricht und zu hohen Prozentsätzen hätte abgeschrieben werden müssen. Zusätzlich ist es mit ökologischen Belastungen behaftet. Die Arbeitsproduktivität liegt erheblich unter dem Umtauschsatz 1: 1, was die Arbeitnehmer scheinbar begünstigt, aber den Einstieg in die westliche Marktwirtschaft im Hinblick auf die Konkurrenzfahigkeit behinderte. Hier liegen unterschiedliche Bewertungskriterien, die nicht zu einem eindeutigen Urteil führen. Die eigentlich kritische Frage, die zur Währungsreform gestellt werden muß, liegt darin, ob die Einführung der D-Mark zu den gegebenen Kursen nicht eine der Ursachen daflir war, daß die ostdeutsche Wirtschaft in große Absatzschwierigkeiten geriet und in der Folge eine große Zahl von Menschen entlassen oder auf Kurzarbeit umstellen mußte. Die mit der wirtschaftlichen Vereinigung verknüpften Schwierigkeiten der ehemaligen DDR-Wirtschaft wären sicher leichter gewesen, wenn die Währungsunion nicht sogleich in Gänze hergestellt und wenn die Umtauschkurse flir Ostdeutschland ungünstiger gewesen wären, so daß die Betriebe über solche Wechselkurse eine gewisse wirtschaftliche Schutzmauer gehabt hätten. Aber bei diesen zunächst durchaus ins Auge gefaßten Alternativen 4 handelte es sich nicht um die Durchführung der Währungsunion 4

Vgl. hierzu P. Hofmann: Eigentums- und Unternehmensstruktur in der DDR im

Transformation der Kommando- in eine soziale Marktwirtschaft

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im eigentlichen Sinne, sondern um ein ganz anderes Konzept der deutschen Vereinigung und der Herstellung eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes, das gerade diese noch hintangestellt und für längere Zeit getrennte Wirtschaftsräume mit getrennten Wirtschaftsgebieten aufrechterhalten hätte. Dies war schon sehr bald aus politischen Gründen nicht mehr möglich gewesen. So ist in der Tat zu fragen, ob durch die Herstellung eines gesamtdeutschen Wirtschaftsgebietes in kurzer Zeit in Form der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion nicht viele Probleme erst entstanden sind. Darauf wird an späterer Stelle eingegangen werden, aber innerhalb des gewählten Gesamtkonueptes der Vereinigung war die Durchführung der Währungsunion nach den oben genannten Kriterien erfolgreich. Die Probleme der Konkurrenzunfähigkeit, der Produktionseinschränkung und der Arbeitslosigkeit sind auf andere Ursachen zurückzuführen, sie sind aber auch nicht durch die Modalitäten der Währungsumstellung erleichtert worden. Ein Problem der Währungsunion trat sogleich auf und ist bis heute nicht befriedigend gelöst: Die Umstellung der Betriebsguthaben und Schulden im Verhältnis 2: l führte bei einem durch das alte System bedingten hohen Schuldenstand zu einer relativ hohen Belastung und außerdem zu einer niedrigen Liquidität der Betriebe. Darauf waren schon gleich nach der Währungsumstellung erste Schwierigkeiten zurückzuführen, die sich auch im kommunalen Sektor einstellten. Hier mußte gleich nach der Vereinigung im Oktober durch verschiedene Finanztransfers Abhilfe geschaffen werden. Der ganze oder teilweise Erlaß der Schulden ist ein eher von Fall zu Fall eingesetztes Instrument der Treuhandanstalt im Zuge von Privatisierungsmaßnahmen. 5 111 Die Einführung der Marktwirtschaft

Die Hoffnung, daß allein schon durch die Beseitigung der zentralen Planwirtschaft Marktwirtschaft in kurzer Zeit entstehen würde, hat getäuscht. Dazu fehlte es an vielen Voraussetzungen, insbesondere an marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftssubjekten, aber auch an institutioneller Voraussetzung im Hinblick auf Informationen und Marktorganisationen. Auch marktmäßiges Verhalten und Denken war in 40 Jahren sozialistischer Indoktrination weitgehend abhanden gekommen. Aber die DDR hatte immerhin den Vorteil, daß die Marktwirtschaft nicht unmittelbar aus der konzentrierten volkseigenen Wirtschaft mit ihren über 200 Kombinaten und rd. 8000 Übergang zu einer sozialen Marktwirtschaft, in: Marktwirtschaft in der DDR. Chancen und Herausforderungen, herausg. v. P. Hofmann u. K. Stingel, Berlin 1990, S. 43 ff. ' So auch im Zehn-Punkte-Programm der Bundesregierung, wenn von der DDR die Ausstattung ihrer Bürger bei Reisen mit eigenen Devisen gefordert wird und von einem gemeinsam finanzierten Devisenfonds die Rede ist. Vgl. den Wortlaut des Zehn-PunkteProgramms in: Politik. Informationen aus Bonn, Nr. 7, Nov./Dez. 1989, S. 4. 2 Fischer I Haendcke-Hoppe-Arndt

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Betrieben autonom entwickelt werden mußte. Die Marktwirtschaft floß aus dem Westen ein, indem in der Regel westliche und ausländische Händler im Westen produzierte Waren in den Straßen der ehemaligen DDR-Städte feilboten und dabei quasi monopolistische Stellungen auf Grund der nicht dauerhaften Kundenbeziehungen und der Unerfahrenheit vieler Käufer in Anspruch nehmen konnten. Auch andere Formen der Marktwirtschaft, die im Westen eher eine Randerscheinung sind, wie die Verlagerung relativ wenig produktiver Wertschöpfungsprozesse nach Ostdeutschland oder die Übernahme der eigentlichen produktiven Verarbeitungsprozesse im Westen mit anschließendem Reexport, schließlich auch Ausschließlichkeits- und Knebelungsverträge, führten in der ersten Phase des Einfließens der Marktwirtschaft zu eher exzeptionellen marktwirtschaftliehen Konstellationen, in denen der eigentliche Markt-PreisMechanismus noch gar nicht wirksam werden konnte. Wegen Konkurrenzunfähigkeit durch schlechte Qualität und zu hohen Preisen waren einheimische Waren mithin nicht mehr absetzbar. Die Wünsche der Bürger richteten sich vor allem auf Waren aus der Bundesrepublik, so daß auch deshalb die aus dem Westen kommende Marktwirtschaft sich gegen die Wirtschaft Ostdeutschlands wandte und zu ihrem offensichtlichen Ruin noch beitrug, während umgekehrt die Bevölkerung der DDR zwar die Vorteile westlicher Waren gern in Anspruch nahm, das kulturelle, soziale und wirtschaftliche Ambiente (Werbung) der Marktwirtschaft jedoch ablehnte und mit ihren alten Vorstellungen über das Unsoziale der Marktwirtschaft verknüpfte. In vielen Fällen förderte auch das westliche Vertreter- und Consultingsystem, das an eigenen Gewinnen häufig mehr interessiert war als an Hilfe flir die neuen Bürger, die Abneigung und das Unbehagen. Inzwischen ist die erste Phase des Einströmens der Marktwirtschaft vorüber, es normalisiert sich die Nachfrage nach Produkten aus den eigenen Ländern und es wachsen neue Geschäfte, Filialen und Niederlassungen eigener Provenienz sowie vor allem durch Unternehmungen des Westens. Allmählich tritt die Marktwirtschaft in ihren eigentlich beabsichtigten Formen zutage. Dabei kommt es vor allem darauf an, daß die Wirtschaftseinheiten der ehemaligen DDR in marktwirtschaftliche Unternehmungen transformiert werden. Hier liegt das Kernproblem, wenn es auch noch eine Reihe anderer zusätzlicher Fragen zu lösen gilt. Mit der Schaffung einer privaten Eigentumsordnung, mit der Überführung der Volkseigenen Betriebe und Kombinate in private Rechtsformen, ihre Übernahme durch private Eigentümer und schließlich die Gewinnung marktwirtschaftlich agierender Manager ist ein langwieriger und schwieriger Prozeß der Entstaatlichung und Privatisierung gekennzeichnet, der noch längst nicht abgeschlossen ist, sondern im Mittelpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung steht. Die Treuhandanstalt, deren Aufgabe die rasche Vollendung dieses Prozesses ist, steht dabei vor einem mehrfachen Dilemma, dem Zielkonflikte zu-

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grunde liegen. Zunächst geht es darum, daß das volkseigene Vermögen nach rechtsstaatliehen Grundsätzen unter der Beachtung der verschiedenen Ansprüche, die aus rd. 70 Jahre zurückliegenden Thrbulenzen der deutschen und DDR-Geschichte entstanden sind, den Berechtigten wieder zukommen zu lassen oder doch wenigstens dafür zu sorgen, daß Ansprüche entgolten werden. Aber die Entscheidung darüber, wer Eigentümer sein soll und wer abzuschieben ist, ist aus rechtsstaatliehen Gründen schon schwierig. Die Diskussion um das im Einigungsvertrag festgelegte Stichjahr 1949 für abzugeltende Ansprüche ist ebenfalls in gewisser Hinsicht willkürlich, wie die Diskussionen zeigen. Mit der Sicherung der Eigentumsrechte ist aber noch gar nicht sichergestellt, daß die Eigentümer auch die Eigenschaften besitzen, die von einem Unternehmer unter den gegenwärtigen Bedingungen gefordert werden. So liegt eine zweite Aufgabe darin, Eigentümer- und Eigentumskomplexe zu schaffen, die ein verläßliches Konzept flir die langfristige Sanierung der Unternehmungen aufzuweisen haben. Diese Zielsetzung müßte eigentlich sogar im Vordergrund stehen, aber sie konkurriert mit dem berechtigten Ziel der Treuhand, für die zu verkaufenden Betriebe - bei meist schwacher Nachfrage - auch angemessene oder gute Preise zu erlösen, die ja den neuen Ländern wieder zugute kommen sollen. In der öffentlichen Auseinandersetzung spielt jedoch neben der rechtsstaatliehen Eigentumsentscheidung und der Schaffung zukunftsträchtiger Wirtschaftseinheiten vor allem das kurzfristige Sanierungsproblem und die Erhaltung von Arbeitsplätzen eine zentrale Rolle. Dieses Sanierungsziel wird in der Regel besonders drängend, so daß es nicht mit den eher langfristigen Zielen einer vernünftigen Entwicklungskonzeption übereinstimmt. Die Treuhand ist dabei auch nach westlichem marktwirtschaftliehen Verständnis überfordert, auch noch kurz- oder langfristig zu entscheiden, ob die Konzeptionen für eine Eingliederung in eine Marktwirtschaft taugen, welche Wachstums- und Beschäftigungseffekte zu erwarten sind. Eigentlich fordert man damit, daß die Treuhand Strukturpolitik betreibt, die in einer Marktwirtschaft ohnehin schwierig ist und flir die ostdeutsche Wirtschaft außer in allgemeiner Form (vgl. unten) kaum konkretisiert werden kann. Schließlich ist dringend erforderlich, daß bei der Privatisierung auch wettbewerbspolitische Gesichtspunkte verfolgt werden. Es besteht sowieso der Verdacht, daß die nachhaltig prägende Struktur der volkseigenen Wirtschaft und die Größe und Marktmacht der westlichen Unternehmer, die als Käufer auftreten, eine Tendenz zu noch stärker vermachteten Marktformen hervorbringt, als sie in der Bundesrepublik ohnehin vorhanden sind. Dieser Entwicklungstrend muß in die überlegungen bei der Privatisierung eingehen, um eine Machtkonzentration, die vielleicht aus dem Gesichtspunkt der Schnelligkeit der Überführung in funktionsfähige Betriebe, wegen der Kapitalkräftigkeit und der Managementerfahrung solcher Käufer durchaus verständlich ist, zu vernachlässigen, doch nicht blindlings zu fördern. Dies wäre nach langfristigen Gesichtspunkten ein gravierender Nachteil, da eine Auflösung von Marktmacht kaum möglich erscheint. 2*

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Überblickt man die verschiedenen Zielsetzungen, die in einer Dilemmabeziehung zueinander stehen, so wird man kaum eine allgemeine Rangordnung der Zielsetzungen aufstellen können, sondern eher eine Prüfung und Entscheidung im Einzelfall vorsehen müssen. So steht die Treuhand zwar unter dem Zwang der öffentlichen Meinung, Schnelläsungen zu fmden, aber die Probleme, die gelöst werden müssen, erfordern eher einen allmählichen Übergang. Es sei auch noch auf einen anderen Zielkomplex hingewiesen, der in der öffentlichen Diskussion kaum noch eine Rolle spielt, nachdem er anfanglieh in der DDR noch heftig diskutiert worden ist, nämlich die volkswirtschaftliche Vermögensverteilung. Dadurch, daß nur in sehr begrenztem Umfang Bewohner der DDR das Kapital aufbringen können, selbständige Unternehmer zu werden oder gar volkseigenes Vermögen großen Umfangs zu kaufen, wird der Zugang der Bevölkerung in den neuen Bundesländern auf kleine mittelständische Betriebe beschränkt sein. Dies ist positiv zu bewerten und wird durch Kreditprogramme und Steuererleichterungen gefördert. Aber die Übernahme der Industrie wird im großen und ganzen durch westdeutsche oder ausländische Kapitalgeber stattfinden. Dies hat unter Vermögensbildungsgesichtspunkten den nachteiligen Effekt, weil die Bevölkerung der ehemaligen DDR vom Eigentum am industriellen Großvermögen so gut wie ausgeschlossen sein wird und sich damit erheblich schlechter stellt als die westdeutsche Bevölkerung, die in der Nachkriegszeit einen erheblichen Vermögenswert in verschiedenen Formen angesammelt hat. Modelle schon bei der Privatisierung die Bevölkerung bzw. die Belegschaft über Beteiligungen einzubeziehen 6 sind nicht realisiert worden. Die Entwicklung der vom Westen unabhängigen marktwirtschaftliehen Formen zu einer autochthonen Marktwirtschaft, wie sie auch in den alten Bundesländern besteht, wird noch eine längere Zeit benötigen. Dazu sind außer der hier vorrangig genannten Entwicklung von marktwirtschaftliehen Wirtschaftssubjekten auch noch die Entwicklung von Märkten als gesellschaftliche Einrichtungen und Institutionen sowie ein entsprechendes ökonomisches Informations- und Berichtswesen erforderlich. In vieler Hinsicht müssen sich die Menschen noch auf die Erfordernisse einer Marktwirtschaft, die von allen Aktivitäten erwartet, einstellen. Für einen Teil der Bevölkerung ist es noch immer ungewohnt, erst durch Preis- und Qualitätsvergleich zu Kaufentscheidungen zu kommen und alte autoritäre Versorgungs- und egalitäre Verteilungsvorstellungen zu überwinden. Beides sind Elemente einer sozialistischen Wirtschaftsmentalität, die nicht von heute auf morgen ausgewechselt werden können. So ist die Entstehung der marktwirtschaftliehen Formen, die erst die Realisierung rationaler Entscheidungen und dynamischer Entwicklungen gestatten, nicht kurzfristig und ohne erheblichen Mitteleinsatz zu verwirklichen. 6 G. Sinn, H.W. Sinn: Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, Tübingen 1991.

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IV. Makroökonomische Probleme

Zunächst bestand die Hoffnung, daß durch die übernahrne des westdeutschen Geldsystems ähnlich wie nach der Währungsreform von 1948 sogleich die Voraussetzungen für eine Entwicklung der Marktwirtschaft und damit für eine rasche Produktionssteigerung und Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung gegeben wären. Dabei wird übersehen, daß für das Gelingen der Währungsreform 1948 eine wichtige Nebenbedingung bestand, welche die Entstehung der Marktwirtschaft wesentlich gefördert hat. Norbert Kloten formuliert dies so: "Hilfreich war, daß der weltweite Protektionismus der Nachkriegszeit vor harter internationaler Konkurrenz abschirmte." 7 Einen solchen Schutz gab es für die neuen Bundesländer nicht, sondern die Marktwirtschaft floß nicht, sondern sie stürzte geradezu in das neue Gebiet ein und, wie oben dargestellt, konkurrierte durch überlegene Wettbewerbsfähigkeit weite Teile der schwachen DDR-Wirtschaft, aus, auch wenn mittel- bis langfristig manche Betriebe vielleicht zu konkurrenzfähigen Unternehmen hätten entwickelt werden können. Der schnellen Konfrontation mit westlichen Produkten und mit den in der praktischen Marktwirtschaft erfahrenen Unternehmungen hat die Wirtschaft der ehemaligen DDR weitgehend nicht standhalten können. Dies ist neben der niedrigen Produktivität die Hauptursache für eine zunehmende Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit. Man kann sich die Frage stellen, ob dieses "Einstürzen" der Marktwirtschaft hätte abgemildert oder verhindert werden können. Aber unter den politischen Bedingungen und dem von der Bevölkerung gewollten Ziel der Vereinigung waren kaum Mittel denkbar, die eine solche Linderung der Konfrontation mit westlichen Konkurrenten hätten bewirken können. Die Aufrechterhaltung eines gesonderten Währungsgebietes für Ostdeutschland, die Errichtung von Zöllen oder anderen administrativen Maßnahmen wären politisch kaum durchsetzbar gewesen. Es bleibt allein die oben genannte Alternative eines schlechteren Umtauschkurses für die Guthaben der DDR-Bevölkerung und für die Stromgrößen, also für Preise, Löhne etc. Diese Alternative allerdings hätte zur Folge gehabt, daß die Einkommens- und Vermögenslage der DDR-Bevölkerung noch weiter unter der des Westens gelegen hätte und die Hoffnungen, die gemacht wurden, noch weiter enttäuscht worden wären. Die Vereinigung mußte, dies war sozusagen eine soziale conditio sine qua non, eine Absenkung des sowieso niedrigen Lebensstandards im allgemeinen zu verhindern suchen; daß sie dann durch Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit für einen Teil der Bevölkerung doch dazu geführt hat, war weder vorauszusagen noch beabsichtigt. Es war eine Folge der Gesamtkonstruktion des Einigungsprozesses, der den schlechten Zustand 7 N. Kloten : Transformation einer zentralverwalteten Wirtschaft in eine Marktwirtschaft. Die Erfahrungen mit der DDR, in: Auszüge aus Presseartikeln, herausg. von der Deutschen Bundesbank, 1/ 1991, S. 4 .

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der DDR-Wirtschaft und alle Unterlassungssünden der Vergangenheit sofort in aller Schärfe offenbarte, aber auch die sozialen Folgen durch eine Übernahme des westlichen Sozialsystems aufzufangen versuchte. lnfolge der Umtauschrelation und des im ganzen zunächst aufrechterhaltenen Einkommensniveaus der DDR-Bevölkerung, nunmehr auf D-Mark-Basis, bei Erhöhung der Renten kam es zu folgender Kreislaufsituation: Ein großer Teil der als Umtausch und Einkommen eingeflossenen DM-Finanzströme wurde für den Kauf westlicher Waren ausgegeben und führte dazu, daß vor allem die west· liehe Konsumgüterindustrie, ergänzt durch ausländische Angebote, einen erheblichen Aufschwung, verbunden mit einer Gewinnsteigerung, verbuchen konnte. Insgesamt wirkte sich dies in Richtung auf ein Wachstum der west· deutschen Wirtschaft von ca. 1,5 Prozent aus, das sich auch in acht Milliarden zusätzlicher Steuereinnahmen niederschlug. Gleichzeitig ging die Nachfrage nach Waren, die in der ehemaligen DDR produziert wurden, erheblich zurück, flihrte zu Einnaluneausfallen, letztlich zur Produktionseinschränkung, zu Entlassungen und Kurzarbeit. Die dadurch entstandene schwierige Situation der Unternehmen und Kommunen in der DDR konnte nur durch zusätzliche Finanztransfers ausgeglichen werden, die eine erhebliche Belastung flir die öffentlichen Haushalte des Westens mit sich brachten. Je weniger es gelingt, den Kreislauf zwischen Einkommen, Produktion und Absatz innerhalb der DDR wieder in Gang zu bringen, desto mehr wird es erforderlich sein, die Liquidität der DDR-Betriebe und -Kommunen sowie der Sozialversicherungsträger über westliche Finanzhilfen aufrechtzuerhalten, damit die Lohnzahlungen und die Sozialleistungen einschließlich Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe aufgebracht werden können. Die teilweise Rückgewinnung einiger Absatzmärkte flir Konsumgüter hat schon den Anfang einer Normalisierung gebracht. Eine Lösung wird jedoch erst möglich sein, wenn verstärkt Investitionen nach Ostdeutschland fließen und damit die Erhaltung alter und die Schaffung neuer Arbeitsplätze in Gang kommt. Erst so wird dem Kreislauf, der sich zuungunsten der DDR-Wirtschaft eingestellt hat und der durch westliche Finanzspritzen in Gang gehalten wird, ein Ende bereitet werden. Auf dem Hintergrund dieser Situation zeigt sich, daß die Vereinigung finanziell auf verschiedene Weise alimentiert werden muß. Im Vordergrund stehen die verschiedenen Finanztransfers des Bundes, der Länder und sonstigen Vermögen, 8 die einerseits auf dem Kapitalmarkt aufzubringen sind und deshalb erhöhte Zinsen bewirkt haben und die andererseits zunehmend ein erhöhtes Steueraufkommen durch Steuererhöhung erfordern. Diese Operationen führen auch dazu, daß die öffentlichen Haushalte des Westens, vor allem von Bund und Ländern, umstrukturiert und stärker auf Ausgaben in den neuen Bundesländern orientiert werden, was zu Lasten der Produktion öffentlicher Güter im 8

Vgl. BFM: Finanznachrichten 52/ 1991 v. 26.8.91 , S. 4.

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Westen geht. Schließlich wird man auch die zunehmende Inflationsrate, die durch Geldmengenerhöhung, durch steigende Zinsen, daneben auch durch nicht durch Produktionsfortschritte abgedeckte Tariflohnsteigerungen bedingt sind, als eine Wirkung der Vereinigung ansehen und als Kosten der Vereinigung qualifizieren müssen.

V. Xnderung der Staatsfunktionen in der Wirtschaft Die Beseitigung der zentralen Planung ist gleichbedeutend mit einer grundlegenden Änderung der Position des Staates in der Wirtschaft. Er kann nicht mehr der Superkoordinator der Wirtschaft mit Hilfe von "Planung, Leitung und ökonomischer Stimulierung" sein, sondern er ist reduziert auf Ordnungspolitik und eine auf das notwendige Maß beschränkte Prozeßpolitik in der Wirtschaft. 9 Die zentralen Funktionen werden dabei durch Bundesbehörden wahrgenommen, die aber nunmehr mehr oder minder gezwungen sind, eine flir das Gebiet der DDR spezifizierte Politik zu betreiben, die den besonderen Erfordernissen dieser Länder gerecht wird. Im Grunde ist dies nichts anderes, als daß der Staat zusätzlich zu den ihm in einer etablierten Marktwirtschaft zustehenden Aufgaben durch die Transformation zur Marktwirtschaft auf Zeit zusätzliche Aufgaben erhält, wie sie die Treuhandanstalt, die staatlich initiierten Beschäftigungsgesellschaften und vor allem die Gesetzesanpassungen und fmanziellen Arrangements zugunsten Ostdeutschlands darstellen. Allerdings sind die neuen Länder mit einer länderbezogenen Wirtschaftsförderungspolitik in einer Situation, in der sie gleichzeitig Transformation und Prozeßpolitik betreiben müssen. Soweit der Staat, seien es Bund, Länder oder auch die Gemeinden, Rahmenbedingungen flir eine Marktwirtschaft schafft, können sie auf bewährte Gesetzzeswerke der Bundesrepublik zurückgreifen, die oftmals vereinfacht und auf die besonderen Bedingungen der ehemaligen DDR zugeschnitten werden müssen. Wie schwierig diese Schaffung von Rahmenbedingungen auch sein mag, sie hat insofern beschränkte Wirkung bei der Gestaltung einer Marktwirtschaft, als sie marktwirtschaftliches Handeln und Agieren der Wirtschftssubjekte selbst nicht initiieren kann, sondern nur die Bedingungen, unter denen dies erfolgen soll, formuliert. Insofern ist es wichtig zu erkermen, daß durch staatliches Handeln Marktwirtschaft nicht erzwingbar ist; individuelles, marktwirtschaftlich orientiertes Produzieren, Kaufen, Verkaufen und Investieren muß von den autonomen Wirtschaftssubjekten ausgehen und von ihnen in Gang gehalten werden.

9 Vgl. auch F. Haffner: Die neue Rolle des Staates in der Wirtschaft Osteuropas, in: Von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft - Chancen u. Risiken flir Ost und West , ifostudien zur ostforschung Nr. 4, S. 163 ff.

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Die Zurücknahme des Staates aus der Wirtschaft erfolgt in zwei Richtungen. Erstens muß der Staat seine Koordinationsfunktion weitgehend aufgeben und damit den Raum flir eine Marktkoordination freigeben. Dies ist durch die Beseitigung der Planwirtschaft weitgehend geschehen. Die zweite Richtung besteht darin, daß die in der sozialistischen Ära entwickelte Hypertrophie der Produktion öffentlicher Güter anstelle privater Güter wieder reduziert und auf die wirklich aus Marktversagen gegründete Herstellung von Gütern und Dienstleistungen durch den Staat beschränkt bleiben muß. Die Instrumente, die dazu zur VerfUgung stehen, sind nicht nur die Privatisierung, sondern, wie oben dargestellt, auch die übergabe an geeignete private Unternehmensleiter. Dies hat hier deshalb besondere Bedeutung, weil die Bevölkerung an die öffentliche, meist subventionierte und regulierte Verteilung gewöhnt ist und einer Kommerzialisierung eher kritisch gegenübersteht. In gewisser Weise findet auch eine Strukturveränderung der Produktion öffentlicher Güter statt, als sie nicht mehr zentral geplant werden kann, sondern, soweit wie möglich, an korrununale Versorgungseinheiten übergeben oder wenigstens zu Gemeindeangelegenheiten gemacht werden. Hier müssen auf der Basis der Selbstverwaltung, also dezentral im Rahmen der Gesetze, Lösungen gefunden werden. Dies setzt sogar einen Prozeß der Erweiterung der Staatstätigkeit auf unterster Ebene und die Bildung der dazu notwendigen fmanziellen Ressourcen voraus. Vielfach besteht eine Tendenz -nicht nur- bei der Bevölkerung der DDR, vom Staat die Lösung von Problemen zu erwarten, die er in einer Marktwirtschaft gar nicht zu leisten vermag. Dies bezieht sich insbesondere auf eine staatliche Strukturpolitik, von der erwartet wird, daß sie die künftige Struktur der Wirtschaft kennt und durchzusetzen vermag. Aber dies kann auf der Grundlage der völlig neuen Angebots- und Nachfragebedingungen nur durch den Markt herausgefunden und durchgesetzt werden. Es ist völlig ausgeschlossen, daß der Staat diese Richtungsweisung zuverlässig vornehmen kann, da er nicht nur über die notwendigen Informationen nicht verfUgt, sondern auch nicht die künftigen Marktbewegungen besser erahnen kann als irgendein Marktteilnehmer. Wenn aber einer starken Zurückhaltung in bezugauf Strukturpolitik das Wort geredet wird, so schließt das nicht aus, daß einige, allerdings sehr allgemeine strukturelle Aufgaben benennbar sind und durch Länder und Gemeinden durch Fördermaßnahmen vorangetrieben werden können. Dies betrifft insbesondere das Klein- und Mittelgewerbe, das vorwiegend durch die Bewohner der neuen Bundesländer selbst in Angriff genommen werden kann. Das aus der sozialistischen Zeit überkommene Defizit an kleinen Wirtschaftsstrukturen kann durch die Förderung von Existenzgründungen, durch Kredit- und Steuervergünstigungen bei Kapitalbildungs- und Investitionsprozessen abgebaut werden. Dazu gehört auch, daß alte und neue bürokratische Barrieren möglichst beseitigt werden. Die Dynamik der Entstehung von Kleinbetrieben ist aufs engste verbunden mit einem Klima der Pioniertätigkeit, in dem Existenzgründungen möglich, aber auch ftir sehr viele die Gefahr des Sich-nicht-halten-könnens infolge mangelnder Konkurrenz-

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fahigkeit besteht. Strukturpolitik kann sich darüber hinaus nicht einfach an der Reparatur der Fehler des sozialistischen Regimes orientieren, in dem ökologische Vernachlässigungen und monokultureile Strukturen entstanden sind. Immerhin, in diesen Fehlentwicklungen liegen mögliche Gründe für eine allgemeine Neuorientierung struktureller Entscheidungen. Angesichts der Einbindung der Wirtschaft Ostdeutschlands in die EG und der Veränderung der über vierzig Jahre gewachsenen Beziehungen zu Osteuropa wird man kaum vergangene Strukturen aufrechterhalten oder weiterführen können. Möglicherweise sind sogar die aus der Vorkriegszeit stammenden Spezialitäten der ehemals mitteldeutschen Wirtschaft viel eher geeignet, allgemeine Strukturdaten zu setzen als die der sozialistischen Zeit. Trotz dieser Anhaltspunkte für eine mögliche Strukturpolitik bleibt die künftige Struktur letztlich dem Markt überlassen, der sich nicht an vergangene Entwicklungen halten wird. Der politisch schnelle Einigungsprozeß, der konsequenterweise auch zu einer wirtschaftlichen Vereinigung ftihren mußte, hat viele Probleme, auch solche, die hier nicht behandelt wurden, nicht lösen können. Das Hauptproblem liegt nach der Übernahme einer soliden Währung bei der Entwicklung von Märkten und der Einbeziehung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern in den Marktprozeß, der nur über eine vorsichtige staatliche Förderung allmählich wird zustandekommen können. Nicht nur die Natur macht keine Sprünge, auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandlungen vollziehen sich in einem oft schmerzhaften Zeitablauf.

Günter Nötzold NEUORDNUNG DER AUSSENWIRTSCHAFTLICHEN BEZIEHUNGEN IN DEN NEUEN BUNDESLÄNDERN

1 In den neuen Bundesländern vollziehen sich dramatische Veränderungen. Die Transformation von der Plan· zur Marktwirtschaft und die Eingliederung in die Bundesrepublik Deutschland erweisen sich als wesentlich komplizierter, als vorher angenommen wurde. Viele der Menschen, die so selbstbewußt das Tor zur deutschen Einheit aufgestoßen hatten, sind enttäuscht. Das ist nicht die Folge eines zu schnellen, von den Menschen nicht mitzuvollziehenden Tempos des Einigungsprozesses, wie das oft dargestellt wird. Im Gegenteil: Die Men· sehen in den neuen Bundesländern beklagen das geringe Tempo der Verände· rungen. Das alte System ist zerbrochen. Die Wirtschaft befindet sich in einem schnellen Zerfallsprozeß. Neues entsteht aber nur schleppend. Das geringe Tempo beim Entstehen einer neuen Wirtschaftsstruktur bürdet den Bürgern der neuen Bundesländer außerordentliche Lasten auf. Mit dem Zerfall der zentra· len Planwirtschaft und der Auflösung der Kombinate verlieren Millionen ihren Arbeitsplatz und die Möglichkeit, sich im Beruf zu verwirklichen. Mehr als 700 000 sind bereits arbeitslos. Die Zahl der Kurzarbeiter beträgt gegenwärtig etwa zwei Millionen. Für die meisten von ihnen gibt es keine andere Perspektive als den übergang zur offiziellen Arbeitslosigkeit. Mitte des Jahres wird die Arbeitslosenrate 35 bis 40% betragen. Ein weiterer Anstieg auf 50 % wird befürchtet. In einzelnen Regionen liegt diese Rate schon jetzt viel höher.

Neue Arbeitsplätze entstehen bisher im Bereich der Dienstleistungen. Ihre Zahl hat aber noch keine solche Qualität erreicht, daß ein Obergang in den erhofften Aufschwung wahrgenommen werden kann. Zur gleichen Zeit werden die Subventionen ftir Verbrauchsgüter und Dienstleistungen abgebaut. Das führt zu beträchtlichem Anstieg der Preise und Tarife für die Dinge des täglichen Bedarfs. Der Wegfall der "produktgebundenen Abgaben", die die Güter und Leistungen höherer Qualität wesentlich verteuert hatten, ist für die Arbeitslosen weniger relevant. Eine Vervielfachung der Mieten und der Kosten für die kommunalen Versorgungsleistungen steht unmittelbar bevor. Die sozialen Spannungen nehmen zu, und mit ihnen breiten sich Resignation und Aggressionen aus. Selbstmorde, Drogenrnißbrauch, überfälle, Raub und Randale

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gehören schon zum Alltag. Die Hoffnung, mit der Vereinigung Deutschlands auch die Belastung zu überwinden, Deutscher zweiter Klasse zu sein, erfüllte sich bisher für viele nicht. Die Währungsunion im Juli des vergangenen Jahres konnte mit beeindrukkender Präzision vollzogen werden. Aber von einer Wirtschafts· und Sozial· union ist der Einigungsprozeß heute noch weit entfernt. Marktwirtschaft ist erst in Ansätzen entwickelt. Keiner hat angenommen, daß die Wirtschaft der ehemaligen DDR ohne den Protektionismus der Planwirtschaft und die poli· tisch gewollten Verzerrungen der Bewertungen, Preise, Tarife, Löhne und Gehälter weiter bestehen kann. Mit der Eingliederung in die Wirtschaft der Bundesrepublik und der Europäischen Gemeinschaft wurden tiefgreifende strukturelle Veränderungen erwartet, die mit vorübergehenden sozialen Bela· stungen verbunden sind. Millionen waren darauf eingestellt, den Arbeitsplatz zu wechseln und ihre berufliche Qualifikation zu ergänzen, zu erneuern oder neue Berufe zu erlernen. Jedem war bewußt, daß eine Zeit harter Arbeit be· ginnt, weil Disproportionen überwunden werden müssen, weil der Rückstand im Leistungsniveau zu den alten Bundesländern aufgeholt werden muß, weil Schlendrian und Gleichgültigkeit zu überwinden sind. Die politische Bewegung, die zum Zusammenbruch der DDR führte, wurde auch von einer großen Bereit· schaft und vom Elan getragen, die großen Herausforderungen der Umgestaltung zu bewältigen. Aber die Bereitschaft zum Zupacken wird bei der Mehrheit noch immer nicht abgefordert, die neuen Möglichkeiten, durch gute Arbeit gutes Geld zu verdienen und deshalb besser zu leben, sind für viele noch verschlossen.

Il

Die Hauptursache für die Schwierigkeiten ist - neben den ausbleibenden In· vestitionen, von denen das Entstehen neuer Arbeitsplätze in neuen Bereichen abhängt - der Zusammenbruch der Märkte. Beide Faktoren stehen in engem Zusammenhang. Das Ausbleiben der Investitionen, und mit ihnen des Wettbe· werbs, steht in einem krassen Gegensatz zum Interesse einer Vielzahl potentieller Investoren, das große Potential an qualifizierten und erfahrenen Arbeits· kräften, den Markt von 16 Millionen Verbrauchern und in nicht geringem Um· fang auch das vorhandenen Produktionspotential und die bestehenden Wirt· schaftsbeziehungen, vor allem mit den osteuropäischen Ländern, zu nutzen. Die Investitionen bleiben aus, weil das Eigentumsrecht an Grund und Bo· den, an Gebäuden, Anlagen und Unternelunen überwiegend nicht geklärt ist. Der Einigungsvertrag enthält den Entschluß, die von 1933 bis 1945 und von 1949 bis 1989 enteigneten Vermögenswerte an die früheren Besitzer oder deren Erben zurückzugeben. Das hat zu etwa 1,5 Millionen Ansprüchen auf Rückfüh· rung solcher Vermögenswerte geführt, mit deren Bearbeitung die neuen Verwal·

Neuordnung der außenwirtschaftliehen Beziehungen

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tungen völlig überfordert sind, zwnal in vielen Fällen die Eigentumsrechte nicht zweifelsfrei dokumentiert werden können. Erst jetzt hat die Bundesregierung eine Gesetzesinitiative eingebracht, die den Einigungsvertrag korrigiert und den Verwaltungen wesentlich größeren Entscheidungsspielraum einräumt, ob ein Vermögenswert zurückgegeben oder eine Entschädigung gezahlt wird -in den Fällen, in denen es um wichtige Investitionen geht, wo Wohnraum oder Arbeitsplätze geschaffen werden. Ein solches Gesetz kann die Grundlage für schnellere Entscheidungen für Investitionen, Übernahmen oder Beteiligungen sein, die im Interesse des notwendigen Strukturwandels, des Beendens des wirtschaftlichen Niedergangs und des Übergangs in eine dynamische Wirtschaftsentwicklung liegt.

IIL Die verschleppte Erneuerung ist eine wesentliche Ursache für den Zusammenbruch des Marktes für die Produktion in den neuen Bundesländern. Seit der Währungsunion strömen in großem Umfang Güter und Leistungen aus den alten Bundesländern und in geringerem Umfang auch aus dem Ausland in das Gebiet der neuen Bundesländer. Sie haben die einheimischen Güter und Leistungen verdrängt, weil der notwendige Erneuerungsprozeß sich nicht entfalten sowie die zerbrochenen Produktions- und Vertriebsstrukturen keine einheimischen Wettbewerbspositionen sichern konnten. Dem Vordringen von westdeutschen und ausländischen Handelsunternehmen in die neuen Bundesländer mit Erzeugnissen aus dem Westen standen keine leistungsfähigen Konkurrenten gegenüber. Es war ein leichtes Spiel, das neue DM-Gebiet durch westliche Unternehmen zu besetzen.

IV. Zugleich mit dem inneren Markt brach ftir die Produzenten in den neuen Bundesländern auch der wichtigste äußere zusammen. Die ehemalige DDR hatte trotz ihrer geringeren Größe die internationale Arbeitsteilung als Faktor der Leistungsentwicklung in wesentlich geringerem Umfang als die ehemalige Bundesrepublik genutzt. Nach der Bevölkerungszahl war die Bundesrepublik 3,7 mal größer als die DDR. Du Außenhandelsumsatz betrug aber das Achtfache des Außenhandelsumsatzes der DDR. Im Jahre 1985 erreichte die DDR nur 46% des Exports pro Einwohner der Bundesrepublik. Während die Bundesrepublik etwa 10% Anteil am Weltexport hatte, entfielen auf die DDR nur knapp 1 %. Dennoch waren 1,8 Millionen Arbeitsplätze - das waren mehr als ein Fünftel - direkt vom Export abhängig. Der Außenhandel hatte ein geringeres Niveau und eine geringere Effektivität als in der Bundesrepublik.

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Das war in erster Linie auf ideologische Barrieren zurückzuführen: In der DDR stützte sich die Politik auf die Vorstellung, daß die Weltwirtschaft seit dem Jahre 1917 nicht mehr existiere. Die Revolution in Rußland habe die Weltwirtschaft in zwei antagonistische Systeme geteilt. Der unauflösbare Gegensatz zwischen "Kapitalismus" und "Sozialismus" erfordere es, die sozialistische von der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung abzukoppeln. Die Wirtschaftsbeziehungen mit den westlichen Industrieländern wurden eher als ein vorübergehendes und zu überwindendes übel angesehen. Diese Abgrenzungsideologie bestinunte die praktische Wirtschaftspolitik. Wirtschaftsbeziehungen waren vor allem mit den Ländern des "sozialistischen Weltsystems", in erster linie mit der UdSSR und den anderen Ländern des Rates flir Gegenseitige Wirtschaftshilfe, zu entwickeln. Nach dem Statistischen Jahrbuch der DDR entfielen im Jahre 1988 vom Außenhandelsumsatz der DDR - 69% auf den Handel mit sozialistischen Ländern - 66 % auf den Handel mit RGW-Ländern - 37 % auf den Handel mit der UdSSR. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die statistischen Daten der DDR auf besonderen - international nicht ohne weiteres vergleichbaren - Bewertungsund Erfassungsmethoden beruhten. In der DDR und im RGW galten andere Preise, Tarife und Kostenstrukturen als in anderen Teilen der Welt. Nach diesen statistischen Angaben entfielen zwei Drittel des Außenhandels auf den Handel mit ökonomisch schwächeren und zum großen Teil wesentlich schwächeren Ländern. Deshalb ergaben sich beträchtliche Probleme bei der Ausdehnung der Zusammenarbeit und bei der Sicherung einer hohen ökonomischen Effektivität. Obwohl in den vergangenen 40 Jahren in den ehemaligen RGW-Ländern wesentliche Verbesserungen des ökonomischen Entwicklungsniveaus erreicht werden konnten, blieb die Pro-Kopf-Leistung deutlich hinter der in der DDR zurück. Pro-Kopf-Nationaleinkommen 1985 (DDR= 100) CSSR UdSSR Ungarn Polen Bulgarien Rumänien

-

85 75 65 - 60 60 50

(nach : The Review of lncome and Wealth, Series 34, March 1988)

Das niedrigere Leistungsniveau der Wirtschaft begrenzte die Möglichkeiten ftir die Teilnahme an der internationalen Arbeitsteilung.

Neuordnung der außenwirtschaftliehen Beziehungen

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Pro-Kopf-Export 1985 DM 4006,2361,1848,920,903,-

DDR

Ungarn

CSSR UdSSR

Polen

% (1 00) ( 59) ( 46) ( 23) ( 22)

(nach: Datenreport 1987, Stat. Bundesamt)

Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Exportergebnisse bei allen RGW-Ländern in erster linie durch Exporte in andere RGW-Under auf der Grundlage zentraler und vor allem politischer Entscheidungen gestützt worden sind. Die Abwesenheit von Wettbewerb sowie von leistungsstimulierenden Bewertungen, Preisen und Verrechnungskursen hat die ökonomische Wirksamkeit der Zusammenarbeit in allen beteiligten Ländern erheblich begrenzt. Sie hat insbesondere nicht zu Innovationen und ebensowenig zu Qualitätsverbesserungen in der Leistungsentwicklung beigetragen.

V.

Nach der DDR-Statistik entfielen 31 % des Außenhandels auf den Handel mit der "nichtsozialistischen Welt". Das waren 27,7 % mit Industrieländern und 3,3% mit Entwicklungsländern. Allein 7% dieses Handels waren nach diesem statistischen Ausweis Handel mit der Bundesrepublik. Dieser Handel reflektierte die früher intensiven binnenwirtschaftlichen Verflechtungen in Deutschland. Vor der Teilung Deutschlands gingen fast 50% der Produktion des Gebietes der späteren DDR in die westlichen Teile Deutschlands, und etwa ebenso groß war der Anteil der Bezüge aus Westdeutschland am Verbrauch. Die Teilung Deutschlands riß diese Beziehungen auseinander und brachte für beide Teile erhebliche Disproportionen in der Wirtschaft. Der Hauptteil des DDR-Außenhandels mit Industrieländern entfiel auf die westeuropäischen Länder. Es war breitgestreut. 1988 hatte die Schweiz mit 2,3% den größten Anteil. Es folgten Österreich mit 2% und Frankreich mit 1,8 %. Die USA waren nur mit 0,3% und Japan mit 0,7 % am Außenhandel der DDR beteiligt. Diese breite Streuung und die geringen Anteile der einzelnen Länder am Außenhandel der DDR bestätigen, daß es keine klare, auf Zusammenarbeit gerichtete Strategie gab. Es ging eher um das Ausftillen von Nischen mit dem Ziel, Devisen zu erwirtschaften. In den Wirtschaftsbeziehungen mit den Industrieländern waren die Unternehmen der DDR mit Marktwirtschaft konfrontiert. Diese Wirtschaftsbeziehungen konnten sich, abgesehen von einer in den letzten Jahren politisch begründe-

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ten besonderen Förderung durch die Bundesrepublik, auch in dem relativ geringen Umfang nur dann entfalte,n, wenn wettbewerbsfähige Leistungen angeboten wurden. Dazu wurden die traditionellen Leistungsstärken der Wirtschaft genutzt, und es gelang- wenn auch unter den Bedingungen eines permanenten Materialmangels, einer ständigen durch Diskontinuitäten belasteten Produktion und oft mit verschlissenen Anlagen -, solche Stärken, vor allem in Maschinenbau, zu erhalten und sogar auszubauen. Auf den Märkten der Industrieländer lassen sich Maschinen und Ausrüstungen nur dann verkaufen, wenn sie hinsichtlich der Qualität, der Innovationen, der Paßfähigkeit beim Kunden, der Serviceleistungen und des Kundendienstes wettbewerbsfähig sind und für den Abnehmer ökonomischen Fortschritt sichern. Im Werkzeugmaschinen-, Textilmaschinen- und Druckmaschinenbau sowie in einigen anderen Bereichen zwangen die Märkte der westlichen Industrieländer dazu, weltwirtschaftliche Erfordernisse anzuerkennen und danach zu handeln. Bei den in die westlichen Industrieländer exportierten Verbrauchsgütern waren die Bedingungen ganz anders. Bei solchen Gütern bestehen umfangreiche Märkte auch für traditionelle Erzeugnisse und Märkte für unterschiedliche Qualitäten. Die DDR orientierte sich zu einem großen Teil auf die Märkte für billige Massenartikel und versuchte Devisen auch dann zu erwirtschaften, wenn die Kosten nicht gedeckt werden konnten. Aber diese Möglichkeit eröffnete sich nur dann, wenn die technischen Vorschriften der Länder bzw. der EG erftillt worden sind.

VI Der Außenhandel der DDR mit den Entwicklungsländern lag weit unter dem Niveau seiner politischen Bewertung. Er hatte außerdem im letzten Jahrzehnt an Bedeutung verloren. Auch für den Bereich der Entwicklungsländer trifft zu, daß dieser Handel außerordentlich breit gestreut war. Die wichtigsten Partnerländer hatten weder einen "nichtkapitalistischen" noch einen "sozialistisch orientierten" Entwicklungsweg eingeschlagen. Die größten Anteile am DDRAußenhandel unter den Entwicklungsländern entfielen relativ kontinuierlich auf Brasilien, Indien, Syrien, Ägypten und Iran. Die abnehmende Bedeutung dieses Außenhandels stand im Zusammenhang mit wachsenden Problemen der Ueferfähigkeit der DDR-Unternehmen, vor allem aber mit zunehmenden Finanzierungschwierigkeiten ihrer Importe bei den Entwicklungsländern.

Neuordnung der außenwirtschaftliehen Beziehungen

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Außenhandelsumsatz der DDR mit Entwicklungsländern 1988 (in %des DDR-Außenhandels)

Brasilien Indien Iran

0,50 0,39

0,31 0)5

~ak

Ägypten Nikaragua Syrien

0,22 - 0,13 0,12

(nach: Statistisches Taschenbuch der DDR 1989)

VIL Mit der deutschen Vereinigung haben sich die Bedingungen flir die Außenwirtschaftsbeziehungen grundlegend geändert. Das Gebiet der neuen Bundesländer ist wieder ein Teil der deutschen Wirtschaft und damit ein Teil der EG geworden. Die innerdeutschen Beziehungen sind endgültig kein Bestandteil der Außenwirtschaft mehr. Die politischen und rechtlichen Bedingungen der Bundesrepublik flir die Außenwirtschaftstätigkeit gelten nun auch mit unbedeutenden Ausnahmen flir die neuen Bundesländer. Dabei sichert die Bundesrepublik zu, daß die bestehenden vertraglichen Verpflichtungen der ehemaligen DDR übernommen oder mit den Partnern neu verhandelt werden. Im Einigungsvertrag wird ausdrücklich festgestellt, daß die außenwirtschaftliehen Beziehungen gegenüber den Ländern des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe Vertrauensschutz genießen. Laut Einigungsvertrag werden sie "unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten und unter Beachtung marktwirtschaftlicher Grundsätze sowie der Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaften fortentwickelt und ausgebaut". Mit den Regelungen der Bundesrepublik gelten nun auch die EG-Richtlinien in den neuen Bundesländern. Für eine übergangszeit sind einige Ausnahmen vorgesehen, um die bestehenden Wirtschaftsbeziehungen der neuen Bundesländer vor allem mit Osteuropa nicht zu gefährden, falls sie nicht mit EG-Regelungen übereinstimmen. Dabei gelten solche Ausnahmen nur flir das Gebiet der neuen Bundesländer. Diese besondere Aufmerksamkeit gegenüber den Wirtschaftsbeziehungen mit Osteuropa liegt im Interesse beider Seiten. Die in den vergangenen vier Jahrzehnten gewachsenen Beziehungen haben umfangreiche Kapazitäten beider Seiten in Anspruch genommen. In den neuen Bundesländern waren etwa 1,2 Million Arbeitsplätze und etwa 80% der Unternehmen am Export nach Osteuropa beteiligt. In einer großen Zahl von ihnen war ein erheblicher Teil der Kapazität durch diesen Export ganz oder zum großen Teil ausgelastet. Aufbeiden Seiten der Partnerschaften sind diese Beziehungen nicht ohne weiteres ersetzbar. Sie sollen auch nicht ersetzt werden. Die Wirtschaftsbeziehungen mit den osteuropäischen 3 Fischer fHaendcke·Hoppe-Arndt

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Ländern können ftir beide Seiten in den neunziger Jahren eine wesentliche Quelle ökonomischer Leistungskraft sein. Der Reformprozeß in Osteuropa führt zur Marktwirtschaft und wird damit eine dynamische Wirtschaftsentwicklung begründen. Osteuropa wird in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre einer der interessantesten Märkte sein. Hier leben etwa 8 % der Weltbevölkerung mit einem gewaltigen Nachholbedarf in den materiellen Lebensbedingungen. Dieser gewaltige Markt, die Notwendigkeit, zahlreiche Produktionen unmittelbar am Markt zu organisieren, das Vorhandensein großer Energie- und Rohstoffressourcen sowie bemerkenswerter Forschungs- und Entwicklungskapazitäten sind hinreichende Gründe flir die Annahme, daß in Osteuropa nach den Reformen außerordentlich interessante Wirtschaftspartner vorhanden sein werden. Sie werden nicht nur als Handelspartner, sondern immer mehr auch als Kooperationspartner und als Produktionsstandort interessant sein. Aber Erhaltung, Fortentwicklung und Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit den osteuropäischen Ländern sind eine große Herausforderung. Sie setzt auf beiden Seiten grundlegende Veränderungen in der Wirtschaft voraus. Aber auf beiden Seiten gehen diese notwendigen Veränderungen nur langsam und nicht konsequent voran. Dynamische Wirtschaftsbeziehungen zwischen den neuen Bundesländern und Osteuropa erfordern insbesondere den konsequenten übergang zu marktwirtschaftliehen Verhältnissen. In den neuen Bundesländern sind mit dem Zerfall der Planwirtschaft auch die Träger der Wirtschaftsbeziehungen mit den osteuropäischen Ländern zerfallen. Die Ministerien, die die Verträge schlossen, existieren ebensowenig wie die Kombinate, die die Verträge zu erflillen hatten. Aber es bestehen die Betriebe fort, die die unmittelbare Arbeit in diesen Beziehungen leisteten. In diesen Betrieben ist die Perspektive unklar. Die Eigentumsverhältnisse bedürfen der Klärung; mit der Neubewertung der vorhandenen Fonds, mit den neuen Kostenstrukturen und Preisen sowie nicht zuletzt mit einem neuen Management entstehen neue Bedingungen ftir die Wirtschaftsbeziehungen. In den osteuropäischen Ländern sind die eingeleiteten Reformprozesse auf das Schaffen marktwirtschaftlicher Verhältnisse gerichtet. Aber diese Prozesse vollziehen sich in den ehemaligen RGW-Ländern in unterschiedlichem Tempo und nach unterschiedlichen Konzepten. Generell haben - wie in den neuen Bundesländern - die zentralen Behörden ihre Verantwortung flir die Ausgestaltung der Wirtschaftsbeziehungen zugunsten der Unternehmen verloren.

VUL Die künftigen Wirtschaftsbeziehungen der neuen Bundesländer mit den westeuropäischen Ländern werden durch die mit dem Beitritt zur Bundesre-

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publik erworbene Mitgliedschaft in der EG bestinunt. Auf die EG-Richtlinien ist die Wirtschaft in Ostdeutschland im Prinzip vorbereitet. Diese Richtlinien waren in der Vergangenheit bei den Exporten in die Bundesrepublik und in die anderen westeuropäischen Länder zu berücksichtigen, und dieser Export hatte annähernd 30% Anteil an den gesamten Exporten der ehemaligen DDR. Aber jetzt gelten diese Richtlinien, abgesehen von einigen Anpassungshilfen in den Beziehungen zwischen Produktion und Markt in Ostdeutschland und in den Beziehunen mit osteuropäischen Ländern, generell, soweit sie nur das ostdeutsche Gebiet betreffen. Bei den Ausnahmen handelt es sich um technische Normen, Standards und Kontingente - vorwiegend bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Pharmaka und einigen anderen chemischen Erzeugnissen. Die EG-Mitgliedschaft schließt das Gebiet der neuen Bundesländer nunmehr auch in die EG-Fördermaßnahmen ein. Für den Zeitraum von 1991 bis 1993 sind aus dem EG-Haushalt 3 Mrd. ECU (ca. 6 Mrd. DM) zur Unterstützung des Strukturwandels in den neuen Bundesländern bereitgestellt worden. Darüber hinaus haben sich Unternehmen und Experten erfolgreich um die Förderung von Projekten beworben und werden künftig diese Möglichkeit nutzen. Von grundlegender Bedeutung sind die Wirkungen des EG-Binnenmarktes auf die künftige Wirtschaftsentwicklung in den neuen Bundesländern. Der Wegfall jeglicher Kontrollen an den Grenzen innerhalb der EG eröffnet den Weg zu ungehinderter Mobilität des Kapitals, der Arbeitskräfte, der Güter und der Leistungen. Unter solchen Bedingungen stellt sich die Frage nach den Standortvorteilen der neuen Bundesländer aus europäischer Sicht. Das Gebiet der neuen Bundesländer, besonders deren südlicher Teil, Sachsen und Thüringen, war vor der Teilung Deutschlands wirtschaftlich hochentwickelt. Seit dem Ausgang des Mittelalters gehörte dieses Gebiet zu den dynamischen Teilen Deutschlands. Seitdem hat sich ein hervorragendes Potential von qualifizierten und kreativen Menschen entwickelt, die großen Anteil am Ansehen der deutschen Wirtschaft hatten. Dieses Potential ist in den vergangenen vierzig Jahren zentraler Planwirtschaft durch den Unfehlbarkeitsanspruch einiger Parteifunktionäre ignoriert, durch die Befehlswirtschaft auf die Interpretation von Parteibeschlüssen beschränkt und auf Nachentwicklungen orientiert worden. Ein Teil des Kreativitätspotentials wanderte ab, aber der größere Teil zog sich in Nischen in Wirtschaft und Gesellschaft zurück. Aber dieses Potential ging überwiegend nicht verloren. Unter den Bedingungen demokratischer Verhältnisse und einer Wettbewerbswirtschaft wird es innerhalb von kurzer Zeit mobilisiert werden und einen hohen Wirkungsgrad erreichen. Von dieser Gewißheit geht ein großer Teil der potentiellen Investoren in den neuen Bundesländern aus. Sie sind daran interessiert, das Qualifikations- und Kreativitätspotential zu nutzen, und bereit, 3*

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dafür wesentlich höhere Löhne und Gehälter zu zahlen, als bisher in Ostdeutschland üblich waren. Die Chance der neuen Bundesländer liegt nicht im Billiglohnniveau, das der reale Sozialismus hinterlassen hat, sondern in der Wiederbelebung von Motivation und Kreativität. Die neuen Bundesländer haben gute Voraussetzungen, zur Entwicklung der dynamischen Bereiche der Weltwirtschaft beizutragen. Nur auf diesem Weg haben sie Chancen, neue Märkte zu gewinnen und Märkte zu erhalten. Die dynamischen Bereiche der Weltwirtschaft sind jedoch diejenigen, deren Entwicklung durch neue Lösungen bestimmt wird. In den neunziger Jahren werden die Märkte flir neue Werkstoffe und neue Technologien entstehen und schnell wachsen. Solche Märkte entstehen auch in Osteuropa. Die osteuropäischen Länder brauchen Wirtschaftspartner, die ihnen helfen, durch neue Lösungen schnell den Rückstand im ökonomischen Entwicklungsniveau zu überwinden. Die neuen Bundesländer werden zur Brücke zwischen West- und Osteuropa, wenn über sie solche neuen Lösungen befördert werden können und wenn ihre Wirtschaft selbst zu einem Brückenpfeiler wird, der solche neuen Lösungen trägt. Alle Versuche, die bestehende Wirtschaftsstruktur in den neuen Bundesländern durch Sanierungskonzepte ganz oder teilweise zu erhalten, müssen angesichts der Entwicklung des EG-Binnenmarktes scheitern. Die neuen Bundesländer haben keinen Standortvorteil gegenüber anderen Regionen in der EG, der sich aus niedrigen Löhnen und traditionellen Leistungen ergeben würde. Deshalb ist ein konsequenter Strukturwandel zugunsten der Mobilisierung des Qualifikations- und Kreativitätspotentials unumgänglich. Die Beftirchtung, daß der Strukturwandel soziale Konflikte verschärfen wird, weil zunächst massenhaft Arbeitsplätze verloren gehen, ist nur dann begründet, wenn dem Zerfall der alten Struktur keine massive Förderung der Entwicklung neuer Strukturen entgegengesetzt wird. Dabei ist selbstverständlich, daß sich mit dem Strukturwandel die Zahl der in der Produktion tätigen Arbeitskräfte vermindern muß. Sie war in der ehemaligen DDR unverhältnismäßig hoch. Aber zunächst gibt es so ungeheuer viele Aufgaben zu lösen, daß sowohl in der Produktion als auch in den Dienstleistungen die verfügbare Zahl der Arbeitskräfte eher zu gering sein wird. Das Entstehen neuer Strukturen ist von der Entwicklung einer Obergangsstruktur abhängig, die den Rückstand in den Bereichen der Infrastruktur überwindet. Das Kommunikationssystem ist auf einen modernen Stand zu bringen, die Eisenbahn- und Straßenverbindungen sind zu wesentlich höherer Leistungsfähigkeit zu führen, ein außerordentlich großer Bedarf an modernem und qualitativ hochwertigem Wohn- und Büroraum ist zu befriedigen, ein dichtes Netz von Versorgungs- und Freizeitangeboten zu schaffen, und nicht zuletzt sind in großer Breite die Folgen des jahrzehntelangen Versuchs der geistigen lsolie-

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rung zu überwinden. Es kommt jetzt darauf an, wie es der sächsische Ministerpräsident Siedenkopf einmal formulierte, diese Fiille von gleichzeitig zu lösenden Aufgaben in konkrete Arbeit umzuwandeln. Das gelingt gegenwärtig noch nicht ausreichend. Trotz der großen Zahl der zu lösenden Aufgaben und des beträchtlichen Zeitdrucks, sie zu lösen, werden erhebliche Mittel aufgewendet, um Nichtarbeit zu fmanzieren, und nicht geringe Mittel fließen in Kanäle, deren Mündungen nicht bekannt sind oder nicht in den neuen Bundesländern liegen. Es wird arbeitsplatzbezogen qualiftziert - ohne Kenntnis der künftigen Arbeitsplätze. Es erweist sich als problematisch, eine Sozialpolitik aus den alten Bundesländern zu übernehmen, die nicht auf den notwendigen grundlegenden Strukturwandel bezogen ist. Soziale Verträglichkeit des Strukturwandels sichern, wirft spezifische Probleme auf. Sie verlangt vor allem, den Menschen neue Perspektiven im Berufsleben zu geben und mit allen Kräften zu fördern, daß diese Perspektiven ftir den Einzelnen rasch greifbar werden. Sozialpolitik ist deshalb viel mehr Förderung neuer Strukturen, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit sichern, als Sanierung und Subventionierung von Strukturen, deren Leistungskraft überlebt ist.

