Brechungen auf dem Weg zur Individualität: Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters 3484107200, 9783484107205

Schon relativ bald nach dem ersten Band meiner 'Kleinen Schriften' von 1989 kann der zweite vorgelegt werden.

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Brechungen auf dem Weg zur Individualität: Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters
 3484107200, 9783484107205

Table of contents :
VORWORT xi
I. ÜBERGREIFENDES: STUFEN UND UMBRÜCHE
Struktur, Gewalt und Begierde. Zum Verhältnis von Erzählmuster und Sinnkonstitution in mündlicher und schriftlicher Überlieferung 3
Weisheit, Reichtum und Glück. Über mittelalterliche und neuzeitliche Ästhetik 17
Literatur und Leben im Mittelalter. Eine neue Theorie zur Entstehung und Entwicklung des höfischen Romans 31
Klassikerkataloge und Kanonisierungseffekte. Am Beispiel des mittelalterlich-hochhöfischen Literaturkanons 45
II. ZUR HELDENSAGE
Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität 59
Die Grausamkeit der Heldensage. Neue gattungstheoretische Überlegungen zur heroischen Dichtung 72
Literarhistoriker 'untar heriun tuem' 91
III. ZU WOLFRAM VON ESCHENBACH
Hat Wolfram von Eschenbach Chrétiens 'Conte du graal' kongenial ergänzt? 109
Parzival ohne Illusionen 125
Ein Dichter wehrt sich. Wolframs Prolog zu den Gawan-Büchern 140
Lesen oder Lieben? Erzählen in der Erzählung: vom 'Erec' bis zum 'Titurel' 153
IV. ZUM 'TRISTAN' UND ZUR LITERARISCHEN ENTDECKUNG DER PERSONALEN LIEBE IM HOHEN MITTELALTER
Der 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg: eine narrative Philosophie der Liebe? 171
Der 'Tristan' - eine interarthurische Lektüre 184
Eros und Tod. Erotische Grenzerfahrung im mittelalterlichen Roman 197
Eros und Fortuna. Der höfische Roman als Spiel von Liebe und Zufall 214
Die Entdeckung der personalen Liebe und der Beginn der fiktionalen Literatur 233
V. SPÄTMITTELALTER UND FRÜHE NEUZEIT
Wandlungen des Fiktionalitätsbewußtseins vom hohen zum späten Mittelalter 251
Über die Schwierigkeiten des Erzählens in 'nachklassischer' Zeit 265
Das Endspiel der arthurischen Tradition im Prosalancelot 288
Von 'aventiure' und 'minne' zu Intrige und Treue. Die Subjektivierung des hochhöfischen Aventürenromans im 'Reinfrid von Braunschweig' 301
Von der Idealität des arthurischen Festes zur apokalyptischen Orgie in Wittenwilers 'Ring' 312
Francesco Petrarca - Nicolaus Cusanus - Thüring von Ringoltingen. Drei Probestücke zu einer Geschichte der Individualität im 14./15. Jahrhundert 332
Das Kugelspiel des Nicolaus Cusanus und die Poetik der Renaissance 362
Huge Scheppel - der sexbesessene Metzger auf dem Lilienthron. Mit einem kleinen Organon einer alternativen Ästhetik für das spätere Mittelalter 373
Zwischen Ehezucht und Minnekloster. Die Formen des Erotischen in Johann Fischarts 'Geschichtklitterung' 390
Jörg Wickrams 'Ritter Galmy'. Die Zähmung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit 404
VI. ZUR MITTELALTERLICHEN KURZERZÄHLUNG
Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung 427
Exempelsammlungen im narrativen Rahmen: Vom Pancatantra zum 'Dekameron' 455
Der Schatten des Kopfes der Kammerzofe. Der zwielichtige Piatonismus im 'Heptaméron' der Marguerite de Navarre 474
VII. ZUR RELIGIÖSEN LITERATUR, INSBESONDERE ZUR MYSTIK
Grundformen religiöser Erfahrung als epochale Positionen: Vom frühmittelalterlichen Analogiemodell zum hoch- und spätmittelalterlichen Differenzmodell 501
Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens 531
Überlegungen zur Revision meiner 'Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens' 545
Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur 550
Das Wort und die Sprache bei Meister Eckhart 579
Johannes Taulers Via negationis 592
Die Mauer des Paradieses. Zur 'mystica theologia' des Nicolaus Cusanus in 'De visione Dei' 606
Die Sibylle und Vergil in der 'Erlösung'. Zum heilsgeschichtlichen Programm der 'Erlösung' und zu ihrer Position in der literarhistorischen Wende vom Hochmittelalter zum Spätmittelalter 617
Literaturverzeichnis 640
Nachweise der Erstpublikation 677
Autoren- und Werkregister 680

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Walter Haug Brechungen auf dem Weg zur Individualität Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Haug, Walter: Brechungen auf dem Weg zur Individualität: kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters / Walter Haug. - Tübingen : Niemeyer, 1995 ISBN 3-484-10720-0 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Für Burghart Wachinger

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

XI

I. ÜBERGREIFENDES : STUFEN UND UMBRÜCHE

Struktur, Gewalt und Begierde. Zum Verhältnis von Erzählmuster und Sinnkonstitution in mündlicher und schriftlicher Überlieferung

3

Weisheit, Reichtum und Glück. Über mittelalterliche und neuzeitliche Ästhetik

17

Literatur und Leben im Mittelalter. Eine neue Theorie zur Entstehung und Entwicklung des höfischen Romans

31

Klassikerkataloge und Kanonisierungseffekte. Am Beispiel des mittelalterlichhochhöfischen Literaturkanons

45

II. ZUR HELDENSAGE

Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität

59

Die Grausamkeit der Heldensage. Neue gattungstheoretische Überlegungen zur heroischen Dichtung

72

Literarhistoriker untar heriun tuem

91

III. Zu WOLFRAM VON ESCHENBACH

Hat Wolfram von Eschenbach Chretiens >Conte du graal< kongenial ergänzt? .

109

Parzival ohne Illusionen

125

Ein Dichter wehrt sich. Wolframs Prolog zu den Gawan-Büchern

140

Lesen oder Lieben? Erzählen in der Erzählung: vom >Erec< bis zum >Titurel< .

153

IV. ZUM >TRISTAN< UND ZUR LITERARISCHEN ENTDECKUNG DER PERSONALEN LIEBE IM HOHEN MITTELALTER

Der >Tristan< Gottfrieds von Straßburg: eine narrative Philosophie der Liebe? .

171

Der >Tristan< - eine interarthurische Lektüre

184

Eros und Tod. Erotische Grenzerfahrung im mittelalterlichen Roman

. . . .

197

Eros und Fortuna. Der höfische Roman als Spiel von Liebe und Zufall . . . .

214

Die Entdeckung der personalen Liebe und der Beginn der fiktionalen Literatur

233 VII

V. SPÄTMITTELALTER UND FRÜHE NEUZEIT

Wandlungen des Fiktionalitätsbewußtseins vom hohen zum späten Mittelalter .

251

Über die Schwierigkeiten des Erzählens in 'nachklassischer' Zeit

265

Das Endspiel der arthurischen Tradition im Prosalancelot

288

Von äventiure und minne zu Intrige und Treue. Die Subjektivierung des hochhöfischen Aventürenromans im >Reinfrid von Braunschweig
Ring
Geschichtklitterung
Ritter GalmyDekameron
Heptameron< der Marguerite de Navarre

474

VII. ZUR RELIGIÖSEN LITERATUR, INSBESONDERE ZUR MYSTIK

Grundformen religiöser Erfahrung als epochale Positionen: Vom frühmittelalterlichen Analogiemodell zum hoch- und spätmittelalterlichen Differenzmodell

501

Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens

531

Überlegungen zur Revision meiner >Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens
De visione Dei
ErlösungErlösung< und zu ihrer Position in der literarhistorischen Wende vom Hochmittelalter zum Spätmittelalter

617

Literaturverzeichnis

640

Nachweise der Erstpublikation

677

Autoren- und Werkregister

680

IX

Vorwort

Schon relativ bald nach dem ersten Band meiner >Kleinen Schriften< von 1989 kann der zweite vorgelegt werden. Die überwiegende Zahl der hier zusammengestellten Aufsätze sind in der Zwischenzeit entstanden - eine Ausnahme machen die Studien zur religiösen Literatur (Abteilung VII), die, da diese Gruppe im ersten Band ausgespart worden ist, zum Teil weiter zurückreichen. Daß diese letzten sechs/sieben Jahre für mich derart produktiv sein konnten, verdanke ich vor allem dem Leibnizpreis, der Herrn Wachinger und mir 1987 gemeinsam zugesprochen worden ist und der uns nicht nur erlaubte, uns mehrfach für die Forschung von Lehrverpflichtungen frei zu machen, sondern den wir auch dazu verwendet haben, zehn Kolloquien auf der Reisensburg durchzuführen, die sehr arbeitsintensiv waren und die im übrigen Anlaß gaben, sich insbesondere mit Themen und Fragen aus jenem Bereich zu befassen, denen unser Leibniz-Forschungsprojekt gewidmet war, nämlich dem Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit. So entstammen denn nicht wenige der hier wieder abgedruckten Aufsätze der Schriftenreihe >Fortuna vitreaKleinen Schriften< habe ich die Aufsätze nicht chronologisch nach ihrer Entstehung geordnet, sondern sie historisch und weiterhin nach Gattungen, Autoren oder Themen gruppiert. Nur am Anfang stehen wiederum Studien, die in irgendeiner Form übergreifenden Charakter haben. Die vier Aufsätze dieser I. Abteilung können zugleich als Einführung in die Hauptperspektiven verstanden werden, in denen sich meine literarhistorischen Bemühungen in den letzten Jahren bewegten. Es sind vor allem fünf Fragenkomplexe, die mich mit großer Dringlichkeit beschäftigt haben und die deshalb unter wechselnden Akzenten und in den verschiedesten Verflechtungen mit einiger Insistenz immer wiederkehren: Der erste Fragenkomplex betrifft den Übergang von der mündlichen Erzähltradition zur Schriftlichkeit. Der Aufsatz >Struktur, Gewalt und Begierde< kann gewissermaßen als Grundlegung zu der damit verbundenen Problematik gelesen werden. Das Thema wird dann vor allem in den Beiträgen zur Heldensage (Abteilung II) anhand von konkreten Fällen weiterentwickelt. Es geht dabei um die sich wesentlich verändernden Bedingungen und Möglichkeiten des Erzählens in der Ablösung von der oralen Überlieferungsform. Der Übergang zur Schriftlichkeit hängt - und das ist der zweite thematische Komplex - wesentlich mit der Frage nach dem Status der neuen Literarisierungsstufe zusammen : er findet seine Erfüllung in einer fundamentalen Innovation, in der Entdekkung der Fiktionalität. Als einführende Skizze zum Weg, der schließlich zur Entwicklung einer autonomen Ästhetik weiterführt, kann der Aufsatz >Weisheit, Reichtum und Glück< dienen. Der neue fiktionale Status des Erzählens steht dann als Leitgedanke hinter den Überlegungen, die sich um ein Verständnis der von Chretien de Troyes XI

angestoßenen arthurischen Romantradition bemühen. So ist die Auseinandersetzung mit dem von Chretien entworfenen narrativen Modell von zentraler Bedeutung für meine Studien zu Wolfram von Eschenbach (Abteilung III). Während hier gezeigt wird, wie Wolfram das Modell an seine Grenze führt, erweisen die Untersuchungen zu Gottfried von Straßburg, daß der >Tristan< sich von vornherein einem Konzept, wie Chretien es vorgegeben hat, verweigern mußte (Abteilung IV). Und weiterhin geht es dann bei der Reihe der Analysen zu den Formen des Erzählens im Spätmittelalter um die Frage, inwiefern die Romantradition vom 13. Jahrhundert an insbesondere in Deutschland dadurch charakterisiert ist, daß das 'klassische' Modell unterlaufen, abgebaut, über Bord geworfen oder verwandelt wird (Abteilung V). Da das Konzept des Chretienschen Romans erstmals eine Erfahrung genuin literarischer Art impliziert, ergibt sich drittens das Problem, wie dieser narrative Entwurf sich nicht nur zu den überkommenen Formen des Erzählens, sondern auch zum traditionellen Wirklichkeitsverständnis überhaupt verhält. Hierzu wird in >Literatur und Leben im Mittelalter eine These vorgetragen, die von einer epochalen Veränderung des Denkens im 12. Jahrhundert ausgeht. Während man im Frühmittelalter das Verhältnis des Irdischen zum Göttlichen als Analogie verstanden hat, oder genauer gesagt: während man in der Formel, die für dieses Verhältnis galt, der Formel von der unähnlichen Ähnlichkeit, die Ähnlichkeit betonte, verlagert sich der Akzent nun auf die Differenz: Welt und Überwelt treten in einer bislang nie dermaßen forcierten Radikalität auseinander. Das verlangte u.a. eine neue Weise, mit dem Negativen umzugehen, denn es konnte nun nicht mehr im analogischen Aufstieg über das Irdische hinweg zurückgelassen werden, es war vielmehr erforderlich, es in die Welterfahrung einzubeziehen und es damit in gewisser Weise zu positivieren. Es ist deshalb bezeichnend, daß die neue fiktionale Literatur den Lebensweg als Abstieg ins Negative, als Durchgang durch das Widermenschliche, die Gewalt, den Tod, konzipiert. Doch das gilt nicht nur für den literarischen Bereich, also für das Chretiensche Modell und die Tradition, die es angestoßen hat, sondern auch für die religiöse Erfahrung, die in der neuen Mystik ihren Ausdruck findet. Die Gottesbegegnung erfolgt nun immer nachdrücklicher über einen Abstiegsweg; die Differenzerfahrung zielt auf den mystischen Umschlag in der radikalen Gottferne. Damit ist der Bogen geschlagen von der Erzählliteratur zur VII. Abteilung, deren erster Aufsatz >Grundformen religöser Erfahrung als epochale Positionen die Frage nach Analogie und Differenz in einer historischen Überblicksskizze behandelt. Das Thema wird dann über Mechthild von Magdeburg, Eckhart und Tauler bis zu Nicolaus Cusanus weiterverfolgt. Die Problematisierung des traditionellen integralen Konzepts des Weltverstehens und -darstellens spielt - und das ist der vierte Problemkomplex - auf das engste auch mit der neuen Bedeutung zusammen, die das Erotische für das 12. Jahrhundert gewinnt, denn der Absolutheitsanspruch der Liebe durchkreuzt prinzipiell alles analogische Denken. So muß die neue Idee der personalen Du-Beziehung die Widersprüchlichkeit des Irdischen und Göttlichen, des Sinnlichen und Geistigen, des Irrationalen und des Rationalen, ja des Bösen und des Guten in ihr Selbstverständnis hereinnehmen. Das Problem klingt schon einleitend im Zusammenhang der Brautwerbungsthematik an, es erscheint aber nirgendwo so bedrängend wie im >TristanReinfrid von BraunschweigMelusineÜber die Schwierigkeiten des Erzählens in 'nachklassischer' Zeit< und >Von der Idealität des arthurischen Festes zur apokalyptischen Orgie in Wittenwilers >RingHuge Scheppel< als einschlägig gelten, zum andern ist auf den im 13. Jahrhundert in Deutschland literarisierten Typus der Kurzerzählung hinzuweisen, dem die VI. Abteilung gewidmet ist. Was den religiösen Bereich betrifft, so gehört in diesen Zusammenhang die Problematik der Vermittlung des Unvermittelbaren, die in der neuen Mystik besonders virulent wird. Damit befassen sich die Aufsätze zur mystischen Sprache in der Abteilung VII. Deutlicher noch als bei Band I der >Kleinen Schriften< können die hier versammelten Studien als Bausteine zu einer neuen Literaturgeschichte vom 12. bis zum 16. Jahrhundert aufgefaßt werden. Dabei ist der Titel >Brechungen auf dem Weg zur Individualität < komplementär zum Titel des ersten Bandes: Strukturen als Schlüssel zur WeltKleinen Schriften< so ist auch hier der Nachdruck der Aufsätze formal vereinheitlicht worden. Zudem habe ich mich nicht gescheut, überall dort einzugreifen und die Texte zu verändern, wo sie mir stilistisch oder sachlich nicht mehr befriedigend erschienen. Kaum ein Aufsatz konnte ohne Korrekturen oder Ergänzungen übernommen werden. Ich habe auch ausgiebig neue Querverweise einfügt: das über Typen und Aspekte hinweg Zusammengehörende sollte deutlich sichtbar werden. In einem Fall, bei der >Grundlegung einer Theorie des mystischen SprechensKleinen Schriften< Burghart Wachinger, dem Freund und Kollegen, dem ich in vieler Hinsicht viel verdanke. In Übereinstimmung im Grundsätzlichen und kritisch im einzelnen hat er mich durch meine Tübinger Jahre begleitet und zusammen mit den übrigen Kollegen des Fachs eine Atmosphäre geschaffen, in der man in freundschaftlichem Zusammenspiel fruchtbar arbeiten konnte. Und es wären noch andere zu nennen, die durch Zustimmung und Kritik das, was ich hier vorlegen kann, entscheidend mitgeprägt haben. Ohne Sympathie kann sich nichts entfalten, und ich bin damit verwöhnt worden. Es ist hier nicht möglich, alle zu nennen, die mich bald ermutigt haben und bald mich zurückholten, wenn ich mich verstiegen hatte; es liegt mir aber daran, wenigstens unserem LeibnizprojektTeam - W. Barner, J. O. Fichte, G. von Graevenitz, K. Grubmüller, J. Janota, A. Mühlherr, J.-D. Müller, B. Weiske und H.-J. Ziegeler - nachdrücklich zu danken, das die Reisensburger Gespräche getragen hat, aus denen so viele meiner Arbeiten hervorgegangen sind. W. H.

XIV

I. Ü B E R G R E I F E N D E S : STUFEN UND UMBRÜCHE

-

Struktur, Gewalt und Begierde Zum Verhältnis von Erzählmuster und Sinnkonstitution in mündlicher und schriftlicher Überlieferung

Als König Rother nach Konstantinopel zieht, wo man seine Brautwerber ins Gefängnis geworfen hat, nimmt er auch ein Kontingent Riesen mit. Ihr König ist Asprian. Sie tragen schwere Stangen und Eisenkettengeißeln. Einer von ihnen, Witolt, ist so gewalttätig, daß man ihn wie einen Löwen in Ketten gebunden mitführen muß. Der Auftritt dieser Riesen in Konstantinopel verursacht eine Panik. Nicht nur flieht alles bei ihrem Anblick davon, sondern auch König Konstantin ist so eingeschüchtert, daß er es nicht wagt, Rother, der sich als landflüchtiger Recke ausgibt und um Aufnahme bittet, abzuweisen. Und damit ist das Spiel für ihn eigentlich schon verloren. Doch das ist nur die eine Seite von Rothers Strategie: er hat zudem seine Schiffe mit unermeßlichen Schätzen angefüllt. Bei ihrem Auftritt in der Stadt prunken er und seine Leute in herrlichen Kleidern, und dann verteilen sie ihre Reichtümer unter Arme und Heimatlose. Diese laufen ihnen daraufhin scharenweise zu, so daß Rother bald ein Heer von 6000 Mann beisammen hat. Mit Terror und Verschwendung, mit Gewalt und Freigebigkeit legt Rother Schritt für Schritt die Herrschaft des bösen Brautvaters lahm. Eine dramatische Szene folgt auf die andere: Offenbar um Eindruck zu machen, läßt Konstantin beim Empfangsessen einen furchterregenden, aber zahmen Löwen zwischen den Tischen herumspazieren, wobei dieser sich da und dort ein Brot stibitzt. Auch bei Asprian. Der aber hat noch nie so ein Tier gesehen, er hält ihn für einen jungen Bären, packt ihn wütend und wirft ihn an die Wand, so daß er zerbirst. Beim nächsten Versuch Konstantins, die Regie zurückzugewinnen, bei seinem großen Pfingstfest, kommt es wegen der Sitzverteilung zu einem Zwist zwischen Asprian und einem Herzog Friedrich. Dabei schlägt der Riesenkönig einen Mann nieder, reißt dem Herzog selbst den Helm herunter, packt ihn an den Haaren und wirft ihn in die Menge; einen zweiten schleudert er über vierzig Mann hinweg. Man geht gegen den Gewalttätigen an. Witolt hört den Lärm und zerreißt die Ketten, um seinem König zu Hilfe zu eilen. Asprian selbst muß seinen Getreuen beruhigen. Und als Pendant dann der Auftritt Rothers und seiner Mannen: sie kommen in Seide gekleidet, ihre Mützen sind mit Karfunkeln bestickt, ihre Mäntel aus Hermelin und grünem Brokat. Und als das Fest nach drei Tagen zuende ist, verschenken sie das alles an die Spielleute und Bedürftigen. Nach all dem hat Konstantin nichts mehr zu melden; seine Macht und seine Würde sind restlos korrumpiert. Das verdeutlicht noch der immer wieder höhnisch dazwischengeschaltete stereotype Kommentar der Königin: hätte er doch seine Tochter König Rother gegeben, dann würde man es nicht wagen, ihn so zu beleidigen! Und was die Prinzessin betrifft, so ist sie allein von dem, was sie über die Gäste hört, so tief beeindruckt, daß sie den fremden Recken in ihrem Herzen zu lieben beginnt. Die 3

Minne der Königstochter korrespondiert fraglos Rothers unerhörter Selbstdarstellung durch Gewalt und Reichtum. Und damit ist alles vorbereitet für die berühmte heimliche Begegnung in der Kemenate, die Szene, in der Rother der Prinzessin den Schuh anzieht, wobei er sie fragt, welcher von allen Männern, die um sie geworben hätten, ihr am besten gefallen habe; und sie antwortet, er - der fremde Recke - sei unvergleichlich, aber wenn sie wählen könnte, würde sie König Rother nehmen (vv. 2l90ff.)-1 Worauf Rother alles auf eine Karte setzt; er enthüllt seine Identität und gibt sich der Prinzessin in die Hände: 2251

,Nu lazich alle mine dinc an godes genade ande din: Ia Stent dine voze in Rotheris schoze.'

Erschrocken und beglückt zieht die Prinzessin ihre Füße zurück; aber nachdem Rother den Wahrheitsbeweis für seine Behauptung angetreten hat - die gefangenen Boten identifizieren ihn -, ist sie bereit, mit ihm zu fliehen. Alle Brautwerbungsmotive, mit denen im >König Rother< gearbeitet wird: der König, der eine Frau braucht; der gereiste Mann, der von der fernen Prinzessin berichtet, die allein als Partnerin in Frage kommt; der mörderische Brautvater, der alle Werber umbringt; die Fahrt ins ferne Land; der Dienst bei dem fremden König; die Machtposition, die der Gast sich aufbaut; die heimliche Begegnung mit dem Mädchen; die Flucht usw., all das sind die immer gleichen Versatzstücke, die den weitverbreiteten Typus der Brautwerbungssagen kennzeichnen. Die Handlung ist stets darauf angelegt, daß der Werber aus der Fremde sich in seiner einmaligen Kraft, Pracht und Klugheit darstellen kann und muß, so daß ihm die in ihrer Weise entsprechend überragende Prinzessin wie selbstverständlich zufällt: zum Tapfersten gehört die Schönste.2 Und doch ist im >König Rother< etwas völlig anders als in der Unzahl von parallelen Werbungsaktionen: die Gewalt und der Glanz und die List gehören zwar zur traditionellen Figur des Brautwerbers, aber diese Motive haben hier sozusagen ihre Unschuld verloren. Die selbstverständliche Kraft wird zum inszenierten Terror, der selbstverständliche Glanz zur absichtsvollen Verschwendung, und auch der selbstverständliche Mut wird zu einem durch das Bewußtsein gebrochenen Risiko, und dies spiegelt sich wiederum in der gebrochenen Antwort der Prinzessin: „Du gefällst mir am besten, aber wenn ich wählen könnte, würde ich König Rother nehmen!" Witolt geht in Ketten: die Gewalt ist strategisch gefesselt; alles Persönliche, Lust und Neigung, sind unter einem höheren, politischen Aspekt gebändigt; die Schuhszene, deren erotischer Sinn so unmittelbar zu sein scheint, besitzt juristische Konnotationen.3 Die übergreifende Perspektive ist die Vereinigung von Ost und West in einem Reich: der Sohn Rothers und der byzantinischen Prinzessin wird Pippin sein, der Vater Karls des Großen. Brautwerbungserzählungen vom Typus >König Rother< sind die ersten deutschsprachigen narrativen Großformen, die heimisch-profane Stoffe verschriftlichen.4 Die ' Ich zitiere (mit geringfügigen Abweichungen) nach

FRINGS/KUHNT

1922.

2

Materialien zum Typus bei GEISSLER 1955. Vgl. auch FROMM 1960/1989, S. 52ff.

3

Vgl. zur Symbolik dieser Szene Jan DE VRIES 1922, S. LXXXVf.; Eis 1962, S. 230; CURSCHMANN 1968, S. 75; FROMM 1960/1989, S. 63.

4

Mit der obsoleten These, daß diese Brautwerbungserzählungen von 'Spielleuten' - was immer 4

genaue Datierung dieses literarhistorisch epochalen Schrittes macht bekanntlich Schwierigkeiten. Beim >Rother< darf man mit einiger Wahrscheinlichkeit bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts zurückgehen; die anderen Varianten des Typs: >König OswaldOrendelSalman und Morolf< usw. sind durchwegs spät überliefert, doch gibt es auch da Indizien, die eine Datierung ins 12. Jahrhundert nahelegen. In jedem Fall aber wird es dadurch problematisch, etwas darüber sagen zu wollen, wie die mutmaßlichen Frühformen in den Einzelheiten ausgesehen haben. Immerhin läßt sich soviel feststellen, daß die Grundthematik mit jener spezifischen Brechung, die den >König Rother< kennzeichnet, in den Varianten wiederkehrt - im Prinzip zumindest, denn die Formen der Brechung und der Bewältigung sind jeweils andere. Gewalt und Erotik werden im >Oswald< legendarisch übergriffen. Der Aufwand, mit dem König Oswald auf seine Brautwerbung auszieht, ist in seiner Weise ebenso unerhört wie derjenige König Rothers, aber die Macht des Brautwerbers wird hier durchwegs zur Ohnmacht, da die Regie ganz an Gott abgegeben ist, und die Unbedingtheit der erotischen Beziehung, die für Oswald und die Heidenprinzessin von vornherein genauso fraglos gilt wie im >RotherKönig Rothen mit politischem Sinn erfüllt und in diesem Sinn bewältigt, werden im >König Oswald< legendarisch und im >Salman< zynisch-burlesk aufgehoben. Zugleich zeigt sich in allen drei Erzählungen die Brechung in einer weiteren Eigentümlichkeit, nämlich im Umkippen in ausgesprochen komische Perspektiven: Wenn im >Rother< sich am Ende alles in Wohlgefallen auflöst und sogar dem bösen Schwiegervater allzu großmütig verziehen wird, kann Witolt vor Wut nur noch in seine Stange beißen. In den Riesen erscheint die reine Gewalt als Groteske. Die Brautwerbungsaktion mit dem Raben im >König Oswald< ist eine kunstvoll-köstliche Komödie, und der >Salman< ist durchtränkt von schwarzem, bösem Humor. Gewalt und Begierde, als literarisches Doppelthema durch Reflexion und Komik auf schriftlicher Stufe gebrochen und bewältigt: dies begegnet jedoch nicht erst mit dem neuen Typus der Brautwerbungsepen in der Mitte des 12. Jahrhunderts, sondern schon sehr viel früher, wenngleich noch nicht in deutscher, sondern in lateinischer Version: im >WalthariusKönig Rother< die Handlung gedoppelt wird, indem Konstantin seine Tochter zurückentführen läßt und Rother ein zweites Mal aufbrechen muß, um sie endgültig zu gewinnen, so dient die Doppelung nicht nur dazu, das bestimmende Handlungsmuster deutlich zu machen, sondern es gibt zudem Anlaß, seine Gesetzlichkeit zu diskutieren. Man hat mit Gewinn den >Rother< von der kontrastiven Handlungsdoppelung her zu analysieren und nach seiner Intention aufzuschließen versucht12: während der König bei seiner ersten Brautfahrt als Recke auftritt und sein Machtpotential spielen läßt, wobei er (fast) alle Fäden in den Händen hält, so begibt er sich beim zweiten Mal als Pilger verkleidet an den Hof von Konstantinopel; dabei liefert er sich seinem Gegner aus und legt sein Geschick ganz in die Hände Gottes, um sich auf dem Weg zum Galgen im letzten Augenblick retten zu lassen. Die Wiederholung läßt hier also nicht das eine identische Muster heraustreten, es wird vielmehr dabei auch das Muster selbst variiert, und das heißt: es wird diskutiert. Was hier in die Diskussion gerät, ist nun aber nichts anderes als die Idee der mündlichen Strukturgesetzlichkeit, so wie sie dem schriftlich arbeitenden Dichter erscheinen mußte: nämlich als das Muster, nach dem der Tapferste die Schönste bekommen darf und zu bekommen hat, wobei das Strukturgesetz als Macht und Eros auf die Figuren bezogen und entsprechend gebrochen erscheint. Oder anders gesagt: was der Dichter damit leistet, ist eine Interpretation des mündlichen Typus unter den Bedingungen der schriftlichen Umsetzung. Und der zweite Durchgang diskutiert dann durch seine Abwandlung des Musters diese Interpretation: in dem neuen Muster wird ein neues Gesetz präsentiert, durch das Macht und Eros in einem von Gott sanktionierten politischen Konzept aufgehoben werden. Man läßt also den Prozeß des Interpretierens, den die schriftliche Stufe auslöst, anlaufen, man fängt ihn aber in der Handlungsdoppelung sogleich wieder auf: die kontrastive Variation bringt im Gegenüber von vorläufigem und endgültigem Muster die Sinnfindung zum Stehen. Dabei sollte nicht übersehen werden, in welchem Maße auch schon der erste Zyklus auf den zweiten hin angelegt ist: Macht und Eros erscheinen von Anfang an schon gebändigt; in der Kemenatenszene gibt sich Rother zugleich in die Hand der geliebten Frau und in die Hand Gottes; der erste Durchlauf wird - im Rückblick - auf den zweiten hin transparent. Allgemein gesagt heißt das: man übernimmt auf schriftlicher Stufe das Prinzip der Identitätskonstitution durch Wiederholung, aber man nützt es nun, um die Struktur- und Sinnkrise, in die man durch die Verschriftlichung geraten ist, bewußt zu machen und den damit angestoßenen Interpretationsprozeß in einem 'endgültigen' Muster aufzufangen. In zugespitzter Form tritt dasselbe im >König Oswald< zutage.13 Die Werbungsfahrt wird durch die Figur des komischen Raben zur Persiflage des traditionellen Typus. 11

Zur Abwandlung des Schemas im >Salman und Morolf< siehe im übrigen HAUG 1988 [a].

12

REIFFENSTEIN 1972, S. 557ff.

13

Vgl. zum Folgenden HAUG 1982 [b], S. 23ff. [= Strukturen, S. 257-274, hier S. 268ff.]. 11

Und doch scheint auch hier die Strukturgesetzlichkeit der zweiten Fahrt durch. Es ist Gottes Plan, der die Handlung von Anfang an trägt, auch wenn der Botenvogel selbst davon keine Ahnung hat, sondern sich wie ein autonomer traditioneller Brautwerber benimmt und dabei natürlich seine ihm gegebenen Möglichkeiten völlig überschätzt. Kühnheit, Glanz und Begierde werden zu Frechheit, Eitelkeit und Freßlust. Eigenmächtigkeit ist hier also nur noch ironischer Schein, und dies demonstriert dann der zweite Zyklus mit immer wieder groteskem Nachdruck: die Handlung gerät von einer Sackgasse in die andere, der mächtige Brautwerber zeigt sich in totaler Hilflosigkeit. Das neue Muster präsentiert sich so massiv, daß es der nochmaligen Demonstration der radikal veränderten Perspektive am Schluß kaum mehr bedurft hätte: ich denke an jene Szene, in der Christus als Bettler erscheint und immer neue Forderungen stellt, die der König erfüllt, wobei er schließlich alles, was er besitzt, sogar seine Frau, hinzugeben bereit ist. Vom Wasserbottich am Ehebett war schon die Rede: Gewalt und Begierde, wiederum als Interpretationsmuster des mündlich vorausliegenden Brautwerbungstypus, spielen nur ganz auf der Oberfläche des Geschehens noch weiter; sie sind von Anfang an durch ein sich deutlich manifestierendes endgültiges Muster aufgehoben. Die spezifische Antwort, die die frühen deutschen Brautwerbungserzählungen auf die mit der Schriftlichkeit aufgebrochene Struktur- und Sinnfrage geben, besteht also darin, daß sie die neue Möglichkeit eines offenen Interpretierens zwar anlaufen lassen, den damit in Gang gesetzten Prozeß aber sogleich wieder zum Stehen bringen. Das macht ihren Reiz und ihre Lebendigkeit aus: man hat zwar das endgültige Muster, aber man läßt den Rezipienten es selbst finden, man führt den Rezipienten schrittweise zu ihm hin: das, was überwunden wird, kommt prozeßhaft zur Sprache. Das sollte man bedenken, wenn man etwa darauf hinweist, daß der Bezug auf ein endgültiges Muster sich in ein geistliches Weltverständnis fügt, in dem alle Erscheinungen auf einen gültigen Sinnhorizont hin durchsichtig gemacht werden können. Es handelt sich hier aber gerade nicht um einen schlichten exegetischen Brückenschlag zwischen Phänomen und Bedeutung, sondern um ein Eintreten in profane Interpretationsmuster und eine Verwandlung dieser Muster, bei der sie, auch wenn sie zurückgelassen werden, doch als Elemente eines Erfahrungsprozesses funktional integriert bleiben. Es wird hiermit erstmals in der deutschen Literatur die literarische Interpretation selbst mit thematisch, und dies bezeichnenderweise als Form einer Auseinandersetzung mit mündlich profanen Überlieferungen. Was dabei im Übergang zur Schriftlichkeit verlorengeht, die Identität von Erzählungen aufgrund von Strukturmustern, die fraglos den Sinn tragen und die Handlung legitimieren, das wird zu einem zukunftsträchtigen Gewinn: man entdeckt, daß Strukturmuster ablösbar sind, daß man sie entwerfen und verändern kann. Die entscheidende Erfahrung liegt nun nicht mehr im Akt der Identitätsfindung, sondern im Akt der Strukturveränderung. Die mündliche Dichtung lebt in der Vortragssituation, und dieses 'Leben' vollzieht sich als ein Sich-Vergewissern anhand vorgegebener Sinnstrukturen. Die schriftliche Dichtung verlangt den Nachvollzug von Strukturentwürfen, die auf Sinnveränderung zielen, d. h., sie lebt im Übergang von einer Struktur zur andern. Die Brautwerbungserzählungen des 12. Jahrhunderts, so anspruchslos und ungehobelt sie uns erscheinen mögen, markieren damit eine epochale literarhistorische Wende: im Prinzip ist dies der deutsche Ansatzpunkt für die Entwicklung zum modernen Roman. 12

Es ist nun aufschlußreich festzustellen, daß man in Frankreich bei der Verschriftlichung der Mauere de Bretagne nicht nur vor derselben Problematik stand, sondern daß man auch mit denselben Mitteln - wenngleich sehr viel kunstvoller - darangegangen ist, sie zu bewältigen. Sowohl im >Tristan< wie im Artusroman erscheint die Handlungsdoppelung als Strukturprinzip. M Und bekanntlich hat Chretien de Troyes die besondere Leistung bei seiner Verschriftlichung dessen, was die Conteurs, wie er sagt, 'verderbt und zerstückelt' vortrugen, im Entwurf einer sinntragenden Struktur gesehen. Denn nichts anderes als dies ist es, was er im >ErecTristan< geradezu schrankenlos auszuwirken. Fast alles wiederholt sich in irgendeiner Form: die tragische Liebe der Eltern in der Liebe Tristans ,4

Zur Struktur des arthurischen Romans: RUH 1977 [b], S. 115ff.; FROMM 1969/1989; HAUG 1985/1992, S. 91ff. 13

und Isolds, die erste Irlandfahrt in der zweiten, der Moroltkampf im Drachenkampf, die Liebestrankszene in der Baumgartenszene, die Zweideutigkeit des belauschten Stelldicheins in der Zweideutigkeit des Gottesgerichts, die erste Isold in einer zweiten, usw. usf.15 Und wieder spielen diese Doppelungen zwischen Korrespondenzen und Oppositionen, und wieder kann man sagen, daß dadurch die Muster sichtbar werden, nach denen das Geschehen abläuft. Aber anders als im Artusroman gibt es hier keine Utopie als Grenzmoment, es gibt nur die Utopie der Minnegrotte, und diese ist in eigentümlicher Weise aus dem Handlungszusammenhang herausgenommen; sie ist narrativ so gut wie funktionslos. Die Folge davon ist, daß der Sinn der Strukturmuster, den der Dichter programmatisch-diskursiv mitgibt, zur Gewalt und Begierde, die über die Handlungsmuster in Szene gesetzt werden, in Widerspruch tritt. Und es gibt keine Möglichkeit mehr, sich aus diesem Widerspruch zu befreien: das eine meint immer auch das andere.16 Das ist die > TristaneVariante des neuen Prinzips des kontinuierlichen Übergangs. x . Das gibt Anlaß zu einigen grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Struktur, Sinngebung und Interpretation. Man erfaßt das Gesetz einer Erzählung in mittelbar-reflektierter Weise nur dadurch, daß man ihr strukturelles Konzept durchschaut. Doch dieser Akt hat zugleich etwas Zerstörerisches an sich: er reduziert die lebendige Fülle auf ein bloßes Gerüst, man skelettiert die Erzählung gleichsam, so daß man nur noch ihr totes Gerippe in Händen hält. Das, was sich beim Erzählen als Prozeß in der Zeit vollzieht, erscheint in der Struktur - um eine Formulierung Joseph Leo Koerners aufzugreifen17 - nur noch als „zeitloses Skelett der Zeit". Koerner beschreibt damit übrigens das Verhältnis zwischen dem Gehäuse einer Spiralmuschel und dem in dieser Form lebenden Tier. Die reine Form der Muschel ist uns nur zugänglich, wenn das Tier tot ist. Die Windungen des Gehäuses zeigen zwar noch seinen Werdegang, das Gehäuse gibt die Spur der Zeit, aber es selbst ist zeitlos und tot.' 8 Das heißt: In der variierenden Wiederholung der Windungen fassen wir das Wachstumsgesetz, aber eben immer nur um den Preis des Todes. Zugleich jedoch ist der Tod insofern auch wiederum überwunden, als die Struktur über aller Zeitlichkeit steht. Genau diese Ambivalenz steckt auch in der narrativen Doppelungstechnik: sie liefert uns wie die Windungen der Spiralmuschel ein Muster, das aus dem lebendigen Ablauf heraustritt, und das erlaubt uns zwar, das Gesetz des narrativen Prozesses zu erfassen, doch zugleich gilt, daß wir den Prozeß als solchen damit gerade nicht greifen können, sondern eben nur seine Spur. Die Wiederholung überwindet also einerseits die Zeitlichkeit, indem sie das Muster der Zeit sichtbar macht; doch hat man anderseits, wenn man dabei stehen15

Diese Doppelungen hat Rolf Keuchen nachdrücklich herausgestellt (KEUCHEN 1975), doch führt es in die Irre, hier mit dem exegetischen Begriff der Typologie zu operieren. 16 Siehe dazu HAUG 1986 [a] [ - Strukturen, S. 600-611]. "KOERNER 1983, S. 30. Nebenbei sei angemerkt, daß das Bild von Schalentier und Schale eine gewisse poetologische Tradition besitzt: Wolfgang Raible hat in seiner Analyse von Francis Ponges >L'Huitre< davon gehandelt; siehe RAIBLE 1972, S. 154f.; vgl. auch RAIBLE 1983, S. 22ff. 18 Niemand hat wohl diesen negativen Aspekt der strukturalen Analyse so drastisch ins Bild gebracht wie Jacques Derrida: Er vergleicht die Struktur mit einer bis auf ihre Grundmauern zerstörten Stadt, in der die vergangene Kultur und ihr Sinn nur noch gespensterhaft umgehen. Deshalb sei strukturalistisches Bewußtsein immer katastrophisches Bewußtsein; es sei wesensmäßig destruktiv, da es den Blick auf die elementaren Züge lenke, an denen sowohl die Möglichkeiten wie die Zerbrechlichkeit des Ganzen sichtbar würden: DERRIDA 1967 [a], S. 11. 14

bleibt, eben nur ein Skelett in Händen. Der Interpret muß deshalb der Spur nachgehen, die die Erkenntnis des Musters ihm liefert, er muß sie von jenem Punkt her zu sehen versuchen, von dem her sie geworden ist, vom innersten Punkt des Gehäuses aus sozusagen. Das heißt also: der Interpret hat den Weg durch das tote Muster zurückzugehen bis zum Prinzip, aus dem heraus es entworfen ist. Und dieses Prinzip liegt in unserem Fall, wie ich zu zeigen versuchte, im historischen Ursprung der neuen vulgärsprachlichen Schriftlichkeit, im Übergang von einer mündlichen Dichtung, bei der Gehäuse und Muschel gewissermaßen eins sind, zu einer schriftlichen Gestaltung, bei der diese Einheit auseinanderbricht, wodurch die Struktur zum Problem wird. Und was der Interpret hierbei unternimmt, nämlich den Rückweg durch das tote Gehäuse zum Ursprung zu finden, das tut auch der Dichter, wenn er das einmal geschaffene Muster weiterspielt. Er geht sein Muster nochmals durch, und zwar von der Frage her, was es darstellt und was es ausspart. Denn der Rückgang zum Prinzip heißt immer auch, daß man den Spielraum testet, den es eröffnet: der Nachvollzug des vorgegebenen Musters kann sich ihm nicht fügen, ohne daß doch wieder nur das tote Gehäuse herauskommt. Das Lebendige liegt im Ursprung, in dem der Prozeß angestoßen worden ist, und die Erneuerung kann nur dadurch vonstatten gehen, daß man die Gestalt variiert, um das Muster in seiner lebendigen Funktion sichtbar zu machen. Eine letzte Überlegung. Es mag Verwunderung erregen, daß das Strukturproblem so hartnäckig mit einer spezifischen Thematik verschwistert erscheint: mit Gewalt und Eros. Wo Strukturen entworfen werden, sind offenbar jene Mächte provoziert, in-denen sich das Strukturlos-Anarchische präsentiert. Das zeigt sich in den deutschen Brautwerbungserzählungen ebenso wie im Artusroman oder im >TristanRuodlieb< jede ästhetische Qualität im neuzeitlichen Sinne abzusprechen sei. Damit haben wir, geht man vom Denkansatz der neuzeitlichen Ästhetik aus, den kritischen Punkt erreicht. Denn müßte das, was der >Ruodlieb< so augenfällig demonstriert, nicht für die gesamte Literatur des Mittelalters Geltung haben? Man wird diese Frage insofern bejahen, als man sagen kann, daß das Mittelalter prinzipiell im Rahmen eines dogmatisch verfestigten Sinnhorizohts denkt. Wenn es Denkbewegungen gibt, so erscheinen sie als Differenzierungen, Harmonisierungen, Umstrukturierungen innerhalb des einen unantastbaren heilsgeschichtlichen Konzepts. Wo es-in Frage gestellt wird, wird das Denken luziferisch oder häretisch; narrativ führt es zum Negativexempel, faktisch fordert es Sanktionen heraus. Man könnte im übrigen darauf hinweisen, in welchem Maße die mittelalterliche Literatur allegorischen Verfahrensweisen verpflichtet ist, Verfahrensweisen also, die den Erscheinungen ihre Bedeutung von einem festgelegten Sinnhorizont her zuordnen, und dies prinzipiell nicht als produktives Erschließen von Sinn, sondern als ein Aufdecken von immer schon in Dingen und Ereignissen eingeprägten Bedeutungen.10 Und wo man ästhetisch doch produktiv wird, wo man fiktive Gebilde schafft, da bleibt man im Exemplarischen oder im allegorischen Konstrukt stecken, d. h., das Ästhetische fungiert hier nur als Einkleidung, integumentum, es ist nicht genuines Medium von Erfahrung. Der Schluß wäre: streng genommen ist ästhetisches Verhalten in dem definierten Sinn ein neuzeitliches Phänomen; die poetischen Möglichkeiten der Sprache sind erst nach dem Mittelalter entdeckt worden. Aber ist das wirklich plausibel? Darf angenommen werden, daß man vor der Neuzeit nur den instrumentell-konventionellen Gebrauch der Sprache kannte? Wenn die sinnkonstituierende Funktion der Sprache so elementar zur Sprachfähigkeit des Menschen gehört, wie behauptet wurde, wenn die instrumentelle Verwendung der Sprache etwas Sekundäres ist, so kann es sich bei der ästhetischen Erfahrung schwerlich um ein spezifisch neuzeitliches Phänomen handeln. Es scheint also irgendwo ein Denkfehler zu stecken: Entweder es trifft nicht zu, daß der mittelalterliche Denkhorizont so festgelegt war, daß die Sprache nur noch instrumentell funktionieren konnte, oder aber * Ebd., S. 164f. bzw. S. 55, S. 92ff. 0 Es ist bezeichnend, daß die Allegorese für Anderegg einen Musterfall instrumenteller Sprachverwendung darstellt: ANDEREGG 1985, S. 89. 21

die Theorie ist revisionsbedürftig. Ich meine, daß beides in gewisser Weise relativiert und differenziert werden muß. Dies sollen die folgenden Überlegungen deutlich machen: Der >RuodliebIweinParzivalRuodlieb< spiegelt auf seiner Ebene und auf seine Weise unverkennbar dieses Konzept. Die Weisheit des Rex maior ist nichts anderes als eben diese Einheit von Wissen und Moral. Sie erscheint in seiner formvollendeten Haltung, seiner königlichen Würde, in der Geste der Versöhnung, deizare heißt der Begriff für diese höchste Möglichkeit - ein Wort, das nur hier belegt und wohl als eine Bildung des >RuodliebRitterorden und ritterliche Gelübde^ S. 84-94; LOOMIS 1939; CLINE 1945; LOOMIS 1961 [a]; OSTMANN 1975, insbes. S. 274ff. und S. 299ff.; MOSER 1984; KEEN 1984, S. 179ff. und S. 200ff.; BUMKE 1986, Kap. IV: >Höfische

FesteDon Quijote< wird diesen Übergriff der Literatur auf die faktische Wirklichkeit dem Gelächter preisgeben. Während auf der einen Seite das scheinbar in die Literatur gerettete Korrelationsmodell nocheinmal in der unglaublichsten Weise eine falsche Karriere macht, setzt auf der andern der außerliterarische Zusammenbruch des Korrelationsmodells das Konzept des arthurischen Romans unter Druck. Es wird nun die Idealität überhaupt, d. h. auch in der Form eines visionär-augenblickshaften Status, in Frage gestellt. Anders gesagt: so wie im Weltbild des 12./13. Jahrhunderts Immanenz und Transzendenz auseinandertreten, so wird nun auch im Roman das Ineinander von Weltglück und Gottessegen zum Problem. Wolfram versucht in seinem >Parzival< eine letzte kühne Synthese, während in Frankreich im Lancelotprosaroman radikal die Konsequenzen im Sinne der neuen Zeit gezogen werden: Der Gral wird zum Transzendenzsymbol, er kehrt am Ende in den Himmel zurück; der neue Gralsritter Galaad erscheint als Heiliger, die Artuswelt aber geht an ihrer Bindung in das Irdische, in ihrer Verfallenheit an Gewalt und Begierde zugrunde. Mit diesen beiden Formen eines Ineinanderwirkens von Literatur und Leben in nachklassischer Zeit: mit der Übertragung des romanhaften Korrelationskonzepts in die Wirklichkeit und mit der Problematisierung des arthurischen Typs im Blick auf eine sich auflösende höfische Kultur, sind selbstverständlich die Möglichkeiten der Interaktion zwischen Dichtung und Faktizität im späten Mittelalter nicht ausgeschöpft. Insbesondere die neuen literarischen Typen, die im 13. Jahrhundert entstehen, zeigen, wie vielfältig dieses Verhältnis ausgespielt wird. Um ein zureichendes Bild zu zeichnen, müßte das ganze Spektrum der Gattungen mit ihren lebensweltlichen Funktionen in die Betrachtung einbezogen werden. Mir ging es hier nur um eine beispielhafte Demonstration der Chancen, die eine Öffnung der Literaturgeschichte auf den kulturellen Gesamtkontext hin zu bieten vermag.

24

HAGENLOCHER

1989.

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Rückblick Abschließend seien die Ergebnisse dieser Öffnung im beschränkten Rahmen der vorgegebenen Fragestellung nocheinmal zusammengefaßt: Der neue Roman des 12. Jahrhunderts verdankt seine Entstehung der Auflösung des frühmittelalterlichen Weltbildes, das durch ein universales Korrelationskonzept gekennzeichnet war. Als dieses Weltbild fragwürdig wurde und die große theologischphilosophische Umstrukturierung begann, hat sich die Literatur gewissermaßen zum Anwalt des verlorenen Konzepts gemacht. Dies jedoch nicht einfach als konservatives Festhalten an einer Idealität, die passe war, sondern indem sie die Möglichkeit dieser Idealität in einer veränderten Welt zu überdenken versuchte. Einen ersten solchen Versuch machte der Autor des >RuodliebErecTristanPercevalTristan< (zwischen 1210 und 1220).6 Er ist als Exkurs in die epische Handlung eingeblendet. Die Anregung dazu dürfte aus lateinischer Tradition stammen.7 Es handelt sich um eine kritisch-charakterisierende Auflistung von sechs Autoren - Epikern und Lyrikern. An erster Stelle steht Hartmann von Aue, ihm wird der Dichter-Lorbeerkranz zuerkannt. Dies aufgrund der Luzidität seines Stils: Gottfried rühmt die kristallene. Transparenz seiner Sprache, die vollkommene Harmonie von Wort und Sinn. Ihm wird ein ungenannter Dichter gegenübergestellt, der mit seinem dunkel-rätselhaften Stil verführe, mit ausgefallenen Wendungen verblüffe und das Publikum mit poetischem Gaukelspiel zum Narren halte. Es hat sich eine Forschungsdiskussion um die Identität des Ungenannten entwickelt. Im allgemeinen nimmt man an, daß sich Gottfrieds Angriff gegen Wolfram von Eschenbach richtet.8 Positiv im Sinne von Gottfrieds Stilideal wird dann auch Bligger von Steinach bewertet. Und darauf folgt Heinrich von Veldeke, von dem gesagt wird, daß er das erste deutsche Reis auf den Baum der Dichtkunst aufgepfropft habe. Das heißt: er wird als derjenige vorgestellt, von dem die neue Literaturtradition in Deutschland begründet worden sei. Den Abschluß bildet ein Lob der Lyriker Reinmar und Walther von der Vogelweide - wiederum aufgrund der an Hartmann exemplifizierten Kriterien. Gottfried präsentiert seinen Katalog von Musterautoren also unter dem Aspekt eines ganz bestimmten Stilideals. Es ist charakterisiert durch eine Sprachkunst von vollendeter Eleganz und Durchsichtigkeit des Sinns. Dieser neue Stil sei von Heinrich von Veldeke geschaffen und dann von Hartmann, Bligger und den Lyrikern der Blütezeit weitergepflegt worden. Gottfried behauptet dann zwar, daß er selbst mit seinem Können hinter diesen Musterautoren zurückbleibe. Doch das ist rhetorische Bescheidenheit: im Grunde stellt er sich selbst in diese Reihe, ja er charakterisiert und legitimiert seine eigene Formkunst über das Lob der Vorgänger.

6

F. RANKE 1970, vv. 4621 ff.; vgl. zum Folgenden HAUG 1985/1992, S. 213ff. bzw. S. 219ff.

7

WALDE 1961, S. 67ff.; REINITZER 1966, S. 36ff.

8

Ich folge der besonnenen Behandlung der Frage durch NORMAN 1969. 47

Gottfried mythologisiert dann abschließend dieses künstlerische Selbstverständnis in eigentümlicher Weise, indem er antike und christliche Inspirationsvorstellungen ineinanderspielt: er spricht von der Dichtkunst als Geschenk der Musen, wobei er diese mit den neun Himmelschören zusammensieht. Aber diese quasi-mythologische Kombinatorik meint im Grunde nichts anderes als die Unfaßbarkeit des initiierenden Aktes: genau genommen tritt hier der Dichterkatalog an die Stelle der Inspiration, d. h., die Legitimierung der Dichtung erfolgt über den innovativen und traditionsstiftenden literarischen Akt, mit dem die Reihe einsetzt. Und in dieselbe Richtung zielt auch die von Gottfried geforderte Einheit von Wort und Sinn: der Sinn soll nicht über eine sekundäre Interpretation gesucht und gefunden werden, die Bedeutung soll nicht jenseits der poetischen Vorstellung liegen, das Werk soll nicht, wie Gottfried es seinem ungenannten Gegner vorwirft, auf 'Glossierung', d. h. auf Interpretation von außen angewiesen sein, es soll vielmehr seinen Sinn unmittelbar im Wort zur Erscheinung bringen. Das ist nichts anderes als ein Plädoyer für die Autonomie des Literarischen. Gottfrieds Dichterkatalog begründet also über eine Stildiskussion die Literatur in sich selbst. Das ist ein kühnes Unterfangen, aber es ist nicht so singulär, wie es scheint; denn auf anderen Wegen und mit anderen Mitteln haben auch Hartmann und Wolfram analoge theoretische Vorstöße unternommen. 9 Gottfrieds Katalog der deutschen Musterautoren ist im 13. Jahrhundert mehrfach nachgeahmt worden. Er wurde dabei variiert und erweitert.10 Heinrich von dem Türlin bespricht 8, Rudolf von Ems im >Alexander< 17, im >Willehalm von Orlens< 18, Hugo von Trimberg 12 Autoren. Es gibt übrigens auch Kataloge, die sich ausschließlich auf Lyriker beschränken. Es ist also nicht zu einer geschlossenen kanonischen Reihe oder gar zu einem kanonischen Textkorpus gekommen. Der Dichterkatalog ist vielmehr Vehikel eines sich wandelnden Traditionsbewußtseins. Bei aller Variabilität und Offenheit aber gibt es doch so etwas wie einen kanonischen Kern, d. h. eine Dichtergruppe, die in wechselnden Kombinationen immer wieder auftaucht und auf die sich auch die Einzelberufungen konzentrieren. Es sind dies Heinrich von Veldeke, Hartmann, Wolfram, Gottfried und die Lyriker Reinmar und Walther von der Vogelweide, also jene Autoren, die schon in Gottfrieds Katalog auftauchen, er selbst eingeschlossen - nur Bligger tritt zurück -, und die auch für uns heute noch im wesentlichen die mittelhochdeutsche Klassik repräsentieren. Trotzdem muß man festhalten: Es geht bei diesen Katalogen wie bei den Einzelberufungen weniger darum, einen festen Kanon zu etablieren, als um das Prinzip der Musterreihe an sich. Wie immer die Autorenlisten im einzelnen jeweils aussehen mögen, sie repräsentieren die Bezugnahme auf Tradition: die literarische Rezeption und Produktion wird getragen vom Bewußtsein einer vorgängigen Reihe beispielhafter Dichter. Dabei genügt das Prinzip der Reihe allein schon, um in der Bezugnahme Effekte auszulösen, die von allgemeiner Geltung sind, also bei jeder Art von Kanonisierung mehr oder weniger prägnant in Erscheinung treten können. Ich unterscheide sechs Kanonisierungseffekte, die jedoch nur darstellungstechnisch auseinanderzuhalten sind. In Wirklichkeit spielen sie so eng zusammen, daß jeder Effekt sich als Konsequenz aus allen übrigen verstehen läßt: "Vgl. HAUG 1985/1992, S. 124ff. und S. 159ff. bzw. S. 125ff. und S. 164ff., sowie S.165ff. bzw. S. 170ff. 10

Texte bei SCHWEIKLE 1970.