Eckart Klein DER EINIGUNGSVERTRAG

Verfassungsprobleme und -aufträge L Grundfragen des Einigungsvertrages 1. Die Herstellung der Einheit Deutschlands a) Gegenstand des Einigungsvertrages (EV) ist - wie aus seiner offiziellen Bezeichnung hervorgeht - "die Herstellung der Einheit Deutschlands" .1 Auch wenn die Bundesrepublik Deutschland über die Jahre hinweg am rechtlichen Fortbestehen Gesamtdeutschlands festgehalten hat, hatte die DDR doch eine Rechtsstellung erlangt, die sie dem Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland entzog und im Verhältnis zu Dritten als eigenes Völkerrechtssubjekt auswies. Dies galt, freilich mit Abstrichen, auch gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, doch hafteten der DDR die Reste der noch vorhandenen Gesamtstaatlichkeit unablösbar an, denen sie wegen des Selbstbestimmungsrechts der Völker sowie der Rechte und Verantwortlichkeiten der vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes nicht entrinnen konnte. 2 Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands setzte die Wiederherstellung der staatsrechtlichen Einheit voraus, d.h. die Geltung einer gemeinsamen Verfassung. Nach Lage der Dinge konnte dies nur das Grundgesetz sein. 3 Dieses Ziel konnte am sichersten und schnellsten durch den Beitritt der DDR einerseits und die daraufhin erfolgende Inkraftsetzung des Grundge1 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - vom 31.8.1990, BGBI. 1990 II S. 889. Der Vertrag ist am 29.9.1990 in Kraft getreten, BGBI. 1990 II S. 1360. - Vgl. Klaus-Dieter Schnapauff. Der Einigungsvertrag, DVBI. 1990, S.1249ff. 2 Näher Eckart Klein, Die innerdeutschen Beziehungen und das Wiedervereinigungsgebot, in: M. Haendcke-Hoppe/E. Lieser-Triebnigg (Hrsg.), 40 Jahre innerdeutsche Beziehungen, Berlin 1990, S. 11 ff. 3 Die politisch chancenlose Alternative des "dritten Weges" wurde mit dem Entwurf einer Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von der Arbeitsgruppe " Neue Verfassung der DDR " des Runden Tisches im April 1990 vorgelegt, von der neugewählten Volkskammer aber abgelehnt und nicht einmal in die Ausschüsse verwiesen.

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setzes im beigetretenen Teil Deutschlands andererseits erreicht werden. 4 Demgemäß erklärte die Volkskanuner am 23. August 1990 den Beitritt "der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990".5 Die Inkraftsetzung des Grundgesetzes erfolgte zeitgleich mit dem Wirksamwerden des Beitritts auf der Grundlage von Art. 3 EV, also im gegenseitigen Konsens. Der entscheidende Rechtsakt, der den Anwendungsbereich des Grundgesetzes ausweitete, war indes der Legislativakt des Deutschen Bundestages, d.h. das Vertragsgesetz, mit dem das Parlament dem Einigungsvertrag zustimmte. 6 So wie das zuständige Organ der DDR allein über den Beitritt beschließen konnte, konnte allein der Bundestag die rechtliche Voraussetzung flir die Inkraftsetzung des Grundgesetzes schaffen. 7 b) Die von der Volkskanuner gewählte Formulierung der Beitrittserklärung unterscheidet sich geringfügig von der des Saarlandes 1956,8 doch ist ein sachlicher Unterschied nicht festzustellen. Mit der Unterstellung unter das gemeinsame Verfassungsdach erfolgte zugleich die territoriale Verschmelzung; der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes bedeutete zugleich die Einordnung in den Staat Bundesrepublik Deutschland und den Wegfall des Staates DDR. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil ja ausdrücklich die DDR beigetreten ist. Du Untergang genau im Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts am 3. Oktober 1990, 0.00 Uhr, geschah zeitgleich mit der Bildung der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie nach Maßgabe des entsprechend der Anlage zum Einigungsvertrag modifizierten Ländereinführungsgesetzes vom 22. Juli 1990.9 So ist zwar die DDR beigetreten, sie wurde aber als solche nie - oder nur für eine logische Sekunde - Teil der Bundesrepublik Deutschland. Demgegenüber sind die genannten Länder, die es nicht gab, solange die DDR existierte, Länder der Bundesrepublik Deutschland geworden. 4 Zur zunächst heiß diskutierten Frage, ob der Weg über Art. 23 Satz 2 oder 146 GG zu gehen sei, vgl. etwa Josef Isensee, Staatseinheit und Verfassungskontinuität, in: Deutschlands aktuelle Verfassungslage, VVDStRL 49 (1990), S. 39 ff. (48 ff.), und Christian Tomuschat, Wege zur deutschen Einheit, ebd., S. 70 ff. (71 ff.). 5 GBl. DDR I S. 1324. Der Beschluß erfolgt mit 294 Ja-Stimmen, 62 Nein-Stimmen und 7 Enthaltungen. Zu den Anforderungen an die Beitrittserklärung vgl. Volker Epping, Die Beitrittserklärung und ihre Folgen für die Bundesrepublik Deutschland, JZ 1990, s. 805 ff. 6 Vom 18.9.1990, BGBl. II S. 885; in Kraft getreten am 29.9.1990. 7 Eckart Klein, An der Schwelle zur Wiedervereinigung Deutschlands, NJW 1990, s. 1065 ff. (1070). 8 Vgl. dazu Wilfried Fiedler, Die Rückgliederung des Saarlandes an Deutschland - Erfahrungen flir das Verhältnis zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR?, JZ 1990, s. 668 ff. 9 GBl. DDR I S. 955.

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2. Das Zustimmungsverfahren zum Einigungsvertrag a) Auf seiten der DDR bestätigte die Volkskammer den Einigungsvertrag durch Gesetz vom 20. September 1990. 10 Dabei handelte es sich um ein "Verfassungsgesetz" im Sinne des durch das Verfassungsgrundsätzegesetz (Art. 9) vom 17. Juni 1990 geänderten Art. 106 DDR-Verfassung. 11 Die Bestätigung eines Staatsvertrages durch ein Verfassungsgesetz, das der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder der Volkskammer bedurfte, erlaubte Verfassungsänderungen - im Fall des Einigungsvertrages sogar die Verfassungsauthebung in toto - ohne ausdrückliche Änderung des Wortlauts der Verfassung. Als allgemeine Erscheinung ist diese über Art. 79 Abs. 1 Satz 2 GG hinausgehende Form der Verfassungsdurchbrechung gewiß kritikwürdig. 12 Man darf freilich nicht den begrenzten Zweck der Neuformulierung des Art. 106 DDR-Verfassung aus den Augen verlieren, nämlich die staatliche Vereinigung zu erleichtern. Verfassungstheoretischer Rigorismus war in dieser Übergangslage schwerlich angebracht. Für die Bundesrepublik Deutschland lag die Abschlußkompetenz beim Bund. 13 Da der Vertrag in wesentlichen Teilen als politischer Vertrag zu qualifizieren ist, andere Teile sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, bedurfte er der Zustimmung des Bundestags in Form eines (Vertrags-) Gesetzes und schon deshalb auch der Mitwirkung des Bundesrats. Die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Bundestages und der Stimmen des Bundesrates ergab sich hingegen nicht aus dem allgemeinen Gegenstand des Vertrages- Herstellung der deutschen Einheit, insbesondere durch die Inkraftsetzung des Grundgesetzes im beigetretenen Gebiet und die Festlegung von Ausnahmen hierzu. Das qualiftzierte Mehrheitserfordernis folgte jedoch aus der Tatsache, daß durch Art. 4 EV Änderungen des Grundgesetzes vorgenommen wurden und nach Art. 6 EV Art. 131 GG auf eine unbestimmte Dauer ("vorerst") im Beitrittsgebiet nicht in Kraft gesetzt wird. 14 b) Auf der anderen Seite ist fraglich, ob die Beachtung der verfassungsändernden Mehrheit (Art. 79 Abs. 2 GG) und die ausdrückliche Wortlautänderung oder -ergänzung des Grundgesetzes ausgereicht haben. Das Problem besteht

GBl. DDR I S. 1627. GBl. DDR I s. 299. 12 Vgl. Siegfried Mampel, Das Ende der sozialistischen Verfassung der DDR, Deutschland Archiv 22 (1990), S. 1377 ff. (1389 ff.). 13 Zur allgemeinen Problematik eingehend Eckart Klein, Das Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik über kulturelle Zusammenarbeit, in : Gedächtnisschrift für W.K. Geck (1989), s. 467 ff. (477 ff.). 14 Klein (Anm. 7), S. 1070. Vgl. auch Klaus Stern, in: Stern/Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Einigungsvertrag und Wahlvertrag (1990), S. 3 ff. (39). 10

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nämlich darin, ob Verfassungsänderungen überhaupt in der Form eines völkerrechtlichen Vertrages bzw. des dazu erforderlichen Vertragsgesetzes vorgenommen werden dürfen. Ein solches Vorgehen wird - was oft übersehen wird- vom Grundgesetz in der Tat nicht völlig ausgeschlossen, ja sogar ohne verfassungsändernde Mehrheit und ohne Verfassungsgesetzänderung zugelassen, allerdings nur in dem besonders gelagerten Fall, daß Hoheitsrechte an zwischenstaatliche Einrichtungen (z.B. Europäische Gemeinschaften) übertragen werden; aber hierfür bietet Art. 24 Abs. 1 GG eine klare Ermächtigungsgrundlage.15

Im übrigen liegen die Bedenken gegen paktierte Verfassungsänderungen auf der Hand. Es widerspricht der Vorstellung von der verfassunggebenden bzw. -ändernden Gewalt des Volkes, daß der Vertragspartner Einfluß auf den Inhalt des Verfassungsrechts nimmt. Man kann dieses Bedenken allerdings dadurch entkräften, daß der eigentliche verfassungsändernde Vorgang richtigerweise im innerstaatlichen Rechtsakt der parlamentarischen Zustimmung zum Vertrag (Vertragsgesetz) gesehen wird, auf den der Vertragspartner keinen Einfluß hat. 16 Die Tatsache, daß der Vertragspartner auf völkerrechtlicher Ebene die Einhaltung der paktierten Norm verlangen kann, ändert nichts daran, daß innerstaatlich allein der verfassungsändernde Gesetzgeber über das Verfassungsrecht verfugt, es also auch in Widerspruch zur vertraglichen Verpflichtung innerstaatlich wirksam abändern kann, sich dabei freilich dem Risiko des Vertragsbruchs mit den entsprechenden völkerrechtlichen Haftungsfolgen aussetzt. Zumindest sollte aber doch schon diese überlegung Anlaß sein, gegenüber Verfassungsänderungen durch Verträge bzw. Vertragsgesetze äußerste Zurückhaltung zu üben - und in der Tat sind entsprechende Fälle bisher nicht bekannt geworden. 17 Entscheidend ins Gewicht fallt aber, daß die über das verfassungsändernde Vertragsgesetz abstimmenden Mitglieder des Bundestages (und des Bundesrates) keine Möglichkeit haben, Abänderungsanträge im Hinblick auf einzelne Bestimmungen zu stellen und getrennt darüber abzustimmen. 18 Wegen der außenpolitischen Prärogative der Bundesregierung und um ein oft höchst mühsam als Kompromißpaket ausgehandeltes Vertragsergebnis nicht zu gefährden, ist das Parlament darauf beschränkt, den Vertrag entweder anzunehmen 15 Hierzu näher Christian Tomuschat, in: Bonner Kommentar (Zweitbearb. 1985), Art. 24 Rn. 34. 16 Zur Frage, ob wegen Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG das Vertragsgesetz selbst die Grundgesetzänderung im Wortlaut hätte wiedergeben müssen, vgl. zutreffend verneinend Stern (Anm.l4), S. 39f. 11 Vgl. die Äußerung von Bundestagspräsidentin Süssmuth vom 13.9.1990, abgedruckt bei: Willi Geiger, Wohin Extratouren auf dem Wege des Artikels 23 GG flihren, in : Deutschland und seine Nachbarn, Forum flir Kultur und Politik 1990/4, S. 22 ff. (27). 18 Vgl. §§ 81 Abs. 4, 82 Abs. 2 GeschO Bundestag.

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oder abzulehnen. Werden damit Verfassungsänderungen, unter Umständen noch sehr disparater Art, verbunden, geht die Verfassungsverantwortung von Bundestag und Bundesrat als dem verfassungsändernden Gesetzgeber verloren. Eine Harmonisierung beider Prinzipien - außenpolitische Erstverantwortung der Regierung, verfassungsändernde Gesetzgebung der Legislative - ist nicht zu Lasten des Parlaments durchführbar. Es ist deshalb alles andere als verwunderlich, daß Abgeordnete des Deutschen Bundestages im Weg eines Organstreits die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts erreichen wollten, sie würden durch die Einbeziehung von Grundgesetzänderungen in den Einigungsvertrag in ihren Rechten verletzt. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar den Antrag verworfen, implizit aber deutlich gemacht, daß es die Bedenken gegen eine Verfassungsänderung durch völkerrechtlichen Vertrag/Vertragsgesetz teilt. 19 Der Grund für den Mißerfolg der Klage liegt nämlich darin, daß das Gericht den Einigungsvertrag gerade nicht als Ausfluß eigentlicher auswärtiger Gewalt, sondern als spezifisches Instrument zur Herstellung der staatlichen Einheit sah und deshalb primär Art. 23 Satz 2 GG die Zuständigkeit zum Vertragsabschluß einschließlich der "beitrittsbedingten Grundgesetzänderungen" entnahm, während Art. 59 Abs. 2 GG nur zusätzliche Bedeutung für die parlamentarische Mitwirkung zugewiesen bekam. Die an der Schwelle zur Wiedervereinigung hervorgehobene Akzentuierung der Beziehungen zur DDR als ein dem engeren Feld der Außenpolitik entrücktes Rechtsverhältnis, wie ja auch schon dadurch zum Ausdruck kam, daß auf Seiten der Bundesrepublik der Bundesminister des lnnern Verhandlungsführer war, ist verständlich. Das Gericht durfte sich also für den speziellen Fall mit der Verfassungsänderung durch Vertragsgesetz zufriedengeben. 20 Da mit dieser Verfassungsänderung Art. 23 GG aufgehoben wurde, kann sich ein entsprechender Vorgang nicht wiederholen. Dies ist ohne Einschränkung zu begrüßen. 3. Die "Bestandskraft" des Einigungsvertrages Der Wegfall des Vertragspartners DDR im Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Beitritts könnte zur Beendigung des Vertrages geführt haben. Dem steht jedoch der in Art. 44 und 45 Abs. 2 EV zum Ausdruck gekommene Wille der Vertragsparteien entgegen. Nach Art. 44 können nämlich die aus dem Vertrag zugunsten der DDR bestehenden Rechte von jedem der fünf neuen Bundeslän19 Beschl. vom 18.9.1990 - 2 BvE 2/90 -, DVB!. 1990, S. 1163. Dazu eingehend Wolff Heintschel von Heinegg, Die Mitwirkungsrechte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages und das Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, DVB!. 1990, S. 1270 ff. 20 Insoweit ist die Kritik von Geiger (Anm. 17), S. 27 ff., überzogen.

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der geltend gemacht werden. Damit sind die vom Bundesverfassungsgericht zum Eingliederungsvertrag zwischen dem Freistaat Coburg und dem Freistaat Bayern (1920) entwickelten Rechtsprinzipien mutatis mutandis in den Einigungsvertrag eingebracht worden. 21 Mit dem Wirksamwerden des Beitritts und der Ingeltungsetzung des Grundgesetzes in dem Territorium der ehemaligen DDR verliert der Einigungsvertrag zwangsläufig seine Auch-Qualität als völkerrechtlicher Vertrag. 22 Er wird zum ausschließlich staatsrechtlichen Rechtsinstrument, behält freilich, wie sich aus Art. 44 ergibt und ftir die Interpretation wichtig ist, seine Vertragsnatur. Art. 45 Abs. 2 EV bringt dies zutreffend zum Ausdruck, wenn er sagt, der Einigungsvertrag bleibe nach diesem Zeitpunkt "als Bundesrecht geltendes Recht". Dies bedeutet nicht nur, entsprechend Art. 44, die Fortdauer seiner Rechtsgeltung, sondern unterstellt den Vertrag als Bundesrecht der dirigierenden Kraft der Bundesverfassung, also des Grundgesetzes. Dies hat wichtige Konsequenzen. Daraus ergibt sich nämlich, daß die aus dem Vertrag folgenden Rechte in übereinstimmung mit dem Grundgesetz auszulegen und geltend zu machen sind. Für die in Art. 4 EV paktierten Verfassungsänderungen bedeutet das, daß sie nicht auf alle Zeiten festgeschrieben, sondern späterer Verfassungsänderung im Verfahren nach Art. 79 GG zugänglich sind. Denn das Grundgesetz läßt die Einschränkung der verfassungsändernden Gewalt allenfalls durch Erweiterung des Art. 79 Abs. 3 GG zu; diese Vorschrift ist aber durch den Einigungsvertrag nicht tangiert worden. Soweit es sich um Vertragsbestimmungen auf der Normstufe des einfachen Bundesrechts handelt, steht der gerade durch Art. 44 ausgedrückte Gedanke der Rechtswahrung dem beliebigen rechtsändernden Zugriff des Bundesgesetzgebers auf den Inhalt des Einigungsvertrages entgegen, jedenfalls soweit es um solche Bestimmungen des Vertrages geht, die Rechte der DDR bzw. der neuen Länder begründen. Auf der anderen Seite kann dieser vertragliche Bestandsschutz ("pacta sunt servanda") nicht ein absolutes Veto der neuen Bundesländer (oder eines einzelnen von ihnen) gegen eine gesetzgebefische Neuordnung begründen. 23 Denn das Bundesverfassungsgericht hat in seiner schon erwähnten Coburg-Rechtsprechung auch darauf hingewiesen, daß das Prinzip rebus sie stantibus ein im Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens wurzelnder ungeschriebener Bestandteil des deutschen Bundesverfassungsrechts ist. Das Prinzip kommt zur Anwendung, wenn sich die Verhältnisse, die im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestanden, mittlerweile so geändert haben, daß BVerfGE 22,221 (231); 34,217 (226 f.); 38,231 (237). Vgl. BVerfGE 36, 1 (22 ff.). 23 So auch Kar! Doeluing, Staatsrechtliche und völkerrechtliche Betrachtungen zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, in : Studium Generale Universität Mainz (im Erscheinen). 21

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das Festhalten am Vertrag oder an einer seiner Einzelvereinbarungen für den Verpflichteten unzumutbar geworden ist. 24 Unter diesen Umständen ist also eine gesetzliche Änderung der Vertragsbestinunungen durch einfache Mehrheit möglich. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß der handelnde Gesetzgeber die gesamtdeutsche Legitimation hat und bei der notwendigen Mitwirkung des Bundesrates die neuen Bundesländer an der Mehrheitsbildung beteiligt sind. II. Die vertraglich vereinbarten Grundgesetzänderungen

Probleme sehr unterschiedlicher Art werfen die im Einigungsvertrag vereinbarten Verfassungsänderungen auf: 1. Präambel, Art. 33 und 146 GG Mit der Änderung der Präambel und des Art. 146 sowie der Aufhebung von Art. 23 GG hat der verfassungsändernde Gesetzgeber Konsequenzen aus der Wiedervereinigung gezogen. Verstand sich die Bundesrepublik Deutschland nach der Aussage des Bundesverfassungsgerichts im Grundvertragsurteil bislang als "gebietlich unvollständig", 25 wird nun durch Streichung der diese Unvollständigkeit signalisierenden Grundgesetzbestimmungen - Wiedervereinigungsgebot (Präambel), Beitrittsklausel (Art. 23 Satz 2), gesamtdeutsche Verfassungsgebung (Art. 146) - die territoriale Saturiertheit Deutschlands proklamiert. Da hiermit zugleich der Verzicht auf ein Viertel Deutschlands in den Grenzen von 1937 verbunden ist- die territoriale Souveränität über die Ostgebiete geht mit Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages vom 12. September 199026 und des deutsch-polnischen Vertrages vom 14. November 199027 auf Polen bzw. die Sowjetunion über 28 - , sind zweifellos einige Bemerkungen zu dieser bedeutsamen Verfassungsentscheidung angebracht.

BVerfGE 34, 217 (230 ff.). BVerfGE 36, 1 (28). 26 BGBl. 1990 II S. 1318 (in Kraft). 27 Bulletin Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Nr. 134 vom 16.11. 1990, S. 1394 (in Kraft). 28 Zur kontroversen Beurteilung des Zeitpunkts des Souveränitätsübergangs und seines Rechtsgrundes vgl. einerseits Jochen Abr. Frowein, Die Verfassungslage Deutschlands im Rahmen des Völkerrechts, VVDStRL 49 (1990), S. 7 ff. (16 ff.), andererseits Eckart Klein, Diskusisonsbeitrag, ebd., S. 134; ders. (Anm. 7), S. 1072. Vgl. auch Dieter Blumenwitz, Der Vertrag vom 12.9.1990 über die abschließende Regelung in bezugauf Deutschland, NJW 1990, S. 304 ff. (3044); nicht eindeutig Dietrich Rauschning, Beendigung der Nachkriegszeit mit dem Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, DVBl. 1990, S. 1275 ff. (1281). 24 25

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Vor der Wiedervereinigung waren weder die Bundesrepublik Deutschland noch die DDR in der Lage, über deutsche Gebiete endgültig- im Sinne der Herbeiführung eines Souveränitätswechsels - zu verfügen. Die Gründe hierfür lagen für beide deutsche Staaten in ihrer fehlenden gesamtdeutschen Legitimation29 und in den Vorbehaltsrechten der Alliierten; 30 für die Bundesrepublik Deutschland gab es zusätzlich die Sperre des Wiedervereinigungsgebots. 31 Wie Art. 1 des Moskauer Vertrags ("2 + 4") ausweist, ist die Beschreibung der Außengrenzen des vereinten Deutschlands ein zentrales Thema, dessen Behandlung unter maßgeblicher Beteiligung der Alliierten geschehen ist. Auch die Legitimationsfrage ist für das seit dem 3. Oktober 1990 bestehende gesamtdeutsche Parlament neu zu beantworten. Mit dem Beitritt ist die Legitimationslücke, deren sich das Grundgesetz ausweislich seiner Präambel vollständig bewußt war, geschlossen und das Grundgesetz nicht nur nach Anspruch, sondern auch im Rechtssinn zur Verfassung des ganzen deutschen Volkes geworden. 32 Es entspricht dieser Logik, daß die Grundlagen der Souveränitätsübertragung, Zwei-plus-Vier- und deutsch-polnischer Vertrag, nur vom gesamtdeutschen Parlament gebilligt werden können. Der Moskauer Vertrag (Art. 8) sieht überdies ausdrücklich vor, daß er, der ja noch unter Beteiligung beider deutscher Regierungen verhandelt wurde, auf deutscher Seite der Ratifikation durch das vereinte Deutschland bedarf. An der gesamtdeutschen Legitimation des Bundestages ist seit dem 3. Oktober 1990 nicht zu zweifeln. Zwar ist richtig, daß nicht alle Deutschen, vor allem auch nicht die in den Oder-Neiße-Gebieten lebenden, die Möglichkeit zur Wahl und damit zur Legitimationsvermittlung hatten. 33 Der weitaus größte Teil der deutschen Staatsangehörigen war aber in der Lage, die Legitimation des gesamtdeutschen Parlaments mit zu begründen; dies gilt - aufgrund der Vertreibung- auch flir die Deutschen, die aus den betroffenen Gebieten stammen. Die Herstellung gesamtdeutscher Repräsentation erfordert nicht die Beteiligung buchstäblich aller deutscher Staatsangehöriger.

29 Dazu Eckart Klein, Wiedervereinigungsklauseln in Verträgen der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für B. Meissner (1985 ), S. 77 5 ff. (7 84 f.). 30 Dazu Gottfried Zieger, Vier-Mächte-Verantwortung für Deutschland als Ganzes (1990); Dieter Blumenwitz, Die Überwindung der deutschen Teilung und die Vier Mächte (1990). 31 Dazu Georg Ress, Grundlagen und Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, B. I (1987), S. 449 ff. (498 ff.). 32 Vgl. den Wortlaut der neuen Präambel. Zur Schließung der Legitimationslücke durch den Beitritt: Eckart Klein, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage (1990), S. 89 f. 33 Vgl. § 12 Abs. 2 BWahlG. Das Bundesverfassungsgericht hat hierin keinen Hinderungsgrund gesehen, Beschl. v. 2.11.1990, NJW 1991, S. 689.

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Schwieriger ist die Frage nach der Bedeutung des Wiedervereinigungsgebots in diesem Zusammenhang. 34 Ich habe immer die Ansicht vertreten, daß diese Norm sich auf Deutschland in den Grenzen von 1937 erstreckt, daß sie allerdings nicht den gesamtdeutschen Souverän von Territorialverfügungen abhalten kann und auch nicht verfassungsänderungsfest ist. 35 Die Streichung des Wieder· Vereinigungsgebots (wie der Beitrittsmöglichkeit ftir "andere Teile Deutschlands") ist daher unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden. Die die Nachkriegszeit abschließende Grenzregelung ist völkerrechtlich und verfassungsrechtlich ohne Fehler und daher - mit Irrkrafttreten der Verträge - gültig. Ein Wort ist allerdings hinzuzufügen: Soweit ersichtlich, ist es einmalig, daß über ein derart großes bewohntes Gebiet verfUgt wird, ohne daß gleichzeitig Re· gelungen flir die davon betroffenen Menschen vereinbart werden. Daher ist es zu begrüßen, daß der deutsch-polnische Grenzvertrag nur gemeinsam mit dem deutsch-polnischen Generalvertrag dem Bundestag zur Zustimmung vorgelegt und auch gemeinsam ratifiZiert werden soll. Entscheidend werden natürlich die inhaltlichen Aussagen des Generalvertrages - über die bisher wenig bekannt ist - sein. Aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht 36 ist die Bundesrepublik Deutschland gehalten, alles zu versuchen, um - gerade in diesem zeitlich und sachlich günstigen Zusammenhang - für bislang ungeregelte Fra· gen wie die Eigentumsproblematik eine Lösung zu finden und effektive Min· derheitenschutzbestimmungen zu vereinbaren. Die Regelung der Grenzfrage wird vor der Geschichte nur im Kontext des umfassenden Vertrages bestehen können. 2. Art. 51 Abs. 2 GG Eine andere, Art. 51 Abs. 2 GG betreffende Verfassungsänderung hat geringere Bedeutung, doch weist sie auf den bundesstaatliehen Aspekt der Wieder· vereinigung hin, auf den zurückzukommen ist. Hier soll nur erwähnt werden, daß die Neuordnung der den Bundesländern im Bundesrat zustehenden Stimmenzahl der Sache nach den Status quo deshalb erhalten hat, weil ungeachtet der größeren Zahl von Bundesländern und der daraus folgenden Stirnmvermeh·

34 Viel zu leicht macht es sich Christoph Degenhart, Verfassungsfragen der deutschen Einheit, DVBI. 1990, S. 973 ff. (977 f.). 35 Eckart Klein, Die territoriale Reichweite des Wiedervereinigungsgebots (2. Auf!. 1984); ders., Deutschlandrechtliche Grenzen einer Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäischen Gemeinschaften, DÖV 1989, S. 957 (959 f.); ders. (Anm. 32), s. 92. 36 BVerfGE 40, 141 (177); vgl. auch Eckart Klein, Diplomatischer Schutz und grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, DÖV 1977, S. 804 ff.

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rung die vier großen Bundesländer nach wie vor über eine Sperrminorität bei Verfassungsänderungen verfügen. 37 3. Art. 135a, 143 GG Sehr viel problembehafteter sind die Grundgesetzergänzungen durch Art. 143 und 135 a Abs. 2. a) Art. 143 Abs. 1 schwächt die Geltungskraft des Grundgesetzes für das Beitrittsgebiet flir eine übergangszeit ab. Recht in diesem Gebiet kann nämlich vom Grundgesetz bis Ende 1992 abweichen, "soweit und solange irrfolge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliehe Ordnung noch nicht erreicht werden kann." Dies gilt auch und gerade für den GrundrechtsteiL Dabei sind allerdings Art. 19 Abs. 2 und 79 Abs. 3 GG, die die Essenz des Grundgesetzes enthalten, zu beachten. Die Abweichungsfrist wird in Art. 143 Abs. 2 im Hinblick auf wichtige Teile des Grundgesetzes bis Ende 1995 erstreckt. Darunter fallen die Abschnitte Bund und Länder, die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung, Gemeinschaftsaufgaben, Rechtsprechung, Finanzwesen und übergangsbestimmungen. Gerade die finanzverfassungsrechtlichen Bestimmungen sind für die neuen Bundesländer in umfassender Weise (bis 1994) modifiZiert worden. Die getroffene Regelung, die weithin das Ergebnis einer Verweigerungshaltung der alten Bundesländer ist, hat sich sehr schnell als unhaltbar erwiesen.38 Änderungen werden daher in Kürze erfolgen müssen. Erst nach dem 31. Dezember 1995 ist somit gesichert, daß das Grundgesetz auch in den neuen Bundesländern umfassend zur Anwendung kommt. Drei Einschränkungen sind aber selbst hier zu machen : Zum einen ist die Inkraftsetzung von Art. 131 GG offen (Art. 6 EV) 39 ; zum andern wird das Eigentumsrecht im Hinblick auf bestimmte Eigentumseingriffe auf Dauer modifiziert (Art. 143 Abs. 3 n.F.); zum dritten könnte die in Art. 31 Abs. 4 EV vorgesehene Fortgeltung des alten DDR-Schwangerschaftsabbruchrechts eine unterschiedliche Geltung der Art. 1 und 2 Abs. 2 GG im Westen und Osten Deutschlands bewirken. Den beiden zuletzt genannten Fragen soll etwas nähere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

37 Die Sperrminorität ist allerdings kleiner geworden; die vier großen Länder verfUgen jetzt über 24 von 68 Stimmen (bisher: 20 von 41 bzw. 45 - Berlin!). 38 Zur Problematik Rolf Peffekoven, Deutsche Einheit und Finanzausgleich, Zeitschrift für Staatswissenschaften und Staatspraxis, Bd. I (1990), S. 485 ff., viel zu positiv die Einschätzung von Jürgen Fiedler, Die Regelung der bundesstaatliehen Finanzbeziehungen im Einigungsvertrag, DVBI. 1990, S. 1263 ff. 39 Vgl. dazu Anlage I Kapitel II Sachgebiet B Abschnitt I zum EV.

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b) Kann der gesamtdeutsche Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 1992 keine "bessere" als die derzeit in den alten und neuen Bundesländern geltende Abtreibungsregelung finden, gelten im Beitrittsgebiet die Bestimmungen des (DDR-)Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft vom 9. März 1972 fort. 40 Unterstellt man einmal eine solche Konstellation, ergibt sich eine Reihe schwieriger Fragen. Ich greife allein die grundrechtlich relevanten heraus. Zunächst könnte bei fortdauernder unterschiedlicher Geltung (bundes-)41 strafgesetzlicher Normen der Gleichheitssatz verletzt sein. Zwar erlaubt Art. 143 Abs. 1 n.F. eine zeitweilige Abweichung auch von den Grundrechtsgarantien, doch ist die maßgebliche Frist Ende 1992 abgelaufen. Man wird allerdings - angesichts der Schwierigkeit des zugrunde liegenden Problems und im Hinblick auf die große Bedeutung, die die DDR dieser Frage bei den Vertragsverhandlungen beigemessen hat - einen sachlichen, Willkür ausschließenden Grund für die Aufrechterhaltung der Rechtsspaltung annehmen können. Unsicherheiten bleiben aber. Sehr viel diffiziler wird es, wenn unmittelbar auf das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2) und die Menschenwürde (Art. 1) abgestellt wird. Schon die bis Ende 1992 zugelassenen Grundrechtsabweichungen dürfen nicht gegen die grundrechtliche Wesensgehaltsgarantie verstoßen und müssen mit den in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Grundsätzen - u.a. eben gerade der Menschenwürdegarantie - vereinbar sein. Ab 1993 sind Abweichungen von Grundrechtsgarantien, also natürlich auch von Art. 1 und 2 Abs. 2 GG, ohnehin nicht mehr statthaft. Das Bundesverfassungsgericht hat nun aber die sogenannte Fristenregelung gerade deshalb für verfassungswidrig und nichtig erklärt, weil es mit der Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 GG entnommenen Lebensschutzpflicht des Gesetzgebers unvereinbar ist, "daß Schwangerschaftsabbrüche auch dann rechtlich nicht mißbilligt und nicht unter Strafe gestellt werden, wenn sie aus Gründen erfolgen, die vor der Wertordnung des Grundgesetzes keinen Bestand haben" .42 Daraus hat das Gericht sowohl gefolgert, daß das noch nicht geborene Leben nicht der willkürlichen Entschließung der schwangeren Frau preisgegeben und auch der Staat angesichts des hohen Wertes des zu schützenden Rechtsguts keine Experimente durchfUhren dürfte mit dem immerhin möglichen Ergebnis, daß die Aufhebung der Strafnorm zu einer höheren Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen flihren könnte. 43 Geht man von der Richtigkeit dieser Erwägung aus und unterstellt, daß ein außerstrafrechtlicher, besserer Schutz ftir das werdende Leben nicht vorhanden ist, so ist die Fortgeltung 40 41

fort. 42 43

GBI. DDR II S. 149. Das alte DDR-Gesetz gilt gern. Art. 9 Abs. e EV als - partikuläres - Bundesrecht BVerfGE 39, 1 (65 ). BVerfGE 39, 1 (56, 60).

4 Fischer 1Haendcke-Hoppe-Arndt

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des ehemaligen DDR-Abtreibungsrechts schon jetzt in hohem Maße verfassungsrechtlich zweifelhaft, nach 1992 wäre der Verfassungsverstoß aber evident.44 Die in Art. 31 Abs. 4 EV getroffene Vereinbarung, daß dieses Recht über diesen Zeitpunkt weitergelten kann, hilft schon angesichts der gleichfalls vereinbarten und im neuen Art. 143 Abs. 1 GG ausgedrückten ungebrochenen Grundrechtsanwendung nicht weiter. Eine verfassungsrechtliche Absicherung des DDR-Schwangerschaftsabbruchrechts ist - anders als bei der Eigentumsfrage - nicht erfolgt. c) Auch die Eigentumsgarantie sieht sich einer erheblichen Beeinträchtigung ausgesetzt. Zwar läßt Art. 143 Abs. 1 auch bezüglich des Art. 14 GG auf dem Beitrittsgebiet nur bis Ende 1992 anpassungsbedingte Abweichungen zu. Doch wird über Art. 143 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 41 EV dem Inhalt der sogenannten Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni 1990 zur Regelung offener Vermögensfragen, wonach "die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage (1945-1949) ... nicht mehr rückgängig zu machen (sind)", 45 auf Dauer Bestand gegeben. Unter dem Aspekt des Art. 14 GG ist dies deshalb bedeutsam, weil zwar nicht die damals durchgeführten Enteignungen, insbesondere die sogenannte Bodenreform, die allen rechtsstaatliehen Anforderungen widersprochen haben und als schlechthin willkürlich einzustufen sind,46 an dieser Eigentumsgarantie des Grundgesetzes zu messen sind, wohl aber die Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland, auch unter der wiederhergestellten eigenen Rechtsverantwortung dieses Unrecht weiter hinzunehmen und den Erlaß gegenläufiger, das Unrecht beseitigender Vorschriften zu unterlassen. 47 Da Art. 143 Abs. 3 GG selbst Verfassungsnorm ist, ist freilich allein die Frage ausschlaggebend, ob es sich dabei um eine "verfassungswidrige Verfassungsnorm" handelt, weil der verfassungsändernde Gesetzgeber die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze mißachtet und sich damit den auch ilun gezogenen Schranken entzogen hat. Für ein solches Ergebnis sprechen durchaus triftige Gründe. 48 Besonders wichtig dürfte dabei das Argument der willkürlichen Differenzierung zwischen den von der Bodenreform bis 1949 betroffenen Eigentümern (Höfe ab 101 ha) und den erst später Enteig44 Vgl. auch die Nachweise bei Stern (Anm. 14), S. 42 f. - Zur verfassungsprozessualen Frage der Auswirkung der zitierten Entscheidung auf eine Neuregelung vgl. Michael Sachs, Der Fortbestand der Fristenlösung für die DDR und das Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, DtZ 1990, S. 193 ff. 45 Anlage 111 zum EV. 46 Otto Kimminich, Die Eigentumsgarantie im Prozeß der Wiedervereinigung (1990), S. 69 ff.; Peter Badura, Der Verfassungsauftrag der Eigentumsgarantie im wiedervereinigten Deutschland, DVBI. 1990, S. 1256 ff. (1260). 47 Art. 41 Abs. 3 EV. 48 In diesem Sinn die Kläger in den Verfahren von dem BVerfG; vgl. dazu Hans Herbert von Arnim, Entzug der Grundrechte aus Opportunität?, FAZ vom 6.9.1990, S. 8 ; Doehring (Anm. 23).

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neten sein, flir die grundsätzlich Restitutionsmöglichkeit gegeben ist. Auch wenn Art. 3 GG nicht unmittelbar von Art. 79 Abs. 3 GG in Bezug genonunen ist, folgt das Willkürverbot doch aus dem "Wesen des Rechtsstaats, dem Prinzip der allgemeinen Gerechtigkeit", 49 und stellt darum eine Grenze für den verfassungsändernden Gesetzgeber dar. Bedenkenswert ist allerdings schon der Einwand der Bundesregierung, daß ihrer Einschätzung nach die Sowjetunion der Wiederherstellung der deutschen Einheit ohne diese Vereinbarung nicht zugestimmt hätte, 50 obgleich nicht recht klar ist, weshalb die Sowjetunion darauf soviel Wert legen sollte, und es eher scheint, daß das Festhalten an dieser fraglichen Errungenschaft von der DDR gewollt war. Das Interesse der Sowjetunion wird immerhin durch ein an die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland gerichtetes Memorandum der sowjetischen Regierung vom 28. April 199051 und durch den Gemeinsamen Brief der beiden deutschen Außenminister an die Außenminister der vier Mächte im Rahmen des zwei plus VierVertrages belegt. 52 Offenkundig fehlsamist die außenpolitische Einschätzung der Bundesregierung daher schwerlich gewesen, wie es nötig wäre, damit das Bundesverfassungsgericht sie gemäß seiner eigenen Rechtsprechung unberücksichtigt lassen dürfte. 53 Läßt sich somit der Ausschluß der Restitution durch Verfassungsänderung noch rechtfertigen, könnte dies für den Ausschluß jeglicher Entschädigung nicht gelten. Diese Ansicht gründet sich nicht auf Art. 14, auf dessen Garantie der verfassungsändernde Gesetzgeber durchaus zurückgreifen kann, sondern auf dem diesem Zugriff Schranken setzenden, unmittelbar im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden übermaßverbot. Wie man auch das sowjetische Interesse interpretieren mag, ein Ausschluß der Entschädigung fti.r das nicht restituierbare Eigentum wird davon kaum umfaßt. Die Gemeinsame Erklärung sieht daher auch vor, daß das gesamtdeutsche Parlament über staatliche Ausgleichsleistungen befinden kann. Unter dem Aspekt des Obermaßverbots ist der Gesetzgeber jedoch zum Ausgleich verpflichtet. Man kann auch argumentieren, daß eine willkürliche Ungleichbehandlung nur soweit ausgeschlossen ist, als das angebliche, nicht widerlegbare Interesse der Sowjetunion reicht. Die in der Gemeinsamen Erklärung dem Gesetzgeber eingeräumte Gestaltungsfreiheit bezüglich des "Ob" einer Ausgleichsleistung ist daher verfassungswidrig. 54 Diese BVerfGE 21, 362 (372); 76, 130 (139). Vgl. dazu Bundesminister der Justiz Klaus Kinkel, Deutsche Rechtseinheit - eine Standortbestimmung, NJW 1991, S. 340 ff. (343); Gerhard Fieberg/Harald Reichenbach, Zum Problem der offenen Vermögensfragen, NJW 1991, S. 321 ff. (326). 51 Nachweise bei Badura (Anm. 46), S. 1258 f. 52 Bulletin Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr.l09 vom 14.9.1990, s. 1156. 53 Vgl. BVerfGE 55, 349 (367 f.) ; 77, 137 (167). 54 Anders Hans-Jürgen Papier, Verfassungsrechtliche Probleme der Eigentumsregelung im Einigungsvertrag, NJW 1991, S.l93 ff. (197). Ähnlich wie hier wohl Badura (Anm.46), 49

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punktuelle Nichtigkeit von Art. 41 i.V.m. Anlage III EV berührt allerdings Art. 143 Abs. 3 GG, der ja nur die Rückgabe (nicht etwa den käuflichen Wiedererwerb) ausschließt, nicht. Möglicherweise ist auch eine verfassungskonforme Auslegung von Art. 41 EV vertretbar. Ob die somit jedenfalls notwendigen Ausgleichszahlungen in den größeren Zusammenhang der Kriegsfolgenbewältigung gehören, für die Art. 14 GG keine Geltung beanspruchen kann, 55 soll nicht näher behandelt werden. Nur hinzuweisen ist ferner auf den neuen Art. 135 a GG, der auch im hier diskutierten Kontext Zahlungserleichterungen bringen kann. 56 11/. Zukünftig denkbare Verfassungsänderungen

Der richtige Umgang mit der Verfassung will gelernt sein. Die wichtigste Voraussetzung hierflir ist das Bild, das man sich von ihr macht. Falsch wäre das Bild einer "shopping Iist", die alles aufführt, was man flir den täglichen Bedarf benötigt. Die detailbefrachtete Verfassung ist schwerlich geeignet, eine wegen des daraus folgenden ständigen Aktualisierungszwangs identifikationsund integrationsfähige dauerhafte Orientierung für Volk und Staat zu geben. Mit anderen Worten: Verfassungsänderungen sollten nicht leichthin, nicht aus tagespolitischen, sondern nur aus grundsätzlichen Erwägungen durchgefUhrt werden. Die gegenwärtige Diskussion einer Grundgesetzänderung ist maßgeblich dadurch motiviert, daß viele - wie ich meine: zu Unrecht - statt des Beitritts und der damit verbundenen Anerkennung des Grundgesetzes als der gesamtdeutschen Verfassung lieber den Weg über Art. 146 GG beschritten hätten, der die Möglichkeit, eine ganz neue Verfassung zu schaffen, geboten hätte. Die Verfassungsänderungsdebatte wird so - zumindest politisch - zur Ersatzdebatte. Zum anderen sind nach Art. 5 EV einige Fragen ausdrücklich dem verfassungsändernden Gesetzgeber zur überlegung empfohlen. Schließlich sind tatsächlich einige Fragen aufgetreten, deren verfassungsrechtliche Regelung bzw. Nichtregelung zu überdenken ist. Jedes dieser Probleme wäre einer ausfUhrliehen Betrachtung wert.

S. 1263. Vgl. BVerfG, Beschl. vom 11.12.1990- 1 BvR 1170/90 u.a. -, EuGRZ 1990, S. 556 (559). 55 Vgl. BVerfGE 41, 126 (150 f.) ; 53, 164 (175 f.). 56 Vgl. die Denkschrift der Bundesregierung zum EV, in : Stern/Schmidt-Bleibtreu (Anm. 14 ), S. 128.

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1. Staatszielbestinunungen Ein in Art. 5 EV unmittelbar angesprochenes Problem ist die Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz. Bereits im Jahr 1983 hat im Auftrag der Bundesregierung eine Sachverständigenkommission einen Bericht zu diesem Thema vorgelegt. Sie hat dabei "Staatszielbestimmungen" defmiert als "Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erflillung bestimmter Aufgaben - sachlich umschriebener Ziele - vorschreiben. Sie umreißen ein bestimmtes Programm der Staatstätigkeit und sind dadurch eine Richtlinie oder Direktive für das staatliche Handeln, auch für die Auslegung von Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften. 1m Regelfall wendet sich eine Staatszielbestimmung an den Gesetzgeber, ohne daß damit ausgeschlossen sein muß, daß diese Norm auch eine Auslegungsrichtlinie ftir Exekutive und Rechtsprechung ist . . . Ein Gesetz oder eine sonstige Rechtsvorschrift, die eine Staatszielbestimmung mißachtet, ist verfassungswidrig. " 57 Die Kommission hat Staatszielbestimmungen schon damals für die vier Bereiche erörtert, die auch heute im Vordergrund der Diskussion stehen: Arbeit, Umweltschutz, Kultur, Daten- und Persönlichkeitsschutz. Für das letztgenannte Gebiet hat die Kommission keine Regelung empfohlen, bezüglich der anderen Gebiete gab es Mehrheitsvorschläge, im Bereich Arbeit erhielt keiner der Vorschläge eine Mehrheit. Schon dieses Ergebnis zeigt die Schwierigkeit und Komplexität der Problematik, die noch dadurch gesteigert wird, daß teilweise durch vorgeschlagene Formulierungen - z. B. "Recht auf Arbeit", "Recht auf gesunde Umwelt" - häufig der Gedanke der sozialen Grundrechte miteinbezogen wird, die zwar soziale Staatsaufgaben bezeichnen und insofern in den Kontext passen, die aber zugleich die Gefahr begründen, daß der grundsätzliche Unterschied zu den Freiheitsrechten verdrängt wird, die unmittelbar vor den Gerichten durchsetzbare Individualrechte gegen die öffentliche Gewalt begründen. 58 So sehr die gegenwärtige Situation in den neuen Bundesländern die Sorge um den Arbeitsplatz (und die Wohnung) verständlich macht, so deutlich muß dieser Unterschied hervorgehoben werden. Persönlich bezweifle ich auch, daß es sinnvoll ist, die Arbeitsplatzschaffung und -förderung als sozialstaatliche Dimension auf Verfassungsebene stärker zu akzentuieren. 59 Da der Umweltschutz hingegen nicht zu den herkömmlichen Aufgaben des Sozial57 Staatszielbestimmungen. Gesetzgebungsaufträge, Bericht der Sachverständigenkommission (1983), S. 21. 58 Ebd., S. 19. 59 Dies gälte erst recht fti.r eine Verankerung von Menschenrechten der sogenannten dritten Generation in der Verfassung; dazu Eckart Klein, Human Rights of the Third Generation, in: C. Starck (ed.), Rights, Institutions and Impact of International Law according totheGerman Basic Law (1987), S. 63 ff.

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staates gehört und er überdies eine internationale Dimension hat, erscheint mir eine Verfassungsbestirrunung plausibel zu sein, die die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen unter den besonderen Schutz des Staates stellt. 2. Stärkung des Föderalismus Nach Art. 5 EV soll auch die Stärkung des Föderalismus als Gegenstand einer möglichen Verfassungsänderung diskutiert werden. 60 Die aus ihrer Sicht wichtigsten Fragen sind im sogenannten Eckwertebeschluß der Ministerpräsidenten der (alten) Bundesländer vom 5. Juli 1990 angesprochen. 61 Dabei geht es vor allem um eine Korrektur der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zugunsten der Länder durch Modifikation von Art. 72 GG und um eine grundlegende überprüfung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. Im auswärtigen Bereich fordern die Länder mehr Mitsprache. Realisiert werden soll dies durch eine Änderung von Art. 32, der den Bund bei Abschluß völkerrechtlicher Verträge an die Zustimmung der Länder bindet, soweit die Länder ftir die Gesetzgebung zuständig sind. Durch eine Ergänzung von Art. 24 Abs. 1 GG soll der Gefahr vorgebeugt werden, daß Länderkompetenzen durch übertragung von Aufgaben auf zwischenstaatliche Einrichtungen - gedacht ist vor allem an die Europäischen Gemeinschaften - ohne Zustimmung der Bundesländer abwandern. Da das in Art. 2 des Gesetzes zur Einheitlichen Europäischen Akte 62 beschlossene einfachgesetzliche Länderbeteiligungsverfahren verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt ist, soll die verfassungsrechtliche Grundlage eindeutig gemacht werden. Dies ist verständlich, doch greift die vom Bundesrat vorgeschlagene Formulierung weit über dieses Ziel hinaus und dürfte deshalb für die Bundesregierung nicht akzeptabel sein. 63 Nur am Rande soll die Frage der Neugliederung des Bundesgebiets erwähnt werden. Im Einigungsvertrag (Art. 5) wird sie für den Raum Berlin/Brandenburg ausdrücklich artikuliert und zwar im Sinne eines Zusammenschlusses jenseits der in Art. 29 GG vorgesehenen Möglichkeiten. Im übrigen bin ich gegenüber einer - aus ökonomischen Gründen vielleicht sinnvollen und keineswegs nur die östlichen Bundesländer erfassenden - Neugliederungsdebatte skeptisch. Diese Skepsis betrifft den Erfolg solcher Bemühungen, aber auch ihre Wünsch60 Insgesamt zu diesem Aspekt Eckart Klein, Bundesstaatlichkeit im vereinten Deutschland, in: Die Wiedervereinigung und damit zusammenhängende Rechtsprobleme (1991), s. 23 ff. 61 Landtag Rheinland-Pfalz, Drs. 11/4466, Anlage. 62 GBI. 1986 II S. 1102. - Vgl. dazu Georg Ress, Das deutsche Zustimmungsgesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte - Ein Schritt zur "Föderalisierung" der Europapolitik, EuGRZ 1987, S. 367 ff. 63 Zum Ganzen Eckart Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 56 ff. (91 ff.).

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barkeit im Hinblick darauf, daß es höchst bedenklich sein dürfte, den Wiederfmdungsprozeß in den neuen Bundesländern, kaum daß er begonnen hat, neuen Belastungsproben zu unterwerfen. 3. Minderheitenschutz Ernsthaft zu überlegen ist, ob das Grundgesetz nicht um einen Minderheitenschutzartikel ergänzt werden sollte. In Deutschland gibt es nunmehr drei ethnische Minderheiten, die Friesen, die Dänen und die Sorben. In erster Linie sollte der verfassungsrechtliche Schutz von den jeweiligen Länderverfassungen ausgehen; auf die Bestimmungen in der neuen schleswig-holsteinischen Landesverfassung ist zu verweisen, 64 in den noch zu beschließenden Verfassungen von Brandenburg und Sachsen sollte dies nicht vergessen werden. Aber darüber hinaus stünde es auch der Gesamtverfassung - nicht zuletzt aus außenpoliti· sehen Gründen -gut an, eine Gewährleistung zu übernehmen. Die Bundesrepublik Deutschland hat, schon im Hinblick auf die Deutschen in den - nunmehr bald endgültig zu Polen gehörenden - Oder-Neiße-Gebieten, ein gesteigertes Interesse, einen vorbildlichen Schutz für die auf ihrem Territorium lebenden nationalen Minderheiten zu garantieren. 65 4. Plebiszitäre Elemente Schon seit langem, mit weit auseinanderklaffenden Ergebnissen, wird die Frage einer Stärkung plebiszitärer Elemente in der Bundesverfassung diskutiert. Die Enquete-Kommission Verfassungsreform war 1976 der Überzeugung, "daß Volksbefragung, Volksbegehren, Volksentscheid und andere Formen der Volksinitiative keine geeigneten Instrumente seien, die Legitimation und Handlungs· fähigkeit der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie zu verstärken. Es besteht vielmehr die Gefahr, daß sie die Bedeutung des Parlaments verringern und die Funktions- und Integrationsfähigkeit der freien demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik insgesamt beeinträchtigen." 66 Auch gegen eine Volkswahl des Bundespräsidenten sprach sich die Kommission aus. 67 Die Debatte ist sicher durch die partiell erfolgreichen Gespräche an den "Runden Tischen" in der DDR zu Zeiten des Umbruchs neu belebt worden. Eine Institu· tionalisierung dieser revolutionär entstandenen Zirkel würde jedoch notwendig in Widerstreit zu den durch demokratische Wahl legitimierten Parlamenten 64

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Art. 5 und 8 Abs. 4 Verf. Schleswig-Holstein, GVBI. 1990, S. 391. Vgl. Dietrich Rauschning, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 49 (1990), S. 132. Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Drs. 7/5924, S. 14. Ebd., S. 21.

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treten. Im übrigen dürfte der wesentliche Einwand gegen eine Zulassung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene in der Schwierigkeit und Komplexität der zu treffenden Entscheidungen und der Gefahr der Emotionalisierung liegen. Durchaus denkbar sind hingegen überlegungen, auf der Verfassungsebene der Länder, d.h. im Rahmen ihrer beschränkten Aufgaben, zusätzliche Möglichkeiten der unmittelbaren Bürgerpartizipation zu eröffnen. 5. Beteiligung an Friedenstruppen der Vereinten Nationen Derzeit immer breiteren Konsens findet der Vorschlag, für die Beteiligung deutscher Streitkräfte an den sogenannten Friedensoperationen der Vereinten Nationen eine gesicherte verfassungsrechtliche Grundlage zu schaffen. 68 Derzeit ist angesichts der strikten Formulierung des Art. 87 a Abs. 2 GG einerseits, der weichen Formulierung von Art. 24 Abs. 2 GG andererseits die Rechtslage nicht eindeutig. 69 Der auswärtige Einsatz der Bundeswehr ist jedoch zu bedeutsam, als daß es hier Zwielicht geben darf. War es vor der Wiedervereinigung auch verfassungspolitisch zweifelhaft, ob ein solcher Einsatz wünschenswert sei, kann die Frage nun durchaus positiv beantwortet werden. Eine verfassungsrechtliche Klärung sollte dahin erfolgen, daß der auswärtige Einsatz der Bundeswehr auch zum Zweck der Teilnahme an Aktionen der Vereinten Nationen - sei es im Rahmen von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII VN-Satzung, sei es im Rahmen von Friedenstruppen (Blauhelme) - zulässig ist. 6. Europäische Integration Auf die europäische Integration ist bereits unter föderalistischem Aspekt hingewiesen worden. Sie wirft - quasi gegenläufig - aber auch die weitere Frage auf, ob die Grenzen, die der rechtlichen Fähigkeit der Bundesrepublik Deutschland von Verfassung wegen gezogen sind, sich in den Integrationsprozeß einordnen, 70 nicht gelockert sondern, ausgeweitet werden müssen. Nach ganz allgemeiner Auffassung läßt Art. 24 Abs. 1 GG die Bildung eines europäischen Bundesstaates, in dem die Bundesrepublik Deutschland ihre originäre Völkerrechtspersönlichkeit und Letztverantwortung ftir ihre Bürger verlöre, nicht

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(SPD).

Siehe FAZ vom 19.2.1991, S. 2 (CDU); 20.2.1991, S. 4 (FDP); 22.2.1991, S. 4

69 Der neueste Überblick zur Problematik heute : Jochen Abr. Frowein/Torsten Stein, Rechtliche Aspekte einer Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an Friedenstruppen der Vereinten Nationen (1990) samt der darin enthaltenen Diskussion; vgl. auch Albrecht Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 24 Rn. 50 ff. (1989). 70 Vgl. dazu Tomuschat (Anm. 15), Art. 24 Rn.

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zu. 71 Wäre hier nicht ein Signal zugunsten einer über die recht undefinierte Politische Union entschieden hinausgehende Entwicklung zu setzen? Auch auf diesem Gebiet möchte ich ftir Zurückhaltung plädieren. Zu offen ist die zukünftige Entwicklung Europas, zu wenig bisher die politische Finalität der Gemeinschaft bestimmt, um - quasi in Analogie zum alten Art. 146 GG die Selbstaufgabe von Staat und Verfassung im Rahmen gesamteuropäischer Verfassunggebung zu ermöglichen. Auf absehbare Zeit gewährt Art. 24 Abs. 1 GG dem Integrationsgesetzgeber ausreichenden Spielraum. IV. Die Durchführung der Verfassungsänderungen

Neben die Frage der Inhalte einer möglichen Verfassungsänderung tritt die Frage der Prozedur. Das Verfahren der Verfassungsänderung ist, soweit es vom normalen Gesetzgebungsverfaluen abweicht, in Art. 79 Abs. 1 und 2 GG.geregelt. Jede Änderung bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten des Bundestages und der Zustimmung von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. Initiativberechtigt sind Bundesregierung, Bundesrat und Mitglieder des Bundestages. Ungeachtet dieser klaren Regelung ergeben sich Probleme aus der Neufassung von Art. 146 GG. Die alte Fassung, die neben Art. 23 GG einen zweiten Weg zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit wies, ist durch den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes obsolet geworden 72 und folgerichtig zusammen mit Art. 23 GG aufgehoben worden. Das Legitimationsdefizit, das dem Grundgesetz bislang anhaftete und ausschloß, es als gesamtdeutsche Verfassung zu qualiftzieren, wurde nämlich mit dem Beitritt beseitigt. Davon geht offenkundig auch der neue Art. 146 GG aus, der lautet: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Wird damit auch die Funktion des Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung anerkannt, wird gleichwohl in einer merkwürdig verschlungenen Weise eine verfassungsrechtliche Vorläufigkeit angedeutet, die über die Möglichkeit zur jederzeitigen Verfassungsänderung im Rahmen des Art. 79 hinausreicht. Hinter der Neuformulierung steckt erkennbar der Gedanke, mit der Erlangung der gesamtdeutschen Legitimation sei es nicht getan, da das Grundgesetz nach wie vor - selbst nach seiner unbestrittenen 40jährigen Erfolgsbilanz - noch

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Klein (Anm. 35), S. 961. Isensee (Anm. 4 ), S. 53.

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der plebiszitären Salbung bedürfe. Ich teile diese Einschätzung nicht. Aber Art. 146 GG n.F. ist geltendes Verfassungsrecht und daher zu respektieren. Doch was besagt er? 73 Er ordnet jedenfalls weder eine Volksabstinunung über das bestehende Grundgesetz noch über künftige Grundgesetzänderungen noch über eine neue Verfassung auadrücklich an, schließt sie aber auch nicht aus. Dies dürfte auch der Auffassung der Vertragspartner und des verfassungsändernden Gesetzgebers entsprechen; denn nach Art. 5 EV sollen sich die gesetzgebenden Körperschaften ja mit der Frage der Anwendung des Art. 146 GG "und in deren Rahmen einer Volksabstimmung" befassen; diese Formulierung spricht gegen eine im Wortlaut von Art. 146 bereits automatisch vorgesehene Volksabstimmung. Die Schaffung einer neuen Verfassung als Akt der Verfassunggebung durch das Volk kann dadurch bewirkt werden, daß ein hierzu legitimiertes Gremium den Verfassungstext ausarbeitet und der Volksentscheidung unterwirft, oder daß eine zu diesem Zweck gewählte verfassunggebende Versammlung die Verfassung ohne zusätzlichen Volksentscheid beschließt; beide Wege können auch kombiniert werden. Das Volk entscheidet üblicherweise mit einfacher Mehrheit. Die erforderlichen Mehrheiten in dem ausarbeitenden Gremium oder der Nationalversammlung sind rechtlicher Festlegung zugänglich. Auch Art. 146 GG n.F. faßt wohl diese beiden Möglichkeiten ins Auge. Dennoch ist damit nur der halbe Interpretationsweg zurückgelegt. Art. 146 ist nämlich in ganz anderer Weise als sein Vorgänger in das geltende Grundgesetz eingebunden. Würde Art. 146 die Tür für ein selbständig neben Art. 79 stehendes Verfassungsänderungs- bzw. Verfassunggebungsverfahren öffnen, wäre die Aushebelung des Grundgesetzes mit einfacher Mehrheit möglich. Auf der Grundlage eines mit einfacher Mehrheit gefaßten Bundesgesetzes könnte ein Verfassungsentwurf dem Volk zur Entscheidung vorgelegt oder eine zur Verfassunggebung autorisierte Nationalversammlung einberufen werden. Die einfache parlamentarische Mehrheit, zu schwach, um im normalen Verfahren Verfassungsänderungen durchzusetzen, könnte sich dem zur Aufrechterhaltung des Verfassungskonsenses notwendigen Zweidrittelmehrheitserfordernis entziehen. Diese Selbstauslieferung ist dem Grundgesetz nicht zu unterstellen. Art. 146 kann daher nur so verstanden werden, daß er die Ausarbeitung einer neuen Verfassung an einen mit verfassungsändernder Mehrheit gefaßten

73 Seinen Sinn zu ergründen, bemühen sich Stern (Anm. 14), S. 47 ff.; Josef Isensee, Selbstpreisgabe des Grundgesetzes?, FAZ vom 28.8.1990. S. 10; Hans-Peter Schneider, Die Zukunft des Grundgesetzes, FAZ vom 16.11.1990, S. 14; Richard Bartlsperger, Verfassung und verfassunggebende Gewalt im vereinten Deutschland, DVBl. 1990, S. 1285 ff.; Martin Kriele, Art. 146 GG: Brücke zu einerneuen Verfassung, ZRP 1991, S. 1 ff.; Eckart Klein (Anm. 60), S. 28 ff. - Siehe auch Walter Schmitt Glaeser, Die Stellung der Bundesländer bei einer Vereinigung Deutschlands (1990).

Der Einigungsvertrag

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Beschluß der gesetzgebenden Körperschaften bindet, die damit entweder der Einberufung einer verfassunggebenden Versanunlung zugestimmt oder den dem Volk zur Zustimmung oder Ablehnung unterbreiteten Verfassungsentwurf selbst gebilligt haben. Die Tür zu Art. 146 GG wird also nur durch einen Beschluß der gesetzgebenden Körperschaften geöffnet, der den Anforderungen des Art. 79 Abs. 2 und - weil diese Körperschaften nicht über die Essentialia des Grundgesetzes verfügen dürfen - auch des Art. 79 Abs. 3 GG entspricht.74 Ein - nachdem Art. 146 GG n.F. nun einmal existiert'5 - denkbarer und verfassungsrechtlich zulässiger Weg ist somit, daß die gesetzgebenden Körperschaften für notwendig gehaltene Grundgesetzänderungen beschließen und diese neue Fassung des Grundgesetzes der Billigung des Volkes unterbreiten. Diese zusätzliche und einmalige plebiszitäre Äußerung ist nach Art. 146 GG möglich, der sich darin freilich erschöpft und deshalb in dieser neuen Grundgesetzfassung nicht mehr auftauchen darf. Die Gefahr, daß dem Grundgesetz die Zustimmung versagt bliebe, ist gering. Die Verfassungskrise wäre freilich evident, wenn dies doch das Ergebnis wäre. Formal würde das Grundgesetz dadurch zwar nicht außer Kraft treten, sein politischer Anspruch und Wert erlitten jedoch eine schwere Einbuße. Ob das, was an demokratischer Motivation hinter dem neuen Art. 146 steht, diese Unwägbarkeit aufwiegt, ist sehr zu bezweifeln. Art. 146 n.F. ist kein verfassungsrechtlicher Gewinn gewesen. Auf der anderen Seite kann ich mich nicht der Meinung anschließen, daß Art. 146 GG n.F. eine verfassungswidrige Verfassungsnorm ist, weil der verfassungsändernde Gesetzgeber damit eine mit dem Beitritt der DDR erledigte und daher konstitutionell "illegale" verfassunggebende Gewalt restituiert habe. 76 Ich meine vielmehr, daß mit der erfolgten Anhindung des Art. 146 an Art. 79 GG eine systemgerechte Einordnung möglich und ein insgesamt rechtlich und politisch gangbarer Weg gewiesen ist, der "die Zeitbombe im Verfassungsgehäuse", von der Isensee sprach,77 entschärft.

Wie hier Stern (Anm. 14), S. 49 f. Kriele (Anm. 7 3 ), S. 4 f., plädiert für sofortige Streichung des Art. 146 GG; daflir fehlen aber die erforderlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. '6 So Bartelsperger (Anm. 73), S. 1298 ff. " Isensee (Anm. 73), S. 10. '4

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Peter Hübner VON DER FRIEDLICHEN HERBSTREVOLUTION 1989 BIS ZUR DEUTSCHEN EINHEIT - DAS ERBE L Prämissen Das Jahr 1989, darüber war sich die zeitgenössische Interpretation sehr bald sicher, wird künftig in den deutschen Geschichtsbüchern als ein Schlüsseldatum erscheinen. Dennoch mag es voreilig wirken, aus einer sehr kurzen historischen Distanz nach dem Erbe des dramatischen Geschehens zu fragen, das im Herbst 1989 zum Zusammenbruch der DDR führte und die Weichen in Richtung auf die deutsche Wiedervereinigung stellte. Wenn dieser Versuch trotzdem unter· nommen wird, so geschieht das vor allem im Bemühen um eine geschichtswissenschaftliehe Annäherung an einen Gegenstand, dessen Wirkungsmächtigkeit der Gegenwart und sicher auch der mittelfristigen Zukunft der Deutschen das Gepräge gibt. Die zeitgeschichtliche Forschung hat sich des Themas recht bald angenommen 1 - und dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer öffentlichen Meinung, 1 Vgl. Reinhold Andert/Wolfgang Herzberg: Der Sturz. Erich Honecker im Kreuzverhör, Berlin/Weimar 1990; Karl-Heinz Arnold: Die ersten hundert Tage des Hans Modrow, Berlin 1990; Doris Cornelsen: DDR-Wirtschaft : Ende oder Wende? In : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2/1990, S. 33-38; Die DDR auf dem Wege zur deutschen Einheit. Probleme, Perspektiven, offene Fragen. Dreiundzwanzigste Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, 5. bis 8. Juni 1990, Köln 1990; Gebhard Diemer (Hrsg.): Kurze Chronik der deutschen Frage, München 1990; Gert-Joachim Glaeßner: Vom "realen Sozialismus" zur Selbstbestimmung. Ursachen und Konsequenzen der Systemkrise in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2/1990, S. 3-20; Gernot Gutmann : Produktivität und Wirtschaftsordnung. Die Wirtschaft der DDR im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33/1990, S.17 - 26; Christoph Kleßmann : Opposition und Dissidenz in der Geschichte der DDR, in : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5/1991, S. 52- 62; Hubertus Knabe: Politische Opposition in der DDR. Urpsrünge, Programmatik, Perspektiven, in : Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1- 2/1990, S. 21 - 32; llse Spittmann: Die DDR unter Honecker, Köln 1990; Göttrik Wewer (Hrsg.): DDR. Von der friedlichen Revolution zur deutschen Vereinigung, Opladen 1990; Eberhard und Gunhild Wilms: Die deutsche Frage. Ergänzungsheft : Vom Ende des SED-Staates zur Einheit Deutschlands, Frankfurt a.M. 1990; Alexander Uschakow/Siegfried Mampel (Hrsg.): Die Reformen in Polen und die revolutionären Erneuerungen in der DDR, Berlin 1991; zur Situation der Geschichtswissenschaft in den neuen Bundesländern siehe u.a.: Brüche - Krisen - Wendepunkte. Neubefragung von DDR-Geschichte. Hrsg. von Jochen Cerny, Leipzig/Jena/Berlin 1990; Umstrittene Geschichte. Beiträge zur Vereinigungsde-

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die das "Historische" des Geschehens sehr klar reflektierte. Die Entwicklungsphase zwischen der Herbstrevolution in der DDR und der formellen Besiegelung der deutschen Einheit gehört zu jenen Ausnahmen, die die Gegenwärtigkeit der Geschichte und die Geschichtlichkeit der Gegenwart 2 so deutlich vor Augen flihren, daß auch der sogenannte Mann auf der Straße sich nicht ohne Grund vom vielzitierten Mantel der Geschichte gestreift fühlen kann. Gerade in Zeiten geschichtlichen Umbruchs wächst das Bedürfnis nach Orientierungshilfe, und insofern muß sich auch die professionelle Historiographie gefordert sehen; sie sollte dabei aber der Versuchung widerstehen, selbst zum Medium kontemporärer politischer Auseinandersetzung zu werden.3 Zunächst geht es wohl um eine erste und durch die Quellensituation deutlich begrenzte Bestandsaufnahme des verifizierbar "Faktischen" und um den Versuch geschichtswissenschaftlicher Analyse, Wertung und Darstellung sine ira et studio. Darauf sind die folgenden Überlegungen gerichtet. Die Frage nach dem Erbe eines historischen Prozesses ist im Grunde eine Frage nach seinen in die Zukunft fUhrenden tragfahigen und konstitutiven Komponenten. 4 Und die Herbstrevolution des Jahres 1989 ist in doppelter batte der Historiker, in: Berliner Debatte. Initial. Zeitschrift für Sozialwissenschaftlichen Diskurs, H. 2/1991 (mit Beiträgen von K.H. Jarausch, G.G. lggers, J. Kocka, Chr. Kleßmann, W. Küttler, B. Florath, P. Hübner, J. Peters u.a.); Hermann Weber: "Weiße Flecken" in der DDR-Geschichtsschreibung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11/1990, S. 3- 15. 2 Vgl. Rudolf Vierhaus, Über die Gegenwärtigkeit der Geschichte und die Geschichtlichkeit der Gegenwart, Göttingen 1978. 3 Eine solche Tendenz war seit Ende 1989 wirksam geworden und erflillte in den politischen Auseinandersetzungen um Verantwortlichkeiten, Verstrickungen und Belastungen der bislang etablierten Historikerzunft der DDR durchaus eine Funktion. Gegen Ende des Jahres 1990 wandte sich die Debatte mehr der wissenschaftsinternen Situation zu und stellte auch die Frage nach den substantiellen Voraussetzungen eines geschichtswissenschaftliehen Neuanfangs in den östlichen Bundesländern. Siehe z.B.: Konrad H. Jarausch: Zwischen Parteilichkeit und Professionalismus. Geschichtswissenschaft in der ehemaligen DDR - Bilanz und Perspektiven, in : Informationen der Historischen Kommission zu Berlin, Februar 1991, H. 16, S. 5- 10; Winfried Schulze: "Das traurigste Los aber traf die Geschichtswissenschaft". Die DDR-Geschichtswissenschaft nach der "deutschen Revolution", in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, H.ll/1990, S. 683-696; Gustav Seibt: Ein Kapitel für sich. Die DDR wird zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 14.12.1990, S. 33. 4 In der DDR wurde dieser Zusammenhang recht wirksam ideologisch und politisch instrumentalisiert. Dazu sind die tendenziösen Versuche der literarischen Klassikrezepte in den 1950er Jahren ebenso zu zählen wie die Thematisierung der antinapoleonischen Befreiungskriege und der Nationalbewegung des 19. Jh. im Sinne der nationalen Konzeption der SED. In den 1960er Jahren fanden diese Bemühungen ihre Fortsetzung in der intensiven Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Vgl. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 1-8, Berlin (Ost) 1966. In der Honecker-Ära wurde diese Erberezeption gezielt eingesetzt, um die These vom Entstehen einer sozialistischen deutschen Nation zu flankieren und das Legitimationsbedürfnis des Regimes zu bedienen. Hier kamen wichtige Impulse aus dem Bereich der Literaturgeschichte (vgl. Die SED und das kulturelle Erbe. Orientierungen, Errungenschaften, Probleme, Autorenkollektiv: Horst Haase u.a., Berlin (Ost) 1986, S. 361 ff.), während die Ge-

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Weise auf das historische Erbe hin zu befragen, das sie in das vereinigte Deutschland einbrachte und noch einzubringen hat: Erstens geht es dabei um die Wirkungsgeschichte der Revolution selbst und das, was davon als politische und im weiteren Sinne als geschichtliche Erfahrung der Deutschen in allen Bundesländern weiterwirkt; zweitens geht es um das historische Erbe deutscher Geschichte, das durch die Herbstrevolution aufgenommen und mittransportiert wurde. In Parenthese sei vermerkt: Die Anwendung des Begriffes "Revolution" auf den Herbst 1989 in der DDR ist nicht unumstritten. Eine geschichtswissenschaftliehe Diskusison darüber steht noch in den Anfangen, erweist sich aber schon jetzt als unverzichtbar. 5 Die gegenwärtig anzutreffende Terminologie reicht von "Oktoberrevolution"- dies mit Blick auf Rußland im Jahre 1917über "Wende", "Umbruch", "Kollaps" bis hin zu "Putsch" und "Konterrevolution" und läßt unschwer höchst unterschiedliche politische Interessenlagen und Sichtweisen erkennen. Es ist hier nicht der Platz, geschichtswissenschaftliehe Begriffe zu diskutieren, deshalb möge ein knappes Argument genügen, um die Verwendung des Revolutionsbegriffes in diesem Beitrag zu begründen: Der im zweiten Halbjahr 1989 in der DDR eingetretene Umbruch war kein bloßer politischer Machtwechsel; er bewirkte den Zusammenbruch des "realen Sozialismus" als gesellschaftliches Gesamtsystem und leitete in der Phase des Kollabierens bereits einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozeß ein. Das aber macht die Spezifik aus: 1. Die Protestbewegung brachte das alte politische System in der DDR zum Einsturz, als dieses bereits in Agonie lag. Das Regime hatte zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit mehr, um im Sinne Oswald Spenglers "Takt" 6 zu beweisen, d.h. sich durch rechtzeitige Reformen zu sichern. schichtswissenschaft erst mit einer gewissen Verzögerung folgte : Siehe Horst Barte!: Erbe und Tradition in Geschichtsbild und Geschichtsforschung der DDR, in: Zeitschrift ftir Geschichtswissenschaft (ZfG), H.5/1981, S. 387-394; Gerhard Lozek: Die Traditionsproblematik in der geschichtsideologischen Auseinandersetzung, ebd., S. 395-398; Walter Schmidt: Nationalgeschichte der DDR und das territorialstaatliche historische Erbe, ebd., S. 399-404; Horst Bartel/Walter Schmidt: Historisches Erbe und Tradition. Bilanz, Probleme, Konsequenzen, ebd., H. 9/1982, S. 816-829; Ralf Badstübner: Die Geschichte der DDR unter dem Aspekt von Erbe und Tradition, ebd., H. 4/1985, S. 338- 347. 5 Das gilt ftir die EntwickJung in Osteuropa insgesamt. Als Schlüsselerlebnis dürfte dabei die polnische Krise 1980/1981 zu bewerten sein, die den beginnenden Zerfallsprozeß des sowjetischen Machtbereiches und die einsetzende Agonie des sozialistischen Gcsellschaftssystems auch nach außen hin sichtbar machte. Vgl. Jadwiga Staniszkis: History und Chance: the Dynamics of Breakthrough in Eastern Europe, in: Die DDR auf dem Wege zur deutschen Einheit (Anm. 1), S. 28-38. Zur Anwendung des Revolutionsbegriffs auf die Endphase der DDR-Geschichte siehe die Beiträge von S. Meuschel, E. Neubert und M. Jäger ebenda. • Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1972, S. 1118.

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2. Die Einleitung der Systemtransformation fand in einem Teil eines geteilten Landes statt und traf somit auf eine - auch weltgeschichtlich gesehen außerordentlich günstige Ausnahmesituation. Das Unglück der deutschen Teilung schlug hier in eine einzigartige Lösungsmöglichkeit um, denn die Wiedervereinigung wurde bei allen zutage tretenden Problemen zum Königsweg ftir die Systemtransformation im Osten des heutigen Deutschland. Diese Spezifik beeinflußte insbesondere die Intensität des revolutionären Prozesses, nahm diesem aber nicht seinen Charakter als grundlegende Umgestaltung der politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und Wertestruktur in einem Teile Deutschlands. Und es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß die Entwicklung vom Herbst 1989 in der DDR auch nach den theoretischen Vorgaben der sogenannten Klassiker des Marxismus-Leninismus als Revolution defmiert werden müßte, denn tatsächlich kollidierten die Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen 7 (allerdings nicht nach dem formationstheoretischen Schema) und tatsächlich wollten die "Unterschichten" das Alte nicht mehr, während die "Oberschichten" in der alten Weise nicht mehr konnten. 8 Nach Lenin war damit eine geradezu klassische revolutionäre Situation entstanden. Selbstverständlich ersetzt dieses verkürzt vorgetragene Argument nicht den weiterzufUhrenden wissenschaftlichen Diskurs. Hier geht es lediglich um den Versuch, die Verwendung des Revolutionsbegriffs knapp zu begründen. Zu Recht reflektierte das öffentliche Bewußtsein der Deutschen zunächst einmal das unmittelbare Revolutionsgeschehen: die Fluchtwelle, die dramatischen Botschaftsbesetzungen, das Zerreißen des Eisernen Vorhangs in Ungarn, die großen Demonstrationen in den Städten der DDR, die Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989. Dennoch war auch ein Umstand gegenwärtig, der den historischen Platz der deutschen Herbstrevolution ke!Ulzeichnete und sie in ihrer unbestreitbaren Einzigartigkeit wohl auch relativierte : Das Geschehen in der DDR war Teil eines geschichtlichen Umbruchs in Ost-, Ostmittelund Südosteuropa, der gegenwärtig noch nicht abgeschlossen ist, aus dem die besondere Situation Deutschlands aber singulär herausragt. 9 Der spezifische historische Platz der deutschen Herbstrevolution im Kontext des osteuropäischen Umbruchs lenkt den Blick notwendigerweise auf dessen 7 Vgl. Kar! Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort, in: Marx/ Engels: Werke, Bd. 13, Berlin (Ost) 1971, S. 9. 8 Vgl. W. I. Lenin: Der "Linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Werke, Bd. 31, Berlin (Ost) 1959, S. 71. 9 Diese Singularität erwuchs vor allem aus der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Und diskutabel scheint deshalb E. Noltes Frage, ob die folgende Entwicklung nicht auch ein Sonderweg gewesen sei, nachdem das nationalsozialistische Regime bereits einen solchen eingeschlagen habe. Vgl. Ernst Nolte: Die unvollständige Revolution. Die Rehabilitierung des Bürgertums und der defensive Nationalismus. Intellektuelle Konsequenzen des letzten Jahres, in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 24.1.1991, S. 27.

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Genesis. Und unter diesem Aspekt wird sehr schnell klar, daß es sich auch bei der Herbstrevolution in Deutschland nicht um ein ad-hoc-Geschehen handelte, nicht um eine bloße Explosion von Unzufriedenheit und auch nicht - wie eine im Umfeld der Volkskammerwahlen vom März 1990 lancierte These zu behaupten suchte - um einen Run auf die D-Mark und die Fleischtöpfe Westdeutschlands. 10 In der DDR vollzog sich im wesentlichen nichts anderes als im Osten Europas: der Niedergang und Zerfall des sowjetischen Machtbereiches und des den Völkern in mehreren Wellen 1917, 1921, 1940 und nach 1945 oktroyierten kommunistischen Gesellschaftsmodells. In diesem Niedergang eines scheinbar monolithischen und bisher immer durch die sowjetische Supermacht zusammengehaltenen Blocksystems formierten sich zwei alternative politische Strömungen, die nach Auswegen suchten. Eine dieser Strömungen darf wohl als reformsozialistisch bezeichnet werden, 11 die andere sah den Weg durch die nachweislich funktionierende, mehr oder minder sozial definierte Marktwirtschaft und die parlamentarische Demokratie des Westens vorgezeichnetY Sucht man nach den Wurzeln der demokratischen Revolutionen und Reformversuche im bisherigen RGW-Bereich, so treten die ersten 1960er Jahre ins Blickfeld. Bereits als sich Ende der 1950er Jahre das Scheitern jener von Chruschtschow inspirierten ehrgeizigen Pläne abzeichnete, die westlichen Industriestaaten bis 1965 in Produktion, Produktivität und Konsumtion zu überholen, kam in den europäischen RGW-Ländern eine Debatte um Wirtschaftsreformen in Gang, die das schwerfällige Planwirtschaftssystem effizienter machen sollten. 13 Ein wesentlicher Ausgangspunkt hierfür waren die von Chruschtschow abgesegneten Thesen des sowjetischen Ökonomen Iiberman. 14 1 ° Kritik dieser Art wurde vor allem in den Reihen linker Intellektueller laut, so etwa H. Kallabis über das Ergebnis der Volkskammerwahlen vom 18.3.1990: "Gesiegt haben wohl mehr die CDU und CSU, also das Kapital, das Geld. Die Leute wollen schnell und ohne Umwege die D-Mark, sie wollen die vollen Schaufenster, und die versprechen sie sich von der CDU, von der Bundesregierung, von Kohl. D-Mark über alles!". Heinz Kallabis: Ade, DDR! Tagebuchblätter 7. Oktober 1989 bis 8. Mai 1990, Berlin 1990, S. 183. 11 Die Hoffnungen dieser Strömung verbanden sich in jüngerer Zeit wesentlich mit der Perestroika-Politik M. Gorbatschows in der UdSSR. Entsprechende Tendenzen verstärkten sich auch in der DDR, so daß sich die SED-Führung zu Zugeständnissen gezwungen sah. Ein Hinweis darauf war 1987 die Veröffentlichung von Gorbatschows Buch "Umgestaltung und neues Denken für unser Land und flir die ganze Welt" in der DDR. 12 Die stärksten und frühesten Tendenzen in diese Richtung waren in Polen und Ungarn zu verzeichnen. 13 Siehe Bruno Gleitze: Die Industrie der Sowjetzone unter dem gescheiterten Siebenjahrplan, Berlin 1974; Jörg Roesler: Wirtschaftsreformen und Wirtschaftswachstum in den europäischen Mitgliedsländern des RGW, in : Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas, Bd. 30, Berlin (Ost) 1986, S. 9-42; vgl. auch: G.-J. Krol: Die Wirtschaftsreform in der DDR und ihre Ursachen, Tübingen 1972 sowie Peter Mitzscherling: System und Entwicklung der DDR-Wirtschaft, Berlin 1974. 14 Vgl. E.G. Liberman: Plan, Gewinn, Prämie. Einige Gedanken zur Verbesserung der

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In der DDR bewirkte der übermansche Ansatz, der auf eine begrenzte Selbstregulierung der Wirtschaft zielte, nach dem Bau der Berliner Mauer eine erstaunliche Entwicklung: Im Auftrage Ulbrichts und mit dessen Unterstützung wurde hier bis zum Herbst 1962 ein Reformkonzept erarbeitet, das im Januar 1963 als "Neues ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NöS) 15 auf dem VI. Parteitag der SED offizielle Parteilinie wurde. Dieses Konzept setzte mehr noch als das übermans unter dem Einfluß kybernetischer Modelle auf Selbstregulierung einer nach Rahmenplänen arbeitenden Wirtschaft. Die Reformer hatten eingestandenermaßen eine erhöhte Wettbewerbsfähigkeit der sozialistischen Planwirtschaft im Blick und orientierten sich dabei durchaus begründet an den wirtschaftlichen Leistungsdaten westlicher Industrieländer. Aus ihrer Sicht sollte die Wirtschaftsreform zur politischen Systemstabilisierung beitragen. In diesem Reformkonzept gab es jedoch eine entscheidende Bruchstelle: Sobald der Mechanismus binnenwirtschaftlicher Selbstregulierung mit weltwirtschaftlichen Marktbedingungen konfrontiert wurde, mußte das sogenannte NöS Potentiale freisetzen, die die Planwirtschaft der DDR ebenfalls zur Marktwirtschaft transformieren konnten. 16 Das aber lag nicht im Sinne des Systemerhalts. Und ein zweites Moment kam hinzu: Quasi-automatische Selbstregulierung wesentlicher Teile der Wirtschaft war gleichbedeutend mit einer Minderung des politischen Einflusses der SED. Mit einem bemerkenswerten Instinkt für Gefährdungen ihrer politischen Macht begannen orthodox-konservative Kräfte gegenzusteuern. Im Oktober 1964 stürzte Chruschtschow in der UdSSR. Im Dezember 1965 setzte sich in der SED eine Gruppierung um Honecker an die Spitze der Reformgegner und erreichte nicht nur ein Abbremsen des "NöS", sondern auch die Wiederherstellung ihrer politischen Kontrolle bis hinein in ökonomische Detailentscheidungen.17 Reformansätze in der Tschechoslowakei, wie sie insbesondere Ota Sik Leitung und materiellen Interessiertheit in sozialistischen Industriebetrieben, in : Die Wirtschaft, Berlin (Ost) vom 26.9.1962; ders.: Antworten auf Einwände zu dem Artikel "Plan, Gewinn, Prämie", in: Die Wirtschaft, Berlin (Ost) vom 21.11.1962, Beilage, S. 8 ff. 15 Die entsprechenden Teile aus dem Referat W. Ulbrichts auf dem VI. SED-Parteitag (15.-21.1.1963) in: Walter Ulbricht: Zum neuen ökonomischen System der Planung und Leitung, Berlin (Ost) 1967, S. 102-122; vgl. auch: Richtlinie für das neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, Berlin (Ost) 1965. 16 Zu den Vordenkern in diese Richtung gehörten in Polen Oskar Lange und in der Tschechoslowakei Ota Sik. 17 Im Dezember 1965 entwickelte Ulbricht auf der 11. Tagung des SED-Zentralkomitees eine bemerkenswerte Dialektik: Zum einen konstatierte er, daß die Wirtschaftsreform Risiken berge, doch sei ein Stehenbleiben "bei den alten, überholten Methoden der Leitung der Wirtschaft weit mehr als ein Risiko" (Ulbricht: Zum neuen ökonomischen System, S. 669), zum anderen konnte auf der gleichen Tagung - und offenbar mit Zustimmung Ulbrichts - E. Honecker zum verstärkten Kampf gegen eine "Entideologisierung" und "Liberalisierung" des Sozialismus aufrufen. Vgl. Erich Honecker: Bericht des Politbüros an die 11. Tagung des ZK der SED, Berlin (Ost) 1966. Die Tendenz zu einer Rückgewinnung

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umzusetzen suchte, gingen mit dem "Prager Frühling" im August 1968 unter. Damit war im RGW-Bereich vergleichbaren Bemühungen der Weg verlegt, wenn man bis zu einem gewissen Grade von Ungarn absieht. Mit dem Sturz Ulbrichts am 3. Mai 1971 setzte in der DDR endgültig eine Entwicklung ein, die mit einer beachtenswerten Geradlinigkeit und Konse· quenz zur Agonie des politischen und wirtschaftlichen Systems der DDR flihrte. 18 Es ist dies kein nachträglich installiertes historiographisches Konstrukt: Selbst die außerordentlich problematische Wirtschaftsstatistik der DDR enthielt Jahr für Jahr hinreichend deutliche Hinweise auf einen sich anbahnen· den wirtschaftlichen und sozialen Kollaps. 19 Daß sich parallel dazu die poli· tische Krise verschärfte, ist ebenfalls anhand vieler Belege, von denen der Hin· weis auf die anschwellende Fluchtwelle aus der DDR nur einer ist, zu zeigen. 20 Diese Erscheinungen waren den Regierenden nicht unbekannt, wurden sie doch, wie sich inzwischen gezeigt hat, durch das Ministerium für Staatssicherheit und auf anderen Kanälen über die reale Lage informiert. Und es kann auch nicht davon die Rede sein, daß die SED-Führung die Dinge tatenlos hätte ge· schehen lassen: Sie versuchte durch Zeitgewinn zu erreichen, daß die Abgrenzungspolitik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland mit einer gewissen Flexibilisierung haltbarer gemacht werden sollte und daß sie jetzt gegenüber der "staatlichen Direktive" verstärkte sich in der Folgezeit zunehmend, und 1968 sprach der für Wirtschaftsfragen zuständige ZK-Sekretär, G. Mittag, das Verdikt aus: "Wer die notwendige ständige Qualifizierung der staatlichen Direktive mit ihrer Abschaffung verwechselt, landet unweigerlich beim Konzept der sogenannten sozialistischen Marktwirtschaft." ("Neues Deutschland" vom 27.10.1968). 18 Die offene politische Dernontage Ulbrichts begann mit dem 14. Plenum des SEDZentralkomitees im Dezember 1970 und ließ bereits erkennen, daß der Hinweis auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR und die Furcht vor sozialen Unruhen zur Begründung des Führungs- und Kurswechsels gezielt genutzt wurden. Vgl. Gerhard Naurnann/ Eckhard Trümpler: Von Ulbricht zu Honecker. 1970 - ein Krisenjahr der DDR, Berlin 1990, s. 35-48. 19 So war es den amtlichen Statistischen Jahrbüchern der DDR mühelos zu entnehmen, daß der Wohnungsneubau seit 1982 rückläufig wurde, daß die Subventionen von Lebensmitteln und Mieten in volkswirtschaftlich nicht mehr zu verantwortender Weise anstiegen, Investitions- und Außenhandelsprobleme waren ebenso ablesbar, wie man aus der Bevölkerungsbilanz Jahr flir Jahr die Zahl derjenigen errechnen konnte, die der DDR den Rücken kehrten. Ungeschönte Zahlen standen den Nutzer aus DDR-Quellen aber erst 1990 zur Verfligung. Siehe Sozialreport 1990. Hrsg. vom Institut flir Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1990. 20 Bis Anfang 1989 war es der politischen Führung in der DDR noch gelungen, den Strom der Ausreisewilligen durch die unterschiedlichsten Restriktionen so zu kanalisieren, daß er der magischen Grenze von 100000 in den Jahren 1982/1983 und 1987/1988 zwar bedenklich nahekam, diese Zahl aber noch nicht überschritt. Bis April 1989 blieb die Fluchtbewegung aus der DDR auf einem fast konstanten Niveau, um ab Mai zunächst zögernd, dann ab August explosionsartig anzusteigen. Der Höhepunkt wurde im November nach der Grenzöffnung erreicht. Insgesamt siedelten 1989 rund 343 800 Menschen aus der DDR nach Westdeutschland über, in ihrer Mehrzahl zwischen 20 und 40 Jahre alt. Vgl. Sozialreport 1990 (Anm. 19), S. 43.

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den Refonnkräften in Osteuropa auf Distanz ging. Ein deutliches Signal hatte Honecker selbst am 29. Dezember 1988 gesetzt, als er in einer Rede zum 70. Gründungstag der KPD erklärte: "Wir gestalten die entwickelte sozialistische Gesellschaft hier in diesem Land, nicht im luftleeren Raum und auch nicht unter Verhältnissen , wie sie anderswo, aber nicht bei uns bestehen. Wir gestalten sie in den Farben der DDR." 21

Allerdings zeigte der zunelunend gereizte Ton, in dem die SED ihre Vorbehalte gegenüber der Perestroika Gorbatschows und auch gegenüber der Entwicklung in Polen und Ungarn artikulierte, daß man sich in der Parteispitze der eigenen Position und der eigenen Argumente nicht gar so sicher war. Klar war aber offenbar wohl: Die sich abzeichnende Selbstisolierung des Regimes gegenüber seinen wesentlichen Bündnispartnern mußte die Systemkrise zusätzlich verschärfen. Von daher läßt sich der im Juni 1989 unternommene Versuch nachvollziehen, der kommunistischen Führung in Peking, die in der Nacht zum 4. Juni auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" die Demokratiebewegung der Studenten niederwalzen ließ, mit dem Hinweis beizuspringen, bei der "Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit" sei es um eine "innere Angelegenheit der Volksrepublik China" gegangen. 22 Das muß zwar nicht als initiative ftir eine "Achse" Berlin-Peking überinterpretiert werden, dennoch ließen diese Bemühungen erkennen, daß die DDR-Spitze um Rückendeckung durch die fernöstliche Großmacht buhlte. Und man hoffte weiter auf ein Erstarken der Perestroika-Gegner in der UdSSR. Obwohlletztendlich gescheitert, entbehrte dieses Konzept nicht einer bestimmten Logik. Es ist nach der Herbstrevolution 1989 immer wieder Erstaunen darüber geäußert worden, wie schnell und widerstandslos das SED-Regime in sich zusammenbrach; erstaunlich war es allerdings auch, wie lange es hielt. Und hier ist ein Blick auf einige Rahmenbedingungen für die Entwicklung der DDR nötig. Bis zum Herbst 1989 galt die DDR trotz offenkundig zutage tretender Gebrechen als das relativ stabilste und leistungsfaltigste RGW-l.and. 23 Die SED-Führung hatte sich selbst in diese Vorstellung hineingesteigert, so daß Honecker noch am 6. Oktober 1989 in einer Festveranstaltung zum 40. Jahrestag der DDR behauptete, die DDR sei "ein Grundpfeiler der Stabilität und der Sicher-

"Neues Deutschland" , Ausgabe A, vom 30.12.1988, S. 3- 4. Vgl. Diemer (Anm. 1), S. 115. 23 Zu dieser Problematik siehe Jens Hacker: Vom Stalinismus zum nationalen Selbst· vertrauen? Defizite der vergleichenden Deutschlandforschung: Stimmte das westliche Bild von der DDR nicht? In: "Die Welt" vom 17.3.1990, S. 17 ; Eckard Jesse: Wie man eine Chimäre zum Leben erweckt. Hat die DDR-Forschung versagt? - Kritische Bestandsaufnahme einer allzu vorsichtigen Wissenschaft, in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 21

22

24.8.1990,

s. 35.

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heit in Europa". 24 Neben dieser These nutzte die SED zwei weitere Legitimationshilfen, die ihr über manche Schwierigkeiten hinweghalfen: Antifaschismus und soziale Sicherheit. Wenngleich diese Theoreme sich bei genauerem Hinterfragen als brüchig erwiesen, erfüllten sie dennoch systemstabilisierende Funktionen. Es war kein Zufall, wenn Honecker in seiner letzten größeren Rede prononciert auf diese Schwerpunkte einging: Mit diesen Themen waren auch zu diesem Zeitpunkt noch konsensfähige Elemente in die sich immer deutlicher abzeichnenden offenen politischen Auseinandersetzungen in der DDR einzubringen; zumindest sollte wohl eine stärkere Motivierung des eigenen, immer ratloser werdenden Parteivolkes erreicht werden. Zu den Stabilisierungsfaktoren zählte weiterhin jene in vier Jahrzehnten erreichte "Durchorganisation" der DDR-Gesellschaft in Parteien, Einheitsgewerkschaft und SED-orientierten Organisationen, die wiederum zur Voraussetzung des nahezu perfekten Überwachungsstaates wurde. 25 Alle diese wie hausgemacht wirkenden Bedingungen hatten einen wesentlichen Ursprung in der existentiellen Bindung der DDR an die östliche Führungsmacht. Wenn schon nicht eine Lockerung dieser Bindungen, so mußte doch deren Lösung das Schicksal der DDR besiegeln: Daß die Sicherung der Existenz des "sozialistischen" deutschen Staates in Berlin und Moskau ein immer präsentes Thema war, konnte durch die historische und politikwissenschaftliche Forschung hinreichend deutlich gemacht werden. 26 Das sowjetische "Neues Deutschland", Ausgabe A, vom 9.10.1989, S. 3-4. Die SED gab auf ihrem Parteitag 1986 eine Mitgliederzahl von 2199 741 zuzüglich 104 380 Kandidaten an. Vgl. Protokoll des XI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin (Ost) 1986, S. 271. Die Mitgliederzahlen der LDPD, der NDPD, der DBD und der CDU dürften sich in den 1980er Jahren jeweils um die 100 000 bewegt haben. Vgl. DDR-Handbuch Bd. 2, 3., überarbeitete und erweiterte Aufl., Köln 1985 , S. 966. Der FDGB nannte 1988 rund 9,6 Millionen Mitglieder, der DFD 1,5 Millionen, die Volkssolidarität 2,145 Millionen, die Kammer der Technik 292 824, der Kulturbund 277 327, die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe 645 788, der Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter 1487 238, die URANIA- Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse 416 906, die Kinder·("Pionier-")Organisation 1490 935, die Gesellschaft flir Deutsch-Sowjetische Freundschaft 6,4 Millionen (Statistisches Jahrbuch der DDR 1989, Berlin (Ost) 1989, S. 410- 414) und die FDJ 2,3 Millionen (Protokoll des XI. Parteitages der SED, S. 230). 26 Siehe u.a. Rolf Badstübner: Friedenssicherung und deutsche Frage. Vom Untergang des "Reiches" bis zur deutschen Zweistaatlichkeit (1943-1949), Berlin 1990; V. N. Belezki: Die Politik der Sowjetunion in den deutschen Angelegenheiten in der Nachkriegszeit 1945-1976, Berlin (Ost) 1977; Walrab v. Buttlar: Ziele und Zielkonflikte in der sowjetischen Deutschlandpolitik 1945-1947, Stuttgart 1980; Dasgeteilte Deutschland in seinen internationalen Verflechtungen. Hrsg. von Oswald Hauser, Göttingen/Zürich 1987; Alexander Fischer (Hrsg.): Wiederbewaffnung in Deutschland nach 1945, Berlin 1986 ; Andrej Gromyko: Erinnerungen, Düsseldorf/Wien/New York 1989; Andreas Hillgruber: Europa in der Weltpolitik der Nachkriegszeit 1945-1963, 3. neubearb. Aufl., München 1987; Hannelore Horn/Siegfried Mampel (Hrsg.): Die deutsche Frage aus der heutigen Sicht des Auslandes, 24 25

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Interesse an der strategischen Position in Mitteleuropa und am Produktionspotential der DDR erweist sich letzten Endes als der entscheidende äußere Stabilisierungsfaktor, der für die SED-Führung kaikullerbar war, und sie hat wiederholt diese Konstellation auch in ihrem Sinne zu nutzen verstanden. 27 Das Bündnis mit der UdSSR war für die politische Führung der DDR eine Art Versicherung, deren Wirksamkeit aber direkt an den Zustand und die Interessenlage der Führungsmacht gebunden blieb. Und die sich seit den 1970er Jahren in der UdSSR mehrenden Krisensymptome des Systems wurden in der DDR sensibel registriert, ohne daß indes tragf:ihige Alternativkonzepte ausgearbeitet werden konnten, die dem zweiten deutschen Staat eine eigenständige Entwicklung gesichert hätte. Je mehr sich im RGW-Bereich die Krise des "Realsozialismus" vertiefte, desto intensiver versuchte die SED-Führung unter Honecker, die DDR als das moderne Sozialismusmodell zu offerieren.28 Dieser Vorgang war schon um die Mitte der 1970er Jahre zu bemerken. Geriet er in der Ära Breschnew mitunter in die Nähe arroganter Besserwisserei, so steigerte sich die SED-Führung seit Gorbatschows Machtantritt und der Einleitung der Perestroika in der UdSSR in ihrer Kritik an den Vorgängen in den sogenannten Bruderstaaten. Der Ruf nach einem "Sozialismus in den Farben der DDR" fungierte vor diesem Hintergrund als Plazet für die Artikulation ideologischer und politischer Vorbehalte in einer bisher nicht gekannten Offenheit. In der Grundtendenz deutete sich diese Richtung schon zu Beginn des Jahres 1988 an, als drei Ausgaben der sowjetischen Zeitschrift "Neue Zeit", die u.a. in deutscher Sprache erschien, wegen der auszugsweisen Veröffentlichung von Michall Schatrows Theaterstück "Weiter, weiter, weiter!" und der darin enthaltenen Kritik am stalinistischen System nicht ausgeliefert wurden. Am 19. November 1988 folgte das Verbot des UdSSR-Digests "Sputnik" wegen einiger Beiträge, die sich kritisch zur Rolle der KPD in der Endphase der Weimarer Republik und zum Hitler-Stalin-Pakt äußerten. Die Veröffentlichung eines umfangreichen Berlin 1987; Wilfried Loth: Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 19411955, München 1980; Ernst Nolte: Deutschland und der Kalte Krieg, 2. neubearb. Aufl., Stuttgart 1985. 27 Das gilt zumindest partiell für wirtschaftspolitische Entscheidungen der Ulbricht· Ära. Hier finden sich Belege dafür, daß wirtschaftliche Planziele von vornherein höher ver· anschlagt wurden, als es die internen Möglichkeiten der DDR zuließen. Die Wirtschaftspla· ner kalkulierten sowjetische Stützungen mit ein. Eine eingehende geschichtswissenschaft· liehe Untersuchung dieser Vorgänge steht noch aus. 28 In der auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 beschlossenen "Hauptaufgabe", Wirt· schaftswachsturn und Sozialentwicklung in ein stabiles und sich selbst stimulierendes Wechselverhältnis zu bringen, glaubte man ein wirksames Konzept gefunden zu haben, um den Systemwettbewerb mit den Marktwirtschaftsländern bestehen zu können. Vgl. Proto· koll des VIII. Parteitages der SED, Bd. 2, Berlin (Ost) 1971, S. 316-415 ; Protokoll des IX. Parteitages der SED, Bd. 1, Berlin ()st) 1976, S. 52-64; Protokoll des X. Parteitages der SED, Bd.1, Berlin (Ost) 1981, S. 65-74.

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Artikels "Zur Geschichte der Komintern" im "Neuen Deutschland" vom 6. Mai 1989, der sich aus orthodoxer Sicht mit der Revision des stalinistischen Geschichtsbildes in der UdSSR auseinandersetzte, wurde zu Recht als Angriff gegen die Politik der Perestroika gewertet. 29 Dem folgte die bereits erwähnte Stellungnahme zur Niederschlagung der Demokratiebewegung in China. 30 Und am 13. Juni 1989 sprach die Volksbildungsministerin der DDR, Margot Honecker, auf dem IX. Pädagogischen Kongreß in Berlin mit Blick auf die osteuropäischen Staaten deutlich aus, daß dort Konterrevolutionäre am Werk seien. Die Jugend der DDR müsse den Sozialismus erforderlichenfalls ,,mit der Waffe in der Hand" verteidigenY Hatte der flir Ideologiefragen zuständige Sekretär des SED-Zentralkomitees, Kurt Hager, im April1987 mit seiner Äußerung, die DDR werde den Moskauer "Tapetenwechsel" 32 nicht mitvollziehen, eher noch Spott und Heiterkeit ausgelöst, so deutete sich im Sommer 1989 an, daß die Hardliner in der SED-Führung auch eine von ihnen soeben verteidigte "chinesische Lösung" nicht ausschlossen. Im Interesse ihrer politischen Macht waren sie sogar bereit, dabei den offenen Bruch mit Gorbatschow zu riskieren. Aber es waren nicht die politischen Verwerfungen, die sich ausweitenden Brüche im Verhältnis zwischen DDR und UdSSR, die zur Agonie des "realen Sozialismus" in Deutschland führten; diese Erscheinungen resultierten selbst aus dem Zerfall des östlichen Blocksystems, der seinerseits nur ein Ausdruck der allgemeinen Krise des Systems war. 33 Im Unterschied zu anderen RGW-Staaten konnten die internen Krisensymptome in der DDR allerdings relativ lange verdeckt werden. Dazu trugen die Realität eines im Vergleich zu den RGW-Partnern recht hohen Lebensstandards ebenso bei wie die vordergründigen Wirkungen einer aus der volkswirtschaftlichen Substanz zehrenden Sozialpolitik. Und hinzu kam, daß die in der DDR veröffentlichten statistischen Angaben über die Lage der Gesellschaft und der Wirtschaft die Realitäten oftmals verschleierten oder auch verHUschten. 34 Die29 Hanna Wolf/Wolfgang Schneider : Zur Geschichte der Komintern, in: "Neues Deutschland" vom 6./7.5.1989, S. 9-10. 30 Vgl. hierzu auch den Tenor in der Berichterstattung der DDR-Presse , die nur den Standpunkt der chinesischen KP-Führung wiedergab. 31 Zit. nach Spittmann: Die DDR unter Honecker (Anm. 1), S. 153. 32 "Würden Sie, ... , wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" So Kurt Hager am 9.4.1987 in einem "Stern"-Interview. In der DDR veröffentlicht in: "Neues Deutschland", Ausgabe A, vom 10.4.1987, S. 3. 33 Die Wirtschaftsdaten der RGW-Länder verwiesen auf unterschiedliche, aber dominante Tendenzen einer Wachstumsabschwächung. Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR 1989 (Anm. 25), AnhangS. 4-6. 34 Über den Umgang mit Daten der Sozial- und Wirtschaftsstatistik berichtet der Hrsg. des " Sozialreports 1990", Gunnar Winkler, daß in der DDR durchaus realistische

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sem Mechanismus war eine gewisse Funktionstüchtigkeit nicht abzusprechen, zumal er in Teilen der Bevölkerung auf eine ideologische Prädisposition traf. Andererseits aber griff spätestens seit den ausgehenden 1970er Jahren eine Malaise um sich, die täglich durch die angespannter werdenden Lebensverhältnisse und die immer deutlicher werdende Diskrepanz zwischen der Erfolgsberichterstattung der DDR-Medien und den ernüchternden Alltagserfahrungen der Menschen Nahrung erhielt. Vor allem in diesem Kontext setzte seit Mitte der 1980er Jahre der rapide Autoritätsverlust des Regimes ein, der allen Versuchen den Boden entzog, systemstabilisierende Reformen auf den Weg zu bringen. Was nun die sowjetische Haltung in dieser Frage angeht, so verbietet sich angesichts der gegenwärtigen Quellenlage jeder Versuch einer auf die Gesamtproblematik gerichteten geschichtswissenschaftliehen Aussage. Dennoch sind einige Indizien festzuhalten, die darauf hindeuten, daß in sowjetischen Führungskreisen die deutsche Frage angesichts der sich in der DDR zusehends verschärfenden Krise neu diskutiert wurde. öffentliche Äußerungen zum Thema der Berliner Mauer und zur deutschen Wiedervereinigung sprachen dafür und verursachten in der SED-Führung einige Irritationen. 35 Bei diesen Meinungsäußerungen handelt es sich bei weitem noch nicht um ein Freifahrtsignal f\ir die Vereinigung der Deutschen nach vierzig Jahren Trennung, es zeichnete sich aber trotz manch nachfolgender gegensätzlicher Positionsbestimmung die beginnende Beseitigung des äußeren Stabilisierungsrahmens der DDR ab. Wurde der Gorbatschow-Besuch in Bonn 1989 in dieser Hinsicht vielleicht überbewertet, so wurde dessen Besuch in Ostberlin im Oktober des gleichen Jahres möglicherweise als Garantieangebot f\ir die DDR fehlinterpretiert. 36 Analysen vorgelegt wurden. "Vor allem in den Berichten 1988 und 1989 wurde auf zunehmende Widersprüche in der sozialen Entwicklung verwiesen. Hoher Vertraulichkeitsgrad und eine Begrenzung der angefertigten Stückzahl auf höchstens 10 Exemplare/Jahr, die der damaligen Partei- und Staatsführung übergeben wurden, begrenzten die erforderliche Öffentlichkeit." Vgl. Sozialreport 1990 (Anm. 19), S. 11; zu den Modalitäten der Statistik in der DDR siehe den Bericht über Untersuchungsergebnisse des Statistischen Bundesamtes: "DDR-Statistik weitgehend realistisch", in "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 13.4.1991, S. 17. 35 Den Anstoß daflir gab ein Interview des sowjetischen Historikers W. Daschitschew in: Der Spiegel, Nr. 27, 4.6.1988), der die Berliner Mauer als Relikt des Kalten Krieges in Frage stellte. Auch das Auftreten des deutschlandpolitischen Experten im Zentralkomitee der KPdSU, N. Portugalow, im Sonntagsgespräch des ZDF vom 26.6.1988 ließ Ansätze ftir eine Flexibilisierung der sowjetischen Position in der deutschen Frage erkennen. Vgl. Spittmann: Die DDR unter Honecker (Anm. 1), S. 143. 36 Honecker bekräftigte eine solche Bewertung in seiner Rede vom 6. Oktober 1989 noch dadurch, daß er die Bedeutung der Blockbindung ftir die DDR unterstrich: "Gerade zu einer Zeit, da einflußreiche Kräfte der BRD die Chance wittern, die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung durch einen Coup zu beseitigen, bleibt ihnen nur erneut die Erfahrung, daß sich die DDR an der Westgrenze der sozialistischen

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Gleichwie: Der Zerfall des äußeren Stabilisierungsrahmens für die DDR gründete nicht auf einer politischen Entscheidung oder gar auf einer gegen Honecker gerichteten Verschwörung; er war das zwangsläufige Ergebnis der im sowjetischen Machtbereich eingetretenen Systemagonie. Und es gehört zu den historischen Glücksfällen, daß die innenpolitische Konstellation der UdSSR bislang den Versuch verhindert hat, die demokratischen Revolutionen in Osteuropa und auch im Ostteil des heutigen Deutschlands im Stile der BreschnewDoktrin mit Militärgewalt zu unterdrücken. 37 Das aber war die entscheidende Voraussetzung flir den friedlichen Verlauf der Herbstrevolution in der DDR. Ein wesentlicher Aspekt ihres Erbes liegt in der Verknüpfung mit der osteuropäischen Entwicklung. Für die Gestaltung der deutschen Einheit wird und muß das ein zentraler Bezugspunkt bleiben, denn die Entwicklung im Osten des Kontinents war ftir die Geschichte der Deutschen in der neueren und neuesten Zeit immer ein wesentliches Movens. IL Verlauf

Verfolgt man Genesis und Phasenstruktur der Herbstrevolution, so sind drei Stufen deutlich zu unterscheinden: Die erste Stufe oder Phase läßt sich auf einen Zeitraum vom Mai bis zum 9. Oktober 1989 datieren. Eine relativ schmale Menschen- und Bürgerrechtsbewegung weitete sich zur nicht mehr zu marginalisierenden politischen Kraft, büßte dabei aber nicht die moralische Stärke ihrer ursprünglichen Positionen ein. Als eine der größten oppositionellen Gruppierungen beantragte das "Neue Forum" am 19. September beim DDR-Innenminister die offizielle Zulassung - und erfulu nach einigem Zögern der Behörde ilue Abstempelung als "staatsfeindlich" .38 In der gleichen Zeit formierten sich weitere oppositionelle Gruppierungen, so "Demokratie jetzt", und füluten am 25. September ein erstes Treffen in Leipzig durch. Das "Neue Forum" trat dabei in die Rolle einer Sammlungsbewegung oder auch einer Dachorganisation, die bestrebt war, die meist auf lokaler Ebene handelnden Oppositionsgruppen zu koordinieren. 39 Dieser 25. September stellte insofern auch im Verhalten der Staatsmacht eine Zäsur dar, als sich erstmals durch Polizei und Kräfte des Ministeriums flir Staatssicherheit unbehelligt nach dem Friedensgebet in der Leipziger NikolaiLänder in Europa als Wellenbrecher gegen Neonazismus und Chauvinismus bewährt. An der festen Verankerung der DDR im Warschauer Pakt ist nicht zu rütteln." ("Neues Deutschland", Ausgabe A, vom 9.10.1989, S. 3). 37 Siehe dazu den Bericht über ein Interview E. Schewardnadses für die Moskauer Zeitschrift " Literatumaja gaseta" in: Der Spiegel, Nr. 16, 15.4.1991 , S. 41. 38 Diemer (Anm. 1), S. 121. 39 Ebd.

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kirehe ein Demonstrationszug von etwa 5 000 Menschen unter Rufen wie "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" und "Neues Forum" zum Hauptbahnhof der Messestadt bewegte. 40 Dieser Vorgang ist zu hinterfragen: Was veranlaßte die Repressivorgane zum Stillhalten? Der Grund hierfür wird kaum in einem Sinneswandel gegenüber der Bürgerrechtsbewegung gelegen haben; sie hatte zwar einen Umfang angenommen, der die Methode der schlichten Kriminalisierung nicht mehr zuließ, aber sie befand sich nach wie vor in einer Minderheitenposition, die gewalttätiger Repression fast schutzlos ausgeliefert blieb. Und diese Option blieb ja, wie sich wenig später zeigen sollte, auch offen. Der Grund des Stillhaltens dürfte auf anderer Ebene zu suchen sein: Seit Mai 1989 schwoll die Flucht von Deutschen aus der DDR in den westlichen Teil Deutschlands via Budapest und Prag rapide an. 41 Die am 10. September erfolgende Erlaubnis der ungarischen Behörden zur Ausreise von DDR-Bürgern über Österreich in die Bundesrepublik brachte alle Versuche der DDR-Führung zum Scheitern, dem Flüchtlingsstrom Einhalt zu gebieten. Damit trat die Existenzkrise der DDR in ein akutes Stadium. 42 Der Zusammenhang zwischen Flucht und Protest war evident, aber es blieb ein Zusammenhang verschiedener Wirkungsfaktoren, die im Verlaufe der Herbstrevolution durchaus auseinanderzuhalten waren. Im Zusammenhang mit der Massenflucht zeigte sich ein bemerkenswertes Phänomen: Einerseits gingen Menschen nach dem Westen, die durch diesen Schritt das oppositionelle Potential in der DDR schwächten, andererseits war es gerade der Flüchtlingsstrom, der den oppositionellen Kräften aus den Reihen der bislang schweigenden Mehrheit neue Mitstreiter gewann. 40 Es handelt sich hier durchaus noch nicht um die endgültige Wende zu einem friedlichen Verlauf der Herbstrevolution. Bereits am 2. Oktober und danach traten Polizei und Kräfte des Ministeriums für Staatssicherheit in Leipzig wieder mit großer Härte gegen die Demonstranten auf. Zu den Vorgängen am 25.9.1989 in Leipzig vgl. Neues Forum Leipzig (Hrsg.): Jetzt oder nie- Demokratie. Leipziger Herbst '89, München 1990, S. 31 ff. 41 Ein deutlicher Anstieg der Flüchtlingszahlen setzte mit dem Beginn der Sommerferien Anfang Juli 1989 ein. Bis zum 25.9.1989 sammelten sich in den westdeutschen Botschaften in Prag und Warschau rund 900 bzw. 400 Ausreisewi!lige. DDR-Vertreter waren vergeblich bemüht, die Menschen zur Rückkehr zu bewegen. Vgl. Diemer (Anm. 1), S. 119. 42 Bis Ende September gelangten etwa 25 000 Menschen aus der DDR über Ungarn in die Bundesrepublik. Am Ende des Monats mußte die SED-Führung der Ausreise der Prager und Warschauer Botschaftsflüchtlinge zustimmen. Um der Form zu genügen, wurden die Sonderzüge über das Territorium der DDR geleitet, wo den Flüchtlingen Ausreisevisa erteilt wurden. In Dresden kam es bei der Durchfahrt der Züge zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Vgl. G. Rein: Die Opposition in der DDR. Entwürfe flir einen anderen Sozialismus, Berlin 1989, S. 188. Ausflihrlicher dazu Volker Ronge: Loyalty, Voice or Exit? Die Fluchtbewegung als Anstoß und Problem der Erneuerung in der DDR, in: Wewer (Anm. 1), S. 29-46.

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hn Umfeld der Feierlichkeiten zum DDR-Jubiläum kam es am 7. und 8. Oktober in mehreren Großstädten der DDR zu großen Demonstrationen flir die Herstellung demokratischer Freiheiten und ftir einen reformorientierten gesamtgesellschaftlichen Dialog. Der brutale Einsatz der Sicherheitskräfte insbesondere in Berlin HUnte jedoch nicht zur Unterdrückung der Demokratiebewegung, sondern beförderte deren neue Phase. 43 Als am 9. Oktober 1989 über 70000 Menschen in Leipzig ftir demokratische Erneuerung demonstrierten, mußte die SED-Füluung auf den ursprünglich vorgesehenen Einsatz bewaffneter Kräfte verzichten. 44 Sie sah sich einerseits einer massiven Volksbewegung gegenüber und war sich andererseits der eigenen Anhängerschaft nicht mehr sicher. Allerdings hoffte sie auf Zeitgewinn. Abseits der gespenstisch wirkenden Jubelfeiern zum 40. Jahrestag der DDR wurde in Schwante bei Potsdam die Sozialdemokratische Partei der DDR gegründet. Parallel dazu wandelte sich die schon lange schwelende Krise innerhalb der SED zur Paralyse: Ein erheblicher Teil der Parteibasis hoffte auf Gorbatschows Reformen und verfiel angesichts der eigenen Parteiführung in Ratlosigkeit und Resignation. Die Zahl der Parteiaustritte nahm rapide zu, während sich innerparteilich erhebliche Spannungspotentiale aufbauten, die den bevorstehenden Zerfall ankündigten. 45 43 Inwieweit die Umbruchsituation erkannt, in ihrem Wesen aber mißdeutet wurde, mögen folgende Zitate belegen: Der Systemkritiker und Befürworter systemimmanenter Reformen, Heinz Kallabis, notierte am 9.10.1989 in seinem Tagebuch: "Die Straßendemonstrationen sind ein untrügliches Zeichen flir den anstehenden Wandel. Das, was in Berlin, Leipzig und Dresden vor sich geht, deutet an, daß die breiten Massen in Bewegung geraten. Noch ist es Protest, noch kein konkretes Programm. Aber die Situation ist krisenhart und verlangt ihre Lösung. Wir müssen jetzt der weiteren Bewegung ein Programm geben. Unsere Überlegungen müssen in die Öffentlichkeit. Wir müssen die Partei zwingen, selbst den Wandel einzuleiten." Vgl. Kallabis (Anm. 10), S. 9. Am 18.10.1989 erklärte Egon Krenz als neugewählter Generalsekretär des SED-Zentralkomitees: "Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wiedererlangen . . . Unsere marxistischleninistische Partei ist ein großer erfahrener Kampfhund. Sie hat immer an der Spitze der sozialistischen Revolution in unserem Lande gestanden und alle gesellschaftlichen Umwälzungen gefülut. So wird es auch diesmal sein." ("Neues Deutschland" (8) vom 19.10.1989, s. 1). Und Jürgen Kuczynski schrieb: "Endlich haben auch die Führung (sie!) in Partei und Staat eingesehen, daß es bei uns einer ,konservativen Revolution', einer Revolution zur Stärkung und Festigung und Höherentwicklung des Sozialismus bedarf." ("Neues Deutschland" (B)vom 8.11.1989, S. 4). 44 Ein Aufruf zur Gewaltlosigkeit wurde vom Chef des Leipziger Gewandhauses, K. Masur, angeregt. Mitunterzeichner waren zwei Theologen, ein Kabarettist und drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung. An die Öffentlichkeit gelangte der Aufruf am 9.10.1989, indem er in Kirchen verlesen und durch den Stadtfunk übertragen wurde. Siehe Wilms (Anm. 1), S. 21; vgl. auch Rein (Anm. 42), S. 180; Andert/Herzberg (Anm. 1), S. 94- 99. 45 Mitte 1989 wurde die Mitgliederzahl der SED mit 2,3 Millionen angegeben. Für die SED/PDS lagen die Angaben im Januar 1990 bei 1,4 Millionen und Mitte Februar bei

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Die ursprünglich aus dem engen Kreis der Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche hervorgehenden Montagsdemonstrationen wurden im Oktober 1989 zum Inbegriff des Revolutionsgeschehens. In Leipzig weiteten sich die völlig gewaltfrei verlaufenden Züge um das Areal der Innenstadt zu Massenkundgebungen: Für den 16. Oktober geben die Quellen ca. 120000 Demonstranten an und ftir den 23. Oktober etwa 300000.46 Dieses Leipziger Beispiel wurde in vielen Städten der DDR, darunter auch in kleineren Orten, aufgegriffen. Eine Welle von Kundgebungen und Demonstrationen überflutete insbesondere die Bezirks- und Kreisstädte. Forderungen nach demokratischen und wirtschaftlichen Reformen, freien Wahlen und Reisefreiheit bestimmten die politische Zielrichtung, die sich somit im weiten Sinne als konsensfähig erwies. Darin lagen aber zugleich Stärke und Problematik der Protestbewegung, deren einzelne Strömungen gegen Ende Oktober 1989 immer deutlicher hervortraten. Das auslösende Moment war eindeutig von den Menschen- und Bürgerrechtsgruppen ausgegangen, die wesentlich ethische, moralische und basisdemokratische Optionen verfolgten. Davon hoben sich mehr und mehr solche Strömungen ab, die prinzipiell systemkritisch argumentierten und auf demokratischparlamentarische und marktwirtschaftliche Alternativen setzten, die aber den damit konsequenterweise verbundenen Vollzug der deutschen Einheit durchaus noch nicht in greifbarer Nähe sahen. Eine weitere Strömung, die vor allem politisch linksstehende Kräfte sammelte, war vor allem auf Gorbatschows Perestroika fixiert und trat für systemimmanente Reformen ein, damit auch Teile der SED-Mitgliedschaft erfassend. Die größte Demonstration, die die DDR im Herbst 1989 erlebte, nämlich die Berliner Kundgebung vom 4. November, ließ das Vorhandensein dieser Strömungen einigermaßen deutlich erkennen. 47 Noch wurden diese durch die gemeinsame Stoßrichtung gegen die alten Machthaber in der SED-Führung zusammengehalten, aber es zeichnete sich schon zu diesem Zeitpunkt ab, daß der politische Wandlungsprozeß in der DDR vor einer Wegscheide stand.