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\ 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Die Die Die Die Die

Nivellierung individueller Differenzen Transformation von Problematik in Normverhalten Reduktion des Ästhetischen auf Form und Technik literarische Stilisierung des Faktischen Extrapolation von Dichterrollen: Legitimation durch Gründerfiguren Geburt der Parodie aus dem Kurzschluß zwischen Literatur und Leben 1. Die Nivellierung individueller Differenzen

Gottfrieds Dichterkatalog impliziert eine literarhistorische Auseinandersetzung, die sich als Stilkonflikt gibt: die Forderung nach der Transparenz der Sprache auf den Sinn hin opponiert gegen eine Darstellungsweise, als deren Ausdrucksmittel Bilder, Gleichnisse, Verrätselung, Allegorie und dgl. erscheinen. Von dieser Opposition aus aber werden die positiv bewerteten Dichter auf eine Ebene gestellt, d. h., gegenüber der übergreifenden stilistischen Tendenz treten die individuellen Differenzierungen zurück. Dabei ist insbesondere auffällig, daß von Walther von der Vogelweide gesagt wird, er sei berechtigt, den verstorbenen Reinmar als führenden Lyriker abzulösen, der bekannte Konflikt zwischen Reinmar und Walther ist also unterschlagen. Es gibt somit in Gottfrieds Katalog nurmehr die eine ästhetische Ideallinie, auf die alle Musterautoren verpflichtet erscheinen - und dazu die Negativfolie, die bezeichnenderweise namenlos bleibt. Diese Nivellierung der individuellen Positionen im Katalog, die sich bei Gottfried schon vorbereitet, wird im Prozeß der späteren Kanonbildung weitergetrieben, ja radikalisiert. In den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts eröffnet Rudolf von Ems das 2. Buch seines Alexanderromans mit einem Dichterkatalog, der sich unverkennbar an jenen im >Tristan< anlehnt.11 Zunächst wird Heinrich von Veldeke genannt, wobei Gottfrieds Metapher vom Baum der Dichtung, auf die Veldeke einen deutschen Zweig aufgepfropft habe, übernommen wird. Dann wird gesagt, daß sich daraus drei kunstreiche Blütenzweige entwickelt hätten: Hartmann, Wolfram und Gottfried. Rudolf charakterisiert den Stil der drei Dichter, wobei er sehr wohl etwas von ihrer besonderen Eigenart einzufangen versteht: bei Hartmann werden Klarheit und Eleganz der Diktion hervorgehoben, bei Wolfram das Ungewohnt-Eindrucksvolle und KunstreichÜberraschende. Bei der Beschreibung der Kunst Gottfrieds aber finden wir die stilistischen Möglichkeiten Hartmanns und Wolframs gewissermaßen vereinigt. Was also in Gottfrieds Katalog noch als unversöhnbarer Gegensatz erschienen ist: die kristallene Durchsichtigkeit der Sprache bei Hartmann und allen andern genannten Dichtern gegenüber dem dunklen Rätselstil Wolframs, das sind hier nurmehr Nuancen in einem breiten Spektrum positiver Möglichkeiten, wobei ausgerechnet Gottfried die Extreme zu einer Synthese geführt haben soll! Im Dichterkatalog, den Rudolf in seinem >Willehalm von Orlens< bietet, ist dann die Nivellierung zuende geführt: hier handelt es sich nurmehr um eine Liste von Namen und Werken.12 In diesem Wandel des Katalogs faßt man beispielhaft die Veränderung der literarhistorischen und der literaturtheoretischen Positionen: Im Kanon der klassischen " JUNK 1928/29, vv. 3063ff.; vgl. HAUG 1985/1992, S. 301f. bzw. S. 310f. ,2

JUNK 1905, vv. 2170ff.

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Dichter werden die individuellen Züge auf den Nenner einer generellen, und d. h. letztlich einer formalen Meisterhaftigkeit gebracht. Und wenn man daraus die praktischen Konsequenzen zieht, so kommt es tatsächlich zu jener Synthese, die Rudolf schon Gottfried unterstellt hat: in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird Konrad von Würzburg in artistischer Virtuosität Gottfriedsche Formkunst und Wolframsche Bildphantasie verschmelzen. 2. Die Transformation von Problematik in Normverhalten Der Held des klassischen arthurischen Romans hat einen Weg zu gehen, der nach einem ganz bestimmten Modell strukturiert ist: Chretien de Troyes hat es mit seinem >Erec< entworfen.13 Es handelt sich um einen Doppelkursus, der den Protagonisten der arthurischen Idealgesellschaft zweimal vom Hof weg in eine Gegenwelt führt. Auf dem ersten Weg gewinnt er eine Frau. Er bringt sie an den Hof zurück. In dem sich anschließenden Fest der Tafelrunde manifestiert sich eine Art labiles Gleichgewicht. Das heißt: was damit erreicht worden ist, hat nur vorläufigen Bestand. Es kommt zu einer Krise, in der dem Helden sowohl das Verhältnis zu seiner Partnerin wie das zur Gesellschaft problematisch wird. Ein zweiter Auszug führt ihn an jene Grenze, an der die innerweltliche Balance der arthurischen Idealität grundsätzlich in Frage gestellt erscheint: es ist die Grenze, die durch den Absolutheitsanspruch des Eros und die Irreversibilität des Todes gegeben ist. Während ihre relativen Formen, Begierde und Gewalt, auf dem Weg diesseits der Grenze bewältigt werden können, müssen die absoluten Positionen als Grenzerfahrungen durchgestanden und integriert werden: der Held geht symbolisch durch den Tod hindurch - Ohnmacht, Wahnsinn, Verwundung sind die Motive dafür -, und es ist dann die schenkende Liebe, die ihm das Leben rettet. Dieser neue Roman mit seinem Doppelweg und dem auf ihn bezogenen thematischen Konzept bietet eine Sinnvermittlung an, die vom Rezipienten einen prozeßhaften Nachvollzug verlangt. So fordert Wolfram in seinem >ParzivalTristan< Gottfrieds ist nicht dem arthurischen Strukturmodell verpflichtet. Er verwendet vielmehr eine Handlungstechnik, die man als sich steigernde Variation eines Grundkonfliktes charakterisieren kann. Er beruht auf dem Gegensatz zwischen dem absolut gesetzten Eros, der als solcher bejaht wird, und der gesellschaftlichen Bedingtheit des Menschen, die gegen die absolute Erfüllung steht. Der Roman treibt diesen Konflikt unversöhnbar in die Höhe. Es gibt keine Möglichkeit zur Integration; die Handlung ist von Anfang an auf einen tragischen Ausgang hin angelegt. Auch hier kann die adäquate Rezeption nur in einer Teilnahme an diesem Erfahrungsprozeß bestehen, und so versucht denn Gottfried im Prolog, den Hörer vorweg auf den unversöhnlichen Widerspruch der Tristanliebe zu verpflichten: nur wer bereit ist, selbst diesen Widerspruch zu leben, wird den Roman verstehen können.15 13 Zum arthurischen Strukturmodell: HAUG 1985/1992, S. 92ff. "Ebd., S. 158ff. bzw. S. 162ff.

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In anderer Richtung, aber mit ebenso unlösbarer Problematik belastet, gehen die Versuche, die Wolfram mit dem >Willehalm< und dem >Titurel< unternommen hat. Hier wird das arthurische Modell von jenem Punkt aus in Frage gestellt, an dem sich dessen spezifisch literarischer Sinn erfüllt, nämlich von der Grenzerfahrung aus: sowohl im >Willehalm< wie im >Titurel< erscheint der Tod als katastrophale Wirklichkeit, die jede Integration im Sinne des arthurischen Konzepts ausschließt.'6 Ob man nun aber wie Chretien und Hartmann einen Weg über ein symbolisches Strukturmodell anbietet oder ob wie im >TristanWillehalm< oder im >Titurel< auf eine Aporie hinexperimentiert wird, in jedem Fall erhebt diese Literatur den Anspruch, in offene Probleme hineinzuführen und damit ein genuines Medium von Erfahrung zu sein. Dies ändert sich grundlegend bei der Sekundärrezeption. Die Gleichschaltung der klassischen Autoren im Rahmen des Musterkataloges bedeutet, daß mit der Individualität der Werke auch ihre spezifische Problematik aus dem Blick fällt. An ihre Stelle aber tritt genau das, was von Wolfram mit aller Entschiedenheit abgelehnt wurde: die aus dem Geschehen zu abstrahierende Lehre. Entsprechend sollen nicht mehr Grenzerfahrungen literarisch nachvollzogen, sondern es soll nun Normverhalten vermittelt werden. Diese fundamentale Veränderung des Rezeptionsmodus erscheint übrigens schon relativ früh, d. h., die Reduktion genuiner literarischer Erfahrung auf eine Vermittlung von Normen ist eine Möglichkeit, die im Prinzip von Anfang an gegeben ist. So empfiehlt Thomasin von Zerklaere in seinem Ethikhandbuch, dem >Wälschen Gast< (1215/16), die Lektüre von Romanen, da sie beispielhaftes Verhalten lehren könnten, dies jedenfalls auf einer pädagogischen Grundstufe, die der Fortgeschrittene dann zugunsten der abstrakten Lehre zurücklassen sollte. Dabei ist bezeichnend, daß Thomasin nicht Werke, sondern Figuren nennt: Gawein, Erec, Parzival, Tristan, Enite, Blanscheflur usw., doch nicht nur Gestalten aus dem höfischen Roman, sondern gleichberechtigt auch solche aus dem Antikenroman und der Heldenepik: Alexander, Karl der Große, Andromache, Penelope usw.17 Es ist diese Perspektive, die sich dann im 13. Jahrhundert gegen das ästhetische Konzept Wolframs und Gottfrieds durchsetzt. Schließlich wird es sogar zu einer allgemeinen kanonischen Figurenliste kommen, zum Katalog der Neun Helden: drei Heiden, drei Juden, drei Christen, die, ohne weitere Charakterisierung oder Differenzierung nebeneinandergestellt, schlichtweg Idealität verkörpern. Der Katalog der Neun Helden hat insbesondere als ikonographische Formel über mehrere Jahrhunderte hin einen erstaunlichen gesamteuropäischen Erfolg gehabt.18 Damit ist ein Äußerstes an reduzierender Gleichschaltung erreicht, denn diese Figuren verkörpern tugent nur noch in einer generell-zeitlosen Weise; es ist undenkbar, daß durch eine solche Liste noch in irgendeiner Weise Problembewußtsein angestoßen werden könnte. Dieser reduzierten Rezeption kommt dann folgerichtig die Produktion mit dem neuen Typus des späthöfischen Romans entgegen.19 Als Artusroman kann er zwar das 15

Ebd., S. 203ff., S. 210ff. bzw. S. 209ff., S. 216ff. Ebd., S. 174ff. bzw. S. 179ff., und HAUG 1980 [a] [= Strukturen, S. 541-553]. 17 HAUG 1985/1992, S. 226ff. bzw. S. 232ff. ,8 SCHROEDER 1971 und 1981; HAUG 1982 [a], S. 24ff. [= Strukturen, S. 687-708, hier S. 691 ff.]. 19 HAUG 1985/1992, S. 250ff. bzw. S. 259ff. 16

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Doppelkreisschema des klassischen Modells übernehmen, aber er spart dann genau das aus, worum es dort ging, nämlich die Krise des Helden. Es erscheint nun der problemlose Aventürenritter, der innerlich unangefochten durch immer grauenvoller gestaltete Gegenwelten hindurchzugehen hat. Er demonstriert dabei heroisch-ritterliches Verhalten, und seien die Situationen auch noch so haarsträubend bedrohlich. Dem entspricht eine Wende in der expliziten Literaturtheorie. Rudolf von Ems wie Konrad von Würzburg betonen den didaktischen Charakter ihrer Romane. Albrecht, der Dichter des >Jüngeren Titureh, hat in seinem Prolog Wolframs >ParzivalBeowulf< mit seinen Liedeinlagen, die altenglische und die lateinische Adaptation der Walthersage, die erstere freilich nur in zwei dürftigen Bruchstücken. In einem merklichen Zeitabstand folgt dann vom 12. Jahrhundert an die Umsetzung in großepisch-schriftliche Formen, ein Prozeß, der bis ins späte Mittelalter hinein weitergeht. Alle diese Zeugnisse zusammengenommen, ergeben eine so enge Traditionskette über die Jahrhunderte hin, daß wir mit einer ungebrochenen Kontinuität des Typus rechnen dürfen, die von der Zeit, in der die heroische Tradition gründet, von der Völkerwanderungszeit an also, bis ins späte Mittelalter hinein bestanden haben muß. Das sind vom 4./5. Jahrhundert bis zum 16. Jahrhundert über tausend Jahre! Der Literarhistoriker sollte sich dies bewußt halten, wenn er sich - verständlicherweise - vorwiegend mit dem beschäftigt, was ihm unmittelbar zugänglich ist, mit der Schrifttradition, und nicht übersehen, daß es neben ihr eine zweite Literatur gegeben hat, die genauso wirkungsmächtig, ja vielleicht zu Zeiten wirkungsmächtiger war als jene, eine Literatur zudem, die keineswegs ins Abseits gehört, weil sie etwa sozial niedriger angesiedelt gewesen wäre, die vielmehr - jedenfalls sehr lange - mit zur Eliteliteratur zu rechnen ist. Wir haben eindrucksvolle Zeugnisse für diese Wertschätzung der Heldendichtung in sozial führenden Kreisen. Etwa den berühmten Brief Alcuins an den Bischof von Lindisfarne in Northumbrien aus dem Jahre 797. Er schreibt mahnend, daß die Geistlichen beim Mahl das Wort Gottes hören sollten und nicht die Lieder der Heiden.4 Oder den bitterbösen Brief des Bamberger Schulmeisters Meinhard von 1061, in dem er seinem Bischof Günther, einem der glänzendsten Kirchenfürsten der Zeit, vorwirft, daß er sich lieber Heldensagen von Attila und Dietrich von Bern anhöre, statt Augustinus oder Gregor den Großen zu lesen.5 Die geistliche Kritik an dieser mündlichen Gegenliteratur zieht sich mit unverminderter Schärfe durch die Jahrhunderte, und sie bezeugt damit implizit, daß sie wirkungslos war.6 Die mündlich-heroische Tradition scheint äußerst zählebig gewesen zu sein. All dies müßte Anlaß genug sein, die mündliche Dichtung im literarhistorischen Gesamtbild gebührend zu berücksichtigen. Doch besteht die große Schwierigkeit dabei natürlich darin, daß wir sie nicht haben, womit ich nicht in erster Linie meine, daß sie nur unzureichend verschriftlicht worden ist und vieles als verloren zu gelten hat, denn es ist anhand der indirekten Zeugnisse und über Rückschlüsse von den schriftlichen Fassungen her doch ein relativ reiches Stoffrepertoire zurückzugewinnen, wenngleich nur in Form von Regesten. Das aber heißt - und das ist der gravierende Punkt -, daß wir die konkrete Gestalt nicht fassen können, und dies p r i n z i p i e l l nicht. Der Grund dafür - und man kann dies nicht oft genug sagen - liegt darin, daß die dieser Dichtung eigentümliche Existenzweise der Vortrag ist. Und wenn man diese Vortragsdichtung verschriftlicht, verändert man ihre Existenzweise so fundamental, daß es sich fragt, ob es überhaupt möglich ist, von den schriftlichen Überlieferungen aus auf die mündlichen Vorstufen zurückzugreifen. Ist ein Weg denkbar, über den man einen Text durch 4

MGH, Epist. Merov. et Carol. aevi IV, Nr. 124: Verba dei legatur in sacerdotali convivio. Ibi decet lectorem audire, non citharistam, sermones patrum, non carmina genlilium. (Das Wort Gottes soll beim Mahl der Geistlichen gelesen werden. Es ziemt sich, dort den Vorleser zu hören, nicht den Harfenspieler, die Predigten der Väter, nicht die Lieder der Heiden.) 5 Vgl. ERDMANN 1936. Siehe auch PLOSS 1959, S. 280f. "HAUG 1985/1992, S. 25f. Anm. 1.

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die Rückverwandlung dessen, was bei der Verschriftlichung geschieht, in seine mündliche Vorform zurückzuverwandeln vermöchte? Je schärfer man die Grenze zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zieht, um so mehr wird man zögern, einen solchen Weg für möglich zu halten. Wer mit Zwischenformen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit rechnet, mag hoffnungsvoller sein. Aber gibt es diese Zwischenstufen wirklich?7 Wenn man trotzdem einen Versuch machen will, so setzt ein solcher rekonstruktiver Rückgriff jedenfalls voraus, daß man sich die besonderen Existenz- und Wirkungsbedingungen des Typus im Rahmen der mündlichen Traditionsform klarmacht. Wie stehen dafür die Chancen? Ernst Robert Curtius hat einmal hämisch gesagt, daß nur die Germanisten wüßten, wie die germanische Heldensage ausgesehen habe.8 Diese ironische Warnung trifft das übliche Gattungsverständnis, d. h. die von Andreas Heusler geprägte und letztlich der Ästhetik des 19. Jahrhunderts verpflichtete Gattungsideologie. Es gehe, so die betreffende These, in den germanisch-deutschen Heldensagen um menschliche Konflikte mit vorwiegend tragischem Ausgang, um Konflikte also, in denen Wertvorstellungen in der Weise aufeinanderstoßen, daß eine Lösung nicht möglich sei: Ehre gegen Sippenbindung, Gefolgschaftstreue gegen persönliche Freundschaft usw. Und hat man einmal diese Vorentscheidung getroffen, besteht die Aufgabe nur noch darin, die Stoffe daraufhin abzufragen, wo der tragische Konflikt liegen könnte, und schon springt das konkrete Heldenlied aus dem Hut. Dieses dubiose Konzept und Verfahren ist zwar in seinen Prämissen durchschaut, aber noch keineswegs überwunden.9 Was läßt sich, wenn man diese Prämissen der Heusler-Schule fallenläßt, von den indirekten Hinweisen und Belegen aus über die heroisch-mündliche Tradition mit einiger Sicherheit sagen? Ich meine viererlei: 1. Der Typus besitzt eine historische Basis. Sie mag oft dürftig erscheinen, ja sich jedenfalls für uns - im Dunkel der Geschichte verlieren, die Stoffe halten aber im Prinzip doch an der Verwurzelung in geschichtlichen Ereignissen fest, sie beziehen sich jedenfalls auf Personen, die historisch sind oder als historische vorgestellt werden. Über diese historische Basis der heldenepischen Tradition besteht Konsens und auch darüber, daß sich der Typus als historische Überlieferung verstanden hat. Nicht unbedingt aber ist man sich einig über die Bedeutung dieses geschichtlichen Fundaments. Ich schätze sie hoch ein, denn mag es auch noch so bruchstückhaft sein, es begründet den Wahrheitsanspruch des Typus. 2. Diese Fragmente einer faktischen Grundlage erscheinen immer schon von einer zweiten, einer literarischen Schicht überlagert; es ist die Schicht der narrativen Muster, nach denen die historischen Daten in einen Erzählzusammenhang gebracht werden. Es handelt sich um traditionelle Schemata, die sich anbieten, wenn es darum geht, historischen Fakten eine Sinnperspektive zu geben. 7

Ich denke dabei nicht an die Symbiosen zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, auf die Dennis H. Green immer wieder nachdrücklich hingewiesen hat: D. H. GREEN 1986, sowie 1990 [a] und 1990 [b]. Vielmehr denke ich an die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man einen Sänger dazu bringen möchte, seinen Vortrag schriftlich zu fixieren; siehe dazu LORD 1965, S. 184ff.

"CURTIUS 1961, S. 177.

"Siehe HAUG 1975 [a] [= Strukturen, S. 277-292]. 61

Der historische Untergang der Burgunden am Rhein im Jahre 436, bei dem ein Hunnenheer beteiligt war, z. B. wird in der Sage als eine verräterische Einladung an den Hunnenhof mit einem vernichtenden Überfall auf die Gäste dargestellt. Das ist ein gängiges Schema; es findet sich in einer Reihe von Varianten: im Ingeldlied, in der Finnsburgsage usw.10 Oder: Die historische Usurpation Oberitaliens durch Theoderich - 489 bis 493 - mit der Ermordung Odoakers erscheint in der Sage als Heimkehr des rechtmäßigen Herrschers, der von Odoaker einst vertrieben worden ist. Hier hat das Exilschema Pate gestanden. Oder: Das klägliche militärische Unternehmen Karls des Großen in Spanien vom Jahre 778 wird in der Rolandsage zu einem gloriosen Untergang aufgrund eines Verrats durch einen Vertrauten des Kaisers umstilisiert. Das Schema: 'Verrat aus den eigenen Reihen' liefert hier also das Erklärungsmodell für ein blamables Desaster. Diese Verschränkung von geschichtlichen Fakten und überformenden Mustern habe ich 1975 als Gegenmodell zu Heuslers Theorie angeboten," d. h. zu jener Theorie, die die Entstehung der Heldensage durch Enthistorisierung, Privatisierung und Ästhetisierung der geschichtlichen Ereignisse fassen wollte. Dieses Gegenmodell ist zwar nicht widerspruchslos akzeptiert worden,12 aber es scheint mir zumindest berechtigt, davon auszugehen, daß sich die Welt der Heldensage über einen Akt der Fiktionalisierung anhand narrativer Schemata konstituiert. Die Wirklichkeit, die sie bietet, ist - wie immer - eine Wirklichkeit, in der das Historisch-Faktische, das ja an sich ohne Sinn ist, von sinnkonstituierenden Handlungsmustern fiktional überarbeitet erscheint. Die Welt der Heldensage ist also eine Form von fiktionalisierter Wirklichkeit. Und wie jede ungebrochen erfahrene Wirklichkeit durchschaut sie selbst ihren fiktionalen Status nicht, vielmehr präsentiert sie sich über die Rückbindung an Fakten als historische Wahrheit. 3. Nun wird man auch anhand der nur indirekten Überlieferung nicht verkennen können, daß die Überformung historischer Fakten durch narrative Muster den heroischen Typus noch nicht zureichend kennzeichnet. Die Muster formulieren ja nur einen gewissermaßen objektiven Ablauf der Ereignisse vor. Das ergibt aber noch nicht das, was das eigentlich Heroische des Typus ausmacht. Was hinzu kommt, ist ein typusspezifischer zweiter Fiktionalisierungsakt, bei dem die Figuren in ein besonderes Verhältnis zu den narrativen Mustern gebracht werden. Die Helden stellen sich gewissermaßen dem Schema, sie gehen auf seine Gesetzlichkeit ein, sie forcieren es, arbeiten ihm zu, man experimentiert geradezu mit dem Zwang, den das Muster auszuüben scheint. Diese zweite Stufe der Fiktionalisierung ist durch drei eng zusammenhängende Momente gekennzeichnete) durch diesen provozierenden Übergriff des Helden, b) durch eine Verdichtung des Geschehens in dinglichen Symbolen und c) durch eine Tendenz, das Geschehen ins Körperliche umzusetzen. Ich illustriere dies an drei Beispielen: a) Alboin, der Gründer des Langobardenreiches, hat Rosimund, die Tochter des von ihm erschlagenen Gepidenkönigs, zur Frau genommen. Aus der Schädeldecke des Toten hat er eine Trinkschale machen lassen. In Zecherlaune füllt er sie einmal mit Wein, 10

Vgl. dazu HAUG 1981 [a] [= Strukturen, S. 308-325], HENNIG 1987. " HAUG 1975 [a] [= Strukturen, S. 277-292]. 12 Ein dezidiertes Plädoyer für Heuslers Position hat Theodore M. Andersson abgegeben: ANDERSSON 1988 [b]. Vgl. dazu meine Replik: HAUG 1989 [d], S. 140ff. [in diesem Band, S. 91-105, hier S. 102ff.]. 62

reicht sie Rosimund und sagt: „Trink fröhlich mit deinem Vater". Das treibt sie zur Rache. Sie muß den Kämmerer Alboins für den Mordplan gewinnen. Da er sich versagt, legt sie sich heimlich ins Bett seiner Geliebten. So schläft er unwissentlich mit der Königin. Auf diese Weise bekommt sie ihn in die Hand und zwingt ihn mitzutun.' 3 Es ist also die Provokation mit der Trinkschale, die das Maß überschreitet und die Rachehandlung anstößt. Zugleich konzentriert sich in dieser Schale symbolisch die dramatisch gespannte Situation. Und schließlich ist die Königin gezwungen, ihre Erniedrigung bis zur körperlichen Schändung weiterzutreiben, damit die Wende erfolgen kann. b) Gunnar wird von Atli aufgefordert, an seinen Hof zu kommen. Er will ablehnen, aber da erfährt er, daß seine Schwester, Atlis Frau, einen mit Wolfshaar umwundenen Ring der Botschaft beigegeben hat. Das ist ein Zeichen der Gefahr. Gerade dies reizt Gunnar, sich der Herausforderung zu stellen. In übermäßiger Selbststeigerung geht er in die Falle. Er trotzt dann Atli, als der ihn dazu bringen will, seinen Hort preiszugeben. Gunnar verlangt, zunächst das Herz seines Bruders Högni zu sehen, da sie sich geschworen hätten, den Hort nicht herauszugeben, solange sie beide am Leben seien. Man bringt Gunnar zunächst das Herz des feigen Hjalli; doch daran, daß es zuckt, erkennt Gunnar die Täuschung. Darauf wird der Bruder getötet. Doch nun ist Gunnar erst recht nicht bereit, den Hort auszuliefern. Er wird in die Schlangengrube geworfen, wo er die Harfe schlägt, bis er stirbt.14 Im Hort symbolisiert sich die Fülle und der Glanz der Macht. Die Dramatik der Situation stellt sich in dem mit Wolfshaar umwundenen Ring dar. Er ist zugleich der Anstoß für die Aktion Gunnars, die in ihrem Übermaß der Gesetzlichkeit des Schemas zuarbeitet. c) Im Kampf zwischen Sachsen und Franken läßt sich Iring vom Frankenkönig Thiadrich bestechen, seinen Herrn, den Thüringerkönig Irminfrid, umzubringen. Als der im Kampf unterlegene Irminfrid sich Thiadrich zu Füßen wirft, durchbohrt ihn Iring von hinten. Der Franke aber will mit dem Verräter daraufhin nichts mehr zu tun haben, er sagt: „Du bist durch diesen Frevel... allen Menschen verhaßt geworden, geh unbehelligt von uns, wir wollen an deiner Meintat nicht teilhaben." Da tötet Iring auch den Frankenkönig und legt die Leiche Irminfrids auf die Leiche Thiadrichs: er solle wenigstens als Toter ihm überlegen sein. Dann bahnt er sich mit seinem Schwert einen Fluchtweg.15 Es ist also kennzeichnend für den heroischen Typus, daß der Held auf die Gesetzlichkeit des Musters eingeht, daß ein Zugriff, ja Übergriff erfolgt, der dann die Mechanik des Schemas, die dadurch in Bewegung gebracht wird, nur um so härter heraustreten läßt: Die Aufforderung Alboins an Rosimund, fröhlich mit dem Vater zu trinken, Gunnars Ritt in die Falle, Thiadrichs Reizwort, das den Umschwung bei Iring herbeiführt. Dazu kommt die Verdichtung des Geschehens in symbolischer Gegen13

Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, I 27, II 28 (MGH Script. Rer. Lang.); vgl. Brüder GRIMM 1960, Nr. 400, S. 365f.; H. SCHNEIDER 1934 11,2, S. 144f.; GENZMER 1921; GSCHWANT-

LER 1976 und 1979, S. 72ff. Vgl. auch HAUG 1994 [b], S. 316ff. [in diesem Band, S. 72-90, hier S. 82f.]. 14 Siehe H. SCHNEIDER 1962 I, S. 64ff.; VON SEE 1971, S. 97f. Aus der Vielzahl der Interpretationen zwei herausragende Deutungen: Hans KUHN 1941/71; WOLF 1965, S. 37ff. 15 Widukind von Corvey, Gesta Saxorum I 13; A. BAUER/RAU 1971, S. 40ff.

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ständlichkeit: Die Trinkschale aus dem Schädel des Feindes, der mit Wolfshaar umwundene Ring in der Atlisage, der Hort als Symbol der Macht, das Harfenspiel in der Schlangengrube.16 Und schließlich die Umsetzung ins Körperliche: die körperliche Preisgabe Rosimunds, das nicht zuckende Herz Högnis, das Übereinanderlegen der Leichen in der Iringsage. Diese zweite typuskonstituierende Stufe der Fiktionalisierung schlägt sich im narrativen Muster nieder und geht damit in die Tradition ein. Und der Fundus der auf diese Weise heroisch stilisierten Muster prägt die heroische Welt, wobei man nicht übersehen sollte, daß sie gerade durch die Stilisierung in eine nicht nur historische Distanz gerät. Der 4. Punkt betrifft die Existenzweise der heroisch-mündlichen Tradition: Die mehr oder weniger deutlich mit historischen Fakten und Personen besetzten heroisch stilisierten Handlungsmuster bilden Erzählgerüste, an denen die Heldenliedsänger sich beim Vortrag orientieren. Der Sänger ist, da er improvisiert, auf solche Gerüste angewiesen. Und das Handlungsgerüst ist denn auch das, was bei den wechselnden Realisierungen im Vortrag konstant bleibt. Es garantiert die Identität der Erzählung, die Identität, die jenseits der Variation liegt, aber gerade bei der Variation als das Gleichbleibende heraustritt.17 Die Annahme, daß die Tradition des germanisch-mittelalterlichen Heldenliedes auf jener Improvisationstechnik beruht, wie man sie in unserem Jahrhundert bei noch lebendigen mündlichen Literaturen angetroffen hat, ist umstritten. Ich kann die betreffenden Zweifel nicht teilen. Dies aus dem einfachen Grund, daß eine wörtlich festgelegte mündliche Tradition nur dort möglich ist, wo es Institutionen, irgendwelche schulmäßigen Instanzen, gibt, die die getreue Weitergabe tragen und kontrollieren. Ohne eine derartige Kontrollinstanz kann sich eine wörtlich festgelegte Tradition nicht halten. Von einer solchen Instanz gibt es im Mittelalter aber keine Spur. Wenn die heldenepische Dichtung sich auf feste Handlungsgerüste stützt, wobei der improvisierende Vortrag diese Gerüste variierend umspielt, so bedeutet dies zugleich, daß die Variation einen Spielraum eröffnet, den man ebenfalls, wenn auch in einem anderen Sinn, als fiktional kennzeichnen muß. Die Wahrheit der Heldendichtung liegt im historisch fundierten narrativen Muster, und das impliziert - wie gesagt -, daß die doppelte Fiktionalisierung, durch die die Fakten überformt werden, nicht bewußt wird. In der Variation beim Improvisieren hingegen erfährt man bewußt eine fiktionale Freiheit. Man kann sie sich gestatten, weil die Wahrheit, die im narrativen Muster liegt, von der Variation nicht berührt wird. Die Zuhörer genießen in der Variation die künstlerische Gestaltungskraft des Sängers. Hier kann die Virtuosität seiner Improvisationskunst ihre Triumphe feiern. In Hinblick auf die Substanz der Erzählung bleibt diese Fiktionalität jedoch formaler Natur. Das gilt auch für Inhaltliches. Ein Sänger kann z. B. bei der Ankunft von Gästen eine Beschreibung der Kleider und der Ausrüstung bieten, oder er kann sie weglassen. Er kann bei einem Festmahl schildern, was an Gerätschaften und Speisen aufgetragen wird, oder er kann das weglassen. Solche Beschreibungen sind Versatzstücke, die zur Verfügung stehen; sie gehören zum for16

Generell zur Position und Funktion von Dingen in der heroischen Dichtung: WOLF 1965, S. 148ff.; GOTTZMANN 1973, S. 153ff. 17 Vgl. HAUG 1988 [c], S. 147ff. [in diesem Band, S. 3-16, hier S. 7ff.]. 64

malen Fundus des Improvisators; die Phantasie, also das Fiktionale im Sinne des Imaginativen, kann sich kaum entfalten. Natürlich gibt es daneben die Möglichkeit produktiver Erweiterungen oder Änderungen, doch damit geht man über das vorgegebene Muster hinaus. Es kommt zu Strukturvarianten, die dann u. U. Literaturgeschichte machen. Das gehört jedoch nicht in den typusspezifischen Spielraum der Vortragssituation. Ich fasse die bisherigen Überlegungen zusammen: Die mündlich-heroische Tradition ist dadurch charakterisiert, daß die historischen Fakten in zwei Stufen fiktional überformt werden, durch allgemeine narrative Muster und dann durch eine typusspezifische Stilisierung. Das ergibt im Hinblick auf den Akt des Tradierens Handlungsgerüste, die die Identität eines Stoffes garantieren und die dem Sänger die Improvisation ermöglichen. Diese variierende Improvisation besitzt einen Freiraum, dessen Fiktionalität, anders als die Fiktionalität des Musters, bewußt wird, die aber, solange eine Erzählung ihre Identität bewahrt, formaler Natur bleibt. Wenn dies richtig ist, so läßt sich nun plausibel prognostizieren, was geschieht, wenn diese Tradition in die Schriftlichkeit übernommen wird. Es muß das Spiel zwischen der durch die narrativen Muster und ihre Stilisierung fiktionalisierten heroischen Wirklichkeit, die als wahr gilt, und der künstlerischen Gestaltung im Freiraum der Improvisation, die als fiktional bewußt ist, verlorengehen. Denn es gibt auf schriftlicher Stufe keine Wiederholung mehr, über die das Handlungsmuster und damit die Wahrheit quer zur Variation heraustreten könnte, so daß die Identität der Erzählung und damit ihr Sinn faßbar würden: auf schriftlicher Stufe verfestigt sich sozusagen eine einzige, bestimmte Variante zum Text. Man kann diesen Text dann zwar mehrfach hören oder lesen, aber es tritt damit nicht ein Muster mit seinem Sinn zutage, vielmehr fragt jedes neue Hören oder Lesen neu nach dem im Text verborgen liegenden Sinn. Jedes neue Hören oder Lesen kann also neue Aspekte des Textes aufschließen. Man steht im Prinzip beim offenen Interpretieren: der Sinn konstituiert sich über einen unendlichen hermeneutischen Prozeß.18 Es handelt sich also auf schriftlicher Ebene um eine wesentlich andersartige Rezeptionsweise. Der Sinn der Erzählung tritt nicht mehr selbstverständlich heraus, sondern er steht im Fluchtpunkt der Interpretation. Das aber bedeutet, daß die historische Wahrheit des Textes in die Schwebe gerät. Die Verankerung in der Faktizität verliert an Gewicht, der Anspruch auf eine historisch-faktische Wahrheit tritt zurück zugunsten einer Sinnerfahrung, die sich aus der literarischen Gestalt selbst ergibt. Die Literatur wird zu einem genuinen Medium von Erfahrung, und damit wird - gleitend - der Übergang zur bewußten Fiktionalität des Textes möglich. Die Frage ist dann nur noch, in welchem Maße der einzelne Text jeweils diesen fiktionalen Charakter herausstellt, reflektiert, dem Hörer oder Leser bewußtmacht bzw. ihn verschleiert. Anders gesagt: Der Text kann sich von dem, was zu der betreffenden Zeit als außerliterarische Wirklichkeit gilt, entfernen, oder er kann sich dieser Wirklichkeit annähern. Und es geht 18

Ich hebe hier nur diejenigen Aspekte der Differenz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit heraus, die für meine Argumentation bedeutsam sind; zur ganzen Komplexität dieser Differenz siehe ONG 1982, ANDERSEN 1987; GRUBMÜLLER 1989, S. 45f., mit weiterführender Literatur. 65

für den Literarhistoriker dann darum zu erkennen, wie das einzelne Werk seine Funktion im einen oder andern Fall versteht, d. h. welche neuen Wirklichkeitsbezüge es herstellt. Wenn also die heldenepische Tradition schlicht in die Schriftlichkeit überführt wird, so müßte dies demnach bedeuten, daß der Übergang zu einer in dem beschriebenen Sinn autonom-fiktionalen Literatur wenigstens tendenziell vollzogen wird. Gerade dies geschieht nun aber literarhistorisch nicht. Und dies deshalb nicht, weil dieser Übergang nicht in schlichter Selbstverständlichkeit vor sich geht. Der Übertritt der heroisch-mündlichen Tradition in einen Status literarischer Autonomie wäre nur möglich gewesen, wenn es eine Literatur mit diesem Status zu der betreffenden Zeit gegeben hätte, so daß man die Heldensagenstoffe von daher hätte literarisch vereinnahmen können. Da diese Voraussetzung aber zur Zeit unserer ältesten Zeugnisse nicht gegeben war, geschah die Verschriftlichung der Heldensage in ganz anderer Weise, als man es theoretisch erwarten würde. Daß anderseits von der mündlichen Tradition aus keine Notwendigkeit bestand, in die Schriftlichkeit vorzustoßen, ist evident, denn eine lebendige mündliche Tradition genügt sich selbst. Es gibt von ihr aus nichts, was sie in die Schriftlichkeit drängen würde. Das wird immer wieder übersehen. Wie kommt es trotzdem zur Verschriftlichung, und was geschieht dabei? Die ältesten Zeugnisse: das Hildebrandslied, der >BeowulfWalthariusBeowulf< demonstriert die Sinnlosigkeit der vergangenen heroisch-heidnischen Welt. Er ruft sie herauf, um die Trostlosigkeit und Vergänglichkeit eines menschlichen Lebens vor Augen zu führen, das von der christlichen Erlösungsbotschaft noch nicht berührt ist.20 19

Diese politische Interpretation ist von Hugo Kuhn überzeugend in die Debatte gebracht worden: Hugo KUHN 1969 [c]; vgl. auch HAUG: Der Tag der Heimkehr, in: Strukturen, S. 37-50, hier S. 46f. 66

Der >Waltharius< demonstriert die Sinnlosigkeit des Kampfes um einen Schatz; es ist ein Kampf, der, von allem Heroischen entkleidet, seine Motivation nur noch in der avaritia, der Geldgier, besitzt. Der Kampf endet damit, daß die drei Kämpen, Günther, Hagen und Walther, der eine mit nur noch einem Bein, der andere mit nur noch einem Auge und der dritte nur noch mit einem Arm, beim Wein zusammenhocken und über ihre Blessuren witzeln.21 Alle drei Texte zielen also, wenn auch in unterschiedlicher Weise, auf dasselbe, nämlich darauf, über den Sinnverlust, den die Verschriftlichung der heroischen Tradition mit sich bringt, die Sinnleere dieser Tradition offenbar zu machen. Dabei ist auffällig, daß man gleichzeitig gerade das, was die typusspezifische Stilisierung ausmacht, weitgehend abbaut. Das heißt: Man geht durch die zweite Fiktionalisierungsstufe hindurch auf die einfachen narrativen Muster zurück. Das nimmt dem Geschehen die Hochspannung, den Glanz, den provokativen Reiz. Die Handlung wird schematischer, zwanghafter und damit unverständlicher. So ist es vielleicht doch kein Zufall, daß der überlieferte Text des Hildebrandsliedes gerade jenes Provokationsmotiv ausspart, das für die übrigen Versionen des VaterSohn-Kampfes charakteristisch ist und in dem das Moment des heroischen Übergriffs sich darstellt: das Motiv des heimtückischen Schlages. Auch dem >Beowulf< fehlt das Moment der heroischen Überforderung. Der Held läßt sich zwar auf unerhörte Kämpfe ein, aber nicht aus Maßlosigkeit, sondern aus Not. Das wird im zweiten Teil, beim tödlich endenden Drachenkampf, besonders deutlich: er erscheint geradezu als Opfertat für die Gemeinschaft. Und entsprechend fehlt dem >Waltharius< jede Spur heroischer Exzessivität. Das Verhalten Günthers ist Verblendung aus Dummheit und Geldgier, nicht Verblendung aus einer Übersteigerung heraus, die auf einen im Handlungsmuster steckenden Appell antworten würde. Bei all dem wird man selbstverständlich nicht übersehen dürfen, daß es bei der frühen Verschriftlichung der Heldensage nicht nur um einen kulturpolitisch-strategischen Akt geht, daß es also nicht nur darum geht, diese heroisch-mündliche Tradition zu diffamieren, indem man die Sinnleere ihrer Welt aufdeckt, es wird vielmehr ein tieferes Bemühen deutlich, diese Welt innerlich zu bewältigen. Man öffnet sich bis zu einem gewissen Grad ihrer Abgründigkeit, man spürt noch ihre Macht. Die Welt, die man zurückgelassen hat, scheint nicht nur in der mündlichen Tradition noch lebendig, sondern sie scheint auch als ein Bereich in der Tiefe des Bewußtseins noch wirkungsmächtig zu sein. Dies gilt insbesondere für den >BeowulfBeowulfIweinDon QuixoteBeowulfOrigo gentis Langobardorum codicis GothaniBrävallaschlachtFinnsburgPercevalParzivalErec< oder im >Yvain< vorliegt, folgt einem charakteristischen Strukturmodell. Wenn sich nachweisen läßt, daß Chretien auch im Conte du graal mit diesem Modell gearbeitet hat, dann dürfte es wohl möglich sein, mit einiger Plausibilität zu sagen, wie der Schluß hätte ausfallen müssen. Dieser Nachweis ist nach allgemeiner Überzeugung eindeutig zu führen, auch wenn, wie gleich zu besprechen sein wird, eine gewisse Abwandlung des Musters zu berücksichtigen ist. Zum andern hat Chretien in über 9000 Versen die Handlung des Romans so weit vorangetrieben, daß es nicht allzu schwierig scheint, die angesetzten Linien zuende zu denken, und dies insbesondere, wenn man obendrein das arthurische Modell als Orientierungshilfe hat. Jedenfalls gehen die Vorgaben so weit, daß man meint, zumindest die Hauptlinien der Handlung für den unausgeführten Teil nicht verfehlen zu können. Und was uns heute keine sonderlichen Schwierigkeiten zu machen scheint, das dürfte auch Wolfram nicht schwergefallen sein. Auch er kannte ja das Modell, d. h., er kannte es jedenfalls über den >Erec< und den >Iwein< in Hartmanns Eindeutschung. Und daß Wolfram sich tatsächlich daran orientierte, läßt sich zweifelsfrei zeigen. Ich erinnere knapp und schematisch an das bekannte, oft beschriebene arthurische Strukturkonzept:7 Die Ausgangssituation ist immer dieselbe. Ein Ritter zieht vom 5

Überblick: PAYEN 1978.

6

Das Motiv findet sich bei Manessier, in der Estoire del Saint Graal, in der >Queste del Saint Graal< und in walisischen Erzählungen; vgl. SPRINGER 1961, S. 231; LOOMIS 1961 [c], S. 280f., S. 287f. Siehe im übrigen zu Wolframs Kenntnis französischer Überlieferungen außerhalb von

7

Zum Strukturmuster mit Hinweisen auf die einschlägige ältere Literatur: HAUG 1985/1992, S. 97-100.

Chretien BUMKE 1970, S. 201 ff.

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Artushof aus, provoziert durch irgendetwas, was die ideale Harmonie der Tafelrunde stört. Er geht einen ersten Weg, auf dem er in Aventüren gerät, die er kämpferisch bewältigt. Er gewinnt dabei eine Frau, mit der er an den Hof zurückkehrt, wo die beiden festlich gefeiert werden. Doch der Status, der damit erreicht ist, erweist sich als prekär; es kommt zu einer Krise, nun erwachsend aus dem Verhältnis zwischen dem Helden, seiner Frau und der Gesellschaft. Der Ritter zieht zum zweiten Mal auf Aventüren aus, um das, was er auf dem ersten Weg erworben hat, neu und vertieft zu gewinnen und zu begreifen. Dieser Weg ist komplexer angelegt als der erste; er öffnet sich einer bislang verdeckten Dimension. Der Held begegnet nun dem, was die Idealität des arthurischen Hofes prinzipiell in Frage stellt: der schrankenlosen Forderung des Eros und der Irreversibilität des Todes. Im symbolischen Durchgang durch diese radikale Gegenposition - der Held verfällt dem Wahnsinn, er liegt in todähnlicher Ohnmacht - wird das, was die arthurische Welt ausmacht, ihre ideale Balance, als etwas erfahren, was nicht festzuhalten ist, sondern nur in der Bewältigung dessen, was ihr entgegensteht, immer neu aufscheinen kann. Das Bewußtsein der Grenze dessen, was aus eigener Kraft zu leisten ist, das Bewußtsein von der Hilfsbedürftigkeit, von der Liebe als rettendem Geschenk, dies erst erlaubt die Rückkehr zum höfischen Fest, doch immer nur als einem prekären idealen Augenblick. Diese Thematik, die in den einzelnen Romanen unter wechselnden Akzentuierungen variiert und dabei zugespitzt wird, hängt also am Handlungsschema des zweifachen vom Artushof ausgehenden und zu ihm zurückkehrenden Aventürenweges, d. h., der Sinn liegt in dieser Konstruktion der Handlung, die zwischen der Idealität des Hofes und der Gegenwelt spielt. Dabei diktiert das Strukturmodell dem Helden sozusagen die Stationen seines Weges, die Aventüren, zu. Oder, um es in den Begriffen von Philippe Menard zu sagen: Vom Modell her gesehen ist Aventüre „hasard".8 Für den Helden kann deshalb der Weg ohne konkretes Ziel sein: er zieht aus, damit ihm das geschehen kann, was sich dann als Sinnstruktur des doppelten Weges darstellt. Das Verständnis des Romans läuft über die Einsicht in dieses Muster. Chretien hat - wie gesagt - in seinem Conte du graal wieder mit diesem im >Erec< und im >Yvain< realisierten Strukturmodell gearbeitet. Dies jedoch mit gewissen signifikanten Abweichungen.9 Zwar zieht auch Perceval vom Artushof aus, er gerät in charakteristische Aventürensituationen, und schließlich kehrt er, schemagerecht, triumphierend an den Artushof zurück. Aber anders als im >Erec< oder im >Yvain< beginnt die Handlung nicht am Hof, der Conte du graal hat vielmehr eine Vorgeschichte. Perceval wächst im wüsten Wald auf, wohin seine Mutter sich mit ihrer Dienerschaft zurückgezogen hat, nachdem Percevals Vater im Ritterkampf gefallen war. Sie will dem Kind dieses Schicksal ersparen. Bekanntlich schlägt der Versuch, den Jungen dem ritterlichen Leben fernzuhalten, fehl. Er bricht auf: wild und tölpelhaft erscheint er am Artushof und verlangt, daß man ihn zum Ritter mache. Er ist somit, wenn er dann von dort zu seiner ersten Aventürenfahrt aufbricht, nicht das Muster der höfischen Vollkommenheit, wie ein Erec oder ein Yvain, sondern ein ungebärdiger Rohling. Als erstes tötet er einen Ritter, der den Hof provoziert hat - das ist das 8 9

Siehe M£NARD 1991, S. 91-94. Vgl. HAUG 1971 [b], S. 678ff. [= Strukturen, S. 483-512, hier S. 490ff.].

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typische Initialmotiv des Schemas -, er tötet ihn durch einen glücklich-unglücklichen Wurf mit seinem Jagdspieß. So gewinnt er eine Rüstung und ein gutes Pferd. Er muß dann aber auf dem ersten Weg nicht nur Aventüren bewältigen, nicht nur eine Frau, Blancheflor, für sich gewinnen, sondern auch ritterliche Verhaltensformen lernen: ein weiser Edelmann, Gornemans, wird sein Lehrmeister. Bei der Rückkehr zum Hof erst zeigt er sich als idealer Ritter, als der er nun von Gauvain, dem vollendeten Höfling, in die Tafelrunde eingeführt wird. Aber noch etwas Weiteres unterscheidet den Conte du graal von den genannten älteren Chretienschen Artusromanen: Perceval kehrt nicht mit Blancheflor an den Hof zurück. Die Krise erwächst folglich auch nicht aus der Beziehung zwischen dem Paar und der Gesellschaft; die Krise ist anders angelegt: Auf dem Rückweg zum Hof gelangt Perceval auf die Gralsburg, er sieht dort den kranken Gralskönig, er sieht den Gral und die blutende Lanze, aber er wagt es aus höfischer Zurückhaltung heraus nicht, die Frage zu stellen, die den Kranken hätte erlösen können. Und so erscheint denn am Artushof, der Perceval eben noch herrlich gefeiert hat, die Gralsbotin und verflucht den Helden wegen seines Versagens. Formal gesehen verläuft aber auch dies wieder ganz schemagemäß: auf die Rückkehr des Helden folgt die Krise, die das Erreichte in Frage stellt. Das Erreichte ist hier freilich in besonderer Weise die ritterliche Vollkommenheit; sie wird prinzipiell als fragwürdig hingestellt, denn die höfische Zurückhaltung, die Perceval auf dem Gralsschloß übte, erweist sich als verfehlt. Und so zieht er zum zweiten Mal aus, um die Gralsburg wiederzufinden, und er ist dabei so sehr auf dieses Ziel fixiert, daß er Gott und Kirche vergißt. Dieser zweite Weg führt ihn nach langem Umherirren an einem Karfreitag zu seinem Einsiedleronkel, dem er seine Sünde beichtet. Doch das ist die letzte Episode, die Chretiens Text von Percevals Gralssuche bietet. Im übrigen verläuft der Weg des Haupthelden im zweiten Teil weithin im dunkeln, während die bunten Aventüren eines andern Artusritters, Gauvains, den Vordergrund beherrschen. Die Begegnung mit dem Einsiedleronkel markiert offensichtlich den Tief- und Wendepunkt des zweiten Weges, einen Wendepunkt, der hier aufgrund einer neuen Dimension, die durch die Gralsthematik eröffnet worden ist, religiösen Charakter hat. An die Stelle der Todeserfahrung im >Erec< und im >Yvain< ist die Schulderfahrung getreten. Das aber heißt: Chretien hat sein arthurisches Strukturmodell im Gralsroman in der Absicht abgewandelt, durch den zweiten Weg den ersten, den höfischinnerweltlichen Weg, unter religiöser Perspektive zu problematisieren. Die Krise wie die Wende stehen im Zeichen der neuen Thematik. Aber das Modell ist, so scheint es jedenfalls, seiner Grundstruktur nach dasselbe geblieben. Es verlangt, was den weiteren Gang der Handlung betrifft, selbstverständlich, daß Perceval zum zweiten Mal die Gralsburg findet, daß er die Erlösungsfrage stellt und daß er damit auch am Artushof rehabilitiert wird. Es ist auch zu erwarten, daß der Artushof am Ende mit der Gralsgemeinschaft zusammen den Helden feiert, und sehr wahrscheinlich sollte dann auch Blancheflor wieder an seiner Seite sein. So wird man sich im Vertrauen auf das Modell die Linien zusammengeführt denken dürfen, und so kann es denn auch kaum überraschen, wenn man feststellt, daß schon Wolfram genau so verfahren ist. Wenn es Überschüssiges bei ihm gibt, so hängt dies damit zusammen, daß er dem Chretienschen Torso in freier Erfindung noch die Geschichte von Parzivals Vater vorangestellt hat, die Geschichte Gahmurets, der im 112

Orient herumabenteuert, dort mit einer Mohrenkönigin ein Kind zeugt, den schwarzweiß gesprenkelten Feirefiz. Und dieser Halbbruder wird gegen Ende des Romans im Westen auftauchen, mit Parzival zusammentreffen, mit ihm zum Gral ziehen und die Taufe empfangen. Das Panorama öffnet sich damit auf eine den Orient und das Abendland umfassende christlich-ritterliche Gesellschaft. All das sind offenkundig Zutaten Wolframs. Wenn man sie eliminiert, dürfte, so sollte man meinen, in großen Zügen jedenfalls, das übrigbleiben, was Chretien als Abschluß plante. Sind diese Beobachtungen richtig, so gelangt man in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Chretiens Intentionen und ihrer Realisierung durch Wolfram zu folgendem Ergebnis: Das arthurische Strukturmodell und die weit gediehene Handlung des Chretienschen Conte du graal lassen kaum einen Zweifel daran, daß Wolfram zutreffend ergänzt hat. Meine anspruchsvolle Titelfrage zerplatzt damit wie eine überanstrengte Seifenblase. Das scheinbar Unbeantwortbare erweist sich als weitgehend problemlos. Kongenialität war auf Seiten Wolframs gar nicht gefordert; was er brauchte, war nichts weiter als handwerkliches Geschick. Ist die Frage also erledigt, und können wir die Akten schließen?

Es wird sicherlich Interpreten geben, die prinzipielle Vorbehalte anmelden. Geht es wirklich nur darum nachzuprüfen, ob Wolfram die bei Chretien angesetzten Handlungslinien plausibel zu Ende geführt hat? Man kann dem entgegensetzen, daß, wie immer dem sei, unbedingt mit zu überlegen wäre, in welchem Maße sich die Intentionen Wolframs wirklich mit jenen Chretiens deckten. Wenn Wolfram etwa das Konzept seiner Vorlage wesentlich verändert hätte, so wäre damit zu rechnen, daß er einen Schluß geschaffen hat, der in erster Linie seiner eigenen Sinngebung gerecht werden sollte. Man kann sich in Hinblick auf meine Titelfrage also auf folgenden Standpunkt stellen: Wenn man etwas über das Verhältnis zwischen Chretiens mutmaßlichem Schluß und Wolframs Ergänzung sagen wolle, so sei vor allem zu prüfen, welchen Schluß das Konzept des einen und welchen das Konzept des andern Dichters verlangte. Oder anders gesagt: meine Titelfrage habe nur dann einen Sinn, wenn man sie im Rahmen einer vergleichenden Gesamtinterpretation der beiden Werke stelle. Alles übrige müsse vorläufig und unzureichend bleiben. Dieser Argumentation wird man schwerlich, ohne daß man ihre Prämissen überprüft hat, widersprechen wollen. Doch wenn man sich darauf einläßt, gerät man in Schwierigkeiten. Denn es fehlt eine vergleichende Gesamtinterpretation der beiden Werke, auf die man sich verläßlich stützen könnte, jedenfalls gibt es keine, die sich auch nur annähernd auf eine communis opinio berufen könnte. Ja, die Differenzen im vergleichenden Verständnis klaffen unter den arthurischen Mediävisten so weit auseinander, daß diese sich nicht einmal darüber einig sind, ob Wolfram bei seiner Bearbeitung überhaupt so etwas wie eine eigene Konzeption entwickelt hat. Hat er mehr getan, als den französischen Text in zugegebenermaßen freizügiger Übersetzung zu adaptieren? Wenn die Skeptiker aus der Ecke der Adaptation courtoise recht haben, so landen wir wieder bei meiner Ausgangsfrage: Hat Wolfram richtig ergänzt? Wenn ihre Gegner recht haben, dann zwingt uns 113

das, in einen hermeneutischen Prozeß einzutreten, der seiner Definition nach offen ist, und das heißt, daß wir vermutlich nie jenen Punkt erreichen, an dem wir verbindlich unsere Frage zu stellen vermöchten. Man müßte somit zunächst hinsichtlich dieser Kontroverse zu einer Entscheidung kommen. Ist das möglich? Ich will es im folgenden anhand einer Schlüsselszene des Gralsromans wenigstens versuchen: Als am Ende des ersten Aventürenweges aus dem bäurischen Wildling der vollendete Artusritter geworden ist, als sich somit all das erfüllt hat, um dessentwillen Chretiens Perceval seine Mutter verlassen hat und er in die Ritterwelt eingetreten ist, da erscheint unheilbringend die Botin aus dem Gralsreich.10 In ihrer grotesken Häßlichkeit bricht sie unerwartet in den Glanz der formvollendeten arthurischen Welt ein. Das Haar hängt ihr wirr in schwarzen Strähnen herunter. Die Hände und der Hals sind schwarz, die Augen Löcher und klein wie bei einer Ratte. Sie hat die Nase eines Affen oder einer Katze, die Lippen eines Esels oder eines Ochsen, die Zähne sind dottergelb, am Kinn ein Bart wie bei einem Bock, auf der Brust ein Höcker, der Rükken gekrümmt, die Beine verdreht wie Weidenstricke: so reitet sie auf einem falben Maulesel daher, um Perceval sein Versagen auf der Gralsburg vorzuwerfen. Häßlichkeit ist im Mittelalter Zeichen für die Verdunkelung des Sinns, und sie wirkt dadurch als Anstoß zur Sinnsuche.11 Das Erscheinen des Scheusals am Artushof bedeutet konkret, daß der arthurische Glanz trügerisch ist, es bedeutet insbesondere die Fragwürdigkeit dessen, was Perceval an höfischer Vollkommenheit erreicht hat. Die Folgen sind Aufruhr unter den Rittern der Tafelrunde und ein großer Aufbruch zu Aventüren. Wolfram übernimmt die Konstellation und die Figurenzeichnung der Vorlage.12 Dabei verschärft er die Kontraste und steigert er die Dramatik. Parzival ist nicht nur der vollkommen-herrliche Ritter, sondern es wird die Schönheit seiner Erscheinung geradezu ins Engelhafte erhöht. Es geht, so heißt es, ein solcher spiegelklarer Lichtglanz von ihm aus, daß alles Böse verschwindet. Und diesem Parzival-'Engel' gegenüber wird die Gralsbotin - Wolfram nennt sie Cundrie - zu einem noch groteskeren Ungeheuer: zur Hundenase kommen zwei Eberzähne, die Wimpern sind zu Zöpfen geflochten, die nach oben stehen. Cundrie hat Ohren wie ein Bär, an den Händen Affenhaut, die Fingernägel schwärzlich und wie Löwenklauen. Aber dieses Ungeheuer ist - anders als bei Chretien - bizarrerweise äußerst kostbar gekleidet: Cundrie trägt einen Überwurf von lasurblauer Seide aus Gent, nach neuester französischer Mode geschnitten, darunter ein seidenes Kleid; dazu kommt ein Pfauenfedernhut aus London, mit Goldbrokat gefüttert. Und schließlich wird noch berichtet, sie sei ein Wunder an Gelehrsamkeit; sie spreche alle Sprachen, und sie beherrsche Dialektik, Geometrie und Astronomie. Was bedeuten diese Verschärfungen und Zugaben? Ändern sie die Funktion der Figuren? Ändern sie etwas am Konzept? Es handelt sich immerhin um Eingriffe an einem der neuralgischen Punkte des Geschehens, um eine Veränderung der Darstellung der kritischen Wende im Übergang vom ersten zum zweiten Weg.