700 000. Vgl. Thomas Ammer: Von der SED zur PDS - was bleibt?, in: Die DDR auf dem Weg zur deutschen Einheit (Anm. 1 ), S. 103. 46 Göttrik Wewer: Aufrechter Gang und neue Ängste - Zur deutsch-deutschen Lage und zu diesem Heft, in: Wewer (Anm. 1), S. 10. 47 Die Rednerliste dieser Kundgebung spiegelte die Dominanz intellektueller Kreise in der Oppositions- und Reformbewegung wider. Eine sozialistische Option wurde von ihnen nicht in Frage gestellt. Die Schriftstellerin Christa Wolf sagte in ihrer Ansprache auf dem Berliner Alexanderplatz: "SteH dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg." ("Neu es Deutschland" (B) vom 6.11.1989, S. 4) Der entscheidende Kontrast lag nicht zwischen den Argumenten der einzelnen Redner, sondern zwischen der Kundgebung und der Tatsache, daß nach der Aufhebung der Visumpflicht für CSSR-Reisen am 1.11.1989 der Massenexodus über die CSSR und Ungarn erneut anschwoll. Vom 1. bis 7.11.1989 verließen rund 37 000 Menschen auf diesem Wege die DDR. Vgl. Spittmann (Anm. 1), S. 159.

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In der Führung der SED, der anderen "Blockparteien", des FDGB müssen sich in dieser Phase dramatische Szenen abgespielt haben, wenn man den - mit großer Vorischt zu genießenden - Erinnerungen Beteiligter in diesem Punkt glauben darf. 48 Doch auch hier deutete sich ein Konsens an: Man war bemüht, Zeit zu gewinnen und die politische Kontrolle über das Geschehen zurückzuerlangen. Der gesamte Repressionsapparat der DDR stand solchen Bemühungen nach wie vor zur Verfügung. Der Anstoß zur Ablösung Honeckers am 18. Oktober 1989 kam aus dem inneren Kreis der Führung. Dahinter stand hauptsächlich die Absicht des Machterhalts mit Hilfe eines einigermaßen flexiblen Krisenmanagements.49 Die Ablösung Honeckers durch Krenz zeichnete sich spätestens nach der Sitzung der SED-Führung vom 11. Oktober und der Reise des Politbüromitgliedes Kurt Hager am 12. Oktober nach Moskau ab. Offenkundig mehrten sich in der SED-Spitze selbst Forderungen nach einer politischen und personellen Wende, und Hager mußte in Moskau die Erfaluung machen, daß die östliche Führungsmacht Kompromißwege aus der Krise in der DDR bevorzugen würde. 5° Unaufhaltsam wuchs in diesen Tagen die Unzufriedenheit in allen Bevölkerungsschichten der DDR weiter an, besonders in den sich ausweitenden Montagsdemonstrationen und in der anschwellenden Fluchtwelle sichtbar werdend. Als sich am 18. Oktober 1989 mit dem Rücktritt Honeckers vom Amte des Generalsekretärs des SED-Zentralkornitees der Wechsel an der Spitze vollzog, in der noch immer die Fäden der Macht zusammenliefen, versuchte Egon Krenz, der schon in den Jahren zuvor als "Kronprinz" gehandelt worden war, einen an der sowjetischen Perestroika orientierten Reformkurs in der DDR einzuschlagen und kündigte "eine Wende in der Politik der SED" anY Diese Wende erwies sich als ein schon in den Anfängen scheiternder Versuch des durch Kompromisse und Reformen flankierten Systemerhalts. Der Begriff der Wende selbst fand - gemessen an den Intentionen, die sich mit ihm ursprünglich verbanden, in einer etwas schiefen Interpretation - Eingang in die politische Alltagssprache der Deutschen. Immerhin zeigte jener 18. Oktober, dem mit der Ablösung Honeckers durch Krenz als Staatsratsvorsitzender und als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates am 24. Oktober die völlige Entmachtung des ehemals ersten ManSiehe u.a. Der Spiegel, Nr. 41, 8.10.1990, S. 102-109. Der Antrag auf die Ablösung Honeckers wurde auf der Beratung des SED-Politbüros am 17.10.1989 von W. Stoph eingebracht. Näheres dazu in: Andert/Herzberg (Anm. 1), s. 25-37. so Der sowjetische Regierungssprecher Gerassimow erklärte: "Wir sehen keinen anderen Weg, als daß sich die miteinander streitenden Seiten an einen Tisch setzen." Zit. in : Diemer (Anm. 1), S. 125. st Siehe die Rede. E. Krenz' auf der 9. Tagung des SED-Zentialkomitees vom 18.10. 1989, in: "Neues Deutschland" vom 19.10.1989, S. 1-2. 48 49

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nes der SED und der DDR folgte, daß die Staatspartei und das durch sie etablierte politische System schwer angeschlagen war. Während Gorbatschow aus Moskau noch Befriedigung mit der Wahl von Krenz erkennen ließ, 52 mutmaßten die Demonstranten auf den Straßen der DDR eher ein Täuschungsmanöver und brachten ihr Mißtrauen deutlich zum Ausdruck. Hatten sich in der ersten Phase der Herbstrevolution die oppositionellen Strömungen formiert und de facto Meinungs- und Demonstrationsfreiheit ertrotzt, so trat das Geschehen jetzt in eine Phase, in der es um die Beseitigung des politischen Herrschaftsmonopols der SED und um die Entmachtung ihres Repressivapparates ging. Auch über diese Zielsetzung stellte sich in der Oppositionsbewegung sehr rasch Konsens ein, der allerdings immer noch in einem DDR-Rahmen gedacht wurde. Auch die sich verstärkende Forderung nach freien Wahlen lief dem nicht entgegen. 53 Welche Einmütigkeit und gleichzeitig große Differenziertheit die Protestbewegung vieler Bürger in diesen Tagen prägte, wurde während der schon erwähnten Berliner Kundgebung am 4. November 1989 deutlich. Noch galt die DDR als Bezugs- und Handlungsebene, ohne die deutsche Frage deutlich anzusprechen. Das sensible Thema der innerdeutschen Grenze wurde ausgespart: Die Veranstalter hatten sich mit den Sicherheitsorganen auf eine "Sicherheitspartnerschaft" geeinigt, die die Zusage einschloß, das Vorfeld der Mauer am Brandenburger Tor zu meiden. Hier zeigte sich im weiten Spektrum der oppositionellen Strömungen eine wesentliche Differenz: Während die einen für DDR-interne Demokratisierung demonstrierten, nahmen viele Tausende andere die Gelegenheit wahr, um nach Westdeutschland zu fliehen. Seit Mitte Oktober waren die Übersiedlungszahlen stark angestiegen. Registrierten die westdeutschen Behörden im September rund 33 000 Übersiedler, so stieg deren Zahl im Oktober auf 57 000, und in den ersten Novembertagen bis zur denkwürdigen Öffnung der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenzübergänge in den Abendstunden des 9. November 1989 folgten weitere 40 000, darunter auch 5 000 Menschen, die in die Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland geflohen waren. 54 Die Haltung Ungarns und der Tschechoslowakei in der Frage der DDRFlüchtlinge brachte die neue SED-Führung unter Krenz in akuten Zugzwang. Das Wort vom Ausbluten der DDR drohte Realität zu werden, zumal unter den Flüchtenden extrem viele junge Menschen waren. Diese Flüchtlinge gaben durch ihren nicht selten lebensgefährlichen Schritt zu erkennen, daß sie eine Zukunft in der DDR nicht sahen und der DDR keine Zukunft gaben. 55 Das war der Vgl. Gorbatschows Glückwunsch an Krenz, ebd., S. 1. Vgl. die Berichterstattung in der DDR-Presse vom 6.11.1989. 54 Siehe Anm. 42. 55 Die Mehrheit der Übersiedler bestand aus Ledigen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren sowie Verheirateten zwischen 25 und 35 Lebensjahren. Siehe Soziaueport 1990 (Anm. 19), S. 43 . 52

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Hintergrund ftir eine bemerkenswerte Neuakzentuierung von Demonstrationen in der DDR: Hier wurde die Devise laut "Wir bleiben hier", womit nicht mehr gesagt war, als daß eine DDR-interne demokratische Krisenregulierung bevorzugt wurde. Die tödliche Bedrohung ftir das Regime ging jedoch von der Massenflucht der Bürger aus. Diesen Druck wollte die SED-Führung durch eine liberalisierung der Reiseregelungen mindern. Die Bekanntgabe eines entsprechenden Textentwurfes am Abend des 9. November und die Begleitumstände dieses Vorgangs verdeutlichten die beginnende Auflösung der bisherigen Macht- und Leitungsstrukturen. Die Begegnung der Deutschen durch offene Grenzübergänge hindurch - der Versuch, den innerdeutschen Reiseverkehr durch die Ausgabe von Visa neu zu kanalisieren, erwies sich als kurzlebige Farce - und die freudige Stinunung, von der eine große Mehrheit des Volkes in dieser Situation erfaßt war, machten mit einem Schlage alle Spekulationen über das Entstehen einer "sozialistischen deutschen Nation" zunichte;56 die Einheit der Nation hatte vierzig Jahre Spaltung überdauert. Damit war jedoch noch nichts über die DDR als Staatswesen entschieden. Aber angesichts des einem Chaos entgegentaumelnden östlichen deutschen Teilstaates lag es gerade nach der Maueröffnung nahe, darüber nachzudenken, ob die DDR unter veränderten inneren Voraussetzungen und neuen äußeren Rahmenbedingungen als Staat fortbestehen könne. So unverkennbar der 9. November 1989 als Zäsur der deutschen Geschichte in Erscheinung tritt, so relativ ist diese Zäsur auch. Denn auch danach wurden die Versuche fortgesetzt, um eine DDR-interne Lösung zu erreichen. Nach dem Rücktritt des bisherigen Ministerpräsidenten Willi Stoph und des gesamten Ministerrates am 7. November bildete der SED-Politiker Hans Modrow ein sogenanntes Koalitionskabinett, in dem alle Blockparteien bei nach wie vor bestehender Dominanz der SED vertreten waren. 57 56 Vgl. Hermann Axen: Die Entwicklung der sozialistischen Nation in der DDR, Berlin (Ost) 1973; Alfred Kosing: Nation in Geschichte und Gegenwart, Berlin (Ost) 1976 ; Kurt Hager: Die Geschichte und das Verständnis unserer Zeit, in: Einheit, H. 7/1989, S. 595610, hier besonders S. 599-602. 57 Dem Kabinett gehörten an: Hans Modrow (Vorsitzender des Ministerrates, SED); Christa Luft (Wirtschaft, SED); Peter Moreth (örtliche Staatsorgane, LDPD), Lothar de Maiziere (Kirchenfragen, CDU); Gerhard Schürer (Staatliche Plankommission, SED); Kurt Singhuber (Schwerindustrie, SED); Karl Grünheid (Maschinenbau, SED); Gunter Halm (Leichtindustrie, NDPD); Klaus Wolf (Post- und Fernmeldewesen, CDU); Heinrich Scholz (Verkehrswesen, SED); Manfred Flegel (Handel und Versorgung, NDPD); Gerhard Baumgärte! (Bauwesen und Wohnungswirtschaft, CDU); Hans Watzek (Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, DBD); Hans Reichelt (Umweltschutz und Wasserwirtschaft, DBD); Peter-Klaus Budig (Wissenschaft und Technik, LDPD); Uta Nickel (Finanzen und Preise, SED); Hannelore Mensch (Arbeit und Löhne, SED); Gerhard Beil (Außenwirtschaft, SED); Oskar Fischer (Auswärtige Angelegenheiten, SED); Theodor Hoffmann (Verteidigung, SED); Hans-Joachim Heusinger (Justiz, LDPD); Hans-Heinz Ernans (Bildung und Jugend, SED); Dietmar Keller (Kultur, SED); Lothar Ahrend (Inneres, SED); Klaus Thielmann (Gesundheits- und Sozialwesen, SED); Bruno Benthin (Tourismus, LDPD), Wolfgang

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Ohne hier näher auf die parlamentarischen Aktivitäten der Volkskammer eingehen zu können, sei festgehalten, daß die Wahl Modrows (SED) zum Ministerpräsidenten und Günther Maleudas (DBD) zum Volkskammerpräsidenten am 13. November 1989 ein ernstgemeinter und ernstzunehmender Versuch war, Zeit zu gewinnen und denjenigen Kräften in den etablierten Parteien und in den Bürgerbewegungen, die entweder der Vision eines "demokratischen Sozialismus" oder der eines nicht näher definierten "dritten Weges" anhingen, politischen Spielraum zu verschaffen und die außerparlamentarische Protestbewegung durch ein Dialogangebot aufzufangen. Dieses Konzept kulminierte in dem am 17. November von Modrow in seiner Regierungserklärung skizzierten Vorschlag einer deutsch-deutschen Vertragsgemeinschaft: "Das Leben verweist uns auf ein sozialistisches Wirtschaftssystem, in dem Planung und Markt so verbunden sind, daß in allen Gliedern unserer Volkswirtschaft ohne zentralisierte Planbürokratie . . . produziert werden kann Wir sind dafür, die Verantwortungsgemeinschaft beider deutscher Staaten durch eine Vertragsgemeinschaft zu untersetzen, die weit über den Grundlagenvertrag . .. hinausgeht. " 58 Politische Argumente für eine nichtsozialistische Alternative waren auch zu diesem Zeitpunkt noch eine Randerscheinung. Allerdings mehrten sich in der LDPD, deren Vorsitzender Manfred Gerlach bereits am 20. September in einer couragierten Erklärung gefordert hatte, notwendige Veränderungen nicht zu blockieren, in CDU, DBD und NDPD Diskussionen, die die Reformfahigkeit des politischen und wirtschaftlichen Systems mehr oder minder deutlich in Frage stellten. In diesen Parteien vollzog sich zwischen Oktober und Dezember 1989 ein tiefgreifender Wandel in der politischen Programmatik weg von der Rolle der SED-"Verbündeten" zu Fürsprechern demokratischer Alternativen, die sich allmählich immer deutlicher im Sinne eines politischen Pluralismus und der sozialen Marktwirtschaft artikulierten. 59 Das brachte ihnen aus Teilen der Bürgerbewegung zwar den Vorwurf der "Wendehalsigkeit" ein, sie hatten jedoch den Vorteil, auf ein funktionierendes Beispiel ihrer Option verweisen zu können: die Bundesrepublik Deutschland. Und sie verfügten in den sich abzeichnenden politischen Auseinandersetzungen über die Zukunft der DDR über eine hinreichend leistungsfahige Organisationsstruktur. Schwanitz (Amt für Nationale Sicherheit, SED); Wolfgang Meyer (Regierungssprecher, SED), nähere Angaben in: "Neues Deutschland" (B) vom 20.11.1989, S. 4. 58 "Neues Deutschland" vom 18./19.11.1989, S. 3-5. 59 Ab November 1989 begannen alle wichtigen Parteien und Gruppierungen in der DDR, ihre wirtschaftspolitische Programmatik auf mehr oder minder deutlich markt· wirtschaftlich ausgerichtete Zielpunkte hin zu formulieren. Was die sozialen und ökolo· gischen Inhalte anging, blieben die Differenzierungen zunächst noch unscharf. Deutlichere Unterschiede bestanden in den Auffassungen zu den Eigentumsformen, dem Maß an öf· fentlicher Kontrolle und über die Beibehaltung oder Beseitigung planwirtschaftlicher Elemente.

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Die politischen Differenzierungsprozesse in der zweiten Phase der Herbstrevolution wurden durch einen Vorgang überlagert, der das Ende des wirksamsten Repressivorgans mit sich brachte, über das die SED seit 1950 verfügte- das Ministerium ftir Staatssicherheit (MfS). Ungeachtet, daß dessen Chef, Erich Mielke, während seines letzten fatalen Auftritts in der Volkskammer erklärt hatte, daß er doch alle liebe,60 wandte sich der Zorn der Demonstranten in dem Maße, in dem die Furcht vor einer "chinesischen" Lösung wich, gegen die ebenso bekannten wie berüchtigten Dienststellen des MfS. Bürgerkomitees besetzten einen Teil dieser Gebäude und verlangten Aufklärung über die Tätigkeit dieser Dienststellen. Die Modrow-Regierung reagierte am 18. November zwar umgehend mit der formellen Auflösung des MfS, ersetzte es aber gleichzeitig durch ein "Amt ftir Nationale Sicherheit", das jedoch sehr bald unter massivem öffentlichen Druck und unter Kontrolle durch die Bürgerbewegungen wieder aufgelöst werden mußte. Der Vorgang der MfS-Auflösung vollzog sich jedoch in einer Situation aufgestauter politischer Emotionen; zugleich aber waren in der DDR die Voraussetzungen einer rechtsstaatliehen und parlamentarisch-demokratischen Kontrolle nicht gegeben. Da die Volkskammer auch nach Modrows Regierungsantritt in ihrer alten Zusammensetzung tagte und ihre demokratische Legitimation insofern höchst fragwürdig war, zudem auch die oppositionellen Gruppierungen kein parlamentarisches Mitspracherecht hatten, schlug das Politbüro der SED am 22. November 1989 vor, nach polnischem Vorbild einen "Runden Tisch" zu bilden, an dem fast alle Volkskammerfraktionen, die neuen außerparlamentarischen Parteien und Gruppierungen sowie Vertreter der sorbischen Minderheit teilnehmen konnten. 61 Diese Instanz wurde im Wechsel von je einem Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche moderiert. Das Gremium äußerte sich zu wesentlichen politischen Fragen, befaßte sich aber in besonderer Ausführlichkeit mit der Vorbereitung von Wahlen und mit einem Verfassungsentwurf.

60 Siehe dazu u.a. Armin Mitteri Stefan Wolle (Hrsg.): Ich liebe Euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS, Berlin 1990. 61 In seiner endgültigen Zusammensetzung umfaßte der "Runde Tisch" je drei Vertreter der CDU, der DBD, der LDPD, der NDPD und des "Neuen Forum" sowie je zwei Vertreter der SED-PDS, des "Demokratischen Aufbruch", des Unabhängigen Frauenverbandes, von "Demokratie jetzt", der SPD, der Grünen Liga, der Grünen Partei, der "Vereinigten Linken", der "Initiative Frieden und Menschenrechte" , des FDGB und einer Bauerninitiative. Vgl. Wilms (Anm. 1}, S. 25. Die erste Beratung des "Runden Tisches" fand am 7.12.1989 im Berliner Dietrich-Bonhoeffer-Haus statt. In einer einstimmig angenommenen Erklärung hieß es: "Die Teilnehmer des Runden Tisches treffen sich aus tiefer Sorge um unser in eine Krise geratenes Land, seine Eigenständigkeit und seine dauerhafte Entwicklung." ("Berliner Zeitung", 8.12. 1989) Damit war eine Position beschrieben, die dem politischen Meinungsbildungsprozeß in der Bevölkerung der DDR nicht adäquat war.

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Der "Runde Tisch", der zwischen dem 7. Dezember 1989 und dem 13. März 1990 in Berlin tagte, erfüllte durchaus eine stabilisierende Funktion im gesellschaftlichen Umbruch, den die Deutschen in der DDR herbeigeführt hatten. Ähnliche Foren etablierten sich vielfach in Städten und Gemeinden. So unbestritten ihr Beitrag gewesen ist, um einen friedlichen Verlauf der Revolution zu ermöglichen, so problematisch erwiesen sich bald die basisdemokratischen Ansprüche, die mit dieser Institution verbunden waren. Das galt zwar nicht generell für alle beteiligten Seiten, doch besonders aus den Bürgerbewegungen kamen entsprechende Tendenzen, die auf mittlere Sicht das Entstehen einer parlamentarischen Demokratie eher behindern mußten. Noch im November und Anfang Dezember 1989 setzte sich der rapide Machtverfall und Vertrauensverlust der SED fort. Ohne Gegenstimme und bei nur fünf Enthaltungen strich die Volkskammer am 1. Dezember den Führungsanspruch der SED aus der DDR-Verfassung. 62 Zwei Tage später traten das Zentralkomitee und das Politbüro der SED zurück; unter dem Vorwurf des Amtsmißbrauchs erfolgten erste Festnahmen in den oberen Rängen der Parteihierarchie. Am 6. Dezember folgte Krenz' Rücktritt als Staatsratsvorsitzender. In diesen Tagen zerfiel auch der "Demokratische Block", nachdem sich CDU, LDPD und DBD aus der Zusammenarbeit mit der SED zurückzogen. Gleichzeitig wurde vereinbart, daß die Betriebskampfgruppen ihre Waffen abgeben mußten. Innerhalb der SED versuchten reformorientierte Kräfte zu retten, was zu retten war. Bereits Mitte November war ein Sonderparteitag ins Auge gefaßt worden, der am 8./9. und am 16./17. Dezember in Berlin stattfand und auf dem sich die SED dafür entschuldigte, daß ihre bisherige Führung "unser Land in diese existenzgefährdende Krise geführt hat". 63 Neuer Parteivorsitzender wurde Gregor Gysi. Die Partei bezeichnete sich jetzt auf der Grundlage eines neuen Statuts als "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands - Partei des demokratischen Sozialismus". Stimmen, die eine Auflösung der SED und die Neugründung einer sozialistischen Partei forderten, konnten sich nicht durchsetzen. Mit dem Zerfall der SED, die bislang in der DDR auch den Anspruch erhoben hatte, den Sozialismus par excellence zu verkörpern, und die damit andere Strömungen der politischen linken im eigenen Machtbereich gar nicht erst aufkommen ließ, setzte eine starke und z. T. konträre Differenzierung von Strömungen und Gruppierungen ein, die sich in dieser oder jener Form zu einer sozialistischen oder auch kommunistischen Zielrichtung bekannten. Dieser Prozeß erfaßte auch die SED-PDS selbst, in der sich mehrere "Plattformen" Vgl. Diemer (Anm. 1), S. 131 f. Bericht zur Diskussion auf dem ersten Beratungstag des außerordentlichen Parteitages, in: "Neues Deutschland" vom 11.12.1989, S. 3. 62

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bildeten, traf aber auch die neugegründete SPD in der DDR insofern, als er zumindest einen Teil der potentiellen sozialdemokratischen Klientel in verschiedene Richtungen aufsplitterte. Bereits in der zweiten Phase der Herbstrevolution begann im linken politischen Spektrum eine mit larmoyanten Tönen durchmischte Theoriedebatte über das Scheitern des "Realsozialismus". Dieser bis in die Gegenwart andauernde Vorgang war nicht zuletzt dadurch bemerkenswert, daß die Diskussion der linken keine Gesellschafts- und vor allem Wirtschaftskonzepte hervorbrachte, die als reale Alternative zur sozialen Marktwirtschaft hätten gedeihen können. 64 Allerdings: Die Konkursmasse der SED war in dieser Phase noch so wirksam, daß Versatzstücke ihres politischen Theoriegebäudes immer wieder auftauchten. Dabei handelte es sich wesentlich um das Problem der Wirtschaftsplanung, um die traditionellen Vorstellungen einer sozialen Sicherheit für alle im Sinne eines leistungsunabhängigen Anspruchs und um das Festhalten an einer durch deutsch-deutsche Vertragsgemeinschaft oder auch Konföderation allenfalls relativierten Eigenstaatlichkeit der DDR. Von hier aus begründete sich eine politische Argumentationslinie, die zwar das Scheitern des "Realsozialismus" konstatierte, dennoch aber an staatssozialistischen Vorstellungen festhielt und insofern auch auf ein Weiterbestehen der DDR angewiesen blieb. Hinzu kam ein eher sentimental bestimmter DDR-Bezug. Seit dem 9. November 1989 wurde jedoch deutlich, daß in großen Teilen der Bevölkerung der Wunsch nach einer Systemtransformation nicht schlechthin dominierte, sondern sich auf das in der Bundesrepublik existierende Modell fixierte. Allerdings blieben die Auffassungen über die Wege einer Systemtransformation noch weitgehend unklar und erhielten erst gewisse Konturen durch das am 28. November von Bundeskanzler Helmut Kohl vorgestellte ZehnPunkte-Programm, das eine wirtschaftliche Hilfe für die DDR vorsah, Möglichkeiten einer Zusammenarbeit aufzeigte und dabei an den Vorschlag einer Vertragsgemeinschaft anknüpfte sowie im Falle eines Systemwandels in der DDR das Ziel der deutschen Wiedervereinigung anvisierte. 65 Daß die Frage nach einer Systemtransformation in der DDR engstens mit dem Problem der Einheit verbunden war, trat Ende November zunehmend ins öffentliche Bewußtsein. Ein kräftiger Impuls kam mit einer gewissen Konsequenz aus Kreisen, die zwar durchaus in kritischer Distanz zum alten SEDRegime gestanden hatten, die aber doch einer sozialistischen Opposition anhingen. An ihre Spitze setzte sich der 76jährige Schriftsteller Stefan Heym. 64 Das zeigte sich u.a. in breitangelegten Leserdiskussionen der Zeitungen "Neues Deutschland" und ,,Junge Welt", die seit Oktober 1989 in Permanenz geführt wurden. 65 Rede des Bundeskanzlers Helmut Kohl vor dem Deutschen Bundestag am 28.11. 1989. Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Einheit Deutschlands und Europas. In : Diemer (Anm. 1), S. 210-216.

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Noch am Tage der Bundestagssitzung vom 28. November erging in Ostberlin der Aufruf "Für unser Land", in dem ftir die Eigenständigkeit der DDR als "eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik" plädiert wurde. 66 Klarer als zuvor wurde jetzt, daß das Bemühen, die DDR als Staat zu halten, mit dem Versuch verbunden war, das Experiment eines "demokratischen Sozialismus", durchwirkt mit weiteren links-alternativen Politikangeboten, zu wagen. Die relativ bescheidene Resonanz, die der Aufruf "Für unser Land" fand, war ftir die Entwicklung des politischen Meinungsspektrums in der DDR symptomatisch. Eine wachsende Mehrheit in der Bevölkerung lehnte aus einer im Alltag verfestigten Negativerfahrung heraus jedes weitere sozialistische Experimentieren ab. Damit zeichnete sich aber auch ab, daß das Konzept der Modrow-Regierung nicht griff. Ende November/Anfang Dezember 1989 erreichte die politische Entwicklung in der DDR eine Wegscheide, an der das Schicksal der Herbstrevolution zur Disposition stand. Dieser Umstand fand in der aufgeheizten politischen Athmosphäre zunächst wenig Beachtung, zumal alte wie neue Parteien und Gruppierungen in erheblichem Maße mit sich selbst befaßt waren oder auf andere Themen wie etwa die Auflösung des MfS fixiert blieben. In die Montagsdemonstrationen und andere Kundgebungen drang jedoch in diesen Tagen ein neuer Ton: Aus dem Ruf "Wir sind das Volk!" wurde "Wir sind ein Volk!", und gemeint war die Wiedervereinigung der Deutschen.67 Am 27. November skandierten Leipziger Demonstranten jene Zeile aus der seit Beginn der 1970er Jahre nicht mehr gesungenen DDR-Hymne, in der von "Deutschland einig Vaterland" die Rede war; erste schwarz-rot-goldene Fahnen ohne das 1959 eingeführte DDR-Emblem tauchten auf, und direkter wurden die Forderungen nach der Verwirklichung der deutschen Einheit. 68 Dahinter stand ohne Zweifel ein nationales Selbstbewußtsein, das auch durch die Abgrenzungspolitik Boneckers nie aus seiner gesamtdeutschen Dimension gelöst wer-

66 "Neues Deutschland" vom 29.11.1989, S. 2. Stefan Heym verlas den Aufruf im Internationalen Pressezentrum Ostberlins. 67 Beide Devisen hatten ihre konkreten Anlässe: Die erste entstand in einer Situation, als die Demonstranten der aufmarschierten "Volkspolizei" gegenüber darauf aufmerksam machten, wer denn eigentlich in dieser Konfrontation das Volk sei. Die zweite kam auf, als das Zehn-Punkte-Programm des Bundeskanzlers und der Aufruf "Für unser Land" die Entscheidung für oder gegen die Wiedervereinigung der Deutschen als akutes politisches Problem aufwarfen. 68 Kallabis schreibt am 30.11.1989: "Viele Menschen glauben nicht an eine baldige Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes, sie wollen nicht noch Jahre mühsam die Lasten abtragen, die uns das alte Regime hinterlassen hat. Das Resultat: Die kapitalistische BRD wird als die anzustrebende Alternative angesehen, entweder auf dem Wege der Übersiedlung oder als Forderung der Wiedervereinigung. Davon versprechen sich viele die bestmögliche Lösung der Probleme. Ihnen stehen jene gegenüber, die die DDR als mögliche sozialistische Alternative erhalten wollen. Zwischen diesen Kräften wird es zwangsläufig zu scharfen Auseinandersetzungen kommen, möglicherweise auch auf der Straße." Kallabis (Anm. 10), S. 63.

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den konnte. hn Gegenteil: In der DDR wirkte ein deutsches Nationalbewußtsein nicht zuletzt als psychisches und emotionales Stabilisierungselement für Menschen, die sich nicht mit dem Regime und seiner These von der "sozialistischen deutschen Nation" abfmden wollten. Die Einheitsforderung resultierte aber nicht allein aus diesem Umstand, der die nationale Einheit als eigenständigen Wert begriff und der in der DDR aus den genannten Gründen recht starke Bedeutung erlangte. Hinter der Forderung nach Wiedervereinigung stand die Zielrichtung der Systemtransformation mit einer deutlichen Orientierung auf die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse Westdeutschlands. Sicher gab es bei vielen der Demonstranten dazu vereinfachte und wohl auch überzogene Erwartungen, doch im Grundsatz gingen sie von der richtigen überlegung aus, daß sich ihre Interessen unter dem Dach einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und unter den Bedingungen einer sozialen Marktwirtschaft am besten verwirk· liehen ließen. Die Forderung nach Wiedervereinigung der Deutschen kam insofern über· raschend, als weder die Mehrzahl der politischen Parteien und Gruppierungen in der DDR noch Parteien und Regierung der Bundesrepublik darin unmittelbaren Handlungsbedarf sahen. Wenn überhaupt das Thema der deutschen Ein· heit in dieser Situation angesprochen wurde, so schien es einen unausgespro· chenen Konsens darüber zu geben, daß ihr eine längere übergangsphase vor· ausgehen müsse. Auch aus dem Ausland wurden Stimmen laut, die deutliche Reserve gegen eine deutsche Wiedervereinigung erkennen ließen.69 Noch am 9. Dezember 1989 erklärte Gorbatschow: "Wir unterstreichen mit aller Entschiedenheit, daß wir die DDR nicht zu Schaden kommen lassen. Sie ist unser strategischer Bündnispartner und ein Mitglied des Warschauer Vertrages." 70 Damit war auf einen hochsensiblen Punkt aufmerksam gemacht worden. Die äußeren Rahmenbedingungen für die Systemtransformation und die Herstellung der deutschen Einheit konnten sich - zumindest was die Handlungsweise der UdSSR anging - innerhalb kurzer Zeit in dramatischer Weise ändern. Es ist hier nicht der Platz, auf diesen Aspekt näher einzugehen, doch sollte klargestellt sein, daß mögliche äußere Gefahrdungen, die ja in der DDR in Form einer starken sowjetischen Truppenpräsenz zugleich zum inneren Faktor werden konnten, alle politischen Kräfte, die die Wiedervereinigung der Deutschen anstrebten, nunmehr zum Handeln drängten. Jedes Zögern konnte den

69 So die britische Premierministerin M. Thatcher: ,.Wir müssen uns an die Vorstellung gewöhnen, daß es in Europa künftig ein Land geben wird, das stärker ist als alle anderen ... das ändert das Gleichgewicht." (In: Der Spiegel, Nr. 13, 26.3.1990, S. 182) Oder Elie Wiesel: "Ich würde gern abwarten, bis die nächste Generation die Geschäfte über· nimmt, ganz." (In: Der Spiegel, Nr. 1, 1.1.1990, S. 107). 70 Zit. nach: Diemer (Anm. 1), S. 134.

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Verlust einer historisch einzigartigen Chance bedeuten. 71 In dieser Situation wurde die öffentliche Meinung zu einem politischen Agens ersten Ranges. Die Revolution trat jetzt in ihre dritte und entscheidende Phase. Während das Treffen von Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Modrow am 20. Dezember 1989 in Dresden mit klaren Aussagen zur deutsch-deutschen Vertragsgemeinschart und deren Einbettung in die europäischen Reformprozesse zu Ende ging, 72 wurde die Kundgebung vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche zu einer Willenskundgebung des Volkes für die deutsche Einheit. Eine erkennbare Mehrheit der DDR-Bevölkerung trat für die Wiedervereinigung ein. Repräsentative Meinungsumfragen verdeutlichen die außergewöhnliche Dynamik im politischen Meinungsbildungsprozeß. Ende November 1989 bejahte rund die Hälfte der DDR-Bürger die deutsche Einheit; Ende Januar 1990 waren es schon rund 80 Prozent, und dies bei weiter steigender Tendenz. 73 Die Demonstrationen in vielen Städten der DDR wurden seit Dezember 1989 zunehmend durch die Devise "Wir sind ein Volk!" bestimmt. Daß dies keine Floskel war, wird durch Schätzungen bestätigt, wonach in den 1980er Jahren trotz strenger Abgrenzungspolitik der SED-Führung rund zwei Drittel aller in der DDR lebenden Familien Verwandte und Bekannte in der Bundesrepublik hatten. 74 Der politische Handlungsbedarf wurde offenkundig. Und es war von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß Gorbatschow Ende Januar 1990 sowjetisches Einverständnis signalisierte: "Mir scheint, es gibt sowohl bei den Deutschen in West und Ost als auch bei den Vertretern der vier Mächte ein gewisses Einverständnis darüber, daß die Vereinigung der Deutschen niemals und von niemandem prinzipiell in Zweifel gezogen wurde." 75 Zur gleichen Zeit reiste Modrow nach Moskau und kehrte nach eigenen Worten mit der Erkenntnis zurück, daß die DDR als separater Staat kein Jahr mehr überdauern würde. Am 1. Februar schlug er unter dem Motto "Deutschland einig Vaterland" einen einheitlichen, aber militärisch neutralen deutschen Staat mit der Hauptstadt Berlin vor. 76 Dieser Vorschlag hinkte, was die Einheit anging, der Reali71 Die sowjetische Truppenstärke in der DDR wurde mit 363 000 Soldaten angegeben. Vgl. Der Spiegel, Nr. 29, 16.7.1990, S. 26f. 72 Vgl. Diemer (Anm.1), S. 137. 73 Peter Förster/Günter Roski : DDR zwischen Wende und Wahl. Meinungsforscher analysieren den Umbruch, Berlin 1990, S. 53- 55. 74 Ebd., S. 52. 75 Zit. nach Wilms (Anm. 1), S. 29; vgl. "Frankfurter Rundschau" vom 31.1.1990. 76 Vgl. hierzu die Presseberichterstattung vom 2.2.1990. Bei Modrows Initiative handelte es sich um ein offenbar nur in den Grundzügen mit Gorbatschow diskutiertes Vorgehen. K.-H. Arnold berichtet: "Modrow fliegt nach Berlin zurück. Feilt auf dem Rückflug an seinem Konzept ftir die deutsche Einheit, mit dem er allein an die Öffentlichkeit gehen will, weil es weder ein Zerreden am Runden Tisch noch eine Diskussionsrunde zwischen den fünf Koalitionsparteien verträgt. Da würden viele Köche einen ungenießbaren Brei

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tät hinterher, und was die Neutralität betraf, ging er an den historischen Erfordernissen vorbei. Als Bundeskanzler Kohl und Außeruninister Genscher am 10. Februar 1990 in Moskau weilten, erhielten sie die Zusage, daß die UdSSR die Entscheidung der Deutschen über Weg und Zeitpunkt der Einheit respektieren werde. 77 Angesichts der fast 400 000 auf dem Territorium der DDR stationierten sowjetischen Soldaten und der komplizierten innenpolitischen Lage der UdSSR war das eine conditio sine qua non ftir die Vereinigung. Und ein in den zeitgenössischen Debatten wenig beachteter, weil selbstverständlich scheinender Punkt kam hinzu: Erst jetzt, in ihrer dritten Phase, erlangte die deutsche Herbstrevolution jene äußeren Rahmenbedingungen, die ihren Erfolg sicherstellten. Mitte Februar 1990 einigten sich die beiden deutschen Außenminister und ihre Amtskollegen aus den USA, der UdSSR, Großbritannien und Frankreich nach der Formel "Zwei plus Vier" über aufeinander abgestimmte Schritte bei der Herstellung der deutschen Einheit. 78 In der DDR selbst begannen sich die unterschiedlichen politischen Strömungen um programmatische Profilierung und Sammlung ihrer Kräfte zu bemühen. So schlossen sich christlich-konservative Gruppen am 20. Januar 1990 in Leipzig zur Deutschen Sozialen Union (DSU) zusammen. Am 20./21. Januar versuchte die SED-PDS durch Ablegen ihres ersten Namensteiles einen Neuanfang zu symbolisieren und als PDS in die Rolle eines Interessenvertreters vor allem der abhängig Beschäftigten zu treten. Das "Neue Forum" verzichtete am 27. Januar auf die Umwandlung in eine Partei, um sich die Funktion als Bürgerbewegung zu bewahren. Es schloß sich aber am 7. Februar mit den Bewegungen "Demokratie jetzt" und "Initiative für Frieden und Menschenrechte" zum "Bündnis 90" flir die bevorstehenden Wahlen zusammen. Bereits am 5. Februar vereinbarten die CDU, die DSU und der "Demokratische Aufbruch" (DA) ein Wahlbündnis, die "Allianz ftir Deutschland". Auch die liberalen, die sich kurz zuvor in einer erneuerten LDP sowie in zwei kleineren Parteien, der FDP und der DFP, organisiert hatten, bildeten am 11. Februar als "Bund Freier Demokraten" ein Wahlbündnis. Die SPD in der DDR bekannte sich auf ihrem 1. Parteitag am 25. Februar in Leipzig zu einer demokratischen, sozialen und ökologischen Marktwirtschaft. 79 draus machen, sagt der Ministerpräsident am nächsten Tag, das muß ich schon allein einbringen." Vg!. Arnold (Anm. 1), S. 98. 77 Siehe Diemer (Anm. 1), S. 144. 78 Siehe die Erklärung der Außenminister der USA, der UdSSR, Großbritanniens, Frankreichs, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland (Bonn, 5.5 .1990), zitiert ebd., s. 219 f. 79 Ausführlicher dazu Siegfried Suckut: Vom Blocksystem zur Konkurrenz. Zum Wandel der ehemaligen Blockparteien in der DDR seit dem Herbst 1989, in : Die DDR auf dem Wege zur deutschen Einheit (Anm. 1), S. 128-138.

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Um die zunehmende politische Instabilität der DDR bald durch die Bildung einer demokratisch legitimierten Regierung zu beenden, einigten sich Modrow und Vertreter des "Runden Tisches" Ende Januar darauf, die Volkskammerwahlen auf den 18. März vorzuziehen und die Kommunalwahlen auf den 6. Mai anzusetzen. 80 Bis zur Regierungsneubildung sollte das Modrow-Kabinett unter Erweiterung durch Minister ohne Geschäftsbereich, die von dreizehn Parteien und Gruppierungen gestellt wurden, als Regierung der nationalen Verantwortung weiterarbeiten. Die Ergebnisse dieses Bemühens verdienen sicher eine differenzierte Bewertung, die hier nicht gegeben werden kann. Dennoch steht fest, daß die Absicht, die DDR regierbar zu erhalten und ihren Bewohnern ein Abgleiten ins politische Chaos zu ersparen, im wesentlichen verwirklicht werden konnte. Die Phase des Wahlkampfes wurde durch zwei wesentliche Tendenzen bestimmt, die im Grunde eine Fortsetzung der Debatten über das Ob und Wie der deutschen Einheit waren. Die "Allianz für Deutschland" sprach sich am 1. März für die Einheit "auf der Grundlage des Grundgesetzes" aus und forderte den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grunggesetzes gemäß dessen Artikel 23. 81 Gleichzeitig aber wurde am "Runden Tisch" heftig über eine neue Verfassung und eine Sozialcharta diskutiert, deren Entwürfe kurz vor den Volkskammerwahlen vorlagen. Darin artikulierten sich Bemühungen, die Vorstellungen linksorientierter Reforminitiativen und Bürgerrechtsgruppen festzuschreiben.82 Die Volkskammerwahlen wurden zur Abstimmung über den Weg zur Einheit. Bei einer Wahlbeteiligung von 93,2% erreichte die "Allianz für Deutschland" 48,1% (CDU - 40,9 %, DSU - 6,3 %, DA - 0,9%). Auf die SPD entfielen 21,8%, auf die POS 16,3%, auf den "Bund Freier Demokraten" 5,3%, auf "Bündnis 90" 2,9%, auf die DBD 2,2% und auf sonstige Gruppierungen 3,4% der Stimmen. 83 Die ersten freien Wahlen in der DDR besiegelten das Schicksal des kleineren deutschen Teilstaates, dessen politische und wirtschaftliche Strukturen im Herbst 1989 in sich zusammengebrochen waren. Der Weg zum Beitritt in den Geltungsbereich des Grundgesetzes war offen, die am 12. April vereidigte Regierung de Maiziere, die sich auf eine große Koalition aus CDU, DSU, Diese Entscheidung fiel am 28.1.1990. Vgl. Diemer (Anm. 1), S. 143. Vgl. Deutschlandpolitische Aussagen vor der Wahl, in: "Berliner Zeitung" vom 22.2.1990, S. 3; "Neue Zeit" vom 2.3.1990, S. 1 f. 82 Die sozialen Programmpunkte umfaßten Sicherung und Ausbau des sozialen Standards, Gleichberechtigung von Mann und Frau, verfassungsrechtlich garantiertes Recht auf Arbeit, Demokratisierung des Arbeitslebens, Recht auf Wohnung, Schutz der Gesundheit, Fürsorge für ältere Bürger und Integration von Behinderten. Vgl. Diemer (Anm. 1), S. 149; den Entwurf der "Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik" siehe in: "Neues Deutschland" (B) vom 18.4.1990, S. 7-10. 83 Siehe Wahlkommission der DDR (Hrsg.): Wahlen zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990. Endgültiges Ergebnis. DDR-Gesamtbericht, Berlin 1990. 80 81

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DA, SPD und Liberalen stützte,84 hatte in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung in einem historisch beispiellosen Prozeß die Wirtschafts-, Wäluungsund Sozialunion zu gestalten und den Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands auszuhandeln. Sie trat damit das politische Erbe der Herbstrevolution von 1989 an, das in der formellen Herstellung der deutschen Einheit einen Zielpunkt besaß, das aber im Prozeß der Wiedervereinigung weiterwirkt.

IIL Erbe Zu den herausragendsten Erfahrungen der Herbstrevolution in der DDR zählte ihr friedlicher Verlauf. Er darf - auch rückblickend - nicht als eine Selbstverständlichkeit genommen werden. Wie das Vorgehen des staatlichen Repressivapparates am 7. und 8. Oktober in Berlin zeigte, bestand seitens der Machthaber die Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Auch das bewaffnete Aufgebot gegen die Leipziger Montagsdemonstrationen sprach dafür, daß der Machtapparat der DDR das Geschehen nicht zu Unrecht als Bedrohung der eigenen Existenz reflektierte, und er war einsatzbereit. Daß es schließlich nicht zu einer massiven Gewaltanwendung kam, resultiert aus zwei wesentlichen Voraussetzungen: Die Oppositionsbewegung, die durch starke Wurzeln mit der Friedensbewegung der 1980er Jahre verbunden war, koppelte ihre politischen Forderungen nach Demokratie mit der Option "Keine Gewalt". Gerade in der Gewaltlosigkeit bestand die Stärke der Opposition. Andererseits konnten sich in SED und den staatlichen Organen Kräfte behaupten, die einer Gewaltlösung keine Chance einräumten, die den Dialog mit den Demonstranten im Interesse des Machterhalts führen wollten. Aus dieser Konstellation ergaben sich am 16. Oktober 1989 in Leipzig, Dresden, Magdeburg, Halle und einigen anderen Städten Zweckkoalitionen aus Vertretern der Opposition, der Kirchen, prominenten Bürgern, Funktionären der SED und Offizieren des Repressivapparates, deren Hauptziel es war, Gewalt zu verhindern.85 Die Führungen der DBD und der LDPD stellten sich schon am 17. Oktober hinter dieses Vorgehen und forderten nun auch spürbare Veränderungen. Die Ablösung Harreckersam 18. Oktober stand mit diesen Vorgängen in einem unmittelbaren Zusammenhang; sie signalisierte, daß die agierenden politischen Kräfte aus sicher unterschiedlichen Gründen in der Ablehnung von Gewalt konsensfähig waren. Die Berliner Demonstration vom 4. November bewies die Tragfahigkeit dieses Kompromisses. Allerdings verband er zwei längerfristig unvereinbare Interessenlagen: Erhebliche Teile der Oppositionsbewegung suchten einen friedlichen Weg zum Systemwandel, während sich in der SED, z.T. aber 84 Vgl. Regierungserklärung des Ministerpräsidenten der DDR, L. de Maizit!re, am 19.4.1990 vor der Volkskammer, in: Berliner Zeitung, 20.4.1990, S. 3 f. 85 Vgl. Anm. 44.

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auch unter oppositionellen Kräften die Auffassung verbreitete, gerade durch Gewaltlosigkeit und Zeitgewinn systemimmanente Reformen zu ermöglichen. Die Erfahrung der Gewaltlosigkeit gehört zweifellos zum Erbe der Herbstrevolution, und hier ist insbesondere nach der Rolle der evangelischen Kirche in der DDR zu fragen, die seit Jahren der staatlicherseits in die Oppositionsrolle gedrängten Friedensbewegung ein Refugium bot. Die Geschichte der Oppositionsbewegung in der DDR wurde von daher maßgeblich mitbestimmt. 56 Christliches Ethos erwies sich für beträchtliche Teile der Oppositionsbewegung als identitätsstiftend. Der Ruf nach Gewaltlosigkeit ist in diesem Zusammenhang nicht allein als Taktik zu begreifen. Wenn man davon ausgeht - und der reale Verlauf der Herbstrevolution bestätigt das -, daß die Gewaltfreiheit der politischen Aktion zu den entscheidenden Prämissen des Erfolges gehörte, so kann der Beitrag der evangelischen Kirche nicht hoch genug veranschlagt werden. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die innergesellschaftlichen Spannungen und Konflikte auch Kirchenvolk und Kirchenleitungen erfaßten. Die These von der "Kirche im Sozialismus" bot genügend Streit- und Konfliktpotential. 87 Sie verhinderte aber nicht, daß die evangelische Kirche in der DDR im Herbst 1989 als Fürsprecher der Gewaltlosigkeit auch zum Wegbereiter des Systemwechsels wurde. Gehörte die Macht der Gewaltfreiheit zu den existentiellen Erfahrungen der Revolutionäre, so kam im Verlaufe des November eine zweite Grunderfahrung hinzu: Die Nation wurde zu einer wahrnehmbaren Alltagsrealität. Nicht anders ist die aufkommende Forderung nach der deutschen Einheit einzuordnen. Die Existenz und die Zusammengehörigkeit der deutschen Nation war zwar keine plötzlich hereinstürzende Erkenntnis, aber die Menschen in der DDR hatten sich mit der Teilung Deutschlands auf ihre Weise abzufinden gelernt, und die Forderung nach der deutschen Einheit erschien noch so utopisch, daß sich die Demonstranten des Herbstes 1989 zunächst noch mit der Reisefreiheit begnügten.88 Erst als klar wurde, daß die Alternative zum Realsozialismus auch 86 Siehe Matthias Hermann: Bedeutungsverlust oder Bedeutungsgewinn? Die Rolle der Kirche unter veränderten Umständen, in: Wewer (Anm. 1), S. 89-105. 87 Vgl. z. B. Werner Krusche: Zwischen Anpassung und Opposition. Gespräch über den zurückliegenden Weg der Kirche im Sozialismus, in : Übergänge - Zeitschrift zum Weg der Kirchen in der DDR (Vormals: Kirche im Sozialismus - Zeitschrift zu den Entwicklungen in der DDR), Berlin, H.2/1990, S. 51- 56. 88 Daß entsprechende Forderungen mit Fortgang der Staats- und Systemkrise der DDR sehr schnell in die Option ftir die deutsche Einheit umschlagen konnten, scheint auf der politischen Führungsebene der SED bis zum 9.11.1989 kaum bedacht worden zu sein. Noch am 2.11.1989 bestätigte der Ministerrat einen Gesetzesentwurf über Reisen von DDR-Bürgern "in das Ausland", womit auch die Bundesrepublik gemeint war. Am 6.11.1989 wurde dieser Gesetzentwurf zum Zwecke einer öffentlichen Diskussion in der Presse publiziert. Zwar fand sich darin ein Recht auf Auslandsreisen fixiert, doch dieses war zugleich an bestimmte Bedingungen geknüpft, und Reisegenehmigungen blieben zeitlich eng befristet. Die Entscheidung über Dienst- oder Privatreisen sollte bei den Leitern der Paß- und Melde-

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die Alternative zur Teilung Deutschlands in sich schloß, brachen die Dänune. Nationalbewußtsein war neben dem Willen zur Ablösung des alten Regimes in Formen des gewaltlosen Protestes das zweite identitätsstiftende Merkmal der Herbstrevolution. Gewiß lassen sich Belege nationaler Emphase finden. Der Hinweis auf die Szenen nach der Maueröffnung oder auch auf die denkwürdige Sylvesterfeier am Brandenburger Tor mag das illustrieren. Aber die Herbstrevolution war nicht mit einer nationalistischen Welle verbunden. Nationalbewußtsein wurde in deutlicher, aber nicht schriller Weise geäußert. Von atypischen Ausnahmen mag hier abgesehen sein. Für die Menschen in der DDR zählte das Gefühl einer nationalen Zusammengehörigkeit der Deutschen gerade in der bewegten Zeit des Umbruchs zu den psychischen Stabilisierungsfaktoren. Umfrageergebnisse lassen klar erkennen, daß sich etwa drei Viertel der DDRBürger in erster Linie als Deutsche fühlten, während zugleich das Selbstverständnis als Bewohner des deutschen Teilstaates DDR nachließ. Die gleichen Umfragen förderten zwei weitere beachtenswerte Phänomene zutage: Eine deutliche Mehrheit fühlte sich mehr oder minder eindeutig als Europäer und auch in besonderer Weise der eigenen Region bzw. dem jeweiligen Land verbunden. Diese Landesidentität war am stärksten in Thüringen und Sachsen ausgeprägt, am geringsten in der Region Berlin-Brandenburg. Kongruenzen zu den Wahlergebnissen sind hier unverkennbar. 89 Diese dreiachsige Orientierung auf Europa, die Bundesrepublik Deutschland und das eigene Land bzw. die engere Region gehört zu dem durch die Herbstrevolution reaktivierten Erbe, das durch die vierzigjährige Eigenstaatlichkeit der DDR und die damit verbundenen ideologischen Indoktrinationsversuche nicht eliminiert werden konnte. Fragt man nun nach dem im engeren Sinne politischen Erbe der Herbstrevolution, so tritt die Grundkonstellation des Umbruchs in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zutage. Drei Ebenen sind dabei auszumachen: 1. Der alte Machtapparat der SED wurde aufgelöst. Die Partei selbst ist zerfallen, teilweise aber auch in die POS transformiert worden. Außer einem unverkennbaren Maß an Frustration sind aus der SED und ihrem Umfeld vor allem Traditionslinien und Denkmodelle der kommunistischen Bewegung überkommen, die jedoch im politischen Leben des vereinten Deutschland eine eher periphere Rolle spielen.

stellen der Volkspolizei liegen. (Neues Deutschland, 6.11.1989, S. 1) Der laute Protest gegen eine solche Regelung dürfte die Entscheidung vom 9.11.1989 zur Grenzöffnung mit beeinflußt haben; aber auch da ging die SED-Führung wohl noch von einer bloßen Ventilfunktion aus. 89 Vgl. Förster/Roski (Anm. 73), S. 98- 100.

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2. Die ehemalige Opposition, die ursprünglich vor allem von intellektuellen Kreisen getragen wurde, hat sich z.T in das politische Parteienspektrum der alten Bundesrepublik eingefügt, z.T. versuchte sie aber auch im Kontext von Bürgerbewegungen ihre kulturorientierten und basisdemokratischen Vorstellungen einzubringen. 3. Die "schweigende Mehrheit" hat in den Tagen der Herbstrevolution durchaus zur politischen Aktion gefunden. Die Massendemonstrationen waren ein beredter Ausdruck davon. Ihr eigentliches politisches Gewicht brachte sie jedoch in den Märzwahlen 1990 zur Geltung. Sie sorgte für den eindeutigen Wahlausgang zugunsten einer schnellen Vereinigung der Deutschen und für den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes mit allen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen. Vor allem durch diese "schweigende Mehrheit" wurde eine große Erwartungshaltung in das vereinte Deutschland eingebracht, die durch die gegenwärtigen Schwierigkeiten des übergangs in den neuen Bundesländern erheblich belastet wird. Andererseits aber steht diese relativ unpolitische Bevölkerungsmehrheit auch für Leistungs- und Opferbereitschaft. Diesen drei Strömungen entsprach auch das Bild der Herbstrevolution in der öffentlichen Meinung. Die Mehrheit der Wähler verbuchte den Herbst als politischen Sieg und artikulierte deutlich, daß eine Rückkehr zum status quo ante für sie nicht zur Debatte stünde, auch wenn manche euphorischen Erwartungen bald zerrannen. In den Reihen der ehemaligen aktiven Opposition war die Meinung über die Herbstrevolution geteilt: Zum einen schlugen hier unterschiedliche Zielvorstellungen zu Buche, zum anderen dauerte der politische Meinungsbildungsprozeß auch weiter an. Ein Teil der Revolutionäre fühlte sich bestätigt, ein anderer Teil sah politische Idealvorstellungen nicht eingelöst und meinte sich insofern der Früchte der eigenen Anstrengungen verlustig gegangen. Reformströmungen, die aus der SED oder ihrem Umfeld hervorgingen und für die eine Erneuerung des Sozialismus immer noch möglich schien, erblickten im 9. November Putsch und Verrat. Das Bild der Herbstrevolution hat sich im Gedächtnis des Volkes noch nicht verfestigt, zu jung sind die Eindrücke und zu dynamisch ist das Gegenwartsgeschehen. Verunsicherungen über die eigene Lage sind gerade in den neuen Bundesländern hinzugekommen, und gerade dort beginnt sich ein verklärender Schleier über die Vergangenheit zu legen, die mit dem Kürzel " DDR" umschrieben wird. Deshalb jedoch ist es nicht zu früh, die demokratische Revolution der Deutschen von 1989 als Geschichte und mit den Instrumentarien der Geschichtswissenschaft zu befragen. Das heißt auch, die Frage nach den historischen Alternativen der deutschen Einheit und der Herbstrevolution zu stellen. Modelle einer solchen Alternative unter den Bedingungen eines separaten Fortbestehens der DDR können derzeit in großen Teilen Osteuropas ausgemacht werden. 1m günstigsten Falle ergibt sich dort die Perspektive schwerer gesamt-

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nationaler Krisen als Perioden des Übergangs zu modernen demokratischen und marktwirtschaftlich organisierten Staaten. Im weniger günstigen Falle könnte eine Restabilisierung totalitärer Regimes diese Alternative sein. Die Herbstrevolution hat einen anderen Weg eröffnet, der durch die deutsche Einheit spezifiziert und erleichtert wurde. Wenn jetzt auch die Schwierigkeiten des Übergangs, der Systemtransformation in den neuen Ländern der Bundesrepublik kulminieren, bleiben die positiven Prämissen dennoch wirksam. Zum Erbe der Herbstrevolution gehört die Erfahrung, daß die Verbindung engagierten Handeins mit Geduld, historischer Selbstreflexion mit Zielsicherheit, der Teilhabe an der osteuropäischen Umwälzung mit einer verstärkten Hinwendung zur nationalen Identität und gleichzeitig zum bewußten Europäersein enorme gesellschaftliche Gestaltungskräfte freisetzen kann. Im Prozeß der deutschen Einheit kann wohl auf diese Erfahrungen nicht verzichtet werden.

Siegfried Mampel FöDERALISMUS IN DEUTSCHLAND* Die deutsche Einheit wurde am 3. Oktober 1990 nicht durch die Gründung eines neuen Staates wiederhergestellt. Vielmehr trat mit Wirkung von diesem Tage an ein Staat, nämlich die Deutsche Demokratische Republik (DDR), einem anderen, der Bundesrepublik Deutschland, bei. Das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland wurde um das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik erweitert. Die DDR wurde zum "Beitrittsgebiet". Unproblematisch war die Frage der Staatsangehörigkeit. Nach der Auffassung der Bundesrepublik Deutschland bestand seit jeher nur eine Staatsangehörigkeit, die deutsche, die auch die Deutschen in der ehemaligen DDR besaßen. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das Bonner Grundgesetz (GG), wurde die Verfassung des geeinten Deutschland. Dieses führt den Namen "Bundesrepublik Deutschland", also denselben Namen wie der zuvor auf den Westen Deutschlands beschränkte Staat. Rechtsgrundlage der Wiedervereinigung war Art. 23 GG. Nach ihm wurde das Grundgesetz durch den Einigungsvertrag (Art. 3) im "Beitrittsgebiet" in Kraft gesetzt,! nachdem die Volkskammer der DDR am 23.8. 1990 den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes erklärt hatte. 2 Art. I Einigungsvertrag bezeichnet als Beitrittsgebiet nicht die DDR, sondern die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie den Teil Berlins, in dem das GG bisher nicht gegolten hatte, also den Ostteil Berlins. Die genannten Länder sind Länder der Bundesrepublik Deutschland geworden. Der Westteil Berlins mit zwölf Bezirken und der Ostteil

* Stark erweiterte Fassung eines Vortrages, den der Verfasser auf einer Tagung der Gesellschaft ftir Deutschlandforschung in Zusammenarbeit mit dem Ealing College of Higher Education in London, Goethe-lnstitut, am 3. Mai 1991 gehalten hat. Erstabdruck in : Deutschland Archiv, 8/1991, S. 808 ff., und 9/1991, S. 919 ff. 1 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - vom 31.8.1990, bestätigt in der DDR durch Verfassungsgesetz vom 20.9.1990 (GBI. I, 5.1627). Das GG gilt im Beitrittsgebiet, "soweit in diesem Vertrag nicht anderes bestimmt ist" (Art. 3). Letzteres gilt insbesondere für die Finanzverfassung (Art. 7). 2 Beschluß der Volkskammer über den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 23.8. 1990 (GBI. I, S. 1490).

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mit zuletzt elf Bezirken, der aus der Sicht der DDR deren Hauptstadt gewesen war, sind zusammen nach dem Wegfall der originären Rechte der vier Siegermächte auf Grund des Zwei-plus-vier-Vertrages schon vor seiner allseitigen Ratifikation uneingeschränkt Land der Bundesrepublik geworden. Der Einigungsvertrag bekräftigt das mit dem Satz: "Die 23 Bezirke von Berlin bilden das Land Berlin:' 1 Begriff und Wesen des Föderalismus

Die Struktur des geeinten Deutschlands hat eine Tradition. Sie ist nicht ohne Probleme. Deren Darstellung und Analyse hat von Begriff und Wesen des Föderalismus auszugehen. Der Föderalismus ist die politische Bestrebung nach einem föderativen Staatsaufbau, nach einem Bundesstaat. In einem solchen ist das föderale Element ein Strukturprinzip des Staates geworden. Klaus Stern meint zu Recht, Föderalismus als politisches Prinzip solle sprachlich vom föderativen Prinzip als Strukturprinzip eines Staates unterschieden werden. 3 Nach herkömmlicher Definition ist der Bundesstaat ein durch die Verfassung eines Gesamtstaates geformte Verbindung von Staaten, die sich als Teil des Gesamtstaates verstehen. Es sind, jedenfalls für deutsche Verhältnisse, Gesamtstaat und Gliedstaaten zu unterscheiden. 4 Sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten haben die Qualität von Staaten. Insofern unterscheidet sich der Bundesstaat vom Staatenbund. Letzterer ist eine völkerrechtliche Verbindung gleichberechtigter Staaten, die allerdings einzelne Kompetenzen auf gemeinsame Organe abtreten können. Der Bundesstaat ist dagegen von staatsrechtlicher Natur. Sein Gegenstück im Staatsrecht ist der unitarische Staat, der Einheitsstaat. Auch im letztgenannten können Untergliederungen bestehen. Sie können Gebietskörperschaften mit Selbstverwaltung ohne Staatscharakter oder auch Territorien sein, die von Organen des Einheitsstaates verwaltet werden, die auch solche bleiben, wenn sie von den Wahlberechtigten in den einzelnen Territorien bestimmt werden. Die Begriffe "Staatenbund", "Bundesstaat" und "Einheitsstaat" meinen Idealtypen. In der politischen Wirklichkeit ergeben sich Abgrenzungsprobleme. Um sie zu überwinden, ist es notwendig, aber auch möglich, Merkmale zu finden, welche die Orientierung erleichtern. Freilich werden auch dann noch Zweifelsfragen übrigbleiben, die im Meinungsstreit stehen. 3

1977'

Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, München

s. 495.

4 Damit wird hier der herrschenden Lehre gefolgt (Stern, Anm. 3, S. 489). Eine frühere, dreigliedrige Konstruktion, die Gesamtstaat, Oberstaat und Gliedstaaten unterschied, wird heute kaum noch vertreten, nachdem sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG E, Band 13, S. 54 ff., hier S. 77 f.) hinsichtlich des deutschen Bundesstaates für die zweigliedrige ausgesprochen hatte.

Föderalismus in Deutschland

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Eine Zwischenbemerkung sei gestattet: Weder Staatsgründer noch Verfassungsgeber lassen sich in der Regel von einer Staatstheorie leiten. Es geht ihnen um die Meisterung praktischer Probleme, für deren Lösung sie sich zwar an Prinzipien halten, wie etwa an den Föderalismus. Aber die entscheidende Rolle spielt die Funktionsfähigkeit eines Staates. Staatstheoretische Erwägungen können aber eine wichtige Entscheidungshilfe geben. Sie sollen es sogar, sonst wären sie nur Sandkastenspiele ohne jeden Nutzeffekt. In dieser Erkenntnis sind die Merkmale der Bundesstaatlichkeit zwar Früchte theoretischer überlegungen, aber sie müssen sich für die Staatenpraxis als brauchbar erweisen. Bundesstaatliche Begrifflichkeit bleibt so zwar weitgehend abstrakt, vermeidet aber die von Klaus Stern beklagte Blutleere,S wenn sie sich an einem konkreten Staate orientiert. Die Bundesrepublik Deutschland bietet die erforderliche Hilfe dazu. Denn sie ist ein hervorragendes Beispiel von einem Akkord zwischen Staatstheorie und Staatspraxis. Zuerst geht es um die Frage nach dem Wesen der Staatlichkeit der Gliedstaaten. Was unterscheidet sie von hoch potenzierten Selbstverwaltungskörperschaften? Wichtig ist der historische Aspekt. Bisher pflegten Gliedstaaten vor ihrem Zusammenschluß zu einem Bundesstaat zu bestehen. Der Bundesstaat verdankt seine Existenz dem Willen der Gliedstaaten. llire Staatlichkeit ist der des Bundes vorgegeben. Es ist aber auch möglich, daß Einzelstaaten dem Bund nicht zur Staatlichkeit verhelfen wollen. Der Zusammenschluß ist dann völkerrechtlicher Natur und führt zum Staatenbund. Es ist aber auch nicht auszuschließen, daß bei einem Zusammenschluß die Gliedstaaten ihre Staatlichkeit verlieren und zu Selbstverwaltungskörperschaften werden. Der Gestaltungsfreiheit sind grundsäztlich keine Schranken gesetzt. Es kommt allein darauf an, was beim Entstehen eines größeren Gebildes gewollt wurde. Darüber sollten dessen Verfassung Auskunft geben. Ob das immer hinreichend der Fall ist, muß dahinstehen. Deshalb ist es oft nicht einfach zu entscheiden, ob in einem konkreten Falle Gliedstaaten oder hochpotenzierte Selbstverwaltungskörperschaften (Gebietskörperschaften) vorliegen. Die Entscheidung hängt oft von einer Wertung ab, die mehr oder weniger danach getroffen wird, wie der Urteilende zum Prinzip des Föderalismus steht - also je nach dem, ob er ihn für politisch zweckmäßig hält oder ihm gegenüber skeptisch ist. Ein äußeres Kennzeichen der Staatlichkeit von Gliedstaaten ist, daß sie über ein Normenwerk verfugen, das Verfassung genannt wird - und auch ist, wenn sie eine Ordnung darstellt, der gemäß der Wille der verfaßten Körperschaft gebildet und vollzogen, ihr Bereich räumlich abgegrenzt, die Stellung ihrer Mitglieder in ihr und zu ihr geregelt werden. 6 Jedoch ist Vorsicht geboten. Denn auch nichtstaatliche Gebilde bezeichnen mitunter ihre innere Ordnung als 5 6

Stern (Anm. 3), S. 486. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 2 1905, S. 491.

7 Fischer I Haendcke-Hoppe-Arndt

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Verfassung. Ein sicheres Kennzeichen ist die Bezeichnung ihrer inneren Gewalt ausdrücklich als Staatsgewalt. Im allgemeinen wird auch in der Verfassung die Zugehörigkeit eines Gliedstaates zum Bundesstaat zum Ausdruck gebracht. Indessen kann diese auch zweideutig bezeichnet sein. Für das Vorliegen eines Bundesstaates spricht, daß der Austritt eines Gliedstaates aus ihm nicht möglich ist. Aus einem Staatenbund ist dagegen ein Austritt erlaubt. Ein wichtiges Merkmal für den Bundesstaat ist die Art, wie die Kompetenzen zwischen dem Gesamtwesen und den Gliedern verteilt sind. Während bei einem Staatenbund nur wenige Kompetenzen - etwa auf dem Gebiete der Außenpolitik, der Verteidigung, des Außenhandels einschließlich des Zollwesens- auf dessen Organe durch völkerrechtlichen Vertrag von den Teilnehmerstaaten übertragen sind, wozu diese durch ihre Verfassung ermächtigt wurden, sind bei einem Bundesstaat die Kompetenzen durch die Verfassung des Bundes auf ihn und die Gliedstaaten dergestalt verteilt, daß sie entweder vom Bund oder von den Gliedstaaten auszuüben sind - gleichgültig, ob sie sich auf die Gesetzgebung, die Verwaltung oder die Rechtsprechung beziehen. Die Aufteilung der Kompetenzen kann viele Varianten aufweisen. Lückenlosigkeit soll zwar erstrebt werden, ist aber vollkommen nicht zu erreichen. Deswegen ist eine Regelung erforderlich, die eine Vermutung für die Zuständigkeit zum Inhalt hat. Es ist gleichgültig, ob diese zugunsten des Gesamtstaates oder zugunsten der Gliedstaaten gilt. In einem Einheitsstaat gibt es eine derartige Kompetenzverteilung nicht. Zwar können Staatstätigkeiten auf Selbstverwaltungskörperschaften delegiert werden. Man spricht dann von einer Dekonzentration. Stets bleibt aber dann den zentralen Organen das Recht des Eingriffs, nicht nur bei Rechtsverletzungen durch eine Körperschaft, sondern nach dem Ermessen der Zentrale. Eine Autonomie ist den Selbstverwaltungskörperschaften versagt. Aber es gibt auch Ausnahmen. Es ist möglich, Selbstverwaltungskörperschaften "eigene Angelegenheiten" zu übertragen, übere deren Erledigung nur eine Rechtsaufsicht gegeben ist. Kennzeichnend für einen Bundesstaat ist auch, daß die Kompetenzverteilung nie so weit gehen darf, daß die Staatlichkeit der Gliedstaaten zur Disposition des Gesamtstaates steht. Dieser darf weder die Organe der Gliedstaaten abschaffen noch über ihr Gebiet einseitig verfügen. Für die Gesetzgebung bedeutet, das, daß auch bei einer Kompetenzverteilung, die dem Gesamtstaat ein übergewicht gibt, den Gliedstaaten Kompetenzen zur Rechtsetzung- und sei es konkurrierend zur Kompetenz des Gesamtstaates - verbleiben müssen und der Gesamtstaat von seiner Gesetzgebungskompetenz nur insoweit Gebrauch machen darf, als dem Bedürfnis einer einheitlichen Regelung Genüge getan wird. Auf dem Gebiete der Verwaltung hat der Gesamtstaat allenfalls die Rechtsaufsicht, niemals aber die Fachaufsicht in den Bereichen, in denen die Gliedstaaten die Exekutive als eigene Angelegenheit ausüben. Hier bereitet die Abgren-

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zung zwischen Gliedstaaten und hochpotenzierten Gebietskörperschaften mit Selbstverwaltung, denen eigene Angelegenheiten übertragen sind, Schwierigkeiten. Indessen kann gesagt werden, daß derartige übertragungen bei den letztgenannten Ausnahmen sind. Bleiben dann noch Zweifel, so ist der Gesamtzusammenhang der Merkmale in Betracht zu ziehen. Nicht ausgeschlossen ist, daß die Gliedstaaten im Auftrage des Gesamtstaates dessen Gesetze ausführen. ln diesen Fällen bestehen unbeschadet der Staatlichkeit der Glieder ein Weisungsrecht und eine Fachaufsicht. Auf dem Gebiet der Rechtsprechung würde es einer föderativen Struktur widersprechen, wenn es nur eine einheitliche Gerichtsbarkeit gäbe. Meist ist diese so zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten verteilt, daß letztere die Gerichte der unteren und der mittleren Instanz unterhalten, während die obersten Gerichte solche des Gesamtstaates sind. Ein Feld, auf dem die Kompetenzverteilung einen zentralen Stellenwert für die bundesstaatliche Ordnung hat, ist das der Finanzen. Klaus Stern schreibt unter Hinweis auf die umfangreiche llteratur dazu, 7 die Realisierungschance der allgemeinen Kompetenzordnung des Bundesstaates hänge wesentlich davon ab, inwieweit die materiellen Kompetenzen von Gesamtstaat und Gliedstaaten durch eine entsprechende Zuweisung von Finanzierungszuständigkeiten abgesichert seien. Die Finanzordnung und die in ihr maßgebliche Kompetenzverteilung prägten die bundesstaatliche Gliederung um so mehr, je stärker staatliches Wirken von der finanziellen Ausstattung abhängig sei. Sowohl der Gesamtstaat als auch die Gliedstaaten müßten fmanziell so ausgestattet sein, daß ihre Staatlichkeit gewahrt bleibe und jede Seite zur Erftillung der ihr aufgetragenen Aufgaben finanziell ausreichend bedacht werde. 8 Th.re Lebensfähigkeit muß also gewährleistet sein. Es muß eine Einnahmen- und eine Ausgabenverteilung zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten festgelegt sein, ein "vertikaler Finanzausgleich". Das föderative Prinzip verlangt außerdem einen angemessenen Ausgleich zwischen der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder. Der bundesstaatliche Gedanken der Solidargemeinschaft der Länder gebietet einen "horizontalen Finanzausgleich". 9 Eng mit der Verwirklichung des föderalistischen Prinzips durch die Kompetenzverteilung zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten, aber nicht nur mit ihr, hängt ein Merkmal zusammen, das in Lehre und Rechtsprechung 10 "BundesStern (Anm. 3), S. 533. BVerfG E, Band 32, S. 333 ff., hier S. 338; Gerhard Leibholz/Hans-Justus Rinck/ Dieter Hesselberger, Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Kommentar anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Köln 6 1975 - 1990 (Loseblattausgabe), Erl. zu Art. 106. 9 BVerfG E, Band 72, S. 386 ff. 1° Für die Lehre: Stern (Anm. 3), hier S. 485; und die dort angegebene Literatur. Für 7

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treue" genannt wird. Es ist aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassungsordnung in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt worden und ist ein ungeschriebener Verfassungssatz. Alle an dem verfassungsrechtlichen "Bündnis" Beteiligten sind gehalten, seinem Wesen entsprechend zusammenzuwirken und zu dessen Festigung und Wahrung seiner und der wohlverstandenen Belange der Glieder beizutragen. 11 Bundestreues Verhalten kann sogar konkrete Beschränkungen in der Ausübung einerseits der dem Gesamtstaat, andererseits der den Gliedstaaten eingeräumten Kompetenzen verlangen. 12 Ein weiteres Merkmal .der föderativen Struktur ist, daß einerseits dem Gesamtstaat Einwirkungsmöglichkeiten bei der Verletzung von Bundespflichten, andererseits - das ist sehr wichtig - den Gliedstaaten eine Mitwirkung bei der Willensbildung des Gesamtstaates gegeben ist. Diese Mitwirkung darf sich nicht auf eine Anhörung beschränken, sondern muß "Wahrnehmung politischer Gestaltungs- und Leitungsrechte" sein. 13 Bundesstaatlicher Aufbau gibt dem Recht des Gesamtstaates den Vorrang vor dem Recht der Gliedstaaten. Schließlich ist es für den Bundesstaat charakteristisch, daß materiell und strukturell ein Mindestmaß an übereinstirnmung sowohl der Gliedstaaten untereinander als auch zwischen dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten besteht. Dieses Mindestmaß wird als Homogenität bezeichnet. Sie ist zwar eine gewisse Beschränkung der Verfassungshoheit und der Verfassungsautonomie des Gesamtstaates sowie der Gliedstaaten, bedeutet aber nicht deren Beseitigung. 14 Homogenität ist nicht mit Uniformität, Konformität oder Gleichschaltung in verfassungsrechtlicher Hinsicht zu verwechseln. 15 Die bundesstaatliche Struktur hat also viele Merkmale: Zweigliedrigkeit in Gesamtstaat und Gliedstaaten, Austrittsverbot für die Gliedstaaten, Verteilung der Kompetenzen zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten in Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz, keine Dispositionsgewalt des Gesamtstaates über die Staatlichkeit der Glieder, vertikaler und horizontaler Finanzausgleich, Bundestreue, Mitwirkung der Gliedstaaten bei der Willensbildung des Gesamtstaates, verbunden mit einer Einwirkungsmöglichkeit des Gesamtstaates auf die Gliedstaaten, Vorrang des Rechts des Gesamtstaates vor dem Recht der Gliedstaaten, Homogenität in der Verfassungsstruktur von Gesamtstaat und Gliedstaaten. die Rechtsprechung: Leibholz u.a. (Anm. 8), Erl. zu Art. 20, Rdnr. 66 ff., Erl. zu Art. 28, Rdnr.17. 11 BVerfG E, Band 1, S. 315. 12 BVerfG E, Band 12, S. 55. 13 Stern (Anm. 3), S. 537. 14 Klaus Stern, in : Bonner Kommentar. Loseblattausgabe, Heidelberg seit 1950, Erl. zu Art. 28, Rdnr. 8, und die dort verzeichnete Literatur. 15 Theodor Maunz, in: Theodor Maunz/Günter Dürig/ Roman Herzog/Rupert Scholz, Grundgesetz. Kommentar (Loseblattausgabe), München seit 1958, Erl. zu Art. 28, Rdnr. 17.

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Der Föderalismus stellt hohe Anforderungen an die verfassungsgebenden Organe des Gesamtstaates und der Gliedstaaten, die zu verwirklichen erhebliche Anstrengungen kostet. Aber der Einsatz lohnt sich. Denn Bundesstaatlichkeit garantiert Freiheit, Pluralität und eine doppelte Mitwirkung an der politischen Willensbildung, wodurch einerseits dem Demokratiegebot in zweifacher Weise Genüge getan wird, andererseits sich eine Vielzahl von Interessen zur Geltung bringen kann. Die föderative Struktur teilt die Staatsgewalt vertikal, weil es auf zwei Ebenen Entscheidungszentren gibt, und horizontal, weil bei der Willensbildung des Gesamtstaates die Gliedstaaten mitwirken. 16 Diese Erkenntnisse sollen nicht nur bei der Verfassungsgebung gelten, sondern auch bei zweifelhaften Verfassungslagen Interpretationshilfe sein: In dubio pro foederatione. Das föderative Prinzip steht heute in Wechselbeziehung zu anderen Prinzipien, welche die Struktur eines Staates bestimmen, der die Freiheitsrechte garantiert, dessen Gewalt vom Volke ausgeht und der sozialen Belangen Rechnung trägt, also zum demokratischen Prinzip, zum rechtsstaatliehen Prinzip und zum sozialstaatliehen Prinzip. Insgesamt sind diese Ausdruck von Wertentscheidungen. In ihrer Summe sind sie auf die Wahrung der Würde und der Freiheit des Menschen in sozialer Gerechtigkeit gerichtet. 17 Sie geben Ziele an, "denen sich jede Politik verpflichtet fühlen muß" .18 /1 Geschichte des Föderalismus in Deutschland Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung hat es auf deutschem Gebiet sowohl Staatenverbindungen in Gestalt eines Staatenbundes oder in Gestalt eines Bundesstaates sowie auch Einheitsstaaten gegeben. Setzt man den Beginn der modernen Staatlichkeit in Deutschland mit dem Ausgang des Dreißigjährigen Krieges an, so war mit dem Frieden von Münster und Osnabrück vom 24. Oktober 1648 das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zu einem Staatenbund geworden, weil durch ihn die Stellung der deutschen Fürsten wesentlich gestärkt worden war. 19 Dieser bestand bis zum 6. August 1806, an welchem Tage Kaiser Franz II. die römisch-deutsche Kaiserwürde niederlegte. Schon im Juli 1806 hatten sich freilich unter französischem Protektorat sechzehn west- und süddeutsche Fürsten zu einem Bund, dem Rheinbund, zusammengeschlossen, dem bis 1808 dreiundzwanzig weitere Mitglieder beitraten. Der Rheinbund löste Stern (Anm. 3), S. 493 mit der dort angegebenen üteratur. BVerfG E, Band 5, S. 204 ff. 18 Stern (Anm. 3), S. 429. 19 Golo Mann, Die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges, in : Propyläen Weltgeschichte, herausgegeben von Golo Mann unter Mitwirkung von Alfred Heuß und August Nitschke, Siebter Band, 1. Halbband, Berlin 1965, S. 227. 16

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sich 1813 wieder auf. 20 Nach dem Befreiungskrieg wurde mit der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815, später Teil der Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820, der Deutsche Bund als Staatenbund gegründet, zu dem nur die Bestandteile des ursprünglichen Deutschen Reichs gehörten, also nicht die fremdsprachigen Teile Österreichs und die östlichen Provinzen Preußens. Dagegen waren der König von Dänemark als Herzog von Holstein, der König der Niederlande als Großherzog von Luxemburg und seit 1839 als Herzog von Limburg und bis 1837 der König von GroßbritaJUlien als König von HaJUlover Mitglieder dieses Staatenbundes. Der Deutsche Bund brach auseinander und endete 1866 mit dem preußischösterreichischem Krieg (Vorfrieden von Nikolsburg vom 26. Juli 1866).21 Ein noch während des Deutschen Bundes unternommener Versuch, einen deutschen Bundesstaat zu gründen, scheiterte. Die im Jahre 1848 gewählte Nationalversammlung trat am 18. Mai 1848 in Frankfurt am Main zusammen. Diese verabschiedete am 28. März 1849 eine "Verfassung des Deutschen Reichs" 22 (Pauls· kirchen-Verfassung). Die Zugehörigkeit Deutsch-österreichs blieb in der Schwebe. Die Verfassung von 1849 koilllte nicht in Kraft treten, wirkte sich aber stark auf weitere deutsche Verfassungen wegen ihres liberalen und demokratischen Gedankengutes aus. Sie kannte eine Reichsgewalt mit eigenen Kompetenzen. Die Glieder sollten ihre Staatlichkeit behalten. Der Reichstag sollte aus zwei Kammern bestehen: dem Staatenhaus, gebildet aus den Vertretern der deutschen Staaten, und dem Volkshaus, dessen Abgeordnete durch das Volk gewählt werden sollten. So hätten die Glieder an der Bildung des gesamtstaat· liehen Willens mitwirken köilllen. Nach der Auflösung des Deutschen Bundes schloß sich Preußen mit den anderen norddeutschen Staaten zu einem Bundesstaat zusammen. Nach dessen Verfassung vom 26. Juli 1866 koilllten die süddeutschen Staaten dem Norddeutschen Bund beitreten. Sie taten das als Verbündete im deutsch-französischen Krieg nach und nach während des Jahres 1870. Im Jahre 1871 erhielt dieser Bundesstaat den Namen "Deutsches Reich". Er gab sicham 16. April1871 seine Verfassung. Sie zeigte eine föderative Struktur. Das Reich hatte als Gesamt· staat Gesetzgebungsgewalt im Rahmen der ihm zugewiesenen Kompetenzen. Die Gesetzgebung wurde durch den Bundesrat als Vertretung der Gliedstaaten und dem vom Volk gewählten Reichstag ausgeübt. Reichsrecht ging dem Landesrecht vor. Es war ein vertikaler Finanzausgleich vorgesehen. Das Präsidium des Bundesstaates stand dem König von Preußen zu, der den Titel "Deutscher Kaiser" führte .23 20

1970, 21 22 23

Günter Dürig(Walter Rudolf, Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte , München

s. 1 ff.

Ebd., S. 11 ff. Ebd., S. 95 ff. Ebd., S. 15 3 ff.

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Nach der Revolution vom 9. November 1918 wurde die Reichsverfassung von 1871 durch die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung) abgelöst. Das Reich war nunmehr eine Republik mit einem Reichspräsidenten als Staatsoberhaupt. Als Vertretung des Volkes fungierte der Reichstag, als Vertretung der deutschen Länder der Reichsrat, so daß deren Mitwirkung an der Bildung des Gesamtstaates gesichert war. Die Verfassung kannte eine Kompetenzverteilung bei Gesetzgebung, in der Verwaltung und in der Justiz. Reichsrecht brach Landesrecht. Nach herrschender Meinung hatten die Länder Staatsqualität. 24 Indessen gab es auch Gegenmeinungen, wonach die Gewalt der Länder von der Reichsgewalt abgeleitet gewesen wäre. 25 Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten unter der Führung Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 wurde die Weimarer Reichsverfassung zwar formell nicht aufgehoben, aber durch verfassungsändernde und verfassungsdurchbrechende Gesetze so ausgehöhlt, daß das Deutsche Reich zu einem totalitären Einheitsstaat wurde. Die Abschaffung der Grundrechte 26 und die Beseitigung der Demokratie27 gingen einher mit der Eliminierung der föderativen Struktur des Reiches. 28 Die Hoheitsrechte der Länder gingen auf das Reich über, die Landesregierungen wurden der Reichsregierung unterstellt. In den Ländern übten Reichsstatthalter die Reichsgewalt aus. Der Reichsrat wurde abgeschafft. Das Großdeutsche Reich - also einschließlich des angeschlossenen Österreichs und der Sudetengebiete, nach 1939 auch des okkupierten Luxemburg, ElsaßLothringens und der eroberten Ostgebiete - wurde später in Reichsgaue eingeteilt, an deren Spitze die Gauleiter der Nazipartei als Reichsstatthalter standen. Der totalitäre Einheitsstaat, unterteilt in Territorien, war vollendet. 29

24 Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutsches Reichs vom 11.8.1919, Bad Hornburg v. d. H. 14 Nachdruck 1960, Erl. zu Art. 1, Ziffer 3 (S. 39), Erl. zu Art. 5 (S. 71 ). 25 Gerhard Anschütz (Anm. 24) erwähnt Triepel, Poetzsch-Heffter und Wittmayer. 26 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.2.1933 (RGBl. I, S. 83). 27 Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24.3.1933 (RGBI. I, S.141). Die Neubildung von Parteien wurde durch Gesetz vom 14.7.1933 verboten. Durch Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1.12.1933 wurde die NSDAP Staatspartei. 28 Gesetz über den Neuaufbau des Reichs vom 30.1.1934 (RGBl. I, S. 74), ergänzt durch das Reichstatthaltergesetz vom 30.1.1935. 29 Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs vom 1.8.1933 (RGBl. I, s. 747).

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Ill Die Nachkriegsentwicklung Das Wiederentstehen der deutschen Länder

Mit der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8./9. Mai 1945 war zwar das Deutsche Reich nicht untergegangen, aber nach der Festnahme des von Hitler zu seinem Nachfolger bestimmten Großadmirals Dönitz am 23. Mai 1945 ohne Organe und damit handlungsunfähig. 30 Am 5. Juni 1945 übernahmen die vier Hauptsiegermächte {Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland, Vereinigte Staaten von Amerika, UdSSR und Frankreich) die oberste Regierungsgewalt in Deutschland und teilten es bis zur Oder und westlichen Neiße in vier Besatzungszonen sowie das Gebiet von Groß-Berlin auf. Die oberste Gewalt wurde von den vier Oberbefehlshabern und zwar von jedem in seiner Besatzungszone und gemeinsam in den Deutschland als Ganzem betreffenden Angelegenheiten ausgeübt. Die vier Oberbefehlshaber bildeten den Alliierten Kontrollrat, der seine Beschlüsse nur einstimmig fassen konnteY Die Einstimmigkeit konnte schon bald kaum noch erreicht werden. Denn die politischen Differenzen zwischen den Westmächten einerseits und der Sowjetunion andererseits wirkten sich auf die Arbeit des Kontrollrats in steigendem Maße aus. Am 20. März 1948 mußte der Kontrollrat seine Tätigkeit -wie sich später zeigte: für immer - einstellen, nachdem der sowjetische Vertreter als seinerzeitiger Vorsitzender eine Sitzung des Gremiums verlassen und keine weitere einberufen hatte. Eine der Ursachen des Scheiterns des Kontrollrates waren die Meinungsunterschiede über den künftigen Aufbau deutscher Staatsorgane. Nach dem Protokoll der Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 32 - oft auch "Potsdamer Abkommen" genannt - sollte der Aufbau von unten nach oben erfolgen: "The administration in Germany should be directed towards the decentralisation of the political structure and the development of local responsibility." Wenn auch in der amtlichen deutschen übersetzung die Worte "Dezentralisation der politischen Struktur" verwendet werden, so kann doch davon ausgegangen wer30 So die herrschende Lehre: Vgl. Karl Doehring, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. 2 1980, S. 54; und die Rechtsprechung des BVerfG: Vgl. Leibholz u.a. (Anm. 8), Einführung Rdnr. 162. Eine Minderheit ist indessen der Ansicht, das Deutsche Reich sei durch debellatio oder durch dismembratio untergegangen; so Hans Kelsen und die Staatsrechtslehre der DDR: Autorenkollektiv, Staatsrecht der DDR, Lehrbuch, Berlin (Ost) 2 1984, S. 47. 31 Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der Obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands, Feststellung über das Kontrollverfahren in Deutschland, Feststellung über die Besatzungszonen in Deutschland, sämtlich vom 5.6.1945, Texte und Fundstellen in amtlichen Verkündigungsblättern bei: Dietrich Rauschning, Die Gesamtverfassung Deutschlands. Nationale und internationale Texte zur Rechtslage Deutschlands, Frankfurt a.M. 1962, S. 86,91 und 93. 32 Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin - Protocol of Proceedings (Potsdamer Abkommen). Texte bei Rauschning (Anm. 31), S. 95.

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den, daß hier Föderalismus als politisches Prinzip gemeint war. 33 Jedenfalls wurde so, wenn auch nicht einheitlich, verfahren. Eine zentrale deutsche Regierung sollte "bis auf weiters" nicht errichtet werden. Lediglich auf wirtschaftlichem Gebiet wurden zentrale (gesamt)deutsche Verwaltungsabteilungen mit unter dem Kontrollrat stehenden Staatssekretären erstrebt. Dazu kam es jedoch nicht. Das Potsdamer Protokoll brachte, wie die kurze Darstellung der geschichtlichen Entwicklung bis 1933 zeigt, kein neues Element in die deutschen Verfassungsverhältnisse. Der Föderalismus war seit der Paulskirchen-Verfassung bis zur Weimarer Reichsverfassung tragender Gedanke des Staatsaufbaus gewesen, bis das Ns-Regime den totalitären Einheitsstaat hervorbrachte.

1n den westlichen Besatzungszonen wurden nach und nach im Jahre 1946 Länder gebildet. Sie entsprachen nur zu einem Teil den Ländern der Weimarer Republik. Es waren dies in der amerikanischen Besatzungszone die Länder Freistaat Bayern, Baden-Württemberg (ab 1952, vorher Würrtemberg-Baden) und die zunächst zur französischen Besatzungszone gehörenden Länder Baden (Südbaden) und Württemberg-Hohenzollern), Hessen (Vereinigung des früheren Freistaates Hessen mit der früher preußischen Provinz Hessen, d.h. Kurhessen und Nassau), Bremen (ursprünglich zur britischen Besatzungszone gehörig), in der britischen Besatzungszone die Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen (gebildet aus den früheren Ländern Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe sowie der früher preußischen Provinz Hannover), Nordrhein-Westfalen (gebildet aus den nördlichen Regierungsbezirken der früher preußischen Rheinprovinz und der früher preußischen Provinz Westfalen) sowie die Freie und Hansestadt Harnburg, in der französischen Besatzungszone die Länder Rheinland-Pfalz (gebildet aus den südlichen Regierungsbezirken der früher preußischen Rheinprovinz, Teilen der früher preußischen Provinz Hessen und des früheren Freistaates Hessen sowie der früher bayerischen Pfalz), Baden (Südbaden) und WürttembergHohenzollern (beide später zu Baden-Württemberg vereinigt). Das Saarland war zunächst formell politisch unabhängig, aber wirtschaftlich mit Frankreich verbunden, und wurde 1956 Land der Bundesrepublik Deutschland. 1n der sowjetischen Besatzungszone wurden im Juni 1945 in der früher preußischen Provinz Mark Brandenburg (später kurz Brandenburg genannt) sowie in Mecklenburg (gebildet aus den früheren Ländern Mecklenburg-Schwerin und 33 Der Brite Michael Balfour (Viermächtekontrolle in Deutschland 1945 - 1946, Düsseldorf 1959, S. 290) verwendet den Begriff "decentralisation" im Sinne einer "Umgestaltung des Staates in eine Föderation". Indessen ist nicht auszuschließen, daß der sowjetischen Seite die Unterscheidung zwischen Föderalisierung und Dezentralisierung nicht geläufig war, weil die marxistisch-leninistische Staatslehre beides in Widerspruch zu einer Entwicklung im Sinne des demokratischen Zentralismus stehend sieht. Offenbar wußten das wiederum die Westmächte nicht. Es war daher wenig glücklich, daß sie sich auf die Verwendung des Begriffs "decen tralisation" statt "federalism" einließen.

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Mecklenburg-Strelitz sowie dem Teil der früher preußischen Provinz Pommern westlich der Oder, deshalb zunächst Mecklenburg-Vorpommern genannt) und in Sachsen, dem ein Teil der früher preußischen Provinz Niederschlesien zugeschlagen wurde, Militäradministrationen (SMA) eingerichtet. Nachdem die Truppen der Sowjetunion im Juli 1945 das ihnen zugesprochene Gebiet, welches von amerikanischen und britischen Streitkräften im Zuge von Kampfhandlungen erobert worden war, besetzt hatten, wurden auch in der früher preußischen Provinz Sachsen, die mit dem früheren Land Anhalt vereinigt wurde, und in Thüringen, bestehend aus dem 1920 gebildeten Land desselben Namens zuzüglich des ursprünglich zur früher preußischen Provinz Sachsen (seit 1815) gehörenden Regierungsbezirk Erfurt, SMA errichtet. Aus diesen militärischen Verwaltungseinheiten wurden 1946/1947 die Länder Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg gebildet. Nachdem die Länder schon meluere Monate bestanden hatten, erließ am 25. Februar 1946 der Kontrollrat das Gesetz Nr. 46 über die Auflösung Preußens. 34 Freilich hatte Preußen bereits mit der Schaffung des totalitären Einheitsstaates durch die Nationalsozialisten de facto sein Ende gefunden. 35 Das Gesetz Nr. 46 hatte aber de jure Bedeutung und war ein Zeichen daflir, daß die Alliierten zutreffend davon ausgingen, daß ein Staat erst untergeht, wenn ihm auch rechtlich ein Ende gesetzt ist. Die besondere Stellung der Stadt Groß-Berlin, die in vier Sektoren geteilt und unter eine aus Vertretern der vier Siegermächte zusammengesetzte Kommandantur gestellt war, und die Entwicklung dort kann nicht Gegenstand dieses Beitrages sein, da deren Problematik mit dem Föderalismus nichts zu tun hat. In allen vier Besatzungszonen waren damit die Voraussetzungen für eine föderative Struktur eines späteren gesamtdeutschen Staatsaufbaus geschaffen: die Existenz von Staaten (Ländern), die einmal Gliedstaaten werden konnten, mit vom Volk gewählten Parlamenten, mit Regierungen, welche von diesen gebildet und ihnen verantwortlich waren, und Landesverfassugen, auch wenn diese zu einem Teil erst nach 1949 beschlossen worden sind. In den Verfassungen war durchweg das Bekenntnis zu einem deutschen Gesamtstaat ausgesprochen, der freilich unterschiedlich bezeichnet wurde. Vor allem war in den Verfassungen ausdrücklich von einer Staatsgewalt die Rede, die vom Volk auszugehen hatte. An der Staatsqualität der Länder in den westlichen Besatzungszonen ist nicht zu zweifeln, auch wenn sie nicht souverän waren; denn die Oberste Ge34 Royal Institute of International Affairs (ed.), Documents on Germany under Occupation, 1945-1954, S. 210, zitiert nach Balfour (Anm. 33), S. 290. 35 Arnold Sywottek, Zur Einführung: Die Länderverfassungen der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in der verfassungspolitischen Tradition des Deutschen Reichs, in: Gerhard Braas, Die Entstehung der Länderverfassungen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1946/4 7, Köln 1987, S. 11 ff.

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walt blieb bei den alliierten Siegermächten. Auch für die in der sowjetischen Besatzungszone gebildeten Länder ist sie zu bejahen. In ihren Verfassungen bezeichnen sie sich durchweg als "Glieder" eines Gesamtstaates, der in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg und Brandenburg als "Deutsche Demokratische Republik", in Sachsen als "deutsche demokratische Republik" bezeichnet wurde. 36 Schon die Verwendung des Begriffs "Glied" kann darauf schließen lassen, daß damit "Gliedstaat" im Sinne des föderalistischen Prinzips gemeint war. In Brandenburg und Sachsen-Anhalt wurde der zunächst verwendete Begriff "Provinz" nach der Annahme der Landesverfassungen und der Auflösung Preußens durch den Begriff "Land" ersetzt - auch dies war ein Zeichen, daß bei den neuen Gebilden nicht an Selbstverwaltungskörperschaften gedacht wurde. Vor allem aber kann der Gebrauch des Begriffs "Staatsgewalt" auch in den fünf Verfassungen der Länder in der sowjetisch besetzten Zone 37 nur dann einen Sinn haben, wenn von einer Staatlichkeit ausgegangen wurde. Denn Selbstverwaltungskörperschaften können kein~ eigene Staatsgewalt haben, sondern es kann in ihnen nur eine vom Staat abgeleitete Gewalt geben. Freilich unterlag auch die Staatsgewalt in den Ländern der sowjetisch besetzten Zone der Obersten Gewalt der allüerten Siegermächte, insbesondere der des Oberbefehlshabers in dieser Zone. Es läßt sich freilich nicht verkennen, daß die SED schon damals wenig für einen föderativen Staatsaufbau übrig hatte und dazu neige, die Länder wie Gebietskörperschaften zu behandeln. 38 In diesem Zusammenhang erscheint auch der Hinweis wichtig, daß bei der gesamtdeutschen Konferenz der Ministerpräsidenten vom 6. bis 8. Juni 1947 in München kein Zweifel daran bestand, daß die Länder in allen vier Besatzungszonen gleichwertig und gleichberechtigt waren. Indessen gab es auch gravierende Unterschiede zwischen den Ländern in den westlichen Besatzungszonen einerseits und in der sowjetischen Besatzungszone andererseits. Ein Unterschied bestand darin, daß sich die westlichen Besatzungsmächte befleißigten, neutral gegenüber den sich in den Ländern entwickelnden neuen politischen Kräften zu sein. Sie bevorzugten keine bestimmte politische Partei und überließen die Regierungsbildung den in den Wahlen entstandenen 36 Art. 1 Abs. 1, 1. Halbsatz der Verfassung des Landes Thüringen vom 20.12.1946 (Regierungsblatt für das Land Thüringen, Teil I, S. 1); Art. 1 Abs. 1 der Verfassung der Provinz Sachsen-Anhalt vom 10.1.1947 (GBl. I, S. 9); Art. 1 Abs. 1 der Verfassung des Landes Mecklenburg vom 16.1.1947 (Regierungsblatt für Mecklenburg I, S. 1); Verfassung der Provinz Mark Brandenburg vom 6.2.1947 (Gesetz- und Verordnungsblatt der Provinzialregierung Mark Brandenburg, S. 45); Art. 1 Abs.1 Verfassung des Landes Sachsen vom 28.2.1947 (Gesetze/Befehle, Verordnungen, Bekanntmachungen, S. 103). Die Provinzen Sachsen-Anhalt und Brandenburg nahmen nach der Verabschiedung der Verfassungen die Bezeichnung "Land" an, womit sie auch dabei den anderen Ländern in der sowjetisch besetzten Zone gleichzogen. 37 Art. 3 Thüringen; Art. 2 Sachsen-Anhalt; Art. 2 Mecklenburg; Art. 2 Brandenburg; Art. 2 Sachsen (wie Anm. 36). 38 Braas {Anm. 35), S. 128.

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Mehrheiten, was zu einer Opposition durch die Minderheit führte. In der sowjetisch besetzten Zone dagegen bevorzugte die Besatzungsmacht eindeutig und mit Nachdruck eine bestimmte politische Partei: nämlich die, welche sich wie die herrschende Partei in der Sowjetunion zum Marxismus-Leninismus(-Stalinismus) bekannte, also zuerst die KPD, sodann nach deren Zusammenschluß mit der SPD die SED. Unter der Führung dieser Partei und unter dem Druck der Besatzungsmacht mußten sich die zugelassenen politischen Parteien zu einem Block zusammenschließen. Das wirkte sich auch auf die Bildung der Landesregierung aus. An ihnen waren unter der Vorherrschaft der SED alle politischen Parteien beteiligt. Das galt auch für die Länder, in denen die SED in halbwegs freien Wahlen nach getrennten listen nicht die Mehrheit erhielt (Sachsen-Anhale9 und Brandenburg). Eine Opposition gab es nicht. Die sowjetische Besatzungsmacht und die von ihr geförderte und auch gelenkte SED ließen sich von marxistisch-leninistischen Vorstellungen leiten. Für sie waren daher die in den Jahren 1945 bis 1947 geschaffenen verfassungsrechtlichen Verhältnisse, genannt "antifaschistisch-demokratische Ordnung", nur ein übergangsstadium zu einer sozialistischen Ordnung. Diese verlangt aber einen zentralistischen Staat. So war für die in der sowjetisch besetzten Zone herrschenden Kräfte auch die föderative Struktur nur ein übergang, auch wenn diese verfassungsrechtlich verankert war. IV. Das Entstehen der Bundesrepublik Deutschland

Die Differenzen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion über das Schicksal Deutschlands konnten auf einer Reihe von Konferenzen (London 1945, Paris 1946, Moskau 1947 und wieder London 1947)nicht beigelegt werden. Es ging dabei auch darum, wie das föderalistische Prinzip in einem künftigen deutschen Staate verwirklicht werden sollte. Die Westalliierten traten für eine starke Stellung der Länder ein; die Sowjetunion bevorzugte einen mächtigen Gesamtstaat. Infolge der Meinungsverschiedenheiten bahnten sich schon vor dem Entstehen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR getrennte Entwicklungen an. In Westdeutschland kam es auf Veranlassung der Besatzungsmacht zu einem wirtschaftlichen Zusammenschluß, zuerst der britisch und der amerikanisch besetzten Zone ab 1. Januar 1947 (Bizone). Im März 1948 wurde auch die französisch besetzte Zone einbezogen (Trizone). Das "Vereinigte Wirtschaftsgebiet" hatte in dem von den Landtagen gewählten Wirtschaftsrat und dem von den Landesregierungen gebildeten Länderrat Organe mit der Kompetenz zur Gesetzgebung auf wirtschaftlichem Gebiet. Die Gesetze bedurften je39 Wenn in Sachsen-Anhalt ein Nichtkommunist (Dr. Hübener, LPD) Ministerpräsident wurde, so hatte das auf den maßgebenden Einfluß der SED auf die Regierungstätigkeit keine Wirkung.

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doch zur Wirksamkeit der Zustimmung des "Bipartite Board", einem Kontrollorgan der Besatzungsmächte. Damit war noch kein staatliches Gebilde geschaffen, jedoch eine "Vorstufe zu einer umfassenden föderativen Gesamtstaatlichkeit" .40 Die drei Westmächte und die hinzugezogenen Beneluxstaaten kamen dann auf einer Konferenz in London vom 23. Februar bis 6. März 1948 (Sechsmächtekonferenz) überein, die Schaffung eines nur die Westzonen umfassenden Staates mit einer demokratischen und föderativen Verfassung vorzubereiten. Die elf Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder erhielten von den Militärgouverneuren entsprechende Richtlinien ("Frankfurter Dokumente"). Die elf westdeutschen Landtage wählten zur Ausarbeitung einer Verfassung den "Parlamentarischen Rat". Dieser entwarf eine Verfassung, die die Bezeichnung "Grundgesetz" erhielt, um die Vorläufigkeit der Staatsgründung zu betonen. Der erste Entwurf wurde von den Militärgouverneuren abgelehnt, weil er das föderalistische Prinzip nicht genügend beachtet hätte. Auch später gab es mit ihnen Erörterungen über diese Frage. Schließlich wurde die Endfassung des Grundgesetzes vom Parlamentarischen Rat verabschiedet und von den Militärgouverneuren, freilich mit Vorbehalten, genehmigt. Diese Vorbehalte bezogen sich auf die Geltung des Grundgesetzes in Berlin und darauf, daß sein Inkrafttreten von der Zustimmung von zwei Dritteln der Landtage abhängig gemacht wurde. Die Mehrheit der Landtage stimmte zu, nur der Freistaat Bayern lehnte ab. Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzesam 23. Mai 1949 war die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Die Bundesrepublik ist also nicht durch einen Vertrag zwischen Staaten entstanden, die dann Gliedstaaten des Bundes wurden; aber die Länder waren an deren Bildung maßgeblich beteiligt. Die Besatzungsmächte hatten kein Oktroi verftigt. 41 Das gilt auch für die föderative Struktur, wenn es auch in dieser Beziehung erforderlich wurde, Meinungsunterschiede zu überwinden. Aber auch hier kam es schließlich zu einer übereinstimmung. Zwar läßt sich nach Klaus Stern 42 kein genuin bundesstaatliches Konzept für den staatlichen Wiederaufbau ermitteln. Es ging um einen funktionsfähigen Bundesstaat. Weil aber die staatsrechtliche Theorie stets nur anhand konkreter Staatlichkeit entwickelt werden kann - darauf wurde schon oben hingewiesen -,hat die über vierzig Jahre hindurch bewährte Funktionsfähigkeit der Bundesrepublik zur Entwicklung der Theorie des Bundesstaates einen entscheidenden Beitrag geleistet. So braucht es keine Begründung dafür, daß die Bundesrepublik Deutschland die Merkmale eines Bundesstaates erfüllt. Sogar bei der Wahl des Staatsoberhauptes wird das föderalistische Prinzip beachtet. Denn der Bundespräsident wird 40 41 42

Otto Model/Carl Creifelds, Staatsbürgertaschenbu ch, München 9 1959, S. 33. So auch Stern (Anm. 3 ), S. 487. Ebd.. , S. 487.

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von der Bundesversammlung gewählt, die zur Hälfte aus von den Volksvertretungen der Länder gewählten Mitgliedern besteht (Art. 54 GG), nicht wie nach der Weimarer Reichsverfassung der Reichspräsident unmittelbar vom Volke. Das bedeutet nicht, daß die Konkretisierung des föderativen Strukturprinzips im Grundgesetz unveränderlich ist. Eine Änderung ist bereits mit dem Einigungsvertrag (Art. 4, Ziffer 3) vorgenommen worden. Die Vertretung der Länder im Bundesrat wurde neu geordnet. Die Länder mit mehr als sieben Millionen Einwohnern entsenden statt fünf jetzt sechs Vertreter in dieses Gremium (Art. 51 Abs. 2 n.F.). Die Gelegenheit des Beitritts von fünfmittelgroßen Ländern wurde genutzt, um den beiden großen Ländern NordrheinWestfalen und Bayern eine größere Vertretung einzuräumen. Der neue Schlüssel sollte dem Größenverhältnis unter den Ländern gerechter werden, als es der alte war. über das Motiv und das Ergebnis läßt sich streiten. Eine weitere Entwicklung in Richtung einer Stärkung des Föderalismus steht bevor. In Art. 5 des Einigungsvertrages empfahlen die Regierungen der beiden Vertragsstaaten den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschland, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, darunter insbesondere in bezug auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern entsprechend dem Gemeinsamen Beschluß der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990. Es geht dabei vor allem um eine Änderung des Finanzausgleichs zugunsten der Länder.

V. Die Schaffung der DDR

In der sowjetischen Besatzungszone hatte die Besatzungsmacht schon am 27. Juli 1945, also noch während der Potsdamer Konferenz, "Deutsche Zentralverwaltungen" errichtet, hauptsächlich für wirtschaftliche Bereiche, aber auch ftir Volksbildung, Justiz, Umsiedlerund später für Inneres (Polizei). Diese hatten anfangs keine Weisungsbefugnisse gegenüber den Ländern, sondern nur die Funktion der Beratung für die oberste sowjetische Besatzungsbehörde (SMAD). Später wurde ihnen die Kompetenz auf Koordinierung von Maßnalunen der Länder gegeben. Sodann erhielten sie auch die Vollmacht, in Finanz-, Wirtschafts- und Kulturfragen Weisungen zu erteilen, jedoch nicht aus eigenem Recht, sondern unter Bindung an die Besatzungsmacht und unter Verantwortlichkeit ihr gegenüber. Am 4. Juni 1947 bildete die SMAD die "Deutsche Wirtschaftskommission" (DWK) aus den Vorsitzenden der Zentralverwaltungen, die ftir wirtschaftliche Bereiche zuständig waren, sowie den Vorsitzenden des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) und der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB). Außerhalb blieben die Verwaltungen des Inneren, für Volksbildung und Justiz. Die DWK sollte die Grundlagen für eine Wirt-

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Schaftsplanung in der sowjetisch besetzten Zone entwickeln. Am 12. Februar 1948 erhielt die DWK die Kompetenz, für ihren Zuständigkeitsbereich Normen zu setzen, und ihre Zusammensetzung wurde verändert. Am 27. November 1948 wurden in sie von den Landtagen gewählte sowie von den politischen Parteien und den Massenorganisationen benannte Mitglieder aufgenommen. Die DWK und die deutschen Verwaltungen des Inneren, für Justiz sowie für Volksbildung bildeten mit ihren Apparaten den Kern der Verwaltung der späteren DDR und waren Vorläufer ihrer Regierung. 43 An der Schaffung der DDR wurden die Länder in der sowjetisch besetzten Zone nicht beteiligt. Sie wurde in einem sehr fragwürdigen Verfahren errichtet. Dabei spielte die sogenannte Volkskongreßbewegung äußerlich eine zentrale Rolle. Sie war von der sowjetischen Besatzungsmacht in Szene gesetzt, wobei "sich die Sowjetunion jedoch im Hintergrund hielt und ausschließlich deutsche politische Kräfte zur Ausflihrung bestimmt hatte". 44 Die Volkskongreßbewegung sollte in allen vier Besatzungszonen wirken. Erfolg konnte die Aktion jedoch nur in der Zone haben, in der die Kommunisten unter Anleitung der Besatzungsmacht das Sagen hatten. Der Versuch der UdSSR, nunmehr mit Hilfe deutscher Politiker ihren Stan.dpunkt in der Deutschlandfrage, den sie auf den erwähnten Konferenzen der Alliierten nicht hatte durchsetzen können, zum Erfolg zu bringen, mußte scheitern, weil in den westlichen Besatzungszonen die Unterstützung trotz des Einsatzes für die verlockende Losung "Für Einheit und gerechten Frieden" versagt blieb. Die Volkskongreßbewegung war keine Volksbewegung, wie sie im Jahre 1989 zum Sturz des SED-Regimes führte. Sie manifestierte sich in drei "Volkskongressen" (6. und 7. Dezember 1947, 18. März 1948 und 29./30. Mai 1948) mit jeweils über 2000 Teilnehmern. Von ihnen waren die beiden ersten von den Parteien und Massenorganisationen unter der "Führung" der SED aus der sowjetischen Besatzungszone sowie aus den westlichen Besatzungszonen nur von der KPD und wenigen Nichtkommunisten beschickt worden. Die Vertreter der Ostzone dominierten daher. Der "Dritte Deutsche Volkskongreß" kam unter merkwürdigen Umständen zustande. Am 15. und 16. Mai 1949 wurde der wahlberechtigten Bevölkerung der sowjetisch besetzten Zone eine Einheitsliste vorgelegt, zu der nur "Ja" oder "Nein" erklärt werden durfte. Diese enthielt zwar Kandidaten aus allen zugelassenen Parteien und Massenorganisationen, die SED stellte aber die meisten Vertreter. Auch die anderen waren nur mit Zustimmung der SED auf die Einheitsliste gekommen.45 Die Stimmabgabe war nicht geheim. Als sich am ersten Tage herausge43 Siegfried Mampel, Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Text und Kommentar, Frankfurt a.M. 2 1982, Er!. zur Präambel, Rdnr. 23 und 33. 44 Andrea Zieger/Gottfried Zieger, Die Verfassungsentwicklung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands/DDR von 1945 bis Sommer 1952 (Schriften zur Rechtslage Deutschlands, Band 16), Köln/Berlin/Bonn/München 1990, S. 121. 45 Siegfried Mampel, Die Entwicklung der Verfassungsordnung in der Sowjetzone

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stellt hatte, daß ein großer Teil der Wähler nicht mit "Ja" gestimmt hatte, wurden grobe Fälschungen begangen - eine Methode, die bis zum Sturz des SEI>-Regimes angewendet wurde. Trotzdem hatten sich nur 66,1% der Stimmen zur Einheitsliste bekannt, im Ostteil Berlins waren es sogar nur 51 ,6 %. So war der "Dritte Deutsche Volkskongreß" ebensowenig wie seine Vorgänger durch den Willen des Volkes legitirniert. 46 Der "Dritte Deutsche Volkskongreß" wählte am 30. Mai 1949 ein kleineres Gremium, das sich "Deutscher Volksrat" nannte. Dieser erklärte sich am 7. Oktober 1949 zum Parlament (Provisorische Volkskammert7 und setzte die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik in Kraft.48 Die Verfassung hatte einen Entwurf der SED aus dem Jahre 1946 zur Grundlage. Im Laufe längerer Beratungen mit den anderen Parteien mußte die SED Konzessionen machen. Die Verfassung von 1949 erhielt Komprornißcharakter. 49 Der Entwurf war ftir eine Verfassung ftir ganz Deutschland gedacht. Jedoch wurde bei der Verabschiedung an keiner Stelle dem Faktum Rechnung getragen, daß sie nur für den östlichen Teil Deutschlands wirksam werden konnte. Die DDR-Verfassung von 1949 änderte am Charakter der Länder nichts. Sie bestätigte ihn sogar, indem sie der DDR eine föderative Struktur gab. Der Entwurf der SED hatte noch davon gesprochen, daß die Republik sich in Länder "gliedern" sollte. Obwohl auch die Väter des Bonner Grundgesetzes ebenfalls von "Gliederung des Bundes in Länder" sprachen, die eine Bestandsgarantie gegen Verfassungsänderungen erhielt (Art. 79 Abs. 3 GG), bestanden bei den nichtkommunistischen Parteien in der sowjetisch besetzten Zone gegen die Formulierung im SED-Entwurf Bedenken, weil sie nach deren Meinung der Eigenständigkeit der Länder nicht entsprach. Im Wege des Kompromisses wurde erreicht, daß es im Text hieß, die Republik "baue" sich auf den deutschen Ländern auf (Art. 1 Abs. 1, 2. Halbsatz). So wurde deutlicher, daß die Länder historisch vor der DDR entstanden waren. Die Länder wurden mit Gründung der DDR nicht zu hochpotenzierten Selbstverwaltungskörperschaften; sie waren als konstitutive Elemente der Republik ausgewiesen. 50 Wenn ferner "Deutschland", auch hier ohne Beschränkung auf die sowjetisch besetzte Zone, als eine "unteilbare Republik" bezeichnet wurde (Art. 1 Abs.l, 1. Halbsatz), bedeutete Deutschlands von 1945 - 1963, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Band 13, S. 453ff., hier 5.. 508- 510; Zieger (Anm. 44), S. 122ff. 46 Siegfried Mampel, Die Verfassung der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Text und Kommentar, Frankfurt a. M./Berlin 2 1966, S. 9 (mit weiteren Nachweisen). 47 Gesetz über die Konstituierung der Provisorischen Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik vom 7.10.1949 (GB!. S. 1). 48 Gesetz über die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7.10. 1949 (GB!. S. 4). 49 Mampel (Anm. 46), S. 14. so Ebd., S. 37 f.