,0

>PercevalParzivalParzivalErecYvain< höchstens Ansätze. Aber die Handlung scheint doch schemagerecht weiterzugehen, und so könnte man denn immer noch denken, Wolfram habe die Fatalität der Gahmuretwelt ins arthurische Strukturmuster hereingeholt, und wenn dies auch zunächst zum Widerspruch und dabei zu einer neuen Form der Krise führe, so diene dies doch letztlich dazu, diese Fatalität im Rahmen eines Prozesses zu bewältigen, der über den charakteristischen arthurischen Doppelkreis laufe, wobei sich die Lösung wie üblich der fiktionalen Konstruktion, d. h. dem sinngebenden Willen des Dichters, verdankte. Fixiert auf das >ErecYvainParzival< entsprechend gelten, daß der Held in der Trevrizentepisode zu jenem /rc'Hw-Verhältnis gegenüber Gott zurückkehrt, das er bis zur Verfluchung durch Cundrie besessen hat. Es ist anderseits jedoch entgegen der gängigen Ansicht festzuhalten, daß es hier noch nicht zu einer fundamentalen Wende im Sinne eines Durchbruchs zu einer neuen, tieferen Gottesbeziehung kommt. Auffälligerweise ist selbst eine so feinsinnige Analyse des IX. Buches wie diejenige von Walter Henzen dafür völlig blind (HENZEN 1966). 134

daß er beinahe seinen besten Freund und zudem wieder einen Verwandten getötet hätte, ist zutiefst erschüttert: 688,22

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689,1 688,22

25

689,1

,unscelec unde unwert bin ich', sprach der weinde gast. .aller salden mir gebrast, daz miner gunerten hant dirre strit ie wart bekant. des was mit unfuoge ir ze vil. schuldec ich mich geben wil. hie trat min ungelücke für unt schiet mich von der Salden kür. Sus sint diu alten wäpen min e dicke und aber worden schin.' („Verworfen und entehrt bin ich", sagte weinend der Mann in der Fremde. „Glück und Segen habe ich g^anz verloren, als ich mich mit ehrloser Hand auf diesen Kampf eingelassen habe. Keinen größeren Frevel hätte sie begehen können. Ich will mich schuldig bekennen. Mein Unglück ist offenbar geworden und hat mir die Möglichkeit zum Glück genommen. So ist das Schicksal, das mich prägte, erneut und verstärkt durchgebrochen.")

Was bleibt damit von jener Wende, die man in die Trevrizentepisode hineingesehen hat? Wieder meint man hier zwar das Schema zu fassen, wieder bietet sich ein Interpretationsmuster an, und wieder ist das im Grunde eine Täuschung: das Muster versagt, d. h., es ist wieder ein Muster, dem Parzival sich nicht einfügen kann, denn die heilsgeschichtliche Schematik ist ja von einer ähnlichen von außen gesetzten Objektivität wie das arthurische Schema. So leicht deshalb die beiden Schemata einerseits von ihrem strukturellen Prinzip her zusammenspielen können, so wenig greifen beide auf der andern Seite, wenn man es mit einer Figur zu tun hat, die sich nicht als Exponent eines objektiven Geschehens versteht. Das Problem bei der heilsgeschichtlichen Lösung ist grundsätzlich identisch mit demjenigen bei der arthurischen Lösung. Sie beruhen beide auf der Voraussetzung, daß das Negative sich unter bestimmten Bedingungen über einen Weg ausfalten und aufheben läßt. Das arthurische Muster führt wie das heilsgeschichtliche in die Erfahrung des Bösen hinein, um es im Durchgang durch die Selbstentfremdung, durch ein SichAusliefern, letztlich durch den Tod zu überwinden. Und dieses Muster wird auch im Gralsroman sehr wohl bewußt gehalten, ja, die Gawan-Aventüren führen es kontrastiv nochmals nachdrücklich vor Augen, aber nun nicht ohne Heiterkeit, und schließlich gar als großes Zaubertheater. Und zudem im Blick auf jenen spezifischen thematischen Aspekt dieses Romans, der oben zur Sprache gekommen ist: es ist ein Frauenstationenweg, den Gawan zu gehen hat. Es wird 135

eine Galerie der verschiedenen, schon bekannten Frauentypen vorgeführt, von der kleinen Obilot, die Minnerittertum spielt, über Antikonie, die sich dem Helden an den Hals wirft, bis zur verhärteten Orgeluse. Alle bringen sie Gawan in Situationen, in denen er sich bewähren muß, es sind alles Aventüren, in denen Wirrnisse und Verirrungen zu bewältigen sind." Anderseits aber gibt es als Kulminationspunkt den Sprung auf das rasende Bett in Schastel marveile. Und wenn dann Steine und Pfeile auf den auf dem Bett unter dem Schild verkrochenen Gawan niedersausen, so erscheint der Durchgang durch Eros und Tod als Burleske. Das ist insgesamt nocheinmal eine brillante Inszenierung des arthurischen Modells, wenngleich es, weil es in seinem Funktionieren durchschaut wird, dann seinen Ernst verlieren kann. Und doch bleibt am Ende auch hier ein Problem, das über das Schema nicht zu lösen ist, es ist jenes zentrale Problem, das, wie gezeigt, auch in die Gawangeschichte hineinreicht: der Tod Cidegasts mit den Nachfolgekonflikten. Gawan steht als Rächer der Orgeluse Gramoflanz gegenüber, der seinerseits eine Rechnung mit ihm begleichen will, und dabei liebt Gramoflanz Gawans Schwester Itonje. Und in dieser prekären Situation kommt nun dem Artushof überraschend eine Aufgabe zu, die jenseits des Modells liegt: der Hof fungiert als eine ideale Kommunikationsgemeinschaft, in der der Konflikt im Gespräch auflösbar wird - wozu übrigens auch Parzival das Seine mit beiträgt. Das ist die neue und überaus kühne gesellschaftliche Bewältigung des Grundproblems. Und damit gewinnen die Gawanbücher doch wieder ein sehr ernstes Eigengewicht.12 Aber für Parzival selbst schließen sich alle diese Lösungsmöglichkeiten aus. Er gehört der Gahmuretwelt an mit ihrer Gleichzeitigkeit von ritterlichem Glanz und tödlicher Fatalität. Hier gibt es keinen Weg, über den der Widerspruch linear auszufalten wäre. Und er ist für Parzival auch nicht gesellschaftlich-kommunikativ zu bereinigen, denn die besondere Weise der Bindung in die Gahmuretwelt macht ihn einsam. Nach der großen arthurischen Versöhnung wird er sich allein und hoffnungslos wieder davonmachen. Denn er ist ja nicht mehr der unreflektierte Gahmurettyp; er ist zwar von der Elternwelt geprägt, aber er steht weniger in ihrem Widerspruch drin, als daß er ihn in sich trägt, d. h., diese widersprüchliche Welt ist, da er sie nicht hat, sondern sie erst realisieren muß, zur geprägten Form seiner Person geworden: er ist zugleich vollkommen und verworfen, schön und häßlich, gut und böse. In allem, was er tut, erfährt er diese Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen an sich selbst. Er ist damit genau jener Mensch, den Wolfram im Prolog als seinen, den neuen Heldentyp vorgestellt hat, der elsternfarbige Mensch, derjenige also, der zugleich weiß und schwarz ist, d. h. am Himmel wie an der Hölle teilhat (vv. l,3ff.),13 und von dem er in der Einleitung zum VII. Buch dann nochmals sagt, daß es eine Lüge wäre, ihn zu idealisieren: es gehe um lop mit wärheit (v. 338,12), und damit ist ein Lob gemeint, das 'realistisch', nicht hyperbolisch formuliert ist und als solches niemals absolute, sondern immer nur eingeschränkte Geltung haben kann. Und dieses Ineinander läßt sich nicht über einen Pro11

Vgl. dazu im einzelnen RUPP 1983. Die vorzüglichste Analyse des Gegenübers von Gawan und Parzival, diejenige von MOHR 1966/1979, S. 62*-93*, ist also zu ergänzen durch die unterschiedliche Beziehung und d. h. auch Distanzierung der Helden gegenüber dem traditionellen arthurischen Strukturmuster. Siehe im übrigen die vorbehaltlose Zustimmung von RUH 1980, S. 105, zu Wolfgang Mohrs Interpretation, mit weiteren Literaturhinweisen. 13 Vgl. HAUG 1985/1992, S. 155ff. bzw. S. 159ff.

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zeß auflösen, weil in jedem einzelnen Augenblick das Negative wie das Positive präsent ist. Es gibt prinzipiell keinen Weg mehr. Deshalb werden die objektiven Wegschemata von Wolfram zwar zitiert und z. T. dem Helden auch von außen - insbesondere über den Artushof und über Trevrizent - untergeschoben, aber nur zu dem Zweck, sie zusammenbrechen zu lassen. Wolfram demontiert also das Denken und Darstellen in Modellen und über lineare Prozesse, um zu zeigen, daß ein solches Denken und Darstellen gegenüber einem Menschentypus, der zugleich gut und böse ist, versagt. Es gibt nur eine Chance: die Einsicht in diesen Sachverhalt. Das Versagen des Modells, die Distanz zur Rolle zwingen zur Selbsterkenntnis. Solange Parzival sich weigert, diese Wende zu vollziehen, solange macht er Gott Vorwürfe dafür, daß er immer das Positive gewollt und immer nur Negatives geerntet habe. So tritt er auf der Stelle, und erst der Gawankampf, der offenbar werden läßt, daß er seit dem ersten Verwandtenmord keinen Schritt vorangekommen ist, bringt den Umbruch. Nun gibt Parzival auf; er sagt vv. 133,1 f.: ,ich enruoche nu waz mir geschiht. / got wil miner freude niht'. („Nun nehme ich alles hin, was mir geschieht; Gott will mich nicht zur freude - d. h. in die Versöhnung der Widersprüche - führen"). Das Wort bleibt merkwürdig in der Schwebe zwischen Resignation und Gottergebenheit. Jedenfalls akzeptiert Parzival damit den weglosen Status des zugleich guten und bösen Menschen. Er hat das, was ihm geschehen ist, als seine, und das heißt letztlich als die menschliche Situation schlechthin begriffen, als die personale Grundsituation - die auch quer steht zu allem Gesellschaftlichen.14 Der Durchbruch zu diesem neuen Bewußtsein ist das eigentliche Ziel des Wolframschen Gralsromans. Was nun noch folgt, ist im wesentlichen Bestätigung und Veranschaulichung der erreichten Position. Doch wie Wolfram dies episch umsetzt, ist von zugleich atemberaubender Dramatik und eindringlichster Symbolkraft: Parzival gerät in einen dritten und letzten Verwandtenkampf, in den Kampf mit seinem schwarz-weißen Halbbruder Feirefiz. Also nocheinmal die entscheidende kritische Konstellation - ein Kampf, nun noch gefährlicher und mörderischer als die beiden vorausgegangenen Konfrontationen. Aber jetzt greift Gott ein und läßt Parzivals Schwert zerbrechen: es ist das Schwert, das er Ither einst abgenommen hat. Das ist das äußere Zeichen der wesentlichen Wende, das Zeichen der Gnade. Man kann sagen, in Feirefiz werde Parzival nocheinmal mit der Gahmuretwelt konfrontiert, mit ihrer Schwarz-Weiß-Widersprüchlichkeit. Und nochmals, wenn auch in neuer Weise, ist er ihr gegenüber hilflos. Es ist der Andere, der ihm entgegenkommt: Feirefiz verschont den ihm ausgelieferten Gegner. Auch die Symbolik dieses Aktes ist nicht zu verkennen. Er bedeutet: niemand vermag sich selbst zu erlösen, die Erlösung erwirkt für einen immer nur der Andere.15 14

Selbstverständlich bleibt festzuhalten, daß der Iwein-Gawan-Kampf für den Parzival-GawanKampf das Modell abgegeben hat: hier wie dort führt der Kampf zur Einkehr am Artushof, wie Wolfram sich ja überhaupt auf den >Iwein< stützt, sobald der Conte du graal als Quelle ausfällt; vgl. H. SCHNEIDER 1947, S. 32ff.; RUH 1980, S. 116, S. 138. Aber Wolfram hat diesem Einkehrkampf eine zusätzliche und das Schema sprengende Funktion und Bedeutung gegeben: er führt zur entscheidenden inneren Wende. 15 Es handelt sich um einen elementar-christlichen Gedanken, der, wenn Karl Bertau mit seiner Interpretation des Samaritergleichnisses recht hat, sich schon in der ältesten Schicht des Evangeliums findet (BERTAU 1972/1973, S. 11). Jesus fragt zu diesem Gleichnis, wer dem, der unter 137

Und damit ist es soweit: Parzival wird zum Gral berufen. Es hat immer wieder irritiert, wie beiläufig Wolfram nun diesen Erlösungsakt abhandelt. Parzival bekommt die Gelegenheit, seine Frage zu stellen, und die Sache hat sich. Es sollte dies für den Interpreten aber kein Anlaß zum Kopfzerbrechen sein. Denn es ist tatsächlich nicht mehr von hohem Interesse. Der erste Besuch auf Munsalva?sche war ja nichts anderes gewesen als eine Vision der Welt, aus der Parzival kam, und damit auch eine Spiegelung der Widersprüche, die er als ihr Erbe in sich trug. Was aufgrund dieser Erfahrung geschehen mußte, konnte nur im Helden selbst geschehen. Die Erlösung der Gralswelt meint also in erster Linie, daß Parzival mit ihr in sich selbst fertig geworden ist. So bekennt er nun die Einsicht, daß der Gral nicht im Kampf zu erringen sei (vv. 786,2ff.). Und dafür steht dann auch zeichenhaft vor der Erlösungsfrage die Bitte an die Trinität um Hilfe (vv. 795,24ff.). Der Rest ist Umsetzung im Äußeren, die sich, soweit sie überhaupt möglich ist, nur noch harmlos geben kann. Verstanden hat von den übrigen ohnehin niemand etwas. Trevrizent ist wohl das Sprachrohr aller, wenn er sich darüber wundert, daß es Parzival doch gelungen sei, den Gral zu erkämpfen (vv. 798,1 ff.), nachdem gerade er ihm seinerzeit mit aller Entschiedenheit gesagt hatte, daß dies undenkbar sei. Trevrizent hat also wieder nichts begriffen.'6 Und dann gibt's noch leichthin einige Romankonventionalitäten. Feirefiz wird getauft, er erhält die Gralsträgerin zur Frau. Und sogar das prekäre Fragemotiv wird - im Ausblick auf die Loherangringeschichte - weitergesponnen. Die Gralsritter, die Munsalvassche verlassen, um sich bedrängten Fürstinnen zuzugesellen, dürfen nicht nach ihrer Herkunft gefragt werden. Man kehrt zu der fraglosen Welt zurück. Im allgemeinen geht somit alles wieder seinen gewohnten Gang. Die Erfahrung, die Parzival gemacht hat, kann nur seine persönliche Erfahrung sein und bleiben.17 die Räuber gefallen ist, der Nächste gewesen sei: es ist der Samariter, der ihm geholfen hat und den er deshalb lieben kann. Daß die Liebe durch den Helfer geweckt wird, das öffnet dem Ausgeraubten das Himmelreich. Und das heißt nach Bertau: „das Himmelreich kann keiner für sich selbst, sondern jeder nur für den andern erwerben". Diese - unübliche - Interpretation deckt sich übrigens nicht nur mit derjenigen BARTHS 1983, S. 461f., sondern sie stimmt auch mit der allegorischen, im Mittelalter gängigen Deutung des Gleichnisses überein; vgl. MONSELEWSKI 1967. 16

Daß Trevrizent nun auch seine frühere Äußerung, die neutralen Engel könnten vielleicht doch gerettet werden, korrigiert, verstärkt diesen Eindruck. Es zeigt sich hier Trevrizents beschränkte Sicht; er bleibt in einem undifferenzierten Schwarz-Weiß-Denken stecken. Das, was Parzival widerfahren ist, übersteigt seinen Verständnishorizont. So stellt er nicht nur mit Verblüffung fest, daß Parzival den Gral im Kampf errungen habe - was nicht stimmt -, sondern er vertritt nun auch die Meinung, daß derjenige, der zwischen Gott und Teufel schwankt - das Beispiel sind die neutralen Engel -, nicht gerettet werden könne, während Parzival gerade den Beweis für das Gegenteil liefert. Arthur Groos hat überzeugend gezeigt, daß Wolfram damit die Absicht verfolgt, Trevrizents Position zu relativieren (GROOS 1981). Das wirft rückblickend nochmals ein höchst kritisches Licht auf die bestenfalls vorläufige Hilfe, die der Einsiedleronkel dem Helden im IX. Buch anzubieten vermochte. Die Hauptschwierigkeit für eine zureichende Interpretation von Trevrizents Widerruf liegt also darin - das hat die die Groos'sche Position weiter differenzierende Analyse von Bernd Schirok ganz deutlich gemacht -, daß man aufgrund einer falschen Einschätzung der Trevrizentepisode nicht bereit ist, die Vorläufigkeit dessen, was im IX. Buch geschieht, zu akzeptieren; es geht nicht nur um einen Einzelirrtum Trevrizents, sondern um seine durchwegs „eingeschränkte Kompetenz" mit allen Konsequenzen, die dies für die Gesamtinterpretation des Romans mit sich bringt (SCHIROK 1987, S. 51 f.). 17 BERTAU 1983 hat vom „unernsten Ernst der geradezu betrunkenen Opernhaftigkeit des Schlus-

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Aber wie steht es dann mit dem Gralsroman als dem großen höfisch-christlichen Erlösungsmysterium? Man kann es getrost in der romantischen Mittelaltermottenkiste verschwinden lassen. Was wir statt dessen gewinnen, ist mehr, nämlich eine harte, ja zäh-mühsame Auseinandersetzung mit einer sich verändernden Auffassung von Gut und Böse im Übergang von objektiver Heilsgewißheit zu subjektivem Widerspruchsbewußtsein. Anders gesagt: es geht im >Parzival< um die Fragwürdigkeit jedes Erlösungsweges. Es wird hier ein neues Denken spürbar, für das die Differenz zwischen dem Irdisch-Guten und dem Göttlich-Guten allemal größer ist als die Annäherung, jenes Denken, das seit dem 12. Jahrhundert das Selbstbewußtsein des Menschen radikal zu verändern beginnt.18 Man faßt diese Sichtwende bei Wolfram deutlich in der Demontage der Wegmodelle, in der Idee des gemischten Menschentypus, im SichDurchringen zur Bereitschaft, sich die eigene Zwiespältigkeit einzugestehen und die Unmöglichkeit der Selbsterlösung zu akzeptieren. Aber all das sind Erfahrungen, die nur ein Einzelner für sich allein machen kann und muß. Und darum muß und kann auch mit einiger Heiterkeit gezeigt werden, wie die Welt jenseits davon ihr Spiel weitertreibt.19 Übrigens: Parzival, Gralskönig geworden, erfährt, daß Condwiramurs aufgebrochen ist, um zu ihm zu kommen. Er reitet ihr entgegen, er findet sie auf jener Wiese am Plimizoel, auf der er einst verquält auf die drei Blutstropfen starrte. Sie liegt schlafend im Zelt. Man komplimentiert alle Leute hinaus, und Parzival legt sich ohne viel.Worte zu seiner Frau - verständlich nach der langen Abstinenz. Das Zelt wird nun zwar diskret zugeschlagen, doch sei immerhin die Frage erlaubt, ob da am Ende nicht noch einmal der alte Gahmuret unter der Bettdecke hervorschaut. Und warum auch nicht? Das Leben muß auch für den Helden weitergehen. Denn die Gnade bleibt ein prekärer Augenblick, und so ist dafür zu sorgen, daß das übrige wenigstens nicht lustlos über die Bühne geht. Was man überstiegen hat, darf man spielen: Einhörner und Jungfrauen sind weiterhin gefragt. ses" gesprochen (S. 68), von der „alltäglichen Welt jenseits der Feierlichkeit", die „den Bann brechen soll" (S. 69), und er sieht darin Wolframs Scheu, „sein Endgültiges als Endgültiges darzustellen" (ebd.). Das weist in dieselbe Richtung wie meine These von der Rückkehr zum Gewohnten, was die Gesellschaft im allgemeinen betrifft. Das Entscheidende konnte nur in Parzival und für ihn geschehen. Und man darf wohl mit Bertau sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, daß der Dichter das ganze Werk damit „als Veranstaltung eines Subjekts in die Besonderheit zurückholt" (S. 73): auch die künstlerische Produktion und ihr Nachvollzug bieten keine generelle Lösung, sondern immer nur die Möglichkeit individueller Erfahrung. 18 Vgl. HAUG 1989 [e], S. 21ff. [in diesem Band, S. 31-44, hier S. 39ff.]. 19 Man mag einwenden, es komme doch im >Parzival< auch zu einer objektiven Erlösung, zur Erlösung des Gralskönigs und der gesamten Gralsgemeinschaft. Dies ist gewiß zuzugeben, doch sollte man nicht verkennen, auf welchem Boden die Idealität oder gar die Utopie des Gralsreiches, wenn es denn eine sein sollte (vgl. BUMKE 1982, BLANK 1989), angesiedelt ist. Die 'Lösung', die das Gralsrittertum anbietet, beruht auf Askese und Ausgrenzung. Sie ist als solche keineswegs verächtlich, aber sie ist in ihrer Rückzugsmentalität mit der Flucht Herzeloydes und der Weltabkehr Sigunes zusammenzusehen - die Verbindungslinien sind ja überdeutlich gezeichnet. Die 'Lösung', die das Gralsreich darstellt, vertritt eine traditionelle und gegenüber der Erfahrung, die Parzival macht, überholte Position. Trotzdem wird gerade er Gralskönig, d. h., daß man, allgemein gesehen, mit den traditionellen Lösungen auskommen muß, wie Parzival ja anderseits auch schon entscheidend beim Versöhnungsprozeß am Artushof mitgewirkt, also auch die gesellschaftliche Möglichkeit der arthurischen Welt ergriffen und damit deren Idealität gestützt hat: was zurückgelassen wird, behält seinen relativen Wert.

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Ein Dichter wehrt sich Wolframs Prolog zu den Gawan-Büchern

Verglichen mit dem berühmt-umstrittenen Prolog, mit dem Wolfram seinen >Parzival< eröffnet, hat der Zwischenprolog, der die Gawan-Bücher einleitet, in der Forschung ein verhältnismäßig geringes Interesse gefunden. Nach der frühen Analyse von Karl Lucae aus dem Jahre 1859 und der Replik von H e r m a n n Paul von 1876 folgt, wenn man von der Behandlung des Prologes in den Kommentaren von Karl Bartsch und Ernst Martin absieht, erst 1939 wieder ein Beitrag: ein Aufsatz von Josef Quint. Und die Reihe schließt nach einer neuerlichen großen Pause in den 70er Jahren mit den Arbeiten von Gisela Zimmermann und Dagmar Hirschberg. 1 Wie diese Untersuchungen bzw. Kommentare zeigen, bietet der Gawan-Prolog zwar eine Anzahl Textstellen, deren Auffassung kontrovers war und z. T. noch ist, doch der Gedankengang scheint im wesentlichen gut verständlich zu sein und im übrigen - anders als der Hauptprolog - kaum literaturtheoretischen Zündstoff zu enthalten. Der Gawan-Prolog, vv. 338,1-30, ist Wolframs Eigentum. Chretien hatte nur mit zwei Versen zur Gauvain-Handlung übergeleitet. Was mag Wolfram zu dieser Erweiterung veranlaßt haben? Er mußte seinem Publikum anscheinend erklären, weshalb nun für einige Zeit von Gawan die Rede sein wird. Er sagt, es gehöre sich nicht, alles Lob nur auf einen einzigen Helden zu häufen. Auch andere Figuren hätten ein Recht darauf, ins Licht zu treten. Und dieses gerechte Verteilen des Lobes wird dann mit der Frage nach der Wahrheit der Dichtung verknüpft. Wolfram führt Klage darüber, daß solche der Wahrheit verpflichtete Dichtung nicht geschätzt würde, während die Lügendichter Beifall fänden, und er wünscht sich vehement, daß m a n diesen das Handwerk legt. Also eine Begründung des Protagonistenwechsels mit einigen rhetorisch-topischen Konventionalitäten? Wenn dem so sein sollte, müßte man sich im Blick 1

LUCAE 1859, S. 7-30; PAUL 1876, S. 81-85; BARTSCH 1870,1871, die 4. Auflage: BARTSCH/MARTI 1927-1932; MARTIN 1903, S. 282-284; QUINT 1939; G. ZIMMERMANN 1974, S. 10-17, S. 22-26;

HIRSCHBERG 1976, S. 341-350. - Der Kommentar von Bartsch stützt sich in der 1. Auflage auf die Interpretation von Lucae. Nachdem Paul sich 1876 kritisch mit dieser auseinandergesetzt hatte, orientiert Bartsch sich in der 2. Auflage an Paul. Aber in Einzelheiten wirken die frühen Positionen nach, insbesondere, was die Verse 338,10 und 11 betrifft, wozu etwa noch Martin was folgenreich war - Überholtes bietet. Und das spiegelt sich auch in Divergenzen in den Übersetzungen bis zum heutigen Tag. - Quints Aufsatz von 1939 zielt zwar auf eine Neuinterpretation einer bestimmten Verszeile (338,14), ist aber für das gesamte Verständnis des Prologs von Bedeutung. Auch Zimmermann - die Quints Beitrag übersehen hat - versucht nach ihrem Einzelkommentar, eine Gesamtdeutung zu geben (S. 22-26). Die letzte Interpretation, der einschlägige Abschnitt in Hirschbergs Dissertation, konnte Zimmermanns Arbeit nicht mehr berücksichtigen. So laufen denn die Bemühungen um den Gawan-Prolog in merkwürdiger Weise immer wieder aneinander vorbei. Es dürfte sich schon von dieser Forschungslage her rechtfertigen, sich nochmals mit ihm zu beschäftigen. 140

auf den literaturtheoretisch so brisanten Prolog zum I. Buch eigentlich darüber wundern, daß Wolfram im Gawan-Eingang, zu dessen ins Allgemeine gehenden Weiterungen ihn nichts gezwungen hat, derart harmlos-konventionell verfährt. Jedenfalls ist aus dieser Verwunderung heraus der nachstehende Versuch einer neuen, eindringlicheren Interpretation entstanden. Das Ergebnis, zu dem er führte, war alles andere als vorhersehbar, und daß es in eine Richtung ging, in die ich mich selbst nur widerstrebend zu bewegen bereit war, gehört zu den Überraschungen, auf die man bei wissenschaftlichen Aventüren nach wie vor gefaßt sein muß und mit denen man sich jedenfalls bis bessere Einsichten darüber hinausführen - am Ende trotz allem Zögern abzufinden hat.

I Zunächst eine Analyse des Wortlauts im einzelnen2: 338,1

Der nie gewarp nach schänden, ein wil zuo sinen handen sol nu dise äventiure hän der werde erkande Gäwän.

Diese ersten vier Verse bieten keine sonderlichen Schwierigkeiten: ,Er, der niemals im Blick auf Schande handelte' - oder etwas freier: ,der niemals so handelte, daß es ihm Schande brachte, der berühmt-edle Gawan, soll nun für eine Weile diese Erzählung zuo sinen handen hän', also ,die Handlungsführung übernehmen'. Das ist Wolframs Ankündigung, daß der Protagonist wechselt, daß Parzival zurücktritt und nun eine Zeitlang von Gawans Aventüren die Rede sein wird. diu prüevet manegen äne haz derneben oder für in baz dan des mceres herren Parzival. swer sinen friunt alle mal mit worten an daz hcehste jagt, der ist prises anderhalp verzagt. 10

338,5

Diese Verse bringen Erläuterungen zum Protagonistenwechsel. Wolfram sagt: ,Sie, diese äventiure, stellt viele neben Parzival, den Haupthelden der Erzählung, oder zieht sie ihm (sogar) äne haz vor.' Man kann dieses äne haz im Reim mehr formelhaft nehmen: ,gern' wird häufig übersetzt. Man kann dem Ausdruck aber auch etwas mehr Gewicht geben, indem man auf die volle Bedeutung zurückgeht: äne haz hieße dann ,in freundschaftlicher Weise', und das könnte hier bedeuten: ohne daß der Hauptheld dadurch in seinem Ansehen beeinträchtigt werden soll.3 Der Hinweis auf die äventiure, die vorgegebene Geschichte, mag eine Rechtfertigung des Protagonistenwechsels durch die Quelle implizieren. Aber gewichtiger ist die 2 3

Ich zitiere nach K. LACHMANN 1926. BARTSCH/MARTI 1927-1932, z. St.: „nicht ungern", MARTIN 1903, z. St.: „ganz gern". Mit stärkerer Akzentuierung: HIRSCHBERG 1976, S. 342 Anm. 100: äne haz heiße, daß die Nebenhandlungen mit der Haupthandlung „nicht 'in Konkurrenz'" treten sollen.

141

prinzipielle Begründung, die Wolfram hinzufügt: ,Wer seinen friunt\ das heißt die Figur in der Erzählung, an der ihm am meisten gelegen ist,4 ,mit seinen Worten unentwegt zum Höchsten hinjagt', oder entmetaphorisiert ausgedrückt: ,ihn als so vollkommen wie nur denkbar hinstellt', der ist prises anderhalp verzagt. Hier ergibt sich eine erste Schwierigkeit, des prises verzagt sin heißt, daß einem das Lob oder das Loben abhanden gekommen ist, und zwar anderhalp: jenseits (von diesem Hochloben des Helden)'. Bezieht sich dieses Versagen des Lobes oder Lobens auf die andern Figuren des Romans, die vor dem einen übergelobten Helden verblassen, für die sozusagen kein Lob mehr übrig bleibt? Oder bezieht es sich darauf, daß das Publikum derart übertriebenes Lob nicht goutiert und deshalb dem Dichter kein Lob spendet? Die Meinungen sind geteilt. Man hat entweder übersetzt: ,Wer alles Lob auf den Haupthelden häuft, der hat für die andern Figuren nichts mehr übrig', 5 oder aber: ,Wer seinen Haupthelden lobend in den Himmel hebt, der kann nicht mit dem Beifall des Publikums rechnen'. 6 Im Laufe der Zeit schien sich, vor allem aufgrund von Quints entschiedenem Votum, ein Konsens zugunsten der ersten Auffassung anzubahnen, doch hat Hirschberg 1976 die zweite Übersetzungsmöglichkeit wieder in die Diskussion gebracht. Der Bezug auf die andern Figuren würde den Gedanken nach rückwärts mit der Rechtfertigung des Protagonistenwechsels verbinden; das Lob, das man dem Dichter versagt, würde zur Erörterung des Verhältnisses zum Hörer überleiten, von dem von Vers 11 an die Rede ist. Beides erscheint vom Gedankengang her zunächst gleich sinnvoll. 338,11

im wäre der Hute volge guot, swer dicke lop mit wärheit tuot. wan, swaz er sprichet oder sprach, diu rede belibet äne dach.

,Es wäre gut, wenn die Leute dem Anerkennung entgegenbrächten, der lop mit wärheit spendet'. M a n könnte auch - gegen Lachmann - die Lesart nu statt im wählen und übersetzen: ,Nun wäre es gut, wenn die Leute es anerkennen würden, wenn einer lop mit wärheit spendet'. Der Ausdruck lop mit wärheit ist offensichtlich als Gegenbegriff zu dem Lob zu verstehen, mit dem man einen Helden an daz hoehste jagt, lop mit wärheit ist also ein Lob, das nicht sinnlos übersteigert ist, sondern das Wahrheit zu vermitteln vermag. Dabei ist wärheit kein absoluter Begriff, sondern er m u ß im fiktionalen Zusammenhang verstanden werden. Man darf also nicht an eine Art 'Realistik' - was immer man darunter verstehen mag - im Gegensatz zu einer hyperbolischen Darstellungsweise denken, wärheit bedeutet vielmehr, daß die Darstellung dem fiktionalen Konzept gerecht wird, von dem her das einzelne seinen Sinn empfängt. 7 4

friunt für den Haupthelden findet sich auch anderweitig bei Wolfram; vgl. MARTIN 1903, z. St.

5

PAUL 1876,

S. 82; BARTSCH/MARTI 1927-1932, z. St.; QUINT 1939,

S. 165; G. ZIMMERMANN

1974, z. St. 6 HIRSCHBERG 1976, S. 342f. Die von LUCAE 1859 vorgeschlagene Interpretation: „der glaubt nicht daran, daß andere seine Helden loben", ist schon von PAUL 1876, S. 82, als verfehlt zurückgewiesen worden. Trotzdem ist sie mehrfach wiederaufgetaucht, etwa bei MARTIN 1903, z. St.; vgl. den Überblick bei QUINT 1939, S. 165f. 7

QUINT 1939, S. 168, spricht von ,,lebensechte[r] Wahrheit" gegenüber dem „schönen Schein", was falsche Kategorien in die Diskussion bringt. Vgl. dazu die treffende kritische Bemerkung von HIRSCHBERG 1976, S. 344f.

142

Auf das konjunktivische ,eine solche Anerkennung wäre gut', folgt - Vers 13 - ein Satz mit wan. wan kann für wan daz stehen und müßte dann heißen ,wenn nicht wäre, daß'.8 Man müßte also übersetzen: ,wenn es nicht so wäre, daß das, was er' - also jener der lop mit wärheit tuot - ,sagt oder sagte, äne dach bleibt', also .obdachlos ist'. Wenn dieses Verständnis richtig ist, dann will Wolfram damit sagen: Der Dichter, der in ,wahrer' Weise lobt, verdiente Anerkennung, aber er findet sie nicht, und so bleibt sein Wort ohne Heimstatt, es geht verloren, es kann keine Wirkung tun. Weder dieses Verständnis von wan noch die eben vorgetragene Auffassung von äne dach ist unumstritten. So hat man versucht, wan als ,sonst' zu interpretieren:,sonst, d. h. ohne die Anerkennung der Leute, bleibt das Dichterwort ohne Dach'; aber man müßte in diesem Fall ein anders ergänzen: wan anders belibet diu rede äne dach. Ein solches elliptisch verstandenes wan ist aber bedenklich, während die Auffassung von wan als wan daz keinerlei Schwierigkeiten macht.9 Und schließlich ist äne dach auch mit ,ohne Vollendung' übersetzt worden.10 Im Blick darauf, daß der Gedanke von der Heimstatt für die wahre Dichtung im folgenden weitergeführt wird, scheint mir diese Interpretation aber wenig überzeugend. Denn die Verse 15 und 16 knüpfen offenkundig an die metaphorische Situation der Obdachlosigkeit an, sie appellieren gewissermaßen an die idealen Zuhörer, an die wisen, die ,wahre Dichtung' bei sich aufzunehmen: 338,15

20

8

wer sol sinnes wort behalten, es enwelln die wisen walten? valsch lügelich ein mare, daz wan ich baz noch wäre äne wirt üf eime sne, so daz dem munde wurde we, derz üz für wärheit breitet: so het in got bereitet als guoter Hute wünschen stet, den ir triwe zarbeite erget.

PAUL/WIEHL/GROSSE 1989, § 466.4 Anm. 2.

'Vgl. QUINT 1939, S. 170, mit eingehender Diskussion und klarer Entscheidung für wan daz; trotzdem will er dann wan im Sinne von „denn" verstehen. - HIRSCHBERG 1976, S. 345, übersetzt wieder mit „denn sonst". "MARTIN 1903, z. St. - QUINT 1939, S. 171 ff., will in äne dach eine positive Bestimmung sehen, nämlich ein Loben „ohne Abschluß nach oben": der Dichter wolle sich sein Loben prinzipiell offenhalten. Quint begründet diese ausgefallene Interpretation damit, daß Wolfram schwerlich sagen könne, eine wahre Dichtung finde überhaupt nirgendwo Aufnahme. Er übersetzt und kommentiert folgendermaßen: „,Es wäre gut und billig, wenn die Leute dem Beifall zollten, der allseitig der Wahrheit entsprechend Lob spendet, denn was immer er auch sagt oder gesagt hat, seine (Lob-)rede bleibt (immer) ohne Dach', d. h., 'ohne Abschluß nach oben', ohne Grenzsetzung nach oben, die ein Darüberhinausgreifen, ein für-in baz-Loben nicht mehr zuließe. Der Vorzug eines Dichters, der strengste Objektivität in der Bewertung beobachtet, liegt darin, daß er stets frei bleibt, was immer er im Augenblick sagt oder in seiner vorausgehenden Darstellung gesagt haben mag" (S. 172). Das vermag schwerlich zu überzeugen. Und daß Wolfram eben doch polemisch überspitzt sagen will, wahre Dichtung finde nirgendwo Aufnahme, das bestätigt ex negativo die sich anschließende Invektive gegen die Lügendichter, die offenbar keine Mühe haben, 'eine Unterkunft zu finden'. 143

,Wer wird sinnes wort' - also Worte, die sin, ,Wahrheit', haben 11 - ,bewahren, wenn es die Verständigen nicht tun?' Und danach, Vers 17, kommt Wolfram nochmals auf jene Dichter zurück, die die Wahrheit mißachten, indem sie ihre Helden mit falschem Lob überhäufen. Von ihnen sagt er: ,Es schiene mir sehr viel richtiger, wenn trügerische Lügengeschichten ohne Unterkunft im Schnee draußen blieben, so daß dem, der sie als Wahrheit verbreitet, der Mund weh täte. Dann hätte Gott ihnen das zukommen lassen, was gute Leute 12 ihnen wünschen, die sich mit ihrer triuwe Mühsal einhandeln', wobei man triuwe in diesem Zusammenhang wohl am besten mit Verpflichtung zur Wahrheit' übersetzt. 13 338,25

30

swem ist ze sölhen werken gäch, da missewende hceret nach, pfliht werder lip an den gewin, daz muoz in leren kranker sin. er midetz e, kan er sich schemn: den site sol er ze vogte nemn.

,Wenn einer aber auf solche Dichtungen aus ist, die zur Schande führen, und ein Edler dies unterstützt, so m u ß der einen kranken sin haben', d. h., es m u ß i h m jedes Wahrheitsverständnis abgehen; er gehört nicht zu den wisen, die sinnes wort bewahren. ,Ist er noch fähig, Schande zu empfinden, 14 so sollte er davon Abstand nehmen und sich das zum festen Richtmaß machen'. Ich stelle nun nochmals den Prolog-Text und meine Übersetzung - in einer etwas freieren Form - insgesamt nebeneinander, damit der Gedankengang im Zusammenhang überschaubar wird: 338,1

5

10

11

Der nie gewarp nach schänden, ein wil zuo sinen handen sol nu dise äventiure hän der werde erkande Gäwän. diu prüevet manegen äne haz derneben oder für in baz dan des mares herren Parziväl. swer sinen friunt alle mal mit worten an daz hashste jagt, der ist prises anderhalp verzagt.

Er, der niemals schandebringend handelte, der berühmt-edle Gawan, er soll nun für eine Weile die Führung der Erzählung übernehmen. Diese stellt viele ohne böse Absicht neben Parziväl, den Herrn der Geschichte, oder zieht sie ihm gar vor. Wer seinen liebsten Helden unentwegt mit Worten in die höchste Höhe jagt, dessen Lob bleibt hinterher auf der Strecke.

BARTSCH/MARTI 1927-1932, MARTIN 1903 und G. ZIMMERMANN 1974 übersetzen sinnes wort

mit „Worte von Verstand" oder „Worte voll Verstand". Das ist im Zusammenhang der Wahrheitsfrage doch wohl zu flach interpretiert; vgl. HIRSCHBERG 1976, S. 346 Anm. 107, die den Ausdruck sicherlich zu Recht mit der poetologischen Diskussion um wort und sin (S. 345) in Verbindung bringt. Siehe dazu unten S. 150. 12 MARTIN 1903, z. St., will unter den guoten liuten die ehrlichen Erzähler verstehen; es dürften damit aber doch wohl eher die Rezipienten gemeint sein, die zwischen Wahr und Falsch zu unterscheiden vermögen - so HIRSCHBERG 1976, S. 347. 13 Vgl. G. ZIMMERMANN 1974, z. St.: triuwe = „Wahrheitsliebe". 14 Diese Fähigkeit zur schäme bedeutet, wie HIRSCHBERG 1976, S. 348, treffend bemerkt, soviel wie „Wertsensibilität". 144

im wäre der Hute volge guot,

15

20

25

Es wäre gut, wenn man dem Anerkennung zollte, swer dicke lop mit wärheit tuot. der sein Lob immer an der Wahrheit mißt, wan, swaz er sprichet oder sprach, doch was er sagt oder sagte, seine Worte bleiben obdachlos. diu rede belltet äne dach. Wer soll das Wort der Wahrheit beherberwer sol sinnes wort behalten, gen, wenn sich die Verständigen seiner nicht es enwelln die wisen walten? annehmen? Dabei wäre es doch viel richtiger, valsch lügeltch ein mare, wenn die Trug- und Luggeschichte daz wan ich baz noch wäre ohne Unterkunft im Schnee bliebe, äne wirf üf eime sne, so daß dem der Mund weh täte, so daz dem munde wurde we, der sie als Wahrheit verbreitet: derz üz für wärheit breitet: dann hätte Gott die Lügner so behandelt, so het in got bereitet wie gute Leute es ihnen wünschen, als guoter Hute wünschen stet, die mit ihrer Wahrheitsliebe Mühsal ernden ir triwe zarbeite erget. ten. Wenn einer auf solche Dichtungen aus ist, swem ist ze sölhen werken gäch, die Schande nach sich ziehen, da missewende hoeret nach, und wenn ein Edler dies fördert, pfliht werder lip an den gewin, so muß er von dürftigem Geist sein. daz muoz in leren kranker sin. Kann er noch Schande empfinden, sollte er midetz e, kan er sich schemn: er's lieber lassen und sich das fest zum Richtmaß nehmen. den site sol er ze vogte nemn.

Dieser erste, unter Berücksichtigung der Forschung vorgenommene Durchgang durch den Gawan-Prolog ergibt somit folgendes: Man stößt zwar auf einzelne Stellen, die unterschiedlich interpretiert werden können, doch die Generallinie der Argumentation tritt klar heraus. Der Anlaß für Wolframs Überlegungen ist eindeutig der Wechsel des Protagonisten. Daß ein solcher Wechsel erlaubt, ja empfehlenswert ist, wird damit begründet, daß es falsch sei, einer einzigen Figur alles Lobenswerte zuzuschreiben. Wer so überzogen lobe, bleibe damit auf der Strecke. Dichter hingegen, die ihre Helden mit Rücksicht auf die Wahrheit loben, sollten den Beifall des Publikums erhalten. Aber leider finden Dichtungen, die der Wahrheit verpflichtet sind, nicht die ihnen gebührende Aufnahme. Anders die Lügendichter, die offenbar Erfolg haben und die Wolfram in einem heftigen Ausfall mit ihren Geschichten in Schnee und Kälte wünscht. Und er schließt mit der Mahnung an die Edlen, doch nicht Erzählungen anzuhängen, die in die Schande führen. Der Gedankengang des Prologs scheint also - jedenfalls in seinen Hauptzügen - in sich konsistent und durchsichtig zu sein. Gleichwohl wird man einschränkend feststellen, daß er sich am Ende relativ weit von seinem Ansatz, der Rechtfertigung des Protagonistenwechsels, entfernt. Oder man muß es wohl umgekehrt formulieren: der Protagonistenwechsel scheint nur als Aufhänger für grundsätzliche poetologische Reflexionen zu dienen, wobei sich, wenn man von der Möglichkeit der Anknüpfung absieht, die Frage stellt, weshalb sie gerade hier eingeschoben werden. Jedenfalls gehen die Überlegungen weit über eine Erläuterung des Protagonistenwechsels hinaus. 145

Kann man also keine Zweifel darüber haben, daß ein Zwischenprolog vorliegt, der sich, der Prologtradition entsprechend, in hohem Maße einer kontextunabhängigen literaturtheoretischen Reflexion öffnet, so wird es auch nicht überraschen, daß bekannte Exordialtopoi auftauchen. So die Werbung für die eigene wahre Erzählung und die Verdammung der Lügendichter. Und dazu gehört die Klage über ein Publikum, das der Lüge mehr anhängt als der Wahrheit. Dann die Mahnung zur rechten Einsicht, der Hinweis darauf, daß der Dichter auf das Wohlwollen des Publikums angewiesen ist und daß die Wahrheit verlorengeht, wenn sie keine Anerkennung findet.15 Man wird das Topische dieser Argumente nicht übersehen wollen, aber es erscheint doch zugleich sehr deutlich unter spezifischen Akzenten, wobei man sich an jene literaturtheoretische Position erinnert sieht, die Wolfram schon im Prolog zum I. Buch vertreten hat.16 Er plädierte dort bekanntlich für einen nicht-idealen, für einen schwarz-weißen, einen problematischen Romanhelden. Er hat dann dementsprechend mit Parzival einen solchen gemischten Typus eingeführt, mit ihm also eine Figur ins Zentrum gestellt, die zugleich ideal und schuldhaft, zugleich gut und böse ist. Wiederholt Wolfram also in der Einleitung zu den Gawan-Büchern variierend die poetologischen Forderungen des ersten Prologs? Meint lop mit wärheit konkret noch einmal die Mischung von Vollkommenheit und Unvollkommenheit in einer Person? Will er insbesondere sagen, daß auch der Wechsel zu Gawan dazu beitrage, den Haupthelden zu relativieren, und daß dieses ungewöhnliche Verfahren also durchaus mit seiner Auffassung vom gemischten Heldentypus zusammengehe? Dies ist der erste Eindruck. Wenn man im Gawan-Prolog also in dieser Weise ein Zusammenspiel zwischen allgemeiner Exordialtopik und spezifisch Wolframscher Poetologie sehen darf, dann fügt sich dieses Textstück in das gewohnte Bild, und es bleiben höchstens noch Detailprobleme zu lösen übrig.

II So ansprechend aber eine solche Interpretation in ihrem Doppelaspekt von allgemeiner Prologtopik und Wolframscher Poetik auch sein mag, man wird bei genauerem Zusehen nicht verkennen, daß sie eine Reihe von Problemen eher zudeckt, statt sie ernsthaft anzugehen. Dreierlei muß den aufmerksamen Interpreten irritieren: 1. Weshalb sollte Wolfram an dieser Stelle, zu Beginn der Gawan-Bücher, sein Plädoyer für einen gemischten Heldentypus wiederholen? Er hat doch längst vor Augen geführt, daß Parzival nicht der unproblematische Romanheld ist, gegen den er im ersten Prolog polemisiert hat. Insbesondere sei daran erinnert, daß die Einkehr Parzivals am Artushof mit der Verfluchung durch Cundrie unmittelbar vorausgeht, daß also der Hauptheld gerade in einer Krise gezeigt worden ist, die nicht nur alles, was er äußerlich erreichte, sondern auch seinen Selbstwert radikal in Frage stellte. Kann an dieser Stelle die Schwarz-Weiß-Zeichnung des Romanhelden wirklich noch ein Problem sein? Und tatsächlich ist es ja auch nicht der ungemischte 'Charakter' des 15

G. ZIMMERMANN 1974, S. 23, sieht den Prolog vorwiegend unter dem Aspekt der rhetorischen Captatio benevolentiae. Wolfram verstehe den Protagonistenwechsel als eine causa dubia, für die er das Publikum zu gewinnen genötigt sei. Er setze dafür das entsprechende topische Instrumentarium ein. '"Siehe dazu HAUG 1985/1992, S. 155-162 bzw. S. 159-167.

146

Protagonisten, gegen den im Gawan-Prolog angegangen wird, Wolfram wendet sich vielmehr gegen Romanfiguren, die von ihren Dichtern so verlogen verherrlicht werden, daß es jeder Wahrheit spottet. Worauf zielt das? Man könnte an den nachklassischen Artusroman denken mit seinen makellosen Superrittern und ihren bald mehr drastischen und bald mehr märchenhaften Aventüren. Aber will Wolfram hier tatsächlich diesen Typus aufs Korn nehmen? Kann er den Typus überhaupt gekannt haben? Höchstens in Frühformen, im >Lanzelet< etwa und vielleicht im >WigaloisTristanTristanTristanParzival< singulär, und das gilt für die Verbindung von wort und sin überhaupt.26 Der Gedanke einer Korrespondenz von wort und sin ist hingegen für Gottfrieds Poetik zentral. Gottfried eröffnet bekanntlich mit diesem Begriffspaar, Hartmann charakterisierend, seinen kritischen Dichterkatalog (vv. 4621 ff.), und es bleibt dann das maßgebende Kriterium für den ganzen Literaturexkurs. Wolframs singuläres sinnes wort könnte also sehr wohl Gottfrieds wort und sin aufgreifen, doch hätte Wolfram in diesem Fall zugleich eine deutliche Akzentumsetzung vorgenommen. Denn sinnes wort zielt nicht wie Gottfrieds wort und sin auf eine Entsprechung von Außen und Innen, von künstlerischer Form und meine, sondern es ist ethisch orientiert: es bedeutet ,das Wort der Wahrheit' quer zu allen formalen Aspekten. Sollte sich der Bezug des Gawan-Prologs zu Gottfried erhärten lassen, müßte man Wolframs sinnes wort als ein zu einer Replik umformuliertes >TristanTristan< wäre zweifellos ein Werk, gegen dessen Erfolg zu eifern die Mühe lohnte. Auch die Wolframsche Aggressivität würde begreiflich angesichts der infamen Anschuldigungen, die Gottfried vorträgt. Diese fünf Indizien: 1. Wolframs auffällig veränderte, sich Gottfried annähernde Auffassung vom Verhältnis von Werk und Rezeption, 2. Wolframs singuläres sinnes wort im Blick auf das für Gottfrieds Poetik zentrale Begriffspaar wort und sin, 3. die Auszunehmen wäre nur eine, aber bloß umschreibende Kombination in v. 160,2: sprach jamerlicher wortesin. Anders ist es bekanntlich im >WillehalmParzival< zur Wanderdüne" (ebd., S. 787). Der Dreißiger 338 kann sehr wohl ein späterer Einschub sein. Es ist auch nicht zu verkennen, daß 339 gut an 336 anschließen würde, wobei nicht vergessen werden darf, daß auch die sog. Selbstverteidigung zusammen mit 337 ursprünglich noch an das Ende des VI. Buches gehörte: der Übergang zum VII. Buch ist offenbar mehrfach aufgebrochen worden. Vgl. zu dieser Gottfriedschen Paradoxie HAUG 1990 [c], S. 66f. [in diesem Band, S. 184-196, hier S. 194].

151

sich. Er böte eine Präzisierung dessen, was nach Wolframs Auffassung die Wahrheit der Dichtung ist, insbesondere, wie diese Wahrheit zum Erfahrungsprozeß des Helden steht, wie sie sich zur Negativität verhält, durch die er hindurchgeführt wird, und dies scharf-kritisch vor dem Hintergrund jenes ganz andern Wahrheitsverständnisses, das Gottfried in seinem >Tristan< anbietet und zu dem es u. a. gehört, daß sein Held an einer Lüge zugrundegeht. Und ausgerechnet derjenige, der dies als sin propagiert, wagte es, Wolfram - und das ist es, was diesen zutiefst empören mußte - einen Lügner und Betrüger zu nennen! Der Gegenangriff zielt also, wie es scheint, mit aller nur wünschenswerten Klarheit auf den entscheidenden neuralgischen Punkt, auf die radikale Differenz der ästhetischen Positionen. Ich bin mir bewußt, daß ich mit dem Einwand rechnen muß, die mutmaßlichen Bezüge, die den Gawan-Prolog als Replik auf Gottfrieds Angriff erscheinen lassen, seien rein zufällig. Denn es gebe in diesem Prolog nichts, was aus dem Rahmen der in Praxis und Theorie gängigen Rezeptionsstrategien falle. Damit stünden wir wieder beim traditionellen Verständnis des Prologs, von dem wir ausgegangen sind. Er wäre dann bestenfalls ein rhetorisches Kabinettstück ohne besondere Bedeutung. Die Frage ist, ob man dies Wolfram nach dem literaturtheoretisch so spezifischen und programmatischen ersten Prolog wirklich zutrauen kann. Also: entweder ein gegenüber dem bedeutungsschweren ersten Prolog allgemein gehaltenes, ja geradezu gedankenloses Spiel mit topischen Versatzstücken oder aber eine Neubesinnung auf die eigene Position aufgrund einer aktuellen Herausforderung - das ist die Alternative, mit der man sich konfrontiert sieht. Je ernster man Wolframs literaturtheoretisches Bewußtsein nimmt, um so mehr wird man der zweiten Möglichkeit zuneigen.

152

Lesen oder Lieben? Erzählen in der Erzählung: vom >Erec< bis zum >Titurel
Parzival< und im >Willehalm< in den Vordergrund gestellt hat, die unverbrüchlich liebende und zum Leiden bereite Frau: Condwiramurs, Gyburg.1 Was er - im Gegensatz zum Minnesang - preist, ist also die erfüllte Eheliebe, eine Liebe, die zwar nicht ohne Gefährdung ist, die sich aber in der Not bewährt und wächst; dies jedoch, ohne daß sie zum Problem würde. So liegen denn die Konflikte, in die Parzival und Willehalm geraten, bezeichnenderweise außerhalb der persönlichen Beziehungen -zu ihren Frauen, wenngleich diese Konflikte von ihnen nicht unabhängig sind, insbesondere nicht im >WillehalmTiturelTiturel< gar eine Antwort auf den >Tristan< sein, der dieses Thema in der radikalsten Weise durchspielt? Wenn dem so wäre, so müßte man darin eine programmatisch kontrastive Replik sehen: Die Liebe zwischen Sigune und Schionatulander bleibt - ganz anders als die Liebe zwischen Tristan und Isold körperlich unerfüllt, oder man müßte besser sagen: sie vollendet sich unerfüllt durch die triuwe im Tod. Doch es ist nicht ratsam, vorschnell Oppositionen aufzubauen, denn die Sachlage erweist sich bei näherem Zusehen als um einiges komplexer. Zunächst ist zu bedenken, daß die fatale Liebe zwischen Sigune und Schionatulander in ihrem Ergebnis schon im >Parzival< vorweggenommen ist, daß sie hier jedoch nicht isoliert steht. Die beiden Liebenden gehören zu einer Vielzahl von Paaren im Umkreis der Parzivalhandlung, bei denen der Mann in Not und Tod getrieben wird, sei es durch eine abweisende Frau, im Dienst einer Frau oder im Kampf um eine Frau. Aber diese Figurationen bleiben, blickt man auf den Weg des Haupthelden, am Rand oder im Hintergrund - einem Hintergrund freilich, der quälend, bedrängend erscheint, insbesondere durch die erlösungsbedürftige Gralswelt, die von ebendieser erotischen Fatalität gezeichnet ist. Und gerade Sigune, die mit dem toten Schionatulander dreimal am Weg des Helden 1

Zur Diskussion um 'Wolframs Frauenlob' siehe HAUG 1985/1992, S. 170ff. bzw. S. 175ff.