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das ein Austrittsverbot flir die Länder. Die Republik hatte alle Angelegenheiten zu entscheiden, die ftir den Bestand und die Entwicklung des "deutschen Volkes" in seiner Gesamtheit wesentlich wären; alle übrigen Angelegenheiten sollten von den Ländern selbständig entschieden werden (Art. 1 Abs. 2). Zu letzteren kann die innere Ordnung der Länder gerechnet werden. Das lief auf eine Verfassungsautonomie hinaus, die allerdings insofern beschränkt war, als die Verfassung der DDR für die Landesverfassungen Homogenität vorschrieb (Art. 109). Aus Art. 1 Abs. 1, 2. Halbsatz und Art. 1 Abs. 2 kann sogar auf eine mittelbare Bestandsgarantie ftir die föderative Struktur der DDR geschlossen werden. Die Republik hatte keine Dispositionsgewalt über die Länder. Die Verfassung legte nicht nur den Grundsatz der Kompetenzverteilung in Art. 1 Abs. 2 fest. Diese war auch im einzelnen geregelt (Art. 111 und 112). Danach konnte die Republik auf allen Sachgebieten einheitliche Gesetze erlassen. Sie sollte sich aber auf eine Grundsatzgesetzgebung beschränken, wenn hierdurch dem Bedürfnis nach einheitlicher Regelung Genüge getan war. Die Länder hatten das Recht zur Gesetzgebung, soweit die Republik von ihrem Recht auf Gesetzgebung keinen Gebrauch machte. Im Zweifel bestand also die Zuständigkeit der Republik. Im einzelnen waren die Gebiete aufgezählt, auf denen die Republik das Recht der ausschließlichen Gesetzgebung hatte. Eine ausschließliche Kompetenz zur Gesetzgebung bestand für die Länder nicht. Somit war die Gesetzgebungskompetenz zugunsten der Republik verteilt, ohne jedoch die der Länder auszuschließen. Ein ungeschriebener Verfassungssatz über die "Bundestreue" konnte sich nicht entwickeln. Die Mitwirkung der Länder an der gesamtstaatlichen Willensbildung war durch die Länderkammer gesichert (Art. 71-80), deren Abgeordnete durch die Landtage zu wählen waren. Sie hatte das Recht auf Gesetzesinitiative. Gegen Gesetzgebungsbeschlüsse der Volkskammer konnte sie Einspruch erheben. Dieser wurde aber hinfa.Ilig, wenn die Volkskammer ihren Beschluß nach erneuter Beratung aufrechterhielt (Art. 78 und 84}. Die Stellung der Länderkammer war also nicht sonderlich stark, wenn auch nicht auf eine Anhörung beschränkt. Der Vorrang des gesamtstaatlichen Rechts war durch den Satz gesichert: "Gesamtdeutsches Recht geht dem Recht der Länder vor," (Art. 114). Die Finanzordnung wurde durch den Verfassungssatz geregelt, demzufolge bei der Gesetzgebung auf dem Gebiete des Finanz- und Steuerwesens die wirtschaftliche Lebensfahigkeit der Länder (sowie der Kreise und Gemeinden) gewährleistet sein mußte (Art. 113}. Das hätte bei gutem Willen zu einem vertikalen und horizontalen Finanzausgleich führen können, wenn man berücksichtigt, daß grundsätzlich nur der Republik die Abgabenhoheit zustand und sie Abgaben nur zur Deckung ihres eigenen Bedarfs erheben durfte, die Länder sich also eigene Einnahmen aus Abgaben hätten verschaffen können (Art. 119 Abs. 2 und 3). 8 Fischer jHaendcke-Hoppe-Arndt

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Die Exekutive war grundsätzlich Sache der Länder, soweit nicht in der Verfassung und in den Gesetzen etwas anderes bestimmt war. Nur soweit ein Bedürfnis dazu bestand, durfte die Republik durch Gesetz eigene Verwaltungen einrichten (Art. 115). Die Gerichtsbarkeit war mit Ausnahme des Obersten Gerichtshofes der Republik ebenfalls Ländersache (Art. 126). Damit erfüllte die DDR damals die Merkmale einer föderativen Struktur. lndessen war deren Konkretisierung zu Lasten der Länder anders gestaltet als in der Bundesrepublik Deutschland. So verwundert es nicht, daß es schon nach der Gründung der DDR umstritten blieb, ob das Republik-Länder-Verhältnis so gestaltet war, daß noch von einer Staatsqualität der Länder ausgegangen werden konnte. Daß die der SED angehörenden Rechtswissenschaftler das verneinten, verwundert nicht, da sie den Föderalismus grundsätzlich ablehnten und daher auch die Verfassung von 1949 entsprechend auslegten. Auch "bürgerliche" Unitaristen, von denen es in der DDR einige gab, waren dieser Meinung. Jedoch gab es auch in der Bundesrepublik Stimmen überzeugter Föderalisten wie z.B. von Theodor Maunz, 51 welche diese Ansicht vertraten. Wenn man bedenkt, daß sogar - wie oben dargelegt - vereinzelt die Ansicht geäußert wurde, selbst die Weimarer Reichsverfassung hätte keinen bundesstaatliehen Aufbau besessen, so ist das zwar nicht erstaunlich, zeigt aber, welch strenge Maßstäbe zuweilen an eine föderative Struktur angelegt werden. Demgegenüber ist festzustellen, daß eine andere Konkretisierung dieser Struktur, wie sie die Bundesrepublik aufweist, diese nicht in Frage stellt. 52 Um der spezifischen Konkretisierung in der DDR Rechnung zu tragen,hat der Verfasser dieses Beitrages schon vor 27 Jahren von "föderalistischen Zügen" der DDR-Verfassung gesprochenY Auch solche stehen der Annahme eines Einheitsstaates entgegen. In dubio pro foederatione. VL Das Schicksal der Länder in der DDR nach 1950

Indessen haben schon kurz nach der Gründung der DDR die sie beherrschenden politischen Kräfte den in der Verfassung gefundenen Kompromiß zugunsten ihrer Vorstellungen und Ziele gebrochen. Das begann mit der nach der Bildung der DDR falligen Wahl zur Volkskammer. Die SED forderte eine Wahl nach einer Einheitsliste, bei der die Plätze nach einem Verteilerschlüssel verge51 Wohl zuerst in der 10. Auflage seines Werkes über "Deutsches Staatsrecht. Kurzlehrbuch", München 1961, S. 321. 52 Zu dieser Kontroverse vgl. Mampel (Anm. 45), S. 516. 53 Ebd., S. 511; ders. (Anm. 43), Er!. zur Präambel, Rdnr. 37; Zieger (Anm. 44), sprechen von "Föderalismus" (S. 91) bzw. "föderalistischem" Aufbau der Verfassung von 1949 (S. 36). Nach der Wende kann auch Wolfgang Bernet (Universität Jena) von "gewissen föderalistischen Zügen der DDR-Verfassung von 1949" sprechen: Zur landesund kommunalrechtlichen Entwicklung in der DDR - verfaßt im Juli 1990, in: Recht in Ost und West, 1991, S. 36.

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ben werden sollten - mit der Folge, daß die Kandidaten in der Reihenfolge der Uste Abgeordnete wurden. Nach dem Verteilerschlüssel sollte die SED die weitaus stärkste Fraktion bekommen und mit ihren Parteigängern aus den Massenorganisationen sogar die Mehrheit. Die Uberaldemokratische Partei und die Christlich-Demokratische Union bestanden zunächst auf einer Wahl, wie sie die Verfassung vorschrieb ("Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts auf die Dauer von vier Jahren gewählt", Art. 51 Abs. 2). Unter dem Druck der Besatzungsmacht mußten die widerstrebenden Parteien schließlich nachgeben und in die Einheitslistenwahl einwilligen. 54 Jedoch währte der Widerstand immerhin so lange, daß die ersten Volkskammerwahlen mit dem gewünschten Ergebnis erst am 15. Oktober 1950 stattfmden konnten. Die Einheitslistenwahl war eindeutig verfassungswidrig. 55 Mit Hilfe der so durch Manipulation zugunsten der SED zusammengesetzten Volkskammer konnte diese Partei mit Unterstützung der hinter ihr stehenden stalinistischen Besatzungsmacht die Entwicklung unbeschränkt vorantreiben. So wurde die Verfassungswirklichkeit nicht dem Verfassungsrecht angeglichen, sondern die Realität geriet immer mehr in Gegensatz zum Verfassungstext.56 Schon wenige Monate nach der Einheitswahl wurde ein Angriff gegen das Eigentum der Länder unternommen. Nach den Landesverfassungen waren die Länder Subjekte von Eigentum (Eigentümer), teils von "fiskalischem" Eigentum, also von Eigentum, das herkömmlich Landeseigentum war, größtenteils aber von Eigentum, das ihnen durch "besatzungshoheitliche" Maßnahmen (Enteignungen durch Befehle der sowjetischen Besatzungsmacht)57 zugefallen war. Subjekt des "Volkseigentums" war also zuerst keineswegs die DDR, sondern die Länder, wie deren Verfassungen -wenn auch mit unterschiedlichem Wortlaut, jedoch sinngleich - festgelegt hatten. Die Länder waren berechtigt, unter den in ihren Verfassungen festgelegten Bedingungen über das Volkseigentum zu verfügen, das heißt: es sogar zu veräußern. 58 Sie hatten auch Verwaltungen für die Objekte des ihnen zustehenden Volkseigentums. Das änderte sich bereits im Dezember 1950 durch eine Verordnung mit der harmlos erscheinenden Bezeichnung "über die Reorganisation der volkseigenen Industrie" .59 Die Mampel (Anm. 46), S. 245. Siegfried Mampel, Volkssouveränität und die Bildung der Volksvertretungen in der SBZ, in: Recht in Ost und West, 1958, S. 47 ff. 56 Martin Drath, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit in der sowjetischen Besatzungszone, Bonn/Berlin 4 1956. 57 Einzelheiten bei Mampel (Anm. 43), Erl. zur Präambel Rdnr. 29. 58 Art. 60, 51 Thüringen; Art. 78, 79 Sachsen-Anhalt; Art. 80 Mecklenburg; Art. 51 Brandenburg; Art. 75 Sachsen (wie Anm. 36). 59 Verordnung über die Reorganisation der volkseigenen Industrie vom 22.12.1950 (GBl. S. 1233); in Berlin (Ost) im Wege der Parallelgesetzgebung: Verordnung über die Reorganisation der volkseigenen Industrie in Berlin vom 23.6.1951 (VOBl. S. 315). 54

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volkswirtschaftlich bedeutendsten und größten volkseigenen Betriebe wurden aus den auf Länderebene bestehenden Vereinigungen (VVB) herausgelöst und unmittelbar Fachministerien der Republik unterstellt. Die übrigen Betriebe wurden ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen zu neuen Vereinigungen auf der Ebene der Republik zusammengeschlossen und cie Vereinigungen auf Landesebene aufgelöst. Damit wurde den Ländern jede Einflußnahme auf die Industriebetriebe genommen. Formal blieben sie jedoch Subjekte von Volkseigentum. Ein weiterer Verstoß gegen das föderalistische Prinzip war die Schaffung des einheitlichen Haushaltsplans für die Republik, die Länder sowie die Kreise und Gemeinden.60 Zwar stand der Republik grundsätzlich die Abgabenhoheit zu, wie erwähnt, aber der einheitliche Haushaltsplan behandelte die Länder wie Gebietskörperschaften ohne Eigenständigkeit. Der schwerste Schlag gegen die Länder wurde am 27. Juli 1952 unternommen. An diesem Tage wurde den Ländern durch Republikgesetz aufgegeben, ihre Gebiete neu einzuteilen und jeweils mehrere Kreise in Bezirke zusarnrnenzufassen.61 Die Abgrenzung der Kreise bzw. der Bezirke sollte so erfolgen, daß sie den wirtschaftlichen Erfordernissen entspreche und die Durchführung der staatlichen Aufgaben, insbesondere die wirksame Anleitung und Kontrolle der staatlichen Organe in den Gemeinden und Kreisen, gewährleistet sei. Der Ministerrat der DDR wurde beaufgragt, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, das heißt, er gab die neue Einteilung vor. So sollten die Einheitlichkeit des Aufbaus und "die fortschreitende Demokratisierung" der Arbeitsweise der "örtlichen Organe der Staatsmacht" gewährleistet werden. Die Länder erließen am 27. Juli 1952 entsprechende Gesetze. 62 Seitdem bestanden die 14 Bezirke: Schwerin, Rostock, Neubrandenburg, Potsdam, Frankfurt, Cottbus, Magdeburg, Halle, Erfurt, Gera, Suhl, Dresden, Leipzig, Karl-Marx-Stadt. Die bisher von den Landesregierungen wahrgenommenen Befugnisse gingen auf die Organe dieser Bezirke über. Die Bezirke führten zunächst hinter ihrer Bezeichnung den Namen des Landes, auf dessen Gebiet sie gebildet waren, fort. Indessen verschwand der in Klammern gesetzte Ländername in der Praxis schon einige Wochen nach der Neuordnung. 63 De facto waren die Länder damit beseitigt, jedoch nicht de jure. Schon die Bezeichnung des Republikgesetzes und der Ländergesetze 64 weisen daraufhin. 60

Gesetz über die Reform des öffentlichen Haushaltswesens vom 15.12.1950 (GBI.

s. 1201).

61 Gesetz über die weitere Demokratisierung des Ausbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der Deutschen Demokratischen Republik vom 27.7. 1952 (GBJ. S. 613). 62 GBI. des Landes Brandenburg 1952, I S. 15; RegBI. für Mecklenburg 1952, S. 6; GVBI. des Landes Sachsen 1952, I S. 325 ; Gesetz- und Amtsblatt des Landes SachsenAnhalt 1952, S. 213; RegBI. des Landes Thüringen 1952, I S. 177. 63 Mampel (Anm. 46), S. 368 f.

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Auch ist in diesen Gesetzen nicht von einer Abschaffung oder Umbildung der Länder in Bezirke, sondern von einer Neugliederung ihrer Gebiete die Rede. Auch blieben der Art. 1 Abs. 1, 2.Halbsatz (Aufbau der Republik auf den deutschen Ländern) sowie der ganze Abschnitt "VI Republik und Länder" (Art. 109-116) bis zur Inkraftsetzung der neuen Verfassung, der "sozialistischen Verfassung" vom 9. April 196865 , in Geltung. Auch die Länderkammer blieb formell in Funktion, bis sie 1958 ersatzlos abgeschafft wurde. 66 In diesem Zusammenhang verdient eine Äußerung des damaligen Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, auf der 2. Parteikonferenz der SED, welche der Neugliederung vorausging, höchste Beachtung. Er führte damals aus: "Wir schlagen daher vor, unter grundsätzlicher Aufrechterhaltung der Länder die Arbeit der Landtage und Regierungen innerhalb der fünf Landesterritorien zu verteilen auf 14 kleinere Bezirke." 67 Will man dem damaligen Ministerpräsidenten nicht Unglaubwürdigkeit unterstellen, so ist dieser Satz doppelt interessant. Es spricht zum einen für einen gewissen Respekt vor der föderativen Struktur der DDR, wenn darin von der grundsätzlichen Aufrechterhaltung der Länder gesprochen wird. Zum anderen sollten nicht das Territorium der Republik, sondern die Länderterritorien neu gegliedert werden. Auch das ist als Rücksichtnahme auf die Existenz der Länder aufzufassen. Freilich reichte diese dann doch nicht aus, um davon abzusehen, durch Gesetzesbefehl der Republik die Neugliederung aller Länder, also doch der gesamten Republik, vorzunehmen. Schon das war ein Verfassungsbruch, der nur wegen des Fehlens einer Verfassungsgerichtsbarkeit 68 nicht aufgehalten werden konnte. Vollendet wurde er dann durch die Streichung der Ländernamen hinter den Bezirksbezeichnungen. Die Bezirke (sowie die Kreise und Gemeinden) wurden hinfort nicht einmal als sich selbstverwaltende Gebietskörperschaften behandelt, sondern als Territorien des Einheitsstaates DDR, die von staatlichen Organen verwaltet wurden. Diese wurden formell nicht von zentralen Organen berufen, sondern nach Einheitslisten von den in den Territorien wohnenden Bürgern "gewählt". Selbst 64 Z.B. Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe im Lande Sachsen-Anhalt vom 25.7.1952 (Gesetz- und Amtsblatt s. 213). 65 GBI. 1 S. 199. 66 Gesetz über die Auflösung der Länderkammer der Deutschen Demokratischen Republik vom 8.12.1958 (GBI. I S. 867). 67 Protokoll der 2. Parteikonferenz der SED, Berlin (Ost) 1952, S. 391. 68 Schon bei den Beratungen über die Verfassung von Sachsen-Anhalt hatte sich Walter Ulbricht, damals Mitglied des Landtages von Sachsen-Anhalt, gegen die von der CDU gewünschte Errichtung eines Staatsgerichtshofes zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und anderer Rechtsnormen gewandt: Walter Ulbricht, Die Entwicklung des deutschen volksdemokratischen Staates 1945-1958, Berlin (Ost) 1958,

s. 110.

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wenn man die Länder ftir hochpotenzierte Selbstverwaltungskörperschaften halten würde, würde ein Verfassungsbruch vorliegen. Apologetisch sind die Äußerungen schon in der ersten Auflage des amtlichen Lehrbuchs "Staatsrecht der DDR" zu werten, denen zufolge dieser Staat von Anfang an ein Einheitsstaat gewesen sei und den verfassungsrechtlichen Regelungen der demokratische Zentralismus als Entwicklungs-, Leitungs- und Organisationsprinzip zugrunde gelegen hätte. 69 Denn diese Behauptungen stammen erst aus dem Jahre 1977, als dieses Prinzip dem Aufbau des sozialistischen Staates die Struktur gegeben hatte. Im Jahre 1949 war es als Forderung sicher schon Bestandteil marxistisch-leninistischen - man kann für diese Zeit hinzufügen: stalinistischen - Staatsdenkens, aber bei der Verfassungsgesetzgebung im Jahre 1949 wurde es nach außen noch nicht vertreten, geschweige denn, daß es damals durchsetzbar gewesen wäre. Die SED mußte damals in einen Kompromiß einwilligen, den sie, wie sich nunmehr herausstellte, nicht einhalten wollte. Richtig ist dagegen die Darstellung in der zweiten Auflage des genannten Lehrbuches, derzufolge nicht übersehen werden dürfe, daß in den Verfassungen der Länder entsprechend dem damaligen Entwicklungsstand noch Rudimente "bürgerlicher" Staatsauffassungen nachgewirkt hätten, 70 wenn sich auch in ihr die Sicht marxistisch-leninistischer Rechtswissenschaftler widerspiegelt. Diese Darstellung trifft auch ftir die Verfassung von 1949 zu, denn diese enthielt nur wenige Elemente, die weiter in Richtung des Sozialismus wiesen, wie z.B. den Verfassungssatz, demzufolge alle Fraktionen mit mindestens 40 Mitgliedern an der Regierungsbildung zu beteiligen waren (Art. 92 Abs. 2 Satz 2), wie nur in den Ländern praktiziert worden war. Soweit feststellbar wurde der Begriff des demokratischen Zentralismus in der Uteratur erstmals 1954 verwendet,71 in der Gesetzessprache tauchte er erst im Jahre 1957 auf. 72 Nach der Wende im Jahre 1989 zeigte sich, daß es auch in der ehemaligen DDR vereinzelt Rechtswissenschaftler gegeben hat, welche die Neugliederung des Jahres 1952 für verfassungswidrig hielten, z. B. Wolfgang Bernet (Universität Jena), nach dem es sich bei ihr "im Grunde um eine Beugung der DDR-Verfassung handelte". 73 In einer Broschüre mit dem Text der Verfassung des Landes Sachsen von 1947, mit einer kunen Kommentierung 1990 veröffentlicht, 74 69 Autorenkollektiv, Das Staatsrecht der DDR. Lehrbuch, herausgegeben von der Akademie flir Staats- und Rechtswissenschaft der DDR, Berlin (Ost) 1977, S. 71. 70 Staatsrecht der DDR (Anm. 69), zweite Auflage 1984, S. 64. 71 Hans-Ulrich Hochbaum, Die Rechtsstellung der örtlichen Organe der Staatsmacht in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1954, S. 35. 72 § 5 Abs. 1 Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsmacht vom 17.1.1957 (GBI. S. 65 ); vgl. auch Siegfried Mampel, Herrschaftssystem und Verfassungsstruktur in Mitteldeutschland, in : "Abhandlungen zum Ostrecht", Bd. V, Köln 1968, S. 125. 73 Bernet (Anm. 53), S. 36. 74 Klaus Gläß, Sachsen und seine Verfassung, in: Land Sachsen. Verfassung von 194 7, Aktuelle Kommentare, Leipzig 1990, S. 48.

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wurde von Klaus Gläß (Universität Leipzig) die Ansicht vertreten, die Auflösung des Landes Sachsen, wie aller anderen Länder der DDR, sei nach Art. 110 der DDR-Verfassung von 1949 erfolgt. Diese Ansicht ist unzutreffend. Die genannte Verfassungsnorm regelte lediglich die Änderung des Gebietes von Ländern und die Neubildung von Ländern, wie etwa auch Art. 29 GG, dieser freilich unter anderen festgelegten Bedingungen und Zielen. Auch bei weiter Auslegung rechtfertigt er nicht die Beseitigung der Länder als eigenständige Gebilde in ihrer Gesamtheit. Der Verfasser scheint sich seiner Sache auch nicht ganz sicher zu sein. Denn er schließt den betreffenden Abschnitt mit dem Satz: "War diese ,Verpflichtung' zur Neugliederung aus der ehemaligen DDR ein Staatsstreich der SED?" Auf andere Äußerungen über den Fortbestand der Länder de jure nach der Wende wurde vom Verfasser dieses Beitrages bereits in anderem Zusammenhang hingewiesen. 75 Eine andere Frage ist, ob nicht durch Art. 47 der DDR-Verfassung von 1968/1974 den Ländern verfassungsrechtlich ein Ende bereitet wurde. Dieser verankerte den demokratischen Zentralismus als tragendes, die Souveränität des "werktätigen" Volkes in kritischer Sicht der Suprematie der SED-Führung, verwirklichendes Prinzip des Staatsaufbaus in der Rechtsverfassung. Wie schon früher an anderer Stelle ausgeft.ihrt, 76 hängt die Antwort davon ab, ob die DDR schon bei ihrer Gründung ein Einheitsstaat mit hochpotenzierten, sich selbst verwaltenden Gebietskörperschaften gewesen war oder eine föderative Struktur aufgewiesen hatte. Sie ist schon oben im Sinne der zweiten Alternative gegeben. Wenn aber die DDR eine föderative Struktur gehabt hat, so kann fraglich sein, ob durch die Verankerung des demokratischen Zentralismus als Prinzip des Staatsaufbaus in der formellen Rechtsverfassung die Länder de jure hätten weiter bestehen können. Eine Beseitigung de jure hätte zur Voraussetzung gehabt, daß die Länder zur Disposition des Verfassungsgebers gestanden hätten. Trotz des Fehlens einer Bestandsgarantie nach dem Muster des Art. 79 Abs. 3 GG ist das zu verneinen. Denn dem föderativen Strukturprinzip ist eine hohe Dignität zuzumessen. Selbst wenn man der Ansicht folgt, dem Volke könne keine Schranke als Verfassungsgeber gesetzt werden und mit Karl Doehring sogar nach dem Banner Grundgesetz dem Föderalismus eine geringere Stufe der Dignität zubilligen würde als den übrigen konstitutionellen Elementen der Demokratie in Deutschland, 77 so kann das wegen der Umstände, unter 75 So das Staatsarchiv Dresden ("Der Tagesspiegel" vom 20.2.1990) und der Rat der Stadt Schwerin ("Der Tagesspiegel" vom 10.3.1990), zitiert bei: Siegfried Mampel, Gedan· ken zu Verfassungsfragen, in: Staat und Recht, 1990, S. 447; und die ersten Entwürfe der Landesverfassungen von Thüringen und Sachsen-Anhalt, in deren Schlußbestimmungen die Verfassungen von 1946/47 aufgehoben werden sollten, was nur Sinn hat, wenn sie bis dahin flir in Kraft gehalten werden. Vgl. Siegfried Mampel, Das Ende der sozialistischen Verfassung, in: Deutschland Archiv, 1990, S. 1377. Keine derartige Klausel enthält der "Gohrischer Entwurf' flir eine Verfassung des Landes Sachsen. 76 Mampel (Anm. 75), S. 441. 77 Doehring (Anm. 30), S. 120 f.

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denen der Volksentscheid über die Annahme der sozialistischen Verfassung am 6. April 1968 durchgeführt wurde, nicht ins Feld geführt werden. Denn dieser wurde nach "volksdemokratischem" Muster unter Einsatz aller Propagandaund Druckmittel eines totalitären Staates, insbesondere der Repression durch den Staatssicherheitsdienst und der politischen Strafjustiz, abgehalten und kann daher nicht als eine echte Äußerung des Volkswillens gewertet werden. Die Berufung auf die nonnative Kraft des Faktischen78 kann nicht zu einem anderen Urteil führen. Denn von einer nach dem demokratischen Prinzip erforderlichen, freien Akzeptanz eines jahrzehntelangen verfassungswidrigen Zustandes konnte unter den Verhältnissen der DDR nicht gesprochen werden. Es handelt sich hier um eine sehr schwierige Frage. Bedenken gegen die hier vertretenen Auffassungen sind verständlich, können aber nicht durchschlagen. Letztlich sollte gelten: In dubio pro foederatione. V/1 Das föderalistische Prinzip nach der Wende in der DDR Im Verlauf der Wende im November 1989 verband sich bald der Ruf nach Freiheit und Demokratie mit der Forderung nach Wiederherstellung der Länder. Die demonstrierenden Volksmassen zeigten, wie für jeden am Fernsehschirm sichtbar, neben den schwarz-rot-goldenen Fahnen (ohne DDR-Emblem), Fahnen in den Landesfarben, so in Dresden und Leipzig weiß-grün flir Sachsen. In der Regierungserklärung des ersten Ministerpräsidenten der neuen Ära versprach Hans Modrow (damals noch SED) am 17. November 1989 vor der Volkskammer eine Reform des politischen Systems sowie eine Verwaltungsreform, ohne jedoch auf eine Abkehr vom Zentralismus ausdrücklich einzugehen.79 Aber in der Diskussion über die Regierungserklärung forderten Lothar de Maiziere (CDU) und Günter Hartmann (NDPD), über die Neugründung von Ländern nachzudenken. Seitdem gehörte der Gedanke einer föderativen Struktur einer erneuerten DDR zum Gemeingut aller politischen Parteien einschließlich der PDS. 80

Die überlegungen zu einer neuen DDR-Verfassung schlossen ausnahmslos die Wiederherstellung von Ländern ein. Nach dem im April1990 veröffentlichten Verfassungsentwurf des "Runden Tischs" sollte die DDR aus den Ländern "bestehen" (Art. 41). Als Organ der Mitwirkung der Länder an der Staatswillensbildung war eine Länderkammer vorgesehen, die dem Bundesrat nachgebilJellinek (Anm. 6), S. 329. Informationen, herausgegeben vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Nr. 22 vom 1.12.1989, S. 5. 80 Peter Joachim Lapp, Die DDR geht - die Länder kommen (Forum deutsche Einheit. Perspektiven und Argumente, herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Nr. 1), s. 21. 78

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det werden sollte (Art. 66-68). In den "Grundsätzen der Koalitionsvereinbarung zwischen den Fraktionen der CDU, der DSU, dem DA, den liberalen (DFP, BFD, FDP) und der SPD" vom 12. April1990 wurde es als Ziel bezeichnet, eine föderative Republik zu schaffen, einschließlich einer notwendigen Länderkammer. 81 Ein anderer Vorschlag lief auf die Wiedereinführung der Verfassung von 1949 mit Modifikationen hinaus, die auch die Konkretisierung des föderalistischen Prinzips einschlossen. 82 Der Justizminister Kurt Wünsche meinte, es solle auf die Verfassung von 1949 zurückgegriffen werden, wobei sie durch Gedanken im Entwurf des "Runden Tischs" modifiziert werden sollte. 83 Die Mehrheit der Volkskammer lehnte jedoch eine neue Verfassung ab und begnügte sich mit Änderungen der DDR-Verfassung von 1968/1974. 84 Durch das "Verfassungsgrundsätzegesetz" vom 17. Juni 199085 wurde das föderative Prinzip zu einem Strukturprinzip der DDR erklärt. Danach verstand sich die DDR mit dem lnkrafttreten dieses Gesetzes nicht nur als freiheitlicher, demokratischer, sozialer und ökologisch orientierter, sondern auch als föderativer Rechtsstaat. 86 Anders als bei den anderen Strukturprinzipien wurde hinsichtlich der Verwirklichung des föderativen Prinzips ein Vorbehalt gemacht. Für die föderative Ordnung sollte die Grundsatzerklärung nur nach Maßgabe einer besonderen Ergänzung der Verfassung und noch zu erlassender gesetzlicher Vorschriften gelten (Art. 1 Abs. 1 Satz 2). Offen blieb also zunächst, wie die föderative Struktur im einzelnen verwirklicht werden sollte. Inzwischen wurde eine Diskussion über die Zahl der zu bildenden Länder geführt.87 Mit dem l..ändereinflihrungsgesetz 88 fiel die Entscheidung für die fünf genannten "historischen" Länder. Daß man bei Erlaß dieses Gesetzes noch nicht an eine baldige Herstellung der Einheit Deutschlands glaubte , ist daraus zu ersehen, daß es verhältnismäßig ausführlich war und unter anderem die Kompetenzen zwischen "Republik" und den Ländern sehr ähnlich dem Bonner Grundgesetz verteilte. Auch war als Tag des lnkrafttretens ursprünglich der 14. Oktober 1990 vorgesehen. 89 81 Informationen, herausgegeben vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Nr. 8/1990, Beilage. 82 Mam pel (Anm. 75 ), S. 441 f. 83 Mampel (Anm. 75), S. 13. 84 Mampel, S. 13. 85 Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der Deutschen Demokrati· sehen Republik (Verfassungsgrundsätzegesetz) vom 17.6.1990 (GBI. I S. 2 99 ). 86 Zur Problematik dieses Gesetzes vgl. Mampel (Anm. 75), S. 1388 ff. 87 Eingehend dazu Peter Joachim Lapp (Anm. 80), S. 22 ff.; und ders., Fünf plus eins: Länder statt DDR, in: Deutschland Archiv, 1990, S. 1080 f. 88 Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik - Ländereinflihrungsgesetz - vom 22.7.1990 (GBI. I S. 955). 89 Zum ursprünglichen Inhalt des Ländereinflihrungsgesetzes vgl. Mampel (Anm. 75), s. 139lff.

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Im Einigungsvertrag wurde die Weitergeltung des Ländereinführungsgesetzes vereinbart (Art. 1), jedoch in einem sehr verminderten Umfange. 90 In Kraft blieben nur die Bestimmungen über die Bildung der fünf Länder, die Möglichkeit der Änderung von Landesgrenzen, den übergang von Einrichtungen und Personal sowie über die Wahl der Landtage, denen die Aufgabe von verfassungsgebenden Landesversammlungen übertragen wurde, und die Bildung von Landesregierungen. Das Datum des lnkrafttretens wurde auf den 3. Oktober 1990, dem Zeitpunkt der Wirksamkeit des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, dem Tag der Deutschen Einheit (Art. 2 Abs. 2), vorverlegt.

Mit der Schaffung von fünf Ländern in etwa den Grenzen, wie sie vor 1952 bestanden, wurde eine vernünftige Entscheidung getroffen. Peter Joachim Lapp verdient volle Zustimmung in seiner Feststellung, die Menschen in der ehemaligen DDR hätten eine regionale politische Heimat innerhalb der alten Ländergrenzen erstrebt. 91 Die überwindung des bei manchen, vor allem jungen Menschen, noch existierenden Gefühls der Identität mit der DDR - nicht mit dem SED-Regime -, das sich sogar zu einer DDR-Nostalgie auswachsen kann, braucht Ersatz. Sie können sich nur langsam daran gewöhnen, sich als Angehörige eines Staates zu fühlen, der ihrlen noch fremd, ja wegen des ihnen beigebrachten Feindbildes unheimlich erscheint. Darüber sollte auch der im Herbst 1989 oft gehörte Ruf "Wir sind ein Volk" nicht hinwegtäuschen. Zu stark wirken 45 Jahre der Trennung und vor allem die penetrante Indoktrination mit den Vorstellungen des Marxismus-Leninismus in der DDR nach. Das Gefühl der Identität mit den Regionen ist trotz der Existenz der DDR bestehengeblieben, zumal dort die Heimatgeschichte, wenn auch nicht selten mit marxistisch-leninistischen Verfalschungen, gepflegt worden war. 92 Dieses kann sich aber nicht auf künstlich geschaffene neue Einheiten beziehen, mögen auch für deren Bildung rationale Gründe sprechen. Für kleinere Korrekturen ist Raum gegeben. Nach dem Ländereinführungsgesetz (§ 2 Abs. 2 und 3) sind Änderungen von Grenzen der Länder, die im Ergebnis von Bürgerbefragungen in Gemeinden und Städten begehrt werden und von den Gemeindevertretungen bzw. Stadtverordnetenversammlungen beschlossen werden, durch Abschluß eines Staatsvertrages zwischen den beteiligten Ländern möglich. Wollen Gemeinden oder Städte nach der Länderbildung in das Land zurückkehren, dem sie am 23. Juli 1952 angehört hatten, muß sogar deren Willen stattgegeben werden, sofern dadurch keine Ex- bzw. Enklaven entstehen. 27 brandenburgische Gemeinden, die zu Sachsen wollen ("Allianz ftir Sachsen"), sind dabei, solche Korrekturen zu verwirklichen. 93 Anlage II, Kapitel II, Sachgebiet A Abschnitt II des Einigungsvertrages (Anm. 1). Lapp (Anm. 87), S. 1081. 92 Stichwort "Heimatgeschichte" , in: DDR-Handbuch, herausgegeben vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Köln 3 1984. 93 "Der Tagesspiegel" vom 5.4. und vom 9.4.1990. 90

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über die Gliederung der ehemaligen DDR in fünf Länder braucht auch nicht das letzte Wort gesprochen zu sein. Denn auch für sie gilt Art. 29 GG. Ursprünglich enthielt dieser einen Verfassungsauftrag zur Neugliederung des Bundesgebiets. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß er nicht zu erfüllen war, wurde Art. 29 GG so abgeändert, daß er nunmehr eine Ermächtigung für den Bundesgesetzgeber enthält, eine allgemeine Neugliederung vorzunehmen. 94 Das entsprechende Bundesgesetz bedarf zur Bestätigung eines Volksentscheids. Die betroffenen Länder sind zu hören. Eine Neugliederung kann auch durch Einzelakt erfolgen, dem aber ein Gesamtkonzept zugrunde liegen muß. 95 Speziell für Ostdeutschland ist also nach Art. 29 GG n. F. eine Neugliederung nicht möglich. Es muß ein Konzept für die Neugliederung des gesamten Bundesgebietes vorliegen. Das wird aber auf sich warten lassen, wenn es überhaupt erreichbar ist. In kleinerem Umfange sind indessen nach Art. 29 Abs. 7 GG Änderungen auch ohne ein Gesamtkonzept möglich. Danach können durch Staatsverträge der beteiligten Länder oder durch Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates Änderungen des Gebietsbestandes der Länder erfolgen, wenn das Gebiet, dessen Landeszugehörigkeit geändert werden soll, nicht mehr als 10.000 Einwohner hat. Das Nähere hat ein Bundesgesetz zu regeln, das der Zustimmung des Bundesrates und der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, also einer qualiftzierten Mehrheit, bedarf. Dieses muß die Anhörung der betroffenen Gemeinden und Kreise vorsehen. Auch dabei sind demnach die Voraussetzungen nicht einfach zu erfüllen. Trotzdem steht den Ländern in Ostdeutschland diese Möglichkeit zur Verfügung, und sie sollten sie nutzen, wenn ihnen eine Änderung über den Rahmen des Ländereinführungsgesetzes hinaus (Änderungen von l.andesgrenzen, die Kreisgrenzen tangieren) erforderlich erscheint.

Nach dem Einigungsvertrag kann in einem Falle von Art. 29 GG abgewichen werden (Art. 5). Der Raum Berlin/Brandenburg kann durch Vereinbarung der beteiligten Länder neugegliedert werden, vorausgesetzt die gesetzgebenden Körperschaften des geeinten Deutschlands kommen innerhalb von zwei Jahren der Empfehlung der vertragschließenden Regierungen im Einigungsvertrag zu einer entsprechenden Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes nach. VIIL Die neuen Bundesländer - alte Länder

Die Existenz der ftinf Bundesländer in Ostdeutschland wirft das Problem auf, ob sie mit den Ländern, wie diese in der ehemaligen sowjetischen Besat94 Dreiunddreißigstes Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 23.8.1976 (BGBI. I S. 2381). Aufweitere Einzelheiten zu Art. 29 Abs.1 - 6 kann hier nicht eingegangen werden. 95 Hans-Uirich Evers, Bonner Kommentare zum Grundgesetz (Loseblattausgabe), Er!. zu Art. 29 (Drittbearbeitung 1980), Rdnr. 64.

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zungszone 1946/47 entstanden waren, identisch sind oder ob sie neue Gebilde sind. Sicher folgte der Verfassungsgeber der DDR im Frühsommer des Jahres 1990 bei der Schaffung einer föderativen Struktur der ehemaligen DDR durch das Verfassungsgrundsätzegesetz ebensowenig einem "genuin bundesstaatliehen Konzept" wie die Väter des Grundgesetzes. Es ging in der DDR damals darum, Gebilde zu schaffen, die den Ländern in der "alten" Bundesrepublik kompatibel waren. Staatstheoretische überlegungen dazu wurden, soweit erkennbar, kaum angestellt. 96 Sie wären aber erforderlich gewesen, um das Problem "Identität" oder "Neubildung" zu erkennen. Seine Lösung ist keineswegs nur theoretisch von Interesse, sondern hätte auch praktische Bedeutung gehabt. Dieser Beitrag muß sich auf einige überlegungen dazu beschränken. Auszugehen ist von der bundesstaatliehen Theorie, wie sie anhand der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland entwickelt wurde. Sie geht davon aus, daß der Gesamtstaat durch die schon bei seiner Bildung bestehenden Gliedstaaten oder doch unter ihrer maßgeblichen Beteiligung geschaffen wurde. Im Hinblick auf die Entwicklung in der damaligen sowjetisch besetzten Zone wurde sie insofern modifiziert, als es genügen soll, daß die Staatlichkeit von Gebilden, die mit Schaffung des Gesamtstaates Bestandteile von ihm werden, respektiert wird. In der DDR wurde 1990 das Umgekehrte versucht. Aus einem Einheitsstaat, wie er faktisch vorlag, sollte ein Staat mit föderativer Struktur gemacht werden. Beim Verfassungsgrundsätzegesetz ging es noch nicht darum, Länder der Bundesrepublik Deutschland zu schaffen, sondern solche der DDR. Dafür gibt es keinen bekannten Präzedenzfall, jedenfalls nicht in Deutschland. Das Werden der Länder nach 1945 ist kein Vorbild. Deutschland war zwar als Staat nicht untergegangen, aber seine Struktur als totalitärer Einheitsstaat hatten die Alliierten kraft ihrer Obersten Gewalt beseitigt. Es mußte ein neuer Anfang gemacht werden. Für diesen hatten die Alliierten im Potsdamer Protokoll Vorgaben gemacht, und diese hießen: decentralisation of the political structure and the development of local responsibility. Gleichsam aus dem Nichts wurden zuerst Verwaltungen für die Gemeinden und Kreise errichtet, sodann die Länder gebildet. Erst nachdem diese etabliert waren, wurden die "Gesamtstaaten" Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik gegründet. Das war eine andere Entwicklung als 1990 in der DDR. Zur Erklärung hat der Fall einer Revolution auszuscheiden. Abgesehen davon, daß er rechtlich nicht erfaßbar ist, liegt er nicht vor. Die Herstellung der föderativen Struktur in der DDR sollte in verfassungsrechtlichen Bahnen verlaufen. Die Lösung hat davon auszugehen, daß die Länder in der ehemali96

Der Verfasser machte den Versuch dazu: Vgl. Mampel (Anm. 75), S. 441.

Föderalismus in Deutschland

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gen DDR annähernd so bezeichnet wurden und fast die Grenzen erhielten wie die 1946/47 entstandenen Länder. Hinzukommen muß die hier vertretene Auffassung, nach der die föderative Struktur der DDR nicht zu deren Disposition stand, daß sie also 1952 nur de facto, aber nicht de jure beseitigt worden war und das auch 1968 nicht geschehen konnte. Es ist nicht einzusehen, daß den Verfassungsbrüchen in der DDR hinsichtlich ihrer Struktur seit 1950 ein geringeres Gewicht beizulegen ist als den Verletzungen der Bürgerrechte bis hin zu den entschädigungslosen Enteignungen. Schon das Gefühl für Rechtskultur, die in der früheren DDR unbekannt war, sollte davon abhalten. Anders kann es in Ostdeutschland nicht geweckt und gepflegt werden. Folgt man dieser Auffassung, so wurden in der ehemaligen DDR nicht nur Länder gebildet, sondern "alte" Länder wieder mit Organen versehen und damit rekonstruiert. Das Ländereinführungsgesetz läßt Raum für eine derartige Interpretation. Es gibt auf die hier gestellte Frage keine eindeutige Antwort. Es spricht zwar davon, daß Länder "gebildet" werden sollen, aber verzichtet darauf, die Organe der Länder selbst zu bestimmen. Es legte nur fest, daß Landtage zu wählen seien. Aufgrund eines Wahlgesetzes, 97 das mit dem Einigungsvertrag nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zu Landesrecht wurde, 98 fanden am 18. Oktober 1990 Wahlen zu den Landtagen statt, denen die Aufgabe von verfassungsgebenden Landesversammlungen übertragen waren und die Landesregierungen bildeten. So konnten sich die Länder als Gliedstaaten in Ostdeutschland entsprechend dem demokratischen Prinzip aufgrunddes Volkswillens rekonstituieren. Da die Rekonstitution erst nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes erfolgte, wurden diese Länder nicht mehr solche der DDR. Denn die DDR hörte mit dem Beitritt zu bestehen auf. Ausdrücklich ist das zwar nicht festgelegt worden, ergibt sich aber daraus, daß nicht sie, wie etwa das Saargebiet, demokratisch und freiheitlich verfaßt als Ganzes ein Land der Bundesrepublik wurde. Das wäre zwar staatstheoretisch möglich gewesen, wurde aus vielen, hier nicht zu erörternden Gründen nicht in Erwägung gezogen. Aber auch das spricht daftir, daß nicht die DDR sich in Länder aufteilte - in einem solchen Verfahren hätten nach der bundesstaatliehen Theorie nur hoch potenzierte Selbstverwaltungskörperschaften entstehen können -, sondern daß schon vor Gründung der DDR vorhandene Länder nunmehr Länder der Bundesrepublik wurden. So ist festzustellen, daß zwischen den 1946/47 in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands entstandenen Ländern und den "neuen" Bundesländern Identität besteht. Diese alten Länder sind nur als Gliedstaaten der Bundesrepublik "neue" Länder. 97 Gesetz über die Wahlen zu Landtagen in der Deutschen Demokratischen Republik (Länderwahlgesetz - LWG)vom 22.7.1990 (GBI. I S. 960). 98 Anlage li, Kapitel li Sachgebiet A Abschnitt 1 Ziffer 1 Einigungsvertrag (Anm. 1 ).

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Aus diesen Erwägungen hätten sich, rechtzeitig angestellt, praktische Folgen ergeben. Die Verfassung der Länder aus den Jahren 1946/47 wären nicht außer Kraft getreten. Sicher wäre es erforderlich, sie durch neue, zeitgemäße zu er· setzen. Aber für die erste Zeit hätte man gut auf ihrer Grundlage arbeiten können. Zwischenlösungen bis zur Schaffung neuer Verfassungen wären nicht not· wendig gewesen. Das hätte den Landtagen Kraft und Arbeit erspart. Außerdem wird bei Annahme einer Identität die Frage des Landeseigentums tangiert. Oben wurde bereits ausgeführt, daß die 1946/47 entstandenen Länder in der sowjetisch besetzten Zone Subjekte von fiskalischem Eigentum und von Objekten waren, die ihnen durch die von der Besatzungsmacht verfügten Enteignungen zugefallen waren. Um diese wurden die Länder zu einem großen Teil schon durch die Reorganisation der volkseigenen Industrie im Jahre 195099 und spä· ter durch die de facto·Beseitigung der Länder gebracht. Bei Annahme der Identität der Länder und der Verfassungswidrigkeit der Maßnahmen von 1950, 1952 und 1968 sind den Ländern deshalb Rechtsansprüche verblieben. Näheres dazu soll hier nicht ausgeführt werden. Sicher ist aber, daß ihre Stellung nach § 1 Abs. 2 des Treuhandgesetzes,100 wonach in durch Gesetz bestimmten - also nur in begrenzten Fällen - volkseigenes "Vermögen" auch den Ländern als Ei· genturn übertragen werden "kann", wesentlich stärker wäre. Zumindest hätte für sie ein originäres Mitspracherecht bei der Privatisierung anerkannt werden müssen.

Verordnungen (wie Anm. 59). Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treu· handgesetz) vom 17.6.1990 (GBI. I S. 300). 99

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Karlheinz Blaschke DAS WERDEN DER NEUEN BUNDESLÄNDER L

Wenn sich ein Historiker zu einem in so hohem Maße gegenwartsbezogenen Thema wie demjenigen der Wiedererrichtung der Länder auf dem Boden der ehemaligen DDR äußert, dann könnte das die Frage nach seiner Zuständigkeit für ein Gebiet hervorrufen, das allein den Politikern vorbehalten zu sein scheint. Dem ist dreierlei entgegenzuhalten: Erstens ist die politische Neuorganisation des ehemaligen DDR-Territoriums eine Sache, die jeden nachdenklichen Bürger beschäftigen sollte. Zum andern haben sich Historiker seit jeher als Menschen erwiesen, die am politischen Leben bewußt Anteil nehmen und handelnd eingreifen, was sich schon daraus erklärt, daß jede Gegenwartslage das Ergebnis einer historischen Entwicklung ist und jede in die Zukunft gerichtete Entscheidung zweckmäßigerweise auf einer gründlichen Kenntnis der hierbei zu beachtenden Voraussetzungen beruhen sollte. Schließlich kann im vorliegenden Falle darauf hingewiesen werden, daß die nachstehenden Ausftihrungen auf einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte mitteldeutscher Staaten, mit Fragen der Raumordnung, mit der Grenzbildung in der Geschichte, mit der kartographischen Darstellung des mitteldeutschen Raumes vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart und dessen allgemeiner Geschichte beruhen. 1 Ein solches Wissen um Verfassung, Verwaltung, politische Organisation und Raumordnung in der Geschichte Mitteldeutschlands kann als eine ausreichende Grundlage angesehen werden, von der aus kompetente Äußerungen und Urteile über das Werden der neuen Bundesländer möglich sind.

1 Karlheinz Blaschke: Sächsische Verwaltungsgeschichte. Lehrbrief für das Fachschulfernstudium der Archivare. Potsdam 1958; ders., Abschnitte über Sachsen und Thürinen in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von Kurt G. A. leserich u. a., Stuttgart 1983-1985, Bd. 2 (1803-1866), Bd. 3 (1866-1918), Bd. 4 (1918-1945); ders., Raumordnung und Grenzbildung in der sächsischen Geschichte, in : Historische Raumforschung 7, Hannover 1969, S. 87-112; ders., Raum, Gesellschaft und Persönlichkeit in der Geschichte des Hauses Wettin, in: Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Kar! Bosl zum 80. Geburtstag, Bd. 2, München 1988, S. 415 - 440; ders., Die wettinischen Länder 1485 - 1554 (Karte 1:1 Million), in : Die Reformation in Dokumenten, Weimar 1967; ders., Das Kurfürstentum Sachsen am Ende des Alten Reiches (Karte 1 :500.000 mit erläuterndem Text), Dresden 1989.

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IL Die Wiederherstellung der 1952 aufgelösten Länder war nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft und der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 eine Notwendigkeit, die doppelt begründet gewesen ist. Der eine Grund lag in dem Willen der Menschen, der sich bereits im Laufe der friedlichen Revolution während der späten Herbstwochen des Jahres 1989 kundtat. In dieser Zeit wurden bei den Montagsdemonstrationen neben den schwarz-rotgoldenen Fahnen die Fahnen in den Farben der jeweiligen Länder mitgeführt, womit deutlich wurde, daß Traditionsbewußtsein und gefühlsmäßige Bindung an die historischen Länder die 37 Jahre der Bezirkseinteilung überdauert hatten. Es waren nicht nur ältere Menschen, die ihre Jugend in jenen Ländern erlebt hatten, sondern durchaus auch junge Leute, die mit ihrem Bekenntnis zur Geschichte und zur Verwurzelung in einer Landestradition ihre Abwendung vom kalten Rationalismus eines künstlichen Staatsgebildes zum Ausdruck brachten und sich auf diese Weise zu ihrer landsmannschaftliehen Identität bekannten. Die Wiederherstellung der Länder entsprach dem erklärten Willen des Volkes als dem des Trägers der Revolution. Sie war aber ebenso im Blick auf die in der Verfassung begründete föderative Struktur der Bundesrepublik Deutschland notwendig, in deren Verband das Territorium der ehemaligen DDR nunmehr eintrat. Neben die demokratische trat die staatspolitische Begründung flir das Wiedererstehen der neuen Bundesländer. Es wäre jedenfalls kein ernst zu nehmender Gedanke gewesen, das ganze Territorium der DDR in seinem gesamten Umfang als ein neues Bundesland in die Bundesrepublik einzugliedern. Das hätte ein Land ergeben, das der Fläche nach das größte und der Einwohnerzahl nach fast ebenso groß gewesen wäre wie das volkreichste alte Bundesland Nordrhein-Westfalen. Ein solches territoriales Gebilde hätte nicht nur in seiner Quantität erdrückend gewirkt, es hätte auch die Gefahr in sich getragen, politische und womöglich auch ideologische Traditionen der ehemaligen DDR zu konservieren und die von der sowjetischen Besatzungsmacht und danach von der SED geschaffene Struktur innerhalb des wiedervereinten Deutschlands zu verewigen. Die Bildung von Ländern innerhalb dieses Territoriums war demzufolge eine unabdingbare Folge deutscher Wiedervereinigung. Auf diesem Wege zur Neubildung von Ländern lag es nahe, an die Tradition früherer Einheiten anzuknüpfen, die in Gestalt selbständiger Einzelstaaten oder preußischer Provinzen einst bestanden hatten. Diese Einheiten waren z. T. in einer jahrhundertelangen Entwicklung gewachsen wie das Land Mecklenburg, z. T. waren es künstlich geschaffene Gebilde wie die preußische Provinz Sachsen von 1815 oder das Land Sachsen-Anhalt von 1945. Bei der Rückbesinnung auf historische Territorien ergaben sich Schwierigkeiten vor allem dann, wenn der geringe Umfang von Fläche und Bevölkerung die Einrichtung eines eigenen

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Landes nicht ratsam erscheinen ließ. Die Wiederherstellung des Landes Anhalt, das bis 1945 als eigenes Staatsgebilde bestanden hatte, ist nicht ernstlich ins Gespräch gebracht worden, während ein selbständiges Land Vorponunern, das etwa 650.000 Einwohnerumfaßt hätte, von einheimischen Kräften gewünscht wurde. Daß auch die Abgrenzungen zwischen altetablierten Ländern sehr willkürlich und zufallig geschehen sein konnten, zeigt die sächsisch-thüringische Grenze bei Altenburg, die 1554 im Rahmen dynastischer Regelungen zustandekam und keinerlei Beziehung zu geographischen oder landsmannschaftliehen Einheiten aufweist. Es gab auf jeden Fall in dem Augenblick, als die Einrichtung von Ländern auf die Tagesordnung der ostdeutschen Politik trat, historisch begründete Rahmenvorstellungen, die nun auszuftillen waren. Um diese Aufgabe zu lösen, machten sich sehr unterschiedliche Aktivitäten ans Werk. Es wäre ein rational-wissenschaftliches Herangehen denkbar gewesen, bei dem Fachleute und Erfordernisse der Landesplanung und Raumordnung eine maßgebliche Rolle zu spielen gehabt hätten und sowohl die guten wie die schlechten Erfahrungen aus den alten Bundesländern mit der dortigen Länderstruktur hätten eingebracht werden können. Die Frage einer Neugliederung des Bundesgebietes, die nach Artikel 29 des Grundgesetzes vorgesehen ist und dort mit vernünftigen Grundsätzen angeboten wird, ist in der westdeutschen Öffentlichkeit immerhin so weit lebendig geblieben, daß sie auf die im Osten zu lösenden Aufgaben hätten anregend wirken können. Die Bildung Ieistungsfahlger Bundesländer wie Niedersachsen und Baden-Württemberg als praktische Beispiele für eine sinnvolle Neuordnung innerhalb der Länderstruktur hätte auch bei der Neugliederung der ehemaligen DDR als Vorbild beachtet werden können. Aber alle diese überlegungen lassen sich rückblickend nur im Konjunktiv referieren. Tatsächlich war die politische Szene in dieser Hinsicht sehr schnell von Vorstellungen, Aktivitäten und Interessen beherrscht, in denen in starkem Maße massenpsychologisch zu erklärende und emotional bedingte Vorgänge abliefen. Eine rationale Bewältigung der Aufgabe war unter diesen Bedingungen sehr bald weitgehend ausgeschlossen. Ohne sich überhaupt Gedanken über die Zweckmäßigkeit ihres Tuns zu machen, gründeten die Parteien bereits Landesverbände, noch bevor es die Länder gab. Künftige Landespolitiker strebten schon nach Ämtern und Würden in Ländern, die erst geschaffen werden mußten. Dabei war es nun freilich das einfachste, auf die 1952 abgeschafften Länder zurückzugreifen, ohne sich zu überlegen, ob das die beste oder wenigstens eine gute Lösung sei. Zu welchen grotesken Verhältnissen es dabei kam, zeigen die Streitigkeiten unter den noch landlosen Landespolitikern über die künftigen Hauptstädte der Länder Mecklenburg und Sachsen-Anhalt. Im einen Falle standen Rostock und Schwerin, im anderen Halle und Magdeburg mit Dessau als Zusatzbewerber zur Wahl. Dabei konnte es nicht ausbleiben, daß in der so gefühlsgeladenen Zeit der 9 Fischer 1Haendcke-Hoppe-Arndt

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Wende die lokalpatriotischen Stimmungen hochgingen, daß leidenschaftlich ftir die eine oder die andere Hauptstadt gestritten und die ganze Bevölkerung des fraglichen Landes in zwei Lager gespalten wurde. Landeshauptstadt zu werden war ein erstrebenswertes Ziel, denn jede Hauptstadt - das hatte man in eindrucksvoller Weise in der DDR erlebt - zieht die Mittel des ganzen Landes an sich. Landtag, Landesregierung, zentrale Landesbehörden, nachfolgende Landeszentralen der Wirtschaft, wissenschaftliche Einrichtungen bringen Geld in die Stadt. Noch bevor mit der Währungsunion vom 1. Juli 1990 der Einstieg in die Martkwirtschaft vollzogen wurde, tobte sich eine Art Marktpolitik unter ehrgeizigen, profilsüchtigen Leuten aus, die gerade erst im Begriff waren, sich zu Landespolitikern zu entwickeln. Der Streit um die Hauptstadt in zwei Fällen soll hier als Beispiel für das Niveau stehen, auf dem sich die Neubildung der Länder abgespielt hat. Lautstark auftretende Interessengruppen konnten Eindruck machen und Erfolge erzielen. Die neu errungene Pressefreiheit gestattete die Veröffentlichung jeder beliebigen Meinung, wovon in starkem Maße Gebrauch gemacht wurde. 2 Es fehlte nicht an einer breiten Erörterung des Themas in der Öffentlichkeit, aber es fehlte völlig an richtungweisenden Orientierungshilfen seitens der Regierung. In der Modrow-Regierung war der Stellvertreter des Ministerpräsidenten Prof. Moreth mit der Vorbereitung der Länderneubildung beauftragt, in der Regierung de Maiziere gab es ein eigenes Ministerium flir Regionale und Kommunale Angelegenheiten, aber beide Stellen haben nicht spürbar in die öffentliche Aussprache über einen so wichtigen Gegenstand eingegriffen. Man mußte schon damals den Eindruck haben, daß sie von der ihnen gestellten Aufgabe überfordert waren und kein klares Konzept ftir deren Lösung besaßen. Allstatt die neu erwachte Öffentlichkeit zu informieren, die anstehenden Probleme darzulegen und ein eigenes Konzept anzubieten, arbeiteten sie ohne sichtbaren Kontakt zur Bevölkerung, griffen nicht in die Diskussion ein und bauten die von wissenschaftlicher Seite an sie herangetragenen Anregungen nicht in ihre Entscheidungen ein. Es ist immer leicht, vom Standpunkt dessen, der es im Rückblick besser weiß, an geschehenen Entscheidungen Kritik zu üben. Es mußte aber in dem genannten Ministerium unter Leitung von Manfred Preiß bewußt sein, daß die Neubildung von Ländern ein Vorgang von grundsätzlicher Bedeutung war, dessen Ergebnis möglichst dauerhaft und der gestellten Aufgabe angemessen zu sein hatte. Die Art, wie diese Länderbildung durchgeftihrt wurde, läßt begründete Zweifel am Sachverstand und an der Kenntnis der anstehenden Probleme und Tatsachen bei den damit befaßten Leuten aufkommen. Sie waren in erster 2 Einen Eindruck vermittelt die Broschüre "Dokumentation zur Wiederherstellung der 5 Länder in der DDR", hrsg. vom Gesamtdeutschen Institut/Bundesanstalt ftir gesamtdeutsche Aufgaben, Bonn (9. August 1990).

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Linie auf die im Jahre 1990 vorhandene, von der SED geschaffene Gliederung in Bezirke festgelegt, die nun einfach je zu zweien oder dreien in Länder umgebaut werden sollten. Dabei wurde in etwa an die im Jahre 1952 aufgelösten fünf Länder gedacht, ohne jedoch deren genaue Wiederherstellung anzustreben. Die hierbei zugrunde liegende Konzeption war insofern inkonsequent, als sie in den seit 1952 bestehenden Verwaltungsgrenzen die bis 1952 vorhanden gewesenen Länder neu bilden wollte. Dieser Grundwiderspruch hat seither zu vielen Schwierigkeiten und Unerquicklichkeiten geführt. Er hätte vermieden werden können, wenn die verantwortlichen Leute in dem genannten Ministerium der Regierung de Maiziere auf der Höhe ihrer Aufgaben gestanden hätten. Man muß gerechterweise die große Eile bedenken, in der sich die Vorbereitungen zur Ländereinflihrung zu vollziehen hatten. Eine Gebietsreform ist in der Regel das Ergebnis langdauernder überlegungen, wissenschaftlicher Studien und gründlicher Erörterungen in Fachkreisen und in der Öffentlichkeit. Die Hast, in der die Bevölkerung der damaligen DDR auf die Wiedervereinigung, die Beseitigung des SED-Erbes und damit auch auf die Neubildung von Ländern drängte, ließ ein solches Verfahren nicht zu. Andererseits lagen aber bestinunte Tatsachen auf der Hand, die bei einer besseren Sachkenntnis für bessere Lösungen hätten genutzt werden können. Einfache Gesichtspunkte der Raumordnung, wie sie sich aus den geographischen Verhältnissen ergeben, die Mitteldeutschland-Diskussion der zwanziger Jahre sowie die bekannten Tatsachen der Territorial- und Verwaltungsgeschichte des 19./20. Jahrhunderts hätten dazu herangezogen werden müssen.