153

auftaucht - beim vierten Mal ist auch sie tot -, macht dieses obsessive Hintergrundsthema für Parzival - und für den Hörer - gegenwärtig.2 Das Überraschende ist, daß diese fatale Figuration nun im >Titurel< zu einem selbständigen Roman ausgebaut werden sollte, wobei damit zu rechnen ist, daß Wolfram schon bei seiner Arbeit am >Parzival< an diese Verselbständigung dachte; die offen bleibenden Andeutungen zum konkreten Gang dieser Liebesgeschichte im Titurel< bedeutet, ist es notwendig, sich vor Augen zu halten, wie er mit dem erotischen Thema im >Parzival< und im >Willehalm< umgegangen ist. Diese beiden Werke sind ja u. a. auch Auseinandersetzungen mit der neuen Liebesthematik im Roman des 12. Jahrhunderts; ja man kann sagen, sie seien Wolframs Antworten auf die Probleme, die der neue Typus mit sich gebracht habe. Und so wäre denn zu prüfen, ob der >Titurel< durch Fragen angestoßen worden sein könnte, die bei dieser Auseinandersetzung unbeantwortet geblieben sind. Es sei zunächst an die literarhistorische Situation erinnert, in die Wolfram mit seinem epischen Werk eingetreten ist. Der neue Roman Chretiens ist bekanntlich durch eine doppelte literarische Entdeckung möglich geworden: durch die Entdeckung der Fiktionalität und durch die Entdeckung der personalen Liebe. Beides ist literarhistorisch neu, um nicht zu sagen revolutionär, und die beiden Neuerungen bedingen sich gegenseitig.3 Im Chretienschen Roman wird erstmals über Stoffe fiktional-frei verfügt über die Stoffe der unverbindlichen Matiere de Bretagne -, und das heißt, daß auch die Komposition frei ist, daß man also Strukturen entwerfen kann, ja muß, über die die zu behandelnden Probleme einer Lösung zugeführt werden. Dies im Gegensatz zu den überkommenen Stoffen der Matiere de Rome und der Matiere de France, an deren Vorgaben man sich gebunden sah, stofflich und damit auch strukturell.4 Die Wendung zur Matiere de Bretagne erlaubte es Chretien also, ein Handlungsmodell in fiktionaler Freiheit zu entwerfen - das ist es, was er mit dem vieldiskutierten Begriff conjointure bezeichnet -, und dieses Modell ist zugeschnitten auf sein Thema, nämlich auf die narrative Diskussion der Möglichkeit einer harmonischen Gesellschaft. Als Bild einer solchen Gesellschaft wird der arthurische Hof mit seiner Balance aller Kräfte vor Augen gestellt.5 Die Frage ist also die, unter welchen Bedingungen eine solche ideale, oder doch wohl besser: utopische Gemeinschaft denkbar sein könnte. Die Antwort wird durch einen Prozeß im Rahmen des arthurischen Handlungsmodells gegeben: er ist so angelegt, daß jeweils ein Vertreter des Hofes sich dem zu stellen hat, was diese Utopie herausfordert. Der Held geht durch eine Gegenwelt hindurch, die als die Negation der idealen gesellschaftlichen Balance gezeichnet ist. Hindurchgehen aber heißt, 2

Vgl. dazu HAUG 1990 [b], insbes. S. 200ff. [in diesem Band, S. 125-139, insbes. S. 126f.]. Eine Analyse dieses Bedingungszusammenhangs versuche ich in meinem Aufsatz >Die Entdeckung der personalen Liebe und der Beginn der fiktionalen LiteraturTiturelTiturel< meinen? Man könnte sagen, diese überraschende Wende sei nur die letzte Konsequenz aus dem zwiespältigen Ergebnis der fiktionalen Bemühung um Sinnstiftung. Es hat sich ja gezeigt, daß sie keine Lösung bieten, sondern immer nur die Aporien bewußt machen kann. Man denke hier nocheinmal an den >WillehalmTiturel< wohl zeitlich anschließt und der die Weichen neu gestellt haben könnte. Im >Willehalm< ist die Lage so verzweiflungsvoll, daß auch das Bewußtsein davon sich nur zerrissen zwischen Hoffnungslosigkeit und Gnadenerwartung hin und her bewegen kann. In dieser Situation gibt es aber tatsächlich eine Art 'Lösung': Willehalm und Gyburg nehmen sich, nachdem alles zusammengebrochen ist, einfach in die Arme. Und dann, während Willehalm, den Kopf auf ihr Herz gebettet, schläft, erzählt Gyburg ihre Geschichte, sie erzählt sie Gott - und dem Publikum -, und am Ende weiß sie keinen Weg mehr, als sich den Tod zu wünschen. Aber das Bereitsein zum Tod fließt hier aus einer Geschichte, die in die erfüllte Liebe hineingenommen ist. Erzählen braucht man nur noch zum Sterben, nicht mehr zum Leben. Und so drängt sich denn der Gedanke auf, daß der >Titurel< die literaturtheoretische Folgerung aus dieser im >Willehalm< erreichten Position gezogen haben könnte: Die Fiktion hat ihr primäres Recht verloren. Nun ließe sich die Argumentation aber auch umdrehen, denn man kann sagen, auch diese Einsicht werde wiederum durch Erzählen vermittelt. Schionatulander stirbt für eine Geschichte, eine Liebesgeschichte, die Sigune lesen, zu Ende lesen möchte. Gerade daraus ergibt sich aber doch wieder eine Geschichte, eine Geschichte für uns, auch wenn das Erzählen dabei problematisiert wird. 2

' Vgl. HAUG 1985/1992, S. 217f. bzw. S. 224.

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Es ist offenkundig, daß man mit solchen Überlegungen in einen inneren Widerspruch gerät. Wenn das Erzählen ausgespielt hat, wie kann man dann gerade dies doch noch erzählen? Das Ergebnis dieses Widerspruchs liegt uns aber tatsächlich vor. Wolfram erzählt im >Titurel< nicht mehr, er kann nicht mehr erzählen. Er geht von einer Geschichte aus, die im Grunde schon erzählt ist, die im >Parzival< in den Grundzügen vorliegt. Und von da aus verwandelt sich das Erzählen in Reflexion und Klage; es hebt sich gewissermaßen selber auf. Das indirekte Bekenntnis zur Bedingungslosigkeit der Liebe wäre damit Wolframs letztes Wort, und Bedingungslosigkeit hieße auch: nicht vermittelt durch Literatur, wobei gerade dies wiederum literarisch dadurch vermittelt würde, daß das Erzählen an sich selbst zerbricht. Wenn dies richtig wäre, so zielte der >Titurel< auf eine programmatische Absage an die fiktionale Erfahrung zugunsten einer neuen erotischen Unmittelbarkeit, eine Absage, die aber im Sich-Absetzen doch noch bezogen wäre auf die sich selbst zerstörende Fiktion angesichts der literarisch nicht zu bewältigenden Widersprüche dieser Welt. Das wäre die letzte Möglichkeit des neuen Romans: die Wahrheit dadurch zu erreichen, daß die Fiktion ihre immer nur bedingten Möglichkeiten der Erfahrung preisgibt, indem sie das Erzählen selbst thematisch und formal in den Abgrund führt.

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IV. Z U M >TRISTAN< U N D Z U R L I T E R A R I S C H E N E N T D E C K U N G D E R P E R S O N A L E N LIEBE IM HOHEN MITTELALTER

Der >Tristan< Gottfrieds von Straßburg: eine narrative Philosophie der Liebe?

für Clara Irene Die Stadt Straßburg hatte in vielfältiger Weise teil an jenem innovativ-lebendigen, ja häretischen Geist, der für die Rheinlande von Basel bis Köln im Übergang zum Spätmittelalter kennzeichnend war. 1 Den frühen Auftakt dazu scheint überraschenderweise ein dichterisches Werk zu bilden: Gottfrieds >TristanTristan< Studies, München 1969, AfdA 81 (1970), S. 57-69, und 1972, S. 117*. [= Strukturen, S. 557-582, hier S. 577], dargelegt. Ich würde mich heute der etwas differenzierteren Position HUBERS 1986 [a], S. 68f., anschließen. - Zum Ton von Tristans Bekenntnis: BERTAU 1983, S. 153. Aber weiß Tristan - wie Karl Bertau meint - wirklich nicht, was er spricht? Handelt es sich also doch nicht um eine freie Entscheidung im vollen Bewußtsein aller Implikationen? Ich würde antworten: Ohne einen Anflug von „metaphysischem Leichtsinn" kann man eine solche Situation nicht durchstehen, oder allgemeiner gesagt: ausschließlich im Bewußtsein des Todes kann man nicht leben.

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im Mondschein die Schatten der Beobachter. Er erschrickt. Wie kann er die Geliebte warnen? Als Isold erscheint, eilt er nicht wie gewohnt auf sie zu. Sie wundert sich, ahnt Gefahr, sieht ihrerseits die Schatten. Und nun improvisieren die beiden einen Dialog von so raffinierter Doppeldeutigkeit, daß Marke von ihrer Unschuld überzeugt wird: Isold macht Tristan Vorwürfe, daß er sie zu dieser Stunde in den Garten bitte, wo doch Gerüchte über sie am Hof im Umlauf seien. Dabei schwört sie bei Gott, daß sie nie einen andern Mann geliebt habe, als den, der ihr ihre Jungfräulichkeit genommen habe (vv. 14716ff.). Tristan improvisiert seinerseits; er sagt, daß er sie um ihre Hilfe bitten wolle; er habe vor, außer Landes zu gehen, aber der König möchte ihm doch zuvor wieder seine Gnade zeigen, damit es nicht heiße, er gehe, weil etwas Wahres an den Verdächtigungen sei, die umliefen. So wird Marke getäuscht. Aber das Versteck- und Intrigenspiel geht weiter, und die Liebenden geraten immer wieder in höchste Gefahr. Der Höhepunkt des Raffinements von Strategie und Gegenstrategie ist die Episode des gefälschten Gottesurteils. Isold ist, um ihre Unschuld zu beweisen, bereit, sich dem Ordal des glühenden Eisens zu unterziehen. Man fährt zu Schiff nach Carliun, wo vor den höchsten Würdenträgern des Landes das Gottesgericht stattfinden soll. Als Isold an Land gehen will, erscheint ein Pilger. Isold verlangt, daß der heilige Mann sie an Land trage. Doch als er sie absetzen will, stürzt er mit ihr. Und so kann Isold dann schwören, daß sie nie in den Armen eines Mannes gelegen habe außer in denen Markes und jenes Pilgers, der mit ihr hingefallen ist. Der Pilger aber war natürlich der verkleidete Tristan. Und nun geschieht das Unglaubliche: Gott geht auf das doppeldeutige Spiel ein; Isold trägt das glühende Eisen, ohne sich zu verbrennen. Der Kommentar Gottfrieds ist ebenso berühmt wie umstritten: ,Da wurde offenbar, daß Christus in seiner ganzen Vollkommenheit sich wie ein Ärmel nach dem Wind dreht... Er hält in Treue und Trug zu allen liebenden Herzen. Sei es ernst, sei es Spiel, er ist so, wie man ihn haben will.'15 Das ist ein unerhörter Kommentar. Darf man ihm seine Schärfe nehmen, indem man darin in erster Linie eine Kritik an der Praxis der Gottesurteile sieht, eine Kritik, wie sie gerade zu der Zeit in Straßburg laut geworden ist?16 Jedenfalls: hier wird eine Liebe propagiert, die die überkommene moralische Ordnung bis hinauf zur höchsten Instanz zum Wanken bringt. Und doch findet diese Liebe kurz danach ihre wunderbarste Verklärung: Die Situation am Hof ist unhaltbar geworden, und Marke gibt in einem Augenblick selbstloser Hellsicht die Liebenden frei. Sie begeben sich in eine verborgene Grotte, in der sie ungetrübt ihrer Liebe leben können. Es ist ein übernatürlicher Ort. Es heißt, daß Tristan und Isold keiner Nahrung bedurft hätten.17 Die Grottenrotunde mit den glatten weißen Wänden, dem grünen Boden, dem kristallenen Liebesbett und der hohen Kuppel wird dann allegorisch ausgelegt: sie bedeutet die Vollkommenheit, die 15

Vv. 15733ff.: da wart wolgoffenbaret / und al der werlt bewaret, / daz der vi! tugenthafte Crist / wintschaffen alse ein ermel ist. Vv. 15741 ff.: erst allen herzen bereit /ze durnehte undze trügeheit. / ist ez ernest, ist ez spil, /er ist ie, swie so man wil. 16 Die Literatur bei STEINHOFF 1971, S. 76f., und 1986, S. 64f. Neuerdings wieder ausweichend: WOLF 1973 [a], S. 203.

'7 Vv. 16815 ff.: si sahen beide ein ander an, / da generten si sich van; / der wuocher, den daz ouge bar, / daz was ir zweier lipnar; / sin azen niht dar inne / wan muot unde minne.

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Reinheit, die zur Vollendung emportragende Kraft der minne}9. Diese Allegorese folgt übrigens dem Muster der Auslegung des Kirchengebäudes,19 so daß gerade in diesem Höhepunkt der reflektierenden Partien sich nochmals die Frage aufdrängt, ob damit nicht doch eine Liebesreligion insinuiert wird, in der die sinnliche Lust sich zum Erlösungsakt verklärt. Aber der Aufenthalt in der Grotte bleibt eine Episode, die durch ihre demonstrative Unwirklichkeit aus dem narrativen Zusammenhang herausgehoben wird.20 Die Liebenden kehren an den Hof zurück. Es heißt, es sei ihnen in der Grotte nichts abgegangen außer einem, nämlich ir ere, also die gesellschaftliche Einbindung des Lebens.21 Die Bemerkung deutet nochmals auf den besonderen Realitätscharakter der Episode hin: die Grotte ist als Utopie eingeblendet, die epische Wirklichkeit holt die Liebenden zurück.22 Und dies, um sie nun um so rückhaltloser in den Abgrund zu stoßen. Die Katastrophe kommt mit der Entdeckung im Garten (vv. 18126ff.): Isold hält es wieder einmal nicht mehr aus. Mitten am Tag läßt sie ein Bett im umfriedeten Garten herrichten; dann bittet sie den Geliebten zu sich. Eng umschlungen werden sie von Marke überrascht. Tristan flieht. Der Kommentar des Dichters dazu nimmt jene Konnotationen wieder auf, die seinerzeit dem Liebestrank die Tiefenperspektive gegeben haben. Isold wird als zweite Eva apostrophiert, die der Verlockung nicht widerstehen kann, was den Sündenfall, den Tod zur Folge hat. Der Riß in dieser Liebeskonzeption ist unübersehbar und irritierend. Wie kann man als Literarhistoriker damit fertig werden? Die eine Gruppe der Interpreten hat versucht, ihn zu verwischen, ja ihn wegzudeuten. Man hat gesagt, die Betrügereien, der Ehebruch, die Verbrechen: all das sei ohne Gewicht. Es gehe hier um eine absolut gesetzte Liebe, der gegenüber die böse, kleinliche Welt nichts anderes verdiene, als düpiert und verachtet zu werden. So kommt man zu einer Schwarz-Weiß-Sicht, die den Roman in die Nähe der Legende rückt: ein weltliches Martyrium, Tristan und Isold als Minneheilige.23 Oder aber man entscheidet sich für die Gegenmöglichkeit: Man löst die Theorie der vollkommenen minne von der epischen Handlung ab und versteht diese dann als Negativexempel zu jener. Damit steht man wieder auf dem Boden von Weber, beim Gegensatz zwischen himmlisch-vollkommener und fleischlich-verwerflicher Liebe. 18

Die Literatur zur Minnegrotte bei STEINHOFF 1971, S. 111., und 1986, S. 65ff. Siehe insbes. die vorzügliche Analyse von WOLF 1973 [a], S. 210ff. 19 In einer berühmt gewordenen Studie hat Friedrich Ranke die Allegorese der Minnegrotte mit dem allegorischen Kirchengebäude in Zusammenhang gebracht: F. RANKE 1925/1971/1973. Herbert Kolb hat gegen Ranke eingewendet, daß Gottfried sich wohl eher von französischen Minnegebäude-Allegoresen habe anregen lassen (KOLB 1962). Das ist denkbar; es muß aber trotzdem davon ausgegangen werden, daß Gottfrieds Publikum nicht diese ihm schwerlich bekannten Quellen, sondern das allegorische Kirchengebäude assoziierte, und so dürfte denn auch Gottfried diesen Bezug einkalkuliert haben. Zur großen Fülle denkbarer Konnotationen siehe ERNST 1976, S. 18ff. 20

HAUG 1977, S. 181f. [= Strukturen, S. 110-125, hier S. 123f.]. 21 Die kritischen Verse (16875ff.) lauten: sin haten umbe ein bezzer leben /niht eine bonegegeben / wan eine umbe ir ere (Für ein besseres Leben hätten sie ganz und gar nichts gegeben - für ein Leben in gesellschaftlicher Achtung jedoch sehr wohl etwas). 22 HAUG 1986 [a], S. 43ff. [= Strukturen, S. 600-611, hier S. 602ff.]. 23 So: DE BOOR 1940/1964/1973.

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Die legendarische Schwarz-Weiß-Lösung wird in ihrer verkürzenden Simplizität schwerlich zu überzeugen vermögen. Demgegenüber kann die Idee der zwei kontrastiven Formen von Liebe sich immerhin auf eine lange abendländische Tradition stützen, auf die schon antike Vorstellung von zwei Veneres, die dann vom Christentum übernommen und mit der Sündenfallvorstellung verbunden worden ist.24 Das heißt, es ist im Mittelalter mit der Idee der duae Veneres nicht etwa der Gegensatz zwischen Caritas und amor gemeint, sondern der Doppelaspekt der irdischen Liebe, die Zwiespältigkeit der Amorliebe. Einerseits gilt, daß die irdische Liebe durch die Ehe geheiligt ist, ja, sie ist ursprünglich gut, denn sie prägte schon die paradiesische Gemeinschaft Adams und Evas vor dem Fall; sie gehört als Naturkraft in den Zusammenhang der göttlich-kosmischen Ordnung, und sie ist als solche analogisch in der Gottesliebe aufgehoben. Anderseits kann diese natürliche Liebe jedoch pervertiert werden, in bloße sinnliche Lust absinken, zu hemmungsloser Promiskuität führen und damit den Menschen moralisch zugrunde richten.25 Die Vorstellung vom Doppelaspekt der irdischen Liebe ist auch nachantik breit bezeugt; die Traditionslinie führt von Fulgentius, Remigius, Johannes Scotus Eriugena und dem dritten vatikanischen Mythographen ins Hochmittelalter zu Bernardus Silvestris und Alanus von Lille; das Konzept findet schließlich bei Thomas seine klassische Formulierung.26 Diese Auffassung der irdischen Liebe, die geheiligt, aber auch aus der Ordnung fallen und zerstörerisch werden kann, basiert, wie angedeutet, auf einer durch das Analogieprinzip geprägten Ontologie. In dem Maße, in dem man vom 12. Jahrhundert an begann, dieses Prinzip in Frage zu stellen, im selben Maße mußte man auch die Möglichkeit einer positiven irdischen Liebe in Zweifel ziehen. Man konnte sich dabei auf ein Gegenkonzept stützen, auf das Konzept einer Liebe, die sich gerade im Überschreiten alles Irdischen realisierte. Dieser letztlich paulinische Gedanke findet sich bei Dionysius Areopagita; er taucht dann auf bei Abailard, bei Wilhelm von St. Thierry, bei Richard von St. Viktor und später in der Liebesmystik des Franziskus und der Franziskaner.27 Es standen also im Hochmittelalter zwei erotische Konzepte als konträre Denkmuster zur Verfügung: auf der einen Seite das Konzept von der Doppelseitigkeit der irdischen Liebe, wobei sie unter ihrem positiven Aspekt analogisch in die Gottesliebe einbezogen war, und auf der andern Seite die absolut gesetzte Gottesliebe, die als Durchbruch in die Unio alle irdischen Formen der Liebe radikal durchkreuzte. Läßt sich die Liebe, wie sie sich im >Tristan< darstellt, vor dem Hintergrund dieser theologisch-philosophischen Konzepte verstehen? Hat Gottfried in dieser Kontroverse Stellung bezogen? Ja, gibt es vielleicht sogar konkrete Zusammenhänge? Es war vor allem ein Autor, dessen unmittelbaren oder wenigstens mittelbaren Einfluß auf Gottfried man glaubte nachweisen zu können: Alanus von Lille. Der letzte, souveräne Versuch eines Brückenschlags stammt von Christoph Huber.28

Siehe die Belege bei ECONOMOU 1975. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Dazu grundlegend: ROUSSELOT 1908. - Vgl. auch den Versuch einer Weiterentwicklung dieses Ansatzes durch ALSZEGHY 1946. HUBER 1988. Die ältere Literatur zum Verhältnis zwischen Gottfried und Alan, ebd., S. 79f. 177

Die Argumentation lief auf mehreren Ebenen. Stilistisch-rhetorische Parallelen wurden ebenso herangezogen wie Einzelideen, etwa das Konzept des homo novus aus dem >AnticlaudianPlanctus NaturaePlanctus< bekanntlich um eine kosmologische Allegorie als narratives Integumentum eines philosophischen Entwurfs.30 Natura fungiert als Vertreterin Gottes auf Erden; sie hat dann ihrerseits eine Gehilfin eingestellt: Venus. Zunächst folgt diese den ihr gegebenen Vorschriften und dient so der kosmisch-göttlichen Ordnung. Aber mit der Zeit beginnt sie, sich Ausschweifungen hinzugeben. Sie verläßt ihren Gatten Hymenaeus und treibt Ehebruch mit Antigenius oder Antigamus. So verkommt die Liebe. Die grassierende Homosexualität, Ausdruck der totalen Perversion, zieht alle übrigen Laster nach sich. In dieser Situation steigt nun Natura vom Himmel herab, wohin sie sich zurückgezogen hatte. Sie macht Ordnung, sie ruft die Tugenden zurück, die Laster werden exkommuniziert. Dies mit Hilfe von Genius, der die menschliche Natur verkörpert.31 - Die ganze Handlung wird in der Form einer Traumvision dargeboten. Nach dem Exkommunikationsakt wacht der Dichter auf. Das Eigenartige dieser Allegorie besteht darin, daß hier nicht zwei Veneres gegeneinander stehen, daß vielmehr die zwei Seiten der Liebe an einer Figur dargestellt werden: Venus geht durch einen Prozeß hindurch, der Fall in die Lasterhaftigkeit wird am Ende durch eine Restitutio der moralischen Ordnung aufgehoben.32 Christoph Huber hat nun die Ansicht vertreten, daß Gottfried in seinem Roman nichts anderes getan habe, als die kosmologische Allegorie Alans anthropologisch umzuformulieren.33 Die Sündenfallmetaphorik stelle die Liebe Tristans und Isolds in ein dem >Planctus< entsprechendes Denkmodell, wobei der Absturz sich auch im Zusammenhang des Romans als Ehebruch realisiere. Ist dies richtig, so bleibt freilich die Frage nach der Restitutio des paradiesischen Ursprungs in Gottfrieds Werk. Als Schlüsselstelle, die zur Beantwortung dieser Frage heranzuziehen ist, hat der sog. huo?e-Exkurs zu gelten (vv. 17858ff.). Er steht unmittelbar vor der Entdeckungsszene im Garten. Gottfried fragt hier, ob es sinnvoll sei, die Treue einer Frau zu überwachen. Er lehnt eine solche huote ab. Er argumentiert, gerade das Verbot verlocke zur Übertretung. Wenn man Eva die Früchte des einen Baums nicht verboten hätte, wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, danach zu verlangen. Das Verbot wird zur Ursache der Sünde. Man sollte darin nicht nur eine aphoristische Pointe sehen. Es geht um einen 29

BOSSUAT 1955, HÄRING 1978. Übersetzungen: SHERIDAN 1973 und 1980. Bei James J. Sheridan

jeweils auch Bibliographien, S. 230ff. bzw. S. 237ff. 30 Zum Begriff des Integumentum siehe insbes. Ch. MEIER 1976, S. 9ff.; BRINKMANN 1980, S. 169ff. 31 Zur Figur des Genius und ihrer Deutung: R. H. GREEN 1956, S. 672; vgl. auch ECONOMOU 1970, S. 204ff. George D. Economou betont die Nähe von Genius und Natura: Genius sei jener Aspekt der Natura, der pervertiert worden sei. Das kann nur die menschliche Natur sein, aber Economou vermeidet es, dies explizit zu sagen. 32 Man kann selbstverständlich sagen, diese Vorstellung einer sich wandelnden Venus sei durch die Umsetzung der zwei Formen der Liebe in einen epischen Ablauf bedingt. Aber die Wandlung nicht des Menschen im Spielfeld zwischen personifizierten Kräften, sondern einer dieser Kräfte selbst ist ungewöhnlich. 33 HUBER 1988, S. 117ff.: „Gottfried beschreibt also gegenüber dem platonistisch-kosmologischen Dekadenzmodell des Alanus ein anthropologisches, das sich aus personalen und soziologischen Kategorien aufbaut, die dem höfischen Minnewesen entlehnt sind" (S. 119).

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psychischen Mechanismus der menschlichen und hier insbesondere der weiblichen Natur: Schranken fordern dazu heraus, daß man sie überschreitet. Darin liegt eine Gefährdung der Ordnung, und das macht es notwendig, gegen diese Naturanlage anzugehen. Wenn dies einer Frau gelingt, wenn sie also ihre wipheit ablegt, so gewinnt sie damit gewissermaßen einen männlichen Charakter. Das ist ein Topos, der eine weit zurückreichende lateinische Tradition besitzt.34 Aber eine solche Vermännlichung der Frau ist für Gottfried nicht die eigentliche Lösung. In einem nächsten Schritt soll vielmehr die moralische Überwindung der wipheit zugunsten eines Status zurückgelassen werden, in dem beidem sein Recht zukommt: dem lip und der ere, der Sinnlichkeit und der Gesellschaftsordnung. Damit geht Gottfried, wie Huber zu Recht bemerkt, entscheidend über Alans ratio-sensualitas-Hierarchie als Lösung hinaus.35 Der Terminus für diese Aufhebung des Konflikts heißt maze (vv. 18010ff.). maze meint an dieser Stelle somit nicht die Zügelung der Sinnlichkeit durch moderatio, sondern eine Balance des Unvereinbaren jenseits des Zwiespalts, konkret: die Wiedergewinnung des im Sündenfall verlorenen integren Selbsts im Verein mit der Rehabilitierung der gesellschaftlichen Ordnung. Daß diese Idee einer Balance utopischen Charakter besitzt, zeigt die Paradiesmetaphorik, die Gottfried dabei heranzieht: eine Frau, die diesen Status erreicht hat, ist für den Mann ein lebendez paradis (v. 18066), ein Paradies, in dem es keine Dornen und Disteln gibt, sondern nur Rosen, und wo es keine Früchte gibt außer Treue und Liebe.36 Diese neue, differenzierte Deutung des ÄHote-Exkurses ist überzeugend, und überzeugend ist auch die damit sichtbar werdende Nähe und Distanz zum Alanschen Modell. Doch es bleibt die Grundfrage, wie diese Idee einer Restitutio als personale Utopie mit der Romanhandlung in Einklang zu bringen ist. Unmittelbar auf den huore-Exkurs folgt ja erneut ein 'Sündenfair, die Entdeckung in flagranti, Tristans Flucht, darauf seine problematische Heirat mit der zweiten Isold. Hier bricht dann das Werk zwar ab, aber wir kennen das Ende, auf das die Handlung zusteuert, aus Gottfrieds Quelle, aus dem Fragment des Thomas, das die fehlende zweite Hälfte abdeckt37: Tristan ist bei einem waghalsigen Unternehmen auf den Tod verwundet worden, es ist eine Giftwunde, die nur die irische Isold heilen könnte. Er schickt eine Botschaft an sie. Das Schiff solle weiße Segel setzen, wenn Isold komme, schwarze, wenn sie sich versage. Weiß taucht das Schiff am Horizont auf, aber Tristans Frau lügt den Todkranken an, sie sagt, die Segel seien schwarz. So stirbt er, bevor die Geliebte das Ufer erreicht. Als sie dann - zu spät - kommt, legt sie sich zu dem Toten, und auch ihr Herz bricht. Gewiß, wir können nicht sagen, wie Gottfried diese Szenen gestaltet hätte, aber man kann sich schwer vorstellen, daß er daraus einen Schluß im Sinne des RestitutioModells hätte machen können, wie Huber dies aufgrund des Awo/e-Exkurses postuliert.38 Dem widerspricht nicht nur die Quelle, sondern dem stehen auch die VorausEbd., S. 122. Ebd., S. 124. Ebd., S. 125, im Anschluß an TOMASEK 1985, S. 193f. WIND 1960, BONATH 1985.

HUBER 1988, S. 126ff.: „Wie er [Gottfried] das Ende seines Romans im einzelnen ausgedeutet hätte, wissen wir nicht; daß er eine Lösung nach dem restitutio-Modell plante, können wir nach dem Exkurs mit gutem Grund annehmen" (S. 130).

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deutungen auf das fatale Ende in Gottfrieds Text selbst entgegen. Damit bleibt auch der huote-Exkurs wiederum ein utopisches Gedankenspiel, wie ja schon die Minnegrotte als eine quer zur Erzählung stehende utopische Vision aufzufassen war. Anders als in Alans kosmologischer Allegorie kann sich also hier die Utopie in der epischen Handlung nicht erfüllen. Die Differenzen gegenüber Alan sind damit noch gravierender, als Huber sie sieht. Was immer Gottfried Alan verdanken mag, der Tristanroman ist keine anthropologische Umsetzung des Restitutio-Modells. Es gibt keinen Weg, der die Liebenden über Abstieg und Aufstieg zur Wiederherstellung eines paradiesischen Status führen würde. Tristan und Isold bleiben von der Minnetrankszene bis zum Fragmentschluß dieselben, sie werden nur kühner in ihren Wagnissen und raffinierter in ihrer Betrugskunst. Die kritischen Situationen verschärfen sich, und nach dem großen Eklat und der Trennung werden die Liebenden noch abenteuerlichere Bravourstücke vollbringen müssen, um sich von Zeit zu Zeit in den Armen liegen zu können. Das aber heißt: der Sündenfall ist nicht ein Stadium auf einem Lebensweg, sondern er ist als Situation durchgängig präsent. Doch man muß zugleich sagen, daß auch die Utopie der Versöhnung kontinuierlich bewußt gehalten wird. Je mehr man geneigt ist anzunehmen, daß Gottfried Alans >Planctus< gekannt hat, um so erstaunlicher ist dieser Befund. Gottfried scheint sich geradezu programmatisch vom Alanschen Analogiemodell und seiner Episierung in einer kosmologischen Allegorie abgesetzt zu haben. Auf welcher Basis war ihm dies möglich? Könnte er dabei vom Gegenkonzept, von der Idee der ekstatischen Liebe, inspiriert worden sein? Dieses Gegenkonzept hat, wie gesagt, an Bedeutung im Zusammenhang jener Krise gewönnen, in die das Analogiemodell insbesondere vom 12. Jahrhundert an geraten ist. Diese Krise erwuchs aus dem Bewußtsein von der gegenüber der ontologischen Ähnlichkeit je größeren Differenz.39 Die schärfere Akzentuierung der Differenz hatte zur Folge, daß die Möglichkeit eines Weges vom Irdischen zum Göttlichen prinzipiell in Frage gestellt wurde. Wenn der Abstand, wie weit man auch auf diesem Weg vorankommen mag, je und je größer bleibt, dann gibt es keine Hoffnung, Gott aus eigener Kraft zu erreichen. Das platonische Aufstiegsmodell bricht zusammen, d. h., der letzte Schritt zur Deificatio, der auch in diesem Modell natürlich immer der kritische Punkt war, der Punkt, an dem man auf Gottes Gnade vertrauen mußte - man vergleiche den letzten Abschnitt des Ascensus im >Anticlaudianus< -, dieser letzte Schritt sieht sich nun vor einer so radikalen Kluft, daß der Weg bis dahin bedeutungslos zu werden droht. Die Betonung liegt nun jedenfalls auf dem gnadenhaft-ekstatischen Sprung. Und die neue Mystik wird dann folgerichtig den Aufstieg zum Abstieg umformulieren, sie wird Gott über den Weg in die Gottferne zu erreichen suchen, um auf diese Weise der radikalen Differenz Rechnung zu tragen und der Illusion des Analogiedenkens zu entgehen.40

Das Laterankonzil von 1215 wird dies dann auf die klassische Analogieformel bringen: inter Creatorem et creaturam non polest tanta similitudo notari, quin inter eos maiorsit dissimilitudo notanda (DENZINGER/SCHÖNMETZER 1955, S. 432).

Vgl. dazu HAUG 1983, insbes. S. 26ff. [in diesem Band, S. 579-591, insbes. S. 580ff.], 1989 [f], insbes. S. 216ff. [in diesem Band, S. 606-616, insbes. S. 606ff.J, und 1992 [b], S. 93ff. [in diesem Band, S. 501-530, insbes. S. 517ff.].

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In diesem historischen Zusammenhang also gewinnt jenes zweite Konzept der Liebe, die ekstatische Liebe, eine besondere Bedeutung. Es ist dies die Form, in der man nun - statt nach dem analogischen Konzept die irdische Liebe ins Göttliche zu heben die radikale Differenz überspringt. Nun hat man bekanntlich den Gottfriedschen Tristanroman immer wieder vor dem Hintergrund der neuen Mystik zu verstehen versucht.41 Wenn das erotische Spiel zwischen Braut und Bräutigam im Hohen Lied zum Bild für die Begegnung und Vereinigung von Gott und der menschlichen Seele werden konnte, mußte es dann nicht naheliegen, diese allegoretische Liebesmystik zu anthropologisieren und die geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau als Mysterium zu begreifen, in dem alle irdischen Bedingtheiten übersprungen und die vollkommene Harmonie von Ich, Du und Welt erreicht werden konnten: die Einheit von lip und ere in der minnel Doch damit gerät man wieder in die Nähe einer einsinnig utopischen Deutung, die die zerstörerischen, tödlichen Züge unterschlägt, denn sowenig es im >Tristan< einen analogischen Prozeß gibt, in den diese negativen Züge sich integrieren ließen, ebensowenig vermag das Gegenmodell einen sinnvollen Ort für sie anzubieten. So scheint sich denn weder von einer Philosophie der Analogie noch von einer Philosophie der Differenz her ein interpretatorischer Zugang zum >Tristan< zu öffnen. Man sieht sich damit wieder auf das Werk selbst zurückverwiesen und wird heilsam daran erinnert, daß eine Dichtung nicht eine philosophiegeschichtliche, sondern eine literarhistorische Interpretation verlangt, eine Interpretation also mit Rücksicht darauf, daß die Literatur ein Medium eigener Art und mit eigener Geschichte darstellt und als solches mit den ihm gegebenen Mitteln und Möglichkeiten auf übergreifende Konstellationen antwortet, damit produktiv in die Diskussion eingreift und autonome Lösungen durchspielt. Ich behaupte deshalb, daß die zwei großen vulgärsprachlichen epischen Entwürfe des 12. Jahrhunderts, der Artusroman und der >TristanPlanctusTristan< dar.44 Der >Tristan< beruht ja, anders als der Artusroman, nicht auf einem frei gesetzten strukturellen Entwurf, sondern er ist über eine Kombination von disparaten Stoffkomplexen Stufe um Stufe herangewachsen. Was hier erzählt wird, kann seinen Sinn also nicht mit Hilfe eines strukturellen Konzepts realisieren. Der Stoff eignete sich damit vorzüglich, um das arthurische Modell prinzipiell in Frage zu stellen. Zugleich aber - und das ist das Faszinierende - ist man dabei in den aktuellen Stand der narrativen Analogiediskussion eingetreten: die hochhöfische Fassung des >Tristan< setzt die Position des Artusromans voraus, d. h., der >Tristan< versucht, dessen Position ohne Vgl. HAUG 1989 [g] [in diesem Band, S. 251-264], Die nachstehenden Überlegungen sind in HAUG 1990 [c] [in diesem Band, S. 184-196] breiter entwickelt. 182

alle strukturellen Hilfskonstruktionen narrativ durchzudenken. So erscheinen denn hier wiederum die charakteristischen Komponenten des antianalogischen Konzepts: das Eintreten in die negative Sphäre als Bedingung der Verwirklichung des Positiven, die Preisgabe der Ordnung als Bewegung auf ihre Wiederherstellung hin, die utopische Vision als immer neuer Übergang. Aber da keine Struktur zur Verfügung stand, über die man diese Komponenten hätte ausfalten können, blieb nichts, als sie gleichzeitig in jeden einzelnen Akt, in jede einzelne Episode zu legen. So entstand die paradoxe Situation, die den Interpreten so viel Kopfzerbrechen machte, die Situation, daß jeder Moment zugleich in höchstem Maße negativ und positiv erscheint. Bei all dem kam nun der Liebe eine besondere Funktion zu: sie wurde als jene Kraft begriffen, die ihrem Wesen nach Oppositionen überwand, damit Ordnungen brach, um im Durchgang durch die Zerstörung ihr Ziel zu erreichen. Die Liebe wurde in diesem strukturfreien Konzept zum Prinzip des antianalogischen Denkens. Weil es hier also keinen Weg, keinen linear projektierten Prozeß mehr gab, mußte man jedem Akt der Negation zugleich die Utopie der Versöhnung einschreiben. Alles in dieser Welt wurde damit zweideutig. Auch das Höchste, sofern es ins Diesseits hineinwirkte, verfiel dieser Zweideutigkeit - so: Christus im gefälschten Gottesurteil, in dem man damit die kühnste Provokation des Analogiemodells zu sehen hat. Dieses unauflösbare Ineinander von Gut und Böse, von Wahrheit und Lüge, von Glück und Verzweiflung trug seinem Konzept nach auch keine Möglichkeit einer Entwicklung in sich, es konnte nur variiert und gesteigert werden, gesteigert bis zur absolut negativen Position, bis zur Selbstzerstörung, bis zum Tod, eine Position, die dann - jedenfalls in diesem Leben auch durch keine Utopie mehr einzuholen war. So trägt das Negative am Ende den Sieg davon. Das ist der Preis, den man für eine Lösung bezahlt, bei der das Positive, als immer neuer Übergang begriffen, mit absoluter Konsequenz je und je durch den negativen Augenblick hindurchgeführt wird. Man kann nur mit Gottfrieds Prolog sagen, die Erzählung, der Roman von Tristan und Isold, halte die Utopie auch über das Ende hinaus lebendig. Das ist also noch nicht ein Denken aus der absoluten Differenz heraus. Ein solches Denken ist auch narrativ kaum umzusetzen. Mechthild von Magdeburg wird es zwar versuchen in ihrem Abstieg in die radikale Gottesferne. Doch es sollte den großen dominikanischen Mystikern um und nach 1300 vorbehalten bleiben, das Problem nun freilich nicht mehr narrativ, sondern spekulativ zu bewältigen.

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Der >Tristan< - eine interarthurische Lektüre

Am Beginn der Geschichte des hochhöfisch-mittelalterlichen Romans stehen sich zwei Typen, oder genauer: ein Typus und ein Einzelwerk gegenüber, die fast in jeder Hinsicht verschieden sind: der arthurische Roman und der >Tristan< - verschieden in Hinblick auf die Entstehung, verschieden in ihrer Bauform, in ihren thematischen Konzepten und auch in ihrer Wirkungsgeschichte. Was 1. die Entstehung betrifft, so ist der Artusroman bekanntlich von Chretien de Troyes frei entworfen worden. Wenn er sich auf Stofftraditionen - etwa mündliche bretonische Überlieferungen - stützte, dann dienten sie ihm lediglich als Motivfundus. Grundlegend für den Typus wurde somit das neue, fiktionale Strukturmuster, das Chretien mit seinem arthurischen Erstling, dem >ErecTristan< fehlt, wie gesagt, ein solches frei gesetztes strukturelles Konzept. Wir fassen stattdessen einen stofflichen Kern, an den sich Motivkomplexe unterschiedlicher Art und Herkunft angelagert haben. Man kann die durch dieses additiv-kombinatorische Verfahren entstandene Handlung wieder in ihre Bestandteile aufzulösen versuchen und dann in eine Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte eintreten. Die ältere Forschung vor allem hat dies in immer neuen Bemühungen und mit wechselnden Ergebnissen getan.5 Besonders eindrucksvoll war die Entstehungshypothese, die Gertrude Schoepperle vorgelegt hat.6 Den stofflichen Kern bilden ihrer Ansicht nach zwei keltische Sagen, eine Fluchtsage - in altirischer Terminologie aithed - und eine Jenseitsfahrt - imram. Das Thema der aitheda ist die Liebe einer Königin zu einem jungen Verwandten ihres Mannes. Sie zwingt ihn, mit ihr zu fliehen; sie werden verfolgt und schließlich getötet. Der imram handelt von der Fahrt eines kranken, verwundeten Helden in ein jenseitiges Land, wo eine wunderbare Frau ihn heilt. Als Klammer zwischen den beiden Komplexen hat sich eine Brautwerbungssage angeboten, über die man die jenseitige Heilerin des Typus imram mit der Ehebrecherin des aithed-Typs identifizierte. Dieses Modell der Stoffgenese besitzt große Überzeugungskraft, wenngleich man sich die kombinatorischen Schritte auch anders denken kann. Man vergleiche z. B. das in entscheidenden Punkten abweichende Entwicklungsmodell von Rachel Bromwich.7 Aber wie immer man die Vorgeschichte im einzelnen rekonstruieren mag, im Prinzip gilt, daß man es mit einer stufenweisen Addition und Verzahnung von gängigen, d. h. auch anderweitig faßbaren Motivkomplexen zu tun hat. 3. Zu den thematischen Konzepten: Die Frage nach dem thematischen Konzept des Artusromans ist identisch mit der Frage, was die ihm zugrunde liegende Struktur leisten soll und kann. Die Antwort auf diese Frage hängt daran, ob man zu durchschauen vermag, in welchem Verhältnis die Aventürenhandlung zur Idealität des arthurischen Hofes steht.8 Es geht offensichtlich darum, daß der Weg des arthurischen Helden immer neu die höfische Idealität restituiert; der Hof erscheint immer dann, wenn ein Aventürenweg bewältigt ist, als festliche Gesellschaft, in der alle Kräfte sich in einer spielerischen Balance befinden. Der Entwurf der Doppelwegstruktur ist somit die Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen das arthurische Fest als Bild eines idealen gesellschaftlichen Status denkbar ist. Die narrativ-konkrete Antwort lautet: Dieser Status kann nur dadurch erreicht werden, daß ein Vertreter des Hofes auszieht, sich in eine Welt hineinbegibt, die dem, was die höfische Idealität ausmacht, diametral entgegensteht, und sich den Mächten dieser Gegenwelt, der Begierde, der Gewalt, dem Tod, stellt. Indem der Held durch diese Negation der arthurischen Idealität hindurchgeht, die Gegenmächte teils besiegt, teils sich ihnen überantwortet, wird die provozierte höfische Balance erneuert, dies jedoch immer nur als zeitlich begrenzte Möglichkeit, dargestellt eben im Sonderstatus des Festes. So kann man sagen, die arthurische Idealität erscheine als eine utopische Vision aus jener Bewegung heraus, die ihre Negation durchgestanden hat. 5

Die Literatur zur Stoffgeschichte: STEINHOFF 1971, S. 87ff„ und 1986, S. 78ff.

"SCHOEPPERLE LOOMIS 1913/1970. 7 BROMWICH 1953. 8

Zum Folgenden: HAUG 1989 [c], S. 157-159, S. 162f. [in diesem Band, S. 312-331, hier S. 312314, S. 317],

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Da der >Tristan< sich nicht einem solchen sinnstiftenden strukturellen Entwurf verdankt, hängt das thematische Konzept hier an der Frage, wie die Dichter der verschiedenen Entwicklungsstufen den überkommenen Stoff interpretiert haben, denn der stoffliche Umwandlungsprozeß war zugleich ein Interpretationsprozeß. Konkret formuliert lautet hier also die Frage: Wie verstehen und beurteilen die Dichter auf den einzelnen Stufen den Weg Tristans, auf dem er vom loyalen Helfer seines Onkels zum Ehebrecher wird? Ich erinnere zur Illustration nur an den Paradefall für diese wechselnde Sicht, an die entscheidende Umdeutung des Liebestranks und damit der Liebe im Übergang von der vorhöfischen zur höfischen Fassung: vorhöfisch ist der Trank ein magischer Zauber, dem die Liebenden gegen ihren Willen verfallen, dem sie also im Grunde schuldlos ausgeliefert sind. Bei Gottfried hingegen bejaht Tristan die durch den Trank ausgelöste Liebe, so daß man sich fragen konnte, inwieweit das magische Mittel hier nicht zu einem bloßen poetischen Symbol für die Unbedingtheit der Liebe geworden ist.9 Es steht beim >Tristan< also nicht wie im Artusroman ein Problem am Anfang, für das man über einen fiktionalen strukturellen Entwurf narrativ-experimentell eine Lösung suchen würde, der Ausgangspunkt ist vielmehr eine stofflich vorgegebene Konstellation, die stufenweise zu einer Gestaltung herausforderte, über die sie deutbar und verständlich werden konnte. 4. Zur differierenden Wirkungsgeschichte: Da die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit höfischer Idealität über einen Strukturentwurf läuft, kann die Diskussion dieser Antwort im selben strukturellen Rahmen weitergeführt werden. Konkret: Mit dem Artusroman ist ein Typus geschaffen, der produktiv wird und es so lange bleibt, als die Ausgangsfrage virulent ist. Man spielt den gegebenen Rahmen aus - schon Chretien hat, wie gesagt, damit begonnen -, man wandelt die strukturellen Bedingungen ab, man problematisiert Chretiens Lösung oder man simplifiziert sie, man unterläuft die Problematik, oder man bricht das Muster auf. Es gibt deshalb eine über Jahrhunderte laufende Geschichte des Typus.10 Der >Tristan< konnte kein Typus werden, er war in diesem Sinne also nicht produktiv. Es bleibt bei dem einen identischen Stoff, der immer wieder umgestaltet und neu interpretiert wird. Es kommt höchstens zu Kontrafakturen, und es gibt hybride Kombinationen mit der arthurischen Tradition. Doch das sind Sonderfälle, die in diesem Zusammenhang beiseite bleiben dürfen." Nun haben der Artusroman und der >Tristan< jedoch im selben literarhistorischen Raum existiert, ja, wenn Chretien zunächst für den englischen Hof gearbeitet haben sollte,12 sind der >Erec< und der Roman des Thomas möglicherweise nebeneinander für den selben Rezipientenkreis geschrieben worden. Daß die in so vieler Hinsicht radikale Andersartigkeit des >Tristan< für den Schöpfer des Artusromans provozierend sein mußte, hat man längst gesehen. Konnte es für die Chretiensche Idee, daß die höfische * Vgl. zu diesem Problem: HAUG 1972, S. 114ff. [- Strukturen, S. 557-582, hier S. 575ff.]. '"Siehe dazu: HAUG 1980 [b] [= Strukturen, S. 651-671] und, weiter ausholend, 1991 [d] [in diesem Band, S. 265-287]. " Der Paradefall einer Kontrafaktur ist Rudolfs von Ems >Willehalm von OrlensReinfrid von Braunschweig< verstanden werden; siehe HAUG 1990 [a] [in diesem Band, S. 301-311]. 12

SCHMOLKE-HASSELMANN 1980, S. 190ff.

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Idealität im immer neuen Durchgang durch ihre Negation zu realisieren ist, eine größere Herausforderung geben als einen Roman, in dem der höfische Held in den Ehebruch hineingetrieben wird und damit einen Konflikt heraufbeschwört, der sowohl die Idealität des Hofes untergräbt wie auch die Liebenden am Ende an ihrer Liebe zugrunde gehen läßt? So hat denn Chretien deutlich und mehrfach auf den >Tristan< reagiert, ja, man meinte erkennen zu können, daß das Thema für ihn geradezu zu einer Obsession geworden sei: Er hat mit dem >Cliges< einen Antitristan geschrieben; der >Lancelot< ist offenkundig als eine Replik auf das Tristanthema gedacht, und auch der >Yvain< stellt nochmals eine souveräne Auseinandersetzung mit ihm dar.13 Wenn diese Beobachtungen aber richtig sind, so drängt dies zur Vermutung, daß sich im Gegenüber von Artusroman und >Tristan< ein Konflikt manifestieren könnte, der weit über eine bloß literarische Konstellation hinausgeht. Ja, es fragt sich, ob hier nicht geradezu konträre Welten aufeinanderstoßen. In einer solchen Perspektive hat insbesondere Erich Köhler die Opposition von Artusroman und >Tristan< gesehen.14 Dabei ging er von der Liebesideologie aus, wie sie im 12. Jahrhundert auf der einen Seite von den Trobadors lyrisch und anderseits in Nordfrankreich episch formuliert worden ist. Die Liebe werde hier wie dort als Ordnungsmacht begriffen, als eine Kraft, die über die Beherrschung der Sinnlichkeit Trieb und Vernunft zur Harmonie bringen sollte. Dabei werde im Süden das Anarchische der Erotik durch die Idee der Unerreichbarkeit der besungenen Dame gebändigt, im Norden hingegen werde die erotische Triebkraft in eine Romanhandlung umgesetzt, die den Helden über einen Prüfungs- und Bildungsweg in die Ehe hineinführe, so daß der Eros gesellschaftlich integriert werde. So sei insbesondere der >Erec< als Thesenroman zur Rehabilitierung der Ehe geschrieben worden, wobei zugleich die Gefährdung der gesellschaftlichen Harmonie durch die Eheliebe im 'Verliegen' Erecs mit dargestellt worden sei. Der >Tristan< nun habe dieses arthurische Konzept radikal in Frage gestellt, und zwar in dem Augenblick, in dem die Liebe nicht mehr wie auf der Frühstufe als Zwang, als folie, erschien und sich damit selbst verurteilte, sondern als Thomas sie in seiner Neufassung absolut setzte und damit den Rechtsanspruch auf individuelle Liebeserfüllung gegen die Gesellschaftsordnung propagierte. Das aber bedeutete, daß das höfische Weltbild mit seiner Idee der Integration von Individuum und Gesellschaft, ja daß die mittelalterlich-feudale Weltordnung überhaupt herausgefordert war.15 Chretien habe entsprechend vehement gegen diesen Angriff Stellung bezogen. Er habe im >Cliges< die Tristanhandlung so abgewandelt, daß es dem Liebespaar gelingen konnte, der Fatalität des Eros, die dem 13

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Zu Chretiens Reaktion auf den >TristanCliges< aggressiv gegen den >Tristan< wendet, und er vermutet wohl zu Recht, daß das auslösende Moment für die neue Einstellung die Bekanntschaft mit der höfischen Version des Thomas war. Vgl. auch H. WEBER 1976. KÖHLER 1970, S. 157ff.

Zwei Zitate, die Köhlers Position prägnant dokumentieren: „Für die höfische Welt war Tristans Handlungsweise Verrat am ritterlichen Ideal, während im >Tristan< die Gesellschaft sich erstmals eindeutig als menschenfeindliche Institution darstellt und das Recht des individuellen Glücksanspruchs, seine Wahrheit, sich nur in ihrem letzten Triumph noch im Tode selbst bezeugt" (ebd., S. 157). „Mit der Absage des Individuums an die höfische Gesellschaft ist die Absage an den herrschenden Vernunft- und Maßbegriff und damit im Prinzip auch schon an die mittelalterlich-feudale Gesellschaftsordnung schlechthin verbunden" (ebd., S. 159).

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Roman des Thomas innewohnte, auszuweichen. Ob Chretien dann mehr oder weniger gezwungen den Lancelotstoff aufgegriffen hat - es komme jedenfalls auch hier nicht zum tragischen Konflikt, und im >Yvain< habe er die Gefahr, die von der absoluten erotischen Forderung ausging und die er in der Willkür Laudines narrativ zum Ausdruck brachte, mit einer Listhandlung kunstreich überspielt. Aber hinter all diesen Versuchen, den Angriff abzuwehren, werde doch schon sichtbar, daß die ritterliche Ideologie brüchig geworden sei. Es blieb schließlich nur noch der Ausweg in die religiöse Rückbindung, jener Schritt, den Chretien mit dem >Perceval< getan hat und der dann zum Prosalancelot weiterführte. Köhler sieht also das Gegeneinander von Artusroman und >Tristan< als Spiegelung eines epochalen Konflikts um die feudal-höfische Gesellschaftsform. Der Artusroman steht für die integrative Kraft der ritterlichen Kultur im Rahmen eines feudalen Weltkonzepts, der >Tristan< für den aufkommenden, dagegen opponierenden Anspruch des Individuums. Die Literaturgeschichte wird auf diese Weise zur Weltanschauungsgeschichte. Köhlers Interpretation hat sich - gegen Widerstände zu Beginn16 - allmählich weitgehend durchgesetzt und im Zusammenhang der literatursoziologischen Welle nachhaltig Schule gemacht. Das Diktum vom Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft wird zum Schlagwort, mit dem man das Verständnis des höfischen Romans weniger fördert als erledigt.17 Es ist nicht zu leugnen, daß Köhlers methodischer Neuansatz Aspekte beleuchtet hat, die bislang vernachlässigt worden waren. Sein Werk wird somit, forschungsgeschichtlich gesehen, verdienstvoll bleiben, auch wenn es an der Zeit ist, die Prämissen seiner Interpretation kritisch zu überprüfen, und sich dabei ergeben sollte, daß sie nicht zu halten sind. Die zentrale Frage ist zweifellos die, inwieweit im 12. Jahrhundert tatsächlich schon individualistische Tendenzen durchbrechen und sich die Auseinandersetzung mit ihnen in der Literatur spiegelt. Es ist hier nicht der Ort, diese umstrittene Frage generell zu behandeln,18 doch ist für Chretiens Roman, wenn man ihn unvoreingenommen betrachtet, folgendes festzustellen: Seine Helden sind keine Individuen, deren Streben nach subjektiver Entfaltung diszipliniert und in die Gesellschaft integriert werden müßte. Die arthurischen Helden sind vielmehr Figuren, die Rollen zu spielen haben, und zwar als Protagonisten des Hofes. Sie machen ihre 'Erfahrungen', d. h., sie bestehen ihre Aventüren stellvertretend für die höfische Gesellschaft. Sie gehen durch eine Welt hindurch, die den idealen Status des Hofes bedroht, und sie restituieren in diesem Durchgang die höfische Idealität. Gewiß, die Unbedingtheit des Erotischen ist ein Element dieser anarchischen Gegenwelt, wie auch die Gewalt und der Tod, aber es geht nicht um eine Disziplinierung individueller erotischer Ansprüche, sondern um eine narrative Lösung der Frage nach der Bewältigung des Negativen schlechthin, ja letztlich nach seiner Funktion, oder, wie ich es einleitend formuliert habe, um eine narrative Antwort auf die Frage nach der Denkbarkeit von Idealität. 16

Vgl. Köhlers Anhang zur zweiten Auflage: KÖHLER 1970, S. 263ff. Ich muß mich dabei selbst an erster Stelle nennen, denn auch meine frühen Arbeiten zeigen den Einfluß der Köhlerschen Begrifflichkeit. Die Umorientierung beginnt mit dem Aufsatz: HAUG 1979 [a] [- Strukturen, S. 464-482]. 18 Vgl. vorläufig HAUG 1988 [b] [in diesem Band, S. 332-361].

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Und auch Tristan ist kein Individuum im strengen Sinne des Begriffs. Er propagiert keineswegs das Eigenrecht persönlicher Liebe; es geht nicht um den Anspruch auf eine individuelle Lebenserfüllung im Kampf gegen die feudale Gesellschaft. Im Gegenteil, Tristan versucht alles, um einer Konfrontation mit ihr auszuweichen, er bekennt sich zur Hofgesellschaft, er stützt sie mit ganzer Kraft und später, nach dem Liebestrank, auch mit ganzer Verstellungskunst; und wenn die Liebenden ihr Grottenparadies wieder verlassen, dann aus dem einzigen Grund, daß ihnen dort die Gesellschaft abgeht.19 Am cornischen Hof gibt es zwar Neidlinge und Verleumder, und Marke ist eine zwiespältige Figur, aber die Gesellschaft ist im Prinzip doch ein Positivum, was letztlich in der unabdingbar sozialen Existenz des Menschen begründet liegt.20 Weder im Artusroman noch im hochhöfischen >Tristan< wird also ein Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft ausgetragen, und damit geht es bei diesem Gegenüber auch nicht um eine Konfrontation zwischen einer feudal-mittelalterlichen Sozialideologie und einer subjektiv-modernen Welt. Köhlers Deutung unter der Opposition Individuum/Gesellschaft erweist sich bei näherem Zusehen als eine anachronistische Rückprojektion eines Problems, das sich wohl in der Renaissance ankündigt, aber erst im 17./18. Jahrhundert wirklich akut wird. Wenn der >Tristan< des Thomas aber nicht antritt, um im Namen einer persönlichen Liebe das Recht auf eine freie Entfaltung der individuellen Persönlichkeit zu fordern, worin besteht dann die Auseinandersetzung zwischen ihm und Chretien, die ja schwerlich zu leugnen ist? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, sich von einem geistes- und sozialgeschichtlichen Literaturverständnis, das in den poetischen Werken nur Dokumente kulturhistorischer Positionen sieht, freizumachen. Die Möglichkeit zu einer solchen Perspektivenwende ist heute über eine intertextuelle Betrachtungsweise gegeben - intertextuell hier verstanden als ein Miteinander von Texten, bei dem ein Text im andern präsent ist, ein Text mit dem andern implizit im Dialog steht, was auch einschließt, daß der untergelegte Text im Bewußtsein des Rezipienten mit evoziert wird.21 Gehören die betreffenden Werke in dieselbe historische Situation, so erscheint der intertextuelle Prozeß als ein implizit-dialogisches Ringen um Erfahrungen, an denen beide Werke gemeinsam, wenngleich unter differierenden Perspektiven teilhaben. So und nur so nimmt man die literarischen Kontroversen, statt sie zu einem bloßen Spiegel weltanschaulicher Konflikte zu degradieren, als eigenständige Möglichkeiten der Welterfahrung und -bewältigung wirklich ernst. 19

Gottfried bereitet die Rückkehr Tristans und Isolds in die Gesellschaft folgendermaßen vor: er sagt, nachdem er die Vollkommenheit des Lebens in der Minnegrotte gepriesen hat: sin hceten umbe ein bezzer leben / niht eine bone gegeben / wan eine umbe ir ere (vv. 16875ff., zit. nach F. RANKE 1970). Das heißt: das Leben der Liebenden war so glücklich, daß sie für eine weitere Vervollkommnung ihres Daseins nicht das Geringste gegeben hätten - wofür sie hingegen etwas gegeben hätten, wäre ein Leben in ere gewesen, d. h. ein Leben, ausgezeichnet durch gegenseitige Achtung in der Gesellschaft. 20 Vgl. HAUG 1986 [a], insbes. S. 46ff. [= Strukturen, S. 600-611, insbes. S. 605ff.]. 21 Ich verwende hier jenen unter dem Aspekt des Dialogischen gesehenen Intertextualitätsbegriff, wie er insbesondere von R. LACHMANN 1982 vertreten worden ist. Siehe auch STIERLE 1983. Unter den französischen Arbeiten zur Intertextualität steht dem am nächsten: GENETTE 1982, wo jedoch im Hinblick auf das Durchscheinen eines Textes in einem andern allgemein von „transtextualite" und speziell von „hypertextualite" gesprochen wird.

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Um diesen Ansatz für das Zusammenspiel von Artusroman und Tristanroman fruchtbar zu machen, drehe ich die gewohnte Sichtweise um. Ich frage nicht nach dem Einfluß des Thomas'schen >Tristan< auf Chretien, sondern ich frage, was der Artusroman für die Gestaltung des Tristanstoffs bei Thomas und Gottfried bedeutet haben könnte. Oder dem Titel meines Beitrags entsprechend formuliert: Es geht um die intertextuelle Präsenz des arthurischen Modells und seiner Thematik in der höfischen Fassung des >TristanErec< aller Wahrscheinlichkeit nach dem Thomas'schen Roman vorausgeht, genauer: der >Tristan< des Thomas Chretien noch nicht bekannt war, als er den >Erec< schrieb.22 Übrigens: es ist bezeichnend für eine Literaturwissenschaft, die immer noch vorwiegend im Dienst der Geistes- und Sozialwissenschaft denkt, daß diese Frage meines Wissens noch nie gestellt worden ist.23 Der >Tristan< verdankt seine Entstehung, wie gesagt, einer Kombination unterschiedlicher Erzählmuster, die über mehrere Stufen gelaufen ist. Trotz aller Verzahnungen und Überlagerungen treten diese Muster immer noch so deutlich heraus, daß der Hörer oder Leser sie identifizieren kann, wodurch er zugleich veranlaßt wird, das Spiel des Schemawechsels nachzuvollziehen. So wird er z. B. im Auftritt Tristans bei Marke das Erzählschema vom Fremdling erkennen, der an einem fernen Hof sich durch außerordentliche Fähigkeiten hervortut, in eine hohe Position aufrückt und damit den Neid der heimischen Höflinge weckt. Wenn dann aber der Ziehvater die Identität Tristans enthüllt, wird das Geschehen auf das Schema vom Exilkind hin transparent, das die angestammte Position in seinem Erbland zurückgewinnt. Oder man wird die erste Irlandfahrt Tristans als den typischen Weg zur jenseitigen Heilerin identifizieren, und ganz besonders abrupt tritt dann das Schema 'Brautwerbung mit Drachenkampf' auf der zweiten Irlandfahrt heraus. Der Hörer oder Leser erkennt also diese gängigen Erzählmuster, und indem er dies tut, weiß er auch, wie die ihnen verpflichteten Handlungen ablaufen werden, oder besser: wie sie ablaufen sollten, denn durch die Kombination der Muster erreichen sie immer wieder nicht das erwartete Ziel. So wird man an jeder Nahtstelle gezwungen umzuschalten, von einem Schema zum andern überzuwechseln, ja, man gerät in ein geradezu irritierendes Spiel von sich brüsk überschneidenden narrativen Versatzstükken. Es ist nun zu beachten, daß es bei dieser kombinatorischen Verzahnung auch zu einer Überlagerung durch das arthurische Strukturmuster gekommen ist. Als der irische Zinsforderer Morolt am Hof Markes erscheint, tritt Tristan gegen ihn an und erschlägt ihn. Tristan spielt damit eine Rolle, die der des arthurischen Protagonisten 22 23

Vgl. Anm. 13. Die nachstehende Argumentation hat mit der Schwierigkeit zu kämpfen, daß der erste Teil des >Tristan< von Thomas nicht erhalten ist, so daß Gottfrieds Bearbeitung für ihre Vorlage herangezogen werden muß. Dieses Verfahren läßt sich aber insofern rechtfertigen, als Gottfried die hier zur Debatte stehenden Charakteristika des höfischen Tristanromans eher noch verstärkt hat; dies wohl im Blick auf eine literarische Konstellation, die derjenigen zwischen Thomas und Chretien nicht nur entsprochen hat, sondern diese noch weiter zugespitzt zeigte: Gottfried sieht sich einer schon weiter entwickelten deutschsprachigen Artustradition gegenüber; der Typus dürfte also in seinem spezifischen Charakter dadurch noch schärfer herausgetreten sein. Man kann somit sagen, daß die Spiegelung der französischen Situation in der deutschen die literarhistorische Problemlage nicht schwächt, sondern verdeutlicht. 190

entspricht, der im Namen des Hofes auf eine Provokation von außen antwortet. Es schließt sich schemagerecht eine Aventürenfahrt an, die den Helden in Todesgefahr bringt, und er begegnet, ebenfalls schemagemäß, einer Frau, die ihn rettet. Wieder am Hof zurück, kommt es zu einem Konflikt, der an die arthurische Krise erinnert: sie veranlaßt den zweiten Auszug, auf dem die Frau des ersten Zyklus erst eigentlich gewonnen werden muß. Dieser zweite Weg führt noch deutlicher als der erste durch den Tod hindurch. Die Ohnmacht Tristans nach dem Drachenkampf korrespondiert der Ohnmacht Erecs auf Limors. Es folgen, wie zu erwarten, die Rückkehr mit der Partnerin an den Hof und die Hochzeit.24 Daß sich solche Korrespondenzen aufgedrängt haben dürften, ist um so eher anzunehmen, als Markes Residenz nicht nur Tintajel ist, einer der Orte, wo Artus im >Erec< Hof zu halten pflegt,25 sondern Markes Frühlingsfest, an dem Riwalin teilnimmt, auch mit allen Zügen des arthurischen Pfingstfestes ausgestattet ist. Markes Residenz erscheint, zunächst jedenfalls, in ihrem Glanz und ihrer Vorbildlichkeit als ein zweiter Artushof.26 Und wenn dann Tristan als Markes Helfer und Kämpfer die Figur des arthurischen Protagonisten wachruft, so wird man auch das entsprechende Handlungsmuster erwarten - eine Erwartung, die sich tatsächlich zu erfüllen scheint. Aber so deutlich die Tristanhandlung damit auf das arthurische Strukturschema hin transparent wird, so sehr wird einem fortschreitend stärker bewußt, daß das vermeintliche Schema hier nicht wirklich greift. So ist die erste Irlandfahrt keine Aventüre im arthurischen Sinn, sondern eine wohlkalkulierte Heilungsfahrt; und so ist auch der zweite Auszug nicht als arthurische Wiederbegegnung mit der Partnerin angelegt, sondern als ein Werbungsunternehmen für einen dritten; und wenn das Ergebnis dann doch dem Schema entspricht, wenn Tristan und Isold sich finden, so ist dies eine Entsprechung, die dem arthurischen Ziel, der Wiederherstellung der höfischen Idealität, diametral entgegensteht. Das arthurische Strukturmuster ist also im >Tristan< intertextuell, d. h. im Sinne eines impliziten Dialogs mit dem ihm verpflichteten Typus, präsent. Man bringt das arthurische Muster zum Bewußtsein, um es zugleich zu demontieren. Und das macht verstärkt, ja geradezu paradigmatisch darauf aufmerksam, daß die Erzählschemata, die Bekanntlich wird dieses Schema der doppelten Ausfahrt im Sinne eines integrierten Gesamtkonzepts erst mit der höfischen Fassung realisiert. Auf der Vorstufe bekommt Tristrant bei seiner ersten Irlandfahrt die irische Prinzessin gar nicht zu Gesicht. Die beiden Fahrten sind dort ungeplant und stehen damit unverbunden nebeneinander. Man darf wohl vermuten, daß Thomas/Gottfried sich bei der Verzahnung der beiden Fahrten vom arthurischen Doppelwegschema haben leiten lassen. Gottfried polemisiert explizit gegen die Motivation der zweiten Ausfahrt in der älteren Fassung (vv. 8601 ff.). ROQUES 1955, v. 6460, v. 6470; LEITZMANN/WOLFF/CORMEAU/GÄRTNER 1985, v. 4629.10, v. 7807. Zwar ist Tyntaniol/Tintaniel/Tyntariol - so die Formen bei Eilhart - schon auf der Vorstufe Markes Residenz (vgl. zu Tintagel in der epischen Tradition: OKKEN 1984, 1985, 1988 I, S. 73), aber nichts deutet bei Eilhart darauf hin, daß in seiner französischen Vorlage bei der Begegnung zwischen Rivalin und Blankeflur ein höfisches Fest eine Rolle gespielt haben könnte. Zwar hat Eilhart die Elterngeschichte sehr stark verkürzt, doch bleibt deutlich, daß Rivalins Fahrt zu Marke ursprünglich allein den Zweck hatte, den König kriegerisch zu unterstützen. Markes Hof zeigt jedenfalls auf der Vorstufe noch keine arthurischen Züge. Bei Gottfried hingegen zieht Riwalin nach Cornwall, um sich ritterlich zu vervollkommnen. Siehe zum Charakter von Markes Maifest: WOLF 1989, S. 115ff.

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im >Tristan< verwendet werden, sämtlich nicht tragen. Man kann also sagen, mit dem Anzitieren und der Auflösung des arthurischen Musters werde die Sinnstiftung durch Strukturen überhaupt demonstrativ abgewiesen. Und dies entspricht ja auch völlig dem Prinzip des kombinatorischen Verfahrens: das bewußte Spiel mit narrativen Mustern macht es unmöglich, daß sie Sinn vermitteln könnten. In der Kombinatorik manifestiert sich ein Gegenprinzip zur strukturellen Sinnvermittlung im arthurischen Roman. Wenn dem Hörer oder Leser auf diese Weise zum Bewußtsein gebracht wird, daß die Kombinatorik der Strukturmuster im >Tristan< eine Konstitution von Sinn nach dem arthurischen Prinzip unmöglich macht, so findet dies seine genaue Entsprechung im Verhältnis des Helden zu den Handlungsschemata, in die er eintritt. Tristan ist im Gegensatz zum arthurischen Protagonisten nicht mit der Funktion identisch, die er zu erfüllen hat, er ist nicht mehr eins mit seiner Rolle. Die Rollen werden Tristan vielmehr angeboten, er muß sich für sie entscheiden, muß also bewußt in die präsentierten Schemata eintreten, ja die Situationen u. U. sogar entsprechend stilisieren. So kommt er nicht einfach als der außergewöhnliche Fremdling an den Hof Markes, sondern er inszeniert diesen Auftritt mit höchster Kunst; die traditionelle Überlegenheit des Fremden ist nicht mehr schlicht selbstverständlich, sondern sie wird mit wohlkalkuliertem Effekt vor Augen geführt. Oder: als es darum geht, dem zinsfordernden Morolt entgegenzutreten, kann Tristan dies nicht mit jener Fraglosigkeit tun, mit der der Artusritter als Protagonist des Hofes sich dem Provokateur stellt. Tristan muß sich diese Möglichkeit erst schaffen, denn man hätte ja auch wie bisher den geforderten Zins zahlen können. So stilisiert sich Tristan gegen Widerstände zum Protagonisten des Hofes. Oder: die zweite Irlandfahrt ist, arthurisch gesehen, ein Abstieg in die Gegenwelt, in die Erfahrung des Todes, wobei eine Frau als Retterin erscheint: Tristans Ohnmacht beim Drachenkampf, die rettende Isold. Aber dieser Durchgang durch den Tod ist schon bewußt vorweggenommen: er erscheint in der Vernichtungsstrategie der Höflinge. Sie schicken Tristan auf eine Mission, bei der er entweder den Tod finden oder durch die er, wenn es ihm gelingt, Isold als Braut für Marke zu gewinnen, seine Position als designierter Thronfolger zerstören soll. Tristan sieht dies klar, trotzdem geht er darauf ein: er nimmt die Selbstzerstörung in Kauf. So wird, was im Artusroman sich schemagemäß vollzieht, im >Tristan< zu einem reflektiert-rollenhaften Akt. Der Held ist mit den Rollen, in die er eintritt, also nicht mehr identisch, sondern er wird ihrer bewußt, und so kann er sie nur noch spielen. Diese Distanz gegenüber der Rolle hat eine zweite Seite. Mit der Auflösung der Identität von Figur und Rolle fällt auch die für den arthurischen Roman selbstverständliche Garantie dahin, daß der Held die übernommene Rolle auch zu erfüllen vermag. Es kommt zu Diskrepanzen zwischen Möglichkeit und Anspruch, zwischen Handlungsmuster und Kalkül. So ist Tristan, als er tollkühn die Rolle des höfischen Protagonisten in Anspruch nimmt, dieser Aufgabe keineswegs gewachsen. Wenn er mit Morolt fertig werden will, muß er aus der Rolle des höfischen Ritters fallen; nur mit infamer Heimtücke vermag er schließlich den überlegenen Gegner zu besiegen.27

Zu Tristans Hinterhältigkeit im Moroltkampf: HAUG 1972, S. 109ff. [= Strukturen, S. 557-582, hierS. 571 f.]. 192

Und diese Diskrepanz hängt sich insbesondere in die Interferenzen ein, die durch die Kombination der Schemata entstehen. Der Held übernimmt eine bestimmte Rolle, aber wenn er das entsprechende Muster erfüllt hat, zeigt sich, daß er unversehens in ein neues Schema geraten ist: Tristan besiegt Morolt, aber er wird tödlich verwundet und muß zur Heilungsfahrt aufbrechen. Er kommt geheilt aus Irland zurück, aber er provoziert damit die Brautwerbungsfahrt. Er gewinnt dabei die Braut für Marke, aber der Liebestrank zwingt ihn zum Ehebruch. So bleibt jedes Ziel vorläufig. Der Held muß sich immer wieder neu einstellen, muß in immer wieder neue Rollen eintreten. Und dies impliziert auch die Möglichkeit konkurrierender Rollen: der Held hat u. U. zwei sich widersprechende Rollen zugleich zu spielen. So wird die Rolle zur Lüge. Die Distanzierung von der Rolle und die Überlagerung von Rollen führen damit erstmals dazu, daß man einen Helden vor sich hat, zu dem die Lüge als Wesensmerkmal gehört. Es gab zwar schon früher Helden, die lügen konnten: Rother, der sich in Konstantinopel als Flüchtling ausgibt, König Oswald und seine Leute, die sich als Goldschmiede tarnen, usw., aber dabei gehörte die Verstellung zur Rolle. Im >Tristan< ist es umgekehrt, hier ist die Rolle die Verstellung. Weil Tristan seine Rollen nur spielt, kann er dabei auch lügen; wenn die Rollen sich überlagern, m u ß er lügen, denn man kann nicht gleichzeitig in mehrere sich widersprechende Rollen eintreten, ohne zu lügen. Die Rolle als Lüge im Spiel mit den narrativen Mustern, darin liegt der härteste Protest gegen den arthurischen Roman, dessen Wahrheit in einem Strukturentwurf liegt, der den Helden ungebrochen trägt, indem er ihn widerspruchslos von einer'Station zur andern führt. Aber dieser Protest ist nicht einfach eine äußere Provokation, sondern er vollzieht sich intertextuell auch als Dialog mit dem thematischen Konzept des arthurischen Typs. Und dabei zeigt sich, daß es ein und dieselbe Erfahrung ist, die zu gestalten man sich hier wie dort bemüht. Es geht um eine neue, dynamische Auffassung des Negativen. Das Verhältnis von Gut und Böse stellte sich im frühmittelalterlichen Weltbild bekanntlich als Kampf zwischen Gott und Teufel dar. Der Mensch war aufgerufen, sich auf die gute Seite zu stellen oder, wenn er sich falsch entschieden hatte, sich vom Bösen abzukehren und sich Gott wieder zuzuwenden.28 Die menschlichen Triebkräfte waren an sich gut, solange sie sich nicht verselbständigten und damit aus der Ordnung fielen; die irdische Liebe stand im inneren Einklang mit der Gottesliebe, solange sie sich nicht der Sinnlichkeit anheimgab und sich zur Hure machte. Die allegorischen Epen eines Alan von Lille z. B. folgen noch ganz diesem traditionellen Muster: die menschliche Natur vermag, sollte sie dem Bösen verfallen, sich zu erneuern, d. h. in die göttliche Ordnung zurückzukehren, da sie ihrem Wesen nach gut ist.29 Der Artusroman bedeutet in Hinblick auf dieses Denkmuster eine epochale Wende. Er arbeitet zwar noch mit dem Modell von Abstieg und Aufstieg, aber das sind nun nicht mehr zwei linear ausgefaltete Phasen, sondern der Aufstieg steckt sozusagen im Abstieg, das Negative erscheint als eine Funktion des Positiven, und das Ziel ist nurmehr ein Fluchtpunkt, der immer neu anvisiert werden muß, ein utopischer Augenblick an der Spitze einer Bewegung, die sich als immer neuer Übergang begreift. 28

Vgl. HAUG 1985, S. 189ff. [= Strukturen, S. 67-85, hier S. 84f.]; auch knapp zur Position des >Tristan< in diesem Zusammenhang. 29 Vgl. HAUG [im Druck] [in diesem Band, S. 171-183, hier S. 177.].

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Der >Tristan< akzeptiert im Prinzip dieses neue, dynamische Konzept. Aber er hat nicht die Möglichkeit, es anhand einer Struktur durchzuspielen, ja, er nützt seine entstehungsgeschichtlich bedingte Strukturlosigkeit, um zu demonstrieren, daß eine Lösung mit Hilfe der Künstlichkeit des arthurischen Modells nicht akzeptabel ist, daß vielmehr die neue Wahrheit, die sich im arthurischen Konzept noch auf die strukturellen Krücken stützt, erst frei zum Durchbruch kommt, wenn man auf alle schematischen Hilfen verzichtet. Die Kraft, die dieses dynamische Verhältnis von Gut und Böse im >Tristan< realisiert, ist die Liebe. Sie wird von Gottfried schon im Prolog als jene Macht beschrieben, die allein den Menschen zur Vollendung zu führen vermag. Und er wiederholt das immer wieder, bis sie als erlösende Instanz schließlich ihre Verklärung in der Allegorie der Minnegrotte findet. Hier wird die Liebe zwischen Mann und Frau zu einem quasireligiösen Mysterium hochstilisiert. Aber diese erotische Idealität hat einen prononciert utopischen Charakter, die Minnegrotte ist aus der epischen Handlung herausgehoben, der Aufenthalt Tristans und Isolds in diesem Paradies bleibt Episode, die Erfüllung ist nur als visionärer Augenblick denkbar. Zugleich ist die Tristanliebe aber eine Macht, die jede Ordnung sprengt. Gottfried läßt das Geschehen auf den Sündenfall hin transparent werden. Die Liebe führt zu einem Abstieg in einen Bereich, in dem Gewalt, Zerstörung, Mißtrauen und Verbrechen herrschen. So wie der arthurische Held sich der Welt des Bösen aussetzen muß, so verfallen Tristan und Isold dieser negativen Sphäre; aber wie dort aus der Gegenwelt heraus die ideale Gesellschaft restituiert wird, so leuchtet im >Tristan< aus Qual und Tod die Vision der Versöhnung auf. Es gibt jedoch einen fundamentalen Unterschied. Da dem >Tristan< eine Struktur fehlt, über die dieser Prozeß laufen könnte, müssen das Positive und das Negative in jedem einzelnen Moment paradox zusammengezwungen werden; da der Weg zu einer linearen Entfaltung des Verhältnisses von Gut und Böse verbaut ist, sind immer nur punktuell Durchblicke auf die Utopie aus ihrer Negation heraus möglich. Die Widersprüche, die das Werk durchziehen und die die Interpreten zur Verzweiflung gebracht haben, enthüllen also ihren Sinn, wenn man erkennt, daß der >Tristan< versucht, das dynamische Konzept des Artusromans ohne strukturelle Vorgaben zu realisieren, indem er konsequent jeden Augenblick des Lebens als Übergang versteht. Und Übergang heißt eben lebendiges Leben, lebendig, insofern es Ordnungen durchbricht, um sie zu erneuern. Und die Liebe ist der Inbegriff dieser Lebendigkeit, denn sie geht ihrem Wesen nach über das Prinzip der Opposition hinweg, auf dem alle Ordnung beruht. Aber zugleich gilt: man bedarf der Ordnung, um sie überschreiten zu können, man bedarf der Muster, um sie über Bord zu werfen. So bejaht Tristan die Gesellschaft, so spielt er seine Rollen. Aber nur, um sie zugleich zu verneinen und in dieser immer neuen Aktualisierung des Zwiespalts die Versöhnung aufscheinen zu lassen. Aber wie gesagt, das enthüllt sich einem nur, wenn man jenen Stand der Diskussion um die Funktionalisierung des Negativen mitdenkt, der im arthurischen Roman erreicht worden ist und der sich intertextuell in den >Tristan< eingeschrieben hat.30 Mit dieser These wende ich mich gegen alle Versuche, die innere Widersprüchlichkeit im Blick auf eine mutmaßliche Lösung in der einen oder andern Richtung wegzuinterpretieren. Ich habe diese Position schon 1986 [a] [= Strukturen, S. 600-611] verfochten und sie nochmals in 194

Wenn nun aber im >Tristan< jener Prozeß, der im arthurischen Roman über ein Strukturmuster ausgefaltet wird, ganz in den subjektiv-spontanen Akt der Zerstörung und der gleichzeitigen utopischen Erneuerung von Ordnungen zurückgenommen erscheint, muß sich eine weitere zentrale Vorstellung des Artusromans grundlegend verändern: die Aventüre. Die Aventüre ist im Artusroman der ins Handlungsmuster eingebundene und damit sinnträchtig erscheinende Zufall. Wenn im >Tristan< die narrativen Schemata keine sinntragende Funktion mehr besitzen, sondern subjektiv zur Verfügung stehen, wird auf der objektiven Seite der Zufall frei. Dem subjektiv Machbaren tritt objektiv das Unverfügbare gegenüber. Dementsprechend erfährt der Aventürenbegriff im >Tristan< eine radikale Umdeutung. Was - wie es bei Gottfried heißt - von aventiure geschieht, ist das schlechthin Zufällige und damit das an sich Sinnlose. Es ist als solches das objektive Korrelat der subjektiven Spontaneität. So korrespondiert denn bezeichnenderweise die machtvollste Möglichkeit subjektiver Spontaneität, die Liebe, mit einer objektiv sich in konkretester Form darstellenden Zufälligkeit: dem Liebestrank. Die Brücke zwischen Spontaneität und Zufall wird dadurch geschlagen, daß das Subjekt die Möglichkeit hat, das, was von aventiure geschieht, zu ergreifen und sich zu eigen zu machen. Als Paradefall ist nocheinmal der Liebestrank zu nennen, zu dem Tristan spielerisch-leidenschaftlich ja sagt. Auch die neue Funktion der Aventüre und die entsprechende neue Verwendung des Begriffs bei Gottfried evozieren also intertextuell die betreffende arthurische Vorstellung, doch nur, um sie wiederum zugleich zu destruieren und ihr einen völlig veränderten Stellenwert zuzuweisen. So ergibt sich denn, daß alle wesentlichen Elemente des arthurischen Modells und seiner Thematik im >Tristan< präsent sind, dies jedoch in implizit-dialogischer Umformulierung, so daß sie nur bei einer intertextuellen Lektüre sichtbar werden: 1. das Doppelkreismuster: man schreibt es ein, um es preiszugeben und dabei zu verdeutlichen, daß alle narrativen Schemata sich gegenseitig aus den Angeln heben; 2. der Held, der in Rollen eintritt, aber, anders als der arthurische Protagonist, nicht mehr mit ihnen identisch ist, der sie vielmehr spielt, ja mit ihnen lügt; 3. die funktional-dynamische Auffassung des Verhältnisses zwischen Gut und Böse, das aber nicht mehr ausgefaltet werden kann, sondern die Bewegung des Subjekts in der Weise prägt, daß jeder einzelne Akt in den Widerspruch geführt wird, sich gleichzeitig dem Abgrund wie der Utopie öffnend, und schließlich 4. die Aventüre, nun nicht mehr als von der Struktur gesteuertes, sinntragendes Ereignis gefaßt, sondern zum unkalkulierbaren Zufall geworden - das objektive Korrelat der subjektiven Spontaneität. Alle Vorzeichen meinem Beitrag zum Straßburger Kolloquium (siehe Anm. 29) ausführlich begründet. Dies insbesondere in Auseinandersetzung mit den Thesen Christoph Hubers. Inzwischen veranlassen mich persönliche Gespräche mit ihm, meine allzu rigorose Position um einiges zurückzunehmen: die Handlung des >Tristan< besteht zugegebenermaßen nicht nur in einer Reihung von Momenten, in denen das Positive und das Negative unversöhnt nebeneinanderstehen, sondern es gibt immer wieder Bewegungen, die die Liebenden bald mehr zum einen und bald mehr zum andern Pol hinführen, Aufstiege und Abstiege, die freilich - und damit kehre ich zu meiner These zurück - nie zu einem eindeutigen Ziel führen, sondern immer wieder umbrechen. Läßt man aber den punktuellen Ansätzen in dieser Weise einen gewissen Entwicklungsspielraum, so vermag man die Möglichkeiten im Guten wie im Bösen besser zu würdigen; man denke insbesondere an das hohe Niveau, das die Liebe Isolds beim Abschiedsgespräch erreicht (HUBER 1988, S. 119f. Dazu die 'klassische' Studie von WAPNEWSKI 1964).

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sind sozusagen umgedreht, und doch stehen der Artusroman und der >Tristan< unverkennbar im selben Problemhorizont, und die gemeinsame, ja, wie ich zu zeigen versuchte, implizit dialogische Bemühung ist in seinem Rahmen zumindest ebenso bemerkenswert wie das Gegensätzliche der beiden Lösungsversuche. In einem nächsten Schritt wäre nun die Sichtweise wiederum zu wenden und zu zeigen, daß unter intertextuellen Aspekten auch die Reaktionen Chretiens auf den >Tristan< neu zu deuten sind, d. h., es wären nun die Romane, die auf den >Erec< folgen, entsprechend dezidiert im Sinne einer intertristanischen Lektüre zu interpretieren.

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Eros und Tod Erotische Grenzerfahrung im mittelalterlichen Roman

I Im Jahre 1939 ist ein Buch über Liebe und Tod in der abendländischen Literatur erschienen, das, immer wieder neu aufgelegt und in viele Sprachen übersetzt, zu einem bemerkenswerten Publikumserfolg geworden ist: >L'Amour et l'Occident< von Denis de Rougemont. 1 De Rougemont war kein Literaturwissenschaftler, kein Fachgelehrter, sondern ein sehr vielseitiger Publizist und bedeutender Kulturpolitiker. 2 Insbesondere hat er in den Jahren vor und nach dem Zweiten Weltkrieg eine führende Rolle in der europäischen Bewegung gespielt. Er war der Gründer und Leiter des Centre Europeen de la Culture in Genf. Er stammte aus einem Westschweizer Pfarrhaus, war stark beeinflußt von Karl Barth, dessen >Dogmatik< er ins Französische übersetzt hat. 3 Und 1

DE ROUGEMONT 1982. Nach der Erstausgabe von 1939 hat de Rougemont 1956 eine stark revidierte Neuedition veranstaltet. Darauf beruht die Taschenbuchausgabe von 1962, mit mehreren Nachdrucken. Von der Edition definitive 1972, nach der ich zitiere, ist 1982 eine Neuauflage erschienen. (Vgl. den Gesamtüberblick über die Ausgaben und die Übersetzungen in: Cadmos 9, Nr. 33 [1986], S. 137). Ergänzend: DE ROUGEMONT 1961. - Eine deutsche Übersetzung ist 1966 unter dem Titel : >Die Liebe und das Abendland< auf den Markt gekommen. Wissenschaftlich hat sie, wie schon das französische Original, in Deutschland eine nur geringe Resonanz gefunden. Immerhin ist die Übersetzung von Manfred Gsteiger in der NZZ besprochen worden: Europäischer Mythos und Sittlichkeit. Zur deutschen Ausgabe von Denis de Rougemonts >L'amour et l'occidentTristanTristan< das Muster für eine lange Reihe tragischer Liebesgeschichten, die den Grundgedanken in immer wieder neuer Weise abwandeln und durchspielen: von >Romeo und Julia< über >L'AstreePhedreDon Juan< und >La Nouvelle Helo'ise< zu >Madame BovaryAnna KareninaUn amour de Swann< usw. bis hinunter zu den trivialen Dreiecksaffären eines Dumas oder Bataille. Das Ziel dieser literarischen Varianten der tragischen Liebe ist - nach de Rougemont - letztlich also immer dasselbe, nämlich den Eros im Tod zu verklären, d. h. seine Bedingungslosigkeit im Untergang zu demonstrieren und gerade damit seine Absolutheit zu retten.5 Und in4

DE ROUGEMONT 1982, S. 22.

5

Daß de Rougemont dabei weniger von einer Lektüre des Thomas von England und Gottfrieds von Straßburg ausgeht, sondern von Joseph Bediers Rekonstruktion (vgl. ebd., S. 19 Anm. 1),

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dem de Rougemont die kunstvoll-künstliche Inszenierung dieser Ideologie entlarvt, stellt er der ehebrecherischen Leidenschaft eine christliche Auffassung der Liebe entgegen, eine Liebe, die sich im Diesseits und in der Ehe erfüllen soll. Und aus dieser Sicht bemüht er sich dann - nicht inkonsequent -, die Ehebruchsideologie der abendländischen Romantradition historisch auf widerchristliche Weltanschauungen zurückzuführen. So glaubt er, hinter der neuen erotischen Literatur des 12. Jahrhunderts häretische Strömungen erkennen zu können, insbesondere das Katharertum in Südfrankreich, ja ganz allgemein dualistische Denktraditionen, seien sie antik-platonischer oder keltisch-mythischer Provenienz, die von Anfang an und immer neu gegen das Christentum angegangen seien, um im hohen Mittelalter nochmals massiv durchzubrechen.6 Es handelt sich um Konzepte, die letztlich im Diesseits das schlechthin Böse sehen, das zurückgelassen werden muß, die die Welt als eine Schöpfung des Teufels radikal abwerten und in Weltabwendung und Tod die Vereinigung mit dem Göttlichen propagieren. Diese häretischen Traditionen seien, als sie von der Kirche zurückgedrängt wurden, sozusagen in die Literatur ausgewichen und hätten so, narrativ umgesetzt, die abendländische Idee der Liebe in hohem Maße bis heute geprägt. Diese Thesen sind von faszinierender Kühnheit, und man versteht, daß sie Eindruck gemacht haben. Dem Bucherfolg gegenüber verhielt sich die Fachwissenschaft jedoch äußerst reserviert. Sie hat de Rougemonts Thesen entweder abgewiesen oder sie schlicht nicht zur Kenntnis genommen.7 Insbesondere hat die Herleitung der Ehebruchsthematik aus dualistischen Philosophemen nicht überzeugt: ein direkter Einfluß der Katharer auf die Liebeslyrik und den Roman des französischen 12. Jahrhunderts sei nirgendwo zu belegen.8 Man wird sich dieser Kritik schwerlich verschließen können, doch es bleibt das Faktum, daß zu der Zeit eine neue Liebesdichtung entsteht, die dann durch die Jahrhunderte bis in unsere heutigen erotischen Verhaltensformen hinein weiterwirkt, und dies mit solcher Macht, daß uns das Unlogische und Konstruierte in vielen dieser literarischen Entwürfe gar nicht mehr zum Bewußtsein kommt. Das wußte man natürlich schon vor de Rougemonts Buch, aber er hat als erster darüber nachzudenken begonnen, welche Ursachen diese eigentümliche literarische Obsession der Ehebruchsliebe im Abendland haben könnte und wie weitreichende Folgen sie hatte. Ein solches Nachdenken ist dringlich notwendig; denn die illegitime Liebe, die an der Gesellschaft scheitert, ist für uns ein so selbstverständliches Thema geworden, daß wir gar nicht mehr sehen, wie kulturbedingt es ist. Es fehlt sowohl in der Antike wie im Alten Orient - der Ehebruch ist da nur Episodenthema, häufig zur Demonstration der sexuellen Lüsternheit des weiblichen Geschlechts; man denke an

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die er zudem mit den Augen Richard Wagners liest, sei als ein philologisches Ärgernis angemerkt, das in den späteren Auflagen des Buches nur zum Teil wiedergutgemacht wird.

Mit der fortschreitenden Bearbeitung des Buches wird hier immer mehr Material in einem dualistischen Eintopf zusammengemischt. Man kann nicht sagen, daß die teils eher kompilatorisch verfahrenden Revisionen dem Werk nur zum Vorteil gereicht haben. 7 Vgl. die Vorwürfe, die Gsteiger (Anm. 1) an die Adresse der Romanistik richtet. - Zur Rezeption siehe im übrigen die Zusammenstellung der einschlägigen Titel in DE ROUGEMONT 1982, S. 304f. "Siehe z. B. POLLMANN 1966, S. 160f. Leo Pollmanns Argument ist, daß das Konzept der provenzalischen Liebe nicht dualistisch sei. Anderseits gibt es doch auch Streiter auf der Seite de Rougemonts, insbes. NELLI 1948.

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Josef und Potiphars Weib, an Phädra -, oder es fungiert als Einzelmotiv in größeren Zusammenhängen: Paris und Helena. Im 12. Jahrhundert entsteht mit dem tragischen abendländischen Liebesroman zweifellos etwas völlig Neues, und es dürfte sich wohl lohnen, den historischen Bedingungen dieses Phänomens nachzugehen. De Rougemont bleibt das Verdienst, wenigstens einen Vorstoß in dieser Richtung getan zu haben.

II Wenn man die Frage neu überdenken will, so empfiehlt es sich, nicht gleich globalgeistesgeschichtlich anzusetzen, sondern von der literarischen Ebene auszugehen, denn hier bewegen wir uns in einem einigermaßen überschaubaren Gelände. Vorweg einige Bemerkungen zur Rolle der Liebe in der Epik vor und auch noch neben dem Ehebruchsroman von Tristan und Isold. Der traditionelle Typus ist die Brautwerbungserzählung. Ihr literarisches Schema ist denkbar einfach 9 : Ein König sucht eine Frau. Er hört von einer fernen Prinzessin, die ihrer Herkunft, ihrer Schönheit, ihrer Tugend nach allein ihm gemäß wäre. Aber die Werbung ist lebensgefährlich, sei es, daß der Brautvater alle Freier umbringen läßt, oder sei es, daß die Prinzessin selbst kaum zu erfüllende Bedingungen stellt. Trotz dieser Hindernisse macht der König sich auf und holt sich mit Gewalt oder List die gewünschte Braut. So geht z. B. König Rother auf eine solche gefährliche Werbungsfahrt, u m die byzantinische Königstochter für sich zu gewinnen. Unter falschem Namen, als Landflüchtiger, tritt er in Byzanz auf, blendet alle durch seinen Reichtum und die Pracht seiner Erscheinung, er dringt zur Prinzessin vor, gibt sich ihr zu erkennen und gewinnt sie für sich, u m dann mit ihr in einem günstigen Augenblick zu fliehen. 10 Der andere Typ wird z. B. durch König Günthers Werbung u m Brünhild im Nibelungenlied repräsentiert. Brünhild verlangt, daß man sie in sportlichen Wettkämpfen besiege - im Speerwerfen, Steinstoßen und Weitsprung -, was Günther bekanntlich mit Sigfrids Hilfe dann auch gelingt." Das Brautwerbungsschema in seinen verschiedenen Varianten ist interliterarisch weit verbreitet, vor allem in der mündlich-heroischen Dichtung. 12 Zugrunde liegt die Vorstellung, daß der Tapferste die Schönste bekommen soll. Die Werbungshindernisse dienen dazu, dies sicherzustellen. Die Bewältigung der Schwierigkeiten legitimiert die Werbung des Helden; er demonstriert damit, daß er wirklich der Stärkste und Beste und damit der schönsten Frau würdig ist. Diese Demonstration ist unabdingbar, denn das Unternehmen ist ein staatspolitischer Akt; die Liebe ist eine Funktion der Macht. Und wenn einmal die Regel durch Betrug durchbrochen wird, kommt es, wie im Nibelungenlied, zum mörderischen Konflikt: Die getäuschte Brünhild hängt Günther in der Hochzeitsnacht gefesselt an einen Haken an die Wand, und Sigfrid m u ß ein zweites Mal eingreifen, u m das Kraftweib endgültig zu bändigen. Aber die Vertuschung hilft

9

Vgl. zum Typus: FRINGS/BRAUN 1947, GEISSLER 1955 und insbes. SCHMID-CADALBERT 1985.

"Vgl. zum einzelnen wie zu den literarhistorischen und literaturtheoretischen Bedingungen HAUG 1988 [c], S. 143ff. [in diesem Band, S. 3-16, hier S. 3ff.]. 11 Zur motivgeschichtlichen Tradition und ihrer Umformulierung im Zusammenhang der Entwicklung des Nibelungenstoffes siehe BEYSCHLAG 1963. 12 Vgl. die Literatur in Anm. 9. 200

letztlich nichts, die Verletzung der Regel wirkt fort und führt zur heimtückischen Ermordung Sigfrids. Das Schema ist auch in seiner negativen Version unerbittlich.'3

III Das altepische Prinzip, daß der Stärkste die Schönste bekommen soll, wird mit dem neuen höfischen Roman des 12. Jahrhunderts nun keineswegs einfach zurückgelassen. Werfen wir zunächst einen Blick auf den Artusroman. Im Prototyp, dem >Erec< Chretiens de Troyes, erscheint das Thema geradezu als narratives Zitat. Erec, ein Ritter des Königs Artus, zieht aus, um eine Beleidigung zu rächen, die ein vorbeiziehender Ritter der Königin angetan hat. Er folgt dem Beleidiger und kommt in eine Stadt, wo am nächsten Tag ein Kampf um einen Sperber stattfinden soll. Die Spielregel lautet, daß derjenige, der den Sieg davonträgt, damit beweist, daß seine amie die Schönste ist, und umgekehrt: wer die schönste amie besitzt, ist in der Lage, zu siegen und den Sperberpreis zu gewinnen.14 Zweimal schon hat der Beleidiger der Königin sich den Preis geholt. Doch nun macht Erec ihm die Trophäe streitig. Dies wird ihm dadurch ermöglicht, daß er in dem armen, aber gräflichen Haus, in dem er Unterkunft findet, auf ein wunderschönes Mädchen trifft, Enide; und für sie tritt er zum Zweikampf an. Er siegt natürlich, er erhält den Schönheitspreis und rächt damit zugleich die Beleidigung, um darauf Enide als seine Braut an den Artushof zu führen, wo das Hochzeitsfest stattfindet. Das Prinzip der Brautwerbungserzählung, nach dem der Stärkste die Schönste bekommen soll, wird hier also in einer Kampfregel formuliert, die einen logischen Salto schlägt: Wer siegt, beweist damit, daß seine Geliebte die Schönste ist, und weil die Geliebte die Schönste ist, kann der Held siegen. Das epische Klischee wird damit auf die Spitze getrieben, man bietet es bewußt als Zitat, man spielt mit ihm, und dies mit dem Ziel, den traditionellen Typus anschließend zu übersteigen. Denn es bleibt nicht dabei, daß der Held durch den traditionellen Kraftakt seine Braut gewinnt, das Verhältnis gerät vielmehr hinterher in eine Krise; sie veranlaßt den Helden zu einem zweiten Auszug, zusammen mit Enide, bei dem die Vorzeichen nun kritisch umgedreht werden. Auf dieser zweiten Fahrt wird Erec schwer verwundet, er stürzt ohnmächtig vom Pferd. Enide hält ihn für tot und will sich verzweifelt das Leben nehmen. Im letzten Augenblick taucht ein Ritter auf, Oringles. Er schleppt die schöne Frau, in die er sich sogleich verliebt hat, und den scheintoten Erec auf seine Burg Limors. Er läßt sich Enide gegen ihren Willen anvermählen und zwingt sie, an einer prächtigen Hochzeitstafel Platz zu nehmen - auf der Bahre nebenan der bewußtlose Erec. Aber Enide rührt keinen Bissen an. Sie weint nur und jammert. Schließlich wird Oringles wütend, er schlägt sie ins Gesicht, so daß sie blutet. Sie schreit auf. Da erwacht Erec aus seiner Ohnmacht, er springt hoch, tötet mit einem gewaltigen Schwertstreich den Grafen und die, die neben ihm sitzen. Alles flieht, und Erec und Enide können aus der Burg entkommen. Aber sie geraten dann an den starken Guivret: es ist ein Freund, der Erec 13

In welcher Weise und weshalb dieses Schema sich untergründig durchsetzt, habe ich anderweitig gezeigt: HAUG 1974 [a] [= Strukturen, S. 293-307]. 14 ROQUES 1955. Die Verse 570ff. formulieren die Bedingungen des Sperberkampfes.

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zu Hilfe kommen wollte. Doch sie erkennen sich nicht. Es kommt zum Kampf, und Erec, völlig geschwächt, unterliegt, und nun ist es Enide, die ihm das Leben rettet, indem sie Guivret sagt, wen er vor sich hat. Auf diesem zweiten Weg geht es also gerade nicht mehr um die schlichte Korrespondenz von Kraft und Schönheit und um die Liebe als Funktion dieses Bezugs, sondern es geht im Gegenteil um die Erfahrung der Schwäche. Die Ohnmacht Erecs meint symbolisch den Durchgang durch den Tod, der Name der Burg Limors weist mit aller Deutlichkeit darauf hin. Die altepische Liebe zwischen dem Stärksten und der Schönsten führt also in die Gegenerfahrung hinein: der Stärkste unterliegt, und an der Grenze des Todes verwandelt sich die erotische Beziehung von einer Funktion im Dienste der Verbindung zwischen dem Stärksten und der Schönsten in eine schenkende Liebe, in eine Liebe, die vom Tod errettet. In seinem zweiten Artusroman, im >Lancelot< oder >Karrenritter< hat Chretien diese Thematik weiter verschärft, ja bis zur Paradoxie zugespitzt.15 Der Roman erzählt, wie ein Ritter, Meleagant, die Königin Guenievre vom Artushof entführt, um sie in ein Land zu bringen, von dem es heißt, daß niemand von dort wiederkehre - eine Formel für das Jenseits, das Totenreich. Lancelot, der die Königin heimlich liebt, macht sich an die Verfolgung, er wird somit, um sie zu retten, ins Jenseits vordringen müssen. Dieser Vorstoß beginnt damit, daß er, als er sein Pferd verliert, sich gezwungen sieht, einen Karren zu besteigen, um dem Entführer folgen zu können. Es ist ein Schandkarren, mit dem man Verbrecher zur Hinrichtung führt. Lancelot wird mit Hohn und Spott überschüttet. Zu dieser Erniedrigung kommt dann nach weiteren Gefährdungen der Übergang über eine Schwertbrücke, bei dem er sich blutig schneidet. Und wenn er drüben schließlich gegen Meleagant zum Kampf antritt, ihn besiegt und Guenievre befreit, so ist die Erlösungstat zwar symbolisch ein Sieg über den Tod, zugleich aber auch ein Durchgang durch den Tod. Das heißt: die Liebe des Helden zur Königin drängt ihn einerseits dazu, sie aus dem Tod zurückzuholen, zugleich aber gibt sie ihm selbst den Tod. Und entsprechend zwiegesichtig ist auch die Beziehung der Liebenden selbst. Der Wunsch, Guenievre zu retten, veranlaßt den Helden zu ungeheuren Kraftund Muttaten, dann aber lähmt ihn der Anblick der Königin auch immer wieder völlig, er wird kraftlos, bis zur Lächerlichkeit. In dieser Ambivalenz sind gewissermaßen der traditionelle und der neue Typus der Liebe ineinander verschränkt: die Liebe ist noch Funktion der heroischen Werbung, sie ist noch Probe, und die Liebe ist zugleich etwas ganz anderes: der Weg in den Tod und durch den Tod hindurch. Diese Ambivalenz radikalisiert sich noch einmal dramatisch, als Lancelot im Jenseitsland den Entführer besiegt hat und dann als Retter vor die Königin tritt. Denn statt daß er Dank erhalten würde, weist sie ihn schroff von sich. Dies deshalb, weil er seinerzeit doch einen kleinen Augenblick gezögert hat, den Schandkarren zu besteigen. Lancelot verzweifelt und will sich umbringen. Im letzten Augenblick erfolgt die Wende. Guenievre ruft den Helden zu sich, und die Liebenden verbringen eine Nacht zusammen. Die Symbolik des Chretienschen Artusromans und insbesondere des >Lancelot< zehrt zweifellos von mythischen Vorstellungen dualistisch-zyklischer Art, vom Descensusmythos und der Idee der Wiedergeburt, wie sie in den frühen agrarischen Kul15

Vgl. zum Folgenden HAUG 1978, insbes. S. 31 ff.

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ten entwickelt worden sind. Über keltische Traditionen ist diese Bilderwelt in die neue höfische Erzählliteratur eingeflossen.16 Zugleich wird man aber nicht übersehen können, daß das keine Mythologie mehr ist, sondern daß die mythischen Bilder zur Darstellung eines Bewußtseinsprozesses herangezogen werden, konkret: zur Darstellung einer neuen Erfahrung von Liebe in der Überwindung der heroischen Formel von der Verbindung des Stärksten mit der Schönsten. Die Liebe ist nicht mehr einfach einem Kraftakt verpflichtet, sondern sie wird nun als Rettung aus Hilflosigkeit und Ohnmacht verstanden - Liebe also nicht mehr als Funktion der Macht, sondern als Gegengewicht zur Schwäche, zum Ausgeliefertsein an den Tod. Oder allgemein anthropologisch formuliert: die Liebe ist die Rettung an jener Grenze, an der der Mensch sich seiner Bedingtheit, seiner Endlichkeit, seiner Sterblichkeit bewußt wird. Die Liebe führt zur Erfahrung der menschlichen Defizienz, und sie ist zugleich die Antwort darauf. Doch auch wenn die Liebe damit ihre eigene Macht entdeckt, ist sie nicht völlig frei von funktionalen Bindungen.

IV Vor diesem arthurischen Hintergrund ist nun der >Tristan< zu sehen. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil der >Lancelot< schon eine Replik auf ihn darstellt. Denn im >Lancelot< hat Chretien die >TristanLancelot< bezeichnenderweise bei der einen ehebrecherischen Liebesnacht im Jenseitsland, und sie bleibt zudem geheim, hat also keinerlei gesellschaftliche Konsequenzen. Lancelot wird hinterher eingekerkert, und es ist Gauvain, der die Königin an den Artushof zurückbringt. Dadurch, daß der Ehebruch im symbolischen Totenreich ausgegrenzt wird, wird er zum Bild für eine einmalig-exemplarische Grenzerfahrung.17 Was nun den >Tristan< angeht, so wird man zunächst feststellen, daß auch hier das altepische Konzept von der idealen Korrespondenz der Partner noch in Geltung ist. Tristan wächst zwar, da seine Eltern tot sind, bei einem Ziehvater auf. Aber er erhält eine vorzügliche höfische Ausbildung, wobei er nicht nur im Waffenhandwerk unterrichtet wird, sondern auch Meisterschaft in allen Künsten erwirbt. Gottfried von Straßburg beschreibt ihn als glanzvollen jungen Helden, der durch seine ritterlich-künstlerischen Fähigkeiten alle in seinen Bann schlägt. Das ist auch der Grund, weshalb er von Kaufleuten entführt wird, und wenn er ihnen dann entkommt, so ist es wiederum seine höfische Brillanz, die ihm spielend Zugang zum Hof seines Onkels Marke verschafft, in dessen Land er verschlagen wird, und die diesen veranlaßt, ihn zu seinem engsten Vertrauten zu machen; und das bereitet den nächsten Schritt vor: als seine Identität enthüllt wird, erklärt der König ihn zu seinem Erben. Also der altepische Heldentypus in höfischer Stilisierung. Die erste große Tat Tristans am cornischen Hof besteht dann darin, daß er den irischen Zinsforderer Morolt tötet und damit Cornwall aus der Abhängigkeit von Ir16 17

Siehe ebd., S. 40ff. Ebd., S. 47ff.

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land befreit. Aber Tristan empfängt bei diesem Kampf eine Wunde von Morolts vergiftetem Schwert, die niemand heilen kann außer der kräuterkundigen Schwester des Erschlagenen, der irischen Königin. So macht sich Tristan denn, dem Tode nahe, verkleidet nach Irland auf, und es gelingt ihm das Kunststück, sich inkognito von der Frau, die ihn am meisten hassen muß, heilen zu lassen. Dabei lernt er die irische Prinzessin Isold kennen. Auch sie entspricht dem traditionellen Ideal: sie ist von wunderbarer Schönheit, und es ist dann Tristan, der sie auch die höfischen Künste lehrt, so daß sie hierin sein Spiegelbild wird. Damit ist die typische Stilisierung des Helden und der Heldin zum ideal-korrespondierenden Paar erreicht. Aber die Handlung geht im weiteren nicht den Weg, den man erwarten möchte. Tristan kehrt nach Cornwall zurück, berichtet dort von seinem Unternehmen und von Isold. Und nun bringt es der auf ihn eifersüchtige Hof dahin, daß Tristan noch einmal nach Irland fährt, um dort für seinen Onkel Marke um Isold zu werben. Die Neidlinge hoffen, daß er entweder dabei umkommt oder die Vermählung des Königs zu Nachkommen führt, was den Günstling und Erben aus seiner Stellung verdrängen würde. Obgleich er den Plan durchschaut, geht er tollkühn darauf ein. Und damit verweigert er sich zugleich dem traditionellen Schema, denn die Handlung zielt scheinbar nicht darauf, das ideale, füreinander bestimmte Paar zusammenzubringen, sondern es kommt zur Werbung des Helden für einen dritten, einer Werbung gegen die angesetzte Konstellation. Im übrigen läuft das Unternehmen schemagemäß ab. Tristan weiß, daß es in Irland einen Drachen gibt und daß demjenigen die Königstochter zugesagt ist, der das Land von dem Untier befreit. Tristan gelingt das halsbrecherische Wagnis, er tötet das Monstrum, gerät dann aber in eine gefährliche Lage, weil man ihn nun als den Morolttöter identifiziert. Doch am Ende löst sich die Verstrickung, und Tristan kann Isold als Braut für seinen Onkel mit sich fortführen. Damit das füreinander bestimmte Paar trotzdem zusammenkommt, bedarf es eines Neueinsatzes, es bedarf des ominösen Liebestranks. Es wird also im >Tristan< das traditionelle Schema zwar durch die ideale Typisierung der Figuren angesetzt, aber es funktioniert zunächst nicht, um dann gegen den Willen der Betroffenen doch zum Ziel zu kommen, freilich nicht zu dem unproblematischkonventionellen Ziel, sondern zum Ziel im Ehebruch. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß die Brautwerbung zwar immer noch als heroisch-staatspolitischer Akt geplant ist, und dieser Aspekt bleibt dann insofern durchgängig bewahrt, als die Verbindung von Marke und Isold, die den Frieden zwischen Irland und Cornwall besiegeln soll, zustandekommt und bestehenbleibt; aber die Liebe hat sich davon gelöst, ja, sie steht quer dazu, und sie erscheint als eine rein persönliche Beziehung. Und das ist es selbstverständlich, worum es in diesem Roman geht. Der Eros zeigt sich als eine heroisch-politisch nicht funktionalisierbare Macht. Das ist zwar schon im arthurischen Typus so, aber die Liebe bleibt dort doch insofern gesellschaftsbezogen, als die ideale Festlichkeit des Hofes dadurch ermöglicht wird, daß der Einzelne stellvertretend für alle durch den Tod hindurchgeht: das arthurische Fest resultiert aus der Begegnung mit dem Tod und dem Eros; aus ihr heraus erneuert die Gesellschaft ihre Idealität. Daß Liebe und Tod ineinandergebunden sind, diese Verschränkung ist auch für den >Tristan< von zentraler Bedeutung. Als Tristan und Isold den Trank zu sich genommen haben, sagt die Begleiterin, Brangäne, der er anvertraut war: „Dieser Trank ist euer 204

beider Tod".18 Sie meint damit, daß die Folgen tödlich sein werden, sie denkt an den Ehebruch und das Verhängnis, das sich daraus ergeben muß. Tristan antwortet darauf provozierend bedenkenlos mit den berühmten Worten: „Über den Tod, den du meinst, weiß ich nichts, aber dieser Tod hier tut mir wohl. Sollte die wunderbare Isold immer so mein Tod sein, dann bin ich gerne breit, ewig zu sterben."19 Damit ist der arthurische Durchgang durch den Tod und die Rettung durch die Liebe in das Paradox des einen Aktes zusammengedrängt: die Liebe ist der Tod, Lieben heißt zugleich Sterben und Erlöst-Werden, sie ist Selbstpreisgabe und Zu-sich-selbst-Kommen in einem. Liebe als Tod und Leben zugleich - dieses Paradoxon läßt Ausfaltungen in verschiedenen Richtungen zu. Sie finden sich schon bei Gottfried selbst, und so verwundert es nicht, daß die Interpreten sich entsprechend in verschiedene Richtungen haben verlocken oder verführen lassen und daß die Deutungen extrem divergieren.20 Liebe als Tod und Leben zugleich: man kann das Paradox - und das ist der simpelste Weg - in zwei Formen von Liebe auflösen, in eine gefährdende, dem Physischen verhaftete, sinnliche und in eine verklärende, vervollkommnende, seelisch-geistige Liebe. Gottfried Weber hat sein berühmt-berüchtigtes >TristanTristan< die verschiedensten Explikationen. In keiner sollte man so etwas wie die Lösung sehen, vielmehr hat man, indem man die Aspekte durchspielt, gerade an der den Eros kennzeichnenden unauflösbaren Spannung festzuhalten: Liebe als universale, alles bewe-

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einschlägigen Literatur: HUBER 1988, S. 79-135. Dazu: HAUG [im Druck] [in diesem Band, S. 171-183].

Vv. 187ff.: liebe ist ein also salec dinc, / ein also saleclich gerinc, / daz nieman ane ir lere / noch lügende hat noch ere. 26 Die Beschreibung: vv. 16689ff., die Deutung: vv. 16923ff. - Zum einzelnen wie zum Traditionshintergrund siehe HAUG 1977, S. 179-182 [= Strukturen, S. 110-125, hier S. 122-124]. 27 Zur Bedeutung und Funktion dieses Begriffs der ere siehe HAUG 1986 [a], S. 46f. [ = Strukturen, S. 600-611, hier S. 605f.].