IIL Die revolutionäre Stimmung in der absterbenden DDR bot in den ersten Monaten des Jahres 1990 eine gute Gelegenheit, eine neue Territorialstruktur zu schaffen, die auf die Zukunft eingestellt war. Derartige Auffassungen gingen auch unter den am 18. März 1990 gewählten Volkskammerabgeordneten um. Dafür steht die schriftliche Äußerung des DSU-Abgeordneten Timo Backofen, Mitglied des Verfassungs- und Länderbildungsausschusses der Volkskammer, vom 20. April1990 an den Verfasser: "Mit großer Aufmerksamkeit habe ich Ihren Beitrag über eine Gebietsreform in der "Süddeutschen Zeitung" vom gleichen Tage verfolgt und wollte keine Zeit verstreichen lassen, Ihnen dafür meine Hochachtung auszudrücken. Gegenwärtig bestimmt eine meiner Auffassung nach zu simple Herangehensweise in dieser Frage die öffentliche Diskussion. Es erscheint opportun, die so nur über wenige Jahre existierenden Länder wieder in der damaligen Form wiederherzustellen. Offenbar fürchtet man dabei die geringsten Probleme mit der Bevölkerung, bedenkt aber nicht oder nur unzureichend viel schwerwiegendere und längerfristige, ja permanente Probleme in der Folgezeit. 9*

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In der Tat wird es zukünftig keine so günstige Gelegenheit mehr geben, eine zukunftsorientierte Lösung durchzusetzen. Die in der Bundesrepublik über ihr gesamtes Bestehen mehr oder minder intensiv geführte Debatte über eine Neugliederung des Bundesgebietes zeigt die nach der Schaffung von Tatsachen nahezu unmögliche Einigung der Betroffenen. Das gerade verdeutlicht uns die große Chance, begangene Fehler, wie sie bei der Schaffung von sehr kleinen Ländern begangen wurden, zu vermeiden. Wir stehen nun am Anfang der parlamentarischen Diskussion in dieser Frage. Die Auffassungen dazu gehen parteiüberschreitend weit auseinander. Ich bin gegenwärtig dabei, in meiner Fraktion für eine Drei-Länder-Lösung zu werben, was nach detaillierter Argumentation durchaus auf fruchtbaren Boden fällt. Als Obmann meiner Fraktion im Verfassungs- und Länderbildungsausschuß des Parlaments bin ich an sachverständiger Beratung in dieser Richtung interessiert." In den Kreisen der Wissenschaft fühlten sich vor allem die Geographen zur Mitarbeit aufgerufen. Der Bochumer Geograph Prof. Dr. Werner Rutz veröffentlichte im Mai 1990 eine "Denkschrift zur Länderneubildung auf dem Gebiet der gegenwärtigen DDR", in der er aufgrundeingehender Sach- und Problemkenntnis vier Varianten für die Herstellung neuer Bundesländer vorstellte sowie die Vor- und Nachteile der einzelnen Lösungen in bezugauf politische, wirtschaftliche und geschichtliche Fragen erörterte. 3 Die überzeugenden Argumente dieser Denkschrift hätten allein schon bei den Verantwortlichen zu einer anderen Entscheidung flihren müssen, als sie tatsächlich getroffen worden ist. In der gleichen Richtung lagen die Vorschläge, die aus dem Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin kamen. 4 Aus der sorbischen Volksgruppe in der Nieder- und Oberlausitz bildete sich eine Territorialkommission, die zur anstehenden Frage Stellung nahm und zu dem Vorschlag kam, die Niederlausitz an das land Sachsen anzuschließen, da die sorbischen Belange in Sachsen erfahrungsgemäß besser berücksichtigt worden seien als in Preußen. 5 Die gleiche Auffassung vertrat ein Memorandum einer Gruppe von Sorben in Dresden, da ihrer Meinung nach die Toleranz gegenüber den Sorben in Sachsen gewährleistet sei und die Vereinigung aller Sorben im lande Sachsen einen "Beitrag zur Selbstfmdung der Identität des sorbischen Volkes" leisten würde. 6 Daß das Thema der Länderneubildung in der Öffentlichkeit während des ersten Halbjahres 1990 eine hervorragende Rolle spielte, zeigt die bereits ge3 Werner Rutz: Denkschrift zur Länderneubildung auf dem Gebiet der gegenwärtigen DDR, in: Politische Studien, 41. Jg., Nr. 313 (Sept./Okt. 1990). 4 Konrad Scherf/Lutz Zaumseil: Zur politisch-administrativen Neugliederung des Gebietes der DDR. Politische und historische, geographische und raumordnerische Aspekte, in: Raumforschung und Raumordnung, 1990, Heft 4- 5, S. 231 - 240. 5 Stellungnahme der sorbischen Territorialkommission zur Dokumentation des Rates des Bezirks Dresden über Varianten der Länderbildung vom 13.3.1990. 6 "Die Union", Dresden, vom 14.5.1990.

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nannte, am 9. August 1990 veröffentlichte "Dokumentation" .7 1n der Vielfalt der dort abgedruckten Beiträge werden die widersprüchlichen Meinungen und Interessen, ebenso aber auch die Schwierigkeiten deutlich, die sich einer vernünftigen Behandlung des Gegenstandes entgegenstellten. Es ist denkbar, daß eine bessere Information über die Probleme mehr Orientierungshilfe für die Öffentlichkeit geboten hätte. Aus geschichtsbewußten Teilen der Bevölkerung wurden Gedanken geäußert, die sich auf die Territorialgliederung zu Anfang des 19. Jahrhunderts, also vor den Veränderungen des Wiener Kongresses von 1815, bezogen. So wurde mehrfach angeregt, den sächsischen Staat in seinen Grenzen vor 1815 wiederherzustellen, wobei vom ,,historischen Unrecht" gesprochen wurde, das Sachsen durch den damals von Preußen diktierten Frieden erlitten habe. 8 1n den Bereichen des Kuriosen ging der Vorschlag eines Einzelgängers aus Dresden, der mit einem undatierten vervielfaltigten Brief für die Bildung eines "souveränen, blockfreien, neutralen Staates Sachsen" eintrat, der sich mit anderen deutschen Staaten im europäischen Haus vereinigen sollte.9

hn Blick auf die vielen unterschiedlichen Meinungen und Vorschläge ist es verwunderlich, daß der einfachste Gedanke keine Rolle gespielt hat. Er wurde in einem am 19. März 1990 verfaßten Papier der Arbeitsgemeinschaft Recht der DDR bei der Stadtverordnetenversammlung Dresden geäußert und bestand darin, das Volkskammergesetz vom 23. Juli 1952, mit dem die Länder beseitigt worden waren, für ungültig zu erklären.

Schließlich sind in diesem Zusammenhang meine eigenen Bemühungen zu nennen. Sie beginnen mit einer "Denkschrift über die territoriale Neugliederung des Territoriums der Deutschen Demokratischen Republik" vom 7. Februar 1990, die zwischen einer kleinen Lösung (Zusammenfassung der vierzehn Bezirke zu ftinf Ländern), einer mittleren Lösung (Wiederherstellung der fünf Länder von 1952) und einer großen Lösung (Gründung von drei Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Thüringen) unterschied, Vergleiche mit der Bundesrepublik herstellte und Grundsätze territorialer Gliederung aufstellte. Sie wurde an die vierzehn DDR-Bezirke, einige Bundes- und Länderregierungsstellen in beiden deutschen Staaten und überregional wirksame Medien versandt. In erweiterter Form wurde sie Ende Juni veröffentliche0 und sofort in 1.750 Exemplaren an 27 Kreistage derjenigen Kreise versandt, für die sich aus dem Inhalt der Denkschrift Veränderungen ihrer territorialen ZuDokumentation (Anm. 2). Brief an den Vf. 9 Brief an den Vf. 1° Karlheinz Blaschke : Alte Länder - Neue Länder. Zur territorialen Neugliederung der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 27/90 vom 29. Juni 1990. 7

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gehörigkeit ergeben hätten. Am 8. Juli wurden 420 Exemplare zur Verteilung an alle Volkskammerabgeordneten abgeschickt, die folglich rechtzeitig vor der Abstimmung über das Ländereinftihrungsgesetz in den Händen der Parlamentarier gewesen sein müßten. Die in dieser Denkschrift vorgetragenen Gedanken entsprachen weithin jenen, die von Werner Rutz und den Berliner Geographen beigetragen worden waren, ohne daß die drei Urheber in irgendeiner Verbindung zueinander gestanden hätten. Diese innere Obereinstimmung zeigt, daß es Grundsätze moderner Raumordnung und territorialer Gliederung gibt, die in der Anwendung auf eine konkrete Aufgabe auch bei verschiedenen Autoren zu annähernd gleichen Ergebnissen führen. Man hätte sich gewünscht, daß diese Stimmen aus dem Bereich der Wissenschaft gehört und bei den politischen Entscheidungen berücksichtigt worden wären. Da das jedoch nicht geschehen ist, konnten die an diesem Thema engagierten Wissenschaftler ihren gesellschaftlichen Auftrag nicht erftillen, zur bestmöglichen Lösung politischer Aufgaben beizutragen. IV. So deutete sich um die Jahresmitte 1990 die Wiederherstellung der fünf Länder im wesentlichen mit ihrem alten Umfang an. Der zuständige Minister der damaligen DDR-Regierung Manfred Preiß erklärte während der Beratungen zur zweiten Lesung des Ländereinftihrungsgesetzes im Juli, es stehe fest, daß die Fünf-Länder-Variante "keineswegs die vernünftigste und optimale Lösung des Problems" sei. Die Mehrzahl dieser neuen Länder würde in der künftigen Bundesrepublik zu den strukturschwachen zählen. Aber die "vernunftwidrige" Fünf-Länder-Lösung müsse sich einer ,,höheren Vernunft" beugen, wie sie von der Politik diktiert werde; jede andere Lösung hätte "Hunderttausende auf die Straße" gebracht, die sich bereits mit ihrem künftigen Heimatland identifiziert hätten. 11 Der schwächste Punkt in dieser Lösung war die Wiederherstellung des Landes Sachsen-Anhalt, das erst 1945/46 von der sowjetischen Besatzungsmacht geschaffen worden war und ein absolut künstliches Gebilde ohne räumliche Geschlossenheit und ohne geschichtliche Tradition darstellte. Wie gering das Identitätsgeftihl der Bewohner dieses nur sieben Jahre vorhanden gewesenen Landes war, zeigt sich deutlich an der Tatsache, daß sich die Bevölkerung derjenigen Kreise, in denen im Juli 1990 für oder gegen die Zugehörigkeit zu Sachsen-Anhalt abgestimmt wurde, mit übergroßer Mehrheit dagegen ausgesprochen hat. Es stimmten ftir Sachsen-Anhalt im Kreis Delitzsch 10,7%, im Kreis Eilenburg 10,4 %, im Kreis Torgau 6,3 %, im Kreis Herzberg 38,6 % und 11

"Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 12.7 .1990, S. 4.

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im Kreis Liebenwerda 21,4% für Sachsen·AnahltY Diese Zahlen zeigen, daß es mit den Hunderttausenden auf der Straße nicht so schlimm hätte kommen können. Tatsächlich waren es nicht die Volksmassen, die eine vernünftige VierLänder-Lösung zu Fall gebracht haben, wie sie bereits ernsthaft ins Auge gefaßt war, sondern eine Lobby aus ehrgeizigen Politikern im Gebiet des gerade erst wieder im Entstehen begriffenen Landes Sachsen-Anhalt, 13 in dem die drei Städte Halle, Magdeburg und Dessau noch heftig um den Rang der Haupt· stadt stritten und für das noch ein originellerer Name als der bisherige gesucht wurde. So kam es zur Bildung eines Landes, für dessen Existenz es weder eine geschichtliche noch eine geographische oder eine wirtschaftlich zu erklärende raumplanerische Begründung gibt. Aber es bringt Ministergehälter und Diäten für Landtagsabgeordnete. Im Juni 1991 mußte der erste Ministerpräsident die· ses Landes wegen des Vorwurfs zurücktreten, er habe sich ein Landtagsmandat mit unlauteren Mitteln erschlichen. Es wäre weiterer Nachforschungen wert, welche Rolle etwa dieser Mann bei dem Druck gespielt hat, der auf das Preiß· Ministerium ausgeübt wurde, um das Land Sachsen-Anhalt doch noch zu errichten. Hier wurden und werden für den Ehrgeiz einiger Politiker Millionenbeträge vergeudet. An anderen Stellen äußerte sich das wirtschaftliche Interesse an der möglichst schnellen Teilhabe am bundesdeutschen Wohlstand, indem Wünsche nach Vereinigung einzelner Gebiete mit westdeutschen Ländern aufkamen. Im thüringischen Eichsfeld entsann man sich der einstigen Zusammengehörigkeit mit dem 1815 an Hannover gefallenen Gebiet um Duderstadt, so daß nun der wesentlich größere, zu Thüringen gehörende Teil mit dem kleineren wiedervereinigt und somit nach Niedersachsen einverleibt werden wollte. In dem seit 1569 zu Sachsen gehörigen Vogtland lockte das benachbarte reiche Bayern, was manchen Vogtländer plötzlich an seine fränkische Stammeszugehörigkeit erinnerte, die nie zuvor eine politisch ins Gewicht fallende Rolle gespielt hatte. über beide Stimmungen ist die Zeit hinweggegangen, denn eine Änderung der innerdeutschen Grenze zwischen der alten Bundesrepublik und der DDR ist niemals ins Auge gefaßt worden. In die gleiche Richtung zielten Gedanken für einen Zusammenschluß von Hessen und Thüringen, 14 wobei allerdings von den Kritikern auf den Bedeutungsrückgang der hessischen CDU verwiesen wurde, die sich nach dem großen Sieg der thüringischen CDU bei den Volkskammerwahlen vom 18. März eine Stärkung ihrer Position in einem vereinigten Hessen-Thüringen zu erhoffen Scherf/Zaum sei! (Anm. 4 ), S. 239. Aussage von Prof. Konrad Scherf in der Diskussion zum Vortrag am 1. März 1990 in Berlin. Er hatte als Mitglied der Regierungskommission für die Neugliederung der DDR die Feststellung gemacht, daß die zunächst favorisierte Vier-Länder-Variante durch Intervention von Politikern aus Sachsen-Anhalt zu Fall gebracht worden war. 14 "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 21.4.1990. 12

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schien. Die dabei beschworenen historischen und kulturellen Verbindungen zwischen beiden l.ändem müßten allerdings noch nachgewiesen werden, denn - von einer rund hundertjährigen herrschaftlichen Verbindung innerhalb der Landgrafschaft Thüringen im 12. und 13. Jahrhundert abgesehen- gab es zwischen Hessen und Thüringen keine besonderen Beziehungen. In zwei anderen Gebieten wurde ihre geschichtliche Eigenart ins Feld ge· führt, um sich vor der Einverleibung in benachbarte l.änder zu retten. In Vorpommern ergab sich ein deutlicher Widerwille gegen die Zuordnung zum Lande Mecklenburg, wie sie von 1945 bis 1952 bestanden hatte. Man besann sich auf die territoriale Selbständigkeit des Herzogtums und der preußischen Provinz Pommern und strebte ein selbständiges Bundesland Vorpommern an, das mit etwa 650.000 Einwohnern eine geringere Bevölkerung als der Stadtstaat Bremen gehabt hätte. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit konnte sich dieser Wille nicht durchsetzen, so daß das neue Land Mecklenburg-Vorpommern gebildet wurde. Etwas anders lagen die Dinge in der ehemals preußischen Oberlausitz, die 1815 von Sachsen abgetrennt und 1945 wieder in den sächsischen Staatsverband zurückgekehrt war. In der dazwischenliegenden Zeit der Zugehörigkeit zur preußischen Provinz Schlesien hatte sich vor allem in Görlitz ein Gefühl schlesischer Identität entwickelt, das sich nun gegen die Einordnung in das Land Sachsen sträubte. Die deshalb angestrebte Bildung eines Landes Schlesien scheiterte freilich an der zu geringen Einwohnerzahl von 380.000, so daß der Anschluß an Sachsen nicht zu umgehen war. Beide Fälle machen deutlich, daß bei der Länderneubildung auch die Quantitäten zu berücksichtigen waren und es eine Grenze bei den Einwohnerzahlen nach unten gab, die nicht überschritten werden konnte. Der Vollständigkeit halber ist der Gedanke zu erwähnen, ein Land Lausitz zu bilden, der immerhin bis in die Zeitungen seinen Weg fand. Er ist jedoch nicht ernsthaft erörtert worden, zumal ein solches, aus Nieder- und Oberlausitz bestehendes Land eine absolute verwaltungsgeschichtliche Neuheit gewesen wäre und nur auf Kosten der l.änder Brandenburg und Sachsen hätte errichtet werden können. Auch die sorbische Territorialkommission, von der am ehesten ein Interesse an diesem Land hätte erwartet werden können, hat sich in ihrer realistischen Einstellung nicht dafür verwendet. Schließlich sind die Strukturkommissionen zu erwähnen, die bei den Bezirksverwaltungen eingesetzt wurden, um den Umbau von der Bezirks- auf die l.änderstruktur durchzuführen. Sie haben im regionalen Bereich das Nötige getan, einen erkennbar größeren Einfluß auf die Festlegung der neuen Landesgrenzen aber nicht ausgeübt.

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V.

Die Entscheidung fiel auf zentraler Ebene durch das Ministerium für Regionale und Kommunale Angelegenheiten und die Volkskammer. Hier war es inzwischen klar geworden, daß das einfache Rezept der Zusammenlegung von zwei oder drei Bezirken zu einem neuen Lande nicht konsequent durchgeführt werden konnte, sondern mit Rücksicht auf die bis 1952 gültig gewesene Ländergliederung Korrekturen notwendig waren. Es wurden somit 15 Kreise festgestellt, die über ihre jetzige Bezirkszugehörigkeit zu anderen Ländern geschlagen worden wären als zu denen, bei denen sie bis 1952 gewesen waren, und denen sie sich aufgrund einer oft jahrhundertelangen Zugehörigkeit verbunden fühlten. In diesen Kreisen wurden im Laufe des Juli 1990 Bürgerbefragungen durchgeführt, die folgende Ergebnisse brachten: 15 Prenzlau Templin Perleberg

für Mecklenburg 5 ,I 3,9 21,5

Altenburg Schmölln

für Sachsen 53,8 18,1

für Thüringen 46,2 81,9

für Brandenburg 12,2 45,9 17,8

für Sachsen 87,8 54,1 82,2

Artern

für Sachsen-Anhalt II ,4

für Thüringen 64,0

Liebenwerda Herzberg Jessen

für Sachsen-Anhalt 21,4 38,6 64,9

für Brandenburg 25,5 61,4 35,1

Delitzsch Eilenburg Torgau

für Sachsen-Anhalt 10,7 10,4 6,3

für Sachsen 89,3 89,6 93,7

Hoyerswerda Senftenberg Weißwasser

für Brandenburg 93,6 96,1 78,5

für Sachsen 53,1

Die daraufhin sofort erfolgte Abstimmung in den Kreistagen bestätigte im allgemeinen diese Ergebnisse, setzte sich aber in drei Fällen über sie hinweg. In Altenburg, llebenwerda und Senftenberg mißachteten die Kreistagsabgeordneten den mehrheitlich zum Ausdruck gebrachten Willen der Bevölkerung, sich an Sachsen anzuschließen, und stimmten für Thüringen bzw. Brandenburg. Die 15

Scherf/Zaumseil (Anm. 4), S. 239.

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Volkskammer schloß sich diesenundemokratischen Entscheidungen an, indem sie die Ergebnisse der Kreistagsabstimmungen höher bewertete als diejenige der Bürgerbefragungen. Das fand seinen Niederschlag im Ländereinführungsgesetz vom 22. Juli 1990, in dem die Abgrenzung der fünf neuen Länder festgelegt wurde. Weil es offenkundig war, daß damit nicht alle Wünsche in der Bevölkerung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einem der Länder erfüllt waren, wurde im Gesetz die Möglichkeit vorgesehen, daß einzelne Städte und Gemeinden in das Land zurückkehren könnten, zu dem sie bis 1952 gehört hatten. Dafür wurden Bür· gerbefragungen vorgesehen, deren Ergebnisse von der Volksvertretung bestätigt werden sollten. Somit war es deutlich, daß auch die Umgliederung der genannten Kreise noch nicht die alten Länder völlig wiederhergestellt hatte. Die starre Fixierung auf die Bezirke muß als ein Grundfehler der ganzen Umgestaltung bezeichnet werden. Damit hängt die Frage der Kreisorganisation eng zusammen. Die Länderneubildung sollte die Bezirke beseitigen, aber dabei wurde nicht bedacht, daß auch die 1952 geschaffenen Kreise fest in dieses System eingebaut waren. Es zeugt von einem Mangel an Sachkenntnis und Vertrautheit mit den anstehenden Problemen, daß an der Existenz der Kreise nicht gerüttelt, sie vielmehr als Grundlage und Bausteine der neuen Länder behandelt wurden. Eine territoriale Neuordnung, die ihrer Aufgabe gewachsen gewesen wäre, hätte mit den Bezirken zugleich die Kreise von 1952 abschaffen und an ihrer Stelle die alten Kreise wieder einfUhren müssen, denn die von der SED in ihrer Verwaltungsreform hergestellte Territorialstruktur war eine Einheit aus Bezirken und Kreisen. Die Bezirke zu beseitigen, aber die Kreise bestehen zu lassen, war eine Halbheit, die viele Unerquicklichkeiten nach sich zog und Probleme schuf, die heute noch nicht bewältigt sind. Der Fehler lag bereits darin, daß die Kommunalwahlen vom 6. Mai 1990 die SED-Kreise übernahmen und dadurch noch befestigten, während es im Interesse der Länderneubildung gelegen hätte, die alten Kreise aus der Zeit vor 1952 sofort wiederherzustellen. Es muß allerdings bedacht werden, daß ein solches Verfahren in der Kürze der Zeit nur schwer hätte bewerkstelligt werden können, obwohl andererseits die SED im Sommer 1952 fast über Nacht die Zahl der Kreise beträchtlich vermehrt und ihre Abgrenzung völlig verändert hatte. Die Wiederherstellung eines alten Zustandes hätte sich leichter durchfUhren lassen müssen als die Herbeiführung eines völlig neuen Zustandes. 1952 ist revolutionär, und das heißt rücksichtslos, gehandelt worden. hn Frühjahr 1990 reichte der revolutionäre hnpuls der friedlichen Revolution des Herbstes 1989 nicht mehr aus, um die Verwaltungsstruktur auf Kreisebene auf ihren Stand vor 1952 zurückzuftihren. Eine solche Maßnahme hätte einige hundert Kreisverwaltungen beseitigt und tausende von Verwaltungsangestellten arbeitslos gemacht, was eine nicht geringe Unruhe verursacht hätte.

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Es ist überhaupt nicht bedacht worden, daß nach 1952 entlang der alten Landesgrenzen Eingemeindungen stattgefunden haben, so daß es 1990 zusammengesetzte Gemeinden gab, deren namengebender Ortsteil vor 1952 einem anderen Lande zugehörte als der eingemeindete. Im Zuge der Länderneubildung entsannen sich die Bewohner des Ortsteils ihrer alten landeszugehörigkeit; ihr Wunsch nach Rückkehr zu diesem Land konnte aber nicht zur Geltung gebracht werden, weil das Ländereinftihrungsgesetz die Gemeinden von 1990 als kleinste Einheiten der Territorialstruktur behandelt. Auch hier zeigt sich die mangelnde Sachkenntnis, die bei der Ausarbeitung des Gesetzes zu verzeichnen war. VL

Bei alledem ist es nicht verwunderlich, wenn die nunmehr entstandenen fünf neuen Bundesländer nicht den Grundsätzen einer modernen, wissenschaftlich begründeten Raumordnung entsprechen. 16 llue Entstehung war von mancherlei Beeinflussungen, Stimmungen, Gruppeninteressen und Einzelaktionen abhängig; eine rein rationale Bewältigung der Aufgabe war unter diesen Umständen nicht möglich. In der Hast der Ländereinführung blieb keine Zeit für ruhige, sachliche Oberlegungen, so daß die große Chance nicht genutzt werden konnte, eine den Anforderungen der Zeit und der künftigen Entwicklung angemessene Territorialstruktur zu schaffen. Vielmehr wurden alte, wenig sinnvolle Abgrenzungen und Zuordnungen konserviert. Das gilt vor allem für die Neuformierung des landes Sachsen-Anhalt, das zwar gegenüber seinem Umfang von 1952 um sechs Kreise verkleinert wurde, insgesamt aber als ein von der Besatzungsmacht 1945 geschaffenes künstliches Gebilde erhalten blieb. Aus dem Territorium der Bezirke Halle und Magdeburg hätte der Raum nördlich des Harzes mit der uralten brandenburgischen Alt· mark wieder mit dem lande Brandenburg vereinigt werden, hätte Sachsen einen größeren Teil seiner 1815 an Preußen verlorenen Gebiete zurückerhalten und Thüringen das altthüringische Gebiet an der unteren Unstrut wiedererlangen können. Diese zuletzt genannte Regelung wurde im März 1990 von einer "Initiativgruppe Vereinigung Nordthüringens mit dem lande Thüringen" angestrebtP Nach diesen Vorstellungen sollten die Kreise Artern, Nebra, Naumburg, Sangerhausen und Zeitz nicht an Sachsen-Anhalt, sondern an Thüringen fallen. Im Kreis Weißenfels gab es gleichzeitig den Gedanken, sich an das land Sachsen anzuschließen. Diese beiden Initiativen hätten das land Sachsen-Anhalt um weitere sechs Kreise verkleinert. 16 Vgl. Blaschke, Alte Länder (Anm. 10), S. 40, wo versucht wurde, die dabei heranzuziehenden Gesichtspunkte zusammenzustellen. 17 "Tagespost", Erfurt, vom 16.3.1990, S. 10.

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Die Bildung eines wirtschaftlich leistungsfähigen Großraumes Mitteldeutschland, wie er in den zwanziger Jahren im Gespräch war, lag unter diesen Bedingungen völlig außerhalb aller Möglichkeiten. 18 Statt dessen wurden Grenzlinien beibehalten, die auf dynastisch begründeten Zufälligkeiten beruhten, wie im Falle der Zugehörigkeit von Altenburg zu Thüringen, oder die als Ergebnisse preußischer Macht- und Eroberungspolitik zustandegekommen waren. Bei der Neubildung der Länder auf dem Boden der DDR ist auch nirgends daran gedacht worden, daß es unter den alten Bundesländern mancherlei unbefriedigende Regelungen gibt und daß diese Länder einen seit Jahrzehnten bestehenden Verfassungsauftrag zur territorialen Neugliederung immer wieder vor sich herschieben. Das hätte eine Mahnung zu einer klugen, gründlich vorbereiteten Lösung und eine Warnung vor der Meinung sein sollen, man könne ja durch künftige Nachhesserungen die in der Eile der Wendezeit gemachten Fehler und offengelassenen Probleme bereinigen. Derartige Meinungen sind tatsächlich geäußert worden, aber sie hatten keinen anderen Wert als den, daß sich die in dieser Weise argumentierenden Politiker damit über die Halbheiten und Unzulänglichkeiten ihres Tuns hinwegtrösteten. Diese resignierende Haltung kommt in dem einsichtsvollen Brief des damaligen geschäftsführenden stellvertretenden Vorsitzenden der CDU in der DDR, Horst Korbella, als Antwort auf die Zusendung der in Anmerkung 10 genannten Denkschrift zum Ausdruck. Er schrieb unter dem 2. August 1990, also zehn Tage nach Annahme des Ländereinführungsgesetzes: "Wie recht Sie mit Ihren Betrachtungen und Erwägungen haben! Aber eine der Begleiterscheinungen, die uns gegenwärtig umgeben, ist offensichtlich die, daß zur Zeit nirgends etwas Seriöses - auf dauerhafte Zukunft Gerichtetes installiert wird (weil sicherlich auch nicht installiert werden kann). Viel zu kurz ist die Zeit vom ersten öffentlichen Ruf nach den Ländern in der DDR bis zum Ländereinführungsgesetz gewesen, da konnte tatsächlich nichts Gescheites entstehen. Ich bin aber von folgendem überzeugt : Auch wenn es stimmt, daß sich die Bundesrepublik bei der Überwindung ihrer verfestigten Territorialstruktur in den vergangenen Jahrzehnten so schwer tat, so wird nach der neuen deutschen staatlichen Einheit die Struktur-Disproportion zu den ehemals DDR-Ländern so groß sein und so viel staatlichen Aufwand erfordern, daß man dann recht schnell eine gesamtdeutsche Gebietsreform ins Auge fassen muß. Das Beharrungsvermögen in den Ost-Ländern wird dann sicherlich nicht so groß sein wie in den bisherigen Bundesländern, weil auch das, was am 14. Oktober personalpolitisch installiert werden wird, sicherlich noch keine überzeugende Dauerleistung sein kann." 18 Mitteldeutschland auf dem Wege zur Einheit. Denkschrift über die Wirkung der innerstaatlichen Schranken. Im Auftrag des Provinzialausschusses der Provinz Sachsen herausgegeben vom Landeshauptmann der Provinz (E. Hübener), Merseburg 1927, XVI, 210 und 111 S.

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Wie schnell sich das im Sommer 1990 geschaffene Ländergefüge verfestigte, zeigte sich beispielhaft an der brandenburgisch-sächsischen Grenze entlang der Schwarzen Elster. Dort hatten sich in den beiden Kreisen Iiebenwerda und Senftenberg die Bürger mit 53 bzw. 54% für Sachsen entschieden, beide Kreise waren aber irrfolge der gegensätzlichen Voten der Kreistage dem Lande Brandenburg zugeschlagen worden. Daraufhin bildete sich am 2. August 1990 spontan eine "Allianz für Sachsen", die sich am nächsten Tage an die Präsidentin der Volkskammer wandte und für 30 Gemeinden in den beiden Kreisen die Ausgliederung aus Brandenburg und die Zugehörigkeit zu Sachsen forderte. Eine gemeinsame Erklärung der beiden Regierungsbeauftragten für die Bezirke Cottbus und Dresden und des Vorsitzenden der "Allianz für Sachsen" legte fest, daß alle Schritte ftir die überftihrung der Gemeinden nach Sachsen vorbereitet werden und die Vertreter der Allianz ab sofort zum Sächsischen Forum in Dresden, das die Konstituierung des Landes Sachsen vorbereitete, zugelassen werden sollten. Auch nach der Gründung der Länder am 3. Oktober 1990 blieb die Mehrheit der Bevölkerung ftir Sachsen erhalten, wie sich bei Abstimmungen in Ortrand am 14.10. und in Lauchhammer am 24.10. zeigte. Als der brandenburgisehe Ministerpräsident Stolpe am 22. Dezember in Ortrand erschien, wurde er mit den weiß-grünen Fahnen Sachsens empfangen. Er erklärte den versammelten Einwohnern: "Wir wollen kein Sklavenhalterstaat sein, wer von uns gehen will, soll von uns gehen." Dessen ungeachtet wurden aber seitdem von brandenburgischer Seite viele Aktivitäten entwickelt, um in den betreffenden Gemeinden einen Stimmungsumschwung herbeizuführen. Das geschah vor allem durch die Androhung des Verlustes von Arbeitsplätzen nach einem übergang an Sachsen. Da die Menschen in den neuen Bundesländern nunmehr auf diesem Gebiet besonders empfmdlich waren und die Erhaltung des Arbeitsplat· zes für jeden die große Sorge war, entstand durch Panikmache, Flüsterpropaganda, Einschüchterungen und sich festigende Verwaltungsstrukturen ein massiver Druck gegen den Wunsch zur Angliederung an Sachsen, der seit Ende Februar 1991 zum allmählichen Abbröckeln der "Allianz für Sachsen" führte. Am 24. April entschieden sich die Stadtverordneten und Gemeindevertreter von Ruhland, Ortrand und weiteren Gemeinden z. T. mit einer Stimme Mehrheit für Brandenburg, obwohl der Bürgerentscheid von 1990 gerade in den beiden hier genannten Städten 92 bzw. 97 % ftir Sachsen ergeben hatte. Diese Vorgänge zeigen, wie wenig in diesen Fällen die demokratische Willensentscheidung der Bevölkerung bei der endgültigen Festlegung der neuen Ländergrenzen berücksichtigt worden ist. Die Aussicht auf künftige Korrekturen, die in der Eile der Länderneubildung als Entschuldigung für offensichtlich unzulängliche Lösungen vorgebracht wurde, schwindet mit Rücksicht auf solche Erfahrungen auf ein Nichts zusammen.

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VIL

Die Neubildung der Länder auf dem Boden der DDR im Jalue 1990 war eine große Aufgabe flir die Politik, die mit bestimmten Methoden gelöst werden mußte und zu einem bestimmten Ergebnis führte. Die Aufgabe war klar gestellt, sie ließ mehrere Möglichkeiten offen. Die dabei angewandten Methoden entsprachen nicht dem gegenwärtigen Stand wissenschaftlich begründeter politischer Raumordnung, sie wurden von den Zwängen einer emotional reagierenden, in sachlicher Hinsicht wenig informierten Bevölkerung und vom Druck einer sich bildenden Lobby, ebenso aber auch von den Machtinteressen der sich schnell verfestigenden neuen Länder bestimmt. Man muß unter diesen Umständen von einem primitiven politischen Niveau sprechen, auf dem sich die Länderneubildung vollzog. Das Ergebnis ist unbefriedigend, in seiner Anwendung unrentabel und führt zur Verschwendung von öffentlichen Mitteln in mehrsteiligen Millionenbeträgen. Von der Weisheit, mit der die Gründer der Länder Niedersachsen und Baden-Württemberg versehen waren, zeigten sich die verantwortlichen Politiker in der zu Ende gehenden DDR weit entfernt. So bleibt die Frage offen, ob politische Vernunft oder wirtschaftlicher Zwang in Zukunft zu Veränderungen führen können, die dasjenige nachholen müßten, was 1990 versäumt wurde.

Wilfried Fiedler DIE HERSTELLUNG DER SOUVERÄNITÄT DEUTSCHLANDS UND DIE AUSWIRKUNGEN AUF DAS GEEINTE BUROPA L Die Ausgangssituation Die Thematik vereinigt Gesichtspunkte, die bei näherem Hinsehen eine gewisse Grundspannung 1 nicht verbergen können, auch wenn gerade in der Ergänzung des Begriffs der Souveränität durch den Hinweis auf das geeinte Europa eine durchaus schon gewohnte Harmonisierung zum Ausdruck gelangt. Die schon selbstverständliche Einbettung der staatlichen Einheit Deutschlands in einen wie immer gearteten europäischen Zusammenhang ist geeignet, die dahinter verborgene rechtliche Grundproblematik zu verdecken, und man wird sich erinnern, daß der europäische Zusammenhang unter der Geltung der alten Fassung der Präambel des Grundgesetzes auch dazu dienen konnte, die Teilung Deutschlands zu akzeptieren bzw. zu festigen, z. T. auch durch letztlich merkwürdige Interpretationen des Verfassungstextes.Z Die Tatsache, daß nunmehr die Einheit Deutschlands in einem europäischen Zusammenhang und im Rahmen der Europäischen Integration erfolgte, kann nur belegen, daß bestimmte Konfliktmöglichkeiten umgangen werden konnten, nicht aber, daß sie von vornherein nicht gegeben waren. 3 Das Problem der staatlichen Souveränität stellte sich darüber hinaus nicht nur in Verbindung mit der staatlichen Einheit Deutschlands, sondern war auch unausgesprochen Gegenstand zahlreicher gemeinschaftsrechtlicher Fragestel' Vgl. A. Randelzhofer, Deutsche Einheit und Europäische Integration, VVDStRL 49 (1990 ), 120 ff. 2 Näher W. Fiedler, Europäische Integration und deutschlandpolitische Optionen eine Alternative?, in : Europäische Integration und deutsche Frage, hrsg. von J. Hacker und S. Mampel, 1989, 115 ff. 3 Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur E. Klein, Deutschlandrechtliche Grenzen einer Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäischen Gemeinschaften, DÖV 1989, 957 ff.; K. Doehring, Die Wiedervereinigung Deutschlands und die Europäische Integration, NJW 1982, 2209; D. Murswiek, Wiedervereinigung Deutschlands und Vereinigung Europas, in : D. Blumenwitz/B. Meissner, Die Überwindung der europäischen Teilung und die deutsche Frage, 1986, 103 ff., jeweils in bezugauf die Situation vor 1989. Eine umfassende Literaturauswertung liefert H. J. Brauns, Wiedervereinigung und europäische Integration, 1990, passim ; zum historischen Zusammenhang 0. Kimminich, Deutschland und Europa, 1992.

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lungen, wie etwa unter der Thematik, ob und wieweit die Mitgliedstaaten noch als "Herren der Verträge" zu betrachten seien oder nicht. 4 An diese Fragen zu erinnern, ist keineswegs müßig. Denn in ihnen dokumentierte sich die rechtliche Grundkonstellation, in der sich Deutschland in der Gestalt der früheren Bundesrepublik seit den ftinfziger Jahren stets befand, die sich fortentwickelte und nunmehr nach der staatlichen Einigung auf veränderte Weise nach wie vor besteht. Das Problem der staatlichen Souveränität ist daher von vornherein auf das engste mit der Frage nach ihrer Bedeutung in einem geeinten Europa verknüpft, mit allen wechselseitigen Ausstrahlungen, die gerade nicht mit den Mitteln der abstrakten Logik oder der traditionellen juristischen Ableitung erfaßt werden können. IL Das Souveränitätsverständnis der Gegenwart

Die Verknüpfung der Herstellung staatlicher Souveränität mit dem allgemeinen Problem von - fortbestehender - Souveränität in einem geeinten Europa könnte Anlaß dazu geben, der komplexen Problematik durch eine Neubestimmung der staatlichen Souveränität schlechthin entfliehen zu wollen, etwa in dem keineswegs neuen Sinne, es könne im Zeichen fortschreitender internationaler Verflechtung, übergreifender Bündniszugehörigkeiten und supranationaler Integration ohnehin nicht mehr um einzelstaatliche Souveränität gehen. Ein derartiger Ansatz verkennt die juristische Ausgangslage und vermengt unterschiedliche Fragestellungen. Denn nach wie vor bewegt sich die völkerrechtliche Diskussion auf der Grundlage des traditionellen Souveränitätserfordernisses zur Feststellung der Völkerrechtssubjektivität trotz erheblicher Wandlungen der zwischenstaatlichen Beziehungen. 5 Diese wiederum sind einer rechtlichen Bewertung ausgesetzt und orientieren sich keinesfalls an faktischen Abhängigkeiten staatlicher Existenz. Maßgeblich ist daher nach wie vor die Völkerrechtsunmittelbarkeit und in diesem Sinne die rechtliche Unabgeleitetheit innerer wie äußerer staatlicher Hoheitsgewalt von anderen Faktoren neben der geltenden Völkerrechtsordnung. 6 Die rechtliche Natur des Souveränitätsbefundes schließt faktische Eingrenzungen nicht aus, ebensowenig die rechtliche Bindung durch Verträge. 7 Keine 4 Vgl. U. Everling, Sind die Mitgliedstaaten noch Herren der Verträge?, Festschrift ftir Mosler, 1983, 173 ff.; BVerfGE 75, 223 ff., 242. 5 Vgl. H. Steinberger, Sovereignty, EPIL, hrsg. von R. Bernhardt, Inst. 10, 1987, 397 ff., 408 ff.; L. Bindschedler, Betrachtungen über Souveränität, in: RdC 1968, en hommage aPaul Guggenheim, 167 ff., 170 ff.; A. Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, 691 ff., bes. Rdnr. 7 ff. 6 Näher A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl., 1984, § 34 ff. 7 Vgl. L. Wildhaber, Entstehung und Aktualität der Souveränität, Festschrift Eichen-

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Rolle spielt demnach die Frage der "tatsächlichen politischen Bewegungsfreiheit" innerhalb eines souveränitätsbeschränkenden Rahrnens. 8 Folglich konnte auch nicht maßgeblich sein, ob die Bundesrepublik vor dem 3. Oktober 1990 die Vier- oder Drei-Mächte-Rechte faktisch als Bürde empfunden hatte oder nicht. Wilhelm G. Grewe mochte zwar 1955 festgestellt haben, daß sich "seit vielen Jahren schon dieses Netz der Vier-Mächte-Abmachungen und Vier-Mächte-Institutionen in einem Prozeß der Zersetzung und Auflösung" befunden habe, 9 doch wurde ein entsprechender tatsächlicher Befund bis 1990 niemals durch eine rechtliche Freistellung10 abgelöst. Die 1955 konstatierte "Zersetzung und Auflösung" wurde vielmehr ihrerseits spätestens in den siebziger Jahren selbst wieder abgelöst durch eine Neuvernetzung bzw. Bestätigung der Vier-Mächte-Rechte, nicht zuletzt im Rahmen der Ostverträge und des VierMächte-Abkommens über Berlin vom 3. September 1971Y Es gehört wohl zu den Eigentümlichkeiten dieser Rechtslage, daß das ganze Ausmaß der auch tatsächlich spürbaren Souveränitätsbeeinträchtigungen 12 in manchen Teilen Deutschlands erst in dem Zeitpunkt bewußt geworden ist, als einzelne Einrichtungen, wie die alliierten Militärmissionen, aufgelöst wurden oder der Abzug von Truppen der Westalliierten regionale Probleme des Arbeitsmarktes schufen. Tatsächliche Befmdlichkeiten dieser oder vergleichbarer Art ändern nichts am juristischen Ausgangspunkt der Souveränitätsfrage und an dem grundsätzlichen Unterschied der rechtlichen Basis für tatsächlich wirkende Souveränitätsbeschränkungen, je nachdem, ob diese auf der freien Entscheidung der souveränen Staaten beruhen oder nicht. Insofern bestehen auch keine Vorabfluchtmöglichkeiten aus der juristischen Dimension der Souveränitätsfrage, folglich auch nicht auf dem Wege über ein spezifisches Europa-Verständnis. Denn dieses wäre von Anfang an ebenfalls auf rechtliche Grundpositionen angewiesen, die von dem rechtlichen Status der Mitgliedstaaten ganz selbstverständlich erfaßt werden. Lösungen der Souveränitätsproblematik scheinen sich daher am

berger, 1982, 131, unter Auflistung der die Souveränität des Staates nicht beeinträchtigenden Situationen (unter Anlehnung an J. Crawford). • Vgl. z. B. M. Saalfeld, Die Bundesrepublik Deutschland und die Souveränitätsfrage, NZWehrr 1989, 221 ff., 235. Er erklärt die Souveränitätsbeschränkung der früheren Bundesrepublik aus einer "Selbstbindung, die sie lösen könnte, wenn sie es wollte" (234 ). • W. Grewe, Souveränität der Bundesrepublik, AÖR 80 (1955/56), 231 ff., 233. 10 Daß dies keine Freistellung von Grenzen bedeutet, die das geltende Völkerrecht selbst setzt, kann heute als Selbstverständlichkeit gelten. Insofern ist es berechtigt, von einer "Relativität" der Souveränität zu sprechen. Vgl. L. Wildhaber, Sovereignty and International Law, in: R. St. J. MacDonald, D. M. Johnston (Ed.), The structure and process of International Law, 1986, 425 ff., 440 ff. 11 Vgl. R. Scholz, Der Status Berlins, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, 351 ff., Rdnr. 33 ff. m.w.N. 12 Vgl. unten, Anm. 16, 23. 10 Fischer I Haendcke-Hoppe·Arndt

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ehesten im Ralunen der rechtlichen Souveränitätsdimension selbst erzielen zu lassen. 13

111 Die Wiederherstellung der staatlichen Souveränität 1990f91 Damit ist die Frage des Vorgangs und der Auswirkung der Herstellung der Souveränität des deutschen Staates im Jahre 1990 ins Blickfeld gerückt. Der dabei beschrittene Weg und seine Beurteilung geben zugleich Aufschluß über den Stellenwert der Souveränitätsfrage ftir die künftige Europa-Orientierung Deutschlands. Betrachtet man zunächst lediglich die Souveränitätsproblematik im engeren Sinne, so bestehen erhebliche Orientierungsschwierigkeiten, wenn die gesamte Souveränitätsdiskussion der Bundesrepublik und der früheren DDR mit einbezogen werden. Denn ein erster Blick könnte den Eindruck bestätigen, als sei die Souveränitätsdiskussion bereits abgeschlossen gewesen, längst bevor der Souveränitätsstatus im Oktober 1990 vertraglich erreicht worden ist. Wenn Art. 7 Abs. 2 des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland (Souveränitätsvertrag) vom 12. September 1990 14 feststellt, das vereinte Deutschland habe (nach dem Ende der Rechte der Vier Mächte) demgemäß die "volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten", so wird dadurch unwiderlegbar deutlich, auf welch schwankendem Boden sich die jahrzehntelange Souveränitätsdiskussion bewegt hatte. Im Grunde behalf man sich mit der Reduktion auf eine Souveränität von Bundesrepublik und DDR ,,mit Ausnalune der Vorbehalte" der Alliierten, 15 was nichts anderes bedeuten konnte als das Nichtvorhandensein 16 jener Souveränität, die in vollem Sinne der juristischen Bedeutung erst 1990 vertraglich wieder eingeräumt wurde. 1. Reduktion auf eine nur "relative" Souveränität Die Reduktion der Souveränität auf eine nur "relative" oder "partielle" entsprach dabei dem historischen Prozeß der Wiedereinräumung von Souveränitätsrechten nach 1949. Dabei war es die politisch begründete gedankliche Isolierung der alten Bundesrepublik, die das Souveränitätsproblem ganz auf diese zuschneiden ließ, so daß die Verbindung zum Völkerrechtssubjekt Deutschland 13 Vgl. etwa L. Wildhaber, a.a. 0. (Anm. 77); aus der Diskussion vgl. A. Bleckmann, Das Souveränitätsprinzip im Völkerrecht, ArchVR 23 (1985), 450 ff. 14 BGBI. 1990, II, 1218 ff. ; Bulletin v. 14.9.1990, 1153 ff. 15 Vgl. J. A. Frowein, Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins, Handbuch des Verfassungsrechts, 1984, Bd. 1, 29 ff., 40. Zur Bestätigung der Vier-Mächte-Rechte anläßlich des UN-Beitritts ebd., 41. 16 Zum Inhalt der Vier-Mächte-Rechte in einzelnen Bereichen ausführlich J.A. Frowein, ebd., 41 ff.; zur Vier-Mächte-Problematik insgesamt vgl. ferner R. Bernhardt und G. Ress, in: Isensee/Kirchhof, a.a.O. (s. Anm. 5 ), 321 ff., 449 ff. m. w. N.

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und zur auf dieses zugeschnittenen Vier-Mächte-Verantwortung fast völlig in den Hintergrund trat. Ganz konsequent kreiste die Souveränitätsdiskussion in erster Linie um die Bewertung des Deutschlandvertrages vom 5. Mai 1955, auch wenn die Vorbehalte insbesondere des Art. 2 die ungelöste Verknüpfung mit "Deutschland als Ganzem" immer wieder vor Augen ftihrten. Diese "abgeschichtete" Souveränitätsdebatte folgte damit - von der Souveränität der ehemaligen DDR ganz abgesehen - den Stufen der allmählichen Wiedergewinnung jener Teilsouveränität, die im Deutschlandvertrag vom 5. Mai 1955 schließlich der alten Bundesrepublik zugestanden wurde - dies wiederum in enger Verknüpfung mit einer europäischen Weichenstellung und abgesichert durch jene militärischen Vorkehrungen, die in den originären Vier-Mächte-Rechten wurzelten, 17 nicht hingegen in einer vertraglichen Gewährung. Dabei ist in Erinnerung zu rufen, daß die ursprüngliche Fassung des Deutschlandvertrages in den wegen des Scheiteros der EVG nicht in Kraft getretenen Formulierungen vom 26. Mai 1952 18 den Begriff der "Souveränität" überhaupt nicht enthielt und die Vorbehalte wesentlich offensichtlicher der statt dessen gewährten ,,full authority" an die Seite stellte. "Die Bundesrepublik hat volle Macht über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten, vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Vertrages" lautete die maßgebliche Bestimmung dieses Vertrages in Art. 1 Abs. 1. Während in der Vertragsfassung von 1954/55 bereits der Begriff der Souveränität auftauchte 19 und die Vorbehalte in den folgenden Artikeln sozusagen "nachgeschoben" wurden, führte schon die Formulierung von 1952 dazu, die Souveränitätsproblematik aufzuwerfen. Grewe bewältigte die theoretische Situation in einer systematischen Kommentierung des Bonner Vertrages von 1952, indem er die Vorbehalte der Alliierten im Sinne einer "begrenzten Zahl normierter und gegenständlich festgelegter Vorbehaltsgebiete" umschrieb und sie als "Regelwidrigkeit" während einer Übergangsperiode zwischen Kriegs- und Friedenszustand einstufte. 20 Die Frage der Identität jener ,,full authority" mit der "Souveränität" blieb im Hinblick auf den übergangszustand letztlich unbeantwortet, doch war die Ausgangsfrage zutreffend gestellt. Denn Grewe stellte klar, daß Souveränität im vollen Sinne einer plenitudo potestatis an sich nicht Kompetenzen betraf, sondern die Quelle selbst, aus der Kompetenzen abgeleitet werden. 21 Konsequent konnte die 1952 gewährte "full authority" nur als Minus für eine Obergangszeit eingestuft werden. 17 Zu den "bisher ausgeübten oder innegehabten Rechte(n) in bezugauf die Stationierung von Streitkräften" vgl. Art. 4 des Deutschland-Vertrages vom 5.5.1955 sowie die "Berliner Erklärung" vom 5.6.1945. 18 Wortlaut bei H. Kutscher/W. Grewe, Banner Vertrag, 1952. 19 Art. 1 Abs. 2 lautete: "Die Bundesrepublik wird demgemäß die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten haben." 20 A.a.O. (Anm. 18), S. 7 ff. 21 Ebd., S. 6; zur historischen Grundlegung der völkerrechtlich wirksamen staatlichen Souveränität bei J. Bodin, vgl. H. Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, 368 ff.

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Der Deutschlandvertrag vom 5. Mai 1955 verschaffte in diesem Sinne ebenfalls lediglich ein Minus, aber keineswegs die volle Souveränität, auch wenn die Einschränkungen des Jahres 1955 eher im Sinne einer Wiedererlangung staatlicher Souveränität interpretiert wurden. 22 Alle optimistischen Auslegungen konnten vor dem Hintergrund des Jahres 1990 nichts daran ändern, daß die Bundesrepublik Deutschland 1955 keine volle Souveränität erlangt hatte, mochte der isolierende Blick auf die Bundesrepublik im Vergleich zur vorhergehenden Situation auch eine deutliche Verbesserung im Sinne einer Annäherung an den Status voller Souveränität bedeutet haben. 23 2. Relative Souveränität und deutsche Einheit Die beschönigende Interpretation rechtfertigte sich zwar aus dem nunmehr erreichten Zustand der nur durch begrenzte Vorbehalte geschmälerten "Souveränität", doch änderte dies nichts an der damit verbundenen begrenzten Blickrichtung, die Deutschland als Ganzes einschließlich Berlins kaum mehr juristisch-materiell wahrnahm und nur auf diese Weise die gedankliche Hürde überwinden konnte, die in Art. 2 dadurch errichtet wurde, daß existentielle Fragen des deutschen Staates unter den Vorbehalt allüerter Entscheidung gestellt wurden?4 Daß darüber hinaus das deutsche Volk als Souverän nur zu einem- wenn auch beträchtlichen - Teil zum Zuge kam, sei nur am Rande erwähnt. 25 Gewichtige Stimmen versuchten zwar, die 1955 eingeräumte "volle Macht eines souveränen Staates" im Sinne nunmehr vertraglich gewährter Vorbehalte zu deuten, doch erkannten zahlreiche Autoren durchaus das Ausmaß des weiter bestehenden Souveränitätsmangels, der im Hinblick auf Gesamt-Deutschland offensichtlich sein mußte. Ein harter Kritiker der Souveränitätsdiskussion konnte daher insgesamt schlußfolgern: Da der am 5. Mai 1955 erreichte internationale Status der Bundesrepublik weder der eines souveränen Staates noch der eines besetzten Landes, noch der eines Protektorats sei, könne er nur als " Vgl. aus neuererZeitneben M. Saalfeld, a.a.O. (Anm. 8), K. M. Kolb, Wie souverän ist die Bundesrepublik Deutschland? ZRP 1990, 274 ff.; ferner B. Losch, Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, Jura 1988, 511 ff. 23 Zum Umfang der verbliebenen Beschränkungen D. Schröder, Die Reste des Besatzungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, ROW 1989, 73 ff.; J. F. Bentzien, Die alliierten Vorbehaltsrechte als Teil des völkerrechtlichen Status Deutschlands, ROW 1988, 8 ff.; zur Praxis in Berlin eindrucksvoll D. Wilke/J. Ziekow, Die Entwicklung von Status und Verfassung des Landes Berlin seit 1945, JöR N.F. 37 (1988), S. 168 ff.; konsequent in der Schlußfolgerung Th. Schweisfurth, Deutschland - noch immer ein besetztes Land, Festschrift für Seidl-Hohenveldern, 1988, 5 37 ff. 24 Als Beispiel für eine die Bundesrepublik isolierende Sicht "außerhalb der VierMächte-Verantwortung" vgl. K. M. Kolb, a.a. 0. (Anm. 22), 280. 25 Zur Frage des Subjekts des Selbstbestimmungsrechts jetzt ausführlich E. Klein, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die deutsche Frage, 1990, 67 ff.

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der eines abhängigen Staates besonderer Art gekennzeichnet werden. 26 Wenn derselbe Autor freilich meinte, die versteinerten oder festgeschriebenen Besatzungsnormen würden mit der Zeit "gegenstandslos, unbeachtlich und schließlich auch de iure kraftlos werden", 27 so blieb er - aus der Sicht des Jahres 1990 - Opfer eines unübersehbaren politischen Optimismus. Wenn Frowein 1983 feststellte, es sei "unzweifelhaft, daß nach Auffassung aller an dem Rechtsverhältnis Beteiligten nach wie vor Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte bestehen",28 so bestätigte dies die Auffassung von der begrenzten Souveränität der Bundesrepublik Deutschland nachdrücklich. 29 Die 1985 geäußerte Sorge in bezug auf einen dauerhaften Interventions- und Hegemonieraum in Mitteleuropa war keineswegs unbegründet und erklärte das Drängen auf eine abschließende friedensvertragliche Regelung. 30 Daß diese Regelung 1990 weder im Rahmen des Art. 7 des Deutschland-Vertrages noch durch unmittelbares Betreiben der westlichen politischen Parteien in Deutschland, son· dern durch andere Ereignisse im Spätherbst des Jalues 1989 politisch ausgelöst und danach erst auf höchster staatlicher Ebene erzielt wurde, steht auf einem anderen Blatt. Ebenso treffend wie ernüchternd war insgesamt die in den frühen siebziger Jahren formulierte Bewertung des Deutschland-Vertrages von 1955: Für die Interpretation der Vorbehalte und der übrigen Souveränitätsbescluänkungen durch den Vertrag und seine Zusatzverträge sei es wichtig zu wissen, daß der Zweck des Vertrages nicht die hochherzige Rückerstattung der deutschen Souveränität war, sondern die Verfolgung eines außenpolitischen Zieles, das nach Ansicht der Westmächte nur mit Hilfe eines wirtschaftlich starken und politisch stabilen, weitgehend selbständigen westdeutschen Staates erreicht werden konnte. 31 Die in dieser Beschreibung der Souveränitätsfunktion zum Ausdruck kommende Konzeption ging notwendig von der Teilung des deutschen Staates aus, weil sie nur auf diese Weise den äußeren Anschein voller staatlicher Souveränität vermitteln konnte. Daß politische Entwicklungsmöglichkeiten in dem 1955 erzielten Status enthalten waren, kann wohl nicht geleugnet werden; daß sie bis zum Ende der achtziger Jahre nicht hinreichend genutzt werden konnten, ebensowenig. Es blieb insgesamt bis zum Jalue 1990 in bezug auf die Bundesrepublik bei einer "Teilsouveränität" besonderer Art. Da derartige KonstrukH. Rumpf, Land ohne Souveränität, 1969, 37. Ebd. 28 A.a.O. (Anm. 15), 41. 29 Zur Selbstverständlichkeit dieses Befundes vgl. die Abhandlung von W. Hummer, Deutsche Wiedervereinigung und alliierte Vorbehaltsrechte. Vier-Mächte-Verantwortung oder Europäisierung der deutschen Frage?, in: österr. Zs. flir Pol., 1990, 203 ff., 205 f. 30 Vgl. W. Fiedler, Viermächte-Verantwortung ohne Friedensvertrag?, NJW 1985, 1052, unter Bezugnahme auf Steinberger, ebd., 1055, Anm. 63. Vgl. auch C. v. Goetze, NJW 1990, 2161 ff., 2163 f. 31 0. Kimminich, Die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland, 1970, 93. 26

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tionen rechtlich mit dem Souveränitätsprinzip kaum zu vereinbaren sind und jede "Halbsouveränität" ohnehin einen Widerspruch in sich darstellt, ist es klarer, von sektoral begrenzter Nichtsouveränität zu sprechen. In bezugauf den nicht untergegangenen deutschen Gesamtstaat trat dieser rechtliche Mangel um so stärker hervor. IV. Der Souveränitätsvertrag vom 12.9.1990

Betrachtet man vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen den Souveränitätsvertrag vom 12. September 1990,32 so fallt zunächst die Reihenfolge der geregelten Materien auf. Sie spiegelt Schwerpunkte und Interessenlagen der Beteiligten deutlich wider. Anders als im Deutschlandvertrag vom 5. Mai 1955 steht die Einräumung der (begrenzten) Souveränität keineswegs an der Spitze der Regelungen. Die am 5. Mai 1990 von Bundesminister Genscher mitgeteilte Tagesordnung der Zwei-plus-Vier-Konferenzserie setzte vielmehr mit Grenzfragen und der politisch-militärischen Problematik einschließlich der Berücksichtigung von Sicherheitsstrukturen in Europa ein. 33 Deutlich wurde damit die offensichtliche Abhängigkeit der Souveränitätsfrage von der Regelung klassischer friedensvertraglicher Gesichtspunkte einerseits, einvernehmlicher Beschreibung von politischen Grundpositionen andererseits. Zu den Grundpositionen in bezug auf Sicherheit und Stabilität zählte die Einbindung in den Prozeß der europäischen Einigung und der KSZE sowie die Verständigung auf die Grenzformel "nicht mehr, nicht weniger", 34 womit das Gebiet von Bundesrepublik, DDR und Berlin umrissen war. Ferner wurde in bezugauf die Souveränitätsproblematik die vor allem vom amerikanischen Außenminister betonte Ablehnung von "Singularisierung" und "Diskriminierung" Deutschlands 35 von Bedeutung. Unterschiedliche Auffassungen über den Souveränitätsstatus des vereinten Deutschland scheinen nur zwischen den Zeilen auf, etwa in der britischen Stellungnahme vom 8. Mai. 36

31 Vgl. die frühe ausfUhrliehe Würdigung von D. Blumenwitz, Der Vertrag vom 12.9. 1990 über die abschließende Regelung in bezugauf Deutschland, NJW 1990, 3041 ff. 33 Europa Archiv (EA) 1990, D 502. 34 So auch der französische Außenminister unter Bezugnahme auf Genscher, EA 1990, D 498. Vgl. auch K. Kinkel, unten Anm. 54. 35 Vgl. EA 1990, D 495 . 36 Vgl. die britische Stellungnahme vom 8.5.1990, EA 1990, D 503: "Nach unserer Auffassung wird ein vereintes Deutschland, wie in der Schlußakte von Helsinki niedergelegt, Anspruch auf souveräne Gleichberechtigung mit seinen Nachbarn haben. Wir haben den Wunsch, uns hierüber mit unseren westlichen Verbündeten zu beraten."

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1. Die Verflechtung mit parallelen Entscheidungsabläufen Ablauf und Ergebnis der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen sind bekannt. 37 Hervorzuheben ist dennoch die auffalli.ge Verzahnung der einzelnen Beratun· gen mit parallel geführten Gesprächen auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Von entscheidender Bedeutung waren bereits die Weichenstellungen vom 10. und 14. Februar 1990, den Daten des Blitzbesuchs von Kohl und Genscher in Moskau und der Vier-Mächte-Erklärung von Ottawa am Rande der open-skies-Konferenz der Außenminister. Die damit verbundene grundsätzliche Klärung in bezug auf die Vereinigung Deutschlands und die Zusammensetzung der Zweiplus-Vier-Runde ebneten den Weg ftir die ab Mai 1990 gefiiluten Gespräche. Ebenso bedeutsam wurde der zwischen der zweiten und dritten Gesprächsrunde plazierte Termin der Tagung des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs am 25. Juni 1990 in Dublin, weil die Unterstreichung des Ziels einer europäischen politischen Union 38 die Gewährung der vollen Souveränität Deutschlands erleichtern mußte. Hinzuweisen ist ebenfalls auf die noch vor der dritten Gesprächsrunde eingeschobene Beratung zwischen Kohl und Gorbatschow am 15. und 16. Juli 1990 in der UdSSR, wo nicht nur das Ziel der vollen Souveränität, sondern auch der Abschluß der Zwei-plus-Vier-Beratungen noch im Jahre 1990 ermöglicht wurden. Fast beiläufig wirkte die Bemerkung Genschers in der Presseerklärung vom 17. Juli, der Abschluß der Zwei-plusVier-Gespräche werde noch vor dem KSZE-Gipfel im November möglich sein.39 Parallel zu den Zwei-plus-Vier-Gesprächen fanden ferner die Beratungen über den Einigungsvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR statt, so daß es möglich wurde, die auf der Zwei-plus-Vier-Konferenz vorausgesetzten Verfassungsänderungen, vor allem im Hinblick auf Art. 23 Satz 2 GG, einzubeziehen. 2. Die Dominanz politischer Grundinteressen Wie in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre zeigte sich der Weg zur Erlangung der Souveränität bzw. eines Teiles von ihr eingebettet in vielschichtige Konferenzserien, vor allem in bezug auf Europa und den KSZE-Prozeß, jedoch ungleich komplexer durch die Herbeiflihrung der Einheit des deutschen Staates selbst. Nur eine außerordentlich günstige internationale Konstellation bot die Möglichkeit, innerhalb eines knapp bemessenen Zeitraums die staatliche Ein-

37 Zum Ablauf G. Gomig, Die vertragliche Regelung der mit der deutschen Vereinigung verbundenen auswärtigen Probleme, Außenpolitik, 3 ff., 6 ff. 38 Vgl. Bulletin vom 30.6.1990, 717 ff., 723; zur Sondertagung vom 28.4.1990 vgl. Bulletin vom 4. und 11.5.1990. 39 EA 1990, D 504 f.