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gende Macht ist Sinnlichkeit und Geist, Fall und Erlösung, Verzweiflung und Verzükkung, Tod und Leben in einem. Und doch ist das nicht Gottfrieds letztes Wort. Die Interpreten haben das aber erstaunlicherweise, wohl weil sie allzu fasziniert waren von der irritierenden Widersprüchlichkeit, nicht gesehen 28 : Der König hat die Liebenden im Baumgarten entdeckt, er geht weg, um Zeugen zu holen; inzwischen kann Tristan entkommen, und Marke bleibt ohne Beweise. Aber die Trennung ist unvermeidlich. So sieht m a n denn Isold stehen und dem Segel nachschauen, das das Schiff mit dem Geliebten davonführt. Und nun wird das Wort von der Liebe als Tod und Leben wieder aufgegriffen, aber in negativer Abwandlung. Die Liebenden, so heißt es, sind lebendig tot, Isold kann weder sterben noch leben (v. 18478). Und sie hält nun einen langen inneren Monolog: „Ach, ach, Tristan, . . . weshalb zieht Ihr von mir fort? Damit verlaßt Ihr, ich weiß es, Euer Leben,. . . denn Euer Leben, das bin ich. Wir sind mit unseren Leben so sehr in eins verwoben und so völlig ineinander verflochten, daß Ihr mein Leben mit Euch fortführt und mir das Eure hierlaßt. Niemals waren zwei Leben so zu einem verschmolzen. Und so tragen wir füreinander Tod und Leben in den Händen. Keiner von uns kann deshalb wirklich weder sterben noch richtig leben, wenn ihm der andere es nicht gewährt" 29 : 18515

,hie mite enist diu arme Isot noch lebende noch rehte tot: ine kan weder dar noch dan.' („Damit ist die arme Isold weder am Leben noch richtig tot: ich kann weder dahin noch dorthin.")

Und nun fleht sie Tristan an, ihr doch zu helfen, ihr doch zu zeigen, wie sie unter diesen Bedingungen leben soll: ,nu leret an! wes swiget ir?': „Lehrt mich doch! Was schweigt Ihr?" (v. 18524). Doch gleich faßt sie sich wieder: „Was rede ich für Unsinn", sagt sie, „dort fährt Tristans Wort und der Sinn, den es mir geben könnte, davon, und so ist Isold und ist ihr Leben dem Schiff und den Winden preisgegeben. Wo kann ich mich

Ich muß meine verschiedenen >TristanMann ohne Eigenschaften< im Verhältnis von Ulrich und Agathe dargestellt hat. (Ich zitiere im folgenden nach MUSIL 1981). Die Anknüpfung an mittelalterliche Traditionen ist offenkundig (vgl. dazu insbes. WAGNER-EGELHAAF 1989, S. 108ff.). In der Beziehung zwischen Bruder und Schwester wird hier genau das praktiziert, was Lancelot und Guenievre nicht können: das Sich-Hintasten im Wort, in der „Glut" der Worte (S. 1220), zum wortlosen Einssein über den Abgrund der unähnlichen Ähnlichkeit hinweg, und dies im Wissen um jenes Prinzip, zu dem sich schon Isold in ihrem Abschiedsmonolog bekannt hat - hier nun in den Worten Agathes, mit denen sie das Sein im Tausendjährigen Reich, im Reich der Liebe, zu fassen sucht: „Man muß sich darin ganz still betragen . . . Man darf keinerlei Verlangen Platz lassen; nicht einmal dem zu fragen . . . Man muß seinen Geist aller Werkzeuge berauben und daran hindern, wie ein Werkzeug zu dienen. Das Wissen ist von ihm abzutun und das Wollen; der Wirklichkeit, und des Begehrens, sich ihr zuzuwenden, muß man sich entschlagen. Ansichhalten muß man, bis Kopf, Herz und Glieder lauter Schweigen sind. Erreicht man so aber die höchste Selbstlosigkeit, dann berühren sich schließlich Außen und Innen, als wäre ein Keil ausgesprungen, der die Welt geteilt hat .. .!" (S. 1234). 213

Eros und Fortuna Der höfische Roman als Spiel von Liebe und Zufall

I Liebe und Zufall stehen in einem eigentümlich leidvoll verschlungenen Verhältnis zueinander. Dies ist literarisch immer wieder bedrängend zum Ausdruck gebracht worden. Als Paradefall kann Shakespeares >Romeo und Julia< dienen: Bruder Lorenzo hat Julia, um sie vor der Heirat mit Paris zu bewahren, einen Trank gegeben, der sie in einen todähnlichen Schlaf versenkt. Wenn sie dann in der Familiengruft nach 42 Stunden erwacht, soll Romeo, der nach Mantua verbannt ist, zur Stelle sein und mit ihr fliehen. Aber der Bote, den Lorenzo nach Mantua schickt, wird aufgehalten. Durch diesen Zufall - „by accident" (V,3,252) - erfährt Romeo den wahren Sachverhalt nicht, er hört nur, daß Julia tot sei; er kehrt überstürzt nach Verona zurück, bricht das Grabgewölbe auf und vergiftet sich am Sarg der Geliebten. Lorenzo kommt um Augenblikke zu spät, und Julia, als sie aufwacht und Romeo tot neben sich findet, stößt sich den Dolch ins Herz. In diesem Figurenspiel ist Lorenzo die im Grunde interessanteste Gestalt. In ihm reflektiert sich die menschliche Ohnmacht gegenüber der Verstrickung von Liebe und Zufall, eine Ohnmacht voll von rührender Bemühung, Verzweiflung, Versagen, Anklage und Schuldbewußtsein. Raoul Aslan hat, als er ihn seinerzeit an der Burg spielte, durchspüren lassen, daß auch er Julia liebt. Das müßte ihn vom Zusammenhang von Liebe und Zufall her in besonderer Weise zum Instrument der Fortuna machen. Lorenzo meint jedenfalls, alle Fäden klug in der Hand zu haben. Um so erschreckender ist es dann zu sehen, daß ein kleines Mißgeschick genügt - der Bote, der sein Ziel nicht erreicht -, um das Drama zum tragischen Ausgang zu führen. Auf der andern Seite zögert man anzunehmen, daß dieser Zufall der eigentliche Grund der Katastrophe sei. Denn er ist offensichtlich nur das auslösende Moment eines tragischen Finales, das sich, von weiterher angelegt, aus einer tieferen Notwendigkeit ergibt. Wenn dem nicht so wäre, müßten wir das Geschehen als absurd oder grotesk empfinden, wie gewisse Schicksalstragödien des 19. Jahrhunderts - man denke an Platens Verhängnisvolle Gabek Vielmehr scheint die Tragik Shakespeares Liebesgeschichte von vornherein eingeschrieben zu sein. Schon der Prolog kündigt sie an, und sie ist dann in Vorahnungen, in den unheilvollen Verwicklungen, ja in der ganzen vorgegebenen Konstellation präsent. Die Liebenden versuchen zwar, sich dem drohenden Verhängnis zu entwinden, doch der Zufall spielt ihm immer wieder zu; er ist der mehrfach eingesetzte Mechanismus, über den das Geschehen zu seinem katastrophalen Ziel kommt. Denn das kritische Mißgeschick, der Bote, der Romeo nicht erreicht, ist ja nur ein besonders markanter Zufall in einer ganzen Serie von Zufälligkeiten, die die Handlung zum tragischen Ende hintreiben, von den sich kreuzenden Wegen, auf 214

denen die Mitglieder der feindlichen Familien sich treffen, so daß es zu Mord und Totschlag kommt, bis hin zu dem kurzen Moment, um den Lorenzo zu spät in der Gruft erscheint. Der Zufall ist das Vehikel der tragischen Verstrickung, aber er scheint, wie gesagt, nicht ihr Grund zu sein. Oder vom Dichter aus formuliert: Shakespeare bedient sich handlungstechnisch des Zufälligen, um seine Liebesgeschichte zur Katastrophe zu führen. Die Liebe scheitert an widrigen Umständen, die dann gewissermaßen dem Zufälligen ihr Gesetz aufdrängen. Die Frage ist, ob genau dies dem Publikum bewußt gemacht werden sollte, nämlich, daß es notwendigerweise einen tragischen Widerspruch gibt zwischen einer Liebe, die unbedingt ist, die keine Rücksichten gegenüber konkreten Gegebenheiten kennt, und den gesellschaftlichen Bedingungen, die eine solche rücksichtslose Liebe nicht zulassen. Der Familienzwist in Verona stünde dann für eine Welt, die durch Vorgaben bestimmt, also nicht verfügbar ist und an der deshalb eine Liebe, die sich absolut setzt, prinzipiell zerbrechen muß. Gerade auch das Zufällige könnte dann diese Nicht-Verfügbarkeit demonstrieren und von daher seinen Sinn gewinnen; es würde sozusagen die Gegenposition zu einer Liebe vertreten, die alles fordert, ja aus ihrer Unbedingtheit heraus alles fordern muß. Im Zufall könnte sich somit das Prinzip des Relativen in einer Welt vielfältiger Abhängigkeiten treffend manifestieren. Man kann diese These weiter zuspitzen und sagen, eine Liebe, die sich absolut setze, werde nicht nur zwangsläufig an der Welt scheitern, sondern sie müsse dieses Scheitern geradezu suchen, um sich ihren absoluten Charakter zu bewahren. Wenh sie sich der Gesellschaft fügen würde, sich institutionalisieren ließe, müßte sie sich selbst relativieren, konkret: sie würde sich in der Ehe verschleißen. Die absolut gesetzte Liebe darf - unter dieser Prämisse - also gar nicht zum Ziel kommen, wenn sie sich nicht selbst verraten will. So gesehen, gibt es die unbedingte Liebe nur als Selbstbewahrung in der Katastrophe. Und dies legitimiert den Dichter, das Arsenal des Zufälligen gegen sie aufzubieten, d. h. das Prinzip des Relativen wirksam werden zu lassen, denn gerade gegenüber dem Kontingenten kann die Liebe ihre Unbedingtheit offenbaren und diese zugleich, indem sie am Zufälligen zerbricht, retten. Daraus folgt: Absolut verstandene Liebe kann wesensgerecht nur tragisch gestaltet werden. Die alte These, daß Liebe und Ehe nicht miteinander vereinbar seien, gewinnt damit einen Sinn, der die ovidische Oberflächlichkeit, der sie sich ursprünglich verdankt, zurückläßt. Man wird jedoch nicht übersehen, daß eine solche Zuspitzung die Verständnisperspektive nicht unerheblich verschiebt. Denn es ist ja nicht dasselbe, ob man sagt, die absolut gesetzte Liebe vertrage sich nicht mit den Bedingtheiten der gesellschaftlichen Welt und die Liebenden müßten deshalb im Konflikt mit ihr zugrundegehen, oder ob man sagt, die Liebe könnte ihren Absolutheitsanspruch in dieser bedingten Welt gar nicht durchhalten, und deshalb sei sie nur als tragisches Geschehen darstellbar. Im ersten Fall scheitert die Liebe am Widerstand der Welt, und diese wird damit schuldig, im zweiten Fall dient das Scheitern an der Welt dazu, die Liebe vor ihrer Relativierung zu schützen, d. h., es ist die Problematik, die zum Wesen der absoluten Liebe gehört, die poetisch die Katastrophe notwendig macht. Hier wie dort aber erscheint das Zufällige als dichterisches Mittel, um der Bedingtheit zum Sieg über das Unbedingte zu verhelfen. Es fragt sich jedoch, ob diese Feststellung genügt. Ist der Zufall wirklich nur ein mechanisches Mittel, um die Katastrophe, die durch außerhalb von ihm liegende 215

Gründe gefordert wird, in Szene zu setzen? Wenn dem so wäre, müßte diese Mechanik trotz allem unbefriedigend, ja inakzeptabel sein. Das Zufällige als Glück oder Unglück ist das nicht beherrschbare objektive Korrelat unserer subjektiven Lebensentwürfe. Und da am Ende immer das Nicht-Beherrschbare schlechthin, der Tod, steht, behält der negative Zufall auf lange Sicht die Oberhand: der Zufall spielt das Leben auf den Tod ein. Das hat man treffend im Bild des Fortunarades gefaßt, das den, der mit ihm aufsteigt, zwangsläufig in die Tiefe stürzt. Der Erfolg dieses Bildes gründet in seiner elementaren Wahrheit, d. h. in der Einsicht in das prinzipielle Überwiegen des Unglücks über das Glück im menschlichen Leben. Man ist versucht zu sagen, daß das Leben nichts anderes sein könne, als ein immer neues Bemühen, Spielräume zu gewinnen gegenüber dem letztlich unaufhaltsamen Untergang.1 Der Zufall als das Unbeherrschbare, das zum Tod hintreibt, manifestiert sich auf dem Lebensweg als Diskrepanz zwischen Wollen und Ergebnis, zwischen Verdienst und Erfolg. Dies übrigens - der aufsteigenden Phase des Rades entsprechend - nicht nur negativ, sondern auch positiv. So verzweiflungsvoll der unverschuldete Fehlschlag sich darstellt, so glanzvoll erscheint ein Gelingen jenseits des Verdiensts. Vom Glücklichen geht eine unerhörte Faszination aus. Sie liegt in diesem irrationalen Moment des Gelingens, dem etwas Übermenschliches anhaftet. Die Vita Alexanders des Großen kann als Musterbeispiel gelten. Daß sie die Phantasie dermaßen beschäftigt hat, so daß es über Jahrhunderte hin zu immer neuen Gestaltungen gekommen ist, hängt nicht zuletzt an der Nichtverrechenbarkeit seines Glücks: bei allen Fähigkeiten und bei aller Energie gibt es in dieser Vita etwas Unbegreifliches, wofür man nur die Fortuna verantwortlich machen kann - wenn man es nicht über eine Erklärung im Rahmen der Translatiotheorie und damit der Heilsgeschichte auffangen will.2 Jedenfalls ist der Glanz des Gelingens bei aller Faszination ebenso provozierend, wie sich der Mißerfolg als Stachel in einem sinngläubigen Weltentwurf erweist. Denn man ist sich des gläsernen Charakters des Glücks bewußt. Je spektakulärer der Erfolg, um so kürzer erscheint der Schritt zum Absturz. Und was nun die Liebe betrifft, so ist sie als ein gnadenhaftes Gelingen in dem hohen Maße ein Faszinosum, in dem sie zugleich der Zerstörung und dem Tod ausgeliefert ist. Man darf deshalb wohl sagen, die letzte Legitimation der Zufallsmechanismen in Shakespeares Drama liege in der anthropologischen Affinität zwischen Liebe und Fortuna, in der innersten Verflechtung zwischen der vollkommensten Form irdischen Glücks und der Negativität des Lebens. So sind es denn drei Aspekte, unter denen die Tragik des Eros literarisch in Erscheinung tritt: 1. als der Widerstand der Welt gegenüber der Liebe als etwas Absolutem, 2. als das Bewußtsein, daß sie sich nur im Untergang bewahren kann, und 3. als das Überwiegen der negativen Fortuna, als die Präsenz des Todes auch, ja gerade im höchsten Glück. Es gehört zur Aufgabe des Interpreten zu zeigen, wie die Akzente von Fall zu Fall gesetzt sind. 1 2

Vgl. zur philosophischen Begründung dieser Position MARQUARD 1995 und SPAEMANN 1995. Das Gesamtbild ist freilich höchst widersprüchlich; vgl. CARY 1956. Ein Beispiel aus der deutschen Literatur: Lambrecht, der Bearbeiter des Alexanderromans Alberics, ist einerseits fasziniert von seinem Helden; er nennt ihn den wunderliche[n] Alexander (v. 45, zit. nach MAURER 1964 [a]), dem keiner zu vergleichen sei, und er bringt dann doch immer wieder seine geistlichen Vorbehalte an. Zum heilsgeschichtlichen Aspekt siehe CARY 1956, S. 118ff. 216

II Es gibt zwei klassische Angebote, mit dem Fortunaproblem fertig zu werden, das platonische und das aristotelische. Und es ist nicht überraschend, daß jedes auf seine Weise die leidenschaftliche Liebe dabei auszuschalten versucht. Der beiden gemeinsame Grundgedanke ist der, daß ethisches Verhalten seinen Sinn in sich selbst trägt, daß das Gut-sein das wahre Glück darstellt, und dies unabhängig vom äußeren Erfolg, d. h. unabhängig davon, ob Fortuna mitspielt oder nicht. Die ethische Vervollkommnung als summum bonum schließt die Kluft zwischen Verdienst und Lohn. Die beiden Angebote unterscheiden sich jedoch in der Hinsicht, daß die platonische Konzeption ein Aufstiegsmodell anbietet. Die Einsicht in das wahre Glück des Guten führt den Menschen aus den Wandelbarkeiten des Irdischen, also aus dem Bereich der Fortuna heraus und zu einer intelligiblen Welt empor, die sich selbst genügt und in der der Mensch letztlich gottähnlich wird. Der Eros ist identisch mit diesem Streben nach oben. Alles Erotische, das am Sinnlichen hängenbleibt, also nicht dazu dient, die Erscheinungen zu übersteigen, wird abgewiesen und zurückgelassen. Die Liebe spaltet sich in eine himmlische und eine irdische auf. Die für das Mittelalter wirkungsvollste Darstellung dieses Modells ist bekanntlich die >Consolatio Philosophiae< des Boethius. Der Aufstieg erfolgt hier aus der Verzweiflung über die Ungerechtigkeit der Welt heraus: Boethius hat alles verloren, Güter und Ehren, er steht vor der Hinrichtung. Da erscheint ihm im Kerker die Philosophie in der Gestalt einer weisen Frau und lehrt ihn, alles zurückzulassen, was der Wankelmütigkeit der Fortuna unterworfen ist, um sich dem Guten als dem einzig unverlierbaren Besitz zuzuwenden. Hat man diese Stufe erreicht, kommt dies einer deificatio gleich, und dies bedeutet zugleich die Einstimmung in die Liebe Gottes, die den Kosmos trägt.3 Gegenüber diesem Modell, das eine Bewegung anstoßen will, die das Irdische transzendiert, begründet Aristoteles eine der Welt zugewandte Ethik der Mitte, des rechten Maßes, der Sophrosyne. Sein erstes Musterbeispiel ist allbekannt: Tapferkeit definiert sich als die rechte Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit.4 Die Liebe erscheint in dieser Ethik als Philia, und als solche gehört sie wesentlich mit zur menschlichen Glückseligkeit. Denn wahrhaft glücklich wird der Mensch nur im Zusammenleben mit jenen, die sich in gleicher Weise dem Prinzip des Guten verpflichtet haben. Deshalb kann weder das Lustvolle noch das Nützliche die Basis der Philia sein, da beides seinen Zweck außerhalb der personalen Beziehung hat, so daß sich diese dann auch auflöst, wenn sich der Zweck erfüllt hat. Die Philia ist nur von Dauer, wenn sie ihren Sinn in sich selbst findet, d. h., wenn man den Andern um seiner selbst willen liebt. Aristoteles grenzt Lust und Nutzen dabei nicht rigoros aus, er läßt beides zu, wenngleich sie seines Erachtens nicht wesentlich sind.5 In diesem Punkt wird die mittelalterlich-theologische Amicitia-Lehre härter sein, da sich für eine christliche Position eine rein innerweltlich begründete Liebesauffassung ausschließt. Aelred von Rievault bindet das antike Philia-Konzept in die Gottesliebe 3

Siehe dazu HAUG 1992 [b], S. 88ff. [in diesem Band, S. 501-530, hier S. 512ff.]. Nikomachische Ethik, II, VI,4 - IX,9, zur Tugend als Mitte; das genannte Beispiel: II, VII,2. 5 Ebd., VIIIJ - VIIIJII. Vgl. LANGER 1995.

4

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zurück. Damit ist auch aus der aristotelischen Konzeption der Rest an Sinnlichkeit verbannt.6 Die Ethik der Sophrosyne erreicht über die Stoa die Kirchenväter. Der Humanist Clemens von Alexandrien begründet von ihr her eine christliche Tugendlehre, indem er eine vernünftige Mitte zwischen Zügellosigkeit und Askese propagiert - dies mit deutlicher Spitze gegen die rigorosen Strömungen seiner Zeit. Auch für Origenes sind die natürlichen Triebe gut, sofern sie innerhalb des rechten Maßes bleiben. Und Hieronymus geht ebenfalls vom Tugendbegriff der Mitte aus, und das Maßhalten gilt selbst für die Wißbegierde. Prudentius bringt dieses Konzept schließlich auf die griffige Formel: Omne quod est nimium vertitur in Vitium. Die Reihe läßt sich fortsetzen über Julius Pomerius, Martin von Braga, Isidor von Sevilla u. a.: sie vermitteln das Konzept dem hohen Mittelalter.7 Episch-allegorisch umgesetzt erscheint es im >Architrenius< des Johannes von Hauvilla8: Der Held dieser Erzählung - eben der Erzweiner - macht sich verzweifelt über die Sündenanfälligkeit des Menschen auf, um bei Natura Hilfe zu holen. Er geht einen harten Weg durch Täler und über Berge in Kälte und Hitze und gelangt zunächst zum Palast der Venus. Ein wunderschönes Mädchen wird beschrieben sowie Amor, der seinen Bogen spannt. Aber das hält den Helden nicht, denn hinter diesen Erscheinungen stehen Leichtsinn und Wollust. Er kommt zu anderen Lasterorten, zu den Freßsüchtigen und Säufern - alles in breiter Ausmalung, mit Kontrastbeispielen und entsprechenden Reflexionen. Dann erreicht er Paris, und hier wird höchst anschaulich das entbehrungsreiche Leben der Scholaren geschildert und ihr Los beklagt. Im Gegensatz dazu liegt der Ort der Mächtigen auf dem Berg der Ambitio; die Pracht und der Reichtum, der diese Berglandschaft und den Palast kennzeichnen, werden ausgemalt, aber auch der Betrug und die Heuchelei erwähnt, die das Leben der Höflinge vergiften. Insbesondere hier herrscht Fortuna mit ihrem Rad, von dem die Herrschenden am Ende herabstürzen. Danach gelangt der Held zum Hügel der Praesumptio, wo er viele Formen anmaßenden Verhaltens sieht. Die Schwester der Praesumptio aber ist die Superbia. Darauf begegnet er dem Ungeheuer Cupiditas, sieht dann zwei Heere im Kampf, deren eines für die Avaritia, das andere für die Largitio steht. Auf einer Wunderinsel namens Tylos trifft Architrenius antike Philosophen, die ihm Ethik-Vorträge halten, Laster und Tugenden werden einander gegenübergestellt. Und dann steht er unvermittelt vor Natura, die den über die Sündhaftigkeit der Welt Verzweifelten auf die Schönheit des Kosmos hinweist. Er klagt sie trotzdem heftig an, worauf sie ihm zu heiraten rät, und sie führt ihm auch gleich ein schönes und tugendhaftes Mädchen zu: Moderantia. Auf ihrem Halsband sind keusche Frauen des Altertums dargestellt. Sie übergibt dem Bräutigam ein Kästchen, das den Bund des Friedens, das Band der Freundschaft, die Zügel des Maßes, das Ende der Schuld, den Weg der Mitte, den Gang des Rechts u. a. m. enthält, also das Programm des Werkes in nuce. Die Heirat mit der Personifikation des Maßes wird hier somit als Heilmittel für die ethische Not angeboten - ein Konzept offensichtlich völlig aus antikem Geist entworfen, auch wenn gelegentlich biblische Materialien einfließen, Kirchenkritik geübt wird "Ebd. 7 8

Vgl. HERMANNS 1913, S. P. G. SCHMIDT 1974.

218

15ff.

und die Laster als Sünden erscheinen. Nicht ohne Interesse ist dabei, daß dieser Ausweg aus dem Konflikt erotisch als Heirat ins Bild gebracht wird, wobei diese Heirat aber gerade die Zähmung auch des Erotischen meint. Die Handlung besitzt immer wieder unverkennbar komische Züge, und der Verdacht drängt sich auf, daß das Werk insgesamt als Persiflage gemeint sein könnte.9 Aber auch wenn dies zutreffen sollte, belegt es die Existenz dessen, worüber es sich lustig macht: die Moderantia als Lösung der ethischen Frage. Auch die erste romanhafte Dichtung in deutscher Sprache bietet die mäze als Rettung vor der Gefahr des Exzessiven an. Es handelt sich - gewiß nicht zufällig - um eine Darstellung des Alexanderlebens, und zwar als Teilübersetzung durch einen moselfränkischen Geistlichen namens Lambrecht um 1160 und fortgesetzt von einem Anonymus, dessen Version sich in unterschiedlicher Überarbeitung in den Fassungen von Basel und Straßburg niedergeschlagen hat.10 Das Thema des glücklichen Gelingens verbindet sich mit dem der Maßlosigkeit. Erstmals erscheint hier, d. h. in der fortgesetzten Fassung, die Episode des >Iter ad paradisum< im Romanzusammenhang: Alexander wird an der Mauer des Paradieses zurückgewiesen und mit einer Erinnerung an seine Sterblichkeit belehrt, daß mäze gerade für den, dem alles Glück zufällt, die Richtschnur sein sollte. Und er hält sich daran.11 Rudolf von Ems wird ein dreiviertel Jahrhundert später das Problem am selben Gegenstand zuspitzen. In seinem >Alexander< mahnt der sterbende Darius den Welteroberer, indem er ihn auf sein eigenes unglückliches Schicksal hinweist, das Maß zu wahren: 14959

,diu Mäze sol dich leren nach weltlichen eren werben wol mit sinnen, so mahtü si gewinnen. 'n

Und unter dieser Bedingung sei es möglich, nicht nur zur Höhe des Fortunarades aufzusteigen, sondern sich auch dort zu halten. Das rechte Maß überwindet hier die Kluft zwischen Verdienst und Erfolg; Fortuna kann mit sinnen - mit Klugheit, mit vernünftigem Überlegen (später wird sinne durch witze variiert, v. 20548) - bezwungen werden. Und Rudolf behauptet, daß Alexander dies gelungen sei.13 Man mag diesen recht kühnen Zugriff auf die Geschichte dem pädagogischen Optimismus des Fürstenspiegels zugute halten, als der der >Alexander< fungieren sollte, im Prinzip jedenfalls bleibt das aristotelische Modell die Basis. Hält sich die Tradition der antiken Maßethik auf der einen Seite durch die Jahrhunderte durch, so ist man auf der andern doch immer wieder auch gegen sie ange9

SO:GODMAN

10

1995, S. 64ff.

Zum Verhältnis der verschiedenen deutschen Fassungen zueinander vgl. Werner Schröder, VL2 5, Sp. 494-510, hier Sp. 497ff. 11 Zur Tradition der Iter ad paradisum-Episode siehe CARY 1956, S. 19ff. - Zur Bedeutung der Episode für die Entwicklung des vulgärsprachlichen Romans: HAUG 1973 [a], S. 132f. und S. 135ff. [= Strukturen, S. 236-256, hier S. 239f. und S. 241 ff.]. l2 Zit. nachJuNK 1928/29. 13 Die einschlägigen Stellen und ihre Diskussion im Blick auf die Konzeption des Werkes bei HAUG 1985/1992, S. 290ff. bzw. S. 299ff.

219

gangen, dies nicht nur im Sinne radikalerer ethischer Forderungen für ein geistliches Leben, dem, in Abgrenzung gegenüber einer Laienmoral, mit dem Prinzip der moderatio nicht Genüge zu tun war, sondern auch und gerade von christlichen Prämissen genereller Art her. So konnte Bernhard von Clairvaux denn sagen, daß die Gottesliebe, die die Grundlage einer christlichen Ethik sein müsse, grundsätzlich kein Maß kenne.14

III Dieser Gedanke einer Liebe, die ihrem Wesen nach maßlos ist, begegnet im profanen Bereich wieder. Die Entdeckung der personalen Liebe in der Literatur des 12. Jahrhunderts schließt in sich, daß das, was das platonische wie das aristotelische Konzept ausgegrenzt haben, nämlich eine Geist und Sinnlichkeit in gleicher Weise umfassende Erotik, zurückgeholt wird. Und dies bedeutet sowohl die Absage an die platonische Aufspaltung der Liebe in zwei Veneres als auch an eine bestenfalls gemäßigte Liebe im aristotelisch-humanistischen Sinne. Es gibt ein Lied Walthers von der Vogelweide, das man, vor diesen Hintergrund gestellt, geradezu als Programmgedicht der neuen Position lesen könnte: Aller werdekeit ein füegerinne (46,32).15 Aller werdekeit ein füegerinne, daz sit ir zewäre, frowe Mäze. er scelic man, der iuwer lere hat! der endarf sich iuwer niender inne weder ze hove schämen noch an der sträze. dur daz suoche ich, frowe, iuwern rät, daz ir mich ebene werben leret: wirb ich nider, wirb ich höhe - ich bin verseret. ich was vil nach ze nidere tot, nü bin ich aber ze hohe siech: unmäze enlät mich äne not! Nideriu minne heizet diu so swachet, daz der muot nach kranker liebe ringet: diu minne tuot unlobeliche we. höhiu minne reizet unde machet, daz der muot nach hoher wirde üf swinget: diu winket mir nü, daz ich mit ir ge. mich wundert, wes diu Mäze beitet: kumet diu herzeliebe, ich bin iedoch verleitet, min ougen hänt ein wip ersehen, 14

Dies in seiner Auseinandersetzung mit Abailards These von der Möglichkeit einer natürlich begründeten Ethik; siehe dazu HERMANNS 1913, S. 43f. 15 Ich folge, mit geringfügigen Eingriffen, die unproblematisch sind, der Hs. A; dies auf der Basis der grundlegenden Textkritik von BACHOFER 1969, S. 186ff. 220

swie minneclich ir rede si, mir mac doch schade von ir geschehen. (Ihr, edle Mäze, seid es wahrlich, die alles im Blick auf Wert und Würde ordnet. Glückselig ist, wer Eure Lehre in sich aufgenommen hat! Er braucht sich Euer nirgendwo zu schämen, weder am Hofe noch auf der Straße. Deshalb bitte ich, edle Mäze, um Eure Hilfe: mögt Ihr mich doch lehren, mich in rechter Weise um Liebe zu bemühen. Suche ich die Liebe im Niederen, suche ich sie in der Höhe: beides trägt Wunden ein. Ich bin an niedriger Liebe beinahe zugrunde gegangen. Nun bin ich wiederum krank, weil ich hohe Liebe suchte. Die Maßlosigkeit läßt nicht ab, mich zu quälen. Niedere Liebe nennt man die, die erniedrigt, indem das Herz nach nichtswürdiger Lust verlangt. Diese Liebe schmerzt, indem sie nur Verachtung bringt. Hohe Liebe ist verlockend, und sie führt dazu, daß das Herz sich aufschwingt zu hoher Würde: sie winkt mir nun, ich solle mit ihr gehen. Ich frage mich verwundert, weshalb die Mäze zögert [die Führung zu übernehmen]. Wenn die herzeliebe kommt, lasse ich mich doch verführen: meine Augen haben eine Frau erblickt, die mir Leid bringen wird, so liebevoll ihre Worte auch sein mögen.) Walther geht also davon aus, daß die füegerinne all dessen, was Wert und Würde ausmacht, unzweifelhaft die Mäze sei. Deshalb sei der glücklich zu preisen, der ihre Lehre in sich aufgenommen habe. Nirgendwo wird er mit ihr Anstoß erregen. So sucht denn der Dichter auch für die Liebe ihren Rat, damit sie ihn lehre, in rechter Weise, d. h. ihrem Prinzip gemäß, also mit mäze zu lieben: das ist in dem ebene werben impliziert. Denn die niedere Minne verwundet ebensosehr wie die hohe, genauer: die niedere Minne läßt einen in Sinnlichkeit versinken, während die hohe Minne krank macht, auch wenn sie im Aufschwung zu hoher wirde führt. Beides ist durch unmäze gekennzeichnet - so sagt es die letzte Zeile der 1. Strophe, unmäze heißt hier somit soviel, wie in das eine oder das andere Extrem, in die Entsinnlichung der hohen Minne oder in die bloße Sinnlichkeit der niederen Minne, verfallen. Zwar lockt die höhe minne mit der Aussicht auf wirde, und nun müßte eigentlich die Mäze einschreiten, aber zur Verwunderung des Dichter-Ichs geschieht dies nicht, es muß vielmehr feststellen: kumet die herzeliebe, ich bin iedoch verleitet. Man hat sich gefragt und darüber gestritten, was Walther mit dieser herzeliebe meint, die ihn verführt, so daß er offenbar bereit ist, die mäze preiszugeben, und dies selbst auf die gewisse Erwartung hin, daß dies ihm wiederum Leid {schade) bringen 221

wird. Untersuchungen zum Wortgebrauch von herzeliebe bei Walther und seinen Vorläufern haben zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt.16 Wenn ein spezifischer Akzent festzustellen ist, dann liegt er bestenfalls auf der besonderen Intensität der Empfindung. Sicherlich handelt es sich nicht um ein Walthersches Programmwort, wenn man nicht unterstellen will, es werde gerade in diesem Gedicht dazu gemacht. Letztlich hängt deshalb alles davon ab, wie ernst man die Argumentation des Liedes zu nehmen bereit ist. Handelt es sich eher um ein „Scherzo",17 oder ist es gar von vornherein selbstverständlich, daß die Mäze bei der Liebe nichts zu suchen hat, und wird sie also nur spielerisch, ja mit ironischem Pathos in die Debatte gebracht?18 In diesem Fall kann herzeliebe jede intensive Leidenschaft meinen, die eben ihrem Wesen nach mit der mäze nicht vereinbar ist. Und damit wäre auch schon alles gesagt. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Diskussion über das Verhältnis von Maß und Eros neige ich jedoch dazu, Walthers Überlegungen nicht ganz so leicht zu nehmen, mäze ist ein ethisches Programmwort, auch bei Walther.19 Wenn die extremen Möglichkeiten der hohen und der niederen Minne ins Verderben führen, krank machen, so könnte der Gedanke der mäze zu der ernsthaften Frage führen, ob es nicht auch in der Erotik eine Mitte - im aristotelischen Sinne - geben könnte, die das Exzessive in der einen wie der andern Richtung vermeidet. Oder positiv gefaßt: Müßte die Lösung nicht in einer Liebe zu suchen sein, die jenseits des Widerspruchs von Geist und Sinnlichkeit steht? Möglicherweise meint die herzeliebe hier nichts anderes als diese Synthese. Falls dies zutreffend sein sollte, würde es um so verständlicher, daß hier an eine 'Mitte' gedacht wird, die entgegen ihrem Begriff maßlos sein muß, maßlos nun nicht mehr durch Einseitigkeit, sondern aufgrund ihrer Intensität und ihrer Unbedingtheit.20

IV Wenn man die Liebe in ihrer höchsten Möglichkeit, d. h. als personale Beziehung, die kein Maß kennt, als episches Experiment literarisch ausspekulieren will, so setzt dies die Freiheit narrativer Fiktionalität voraus. Es ist bezeichnend, daß im 12. Jahrhundert die Entdeckung der personalen Liebe mit der Erfindung der Fiktionalität zusammengeht: die Liebe ist das Thema des neuen Romans.21 Nur im freien fiktionalen Medium war es möglich, sie in all ihren Implikationen auszufalten und unterschiedliche Lösungen durchzuspielen. Die Problematik, die dabei aufbrach, läßt sich ex negativo anhand der antiken Modelle fassen, die zur Bewältigung von Eros und Fortuna zur Verfügung standen und die dabei zurückgelassen werden mußten. Konkret: da die 16

Zuletzt: KASTEN 1989.

I7

SCHWEIKLE 18 RUH 1985. 19

1963.

Siehe BACHOFER 1969, S. 195ff. Vgl. auch Hugo KUHN 1982, S. 54f.: Die Mäze zögert „deshalb, weil zwar die 'Mitte' gemäß den Regeln der mäze für alle sonstigen Lebens-Situationen in der Alternative zwischen 'zu wenig' und 'zu viel' gültig ist (vgl. z. B. Thomasins >Welscher Gast< 9935-38), für die 'Minne' von Walthers Minnesang aber nicht anwendbar ist". - Ich kann hier im übrigen unmöglich die Forschungsdiskussion zu 46,32 in ganzer Breite aufrollen; eine Zusammenstellung der wichtigsten neueren Literatur findet sich bei RUH 1985, S. 188 Anm. 1. 2 ' Vgl. dazu HAUG 1995 [b] [in diesem Band, S. 233-248].

20

222

Fortuna nur zu bewältigen war, indem man die Liebe entweder nach platonischem Muster in eine geistige und eine sinnliche aufspaltete oder sie nach aristotelischem Muster an eine ethische Balance der Mitte band, mußte man nun, wenn man den Eros als Geschlechterliebe, die Geist, Seele und Sinnlichkeit in gleicher Weise umfaßte, bejahen wollte, auch der Fortuna ihre Macht zurückgeben. Die Maßlosigkeit der Liebe ruft zwangsläufig den Zufall auf den Plan, und damit war das Problem des Zufälligen in seiner tödlichen Brisanz wieder da und bestimmte das neue literarische Experiment der Liebe wesentlich mit. Ist es möglich, sich auf die Geschlechterliebe in ihrer umfassenden Exzessivität einzulassen, ohne daß man dabei ein tragisches Ende heraufbeschwört? Am Beginn der neuen fiktionalen Literatur steht der geniale Entwurf des arthurischen Romans, den man Chretien de Troyes verdankt. Wenn er dabei das Thema Eros und Fortuna aufgreift, so war ihm offensichtlich nicht nur seine Problematik klar bewußt, sondern er hat sie auch narrativ in einmaliger Weise transparent gemacht. Am Ausgangspunkt der epischen Handlung steht der arthurische Hof, eine ideale festliche Gemeinschaft, in der alle menschlichen Kräfte harmonisch zusammenwirken. Damit wird anscheinend das traditionelle Balancemodell in romanhaft-fiktionaler Formulierung vorgestellt. Der Beginn des >Iwein< beschreibt diese Situation besonders schön als freien zwischenmenschlichen Umgang in Spiel und Unterhaltung, als kultiviertes Vergnügen mit körperlicher Betätigung und geistigem Austausch im Gespräch und im Erzählen.22 Doch die Handlung beginnt dann damit, daß diese humanistische Modellsituation gerade in Frage gestellt wird. Denn es gibt außerhalb des Hofes einen Gegenbereich, für den diese ideale Balance keine Geltung hat. Er wird charakterisiert als eine Welt der avanture, d. h. als eine Welt, in der Ereignisse - Bedrohungen, Anforderungen, Aufgaben - auf den Helden 'zukommen', ihm unvorhersehbar zufallen.23 Der Aventürenbereich ist also der Ort des Zufälligen schlechthin, und als solchem ist ihm all das zugewiesen, was die höfische Idealität ausschließt: die Formlosigkeit, das Unberechenbare, die Gewalt, das Affektive und auch der Eros. Konkret wird die Handlung dadurch angestoßen, daß der arthurische Hof durch die Gegenwelt provoziert wird. Der Protagonist des Romans, der auf die Provokation im Namen des Hofes antwortet, läßt sich auf diese Welt ein, er nimmt das Zufällige an, er beantwortet die Gewalt mit Gewalt, und er öffnet sich der Liebe und damit auch ihrer Unbedingtheit. Er bewältigt dabei die Gegenwelt, und damit ist die Idealität des Hofes scheinbar wiederhergestellt. Aber die Balance wird zugleich in anderer, neuer Weise gefährdet, denn der Held hat in der Gegenwelt eine Frau gewonnen und damit die Liebe mit ihrer Maßlosigkeit in die Welt der mäze hereingeholt. Und ob nun dem radikalen Anspruch des Eros nachgegeben wird wie im >Erec< oder ob man ihn zu verdrängen sucht wie im >YvainConsolatio Philosophiae< des Boethius.10 Er hat diese Schrift zum Trost für sich selbst im Kerker kurz vor seiner Hinrichtung 524 geschrieben. Dem verzweifelten Gefangenen erscheint die Philosophie in Gestalt einer Frau; sie weist ihm den Weg nach oben zu dem, was in der Unbeständigkeit des Irdischen Dauer hat, zum summum bonum - ein Weg, der als geistiger Prozeß zu verstehen ist, als Ablösung von allen trügerischen Gütern im Blick auf das wahre Glück, das in virtus und sapientia besteht, einem Status, der einer deificatio gleichkommt. Das Bild für diesen kontinuierlichen Aufstieg ist die Leiter, die die Philosophie als Zeichen auf ihrem Kleid trägt. Und dies wird als rein philosophische Argumentation entwickelt, also ohne daß Boethius, der Christ war, Trost aus dem Glauben geschöpft hätte.'' Die >Consolatio Philosophiae< ist zu einem Grundbuch des Mittelalters geworden. Man darf jedoch nicht übersehen, daß die kirchliche Rezeption das bruchlos pagane Aufstiegsmodell immerhin insofern korrigiert hat, als sie die Philosophie zur Theologie uminterpretierte: also doch wieder als erster Schritt ein Entgegenkommen der göttlichen Weisheit, die den Weg nach oben anstößt und lenkt.12 Demgegenüber ein Beispiel für eine gewisse Akzentuierung der Diskontinuität: der >Anticlaudianus< des Alanus von Lille, aus den frühen achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts.13 Es handelt sich um ein allegorisches Epos. Es stellt dar, wie Natura, unzufrieden mit dem, was sie bisher hervorgebracht hat, beschließt, einen vollkommenen Menschen zu schaffen. Aus eigener Kraft kann sie aber nur den Körper bilden, die Seele muß von Gott beigesteuert werden. So soll denn Prudentia auf einem Wagen, den die Sieben Freien Künste herstellen und dem die fünf Sinne als Pferde vorgespannt werden, zusammen mit der Ratio zum Himmel fahren und Gott um eine vollkommene Seele bitten. Der dann geschilderte Aufstiegsweg ist nicht ohne Brüche. An der Grenze des Firmaments muß der Wagen zurückbleiben, da die Pferde, die Sinne, nicht mehr weiterkönnen. Die Ratio als Führerin wird durch die Theologie abgelöst, die ihren Sitz in der Höhe über dem Firmament hat, und als Prudentia schließlich in die Himmelssphäre eintritt, verliert sie, vom Glanz überwältigt, das Bewußtsein. Erst mit 'Daß sie nicht völlig aus dem Blick gerät, sollte jedoch nicht übersehen werden; vgl. HAUG 1991 [b], S. 397ff. 10

BIELER 1957. Wichtige Studien und bibliographische Hinweise zu Boethius: FUHRMANN/GRUBER 1984, S. 249ff. bzw. S. 452ff. " Vgl. HAUG 1992 [b], S. 88ff. [in diesem Band, S. 501-530, hier S. 512ff.]. 12 Grundlegend: COURCELLE 1967; zur mittelalterlichen Umdeutung der Gestalt der Philosophie insbes. S. 29ff. 13 BOSSUAT 1955; englische Übersetzung mit Kommentar: SHERIDAN 1973; zur Datierung hier S. 24f.

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Hilfe der Fides kann sie wieder zu sich gebracht werden. Und damit sie den Glanz erträgt, erhält sie einen Spiegel, so daß sie alles in abgeschwächter Reflexion sehen kann. Schließlich tritt sie vor Gott hin und erhält von ihm auch die gewünschte vollkommene Seele, mit der sie zur Erde zurückkehrt. Und nun kann Natura den neuen Menschen schaffen, der alles Negative, alle Laster, die zum Kampf gegen ihn antreten, zu überwinden vermag. Also ein platonistischer Ascensus über den kosmischen Stufenbau empor, epischallegorisch ausgerichtet auf einen neuen vollkommenen Menschen, aber ein Prozeß mit Grenzstellen, die mit der natürlichen Kraft nicht zu überschreiten sind: die Theologie, der Glaube, muß der hilflosen, der ohnmächtigen Prudentia entgegenkommen. Das Wegmodell ist bewahrt, aber die Grenze der Ratio ist doch deutlich markiert. Die analogisch-kosmologische Orientierung dieses frühmittelalterlichen Weltbildes impliziert, daß es sich auf Anschauung stützt. Es ist bezeichnend, daß die Philosophie in der >Consolatio< ihren Rettungsakt damit beginnt, daß sie den verzweifelten Gefangenen auf die Schönheit des Kosmos verweist. Gott ist in ihr gewissermaßen sichtbar, es gibt einen Weg über die Erscheinungen zum Göttlichen, das durch sie durchstrahlt. Man weiß zwar um die Differenz, man bringt die Unähnlichkeit anhand von Bruchstellen ins Bild, man faßt den Sinn durch Deutung, man allegorisiert, um im Sprung auf die Sinnebene die Differenz bewußt zu halten, aber sie ist doch relativ schwach artikuliert; man kann von einer schwebenden Balance sprechen. Die Welt erscheint, so hat man gesagt, als ontologische Metapher: sie ist Anschauung und Deutung, Sein und Sinn zugleich.14 Dieses analogische Prinzip mit dem Gewicht auf der Erscheinung, mit der Korrespondenz zwischen Innen und Außen prägt auch die frühmittelalterliche Bildungsidee, die an den Kathedralschulen - in Ablösung von der älteren Klosterschule - von der Mitte des 10. Jahrhunderts an verwirklicht worden ist. Die Doppelformel, von der sich diese Idee leiten läßt, heißt litterae et mores; das meint eine innigste Verbindung von Wissen und Verhalten, die Einheit von Weisheit und Ethos. Pädagogisch wird die Brükke zwischen beidem geschlagen durch die Entwicklung der Fähigkeit zur formvollen Äußerung, zur Selbstdarstellung in Wort und Gebärde. Das Innere soll im Äußeren anschaubar sein. Die Schönheit der Erscheinung bedeutet moralische Vollkommenheit. Der Begriff dafür heißt elegantia morum oder gar flagrantia morumP Dieses Bildungsideal bedeutet offenkundig nichts anderes als die Übertragung der analogisch-kosmologischen Weltsicht auf den Menschen, die Spiegelung des Makrokosmos im Mikrokosmos. Die Einheit von Weisheit und Moral, von Sein und Erscheinung beim Menschen soll der kosmischen Harmonie korrespondieren, die gleiche Kraft soll hier wie dort wirken, und diese Kraft ist die Liebe. Boethius sagt im 8. Metrum des 2. >ConsolatioPhysiologusErec< und der >Yvain< geben dafür die prototypischen Beispiele.17 Drittens: es darf kein Bewußtsein von einer Körperlichkeit geben, die eigenen, organischen Gesetzen unterworfen wäre, also keine physiologischen Bedürfnisse, Anfälligkeiten, Defizienzen wie Krankheit, Sinnlichkeit, körperliche Angst, insoweit sie autonom sind, d. h. nicht strukturell gebunden erscheinen. Viertens: es darf keine Innerlichkeit geben, denn Innerlichkeit hieße, daß Leiden, Unrecht, getanes und empfangenes, in der Erinnerung weiterleben würden. Die Erinnerung macht negative Erfahrungen unaufhebbar, ob sie nun bewältigt oder verdrängt werden. Der höfische Held ist innerlich das, was er auch äußerlich ist. Und im Äußeren kann man von Ort zu Ort, von Situation zu Situation fortschreiten und das Durchschrittene ohne Rest zurücklassen. Bezüge zwischen Episoden werden durch analoge oder kontrastive Positionen in der äußeren Handlung dargestellt; die Struktur ersetzt die Erinnerung und damit die Subjektivität. Unangefochten sinnvoll ist eine Welt nur, wenn für sie die genannten vier Bedingungen gelten. Will man eine solche Welt, so ist man also gezwungen, der Wirklichkeit ein strukturelles Muster zu unterlegen, durch das der Zufall, die Zeit, die Körperlichkeit und die Innerlichkeit ausgeklammert sind oder durch das sie aufgehoben werden können. Es gibt zwei Muster, die diesen Bedingungen genügen. Das eine ist das traditionelle der christlichen Kosmostheologie. Es löscht die Bedingtheiten des Irdischen dadurch aus, daß es die Irreversibilität von Prozessen, die Zeitlichkeit, die Bindung an den Körper und den Tod durch die Idee der Rückkehr ins Paradies überwindet, daß es zudem das Schuldbewußtsein durch die göttliche Gnade aufhebt und schließlich, im Blick auf die göttliche Providenz, den Zufall als sinnvoll erscheinen läßt. Das Modell hat bekanntlich seine Härten; es verlangt, daß man die Theodizeefrage löst; aber aus dem Glauben heraus läßt sich damit leben und sterben. Das zweite Muster beruht darauf, daß man ein fiktionales Konstrukt schafft, das die vier Bedingtheiten, die den Sinn in Frage stellen, weltimmanent ausklammert. Das universale Beispiel ist das Märchen.18 Im Prinzip geschieht dasselbe im Chretienschen Roman. Doch während die Ausklammerung der vier Bedingtheiten beim Märchen unreflektiert an der Gesetzlichkeit der Gattung hängt, handelt es sich beim neuen Roman um ein bewußtes strukturelles Experiment. Als solches kann es wohl als Antwort auf jene Unruhe verstanden werden, die sich schon um 1100 gegenüber der traditionellen Kosmostheologie bemerkbar zu machen beginnt. Es demonstriert und reflektiert die Bedingungen, unter denen immanente Idealität denkbar ist oder wäre. Und es geht entsprechend dem Charakter des fiktionalen Typus um diese Reflexion, und nicht um eine konkrete Lösung.

17 18

Ebd., S. 95ff., S. 130 bzw. S. 95ff., S. 132f. Vgl. Walter Haug: Epos (Epik, Episierung), EM 4, Sp. 87.

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Wenn also die Sinnhaftigkeit des Kosmos nicht mehr fraglos akzeptiert wird, so führt dies nicht, wie man vielleicht denken könnte, zu einer allmählichen Fiktionalisierung der Literatur, sondern es kommt überraschend zu einem Entwurf, der mit extremem Nachdruck seine Fiktionalität zur Schau stellt. Eine gewisse Autonomie des Ästhetischen manifestiert sich also mit einem kühnen Versuch schon in der Vorphase des letzten Abschnittes der Entzauberung der Welt, sie ist nicht erst ein Ergebnis der radikalen Endsituation. Auf der andern Seite aber steht das, was dieser Versuch an Sinn anzubieten hat, noch ganz unter den Bedingungen, die das kosmostheologische Muster gesetzt hatte: es ist eine Sinnhaftigkeit gegen den Zufall, gegen die Zeitlichkeit, gegen die Körperlichkeit und gegen die Innerlichkeit. Man könnte versucht sein zu sagen, man habe die Fiktionalität, als sie entdeckt wurde, rückhaltlos dazu eingesetzt, die Sinnlosigkeit der Welt zu ignorieren. Das stimmt natürlich so nicht ganz, denn der Sinn, den der höfische Roman aufscheinen läßt, ist eine Idealität, die im Durchgang durch die Welt dessen, was sie in Frage stellt, nur augenblickshaft erfahren werden kann und die deshalb immer wieder neu anvisiert werden muß; der Sinn realisiert sich nur im Sonderstatus des höfischen Festes, in das die Handlung immer wieder einmündet.19 So faszinierend diese Lösung ist, man konnte sich selbstverständlich damit nicht beruhigen. Die fortschreitende Entzauberung der Welt drängte in der Literatur zu einer härteren Auseinandersetzung zwischen der sinnlos werdenden oder gewordenen Wirklichkeit und den sinngebenden Strukturen der fiktionalen Entwürfe. So nahm man denn in divergierenden Versuchen die vier Bedingungen zurück, unter denen der neue Roman eine sinnhafte Welt vorführte. Man gab dem sinnlosen Zufall Raum, man suchte nach Möglichkeiten, den Tod anzunehmen, man entdeckte die Körperlichkeit, und man öffnete sich der Innerlichkeit. Die Lösungen, die dabei geboten wurden, sind vielfältig; jeder bedeutende Versuch ging seinen eigenen, spannenden Weg. Ich kann dies hier nur beispielhaft an einigen wenigen Fällen illustrieren: 1. Vielleicht noch in den 70er Jahren des 12. Jahrhunderts wird am Niederrhein ein französischer Roman ins Deutsche übersetzt, der in erstaunlicher Freiheit verschiedene literarische Typen kombiniert: Kreuzzugsepik, Brautwerbungserzählung, Orientabenteuer. Ich denke an den >Graf RudolR Man bezeichnet das Werk als frühhöfisch, und man will damit sagen, daß hier zwar die Leitthemen des klassischen höfischen Romans schon anklingen: minne und äventiure, daß jedoch noch nicht das strenge strukturelle Konzept des Chretienschen Typus in Geltung ist.20 Eine Interpretation des Graf Rudolf-Romans sieht sich bekanntlich erheblichen Schwierigkeiten gegenüber, da von ihm nur Fragmente erhalten sind. Die Lücken sind so groß, daß man Mühe hat, den Handlungszusammenhang auch nur ungefähr zu rekonstruieren.21 Das französische Original ist verloren. Der neue Chretiensche Typus hat die Vorformen bezeichnenderweise in hohem Maße verdrängt. Graf Rudolf von Arras zieht als Kreuzfahrer nach Palästina, er wird in Kämpfe und Abenteuer verwickelt. Dabei gewinnt er eine heidnische Prinzessin, mit der er sich nach dem Westen aufmacht. Sie werden unterwegs zeitweilig getrennt. In unserem 19 20 21

Vgl. HAUG 1989 [c], S. 157«. [in diesem Band, S. 312-331, hier S. 312ff.]. RUH 1977 [b], S. 64ff. GANZ

1964.

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Zusammenhang ist nun eine Szenenfolge von Interesse, in der beschrieben wird, wie Rudolf, der in Gefangenschaft geraten ist, mit einem aus Mänteln zusammengeknoteten Seil entkommen kann. Aber er ist schrecklich zusammengeschlagen worden; vor Erschöpfung wird er ohnmächtig; er kriecht schließlich durch ein unbewachtes Tor und versteckt sich unter einem Dornbusch. Nachts geht er weiter, am Tag verbirgt er sich. Einmal, als er völlig am Ende seiner Kräfte ist, kommt ein Abt mit einem Knappen vorbei. Sie sehen ihn nicht in seinem Versteck, aber der Knappe wirft ein Stück Brot weg, das sich Rudolf, als es dunkel wird, holt und das er langsam, Bissen für Bissen, verzehrt, damit es möglichst lange hinhält. Dann taucht ein Pilger auf, er findet den Ohnmächtigen, kann aber nichts für ihn tun, als ihm ein wenig Wein in den Mund träufeln. Beim mittelalterlichen Hörer mußte die letzte Szene das biblische Samaritergleichnis ins Bewußtsein rufen, ja, sie ist zweifellos geradezu als Kontrafaktur dieses Gleichnisses konzipiert worden.22 Drei Leute gehen im biblischen Gleichnis an dem unter die Räuber Gefallenen vorbei. Ein Priester und ein Levit kümmern sich nicht um ihn, aber ein Samariter hilft. Auch im >Graf Rudolf< erscheinen drei Leute; aber die beiden, die, ohne den Bedürftigen zu bemerken, vorbeigehen, der Abt und sein Knappe, der unachtsam sein Brot wegwirft, retten ihm ungewollt das Leben, während der Dritte, der Pilger, der helfen möchte, kaum etwas tun kann; er geht traurig weg, denn er hat kein Maultier wie der gute Samariter. Es ist dem Dichter offensichtlich darauf angekommen, zu demonstrieren, daß Situationen, wie das Samaritergleichnis sie bot, in Wirklichkeit keineswegs nach dessen Muster abzulaufen brauchen. Auch eine unbedachte zufällige Tat kann Gutes wirken, und wer Gutes wirken möchte, der hat unter Umständen nicht die Kraft oder die Mittel dazu. Negatives kann sich in Positives und Positives in Negatives verkehren. Handlungsverläufe folgen in der Wirklichkeit nicht sinngebenden Strukturen, sie sind vielmehr dem Zufall ausgeliefert. Besonders irritierend ist in dieser Hinsicht eine weitere, spätere Szene des Romans: Rudolf zieht zusammen mit seinem Vetter Bonifait und der Sarazenenprinzessin und deren Mädchen durch einen Wald. Erschöpft legt man sich schließlich auf einer Wiese zur Ruhe nieder. Bonifait hält Wache am Feuer. Da erscheinen zwölf Räuber. Weil Bonifait Rudolf nicht im Schlaf stören will, stellt er sich ihnen allein entgegen. Er bringt fünf von ihnen um, aber dann wird er getötet. Rudolf erwacht, stürzt sich auf die Banditen und schlägt sie in die Flucht. Damit, daß er den Kopf seines Vetters in seinen Schoß legt und seinen Tod beweint, endet die Szene. Dieser Räuberkampf ist eine Episode, für die sich im Handlungsschema keine sinnvolle Funktion ausmachen läßt. Der Tod Bonifaits ist ein Opfer ohne Sinn, d. h., es signalisiert hier - anders als etwa in der Heldenepik - gerade dies, daß es das Sinnlose gibt, daß es das gibt, was sich in keine Struktur integrieren läßt. Daß die Heimkehr Rudolfs schließlich glücken wird, darf man annehmen, auch wenn vom Schluß nichts erhalten ist, denn die Handlung folgt insgesamt einem bekannten narrativen Muster. Im einzelnen jedoch geht das Geschehen nicht restlos darin auf. Und es war dem Dichter offenbar daran gelegen, dies nachdrücklich zum Bewußtsein zu bringen. Gerade dadurch aber gewinnt dieser frühhöfische Roman eine lebendige Unmittelbarkeit, wie man sie dann im Chretienschen Typus kaum mehr finden wird. 22

Wolfgang Mohr hat dies als erster gesehen: MOHR 1967, S. 105ff.

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Nun steht der >Graf Rudolf< gewiß in einer Tradition, die vor das klassisch-höfische Fiktionalitätskonzept zurückgeht: Züge des Chanson de geste-Typus sind nicht zu verkennen. Doch dieser Typus ist bei seiner Verschriftlichung in das christliche Sinnkonzept hereingeholt worden: das Rolandslied ist das Musterbeispiel dafür.23 Und so kann denn der >Graf Rudolf< zumindest als Beispiel dafür dienen, wie man, indem man das Sinnlos-Zufällige herausstellte, schon gegen das ältere Sinnmuster antreten konnte, und dies, ohne daß man bereit gewesen wäre oder die Möglichkeit gehabt hätte, sich bereits am neuen fiktionalen Muster zu orientieren. Es wird sich später bezeichnenderweise gerade die Chanson de geste-Literatur anbieten, wenn es darum geht, Erzählsituationen zu schaffen, die den neuen Romantypus zu provozieren vermögen. Es wird von einem Paradefall, vom >WillehalmTristan< zu denken, der sich wesentlich von einer neuen Qualität des Zufälligen her gegen das Chretiensche Romankonzept stellt. Das Zufällige zeigt sich hier freilich nicht nur als ein Element, das sich punktuell gegen eine Sinnstruktur sperrt, sondern es erscheint als ein Prinzip, und zwar als das Prinzip des Irrationalen schlechthin. Als solches treibt es zum einen die äußeren Geschehnisse voran, um dabei immer neu die Rationalität des planenden Helden herauszufordern, zum andern aber zeigt es sich als identisch mit jener Macht, die die erotische Beziehung zwischen Mann und Frau bestimmt. Als Bedingungslosigkeit der Liebe ist dieses Transrationale subjektiv also das einzige und absolut Sinnvolle, zugleich aber muß es jeden objektiv-strukturell gegebenen Sinn vernichten. Insbesondere unter dem Aspekt des Zufälligen als irrationalem Prinzip steht der >Tristan< damit an der Grenze zu einer neuen Welt.24 2. Die erste direkte literarische Auseinandersetzung mit dem fiktionalen Modell des Chretienschen Romans erfolgt vom Problem der Irreversibilität des Todes aus. Wolfram hat es in seiner Bearbeitung des >Perceval< eingeführt. Er macht den traditionellen Provokateur, den Roten Ritter, zu einem Verwandten des Helden und damit zu einer positiven Figur. Die Ermordung dieses Ritters ist damit weder zu vernachlässigen, noch ist sie aufhebbar. Sie muß das Strukturmodell des arthurischen Romans, das Wolfram von Chretien übernimmt, prinzipiell in Frage stellen, denn eine seiner wesentlichen Bedingungen, die Bedingung, daß es im positiven Umfeld des Helden nichts Irreversibles geben darf, wird damit verletzt. Wolfram löst das Problem dadurch, daß er das ältere, das vorfiktionale, heilsgeschichtliche Muster in seine Fiktion hereinholt: er setzt die göttliche Gnade ins Modell ein. Das gelingt jedoch nicht ohne gewisse Schwierigkeiten, denn über die Gnade kann man im Grunde nicht fiktional verfügen. Und so blieb denn Wolfram nichts, als zu versuchen, diese Unverfügbarkeit mit darzustellen, was das Modell letztlich doch desavouieren mußte.25

23

Vgl. HAUG 1985, S. 167ff. [- Strukturen, S. 67-85, hier S. 68ff.]. Vgl. HAUG 1972 [= Strukturen, S. 557-582], 1986 [a] [= Strukturen, S. 600-611], und 1995 [c], S. 66ff. [in diesem Band, S. 214-232, hier S. 225ff.]. 25 Vgl. HAUG 1991 [e] [in diesem Band, S. 109-124]. 24

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Wolfram hat die Problematik dann in seinem Chanson de geste-Roman, dem >WillehalmArmen HeinrichWilhelm von Österreich erreichen sie insofern einen Höhepunkt, als hier - worauf Gisela Vollmann-Profe aufmerksam gemacht hat 11 - sogar die Frage gestellt wird, ob nicht die Bösen aus den Romanen Böses lernen könnten. Die Hypertrophie des Negativ-Phantastischen erfährt so seine Spiegelung in der Reflexion über negative Rezeptionsmöglichkeiten.

II. Die Provokation der Prämissen des Chretienschen Erzählmodells Die Entproblematisierung des arthurischen Modells war nicht die einzige Antwort, die man auf Chretiens kühnes Konzept gegeben hat. Statt seine Virulenz zu entschärfen, konnte man auch gegen seine Prämissen opponieren, und man hat dies in vielfältiger Weise getan. Man stellte also - narrativ - die Frage, inwieweit Chretiens Modell noch tragfähig sein konnte, wenn man teilweise von den Bedingungen abging, auf denen es beruhte, von jenen Bedingungen, die es ermöglichten, daß der arthurische Held letztlich doch unbeeinträchtigt seinen Aventürenweg durchzustehen vermochte, oder anders gesagt: die ihn zu einer bloßen Funktion der Handlung machten. Erträgt es das Modell, daß man dem Helden personale Züge zugesteht? Was geschieht, wenn Zufall, Zeitlichkeit, Körperlichkeit, Innerlichkeit, Entwicklung, und d. h. letztlich: Individualität Berücksichtigung finden? Ist eine Erfahrung von Sinn auf der Basis des Chretienschen Romankonzepts noch denkbar, wenn man den Zufall für unintegrierbar erklärt, wenn man dem Helden physische oder psychische Schwächen oder auch nur Unsicherheit zubilligt, wenn man die durch das Modell garantierte Korrespondenz zwischen Innen und Außen in Frage stellt, wenn man den Bezug des Helden zur Gesellschaft nicht vorgibt, sondern dieses Verhältnis sich entwickeln läßt, oder wenn sich in der Welt, der der Held begegnet, die Ereignisse nicht mehr nach der Logik des narrativen Schemas, sondern nach einer ihnen selbst zugehörigen Gesetzlichkeit verketten? All dies sind Möglichkeiten, Faktoren in der Erzählhandlung zuzulassen, die durch Chretiens Strukturmuster im Prinzip ausgeklammert waren, die nun aber in der Diskussion um seine Geltung ihr Recht forderten. Die Experimente mit solchen Brechungen des Musters stellen die im Vergleich zur Verflachung des Schemas erregenderen Formen der Auseinandersetzung mit der arthurischen Tradition dar. Schon derjenige höfische Roman, in dem man die früheste Herausforderung des Chretienschen Modells sehen muß, der >TristanTristan< ist also von Anfang an eine radikale Gegenmöglichkeit zum arthurischen Modell präsent, eine Negation des Chretienschen Konzepts, die mit unnachgiebiger Konsequenz auf ein entsprechend kontrastives, tragisches Ende zielt. Aber der >Tristan< wird auffälligerweise nur sehr bedingt produktiv. Es bildet sich kein Typus. Wo er nachwirkt, erscheint sein Konzept entschärft - so: programmatisch in Rudolfs von Ems >Willehalm von Orlens< -, oder es bleibt im Episodischen stecken es sei etwa an Konrads >Herzmaere< oder an den Liebestod im >Wilhelm von Österreich< erinnert.12 Für die Gattungsgesetzlichkeiten überaus aufschlußreich ist der in sich widersprüchliche Versuch des Pleiers, einen Artusroman als Liebesroman zu konzipieren.13 Der >Tristan< steht also als Sonderfall für sich. Im folgenden geht es hingegen um grundsätzliche, immer wieder aktuelle Möglichkeiten, das Chretiensche Modell aufzubrechen. Der klassische arthurische Held kann versagen, ja, er muß dies insofern, als er bei seinem Abstieg in die Gegenwelt an die äußerste Grenze der Gefährdung geführt werden soll. Doch von diesem Durchgang durch die eigene Schwäche und Ohnmacht, von dieser Erfahrung des Ausgeliefertseins an das Negative, bleibt am Ende nichts zurück. Die Erinnerung daran spielt keine Rolle. Der Durchgang durch die Gegenwelt ist zwar die Bedingung für die Erneuerung des höfischen Festes, aber in seinem utopischen Status ist die Gegenwelt aufgehoben, d. h., das Negative wirkt nur noch indirekt in seinem Augenblickscharakter nach. Man kann dieses Konzept nun dadurch aus den Angeln heben, daß man dem Helden nicht nur ein funktional-punktuelles Erinnern zubilligt, sondern eine durchgängige Innerlichkeit, in der die Erfahrungen des Aventürenweges sich niederschlagen und damit das persönliche Bewußtsein prägen. Ein solches Erinnern als durchgängige Innerlichkeit ist dann auch durch den glücklichen Ausgang des Geschehens nicht mehr auszulöschen. Das Versagen wird damit zu einem Problem neuer Art: es muß nun innerlich bewältigt werden. 12

13

Zu letzterem: ebd., S. 123. Die Fortsetzer des Torsos, den Gottfried hinterlassen hat, sind ihrer Aufgabe nicht gewachsen, sie bleiben weit unter seinem Niveau; vgl. die Charakterisierung bei RUH 1978 [a], S. 119. - Zur Nachwirkung in Kontrafakturen und episodischen Formen siehe HAUG 1975 [d] [= Strukturen, S. 637-650], WACHINGER 1975. Vgl. dazu CORMEAU 1991.

273

Der Paradefall einer Provokation des Chretienschen Modells unter dem Aspekt der personalen Erinnerung ist der mittelenglische Artusroman >Sir Gawain and the Green KnighK. Hier wird ein Held gezeigt, der vor dem letzten Wagnis zurückschreckt: Gawain hat Angst vor dem Tod und versucht, die ihm gestellte Aufgabe mit einem Trick zu bewältigen. Aber bei dieser Mischung von Mut und Trug wird ihm doch der Mut höher angerechnet, und so besteht er zwar die Aventüre, doch wird dabei zugleich seine Schwäche entlarvt. Und auch wenn die Artusgesellschaft das letztere hinterher übergeht und ihn bei der Rückkehr bedingungslos feiert, wird er für immer das Bewußtsein seines Versagens mit sich tragen. Es gibt bezeichnenderweise im >Sir Gawain< keinen zweiten Kursus, der es aufheben könnte. Die geniale Neuerung dieses späten Artusromans besteht in dieser Verwandlung der Begegnung mit dem Negativen zu einer Erfahrung, die als Erinnerung weiterwirkt und damit jede utopische Lösung unterläuft.14 Die Rückseite der Fähigkeit zur Erinnerung ist die Möglichkeit zu vergessen. Wenn Iwein seine Gattin Laudine bzw. den Termin zur Rückkehr zu ihr 'vergißt', so ist dieses Vergessen punktuell strukturbezogen und damit symbolisch zu verstehen. Wenn man hingegen dem Helden Innerlichkeit als Erinnerung zugesteht, so kann das Vergessen zum Problem, d. h. zum neuen Romanthema werden. Dies ist der Fall im >Reinfrid von BraunschweigReinfrid< radikal aus der Tradition des klassischen Romantypus ausbricht. Während im >Sir Gawain< und im >Reinfrid< durch eine Eröffnung der Innerlichkeit über Erinnern und Vergessen die Identität des Helden thematisch wird, kann die Berücksichtigung psychophysiologischer Aspekte dazu führen, daß die Figuren zwar ebenfalls einen seelischen Innenraum gewinnen, dabei aber kaum in der Lage sind, ein Identitätsbewußtsein zu entwickeln. Dieser neue Typus des Romanhelden ist seinen Affekten ausgeliefert, er reagiert spontan auf das, was von außen auf ihn zukommt, er wird von Angst oder Lust, von Verzweiflung oder Überschwang ergriffen, ohne daß ihm die Möglichkeit gegeben wäre, sich seine Erfahrungen anzuverwandeln. Das Musterbeispiel für diesen Vorstoß in eine affektive Innerlichkeit ist Konrads von Würzburg >Partonopier und MeliurAmor und Psyche< -, aber es ist ganz in die Aktionen bestimmter Figuren hineingelegt: es ist Meliur, die nächtliche Besucherin, die mit ihren Künsten Partonopier zu sich in ihr Land dirigiert. Die Zerstörung der Beziehung erfolgt dann ebenfalls durch Intrigen von außen, und das Wiederfinden ist erneut dem Willen einer dritten Person, Meliurs Schwester Irekel, übertragen. An die Stelle der idealtypischen Figuren, die über ein vorgegebenes Handlungsmuster geführt werden, tritt bei Konrad also der psychisch labile Held, dem gegenüber allein die Planungen anderer Figuren dafür sorgen, daß es zu einer gezielten Handlung kommt.16 Während im >Partonopier< die Planungen der Sekundärfiguren aber doch dafür sorgen, daß das traditionelle Muster nochmals funktioniert, greift Konrad dann Stoffe auf, bei denen das Geschehen nach Gesetzlichkeiten abläuft, die die Figuren aus eigener Kraft nur noch bedingt bewältigen können, so daß es sich fragt, ob ihm noch ein Sinn abzugewinnen ist. Der >Engelhard< handelt von zwei Freunden, von denen der eine durch mangelnde Vorsicht in einer Liebesbeziehung in tödliche Gefahr gerät, während der andere vom Aussatz befallen wird. Hier wie dort erscheint die Situation aussichtslos, aber in jedem Fall rettet der Freund den Freund durch eine triuwe-Tat, die alle gewohnten Maßstäbe zurückläßt. In einer Welt, in der man dem Unberechenbaren ausgeliefert ist, hilft nur noch die ungewöhnliche moralische Tat. Doch dafür, daß die triuwe letztlich den Sieg davonträgt, braucht man doch Gott als Garanten, d. h., der >Engelhard< rekurriert auf ein legendarisches Schema. Wo sich dies, wie im Trojaroman, ausschließt, bleibt nichts, als die Unabwendbarkeit des geschichtlichen Verhängnisses nachzuzeichnen. Alle Versuche, aus der Verkettung des Unheils auszubrechen, sind hier zum Scheitern verurteilt. Man kann zwar noch erkennen, daß traditionelle Strukturmuster wenigstens ansetzen, aber die böse Mechanik von Tat und Gegentat ist so machtvoll und die handelnden Figuren sind ihr so weitgehend ausgeliefert, daß das Geschehen nurmehr seine eigene Sinnlosigkeit demonstrieren kann. Die Geschichte zehrt als Bereich des unentrinnbaren Verhängnisses jedes fiktionalsinnkonstituierende Muster auf.17

16 17

Vgl. HAUG 1985, S. 181 f. [ = Strukturen, S. 67-85, hier S. 78f.]. Dazu die grundlegende Studie von CORMEAU 1979 [b].

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Vor Konrad hat schon Rudolf von Ems eine konsequente Lösung für das problematisch gewordene Verhältnis von Innen und Außen, von Tugend und Erfolg, von Moral und Glück vorgeschlagen: in seinem >Guoten Gerhart < zeigt er einen Helden, dessen Weg sich an das klassische Schema des doppelten Kursus anlehnt, aber immer dann, wenn man erwarten würde, daß sich die Handlung im Äußeren erfüllt, kommt es zu einem Verzichtsakt, d. h., Gerhard begnügt sich allein mit der inneren Gewißheit der guten Tat, ja, sie kann überhaupt in ihrer Reinheit nur bestehen, wenn sie auf alles Äußere, auf Anerkennung und Belohnung in der Gesellschaft, verzichtet. Das ist eine programmatische Reversion des klassischen Modells: es wird seine Form nur noch herangezogen, damit man daran die Aufhebung der Korrelation von Innen und Außen zugunsten eines Sinns, der im Guten an sich liegt, vor Augen führen kann.18 Wenn man hingegen auch noch von einer solchen sich distanzierenden Anlehnung Abstand nimmt, bleibt nur die Darstellung der punktuellen moralischen Großtat in einer mehr oder weniger chaotischen Wirklichkeit. Das Erzählen wird dabei zwangsläufig episodisch, denn es gibt kein objektives Handlungskonzept mehr, das den Sinn tragen würde.19 Die spätmittelalterliche Tendenz zur exemplarischen Kurzerzählung dürfte damit im Zusammenhang stehen. Ein Weg, der noch konsequenter aus dem aufgebrochenen Zwiespalt herausführt, ist die völlige Abkoppelung des Lebenswegs des Einzelnen von der Gesellschaft. So richtet denn der >QuesteReinfrid von Braunschweig< bedenkenlos kombiniert, d. h., der Orient wird hier zum Ort des Real-Phantastischen.21 18

Vgl. HAUG 1973 [a], S. 150ff. [- Strukturen, S. 236-256, hier S. 254f.], sowie 1985/1992, S. 279ff. bzw. S. 288ff. 19 Zu solchen punktuellen Großtaten siehe HAUG 1985/1992, S. 339ff. bzw. S. 348ff. (Man beachte in der Neuauflage S. 350 unten die Korrektur: 'Paris', nicht 'Appatris'.) 20 Vgl. PAUPHILET 1965, S. Xff.; FROMM 1984/1989, S. 223. Zur Frage einer Rückbindung des Artusromans im Prosalancelot an die neuplatonisch-christliche Liebeslehre siehe KNAPP 1986, S. 39ff. 21

Vgl. WACHINGER 1991, OHLENROTH 1991.

276

Die bei der Auflösung des Chretienschen Modells freigesetzte Imagination überwuchert jene Wirklichkeit, zu der man mit dieser Auflösung zurückkehren wollte. Eine Sondermöglichkeit der Rückbindung des Fiktionalen an das Faktische stellt der Schlüsselroman dar. In seiner mittelalterlichen Form, die freilich nicht dem strengen Begriff genügt, gewinnt das Fiktionale eine teils mehr historische und teils mehr exemplarische zweite Sinnebene, indem das Geschehen auf konkrete geschichtliche Konstellationen hin transparent gemacht wird. Das Paradebeispiel ist der >Wilhelm von WendenMelusine< in ihrer ursprünglichen Form. In anderer, sehr merkwürdiger Weise stellt Hans von Bühel die historische Transparenz in seiner >Königstochter von Frankreich< her. Angesetzt, aber gleich wieder aufgelöst wird die geschichtliche Wirklichkeit der Hauptfiguren im >Wilhelm von ÖsterreichLorengel< erwähnt, da diese Romane in besonderer Weise schillernde politische Transparenz zu besitzen scheinen: Man faßt konkrete historische Konstellationen, die Aktualität signalisieren, aber das Fiktionale überspielt sie dann doch immer wieder. Vgl. dazu die die historischen Bezüge immer wieder stark forcierenden Studien von H. THOMAS 1973, 1986 und 1987. Der Typus verdiente eine neue grundlegende Untersuchung.

BEHR 1989, S. 175ff.

277

1. Das heilsgeschichtlich-typologische Muster Es beruht auf der Zuordnung alles Geschichtlichen zu den großen Zeitabschnitten des Heilsgeschehens, und es ist diese Zuordnung, die Sinn stiftet. In bestimmten Formen des späten arthurischen Romans wird dieses Schema in literarisierten Formen nochmals wirksam. Die Frage, inwieweit der >LancelotGregorius< wurde versucht, das Legendenschema an das arthurische Strukturmuster anzulehnen. Das mußte selbstverständlich eine Problematisierung der simplen Legendenmechanik mit sich bringen: die Erfahrung der Gnade wurde nun über einen Prozeß dargestellt, der den Helden bis an die Grenze der Verzweiflung in die Gnadenlosigkeit hineinführte.27 Wolfram hat diese Thematik in seinem >Parzival< aufgegriffen und sie mit äußerster Konsequenz bis zur kritischen Grenze narrativ durchgespielt.28 Mit der Auflösung des arthurischen Strukturmusters kehrt man zu den einfacheren Legendenschemata zurück - man denke an die relativ anspruchslosen Legenden Konrads von Würzburg -, ja geradezu zu Reduktionsformen, so Konrads >EngelhardEustachius-PlacidasApollonius von TyrusWilhelm 24

25

Vgl. RUH 1969, FROMM 1979/1989, SPECKENBACH 1984.

Vgl. dazu auch HUBER 1991. Siehe HAUG 1985/1992, S. 362f. bzw. S. 371f. 27 Ebd., S. 131 ff. bzw. S. 134ff. 28 Dazu: HAUG 1990 [b] [in diesem Band, S. 125-139]. 26

29 30

AARNE/THOMPSON 1961, No 938. Vgl. WACHINGER 1991.

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von Wendern erreicht das Thema in Deutschland erstmals die Stufe des großen volkssprachlichen Romans. Dieses Schema von Providenz und Zufall kann hier deshalb besonderes Interesse beanspruchen, weil es im Typenspektrum eine eigentümliche Kontrastposition zum arthurischen Roman einnimmt. Zwar führt es wie das Chretiensche Modell seine Helden über eine Stationenfolge, die ihnen zudiktiert wird, wobei zugleich providentiell dafür gesorgt ist, daß die Handlung ein positives Ende findet. Aber anders als beim arthurischen Muster steht das, was den Helden zufällt, nicht bedeutungsvoll für eine je spezifische Position in einem durchstrukturierten Gesamtprozeß,3' sondern das Zufällige bedeutet hier nur sich selbst. Und dieses Zufällige kann, ja muß bis zum Exzeß ausgespielt werden, geht es doch darum, daß es am Ende providentiell überwunden wird, was um so augenfälliger zu werden vermag, je unkalkulierbar wilder die Verwirrungen sich darstellen. Es ist bei diesem Typus kein Erfahrungsprozeß im arthurischen Sinne möglich; an seiner Stelle steht hier die Bewährung im Dulden und Ausharren. Die Providenz, die das Ziel garantiert, ist nicht weiter hinterfragbar. Bei diesem Erzählschema wird also wiederum eine Bedingung aufgehoben, die für das Chretiensche Modell konstitutiv war; denn während das Zufällige im Artusroman nicht wirklich blind sein durfte, sondern strukturell gebunden bleiben mußte, hat bei dem hier in Frage stehenden Erzähltyp das einzelne Zufällige keinen Sinn, es geht vielmehr gerade um das Durchhalten in der Sinnlosigkeit, ein Durchhalten, das dann auf nicht weiter einsichtbare Weise alles letztlich sinnvoll macht, indem es zum glücklichen Ende führt. Statt mit einem sinntragenden Strukturmuster wird mit einer schicksalhaft-göttlichen Instanz gearbeitet: sie garantiert die Belohnung für das Ausharren. Die Nähe zum legendarischen Typus ist unverkennbar; sie wird um so deutlicher, je weniger das Erzählen an den turbulenten Wechselfällen des Geschehens sein Genügen und Vergnügen findet und je mehr man die göttliche Fügung in den Vordergrund stellt. 4. Das märchenhaft-magische Muster Auch dieses Muster wird von einer Art Providenz getragen, aber sie wird hier sowenig thematisch wie beim vorausgehenden Schema die Zufälligkeit des Zufälligen. Anderseits vermag sich hier der Zufall aber nicht exzessiv zu entfalten, sondern er bleibt in der Regel in eine nicht weiter problematisierte oder reflektierte innere Logik des Geschehens eingebunden. Eine Entwicklungsmöglichkeit ergibt sich hingegen daraus, daß die märchenhafte Mechanik bis zu einem gewissen Grad in die magischen Fähigkeiten bestimmter Figuren gelegt werden kann. Der literarisch wichtigste Typus beruht auf der Formel von der Verbindung eines menschlichen Helden mit einer übernatürlichen Partnerin, wobei die Beziehung unter einer Art Tabu steht, das gebrochen wird, was dann zu einem zweiten Handlungsteil weiterführen kann, in dem die verlorene Geliebte wiedergewonnen wird (Typus >Amor und PsycheYvain< dezidiert aufgegriffen und dabei den märchenhaften Tabubruch zur arthurischen Krise umgedeutet. Bei der Auflösung des Chretienschen 31

Ausführlicher dazu: HAUG 1995 [c] [in diesem Band, S. 214-232].

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Modells war es leicht möglich, die märchenhafte Mechanik zu restituieren, d. h., die Krise konnte wieder äußerlich aufgefaßt werden, also erneut als bloßer Tabubruch erscheinen. Doch eröffneten sich dabei zugleich neue Motivationsmöglichkeiten. Im >Partonopier< findet sich das Sehtabu aus der Tradition des Amor und Psyche-Märchens, aber merkwürdigerweise funktioniert es nicht mehr mechanisch. So wäre der Hof, dem die Beziehung zwischen Meliur und dem Helden durch den Tabubruch offenbar geworden ist, bereit, dem Paar zu verzeihen, doch nun ist es Meliur, die Partonopier erzürnt von sich stößt. Die Tabumechanik wird also von einer psychologischen Motivation abgelöst.32 Eine Reihe anderer Literarisierungen des Schemas fällt stärker auf die Märchenmechanik zurück, wobei jedoch auf andere Weise neue Komplexitäten erreicht werden können. Ein aufschlußreiches Beispiel bietet der >Friedrich von SchwabenAmor und Psycheunschuldig verfolgten Frauunschuldig verfolgten FrauApollonius< in den >Gesta RomanorumPartonopierSir Gawain< und im >Reinfrid< zum Romanthema geworden. 3. Ist der Sinn nicht mehr durch ein Handlungsmuster gewährleistet, ist es vielmehr den Personen aufgetragen, ihn zu suchen und zu realisieren, so impliziert dies, daß eine Entscheidungsmöglichkeit gegenüber unterschiedlichen Wegen gegeben sein muß. Anders gesagt: der inneren Entscheidungsfreiheit der Personen muß eine komplexe Welt entsprechen; die narrative Handlung tendiert nun zu Mehrschichtigkeit und Mehrsträngigkeit. Dies kann auch über eine Kombination von traditionellen Mustern erreicht werden. Die Prosalancelot-Kompilation z. B. arbeitet mit einem derartigen kombinatorischen Verfahren. Die Vielzahl möglicher Wege wird hier übrigens durch eine Vielzahl von Helden zur Anschauung gebracht, die >Queste< bietet geradezu eine Typologie von Figuren, die unter verschiedenen Voraussetzungen verschieden weit auf dem Heilsweg vorankommen. Nicht berücksichtigt sind neue narrative Typen, die schon von ihrem Ansatz her subjektiv ausgerichtet sind: der neue allegorische Roman, die Anfänge der Autobiographie usw. Vgl. dazu ZINK 1985. 283

4. Die Kombination von narrativen Modellen kann darauf hinzielen, die Fragwürdigkeit sinnstiftender Muster aufzudecken: man setzt sie gegeneinander, um zu zeigen, daß weder das eine noch das andere zu greifen vermag. Im >Partonopier< wird das arthurische Modell auf das Schema des Amor und Psyche-Märchens gebracht. Aber der französische Hof, von dem der Held auszieht, verkörpert nicht mehr die arthurische Idealität; das Jagdabenteuer führt Partonopier nicht mehr stellvertretend für die Gesellschaft in eine Gegenwelt hinein, und der Tabubruch bedeutet keine innere Provokation im Sinne der arthurischen Krise. Auf der andern Seite aber wird auch die Mechanik des Märchenschemas zurückgelassen. In die dadurch entstehenden strukturellen Lücken werden subjektive Reaktionen und Strategien eingesetzt. In besonders aufschlußreicher Weise zeigt Johanns von Würzburg >Wilhelm von ÖsterreichMelusine< verbindet sich das Amor und Psyche-Märchen mit einer Dynastiegründungssage, so daß es bis zu einem gewissen Grad historisiert wird. Die Verbindung wird in der Weise hergestellt, daß die Thematik, die diese Gründungssage einbringt, nämlich die Erfahrung, daß durch Zufall und Glück der Aufbruch zu etwas Neuem möglich ist, im Rahmen des Märchenschemas problematisiert wird. Die Ambivalenz des Neuen, die Verflochtenheit von Gut und Böse bei jedem glückhaften Aufstieg, - hier ins Bild gebracht durch den verschwiegenen Totschlag zu Beginn erscheint in der Zwiespältigkeit der Partnerin. Dem Märchenschema gemäß steht die Beziehung unter einem Tabu, aber auch hier greift die Mechanik nicht mehr, sondern Melusine sieht zunächst über den Tabubruch hinweg. Erst als Raymond ihr öffentlich das Böse, das ihr Sohn Geffroy getan hat, vorhält, kommt er zur Wirkung. Das Tabubruchmotiv gewinnt damit einen neuen, auf das neue Thema bezogenen Sinn: Melusine hätte aus ihrer Zwiespältigkeit erlöst werden können, wenn sich Raymond zu dieser Zwiespältigkeit, d. h. zum Ineinander von Gut und Böse in seinem Glück, in seinem Leben, in seiner Du-Beziehung, bekannt und nicht das Negative von sich auf den Andern, die Partnerin, geschoben hätte.46 Die besondere Beziehung von Melusine und Raymond beruht im übrigen auf einer eigentümlichen Vorgeschichte, die den Tabubruch unter dem Aspekt des neuen Themas familiengeschichtlich 'mythologisiert'. Eine Art Ursündenfall durch den Ahnherrn Heimas und die Strafe dafür haben dazu geführt, daß das Leben jeder seiner drei Töchter mit einer besonderen Aventüre verbunden ist. Plantine erhält einen durch gefährliche Bewacher geschützten Schatz. Hier wäre eine heldenhafte Befreiungstat notwendig. In Meliors Burg ist ein Sperberabenteuer zu bestehen; der, dem dies gelingt, darf eine beliebige Gabe fordern, ausgenommen Melior selbst. Melusine muß nach dem Schema des Amor und Psyche-Märchens erlöst werden, wobei es freilich nach dem Tabubruch keine zweite Chance mehr gibt. Keine der drei Aventüren gelingt.

45

46

Siehe VOLLMANN-PROFE 1991, S. 131 ff.

Diese Überlegungen stützen sich auf die >MelusineMelusine< thematisiert und problematisiert die Wende zu einem Heldentypus, der jene Idealtypik zurückläßt, die durch die funktionale Einbindung in eine Struktur gefordert war. Wenn es im neuen Roman schließlich um Entwürfe von Lebenswegen geht, die aus individuellen Anlagen resultieren, so bedeutet dies, daß man gemischte Charaktere anzusetzen hat. Diese wiederum korrespondieren einer sich vieldeutig gebenden Welt. Der Weg des Helden erscheint dann als Versuch, in der Auseinandersetzung mit ihr, ja in der Umgestaltung der äußeren Wirklichkeit wie des eigenen Ichs Sinn zu konstituieren. Diese Wende zum gemischten Charakter setzt schon mit Wolframs >Parzival< ein. Parzival ist in programmatischer Abhebung vom traditionellen Heldentypus der Mensch, der, wie es im Prolog heißt, zugleich an Himmel und Hölle teilhat. Und so demonstriert denn der Roman auch, daß die Problematik, in die Parzival hineingeführt wird, über das Schema des doppelten Kursus nicht zu bewältigen ist. Die Antwort auf das Problem liegt auch hier schon im Bekenntnis zum Unvermögen, den Zwiespalt aus eigener Kraft aufzulösen. In unterschiedlicher Weise wird es von nun an immer wieder um diese Anerkennung der eigenen Schwäche gehen, um die Einsicht in die Unvermeidbarkeit der Schuld, in die Notwendigkeit, mit dem Negativen zu leben und die Ambivalenz des Glücks in Korrespondenz zur innermenschlichen Verquickung von Gut und Böse zu sehen. Die Linie führt von Wolframs >Parzival< und >Willehalm< bis zum >FortunatusTristan< steht gegen dieses Modell. Hier ist die Liebe von Anfang an und durchwegs maßlos. Der Liebestrank setzt sie symbolisch absolut. Deshalb ist sie in sich selbst immer zugleich Beglückung und Qual, Erlösung und Tod. So hat Gottfried von Straßburg es programmatisch in seinem Prolog formuliert: ,Wer nie aus Liebe Leid erfahren hat, der hat auch nie durch sie Freude erfahren. Freude und Leid waren seit je unlösbar mit der Liebe verbunden',10 und Tristan und Isold sollen als Musterbeispiel dienen für diese These. Die Tristanliebe kennt also keinen Integrationsweg. Sie bleibt in ihrer Bedingungslosigkeit immer sie selbst. Sie hat nur die Möglichkeit, ihren Doppelaspekt in sich verschärfenden Auseinandersetzungen zu steigern. Die Romanhandlung besteht in nichts anderem als in dieser variierenden Steigerung, die mit klarer Konsequenz zum einen Ziel führen muß, zum Tod.11 Man könnte sich also kaum einen Entwurf denken, der dem arthurischen Muster härter entgegenstünde als der /Tristane Trotzdem hat Chretien, wie gesagt, im Chevalier de la Charrete< versucht, die Tristanliebe ins arthurische Wegschema einzubinden und damit zu entschärfen.12 Auf diese Weise ist eine >TristanChevalier de la Charrete< ein, aber die Liebe zwischen Lancelot und der Königin hat nun eine lange Vor- und Nachgeschichte. Es bleibt also nicht bei der einen ausgegrenzten Liebesnacht im Lande Meleagants, vielmehr ist die Begegnung zwischen Lancelot und der Königin im Jenseitsland hier nur eine Episode in einer Reihe von Ehebrüchen, und damit kann die Liebe wieder wie bei Tristan und Isold ihre subversive Kraft im gesellschaftlichen Rahmen entfalten. Man darf also sagen, daß im Prosalancelot der unbedingten Liebe im Sinne des >Tristan< gegenüber dem arthurischen Modell freie Hand gegeben wurde, so daß sie dieses Modell zerstören konnte, ja zerstören sollte. An diesen Gedankengang schließen sich zwei Fragen an. Zum einen: Kann die arthurische Aventürenstruktur dabei überhaupt noch von Bedeutung sein? Oder allgemeiner gefragt: wie wird konkret mit den Vorgaben des arthurischen Typus umgegangen? Und zum andern: Ist die Liebe zwischen Lancelot und der Königin nichts anderes als eine Kopie der Tristanliebe unter veränderten narrativen Prämissen, d. h. unter den ihr widerstrebenden Bedingungen des arthurischen Modells? Es ist - um die erste Frage aufzugreifen - nicht zu übersehen, daß die Aventüren im Prosalancelot immer wieder das traditionelle Muster erkennen lassen oder es zumindest evozieren. Beispiele: Als Lancelot zum ersten Mal an den Artushof kommt, wird ein Ritter herbeigetragen, dem ein Schwertstück im Kopf und zwei Lanzensplitter im Leib stekken. Nach dem Willen des Verwundeten darf nur derjenige sie herausziehen und ihn damit heilen, der schwört, mit jedem kämpfen zu wollen, der sage, daß er ihn, den verwundeten Ritter, weniger liebe als dessen Gegner, den er getötet hat. Kein Artusritter wagt es, sich darauf einzulassen. Doch der eben erst zum Ritter geschlagene Lancelot tut diesen Schwur bedenkenlos. Alle halten ihn für wahnsinnig. Und Lancelot wird dann in der Folge auch auf Ritter stoßen, mit denen er dieses Eides wegen kämpfen muß, wider Willen und ohne jeden Sinn. Dieser Auftakt kann geradezu als programmatische Zerrform der klassischen Aventüre gelten, bei der die Ausgangsprovokation einen Weg anstößt, über den die arthurische Welt als Sinnangebot gefährdet und restituiert wird; es bleibt hier davon nur noch ein bizarres Gelöbnis übrig, das völlig willkürliche, sinnlose Folgerungen nach sich zieht. Gleichzeitig hängt sich ein weiteres traditionelles Schema ein: die Dame de Nohaut läßt Artus gegen einen Feind um Hilfe bitten. Lancelot will auch diese Aufgabe übernehmen und setzt seinen Willen durch. Auf dem Weg zu der Hilfsbedürftigen hat er eine Reihe von Kämpfen zu bestehen, einen Prüfungskampf, den die Dame de Nohaut inszeniert, und dann einen Kampf gegen einen Rivalen. Das Schema erinnert an den Weg des Wigalois nach Roimunt. Auch dort wird der Held unterwegs getestet und muß er einen Konkurrenten besiegen.14 13 14

Ebd., S. 72ff. Zum >Wigalois< als einem Artusroman, der gegenüber der klassischen Chretienschen Form

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Nachdem Lancelot diese Aufgabe bewältigt hat, folgt die erste große Zauberaventüre, die Eroberung der Doloreuse Garde. Um diese Burg zu bezwingen, muß man an den beiden ersten Toren je zehn Ritter besiegen. Lancelot gelingt dies, doch nicht ohne die Hilfe der Dame del Lac, die ihm drei Schilde bringen läßt, die seine Kraft vervielfachen. In einer späteren Phase wird er dann den Zauber endgültig brechen, indem er in einen tiefen Schacht absteigt und da dämonische Maschinerien zerstört. Auch hierbei steht der Prosalancelot in der Nähe des >WigaloisWigaloisLancelot propre< die traditionellen Mittel, narrativ Sinn zu konstituieren, preisgegeben werden, und wenn man zugleich sieht, wie der Held vergeblich versucht, stattdessen die Tat zur Sprache seiner Liebe zu machen, dann faßt man den Ansatz jener Problemlinie, die sich durch die ganze Kompilation durchzieht. Denn die Unmöglichkeit, die Aventüren in einen Sinnzusammenhang zu stellen oder ihnen sekundär einen subjektiven Sinn zu geben, diese semiotische Problematik erscheint verschärft und zugleich verwandelt auch in der >QuesteLancelot propreQueste< dahin weitergetrieben, daß man einen absoluten Sinn setzt, der von der Ebene der Handlung aus unzugänglich bleibt. Wenn aber die Aventüren nur noch Zeichen sind, so ist es schließlich nur konsequent, daß der Welt der Sinn demonstrativ entzogen wird: der Gral, das religiöse Sinnziel, das die Helden der >Queste< zu erreichen sich bemühen, wird in den Himmel entrückt. So bleibt denn im Schlußteil, der >Mort ArtuQueste< mit ihrem unerreichbar-verabsolutierten Sinn wird durch eine Welt ohne jeden Sinn abgelöst; wenn in ihr doch etwas durchsichtig wird, dann die Lüge und der Betrug. Enthüllung ist nur noch Aufdecken des Scheins, und die Wahrheit dahinter ist die totale Hoffnungslosigkeit.

III Der Untergang der arthurischen Welt wird im Prosalancelot also inszeniert als eine Verabschiedung der traditionellen Möglichkeiten, fiktional Sinn zu konstituieren. Die Chretiensche Idee der symbolischen Struktur trägt nicht mehr, und die Liebe als sinngebendes Prinzip hat ihre fraglose Selbstgewißheit verloren. Die Art und Weise, in der damit das Ende herbeigeführt wird, impliziert somit die Preisgabe der literarhistorischen Bedingungen, auf denen der fiktionale Typus beruhte. Der Anspruch des mittelalterlichen Romans, Sinn zu konstituieren, gründet bekanntlich - anders als beim modernen Roman - nicht in einem subjektiven Entwurf, der im Zusammenspiel mit der Welt über einen Entwicklungsprozeß eingeholt oder auch nicht eingeholt würde. Denn dem mittelalterlichen Roman fehlt dazu eine wesentliche Voraussetzung, nämlich ein positiver Begriff von Individualität.21 Das bedeutet für das Verhältnis von Anfang und Ende der narrativen Handlung, daß das Ziel nicht subjektiv gefunden werden kann, sondern immer schon objektiv vorgegeben sein muß. Das ist in zwei Formen möglich. Zum einen dadurch, daß der Held der Erzählung alle Idealität in sich versammelt, was zur Folge hat, daß die Handlung nichts weiter zeigen kann, als wie der Held alles, was sich ihm entgegenstellt, besiegt und sich unterwirft. Die Gegen19

Weitere Beispiele bei HAUG 1985, S. 185 [= Strukturen, S. 67-85, hier S. 81]. Zum Erzählen im Prosalancelot, das sich selbst aufhebt: vgl. TODOROV 1969/1971. Erzählintern entspricht dem, daß den Artushof keine Aventürenberichte mehr erreichen und er dadurch gewissermaßen sprachlich verödet; vgl. dazu RUBERG 1978, S. 225. 21 Zum Problem der Individualität im Mittelalter: HAUG 1988 [b], insbes. S. 295-297 [in diesem Band, S. 332-361, insbes. S. 335-337]. 20

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möglichkeit - und das war die epochale Neuerung Chretiens - besteht darin, die Idealität als Skizze einer Gesellschaft, in der alle Kräfte ausbalanciert sind, voranzustellen, so daß die Handlung dann eine narrative Diskussion der Bedingungen darstellt, unter denen eine solche Gesellschaft aktualisierbar ist. Und diese Handlung folgt einem idealtypischen Muster. Auch für den >TristanTristan< zu Beginn des 13. Jahrhunderts bestanden hat. Der >Reinfrid< stellt offensichtlich einen überaus originellen Versuch dar, äventiure und minne unter Berücksichtigung sowohl der arthurischen Position wie der >TristanReinfridReinfrid< hat also offenbar versucht, die Idealität der Liebe analog zur Idealität der höfischen Gesellschaft über einen Weg der Negation zu sich selbst zu führen. Er hat zweifellos den strukturellen Sinn des arthurischen Schemas begriffen. Aber da er nicht von einer gesellschaftlichen Idealität ausgeht, da an deren Stelle vielmehr die Idealität der Du-Beziehung getreten ist, steht nicht mehr eine Balance im gesellschaftlichen Rahmen zur Debatte, nicht mehr eine Integration von äventiure und minne in eine höfische Idealität, sondern allein die absolut gesetzte minne, wie der >Tristan< sie propagiert hat, deren Abgründigkeit nun jedoch über einen Aventürenweg ausgelotet wird. Da Yrkane zurückbleibt, ist freilich die Beziehung nicht wechselseitig von der Krise betroffen, und so kann sich diese Beziehung denn auch nicht wandeln, sie bleibt in der Figur Yrkanes ideal, Reinfrid hingegen verfällt der Gegenwelt. Und das Prekäre dieses Abstiegs liegt deshalb im Moment der Umkehr, in der Frage, ob man sich dem Sog des Negativen entziehen kann. Der Heimweg wird zum entscheidenden Problem. Das Motiv der Rückkehr im letzten Moment, das im ersten Teil präludierend schon eine Rolle spielte, dort aber äußerlich-technisch gefaßt war, dürfte somit im verlorenen Schluß thematisch von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Das weist auf einen Struktur- und Sinnwandel, der alle vorausgehenden Antworten auf die Literatursituation des frühen 13. Jahrhunderts weit zurückläßt. Man kann zwar sagen, der >ReinfridReinfrid< die ideale Liebe tritt und der Weg in die Gegenwelt nun nicht mehr die Begegnung mit dem Antihöfischen, sondern mit einer negativen minne ist, so führt das nicht zu einer bloßen Applikation des arthurischen Erfahrungsprozesses auf die Erfahrung der Liebe, es kommt vielmehr zu einer fundamentalen Veränderung, was den Sinn des Modells betrifft. Der klassische Auszug vom arthurischen Hof meinte ja eine Begegnung mit jenen Mächten, die jede Idealität in Frage stellen müssen: die Begegnung mit dem absoluten Anspruch des Eros und der Unvermeidlichkeit des Todes. Das sind allgemein-anthropologische Grenzen, die jeder Idealität im Irdischen gesetzt sind, so daß Idealität prinzipiell zu etwas Utopischem werden mußte. Wenn nun an die Stelle dieser utopischen höfischen Idealität im >Reinfrid< die vollkommene Liebe eines Paares tritt, so erscheint der Weg in die Gegensphäre, in die Welt einer negativ gesehenen Erotik, nicht als ein Weg in die Erfahrung grundsätzlicher menschlicher Bedingtheiten; es wird nicht etwa die Du-Beziehung an ihre Grenze geführt, an die Grenze des Todes wie z. B. im >ErecReinfridJoie de la Cort< (v. 5465).5 Schon der Name verlockt Erec, sobald er ihn hört, sich auf die damit verbundene Aventüre einzulassen. Denn, so sagt er, gerade dies, joie, sei es, was er suche. Worauf er dann zunächst trifft, ist aber eine Burg, Brandigan, wo die joie, wie ihm erklärt wird, Leid bringt. Es geht hier um einen Kampf, bei dem bisher alle Ritter, die ihn versucht haben, gescheitert sind: In einem Zaubergarten eingeschlossen, wartet ein gewisser Mabonagrain auf Herausforderer. Er hat sich seiner amie gegenüber verpflichtet, den Garten nicht zu verlassen, bis ein Ritter ihn besiegen würde. Keinem ist dies bisher gelungen; auf Pfählen stecken die Köpfe der erschlagenen Gegner. Erec wagt die Aventüre, er besiegt Mabonagrain, erlöst das Paar damit aus seiner erotischen Isolation und bringt Brandigan die 'Freude' zurück. Daß dieser Episode eine besondere Bedeutung zukommen muß, ist nicht unbeachtet geblieben. Man hat sie zu Recht als eine Art Allegorie dessen verstanden, was der Roman sagen will6: Erec begegnet in Mabonagrain am Ende seines Weges gewissermaßen sich selbst, oder genauer: dem, was ihm mit Enide geschehen ist. Das von der Gesellschaft ausgeschlossene Paar im Zaubergarten spiegelt die erotische Verfallenheit Erecs wider. Die Entsprechung wird deutlich signalisiert: Chretien sagt, Mabonagrain sei zusammen mit Erec am Hof von dessen Vater aufgewachsen, und die selbstsüchtige junge Dame erweist sich als Enides Cousine. Wenn man die Parallelisierung aber weiterführen will, so zeigt sich, daß die Situationen doch nicht völlig zur Deckung zu bringen sind. Die >Joie de la CortErecPercevalMort ArtuJüngere TiturelFrauendienst< in der Mitte des 13. Jahrhunderts schon ein frühes Beispiel. Dieser sich autobiographisch gebende Roman nimmt in der erstaunlichsten Weise das vorweg, was später etwa im Fall Boucicauts historisch faßbar wird: Ulrich zieht in arthurischer Kostümierung zu Aventüre-Tjosten aus; die historisch-geographisch konkret eingebettete Fahrt gipfelt in einem großen sechstägigen Tafelrunde-Fest. Und all dies, um eine Dame zu beeindrucken, die von Ulrich nichts wissen will, sondern nur ihren bösen Spott mit ihm treibt.24 Die grandioseste, aber auch ungeheuerlichste Replik auf die 'arthurische Epidemie' gibt in Deutschland zu Beginn des 15. Jahrhunderts Heinrich Wittenwiler mit seinem >RingRing< sei ein zu einem Roman ausgewachsener Schwank.26 Und wenn die romanhafte Ausgestaltung auch völlig neue Dimensionen gewinnt, so ist doch festzuhalten, daß man von einem Typus ausgeht, der in radikalem Gegensatz zur Tradition des arthurischen Romans steht, ja der, als man ihn vom 13. Jahrhundert an literarisierte, in einem hohen Maß als Akt der Opposition gegenüber einer leer werdenden höfischen Literatur verstanden worden sein dürfte. Wittenwilers Held ist der Lappenhausener Bauernbursche Bertschi Triefnas, die von ihm Umworbene und Geehelichte ist Mätzli Rüerenzumph, ein Mädchen von überwältigender Häßlichkeit. Werbung und Hochzeit sind durchsetzt mit höfischen Formtraditionen, doch erscheinen sie närrisch-grotesk aufgrund ihrer Übertragung in die bäurische Welt. Die Handlung beginnt mit dem Auftritt von Bertschi und zwölf Gesellen, die in Lappenhausen zu Ehren der 'Damen', d. h. der Dorfweiber, insbesondere Mätzlis, ein Turnier abhalten wollen. Die Charakterisierung der Helden setzt mit höfischen Formulierungen an, die aber in der vergleichenden Explikation jeweils in den komischen Kontrast umbrechen (vv. 105ff.). Sie reiten unverdrossen - ,als ob sie der Regen begossen hätte'. Triefnas ist ein ,herrlicher Held - wie eine bauchige Wasserkanne'; sein Wappen sind zwei Gabeln in einem Mist. Chuontz von Stadel ist ein Ritter ,hart - wie Moos'; auf seinem Schild ein toter Hase in grünem Feld. Der dritte ist Chnotz:,weitberühmt' - in allen schänden; sein Wappen zeigt zwei hölzerne Haken zum Kirschenpflücken. Der vierte ist Junker Troll: ,tapfer - wie ein Butterwecken'; sein Zeichen ist ein Rechen. Der fünfte ist Haintzo mit der Geiß, ein eselman - als Variation von 24

Zum Problem von Literatur und Wirklichkeit im >FrauendienstRing< vgl. PLATE 1977, S. 31 ff.

1978 [c], S. 59ff., und 1984; BELITZ 1978, JÜRGENS-LOCHTHOVE 1980, LUTZ 1985 und

324

1990.

edelman - und rittigmäss (,schüttelfröstig') - als Variation von rittermcezec; sein Wappen sind drei Nüsse an einer Weinrebe, usw. Die Beispiele zeigen die schon auf sprachlicher Ebene geübte Brechungstechnik. Und entsprechend wird generell mit höfischen Verhaltensformen, Vorstellungen, Handlungsmodellen angesetzt, um sie dann jeweils in ihrer Substanzlosigkeit zu entlarven. Dabei deckt sich die Darstellungsperspektive Wittenwilers mit der Selbstdarstellung der Figuren (vv. 165ff.). Die Bauern präsentieren sich als Ritter, indem sie Körbe als Helme aufsetzen, Getreideschwingen als Schilde nehmen; sie stopfen ihr Lodenzeug mit Heu und Stroh aus: das sind ihre Rüstungen; Baumrinde dient als Beinschutz; ihre Speere sind Schürhaken; sie kommen auf Eseln und Ackergäulen dahergeritten. Nun fordern sie alle Herren auf, 186

,Schilt und sper ze prechen Durch aller frawen eren,'

Doch dieser Aufruf geht ins Leere, denn es finden sich keine 'Herren', die gegen die dreizehn antreten würden. Aber da man sich partout vor den 'Damen' ritterlich bewähren will, schlägt Bertschi vor, gegeneinander anzurennen. Das findet Zustimmung, und das Ergebnis ist, daß sie schon nach dem ersten Zusammenprall zerschunden und hilflos teils im Dreck und teils im Bach liegen. Nur einer ist heil davon gekommen, Neidhart, eine literarische Figur, der Prototyp des Bauernfeindes, den Wittenwiler als einzige höfische Gestalt in die Bauernschar eingereiht hat. Daß er im Sattel geblieben ist, reizt die übrigen; sie beschließen, gegen ihn anzureiten - ein Unternehmen, bei dem einer nach dem andern auf das kläglichste scheitert. Triefnas selbst stolpert mit seinem Pferd, so daß es sich überschlägt. Auf den Kopf gefallen heult er auf und beginnt, auf das unflätigste allen frawen rain zu fluchen (vv. 559ff.). Aber sobald ihm die wirdichait seines 'edlen' Mätzli wieder in den Sinn kommt, faßt er sich und sagt: 570

,Frawen gnad wil ich derwerben Scholt ich vierstund drüber sterben!' („Damenhuld will ich gewinnen auch wenn ich viermal dabei sterben sollte!")

Mit der bäuerlichen Welt und Mentalität konfrontiert, bricht also das höfische Klischee immer wieder zusammen; doch kaum hat man sich vom Schock erholt, okkupiert es wieder das Bewußtsein. Neidhart, der Ritter unter den Dörpern, mit dessen Namen die früheste Parodie höfischer Muster verknüpft ist,27 fungiert demgegenüber und abgesehen von seiner konkreten Bauernfeindrolle - als literarhistorisches Signal für die Tradition der parodistisch gewendeten Perspektive. Nachdem von den letzten vier, die gegen Neidhart angerannt sind, zwei sich zu Tode gestürzt haben, überkommt alle das große Elend und die Reue; sie sind bereit, Buße zu tun, und es ist komischerweise Neidhart, der ihnen die Beichte abnimmt. Die Sünden, die sie zu gestehen haben, sind aber ebenso läppisch, wie die Bußen, die Neidhart ihnen auferlegt, unangemessen sind. Nun bitten sie Neidhart, das Turnier regelrecht zu inszenieren. Darauf schlägt er ein scheinbar harmloses Spiel mit Strohkeulen vor, wobei er in seine eigene Keule jedoch "Siehe dazu J.-D. MÜLLER 1986. 325

ein Stück Eisen steckt. Da man in dem aufgewühlten Staub einander nicht mehr erkennen kann, gelingt es Neidhart, alle, ohne daß man ihm dahinterkäme, zusammenzuschlagen. So liegen sie schließlich am Boden; sie müssen ärztlich versorgt werden, ausgenommen Bertschi, den, wie es heißt, die Macht der Minne allein wieder aufrichtet. Zum Schluß gehen noch die Esel und die Rosse aufeinander los und schlagen sich gegenseitig tot. Neidhart aber hat sich davongemacht. Das Turnier, eines der prekären Kernstücke des höfischen Festes, ist auf kunstvolle Beherrschtheit angewiesen, und selbst dann ist keineswegs gesichert, daß es nicht für Einzelne tödlich endet. Wenn aber wie im >Ring< nicht einmal die Regeln gewahrt werden, bricht das hemmungslos durch, was von der Spielform ohnehin nur mühsam gehalten werden kann: die rohe Gewalt. Da schon die Inszenierung und die technischen Erfordernisse die Möglichkeiten der Bauern überfordern, ist das Unternehmen ganz abgesehen von der ideellen Seite - von Anfang an zur Sinnlosigkeit verurteilt. So schwankt denn das Geschehen zwischen blamabler Komik und schmerzlicher Brutalität. Die Komik verstärkt sich dadurch, daß selbst im völligen Zusammenbruch der angemaßten hövischeit Schablonen ritterlichen Verhaltens bruchstückhaft immer wieder auftauchen und den literarischen Horizont gegenwärtig halten. Man wollte im >Ring< ständekritische Tendenzen sehen, d. h. ihn als Invektive gegen Bauern interpretieren, die sich ritterlich gebärden und damit ihre Standesgrenzen zu überschreiten trachten.28 Das würde voraussetzen, daß der Tafelrundenbetrieb um 1400 auch schon das bäurische Milieu erreicht hätte. Wie immer dem sei, der >Ring< ist für das Konstanzer städtische Literaturpublikum geschrieben,29 und das Hauptinteresse dürfte deshalb in anderer Richtung gelegen haben, nämlich in der Parodie ritterlicher Verhaltensformen, die so äußerlich geworden waren, daß darunter Leere, Anmaßung und Gewalt sichtbar werden mußten. Der Bauer in seiner Roheit ist die Figur für die nüchtern-brutale Wirklichkeit unter der abblätternden Form höfischer Traditionen. Wittenwiler sagt es im übrigen selbst explizit in seinem Prolog (vv. 43f.): Er ist ein gpaur in meinem muot / Der unrecht lept und läppisch tuot (Meiner Meinung nach ist der ein Bauer, der in falscher Weise lebt und sich närrisch benimmt), d. h., die Bauern im >Ring< stehen für eine im Grunde dumm-rohe Gesellschaft, die aber den Anspruch aufrechtzuerhalten sucht, eine höchste Form mit dem ihr entsprechenden Ethos zu erfüllen. Bertschi hatte vor, sich mit dem Turnier vor den 'Damen' zu bewähren. Aber alles, was ihm gelingt, ist, daß er vor dem angebeteten Mätzli ins Gras geschmissen wird, so daß er sich vom Knecht seines Vaters wieder auf die Beine helfen lassen muß. Diesem kläglichen Auftakt zum Trotz folgt nun dem höfischen Modell entsprechend die Werbung. Auch dabei wird so verfahren, daß die literarisch-höfischen Verhaltensformen die Handlungsmuster abgeben, daß diese jedoch an der kruden bäurischen Wirklichkeit scheitern oder einfach von ihr überrollt werden. Bertschi dient frawn Mätzen nacht und tag (v. 1283), er schleicht um ihr Haus und spielt den Minnesänger; er reimt: 1294

,Ich wil nach dir verderben, Nach dir so wil ich sterben.'

Zu diesem Aspekt: PLATE 1977, S. 62ff. und S. 78ff. Vgl. LUTZ 1985.