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heit, wenn auch unter nicht zu unterschätzenden Opfern,40 herbeizuführen. Der Vorwurf, der Einigungsvorgang sei zu schnell erfolgt, geht an den internationalen Konstellationen und Voraussetzungen ihrer Nutzung völlig vorbei und zeugt von jener provinziellen Sicht, die vor dem Herbst 1989 auch für die Beziehung der Bundesrepublik zu einem vereinten (West-) Europa vorherrschte.41 Die Konzentration der Vier Mächte auf Fragen der Grenzen, der Truppenreduzierung sowie der Truppenstationierung und der Bündniszugehörigkeit macht wie schon 1955 mehr als deutlich, daß Grundinteressen des politischen Zusammenlebens von Staaten im Vordergrund standen, keineswegs aber eine moralisch-politisch motivierte Souveränitätsgewährung. Diese mag zwar ebenfalls eine gewisse Rolle gespielt haben, doch zeigen Aufbau und Inhalt des Zwei-plus-Vier-Vertrags deutlich die politisch-interessenbezogene Natur des Souveränitätsvertrages. Damit trägt dieser Vertrag wesentlich zu einer realen politischen und damit auch juristischen Selbsteinschätzung der Staatlichkeit Deutschlands bei. Das gilt auch ftir die Aussetzung der Vier-Mächte-Rechte durch die Erklärung vom 1. Oktober 1990. Denn auch diese - auf den ersten Blick merkwürdig erscheinende - vorzeitige Aufhebung der Vier-Mächte-Rechte schon zum Zeitpunkt der Vereinigung am 3. Oktober 1990 liegt in der Konsequenz der von der Zwei-plus-Vier-Runde eingeschlagenen Grundlinie der Nichtsingularisierung und Nichtdiskriminierung Deutschlands im Interesse einer künftigen Stabilität in Europa. Gleichzeitig manifestierte sich darin eine Reaktion auf politische Vorgänge in Deutschland, die aus der Sicht der Vier Mächte nicht mehr von ihnen zu steuern waren. Wenn der amerikanische Außenminister am 5. Mai 1990 von der "Unvermeidlichkeit und Erwünschtheit" der Vereinigung Deutschlands sprach,42 so drückt sich in der Berufung auf die "Unvermeidlichkeit" die Einsicht aus, daß die politischen Vorgänge in Deutschland spätestens seit der Volkskammerwahl vom 18. März nicht mehr durch die Vier Mächte zu steuern waren. Zwischen dem Treffen der Vier Mächte im Dezember 198943 im damaligen WestBerlin und dem Beginn der Zwei-plus-Vier-Gespräche lag der Niedergang der 40 Die Abtretung der Oder-Neiße-Gebiete stellte aus der Sicht des deutschen Gesamtstaates den endgültigen rechtlichen Verlust von rd. 114.000 km 2 Staatsgebiet dar, dessen Zugehörigkeit mit rd. 9,5 Mio deutschen Staatsangehörigen zum Völkerrechtssubjekt Deutschland vor 1945 unbestritten war. Das Territorium der früheren DDR betrug demgegenüber nur ca. 108.000 km 2 (Quelle bzgl. der Zahlenangaben Brackhaus Enzyklopädie, 19. Aufl., 5. Bd., 1988). 41 Vgl. W. Fiedler, Deutschland und Europa. Über die Zunahme der geistigen Provinzialität in der Deutschlanddiskussion, in : 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 1989, 79 ff. 42 EA1990,D497. 43 Es fand am 11.12.1989 im Alliierten KontraUratsgebäude in Wcst-Berlin statt, FAZ, 12.12. und 13.12.1989.

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faktisch-politischen Einwirkungsmöglichkeiten grundlegender Art durch die Vier Mächte. Durch die Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrags auch durch die Sowjetunion im März 1991 44 hat die zuvor schon auftretende Frage der Bewertung der Suspendierungserklärung der Vier Mächte vom 1. Oktober 1990 an Bedeutung verloren. Bei einem längeren Ausbleiben des lnkrafttretens des Vertrags wäre notwendig ein rechtlicher Schwebezustand eingetreten. Er war auch für die Zeit seit dem 1. Oktober 1990 dadurch gekennzeichnet, daß einerseits die Suspendierung zeitlich für die Zukunft unbegrenzt geblieben, andererseits der Zustand, auf den sich die Suspendierung bezog, faktisch-politisch kaum mehr rekonstruierbar war. Zudem bezog sich die Suspendierung im wesentlichen auf die Vier-Mächte-Rechte einschließlich aller entsprechenden "Einrichtungen, Beschlüsse und Praktiken", ließ den Vertragsinhalt vom 12. September 1990 im übrigen aber unberührt. 45

3. Die begrenzte Rolle des Selbstbestimmungsrechts der Völker Trotz der faktisch-politischen Situation war es nicht der ausdrücklich so bezeichnete Weg der Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, der im Souveränitätsvertrag vom 12. September hauptsächlich beschritten wurde, sondern der davon weitgehend gelöste Weg vertraglicher Freigabe aus der VierMächte-Verantwortung. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in dem sich der Wunsch nach Abstreifung einer überlangen Periode der Abhängigkeit hätte äußern können, 46 blieb im Hintergrund und beeinflußte die Zwei-plus-VierGespräche wohl nur mittelbar. Das mag einerseits mit der ungesicherten verfahrensmäßigen Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker zusarnmenhängen,47 andererseits mit der von politischen Risiken begleiteten unmit44

1991.

Voraus ging die Billigung durch den Obersten Sowjet am 4.3.1991, vgl. FAZ, 6.3.

45 Durch die Ratifizierung des Souveränitätsvertrages hat sich auch die weitere Frage gelöst, ob die Suspendierungserklärung vom 1.10.1990 eine vertraglich unbeschränkte Vollsouveränität herbeigeführt hätte, die frei von sonstigen Vertragsbestimmungen isoliert gewährt wurde. (Die Suspendierung erfaßte jedoch ausdrücklich die Drei-MächteRechte aus Deutschland- und Überleitungsvertrag, vgl. die Bekanntmachung der Vereinbarung vom 27 ./28.9.1990, BGBI. li, 1386.) 46 Zur dogmatischen Einstufung überlanger Besatzungsperioden A. Roberts, Prolonged Military Occupation: The Israeli-Occupied Territories 1967, AJIL 84 (1990), 44 ff., unter ausdrücklicher Behandlung von Deutschland und Japan, 48 f. 47 Vgl. E. Klein, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, a.a.O. (Anm. 25), 49ff. m.w,N. Zur Problematik im Zusammenhang mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag D. Blumenwitz, a.a. 0. (Anm. 32), 3043. Zur völkerrechtlichen Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Völker allgemein W. Fiedler, Die Nation als Rechtsbegriff, Bemerkungen zu ihrem völkerrechtlichen Stellenwert, in : E. Jayme/E. Mansei (Hrsg.), Nation und Staat im internationalen Privatrecht, 1990, 45 ff., 50 ff. m. w. N.

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telbaren Thematisierung dieses Rechts. Denn eine zentrale Berufung auf das Selbstbestinunungsrecht der Völker hätte gerade deutlich gemacht, daß seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges dem deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht verweigert worden war. 48 Zugleich hätte die Frage auftauchen können, warum im Zusammenhang mit der Grenzregelung die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch die faktischen Vertreibungen der betreffenden Bevölkerung unterlaufen werden konnte.49 Der eingeschlagene Weg über die förmliche Aufhebung der Vier-Mächte-Rechte in der eingetretenen Weise 50 bot den vergleichsweise sichereren und geordneteren Weg, auch wenn die Einschätzung des Freiheitswillens des deutschen Volkes im Westen Deutschlands wenig Anlaß zu Unwägbarkeitengezeigt haben dürfte. Die gewählte Vertragslösung verzichtet zwar nicht ganz auf die ausdrückliche Einbeziehung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, doch wird es nur neben anderen Gesichtspunkten erwähnt51 so im vierten Satz der Präambel des Vertrages mit der Erwähnung der UN·Charta und der Gleichberechtigung der Völker, ferner im zehnten Präambelsatz mit der Formulierung: "In Würdigung dessen, daß das deutsche Volk in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts seinen Willen bekundet hat, die staatliche Einheit Deutschlands herzustellen, um als gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen."

Beide Präambelsätze machen deutlich, daß zwar das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen ein maßgeblicher Ausgangspunkt sein sollte, daß es jedoch von vornherein in die Konstruktion einer zukünftigen Friedensordnung in Europa hineinführen sollte. Es wurde daher nicht in allgemeiner Weise, sondern im Blick auf bestimmte politische Ziele (europäische Friedensordnung) freigesetzt. Damit wurde der politische Ausbruch des möglichen Grundgegensatzes zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Vier-Mächte-Verantwortung erfolgreich vermieden, wenn auch nur in Anerkennung des auf Wiederherstellung des ursprünglichen Staates gerichteten "defensiven" Selbstbestinunungsrechts.52 Wie weit der Souveränitäts-Vertrag vom 12. September 1990 verbietet bzw. ermöglicht, darüber hinaus das Selbstbestimmungsrecht im Sinne 48 Zu Grenzen und Inhalt der Vier-Mächte-Rechte C. v. Goetze, Die Rechte der Alliierten auf Mitwirkung bei der deutschen Einigung, NJW 1990, 2161 ff., bes. 2163 ff.. 49 Zum Zusammenhang von Selbstbestimmungsrecht und Territorialbezug vgl. nunmehr auch C. Tomuschat, Staatsvolk ohne Staat? Festschrift für Doehring, 1989, 985 ff., 999 ff. 50 Vgl. auch Blumenwitz, a.a.O. (Anm. 32), 3043. 51 Zur kontinuitätswahrenden Funktion der Vier Mächte jetzt ausfUhrlieh D. Blumenwitz, Die Überwindung der deutschen Teilung und die Vier Mächte, 1990. Zutreffend wurde in einem Ausblick prognostiziert, "daß die außenpolitische Route zur deutschen Einheit über die Vier-Mächte-Rechte läuft" (154). 52 In dieser Wortwahl D. Murswiek, Offensives und defensives Selbstbestimmungsrecht, Der Staat 1984, 5 23 ff.

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ethnischer Anknüpfung geltend zu machen, etwa im Zusammenhang mit Grenzregelungen bei der Statuierung von Minderheitenrechten, wäre an anderer Stelle ausführlich zu prüfen. 4. Die Grenzregelung Betrachtet man den Wortlaut des Vertrages und die damit zusammenhängenden Erklärungen, so herrscht der Eindruck der Harmonie und der Zukunftsorientierung vor, und es gerät leicht in Vergessenheit, daß die letztlich gefundene vertragliche Gestalt notwendig einen Interessengegensatz überwinden mußte. Dieser zeigt sich in besonderer Weise in Art. 1 des Souveränitätsvertrages im Zusammenhang mit der Grenzfestlegung, die später im Deutsch-Polnischen Vertrag vom 14. November 1990 bekräftigt wurde und Gegenstand eines umfassenderen Vertrages sein sollte. 53 Art. 1 des Zwei-plus-Vier-Vertrages trifft hierfür die Grundentscheidung. Denn die Grenzbestimmung des Art. 1 enthält der Sache nach in bezug auf die Oder-Neiße-Gebiete aus deutscher Sicht eine Gebietsabtretung, die auch in bezug auf verfassungsrechtliche Auswirkungen bereits im Zwei-plus-Vier-Vertrag festgelegt wurde. Art. 1 Abs.4 legt nicht nur fest, daß Bundesrepublik und DDR "sicherstellen, daß die Verfassung des vereinten Deutschland keinerlei Bestimmungen enthalten wird, die mit diesen Prinzipien (insbes. Verzicht auf Gebietsansprüche, Art. 1 Abs. 1-3) unvereinbar sind." Satz 2 des Abs. 4 nennt darüber hinaus ausdrücklich die Bestimmungen des Grundgesetzes, die entsprechend zu ändern bzw. zu berücksichtigen seien, nämlich die Präambel, Art. 23 Satz 2 und Art. 146 GG. Damit führt eine direkte Linie zum Einigungsvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR, der am 3. Oktober 1990 wirksam wurde und die entsprechenden Bestimmungen mit verfassungsändernder Mehrheit änderte bzw. ganz strich, wie Art. 23 GG. Der Eindruck eigenständiger und freier Änderung der Verfassung wird auf diese Weise durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag jedenfalls rnitgeprägt. Er läßt zumindest die Frage nach dem Ausmaß der freien Selbstbestimmung aufkommen, die in der Präambel des Souveränitätsvertrages vorausgesetzt wurde. Insofern wäre ein Verzicht auf die Nennung einzelner Bestimmungen des Grundgesetzes in Art. 1 Abs. 4 des Souveränitätsvertrages dem Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Völker angemessener gewesen. Damit sollen keine Zweifel am rechtswirksamen Zustandekommen des Souveränitätsvertrages geäußert, sondern im Gegenteil Möglichkeiten der Mißdeutung entgegengewirkt werden. Alle am Vertragsschluß Beteiligten konnten von freier Zustimmung der deutschen Vertragspartner ausgehen, 54 so daß in diesem Punkte keine recht53 Deutsch-Polnischer Vertrag vom 14.11.1990, BGBl. 1991, II, S. 1328 ff.; DeutschPolnischer Vertrag vom 17 .6.1991, BGBI. 1991, II, S. 1314 ff. 54 "Nichts ist uns aufgezwungen, und nichts ist uns abgerungen", Bundesminister Genscher in der Sondersitzung des Bundesrates am 8.10.1990, Bulletin v. 10.10.1990,

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liehen Bedenken auftauchen. Der faktische Druck, der von den tatsächlichen Verhältnissen in Deutschland ohnehin ausging, bleibt im Rahmen des vom Völkerrecht Tolerierten. 5. Fortbestehende Rechte der Drei Mächte Im Blick auf die zentrale Bestimmung des Art. 7 des Souveränitätsvertrages ergeben sich nicht unerhebliche Fragen, die rechtstechnisch dadurch ausgelöst wurden, daß Art. 7 des Souveränitätsvertrages zwar die volle Souveränität über die inneren und äußeren Angelegenheiten und das entsprechende Erlöschen der Vier-Mächte-Rechte einräumt, zahlreiche Rechte der Drei Mächte aus dem überleitungsvertrag vom 26. Mai 1952 aber bestehen bleiben. In einer Regierungsvereinbarung vom 27./28. September 1990 wurde das Fortbestehen großer Teile dieser Vertragsbestimmungen durch Notenwechsel geregelt, u.a. mit der charakteristischen Formulierung:

"Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärt, daß sie sämtliche angemessenen Maßnahmen ergreifen wird, um sicherzustellen, daß die weiterhin gültigen Bestimmungen des Überleitungsvertrags auf dem Gebiet der gegenwärtigen Deutschen Demokratischen Republik und in Berlin nicht umgangen werden." Die verfassungsrechtliche Frage, ob zur Regelung einer durchaus bedeutungsvollen Erhaltung von Drei-Mächte-Rechten nicht das Parlament hätte eingeschaltet werden müssen, wird überlagert von der anderen Frage, ob sich in Art. 7 des Souveränitätsvertrages nicht eine völkerrechtliche Aussage zum Fortbestand der Souveränitätsbeschränkungen durch Drei-Mächte-Rechte hätte fmden müssen. Bei der Interpretation des Art. 7 ergibt sich insbesondere ein inhaltlicher Gegensatz. Denn in Art. 7 Abs.l Satz 1 werden alle Rechte der einzelnen genannten Vier Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes "beendet". In Abs.1 Satz 2 werden konsequent die "vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken" beendet und alle "entsprechenden Einrichtungen 1265; vgl. auch die Äußerung von Kwizinskij im Obersten Sowjet zur Eröffnung der Ratifizierungsdebatte : Der deutsche Vertragspartner habe alle Teile des Vertrags freiwillig akzeptiert, was die Funktionsflihigkeit und Stärke dieses "historischen Dokuments" gewährleiste, FAZ, 6.3.1991. Deutlich die Darstellung vqn Bundesjustizminister K. Kinkel: "Beitrittsbedingt sind zunächst die Änderung der Präambel und die Aufhebung des Art. 23; Grundgesetzänderungen, die aus außenpolitischen Gründen unabdingbar waren. Die Alliierten, insbesondere die Sowjetunion, haben auf die Klarstellung gedrungen, daß mit dem Beitritt der DDR die Wiederherstellung des geeinten Deutschlands abgeschlossen ist. Dementsprechend waren im Grundgesetz alle wiedervereinigungsbezogenen Passagen zu streichen." V gl. Deutsche Rechtseinheit - eine Standortbestimmung, NJW 1991, S. 340 ff., 341.

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der Vier Mächte" aufgelöst. Bezüglich der Drei-Mächte-Rechte aus überleitungsund Deutschlandvertrag findet sich jedoch weder ein Vorbehalt noch eine Einschränkung, noch ein Hinweis auf nötige Vertragsbestätigungen. Bei einem politischen Konflikt müßte die Gewährung der vollen Souveränität sich interpretatorisch gegen den nur in schwächerer äußerer Form vereinbarten Fortbestand von bestimmten Drei-Mächte-Rechten durchsetzen.55 6. Politisch gebundene Souveränität? Die Wiedereinräumung der vollen Souveränität in unmittelbarem Zusammenhang mit der europäischen Einigung wirft die Frage auf, ob die nunmehr gewährte Souveränität aus dem Rahmen des üblichen fällt, indem sie von vornherein nur eine "europäische" Dimension zuläßt. Dies könnte mit der Formulierung des zehnten Präambelsatzes begründet werden, der das Selbstbestimmungsrecht und die staatliche Einigung unmittelbar an einem "vereinten Europa" orientiert ("um als gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen"). Ein entsprechendes Verständnis des Zwei-plus-Vier-Vertrages müßte sogleich mit dem völkerrechtlichen Grundverständnis von staatlicher Souveränität in Konflikt geraten. Denn dieses bezieht sich im wesentlichen auf ein Regelmerkmal jedes Völkerrechtssubjektes. In dem Maße, in dem die Vier Mächte ihre besonderen Rechte und Vorbehalte in bezug auf Deutschland aufhoben, trat das Regelmerkmal der Souveränität wieder unabgeleitet zutage. Bei näherem Hinsehen ergibt sich ohnehin, daß die Souveränität des deutschen Staates mit diesem das Jahr 1945 überdauert hatte, lediglich überdeckt durch die Rechte der Vier Mächte, die aus der Souveränität ableitbare Kompetenzen ausübten. Folglich stellt der "Souveränitätsvertrag" vom 12. September 1990 keine Ableitung der deutschen Souveränität aus den Vier-Mächte-Rechten dar, sondern die entsprechende Freigabe einer ohnehin mit dem Staat von vornherein gegebenen Rechtsqualität. Selbst wenn es in der Absicht der Vertragsparteien gelegen hätte, eine "europäische" Ausrichtung der Souveränität festzulegen, so hätte ihnen dazu die Rechtsmacht gefehlt. Eine andere Frage ist die Ausrichtung nicht der Souveränität, sondern der künftigen Politik Deutschlands auf Europa. Die Souveränität selbst wird dadurch jedoch nicht berührt. 56

55 Zu den fortbestehenden Rechten zählen u.a. auch finanzwirksame Beschränkungen, z. B. über das deutsche Auslandsvermögen (Sechster Teil, Art. 3 Abs. 1 und 3 des Überleitungsvertrags). 56 Ein formales Argument liefert darüber hinaus der Umstand, daß Art. 7 des Zweiplus-Vier-Vertrages selbst keine "europäische" Ausrichtung der Souveränität enthält, diese allenfalls durch Interpretation der Präambel ermittelt werden könnte.

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V. Europäische Einigung und KSZE-Prozeß In dem Maße, in dem das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf eine eher zurückhaltende Weise zugrunde gelegt wurde, trat in der Diktion des Vertrages die Einbindung in ein vereintes Europa hervor, dessen Aufgabe es sein soll, dem Frieden zu dienen. Das nunmehr vereinte Deutschland soll, so die Präambel, in dem beschriebenen Sinne als "gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt" dienen. Welche institutionellen Maßnahmen damit gerneint sein könnten, wird nicht näher ausgeführt und ist allenfalls durch Interpretation zu ermitteln.

Es steht zunächst fest, daß der Zwei-plus-Vier-Vertrag einerseits die Ebene der europäischen Einigung anspricht, auf der anderen Seite die Ebene des KSZE-Prozesses. Beide Ebenen werden in ihrer Zusammenfassung in der Präambel des Vertrages miteinander in Verbindung gebracht und umreißen die künftige politische Rolle Deutschlands in einem vereinten Europa. 1. Entwicklung der Beziehungen zu den osteuropäischen Nachbarn Dabei ist es nicht einfach, aus dem Vertragstext selbst konkrete Folgerungen für die künftige europäische Friedensordnung zu entnehmen. Denn die hierauf gerichteten Formulierungen lassen offen, welche institutionelle Weiterentwicklung der Vertrag selbst ansprechen könnte. Die Begleitdokurnente und der gesamte politische Zusammenhang des Vertrages machen jedoch deutlich, daß auf der einen Seite die Aktivitäten der EG im Sinne der Schaffung einer Politischen Union im Mittelpunkt stehen. Dieser Gesichtspunkt wird in der Rede des Bundesaußenministers bei der Vertragsunterzeichnung in Moskau am 12. September ausdrücklich erwähnt. 5 7 Hinzu treten dort jedoch weitere Gesichtspunkte, die den Faktor der Stabilität in Europa (Deutschland als "Stabilitätsanker für ganz Europa")58 zum Gegenstand haben. Gleichzeitig liegt eine besondere Betonung auf der Entwicklung der Beziehungen zu den Nachbarn in Mittel- und Osteuropa auf der Grundlage sicherer Grenzen. 59 Damit ist zwar das Europa der Zwölf zunächst als Ausgangspunkt festgelegt,60 doch streben die zur gleichen Zeit auf Mittel- und Osteuropa gerichteten Zielsetzungen kein Verharren der EG in ihrem derzeitigen Umfang an. Denn mit der Erwähnung der Entwicklung der Beziehungen zu den östlichen Nachbarn ist zugleich eine historisch-politische Funktion Deutschlands ange57

EA 1990, D 508.

58

Ebd. Ebd.

59 60

So ausdrücklich in der erwähnten Rede Genschers, EA 1990, D 508.

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sprochen, die darin besteht, Stabilität in Europa auch durch die überkommene Brückenfunktion nach Osteuropa zu vennitteln. Die angestrebte Politische Union kann sich daher nicht auf eine bloße Festigung der "westlichen" Europäischen Gemeinschaft beschränken, sondern hat von vornherein Europa insgesamt einzubeziehen. Auf diese Weise würde die Souveränität Deutschlands auch im Sinne traditioneller Aufgaben genutzt. Da der Souveränitätsvertrag insofern freie Hand läßt, ist auch einer entsprechenden Aktivität des deutschen Staates keine Grenze gesetzt. Da der Sicherheitsaspekt im gesamten Souveränitätsvertrag eine herausgehobene Rolle spielt, verbinden sich mit einer entsprechend auf Mittel- und Osteuropa erstreckten Politischen Union bedeutsame Vertragsziele. 2. Zeitlich "gestreckte" Verfahrensabläufe Diese wiederum ermöglichen die Erreichung eines entsprechenden Sicherheitsstandards auch dadurch, daß sie in einem insgesamt zeitlich "gestreckten" Verfahren verfolgt werden. Denn der Reduzierung der Truppenstärke Deutschlands entspricht der ausdrücklich festgelegte Abzug der sowjetischen Truppen bis zum Ende des Jahres 199461 sowie der ebenfalls eingeleitete übergreifende Abrüstungsprozeß. Durch die zeitliche Staffelung der Vorgänge wird Raum für parallel erfolgende Fortschreibungen der Politischen Union gegeben, die ihrerseits die ebenfalls parallel fortgeführte Wirtschaftsintegration ergänzt. Insofern wird der Prozeß der Wiedererlangung der vollen Souveränität Deutschlands abgelöst durch den Vorgang der weiteren Abgabe von staatlichen Souveränitätsrechten aller Mitgliedstaaten. 62 Daß die Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften und ihre Fortentwicklung ohne weiteres vorausgesetzt werden können, liegt zu einem wesentlichen Teil in der Art und Weise der Einbeziehung des Gebietes der früheren DDR in die EG begründet. Daß dabei das Prinzip der beweglichen Vertragsgrenzen die verfahrensmäßig unkomplizierte Handhabung des Art. 227 EWGV erlaubte und insofern eine Entsprechung zu Art. 23 Satz 2 GG bot, sei nur am Rande erwähnt. 63

61 Die Zeit bis zum endgültigen Abzug aller Truppen aus Deutschland im Sinne von Art. 4 des Zwei-plus-Vier-Vertrages stellt keine Zeit geminderter Souveränität dar, etwa im Sinne des Aufrechterhalten& früherer Hoheitsrechte. Folglich ist auch nicht von einer "gestreckten" Souveränitätserlangung auszugehen. 62 Die Abgabe von Souveränitätsrechten dieser Art berührt nicht den Grundstatus der Souveränität Deutschlands in einem allgemeinen Sinne. 63 Näher und zutreffend kritisch A. Randelzhofer, a.a.O. (Anm.l), S. 106 ff.. Zur Nutzung des Art. 23 GG im Jahre der Eingliederung des Saarlandes vgl. F. Fiedler, Die Rückgliederungen des Saarlandes an Deutschland, JZ 1990, 668 ff. m. w. N.

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VL Institutionelle Veränderungen

Das Ziel, über die EG und die Politische Union eine umfassende europäische Friedensordnung zu entwickeln, wirft Fragen auf, die im Blick auf den neuen Souveränitätsstatus Deutschlands notwendig auftauchen müssen. Dabei ist freilich klarzustellen, daß derartige Fragen sich nicht notwendig gerade aus der wiedererlangten Souveränität ergeben müssen, sondern aus dem politischen Status, der auf der Grundlage voller staatlicher Souveränität ein ungleich größeres Gewicht erlangt. Wenn der neue Status mehr bewirken soll als der vorhergehende, so sind in bezug auf die angestrebte Stabilität diejenigen institutionellen Veränderungen anzustreben, die sowohl der EG als auch einer Politischen Union die notwendigen Voraussetzungen der Entwicklung liefern. Zu erwähnen sind dabei gewisse Mängel, die den Europäischen Gemeinschaften derzeit nach wie vor anhaften. Zu ihnen zählt das Fehlen der vollen demokratischen Grundstruktur des Europäischen Parlaments in mehrfacher Hinsicht. 64 Denn die Beibehaltung der jetzigen institutionellen Situation dient jenem Europa der Exekutive, das weitestgehend ohne demokratische Kontrolle durch ein wirksam handelndes Parlament auskommen muß. Von Bedeutung ist zugleich, daß die Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes an die neuen Bevölkerungsstrukturen angepaßt werden muß, wenn nicht die auseinanderklaffende Repräsentation der verschiedenen Bevölkerungsteile in Europa über das Europäische Parlament zu einem langfristig unvermeidlichen Unruheherd werden soll. V/1 Künftige Schwerpunkte im Zeichen der Souveränität

Von vergleichsweise untergeordneter Bedeutung ist demgegenüber die alte Streitfrage, ob mehr die Richtung auf einen Bundesstaat oder mehr die Richtung auf einen Staatenbund eingeschlagen werden soll. Beide Begriffe sind mehr als aussagearm und lassen daher zahlreichen Varianten Raum. Da Deutschland insofern wie jeder andere Mitgliedstaat betroffen ist, ergeben sich keine Besonderheiten aus dem Gesichtspunkt der Souveränität. Diese gewinnt hingegen einen neuen Klang durch die häufig damit in Zusammenhang gebrachte gesteigerte politische "Verantwortung". Dieser kann es nicht entsprechen, sich lediglich als passives Mitglied der Gemeinschaft zu bewegen, sondern der Souveränitätsstatus setzt notwendig neue gestaltende Aktivitäten frei.

64 Vgl. statt anderer G. Ress, Über die Notwendigkeit der parlamentarischen Legitimierung der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften, in: Gedächtnisschrift für Geck, 1989, 625 ff. Die Referate von H. Steinberger, E. Klein und D. Thürer, VVDStRL 50 (1991), konnten nicht mehr einbezogen werden.

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Sie werden deutlicher auf der zweiten im Souveränitätsvertrag genannten Ebene, der Nutzung des KSZE-Prozesses. Wenn die Einbeziehung der Schlußakte von Helsinki und des KSZE-Prozesses insgesamt gelegentlich darauf beschränkt wird, die Existenz sicherer Grenzen in Europa zu gewährleisten, so ist dies eine Verkürzung, die schon in bezug auf die durch die KSZE bewirkte menschenrechtliche Entwicklung widerlegt wird. Denn ganz selbstverständlich weist die Erwähnung des KSZE-Prozesses auf künftige Aktivitäten in bezug auf Abrüstung und Menschenrechte, wobei es dem neuen Souveränitätsstatus Deutschlands entspricht, seine Rolle in diesem Sinne zum Tragen zu bringen. Bezüglich der Menschenrechte liegt es dabei auf der Hand, die eingeschlagene Entwicklung auf ganz Europa zu erstrecken 65 und etwa in bezugauf nationale Minderheiten nutzbringend einzusetzen. In diesem Rahmen wäre es unverständlich, würde sich die Bundesrepublik Deutschland nicht in angemessener Weise für die deutschen Bevölkerungsgruppen in Mittel- und Osteuropa einsetzen. Die Sicherung von Minderheiten· und Volksgruppenrechten dient nicht zuletzt dem Ziel der erwähnten Stabilität in Europa, von der menschenrechtliehen Bedeu· tung selbst ganz abgesehen. Für die Gestaltung des KSZE-Prozesses in diesem Sinne besitzt das souveräne Deutschland durch die Präambel des Zwei-plus-Vier· Vertrages ein unübersehbares zukunftsgerichtetes Mandat. Es wird verstärkt durch die am 21. November 1990 auf dem KSZE·Gipfel beschlossene "Charta von Paris für ein neues Europa".66 Sieht man diese zusammen mit den voraus· gesetzten Aktivitäten im Rahmen der EG und der Politischen Union, so steht am Ende der Entwicklung einer stabilen europäischen Friedensordnung auch die Herstellung offener Grenzen, wie sie im westeuropäischen Bereich bereits verwirklicht worden sind. Der aktive und selbstbewußte Einsatz flir diese Ziele verleiht der neu gewonnenen Souveränität eine zeitgemäße innere Gestalt. VIII Souveränität als "normal condition of states" Die erwähnten Aktivitäten Deutschlands im Rahmen von EG und KSZE be· treffen trotz ihrer vertraglichen Einbindung eine grundsätzlich verschiedene Kategorie im Vergleich zur rechtlichen Erlangung der vollen Souveränität. Während diese trotz aller zeitgemäßen Vieldeutigkeit rechtlich fixierbar bleibt, sind tatsächliche Auswirkungen auf das geeinte Europa im wesentlichen poli· tisch flexibel und damit im Rahmen der Vertragsbindung abänderbar. Darin zeigt sich zugleich die charakteristische Bedeutung der Souveränität, nämlich zu den "normal conditions of states" 67 zu gehören. In dieser Gleichstellung mit 65 So ausdrücklich die Rede des Bundesaußenministers am 3.2.1991 in Davos, Bulletin v. 6.2.1991, 89 ff., 92. 66 Bulletin v. 24.11.1990 unter Einbeziehung eines für den 1. 7.1991 terminierten Expertentreffens über nationale Minderheiten, 1418, nebst Tagesordnungen, 1421. 67 Vgl. statt anderer L. Wildhaber, a.a.O. (Anm. 7), 444.

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den übrigen Mitgliedstaaten der EG macht sich der neue Souveränitätsstatus wohl am deutlichsten bemerkbar. Denn jede Form der Abtretung weiterer Souveränitätsrechte an die EG muß notwendig von dem nunmehr vorauszusetzenden Status "normaler" Staatlichkeit ausgehen, enthält damit zugleich die Gesamtheit der Souveränitätsvermutungen bezüglich der jeweils nicht abgetretenen Kompetenzen. Damit bleibt, wie bei allen anderen EG-Mitgliedstaaten, ein Rest staatlicher Aktivität auch außerhalb europäischer Dimensionen erhalten. Auch in diesem Punkt wird deutlich, daß der Zusammenhang von staatlicher Souveränität und europäischer Einheit ein Mehr an tatsächlich wahrzunehmender politischer Gestaltung ankündigt.

Michael Keren ANSICHTEN EINES ISRAELIS ZUM WIEDERVEREINIGTEN DEUTSCHLAND Als meine Frau und ich wenige Tage vor dem 3. Oktober 1990 in Berlin eintrafen, stand die deutsche Wiedervereinigung an der Spitze der Welttagesordnung. In dieser schnellehigen Zeit hat sich die Lage inzwischen geändert: Die Ereignisse in unmittelbarer Nähe meiner Heimat überschatteten bis gestern alles andere. In diesen Ereignissen spielten Deutsche eine Rolle, die nicht unbedingt eine Heldenrolle ist. Aber ich bleibe bei dem mir ursprünglich gestellten Thema und trage funen einige meiner Gedanken zur deutschen Wiedervereinigung vor, obwohl sich aktuelle Ereignisse von Zeit zu Zeit in meine überlegungen einschleichen mögen. Als man mich bat, diesen Vortrag zu halten, zögerte ich, denn obwohl die Einladung auf die Ansichten "eines Israelis" verweist, befürchte ich, Sie könnten in mir doch einen Repräsentanten sehen. Nun, ich habe niemals einen anderen als mich selbst vertreten, und die heutige Gelegenheit stellt keine Ausnahme dar. Aber es gibt noch einen weiteren Grund: Die Volkswirtschaft ist mein eigentliches Forschungsgebiet, und ich halte Volkswirtschaft im Grunde genommen ftir sehr engstirnig, während unser Thema nach Weitsicht, nach einer historischen Perspektive verlangt. Ich fühle mich wirklich überwältigt von diesem Thema. Aber ich habe keine Alternative und muß es wagen. Kein Israeli, kein Jude kann an eine Deutschland betreffende Frage ohne gemischte Gefühle herangehen, am wenigsten an die Frage der Wiederherstellung eines Staatsgebildes, das in seinem Umfang dem Vorkriegsdeutschlands ähnelt. Die Vergangenheit, die neuere Geschichte, belastet uns noch. Aber diese Gefühle berühren jeden von uns auf verschiedene Weise. Die Gefühle unterscheiden sich bei jenen, die ursprünglich aus Deutschland stammen, und bei denen, deren Herkunft weiter östlich oder südlich liegt; sie sind anders bei jenen, die den Holocaust persönlich durchlitten, als bei denen, die ihn von weitem erlebt haben; und sie sind verschieden für Angehörige meiner Generation, der Generation meiner Eltern und der meiner Kinder. Der Unterschied ist nicht einfach linear. Aber ich will diese Unterschiede nicht analysieren; bedenken Sie, ich bin ein Wirtschaftswissenschaftler, und diese Aufgabe erfordert eine besondere Sensibilität und darüber hinaus eine weitreichende geschichtliche Perspektive. Ich möchte die Sphäre der Geftihle verlassen und zu der des Verstandes 11*

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übergehen. Aber ich habe mit dem Problem des Sich-Erinnerns begonnen, und ich muß mich zuerst mit Gedächtnis und Erinnerung befassen. Wir sagen oft, daß wir die Vergangenheit, den Holocaust, niemals vergessen dürfen; dabei kann ich mindestens zwei Arten des Sich-Erinnerns unterscheiden. Zuerst die rückwärtsgewandte Erinnerung, d.h. die Erinnerung, die den Holocaust als ein Glied in der jahrhundertelangen Kette der Verfolgung des jüdischen Volkes durch seine Unterdrücker ansieht. "Erinnere Dich, was Amalek Dir angetan hat ... " ist wohl der erste Gebrauch dieses Ausdrucks in der Bibel (Deuteronomium 25: 17-19). Das Unrecht der Amalekiter ist den meisten Lesern dieser und ähnlicher Stellen nicht ganz klar; aberwenn wir zur neueren Geschichte kommen, ist die Verfolgung der Juden im Kollektivgedächtnis oft mit dem europäischen Christentum verbunden, von den Kreuzzügen im Mittelalter bis zur Inquisition, der Vertreibung der Juden aus Spanien zu Anfang der Neuzeit im Jahre 1492, und bis zu den russischen Pogromen zu Anfang unseres Jahrhunderts. Viele sehen im Holocaust lediglich ein weiteres Glied in dieser Kette, vielleicht blutiger, aber im Wesen nicht verschieden. Diese rückwärtsgewandte Erinnerung, so glaube ich, geht an der Hauptsache vorbei: Erstens, weil der Holocaust im Vergleich zu den Verfolgungen der Vergangenheit etwas viel Furchtbareres war, und der Unterschied liegt nicht etwa in den Zahlen allein. Ich will den Unterschied hier nicht erörtern. Das haben andere so viel besser getan, z.B. Hannah Arendt. Außerdem ist es viel wichtiger, vorwärts zu blicken, statt zurück, und alles dafür zu tun, damit sich dieses dunkle Kapitel der Geschichte nicht wiederholt, weder für die Juden noch flir ein anderes Volk oder eine andere menschliche Gruppe. Dafür müssen wir in die Vergangenheit sehen, um zu verstehen, welche Bedingungen das Aufkommen der Nazis und die Greuel, die im Namen des deutschen Volkes ausgeftihrt wurden, ermöglicht haben. Wir müssen diese Bedingungen kennen, so daß wir alles, was in unserer Macht steht, tun können, um eine Wiederholung in Deutschland oder anderswo zu verhindern. Wenn wir nun zu der zukunftsorientierten Erinnerung kommen, was ist dann so besonders an den Ansichten eines Israelis oder eines Juden zur deutschen Wiedervereinigung? Wenn irgendjemand das Wiedererwachen des deutschen Chauvinismus zu fürchten hat, sind heute Juden vielleicht weniger betroffen als andere. Daher mag das, was ich zu diesem Thema sage, sehr ähnlich klingen wie das, was andere, Deutsche oder Nicht-Deutsche, gesagt haben könnten. Weiterhin werden Sie finden, daß die Wahl eines Wirtschaftlers vielleicht einschränkend ist. Ein Nationalökonom betont natürlich die wirtschaftlichen Gründe für das Aufkommen der Kräfte des Bösen. Auf der durch Versailles vorbereiteten Bühne erschien zuerst die Inflation, die den Mittelstand schwächte, darauf folgte die Depression, die der Arbeiterklasse das Rückgrat brach. Wirtschaftliche Not bringt die Leidtragenden oft dazu, nach einem Sündenbock,

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nach Opferlänunern zu suchen. Wirtschaftliche Not ist ein fruchtbarer Boden für Revanchismus und FremdenfeindlichkeiL Einen Beweis für die Wichtigkeit der wirtschaftlichen Faktoren kann man in der Schwächung der extremistischen Rechten als Folge einer Phase langjähriger wirtschaftlicher Erfolge nach dem Krieg und in ihrer erneuten Verstärkung in den 80er Jahren - als es wieder Arbeitslosigkeit, begleitet von überfremdungsängsten, gab - sehen. Die Wiedergeburt der zentrifugalen Kräfte und des chauvinistischen Hasses im zerbröckelnden sowjetischem Imperium sind ein weiteres Beispiel, besonders wenn wir sie mit der Situation in Westeuropa vergleichen, wo die einigenden europäischen Ideen erstarkt sind. Ich glaube, daß zu unser aller Besten Europa-undDeutschland in Europa- gedeihen muß. Nach dieser langen Einleitung komme ich endlich zur deutschen Wiedervereinigung. Lassen Sie mich zu Beginn einen Punkt klarmachen: Ein Staat, der seine Bürger hinter Schloß und Riegel halten muß, der nur hinter einer Mauer am Leben erhalten werden kann, hat keine Existenzberechtigung. Die DDR war wie eine Sandkiste: In dem Moment, wo sich ein kleines Loch in der Wand, die den Sand zurückhielt, auftat, begann der Sand aus der Kiste herauszuströmen, und die Basis für alles brach zusammen. Die Schnelligkeit dieses Zusammenbruchs hat - glaube ich - alle, die die DDR studiert haben, überrascht. Wir wußten, daß die DDR ein Staat war, der auf Unterdrückung gebaut und von Lügen gestützt war. Aber manche unter uns glaubten, daß die Menschen hinter der Mauer stolz waren auf das, was sie unter den schweren Bedingungen, in denen sie sich befanden, erreicht hatten. Wenn man über eine Wiedervereinigung spricht, muß man zuerst die Alternativen ins Auge fassen. Eine fortdauernde Existenz der alten, SED-regierten DDR war niemals eine solche. Der Versuch eines dritten Weges, einer freien demokratischen sozialistischen Gemeinschaft, schien eine Möglichkeit zu sein, vielleicht sogar das Ziel derer, die aktiv am Sturz der Mauer beteiligt waren. Wäre dies das Ergebnis der Ereignisse von 1989 gewesen, wäre ich heute in einer komplizierten und unangenehmeren Lage. Denn aus rein professionellen ökonomischen Gründen glaube ich nicht an die Durchführbarkeit eines solchen Weges. Eine sozialistische Gesellschaft - wenn wir sie so verstehen, daß ihre Produktionsmittel das Eigentum des Staates sind - kann nur zu einem bürokratischen Staat führen. Die Erfahrungen der letzten fünfundzwanzig Jahre, seit der Reformperioden der sechziger Jahre, haben uns gezeigt, daß der sozialistische Markt nicht funktionieren kann. Viele unter meinen Zuhörern haben von Anfang an niemals daran geglaubt, aber die, die gehofft hatten, daß solch ein Markt simuliert werden könnte, sogar innerhalb einer hierarchischen Organisation, mußten aus neueren theoretischen Werken lernen, daß er eine Schimäre war; daß ein leistungsfähiger Kapitalmarkt unentbehrlich ist, wenn Firmen auf Marktsignale reagieren sollen. Daher hätten Versuche eines dritten Weges in der DDR oder in irgendeinem anderen Land des Ostblocks

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nur zu einer bürokratischen Wirtschaft in einem bürokratischen Staat flihren können. Und ein solcher Staat würde weder leistungsfähig noch frei sein. Die tatsächlichen Ereignisse in der DDR haben mir dieses Dilemma erspart; ein wahrhaft demokratisch-sozialistischer deutscher Staat kam niemals zustande. Warum überhaupt das Verlangen nach einem zweiten deutschen Staat? Der Grund daftir ist natürlich die Angst vor dem Wiedererwachen des deutschen Chauvinismus, vor dem Wunsch der Deutschen, ihren Macht- und Einflußbereich zu erweitern. Wir müssen uns fragen, ob Chauvinismus in einem vereinigten Deutschland wahrscheinlicher ist als in einem geteilten Staat. Da bin ich nicht so sicher. Es gibt noch einen weiteren Gesichtspunkt, und zwar die lebhafte Erinnerung der Deutschen an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Das Beispiel der beiden geteilten deutschen Staaten und Österreichs beweist nicht, daß ein solches Bewußtsein durch die Bildung einer Vielfalt von deutschen Staaten zu erreichen ist. Starke erzieherische Bemühungen, zahllose Debatten und intensive Aufklärung waren notwendig, um das Bewußtsein eines bedeutenden Teils der bundesdeutschen Gesellschaft für die Obernahme der Verantwortung der Deutschen ftir die Untaten des Zweiten Weltkrieges und für die Umerziehung zur Demokratie zu erwecken. Es scheint, daß das Fehlen einer solchen Debatte in der DDR, wo die politische Führung sich von allen Verbrechen der Vergangenheit freisprach, die Regierten von der Notwendigkeit, die Vergangenheit und ihre Verbrechen aufzuarbeiten, befreit hat. Die Situation in Österreich scheint derjenigen in der DDR ähnlicher zu sein als der in der Bundesrepublik. Wäre ein zweiter deutscher Teilstaat eine bessere Garantie gegen das Wiederaufkommen negativer Aspekte der Vergangenheit? Ich bin nicht sicher. Es könnte statt dessen irredentistische Geftihle erwecken. Ich glaube, wir müssen erkennen, daß es, nach dem Zusammenbruch des unseligen Staates DDR keine Alternative zur Wiedervereinigung gab. Natürlich heißt das nicht, daß ich glaube, alles im Westen Deutschlands sei in Ordnung. Die Ereignisse im Nahen Osten setzen ein großes Fragezeichen, wenn es darum geht, die Wirkung des Umerziehungsprozesses einzuschätzen. Das Verhalten dreier Gruppen in diesem Zusammenhang erscheint besonders fragwürdig. Zur ersten Gruppe zähle ich diejenigen Industriellen, die an den Irak Ausrüstungen verkauft haben, die nicht rein friedlicher Natur waren. Industrielle sind immer darauf aus, Geld zu machen, und Aufgabe der Regierung muß es sein, ihnen in ihrem Bestreben Grenzen zu setzen, d.h. sicherzustellen, daß keine Gewinne aus schädigenden Geschäften entstehen. An diesem Punkt haben einige Behörden der deutschen Regierung, die zweite Gruppe, eine kurzsichtige Hilflosigkeit an den Tag gelegt. Wie sie - entgegen allen amerikanischen Warnungen - fragliche Exporte buchstäblich bis zur letzten Minute erlauben konnte, ist mir unerklärlich. Vielleicht bedarf es wirklich einer intensiven internationalen Zusammenarbeit, um Waffenexporte in Zukunft wirksam zu kontrollieren.

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Schließlich die letzte Gruppe, die Demonstranten gegen den Krieg. Es ist ein unkritischer oder undifferenzierter Begriff von Pazifismus, der sie bewegt. Als hätten sie vergessen, daß jene, die auf der guten Seite im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, die Welt - einschließlich Deutschlands- vor einem Schicksal retteten, das viel zu schrecklich wäre, um es sich heute vorstellen zu können. Ähnliche Ereignisse, die eine Art Weltpolizeiaktion erforderlich machen könnten, werden sich auch in Zukunft wiederholen, und die Solidarität der Völkergemeinschaft wäre tief erschüttert, wenn sich ein sehr bedeutender Teil Deutschlandsamliebsten unbeteiligt zeigen möchte und die Verteidigung der angegriffenen Nationen ablehnte. Aber da ist noch eine andere Seite. Wir konnten beobachten, wie die Schatten der Vergangenheit nach dem Fall der Mauer und auch nach dem Beginn des Wüstenkrieges wieder erschienen und an Gewicht gewannen. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, daß ich in keiner Weise über den Chauvinismus im wiedervereinigten Deutschland besorgt bin. Wie kann ich unbesorgt sein, wenn ich mich über solche Tendenzen in vielen anderen Ländern, nicht zuletzt in meinem eigenen Lande, sorge? Ich glaube nicht, daß Chauvinismus in eine Art "Volksgeist" genetisch eingebaut ist. Einige Nationen mögen anfälliger sein als andere, aber in jedem Fall müssen wir die Ursachen für diesen hemmungslosen Nationalismus erforschen. Einer meiner Freunde, ein Historiker, meinte, als er sich zur Wiedervereinigung Deutschlands äußerte: "Es gab zwei Deutschlands, das Deutschland von Goethe und das Deutschland Wilhelms des Zweiten. Es gab das Deutschland von Weimar und das Deutschland von Hitler, es gab ein militaristisches Deutschland und ein humanistisches. Auch heute gibt es mehr als nur ein Deutschland, und ich (das heißt: Er) meine nicht Ost- und Westdeutschland." (Z. Yavetz, Ma'ariv, 27.9.1990) Mein Freund, der Historiker, wollte sich nicht festlegen, welche deutsche Tradition seiner Ansicht nach im wiedervereinigten Staat siegen würde. Ein Historiker kann immer behaupten, daß er die Vergangenheit studiere und nicht die Zukunft voraussage. Nun weiß ich viel weniger als er über die deutsche Vergangenheit, aber ich wage zu behaupten, daß die meisten Völker mehr als eine Tradition haben. Die meisten Nationen haben sowohl Uebe als auch Haß in ihrer Geschichte. Von einem Wirtschaftswissenschaftler erwartet man, daß er etwas über die Aussichten flir die Zukunft aussagt, und, wenn möglich, irgendetwas über die Tendenzen der heutigen Welt sagt, das diejenigen ermutigen kann, die hoffen, daß die positiv bewerteten Traditionen die Oberhand gewinnen werden. Technologische und ökonomische Veränderungen geben mir Zuversicht flir die Zukunft. Die Zeit schneller technologischer Entwicklung führte zum Zusammenbruch des reglementierten Wirtschaftssystems des Ostblocks. Modernisierung kann nur in einer auf Wettbewerb basierenden Welt, in einer flexiblen Umgebung eingeführt werden. Volkswirtschaften, die sich nicht erneuern, un-

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terliegen in unserer heutigen Welt. Neue Produkte und Fertigungsprozesse brauchen große Märkte. Das ist der Grund, weshalb der Traum von der Europäischen Gemeinschaft verwirklicht werden konnte, und das ist der Grund, warum dieser Traum Erfolg hatte. Die Tage des zentralisierten kleinen, sogar mittleren geschlossenen Staates sind vorbei. Das wissen nicht nur Ökonomen. Das ist eine Tatsache, die die meisten Menschen verstehen. Sie möchten offene Grenzen, d.h. die Möglichkeit, ohne Einschränkungen durch Europa fahren zu können. Es ist zu hoffen, daß sich 1992 diese Tendenz verstärken wird. Das bedeutet für jene, die in Westeuropa beheimatet sind, daß der alte Staat an Bedeutung verliert. Eine neue Ebene ist über ihm errichtet worden, die Wirtschaftsgemeinschaft. Der Staat, wie wir ihn kannten, schrumpft langsam. Übernationale Körperschaften nehmen etwas von seiner Macht, von seiner Autorität, und mit der Zeit werden diese Körperschaften auch die zentrale Stellung einnehmen, die der Staat heute noch bei seinen Bürgern hat. Es ist ein langsamer Prozeß, der Generationen dauern mag, aber er hat angefangen. Die Einstellung der deutschen Frage gegenüber ist mit diesen Problemen eng verbunden. Ein großes Deutschland in einem noch größeren europäischen Markt sollte niemanden bedrohen. Ein großes Deutschland außerhalb des europäischen Marktes ist undenkbar; es würde niemandem nützen, am wenigsten den Deutschen selbst. Aber die deutsche Wiedervereinigung, wie auch die unterschiedlichen Einschätzungen und Reaktionen auf die Ereignisse am Golf, könnte möglicherweise das Tempo der europäischen Einigung verlangsamen. Darum scheint mir, daß es der sicherste Weg gewesen wäre, die Wiedervereinigung bis 1992 aufzuschieben, wenn der zukünftige Platz eines großen Deutschlands in der Europäischen Gemeinschaft gesichert gewesen wäre. Unglücklicherweise können wir den Zeitpunkt des Geschehens nicht diktieren, und die DDR brach viel früher zusammen, als man erwarten konnte; vielleicht früher, als erwünscht gewesen wäre. Ich hoffe dennoch, daß die Einigung Europastrotz der deutschen Wiedervereinigung fortschreiten wird. Nicht alle wirtschaftlichen Tendenzen geben Anlaß zur Hoffnung. Das vergangene Jaluzehnt hat die Wiedergeburt von Arbeitslosigkeit in Europa in einem Maßstab erlebt, den meine Generation, die nach dem Krieg erwachsen wurde, bisher nicht gekannt hat. Arbeitslosigkeit erzeugt eine Klasse innerhalb der Gesellschaft, die sich nicht als Teil der sie umgebenden Welt des allgemeinen Wohlstandes empfindet. Diese Menschen im Westen mögen sich denen im Osten anschließen, die ihre Träume für eine bessere Welt enttäuscht sehen; ihre Fähigkeiten sind nutzlos geworden, sie sind in ihrer Selbstachtung verletzt. Solche Menschen glauben oft, daß die Vergangenheit ihnen mehr zu bieten habe als die Zukunft, und die Vergangenheit möge hier in der Zukunft flirRevanchismus stehen, flir den Wunsch, zu historischen Grenzen zurückzukeluen. Wir haben in meinem Land auch solche Träumer, Träumer des Bösen. Ich

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hoffe, daß sie immer eine kleine Randgruppe der Gesellschaft bleiben, und alles sollte getan werden, um ihren Einfluß gering zu halten. Aus diesen Gründen bin ich nicht sicher, ob alle Schritte, die zur Wiedervereinigung geftihrt haben, die besten waren. Die Wahl des Währungsumstellungs· kurses zwischen Ostmark und DM, die sehr bestimmend ist für das Niveau der Produktionskosten in der ehemaligen DDR, ist einer davon. Erlauben Sie mir, für einen Augenblick in das Feld der Wirtschaftstheorie abzuschweifen. Wenn wir eine Handelsunion zwischen zwei Wirtschaftssystemen, die voneinander getrennt waren, diskutieren (und die beiden Deutsch· Iands passen in diese Beschreibung), dann nehmen wir an, daß der Wechselkurs vom offenen Markt bestimmt wird. Eine angemessene Schätzung des festzusetzenden Kurses wäre zwei bis drei Ostmark per DM gewesen. Dieses internationale Handelsmodell setzt voraus, daß Produktionsfaktoren - insbesondere die Arbeitskraft - sich nicht zwischen den beiden Märkten hin und her bewegen können, was hier bestimmt nicht der Fall ist. Wir wollen trotzdem annehmen, daß dieser Fall sich auch auf die deutsche Wiedervereinigung anwenden läßt, und wir wollen die Diskussion über das Problem der Wanderung von Ar· beitskraft ftir ein paar Momente beiseite lassen. Wir wollen annehmen, daß ein realistischerer Kurs festgesetzt worden wäre, sagen wir: 2,50 Ostmarkper DM. Manche Teile der DDR-Industrie hätten überlebt, manche Industriearbeiter hätten möglicherweise an ihren alten Arbeitsplätzen weiterarbeiten und ihre Fähigkeiten nutzen können. Der Entschluß, Löhne mit einem Eins-zu-Eins-Kurs umzustellen, scheint die Industrie der DDR beinahe zerstört zu haben; sie ist jedenfalls unfähig, sich dem Wettbewerb zu stellen. Wenn nun diese Industrie in ihrer Gesamtheit keine Aussicht auf Sanierung hat, mag dies die richtige Entscheidung gewesen sein (bedenken Sie aber, was das in Hinsicht auf die weniger begünstigten Länder im Osten bedeutet). Aber wenn es irgendwo einige Inseln mit potentieller Qualität gegeben hätte, die mit neu importierten Techniken in der Zukunft hätten überleben können, dann mag diese Ent· scheidung sehr kostspielig erscheinen, weil sie die Zahl der arbeitslosen und verzweifelten Menschen erhöht hat. Und wie steht es mit dem Einkommensunterschied zwischen der ehemaligen DDR und der alten Bundesrepublik? Einem Unterschied, der auch bei einem Eins-zu-Eins-Wechselkurs drohend groß ist? Solche Unterschiede bestehen bestimmt nur vorübergehend, die Kräfte des Marktes werden sie im Laufe der Zeit ausgleichen. Teilweise können wir dies jetzt schon beobachten. Aber damit die Industrie der ehemaligen DDR nicht von Anfang an aus den Märkten durch hohe Kosten ausgeschlossen wird, könnte man während der Obergangsperiode Lohnzuschüsse oder Subventionen geben. Solche Zuschüsse müssen nicht die Etatausgaben vergrößern, da Arbeitslose auch eine etatmäßige Unterstützung bekommen, wenn auch aus einer anderen Kasse.

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Die ehemalige DDR wird - da bin ich sicher - einen schnelleren Zugang zu einer modernen Wirtschaft, zu einer modernen Gesellschaft fmden als die anderen Länder Osteuropas, und die erwähnten Fehler (wenn sie denn wirklich Fehler waren) werden keine wesentliche Wirkung auf die Länge dieses Weges haben. Aber man sollte in Erinnerung behalten, daß das Aussehen des zukünftigen Deutschland, und von Europa als Ganzem, von dem schnellen und glatten übergang in der ehemaligen DDR vom Kommunismus oder Sozialismus zum Kapitalismus geprägt sein wird. Wenn in zehn Jahren das dritte Jahrtausend beginnt, hoffe ich, daß wir zurückschauen und uns fragen werden, warum wir so besorgt waren über die Folgen der Wiedervereinigung. Heute können wir nur das Beste wünschen; auch wenn wir unsere Besorgnis nicht leugnen können. Ich möchte mit einer persönlichen Bemerkung schließen. Ichhabe diese Stadt in ihrem vorigen, geteilten Zustand gekannt: Ein Besuch in dem ehemaligen Ostberlin war immer ein unheimliches Erlebnis, eine Reise in eine unwirkliche, düstere und etwas furchterregende andere, weit entfernte Welt. Das stundenlange Warten am Grenzübergang Friedeichstraße ließ die Entfernung zwischen Reichstag und dem Brandenburger Tor kilometerweit erscheinen. Als ich am 3. Oktober 1990 entdeckte, daß diese Entfernung lediglich 50 Schritte beträgt, flihlte man, was der Fall der Mauer tatsächlich bedeutete.

VERFASSER Professor Dr. Kar/heinz Blaschke, Sächsisches Staatsministerium des Innern, Dresden Professor Dr. Wilfried Fiedler, Universität des Saarlandes, Saarbrücken Professor Dr. Friedrich Haffner, Universität München Dr. Peter Hübner, Max-Planck-Gesellschaft - Förderungsgesellschaft wissenschaftliche Neuvorhaben mbH, Berlin Professor Dr. Michael Keren, Hebräische Universität Jerusalem Professor Dr. Eckart Klein, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz Professor Dr. Siegfried Mampel, Ehrenvorsitzender der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin Professor Dr. Günter Nötzold, Universität Leipzig

HERAUSGEBER Professor Dr. Alexander Fischer, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn Dipl.-Vw. Maria Haendcke-Hoppe-Arndt, Wissenschaftlicher Referent, Geschäftsführer Forschungsstelle für deutsche und gesamteuropäische Integrationspolitik, Berlin