326

Doch sie läßt sich nicht einmal blicken. In seiner Verzweiflung reißt er den Verputz von ihrer Hausmauer und beißt hinein. Schließlich holt er sich einen Spielmann, der unter Mätzlis Fenster mit ganzer Lautstärke zu blasen beginnt. Da streckt sie den Hintern heraus, und Bertschi ist zutiefst entzückt, da er ihn für ihr Gesicht hält. Der Lärm lockt Leute herbei, Bertschi und der Spielmann müssen sich davonmachen. Als nächstes überrascht Bertschi Mätzli im Kuhstall; sie will schreien, er hält ihr das Maul zu, da wird die Kuh rebellisch und geht mit den Hörnern auf die beiden los. Es bleibt nur die Flucht. Darauf steigt Bertschi auf das Dach von Mätzlis Elternhaus; er bricht durch und fällt ins Herdfeuer, um das die Familie versammelt ist. Der Vater zieht ihn heraus, Bertschi gibt ihm einen Faustschlag und entkommt. Zur Strafe wird Mätzli in den Speicher gesperrt. Bertschi leidet unter der Trennung. Inzwischen befaßt sich Mätzli mit ihrem Mutz, den sie erst prügelt und dann streichelt: dies als die Form, über die sich ihr Gesinnungswandel darstellt, durch den jetzt auch sie in Liebe entbrennt. Das ist nichts anderes als eine groteske Abwandlung des typischen Liebesmonologs aus der höfischen Romantradition. Die Liebenden essen nun nichts mehr vor lauter Sehnsucht - so, wie es die klassische Minnetheorie verlangt! Schließlich will Bertschi einen Liebesbrief schicken. Er bedient sich der Hilfe des Dorfschreibers Nabelreiber. Zunächst versucht er sich selbst in Minnepoesie. Er dichtet: 1860

,Got griiess dich, lindentolde! Lieb, ich pin dir holde. Du bist mein morgensterne; Pei dir so schlief/ ich gerne.'

Nabelreiber setzt das darauf in eine unanstößige höfische Fassung um. Der Brief wird mit einem Stein beschwert und durch das Speicherfenster geworfen. Unglücklicherweise trifft er Mätzli so an den Kopf, daß sie bewußtlos zu Boden fällt. Als sie wieder zu sich kommt, verlangt sie nach einem Arzt, dies mit dem Hintergedanken, daß der ihr vielleicht sagen könnte, was in dem Brief steht. Mätzli wird zum Doktor Chrippenchra gebracht, der sie verbindet; dann bittet sie ihn, ihr den Brief vorzulesen und eine Antwort zu schreiben. Was sie Bertschi sagen will, formuliert sie so handfestunzweideutig, daß Chrippenchra sich angetrieben sieht, gleich selbst das Nötige zu tun, und Mätzli kann gar nicht genug davon bekommen. Sie wird auch auf der Stelle schwanger. Chrippenchra gibt ihr nun ein Rezept zur scheinbaren Wiederherstellung der Jungfernschaft und entsprechende Verhaltensweisen. Dann schreibt er einen Brief in Form einer hochstilisierten Minneallegorie. Bertschi versteht, als Nabelreiber dies vorliest, kein Wort davon, doch der Schreiber faßt alles dann lapidar in einem Satz zusammen: sie wolle ihm zu Willen sein, und mehr als das, wenn er sie heirate. Bertschi war vor Hunger schon so schwach, daß er beinahe gestorben wäre, doch nun rettet ihn die fröd (v. 2611) und obendrein eine halbe Kuh, die er auf einen Sitz auffrißt womit der klassische Terminus der höfischen vröude zitiert und sofort desavouiert wird. Etwas, was sich beim Turnier erst andeutete, das tritt nun in der Werbung klar hervor: die höfische Tradition ist nicht nur in der Weise präsent, daß sie an der bäurischen Wirklichkeit scheitert, sondern sie überlagert gewissermaßen das Geschehen zugleich als eine Sphäre, die auch handlungstechnisch gar nicht mehr greifen kann. Chrippenchras hochstilisierte Minneallegorie, in der Visionen der irdischen und der 327

himmlischen Liebe in den Gestalten der Venus und Marias gegeneinandergestellt werden, paßt weder in die Feder des lüstern-groben Arztes, noch ist sie dem praktischen Zweck, dem sie dienen soll, in irgendwelcher Weise angemessen: sie ist für Mätzli wie für Bertschi vollkommen unverständlich. Dieses Verfahren, durch eingeblendete Traditionsstücke verschiedenster Art in eine Sinnebene jenseits der Handlung hinüberzuführen, nimmt im Laufe des Romans immer exzessivere Formen an. Dabei gilt grundsätzlich, daß die betreffenden Traditionsstücke zwar den epischen Figuren in den Mund gelegt und jeweils situativ bezogen werden, daß sie aber weder mit den Personen vereinbar sind, die sie äußern, noch eine wirkliche Funktion für das Geschehen besitzen. Es wird gleich nochmals davon zu sprechen sein. Ich übergehe deshalb zunächst auch die folgenden Passagen, in denen diese Seite zusehends stärker hervortritt: die Eheberatungen in der Familie Bertschis, seinen Antrag im Hause Mätzlis, das Examen, dem er unterworfen wird, die Belehrungen, die er empfängt, aber auch die Trauung und die Beschenkung, und wende mich gleich dem zentralen Ereignis dieses Handlungsteils zu, dem Hochzeitsfest. Fulminant-komisch ist schon der Auftakt: die Einladung und der Aufzug der Gäste, die Namensliste mit den grotesken Charakterisierungen (vv. 5299ff.), all dies als Persiflage des Ritterkatalogs, wie er gängig war, seit Chretien ihn beim Hochzeitsfest von Erec und Enide (vv. 1882ff.) in den arthurischen Roman eingeführt hat. Das Fest beginnt mit einer wüsten Fresserei und Sauferei. Es gibt Äpfel, Birnen, Nüsse, Käse, dann Eselbraten, Gersten- und Haferbrot, Kraut mit Speck und Grieben, Fisch und Eier. Und dazu werden Unmengen Apfelmost, saure Milch und Wasser gesoffen. Aber das ist alles noch nicht genug, man rafft unersättlich zusammen, was sich im Hause findet. Was die festliche Form betrifft, so wird gesagt, daß Frauen und Männer sich zum Tisch drängen wie die Schweine zum Trog. Der eine versucht dem andern den besten Bissen wegzureißen, man legt sich gegenseitig herein, man balgt und lacht, man beschmiert und bekleckert sich: es ist ein wahrhaft säuisches Festfressen, und es endet entsprechend unflätig mit Gefurz, Gekotz und Gepisse. Dann spielt der Pfeifer zum Tanz auf, man dreht sich, bis man vor Erschöpfung umsinkt, um aber immer wieder aufs neue zu beginnen, bald angetrieben von Liedern und bald von Musik: sie stampfen und trampeln wie die Wildschweine. Da geschieht es, daß ein gewisser Eisengrein der Gredel aus Nissingen die Handfläche aufkratzt, um ihr seine Minne anzuzeigen. Das geht ihrem Onkel Schindennack zu weit, er stellt den Grobian zur Rede, der mault zurück, es entsteht eine Rauferei, in die alle Männer hereingezogen werden, während die Frauen sich in Sicherheit bringen. Zunächst traktiert man sich mit den Fäusten, dann holt man Spieße, Schwerter und Stangen. Bertschi läutet die Kirchenglocken, da kommt das ganze Dorf mit Armbrüsten, Bogen und Pfeilen daher, man schießt und schlägt auf die Nissinger ein, bis die fliehen, wobei sie ihre Mädchen zurücklassen, über die sich die Lappenhausener hermachen. Das bedeutet Krieg zwischen den beiden Dörfern. Der dritte Teil des Romans behandelt - abgesehen von der Schilderung der groteskbrutalen Hochzeitsnacht Bertschis und Mätzlis - die große Bauernschlacht. Zunächst suchen sich die beiden Parteien Bundesgenossen. 72 Städte in ganz Europa - Wittenwiler zählt sie alle auf - werden um Hilfe angegangen, aber ohne Erfolg. Man muß sich anderweitig umsehen, und so kommen schließlich Heere mit z. T. irreal-bizarren Figuren zusammen: auf Seiten der Lappenhausener kämpfen 1100 Hexen, 7 Riesen, 1000 328

Heiden und 50 Narrenheimer. Auf Seiten der Nissinger 1098 Zwerge, 4 Recken, 120 Schwyzer und 79 Mätzendörfer. Die Nissinger sind zahlenmäßig unterlegen, aber durch Verrat wird Lappenhausen schließlich eingenommen und alles, was lebt, niedergemacht. Übrig bleibt nur Bertschi, der sich in einen Heustadel verkrochen hat. Er wird hier von den Nissingern regelrecht belagert, doch da man ihn nicht zur Übergabe zwingen kann, will man ihn aushungern. Da taucht er schließlich als heufressende Ungestalt aus dem Stadel auf, so daß die Nissinger das Entsetzen packt und sie fliehen. Bertschi geht nun durch sein ausgeraubtes, ausgebranntes Dorf; Leichen, wohin er schaut, Männer, Frauen und Kinder, darunter auch Mätzli. Er bricht weinend zusammen. Dann kehrt er der Welt den Rücken, um im Schwarzwald als Einsiedler sein Leben gottgefällig zu beschließen. Wer wie Roger Caillois und andere im Exzeß den Grundzug des Festes sieht,30 der könnte sich darin durch Wittenwilers Roman bestätigt sehen, und auch für Caillois' Behauptung, daß Fest und Krieg in vieler Hinsicht - in Hinsicht auf den totalen Kräfteverschleiß, auf den Ausbruch gestauter Energien, auf die Einschmelzung des Einzelnen in einen überpersönlichen Vorgang und die rauschhafte Aufhebung aller Schranken - sehr eng zusammengehören, auch dafür böte der >Ring< massives Demonstrationsmaterial. Zugleich aber enthüllt sich die Fragwürdigkeit solcher Thesen, wenn sie im ahistorischen Raum verbleiben. Das orgiastische Fest Wittenwilers, das in den Krieg umkippt, ist historisch die satirisch-provozierende Replik auf eine Jestkultur, die hohl geworden war. Es wäre geschichtlich zu überprüfen, ob nicht die Orgie immer als Gegenfest entsteht. Sie hängt ja insofern an der Idee des Festes, als sie wenigstens dessen Minimalbestimmung bewahrt, ohne die sie nicht möglich wäre: die Bestimmung, daß die Vorgänge in einem Lizenzrahmen ablaufen, der ihren Sonderstatus, praktisch: ihre Sanktionslosigkeit garantiert. Man braucht dabei nicht dort Halt zu machen, wo Irreparables geschieht, bei der Beschädigung der Person, bei Vergewaltigung und Mord. Das Fest kann u. U. selbst diesen härtesten Vorstoß ins Faktische einbinden und bewältigen. Erst wenn die Gewalt total wird, wenn jede Bindung an Spielregeln fällt, löst man sich endgültig aus der Sphäre des Festes. Die Orgie steht an der Grenze. Sie ist damit das Gegenbild zu dem im Zeremoniellen erstarrten Fest, das alles Unkontrollierbare ausgeschaltet und dadurch die Idee des Festes in die Gegenrichtung, in Richtung auf die totale und damit leere Form zerstört hat. Wittenwiler antwortet literarisch auf den arthurischen oder pseudo-arthurischen Festbetrieb, der die Literatur als bloßes Spiel-Material ausschlachtet. Dabei wird dieses Spiel-Material im >Ring< Figuren zugeschoben, die sozial die größte Distanz dazu haben und die dadurch die krude Wirklichkeit hinter der angemaßten Form in groteskkomischer, ja tragikomischer Weise zur Anschauung bringen. Die Anmaßung aber meint - kaum verdeckt -, daß vom arthurischen Fest und der höfischen Tradition insgesamt nur Schablonen übrig geblieben sind, die zu nichts weiter dienen, als gesellschaftliche Ansprüche aufrechtzuerhalten, die ihre Legitimation verloren haben. Das bäurische Gegenfest zieht diese Schablonen heran, um sie rückhaltlos zu desavouieren. Dabei gibt es jedoch am Ende die Form überhaupt preis. Der Effekt ist komisch bis zu jenem Punkt, an dem dies zur Selbstzerstörung des Festes und zum allgemeinen Untergang führt. Die Freiheit, die nicht im Spiel freiwillig die Form festhält, sondern jede CAILLOIS 1950.

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Form zerbricht, vernichtet sich selbst; sie liefert sich dem Chaos aus. Diese Einsicht gehört als literarischer Reflexionsakt grundsätzlich ins Zentrum des Festes, das seiner Idee gerecht wird, ja, sie ist sein eigentliches Thema, sein gespieltes Thema. Wenn das Fest sich dieser Reflexion verweigert, dann fällt der ausgestoßenen Literatur die Aufgabe zu, ihm nach der Art des >Ring< den Negativspiegel vorzuhalten. Aber der >Ring< ist mehr als nur eine komisch-grausige Abrechnung mit höfischen Leerformen. Es ist vielmehr eine generelle Antwort auf jene kulturgeschichtliche Situation, die dadurch entstanden ist, daß die immer weitergetriebene Auflösung des geschlossenen frühmittelalterlichen Weltbildes auch das höfische Fest, in dem es als ideal-utopischer Entwurf noch nachlebte, unterlaufen hat. Alle aus der Dissoziation hervorgegangenen Elemente tauchen hier nun - und bezeichnenderweise zusammenhanglos - nebeneinander auf: neben der leer gewordenen höfischen Form und den aus ihr verdrängten, haltlos gewordenen Triebkräften, der Begierde und der Gewalt, auch die autonom gewordene Moral und das neue aszetische Ideal. Wittenwiler hat in seinem Roman zahlreiche und z. T. sehr breit ausgeführte didaktische Partien eingebaut. Dabei übernimmt oder adaptiert er immer wieder vorgefertigte Traditionsstücke. So bietet Nabelreiber, als Bertschi ihn bittet, den Liebesbrief zu schreiben, vorweg eine Minnelehre. Chrippenchra stilisiert die Antwort, die er für Mätzli verfaßt, als allegorisch explizierte Venus- und Marienvision. Die Belehrungen, die Bertschi bei seinem Antrag im Hause seines Schwiegervaters empfängt, beginnen mit einem Schülerspiegel, dann folgt eine Christenlehre mit einer Erklärung der Dreifaltigkeit, mit den 10 Geboten, den 6 Werkzeugen der Barmherzigkeit, den 7 Sakramenten, den 7 Todsünden, den Liebes- und den Kirchengeboten, mit einem Beichtspiegel und einem Memento mori. Hinzu kommen eine Gesundheitslehre, eine Tugendlehre und eine Haushaltslehre. Der Schlußteil des Romans bietet dann noch weitläufige Kriegslehren: Theoretisches über die Arten des Krieges, seine Ursachen, Praktisches über Vorbereitung, Kampfformen, Taktik usw. Diese didaktischen Stücke sind z. T. in höchst differenzierte Systeme aufgefächert, so daß sich insgesamt eine Art religiös-moralisch-technische Enzyklopädie ergibt. Diese universale Wissensvermittlung erfolgt nun zwar in der Weise, daß die Lehren den Dörflern in den Mund gelegt werden - so bietet Lastersak die Schülerlehre, Übelsgmach die Tugendlehre, Saichinkruog die Haushaltslehre usw. -, aber die Verhaltensregeln erscheinen höchst beiläufig einmal wirklich mit der Handlung verknüpft. Im Grunde gehen sie ohne Rücksicht auf den Erzählzusammenhang über Personen und Ereignisse hinweg. Es besteht in der Forschung kein Konsens darüber, wie dieses merkwürdige Verhältnis zwischen Lehre und epischer Handlung zu interpretieren ist.31 Geht es Wittenwiler in erster Linie um die Darbietung seiner Lehren, und bildet die Handlung dazu die Negativfolie? Der Dichter sagt in seinem Prolog, daß der Zweck des Werkes in der Didaxe bestehe und daß er die Bauerngeschichte nur zur Unterhaltung dazwischengeschoben habe (vv. 32ff.). Man wird zögern, darin etwas anderes als eine prologtopische Simplifizierung zu sehen. Dies schon deshalb, weil der Spaß doch an einem bestimmten Punkt aufhört und einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Aber auch mit 31

Vgl. zu dieser Kontroverse RUH 1978 [c], S. 64ff., und 1984, der nachdrücklich für eine Verbindlichkeit der Lehren eintritt. Die Literatur zur Kontroverse ebd., S. 354 Anm. 5. 330

der These einer an einem epischen Faden aufgereihten Sammlung von Negativexempla zu den verschiedenen Lehren kommt man nicht durch. Denn wenn Wittenwiler sein Werk >Ring< nennt, dann deshalb, weil er darin, wie er sagt, den Lauf der Welt einfangen will, und d. h., es handelt sich weniger darum, Einzelbeispiele für falsches Verhalten zu geben, als den Zusammenbruch einer ganzen Welt vorzuführen. Diese Perspektive dominiert; das Lehrgebäude aber schwebt weitgehend beziehungslos darüber. Man hat das Wissen um das richtige Verhalten auf allen Ebenen zwar zur Verfügung, aber man vermag es nicht anzuwenden, ja, wenn man die Anwendung einmal versucht, dann zeigt es sich, daß sich gerade aufgrund der Wissensfülle jeder Position eine Gegenposition entgegenstellen läßt. Dies demonstriert z. B. die Diskussion darüber, ob es besser sei zu heiraten oder ledig zu bleiben. Die Gründe und Gegengründe werden nach Art einer scholastischen Disputation in so langem Hin und Her vorgetragen, daß am Ende totale Ratlosigkeit herrscht. Das heißt, daß die autonom gewordene Moral mit dem übrigen Wissensgut - in allen Aspekten zwar systematisch überschaubar geworden ist, daß man sich aber praktisch in der disparaten Fülle verliert. Der didaktische Überbau bietet also - mag auch alles richtig sein, was er ausbreitet - doch nicht die eigentliche Wahrheit. Sie liegt vielmehr in der hoffnungslosen Diskrepanz zwischen dem menschlichen Vermögen und der abgelösten universalen Lehre. So scheint denn am Ende nur die aszetische Lösung übrigzubleiben. Und doch wird man sich schwer dazu verstehen, in der mit wenigen Zeilen abgetanen Weltflucht Bertschis die Position des Dichters zu sehen. Diese Weltflucht wirkt vielmehr nochmals als ein letztes gängiges Versatzstück, wobei es dem Leser überlassen wird, darüber zu entscheiden, ob er es episch ernst nehmen oder darin wieder nur ein Klischee sehen will, das in einer bestimmten Situation konventionell einrastet. Es ergibt sich somit, daß der >Ring< zum einen den Zerfall des höfischen Festes als eines idealen Konzepts vorführt: was bleibt, sind entleerte Muster und das Chaos. Auf der andern Seite hebt sich hier die autonome Moral in der totalen Systematisierung alles Wissens selbst auf. Und die schnellfertige aszetische Lösung am Ende entlockt einem kaum mehr als ein Achselzucken. Der >Ring< ist die grandios-rückhaltlose Abrechnung mit einer Welt, die die Fähigkeit zur prekären Mitte und deren reflektierter Realisierung im festlichen Spiel verloren hat. So wird denn durch diese Gegenposition zu Chretien, mehr als zweihundert Jahre später, ex negativo nocheinmal und verschärft deutlich: Zur Alternative zwischen dem Untergang im totalen Chaos und der Lähmung in der totalen Ordnung gibt es als dritte, sinnstiftende Möglichkeit nur das Wagnis des Festes - es sei denn, man wäre bereit, in hoffnungsloser Hoffnung auf das Wunder der Gnade zu warten.

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Francesco Petrarca - Nicolaus Cusanus - Thüring von Ringoltingen Drei Probestücke zu einer Geschichte der Individualität im 14./15. Jahrhundert

Vorüberlegungen 1920, ein Jahr, nachdem Johan Huizinga mit seinem >Herbst des Mittelalter ein Gegenbild zu Jacob Burckhardts >Kultur der Renaissance in Italien< entworfen hatte,1 ließ er seine kleine Studie >Das Problem der Renaissance< folgen.2 Im >Herbst des Mittela l t e r war von Burckhardt nur sehr beiläufig die Rede gewesen, wenngleich der große Vorgänger insgeheim der Adressat des Buches war. Jetzt würdigt er ihn explizit in historisch-kritischer Auseinandersetzung. Er geht aus von der Wandlung, die der Renaissancebegriff durch Burckhardt erfahren hat, und zwar, indem er dessen Position von jener Jules Michelets abhebt, der „die Entdeckung der Welt und des Menschen" in der Renaissance noch ganz im Sinne der Aufklärung als Durchbruch der Vernunft durch das Dunkel des Mittelalters verstanden hatte.3 Burckhardt hingegen - so bemerkt Huizinga - „wandte jene Formel für die Renaissance, ,die Entdeckung der Welt und des Menschen', auf Erscheinungen an, für die Michelet nur in zweiter Linie Interesse hatte, ja er verstand im Grund jene Formel ganz anders, als es Michelet, der sie schuf, getan hatte. Michelet hatte sie ausgerufen als eine Parole. Er war nicht der Mann, der den Reichtum an Einzelbildern zusammenzutragen vermochte, um seine historische Formel zu beweisen. Und sie wäre vielleicht als ein Ruf in der Nacht verklungen, hätte Burckhardt sie nicht aufgefangen. Eine solche Verbindung von Weisheit und Tiefe, von Kraft zu großer Zusammenfassung mit dem geduldigen Eifer des Gelehrten in Sammeln und Durcharbeiten seines Stoffes, wie sie Burckhardt aufweist, ist in der Geschichte der historischen Wissenschaft zu selten . . . Burckhardt war zuallerletzt in banalen Fortschrittsideen befangen, und schon deswegen konnte er viel tiefer greifen als Michelet. Er wurde der erste, der die Renaissance losgelöst von ihrem Zusammenhang mit Aufklärung und Fortschritt sah, nicht mehr als Vorspiel und Ankündigung späterer Vortrefflichkeit, sondern als Kulturideal sui generis".4 Dieses Ideal ist insbesondere im zweiten Abschnitt der >Kultur der Renaissance< formuliert; er trägt den Titel: >Die Entwicklung des IndividuumsHerbst des Mittelalters< vorweg schon geboten. Und wenn er nun das Fazit zieht und feststellt, daß alle „wirklichen, wesentlichen Kulturübergänge" zur Moderne direkt an das Mittelalter

5 6 7

BURCKHARDT 1962, S. 89, bzw. HUIZINGA 1953 [b], S. 22. BURCKHARDT 1962, S. 89f. HUIZINGA 1953 [b], S. 27f., S. 31 f.; vgl. SKALWEIT 1982, S. 22f., S. 156.

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anschließen, so bleibt das, was Burckhardt als Renaissance erfaßt hat, bestenfalls noch als Sektor in einer hochkomplizierten kulturellen Umstrukturierung zurück.8 Eine entsprechende Einschränkung gilt für den von Burckhardt ins Zentrum gestellten Begriff der Individualität. Auch diese ist nach Huizinga „höchstens ein Zug unter vielen, der von durchaus widersprechenden Zügen gekreuzt wird. Nur eine falsche Verallgemeinerung hat den Individualismus zum Erklärungsprinzip der Renaissance erheben können".9 Ja, Huizinga schlägt die Renaissance in Hinblick auf die Opposition zwischen autoritativer Normenbindung und individueller Autonomie mit aller Entschiedenheit der traditionellen Seite zu: „Das Mittelalter stellt für alles, was den Geist betrifft, autoritative, verbindliche Normen auf: nicht allein für den Glauben mit seinem Gefolge von Philosophie und Wissenschaft, sondern für Recht, Kunst, Umgangsformen, Vergnügen. Die moderne Zeit fordert ein persönliches Recht auf Lebensbestimmung, Überzeugung und Geschmack." Wenn man nun aber frage, wo hier die Renaissance stehe, dann werde man antworten müssen: „Sicher nicht auf der modernen Seite." Die Renaissance sei vielmehr noch geprägt durch eine Autoritätskultur, „ihr gesamter Geist" sei „in höchstem Maße normativ, suchend nach immer gültigen Maßstäben für Schönheit, Politik, Tugend oder Wahrheit."10 Bei seiner Kritik des Burckhardtschen Renaissancekonzepts hat Huizinga im übrigen nicht unerwähnt gelassen, daß es eine unleugbare Beziehung gibt zwischen dem Renaissancebild des späteren 19. Jahrhunderts und der zeitgenössischen, vor allem durch Nietzsche propagierten Idee der genialen Persönlichkeit. Huizinga möchte zwar Burckhardt selbst von dieser „Begriffsverwirrung" freisprechen und die Schuld ganz auf jene schieben, die in dilettantischer Weise seinem Buch nur jene Figur des über Doktrin und Moral erhabenen Künstlers und Machtmenschen entnommen hätten, um sie der „geschwächten Persönlichkeit" des eigenen Säkulums entgegenzusetzen, für die man die historisierende bürgerliche Bildung verantwortlich machte." Ob man in Huizingas Ehrenrettung einstimmen mag oder nicht, sicherlich gehört der Geniekult des 19. Jahrhunderts zu den historischen Prämissen von Burckhardts individualistisch geprägter Renaissancekonzeption. Und so dürften denn anderseits auch seine Vorbehalte gegenüber dem bürgerlichen Bildungshumanismus nicht ohne Einfluß darauf gewesen sein, daß er die Bedeutung der Wiederentdeckung des Altertums für die Renaissance herunterspielte oder besser: in veränderter Perspektive relativierte: die Wiedergeburt des Altertums sei ein „enges Bündnis mit dem neben ihr vorhandenen italienischen Volksgeist" eingegangen.12 Der Neubeginn wird damit als ein Zu-sich-selbst-Finden begriffen: das Alte ist das Eigene als Neues.13 Das ist, wie noch zu zeigen sein wird, in gewisser Weise durchaus zutreffend: man wird nicht daran zweifeln können, daß die Antike in der Rezeption durch die Renaissance den eigenen Erfordernissen entsprechend verwandelt worden ist. Doch erscheint 8

HUIZINGA 1953 [b], S. 38. - Einen umfassenden Überblick über die Geschichte des RenaissanceVerständnisses - mit dem Versuch einer Rehabilitierung der Renaissance als Übergangsepoche - bietet FERGUSON 1948 und 1970.

'HUIZINGA 1953 [b], S. 52. 10

Ebd., S. 39.

11

Ebd., S. 25; vgl. J. SCHMIDT 1985 II, S. 156. BURCKHARDT 1962, S. 116.

12

13

So: JÄHNIG 1984, S. 13f., S. 237f.

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auch dieser Prozeß in der Darstellung Burckhardts durch seine historische Position in kennzeichnender Weise gefärbt: das Zu-sich-selbst-Finden zielt auf die schöpferische Individualität des Einzelnen bzw. des einzelnen Volkes. Damit ist auch die Wiederentdeckung des Altertums der einen zentralen These unterworfen. Verständlicherweise, denn für das 19. Jahrhundert sind die Idee der Steigerung der Individualität und die Idee des originär schöpferischen Subjektes zwei Seiten derselben Medaille. Und wenn sie beide im Renaissancekonzept der Zeit durchschlagen, dann als Spiegelung der eigenen Ideologie. Der aus Aufklärung, Historismus und Romantik geborene Begriff der Individualität meint ein Programm. In seiner geschichtlich bedingten Komplexität ist er offenkundig kein geeignetes Instrument für eine historische Analyse. Läßt man sich dennoch darauf ein, wird daraus fast zwangsläufig eine Suche nach Persönlichkeiten, die dieses Programm verwirklicht haben. Da sie zu allen Zeiten, selbst in dem angeblich unindividualistischen Mittelalter, zu finden sind, bleibt man in einer quantitativen Argumentation hängen - so schon Burckhardt. Man hat dies längst gesehen, und so ist man dazu übergegangen, den komplexen Begriff sozusagen in seine Elemente zu zerlegen. Auf diese Weise hat man einen breiten Fächer von Kategorien gewonnen, mit denen Aspekte einer sehr weitgespannten Vorstellung von dem, was sich mit Individuum, Individualität, Individualismus zusammensehen ließ, aufzuschließen waren: Selbsterkenntnis und Selbstsuche; der Abstieg ins eigene Ich als Weg zu Gott; die freie Äußerung als Ausdruck persönlicher Erfahrung; die Selbstprüfung vor dem eigenen Gewissen als letzter Instanz; das Interesse für psychologische Vorgänge, die Analyse insbesondere der Formen und Funktionen der Liebe; entsprechende literarische Typen wie Andachtsbuch, Autobiographie, erotische Lyrik u. a. m.; Detailrealismus in der Beschreibung von Mensch und Welt; Analoges in der bildenden Kunst: der leidende Christus, das persönliche Porträt. Diese Stichwortliste, die sich vermehren ließe, entstammt mediävistischen Versuchen, den Spielraum für Individuelles im 11./12. Jahrhundert zu umreißen.14 Und das Ergebnis ist damit zugleich schon mitskizziert. Im Prinzip entspricht es jenem bei der Suche nach den großen Persönlichkeiten: man stellt fest, daß es Individuelles in dieser oder jener Form und in geringerem oder größerem Ausmaß wie zu allen Zeiten so auch im Mittelalter gegeben hat. Weder eine Leitidee aufgrund eines bestimmten historischen Individualitätskonzepts noch ein möglichst umfassendes Raster von Einzelaspekten vermögen also weiterzuführen. So bietet es sich denn einmal mehr an, von der phänomenologischen Deskription zur Funktionsanalyse überzuwechseln. Was das Mittelalter betrifft, sieht man sich dabei mit der Schwierigkeit konfrontiert, daß das Individuelle an sich im 11./12. Jahrhundert trotz der nachweisbaren Fülle individueller Züge nicht als positiver Wert fungieren konnte. Vor dem Hintergrund eines festen Normensystems muß es grundsätzlich als Abweichung vom Allgemeinen erscheinen, und entsprechend wird es als Defizienz begriffen. Deshalb findet das Individuelle im Mittelalter seinen stärksten Ausdruck im Detailrealismus der Satire, in der Beschreibung des Häßlichen, im Bereich der Komik, kurz: in der Darstellung dessen, was aus der Ordnung fällt. Die 14

Siehe insbes. MORRIS 1972 - eine Arbeit, die als Zusammenfassung der vorausgehenden Versuche in dieser Richtung gelten kann; S. 179 die wichtigste ältere Literatur. 335

Ausbildung des Individuellen als Zielvorstellung ist undenkbar, denn das hieße, die Ausbildung des Defizienten, also letztlich des Bösen propagieren. Wenn es trotzdem im 11./12. Jahrhundert zu einem Interesse an diesem IndividuellDefizienten kommt, dann dadurch, daß sich die Kategorien im Hinblick auf das Verhältnis zum Allgemein-Gültigen differenzieren. Das Frühmittelalter sah den Menschen vor der schlichten Entscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen der Civitas Dei und der Civitas diaboli. Das Interesse galt allein der Entscheidung für die eine oder die andere Seite. Mit dem Akt der Conversio reihte man sich in die Gemeinschaft Christi ein, und falls man in einer Gegenwendung aus ihr herausfiel - das charakteristische Motiv ist der verbriefte Teufelspakt -, so ging es erneut um den einen Akt der Umkehr. Alle Bewegung im Rahmen des Heilsgeschehens konzentriert sich auf solche Wendepunkte. Das Individuelle geht völlig im Akt der Conversio auf, d. h., das Individuum kommt allein in der punktuellen Entscheidung zu sich selbst, und dies gerade, indem es dabei das Individuelle zugunsten des Allgemein-Gemeinschaftlichen der Christenheit aufgibt.15 Dieses simple Muster wird in dem Augenblick problematisch, in dem man sich bewußt wird, daß man es nicht nur mit dem radikal Guten und dem radikal Bösen, sondern, und dies vorwiegend, mit Zwischenformen zu tun hat. Jacques Le Goff hat diesen Vorgang in der Entwicklung des Purgatoriums gespiegelt gesehen16: die zunehmende Bedeutung des Fegefeuers resultiert daraus, daß man eine vermittelnde Sphäre zwischen Himmel und Hölle als erforderlich erachtet, über die das Böse sich schrittweise in das Gute verwandeln kann. Dem entspricht im irdischen Bereich der Mensch, der zwischen dem absolut Positiven und dem absolut Negativen steht, der also zugleich gut und böse ist und dem man deshalb auch hier einen Weg zur Verwandlung eröffnen muß. Und das heißt letztlich, daß das Leben seinen Sinn in eben diesem Weg durch das Negative hindurch findet. Oder anders gesagt: es tritt nun im Individuellen als dem Defizienten die wesensmäßige Unvollkommenheit des Menschen im Diesseits in Erscheinung. Der Mensch erfährt seine Individualität vorzüglich über seine Sündhaftigkeit. Die eine Entscheidung wird damit von einer kontinuierlichen Selbstprüfung abgelöst; die Beichte beginnt eine zentrale Rolle zu spielen. Es öffnet sich die subjektive Dimension mit allen Folgen in Hinblick auf die Entdeckung der Innerlichkeit und die ihr entsprechende neue Gottesbeziehung. Wenn der Durchgang durch das Innere dabei zur Erfahrung der Individualität führt, so erscheint diese aber stets als Übergangsform: die Bewegung zielt über sie hinaus, und am Ende steht doch wieder der eine entscheidende Akt, die Erfahrung der Gnade Gottes, die das Individuum über sich selbst hinaushebt. Besonders aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist ein neuer literarischer Typus: der arthurische Roman. Denn seine Thematik erwächst genau aus den prekären Implikationen der skizzierten Sachlage: wie verhalten sich Individualität als Defizienz und Idealität praktisch zueinander? Kann, ja muß der Mensch sich auf die antiideale, defiziente Welt einlassen, um den Status der Vollkommenheit herbeizuführen? Gibt es Idealität nur als utopischen Fluchtpunkt einer immer neuen Bewegung durch das Defiziente hindurch? Und diese Fragen werden um so intrikater, je mehr diese defiziente 15

Vgl. HAUG 1985, S. 167ff. [= Strukturen, S. 67-85, hier S. 70ff.].

"LEGOFF

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1981.

Welt vom Helden des Romans auch als die eigene, innere begriffen wird. Der Held des arthurischen Romans besitzt also nicht eine Individualität, die er zu entwickeln hätte, sondern er ist nur eine Figur, mit der das Problem der Individualität als Weg der Defizienz durchgespielt wird. Insofern der ideale Status immer wieder aus dem Durchgang durch eine Gegenwelt hergestellt werden muß, gewinnt dieser Durchgang etwas prekär Positives, bis hin zum Gedanken der felix culpa, der im >Parzival< zumindest aufscheint.17 Aber wohlgemerkt: es ist nicht eine konkrete Individualität des Helden, die als Positivum erschiene, sondern in gewisser Weise positiv ist der Prozeß der Defizienzerfahrung, indem er sich als notwendiger Weg von seinem Telos her legitimiert. Das aber ist im Grunde doch nichts anderes als eine romanhafte Umsetzung und Zuspitzung jenes Problems, das sich aus der Entdeckung des gemischten Menschentyps, des Menschen zwischen Gut und Böse, ergeben hat. Individualitätserfahrung bleibt also im 11./12. Jahrhundert grundsätzlich Defizienzerfahrung, wenn diese auch, indem sie als Standortbestimmung des Menschen in dieser Welt verstanden und damit über sich selbst hinausgeführt wird, eine gewisse positive Note erhält. Diese Hinweise zur Individualitätserfahrung im Mittelalter sollten, so knapp sie sein mußten, jenem hypertrophen Individualitätskonzept, das hinter Burckhardts Renaissanceverständnis stand, eine Position gegenüberstellen, in der Individuelles radikal zurückgenommen erscheint, sei es, daß es gar nicht zur Ausfaltung gelangt, oder sei es, daß es, wenn es doch dazu kommt, in ein weitgehend negatives Licht tritt. Zwar wird der Mensch in christlicher Sicht in einem höchsten Maße als Individuum ernst genommen, denn er erfährt sich dadurch, daß Gott ihn anspricht, als Person; aber gerade dies verhindert es zugleich, daß die Entwicklung der Individualität als positiver Wert erscheinen kann. Mit diesem Gegenüber von zwei historisch extrem differierenden Einstellungen zu Individuum und Individualität ist jener Forderung Huizingas Genüge getan, die dahin geht, die Renaissance als Epoche zunächst aus dem Spiel zu lassen und stattdessen die Aspekte, die die Kriterien für die Epochenbestimmungen liefern, einzeln zu verfolgen, und zwar von ihren äußersten Möglichkeiten aus. Wenn man im Blick darauf einen frühen, eventuell mittelalterlichen und einen späten, modernen Ansatz fassen kann, so wird man sein Interesse dann dem Vermittlungsprozeß zuwenden, und das Ergebnis müßte schließlich die Geschichte des Einzelaspektes sein. Was den zur Debatte stehenden Begriffskomplex Individuum/Individualität betrifft, so ist dies hier nicht zu leisten. Ich biete stattdessen drei Probestücke aus dem Zeitraum des 14./15. Jahrhunderts, in der Hoffnung, daß sie entscheidende Übergänge sichtbar machen. Auch im besten Fall aber sind diese Analysen von vorläufiger Art und können somit nur als Wegmarken für eine umfassendere Studie dienen.18

"Vgl. HAUG 1985/1992, S. 93ff. 18 Wichtige Anregungen, vor allem zum Abschnitt über Petrarca, verdanke ich einem zusammen mit Wilfried Barner im WS 1984/85 in Tübingen durchgeführten Seminar über 'Literarisches Traditionsverhalten im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit'. 337

I. Francesco Petrarca: Individuum und Imitatio So unumstritten es ist, daß Petrarca als der Initiator der humanistischen Studien in Italien zu gelten hat, so umstritten ist alles übrige: welche Bedeutung neben der Antike die mittelalterliche Tradition für ihn hatte, konkret: wie Cicero und Augustinus für ihn nebeneinander oder gegeneinander standen, inwieweit sich das Verhältnis im Laufe seines Lebens wandelte, was es mit der sog. Lebenskrise und der späteren Rückkehr zu einer wieder eher humanistischen Position auf sich hat, usw.19 All dies kann hier zugunsten einer Leitfrage ausgeklammert bleiben: Wie versteht Petrarca sich in seinem Umgang mit der antiken Literatur? Die übliche Antwort faßt ihn unter dem Begriff der Imitatio. Die grundlegende Studie stammt von Hermann Gmelin.20 Petrarca hat sein Verhältnis zu seinen literarischen Vorbildern selbst unter der Idee der Imitatio theoretisch reflektiert. Die Basis bildet das 10. Buch von Quintilians >Institutio oratoriaEpistulae de rebus familiaribus< (>Fam.< 1,8; 22,2; 23,19). In >Fam.< 22,2 an Boccaccio spricht Petrarca davon, wie er sich die antike Latinität angeeignet hat: ,Ich habe im Vergil, im Horaz, im Boethius und im Cicero gelesen, nicht einmal, sondern tausendmal; nicht in Eile, sondern ich habe mich in sie hineinversenkt und bin mit der ganzen Kraft meines ganzen Geistes bei ihnen verweilt . . . So sind sie mir dermaßen vertraut geworden, nicht nur im Gedächtnis, sondern bis ins innerste Mark hinein, und sind so sehr eins geworden mit meinem Geist, daß sie, auch wenn ich sie mein ganzes Leben nicht mehr lesen würde, gewissermaßen in mir festhängen, da sie im Innern meiner Seele Wurzeln geschlagen haben. Oft vergesse ich sogar den Autor'.23 Und was er in dieser Weise in sich aufgenommen habe, das erscheine 19

Vgl. BARON 1976, HEITMANN 1976, A. BÜCK 1976 [b].

20

GMELIN 1932, S. 98ff.

21

Ebd., S. 118ff. Ebd., S. 121ff. 23 V. Rossi/Bosco 1933-1942 IV, 22,2, S. 104ff.: Legi apud Virgilium apud Flaccum apud Severinum apud Tullium; nee semel legi sed milies, nee cueurri sed ineubui, et totis ingenii nisibus immoratus sum;. . . Haec se mihi tarn familiariter ingessere et non modo memoriae sed mudullis 22

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ihm dann ,nicht nur als etwas Eigenes', sondern es biete sich ihm ,erstaunlicherweise wie etwas Neues dar'.24 Es gehe ihm, so versichert er, nicht darum, seine Vorbilder zu plündern, er versuche vielmehr Übernahmen zu vermeiden, und wenn sie sich dennoch fänden, so beruhe dies entweder auf einer Ähnlichkeit des Geistes oder auf Vergeßlichkeit. Dabei bemühe er sich um einen eigenen Stil; und er bekennt sich zu diesem, auch wenn er sich ungepflegt und roh gebe. Das sei besser, als sich mit fremden Federn zu schmücken! ,Denn jeder hat doch seiner Natur nach etwas ihm Eigenes, im Gesichtsausdruck und in der Gebärde, in Stimme und Rede. Dies zu pflegen und zu bilden ist besser und fruchtbarer als etwas Fremdes zu übernehmen'.25 Dann veranschaulicht er sein Verhältnis zu den antiken Autoren durch ein Bild. Er sagt, er habe nicht wie Horaz, Lukrez oder Vergil seinen Fuß in unbetretenes Gelände gesetzt, er sei vielmehr dem Pfad seiner Vorgänger gefolgt, ohne freilich immer in ihre Fußspuren zu treten. Es gehe ihm also um Ähnlichkeit, nicht um Identität. Er wolle keinen Führer, der ihn binde, sondern einen, der ihm vorangehe; er wolle nicht daran gehindert werden, nach eigenem Gutdünken den Fuß zu setzen, gelegentlich auch den Führer zu überholen und Unerreichtes zu versuchen.26 affixa sunt unumque cum ingenio facta sunt meo, ut etsi per omnem vitam amplius non legantur, ipsa quidem haereant, actis in intima animi parte radicibus, sed interdum obliviscar auctorem. Ebd., S. 106: quae siquando forsan ex more recursantia in memoriam redeunt, accidit ut nonnumquam occupato et in unum aliquid vehementer intento animo non tantum ut proprio sed, quod miraberis, ut nova se offerant. Ebd., S. 106f.: nostrum enim testor Apollinem, unicum aetherei Iovis natum, et verum sapientiae Deum, Cristum, me nee ulliuspraedae avidum et ut patrimonii sie ingenii alieni spoliis abstinere. Siquid aliter inventum erit ac dico, vel in his quos non legi, similitudo facit ingeniorum, . . . vel in aliis error aut oblivio, . . . Vitam mihi alienis dictis ac monitis ornare, fateor, est animus, non stilum; nisi velprolato auetore vel mutatione insigni, ut imitatione apium e multis et variis unum fiat. Alioquin multo malim meus mihi stilus sit, incultus licet atque horridus, sed in morem togae habilis, ad mensuram ingenii mei factus, quam alienus, eultior ambitioso ornatu sed a maiore ingenio profectus atque undique defluens animi humilis non conveniens staturae. Omnis vestis histrionem decet, sed non omnis scribentem stilus; suus cuique formandus servandusque est, ne vel difformiter alienis induti vel coneursu plumas suas repetentium volucrum spoliati, cum cornicula rideamur. Et est sane cuique naturaliter, ut in vultu et gestu, sie in voce et sermone quiddam suum ac proprium, quod colere et castigare quam mutare cum facilius tum melius atque felicius sit. - Ein solches Bekenntnis zum individuellen Stil findet sich übrigens erstaunlicherweise schon in Ciceros >De oratoreFam.< 23,9: Die Ähnlichkeit solle so sein wie zwischen Vater und Sohn. Bei aller Verschiedenheit finde sich beim Sohn, insbesondere im Gesichtsausdruck oder um die Augen, etwas, was schattenhaft an den Vater erinnere. Um eine solche Art der Verwandtschaft zu erreichen, müsse man sich das fremde Ingenium zu eigen machen, nicht aber seine Äußerungen. Und dann wird hier wie auch anderswo, insbesondere >FamConfessiones< Augustins hervor, öffnet das Büchlein und stößt dabei auf die Worte: ,Und es gehen die Menschen und bestaunen die Gipfel der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans, die Kreisbahnen der Gestirne und vergessen sich dabei selbst'.50 Dies trifft ihn zutiefst. Zornig darüber, daß er Irdisches bestaunte, während er selbst bei den heidnischen Philosophen hätte lernen können, daß nichts wunderbar ist außer dem Geist, macht er sich schweigend und nach innen gewendet an den Abstieg. Er erinnert sich daran, daß auch Augustinus ein zufällig aufgeschlagenes Bibelwort zur Umkehr bewogen hat und daß es schon Antonius so ergangen ist. Der Berg erscheint ihm nun beim Zurückblicken kaum mehr eine Elle hoch im Vergleich zur Höhe, die der Mensch in der Kontemplation erreichen kann: Wenn man schon soviel Mühe auf sich nimmt, leiblich dem Himmel näher zu kommen, wie sollte man dann davor zurückschrecken, den hohen Berggipfel der Überheblichkeit zu überwinden?51 Erst tief in der Nacht erreichen die Wanderer wieder ihre Herberge. Er habe sich dann, sagt Petrarca, sogleich zurückgezogen, um die Erfahrungen des Tages niederzuschreiben, damit nichts von ihnen verlorenginge.52 49

Ebd., S. 157: Primum omnium spiritu quodam aeris insolito et spectaculo liberiore permotus, stupenti similis steti. Respicio: nubes erant sub pedibus; iamque michi minus incredibiles facti sunt Athos et Olimpus, dum quod de Ulis audieram et legeram, in minoris fame monte conspicio. Dirigo dehinc oculorum radios ad partes italicas quo magis inclinat animus . . . Occupavit inde animum nova cogitatio atque a locis traduxit ad tempora. Dicebam enim ad me ipsum: 'Hodie decimus annus completur, ex quo, puerilibus studiis dimissis, Bononia excessisti; et, o Deus immortalis, o immutabilis Sapientia, quot et quantas morum tuorum mutationes hoc medium lempus vidit! Infinita pretereo; nondum enim in portu sum, ut securus preteritarum meminerim procellarum. Tempus forsan veniet, quando eodem quo gesta sunt ordine universa percurram, prefatus illud Augustini tui: ,,Recordari volo transactas feditates meas et carnales corruptiones anime mee, non quod eas amem, sed ut amem te, Deus meus". 50 Ebd., S. 158f.: Que dum mirarer singula et nunc terrenum aliquid saperem, nunc exemplo corporis animum ad altiora subveherem, visum est michi Confessionum Augustini librum, caritatis tue munus, inspicere; quem et conditoris et donatoris in memoriam servo habeoque semper in manibus: pugillare opusculum, perexigui voluminis sed infinite dulcedinis. Aperio, lecturus quicquid occurreret; quid enim nisi pium et devotum posset occurrere? Forte autem decimus illius operis über oblatus est. Frater expetans per os meum ab Augustino aliquid audire, intentis auribus stabet. Deum testor ipsumque qui aderat, quod ubi primum defixi oculos, scriptum erat: ,,Et eunt homines admirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et occeani ambitum et giros siderum, et relinquunt se ipsos". 51 Ebd., S. 160: si tantum sudoris ac laboris, ut corpus celo paululum proximius fieret, subire non piguit, que crux, quis carcer, quis equuleus deberet terrere animum appropinquantem Deo, turgidumque cacumen insolentie et mortalia fata calcantem? 52 Ebd., S. 160: Hos inter undosi pectoris motus, sine sensu scrupulosi tramitis, ad illud hospitiolum rusticum unde ante lucem moveram, profunda nocte remeavi, et luna pentox gratum obsequium

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Es ist nicht nur recht unwahrscheinlich, daß Petrarca nach den Strapazen dieser Bergtour noch in der' Lage gewesen sein könnte, seinen kunstvoll komponierten Bericht zu schreiben, es läßt sich vielmehr mit großer Sicherheit sagen, daß der fragliche Brief erst Jahre später entstanden ist.53 Zumindest der Schluß ist also Fiktion, und es fragt sich, was im übrigen auf faktischer Wahrheit beruhen mag. Was bietet der Bericht an konkret-anschaulicher Erfahrung? Von der besonderen Physiognomie des Mont Ventoux erfährt man nichts, und der Blick vom Gipfel erschöpft sich in einer Aufreihung geographischer Namen: Alpen, Italien, Pyrenäen usw. All dies ist so unspezifisch, daß man daran zweifeln kann und auch gezweifelt hat, ob Petrarca tatsächlich auf dem Berg gewesen ist oder ob er nicht vielmehr das ganze Unternehmen in Nachahmung der Bergbesteigung König Philipps um der damit verbundenen Betrachtung willen fingiert hat.54 Der Hirte zu Beginn könnte als der typische Warner und Wegweiser im Auftakt unerhörter Abenteuer eine literarische Figur sein. Der beschwerliche Aufstieg dient dazu, das biblische Bild vom steilen Weg zur Höhe gegenüber dem bequemen Weg durch die Tiefen anzubringen. Daß der Bruder als positives Gegenbeispiel vorgestellt wird, ist schwerlich anders als im Zusammenhang mit dessen Eintritt in das Kartäuserkloster von Montrieux zu verstehen; das geschah freilich erst 1343 - eines der Hauptargumente für die spätere Abfassung des Briefes.55 Die Überlegungen zum Aufstieg der Seele arbeiten mit traditioneller Metaphorik und literarischen Anspielungen und Zitaten. Auf dem Gipfel blickt Petrarca zunächst nach Osten, nach Italien, dem Land seiner Jugend, d. h., es erfolgt der Wechsel vom Raum in die Zeit, wobei dahinter der Rechenschaftsbericht der Augustinischen Biographie steht, aus dem wörtlich zitiert wird. Der Blick in den Westen führt dann zur Wendung nach innen, und wieder ist es ein Augustinus-Wort, das als Muster dient, ein Wort aus den >ConfessionesPro Archia poetaDe berylkx:,Beachte, daß Hermes Trismegistos sagt, der Mensch sei ein zweiter Gott; denn so wie Gott der Schöpfer der faktisch seienden Dinge und der natürlichen Formen ist, so ist der Mensch der Schöpfer des Rational-Seienden und der artifiziellen Formen; diese aber sind nichts anderes als annähernde Darstellungen {similitudines) seines Denkens, so wie die Geschöpfe Gottes similitudines des göttlichen Denkens sind. Es hat der Mensch also ein Denken, das im Schöpferischen dem göttlichen Denken abbildhaft ähnlich ist. Es schafft folglich similitudines der similitudines des göttlichen Geistes, so wie die äußeren artifiziellen Gestaltungen similitudines der inneren natürlichen Formen sind.'68 Entwickelt wird dieses Konzept aus der traditionellen Imago Dei-Vorstellung heraus, wobei hier jedoch, wie gesagt, erstmals auch das Moment des Kreativen in menschlicher Spiegelung gesehen wird: der Mensch hat als Imago Dei auch an Gottes Schöpfertum teil, ja, es ist insbesondere das Kreative des menschlichen Geistes, das die Ähnlichkeit mit dem göttlichen Geist ausmacht. Daher ist der menschliche Geist die Form der von ihm entworfenen Welt, so wie der göttliche Geist die Form der realen Welt ist. Aus der Ähnlichkeit der kreativen Akte des göttlichen und des menschlichen Geistes ergibt sich auch die Ähnlichkeit zwischen den im Geiste entworfenen Gebilden und den faktisch-seienden Dingen.69 Das begründet eine neue Wahrheits- und Erkenntnistheorie: der Mensch erkennt die Dinge so, wie sie sich in seinem Geiste darstellen. Damit wird mit dem klassisch-scholastischen Wahrheitsbegriff und der entsprechenden Sprachtheorie programmatisch gebrochen. Wenn bei Thomas von Aquin die Wahrheit als Angleichung des Denkens an die Strukturen des Seienden verstanden wird, so mißt nun bei Cusanus das Denken das Seiende an seine Strukturen an und erzeugt damit im Prozeß der Darstellung und Erfassung die Wahrheit des Seienden. Es gibt nicht mehr den direkten Bezug zwischen dem Denken, der Sprache als Zeichensystem und einer erkennbaren Welt, wobei alle Abweichung, also das Unwahre, nur akzidentell ist, sondern Denken und Sprache bilden nun ein eigenständiges Regelsystem, in dem die Welt im Geist seiner Form gemäß umgesetzt wird. Daß über diesen Akt trotzdem die Wirklichkeit erkannt Zur geistesgeschichtlichen Bedeutung dieses Aspekts des Kreativen: OTTO 1984, S. 38ff. Ich zitiere nach GABRIEL 1982 III , S. 8: Quarto adverte Hermetem Trismegistum dicere hominem esse secundum Deum. Nam sicut Deus est creator entium realium et naturalium formarum, ita homo rationalium entium et formarum artificialium; quae non sunt nisi sui intellectus similitudines, sicut creaturae Dei divini intellectus similitudines. Ideo homo habet intellectum, qui est similitudo divini intellectus in creando. Hinc creat similitudines similitudinum divini intellectus, sicut sunt extrinsecae artificiales figurae similitudines intrinsecae naturalis formae. GABRIEL 1982 II, S. 6: Coniecturas a mente nostra uti realis mundus a divina infinita ratione prodire oportet. Dum enim humana mens, alta Dei similitudo, fecunditatem creatricis naturae, ut potest, participat, ex se ipsa ut imagine omnipotentis formae in realium entium similitudine rationalia exserit. Coniecturalis itaque mundi humana mens forma existit, uti realis divina. Quapropter, ut absoluta illa divina entitas est omne id, quod est in quolibet, quod est, ita et mentis humanae unitas est coniecturarum suarum entitas.

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werden kann, beruht auf der similitudo zwischen dem göttlichen Schöpfungsakt und dem schöpferischen menschlichen Denken. 7 0 N u n kann jedoch das menschliche Denken als System sui generis die Gegenstände in die verschiedensten, d. h. theoretisch in unendlich viele Relationen bringen, so daß die Wahrheitsfindung zu einem offenen Prozeß wird. Der menschliche Geist bewegt sich in einer infinitas finita, d. h. in einem Verweisungszusammenhang mit einer Unendlichkeit von endlichen Relationsmöglichkeiten. 7 ' Dadurch wird unser Wissen zu etwas 'Konjekturalem', zu bloßer Mutmaßung, und diese Mutmaßungen sind bei jedem Denkenden anders, so daß niemand den Sinn dessen, was ein anderer denkt, auch wenn er ihm noch so nahe steht, jemals vollkommen erfassen kann. Es gibt im Bezug auf die absolute Wahrheit graduelle und d. h. individuelle Stufen des Wahren. Durch diese Loslösung des sprachlich-denkerischen Bereiches aus der unmittelbaren Adaequatio kommt es also auch beim Cusaner zur Entdeckung der Individualität. Immer noch freilich erscheint sie in gewisser Weise als defizienter Modus: die Wahrheit ist insofern individuell, als sie immer nur auf dem Weg zur vollkommenen Wahrheit ist.72 Parallel zur Disjunktion zwischen Sprache/Denken und Welt besteht auch eine Disjunktion zwischen Sprache/Denken und Gott. Und wie dort eine indirekte Beziehung über die similitudo zwischen den Sein-setzenden und den Wahrheit-erzeugenden Akten gegeben ist, so hier eine Beziehung über die similitudo zwischen dem MenschlichSchöpferischen und dem Göttlich-Schöpferischen. Doch die Reflexion auf diese Ähnlichkeit enthüllt zugleich ihre Unähnlichkeit: der Mensch kann Gott nicht direkt, sondern immer n u r über das Bewußtsein des Ganz-Anderen in der Ähnlichkeit fassen. Das ist das Paradox der >Docta ignorantiaDe ludo globi< demonstrieren. Cusanus entwickelt hier an Hand eines Kugelspiels seine Vorstellung von der unendlichen Zahl möglicher Wege in Richtung auf ein einziges Ziel: es ging bei diesem Spiel darum, Kugeln, die einseitig ausgehöhlt waren und die deshalb beim Rollen auf dem Boden Spiralen beschrieben, auf einen bestimmten Zielpunkt hinzubewegen. Es ergibt sich: keine Kurve verläuft gleich wie die andere, und jede hat ihr eigenes Recht. Dies wird zum Bild für die unendliche Zahl möglicher Lebenswege zum selben Ziel. Im Gegensatz dazu hätte sich das Mittelalter an einer idealen geraden Linie zum Zielpunkt orientiert, dergegenüber alle Abweichungen als Defizienzen zu verstehen wären. Wenn bei Cusanus das (Lebens-)Spiel unendliche Variationen zuläßt, so gilt freilich zugleich, daß jeder einzelne Weg sich in der Reflexion auf sich selbst in seinem prinzipiellen Ungenügen erkennen muß. Vgl. dazu HAUG 1986 [c] [in diesem Band, S. 362-372]. 73 GABRIEL 1982 I, S. 191 ff.; siehe auch >De non-aliudMelusine< als sog. Volksbuch dann weiteste Verbreitung gefunden. Bei Thüring liest sich die Erzählung folgendermaßen86: Raymond ist der jüngste Sohn eines verarmten Grafen, der mit seinen vielen Kindern darbend im Wald lebt. Ein reicher Verwandter, der Graf von Potiers, nimmt diesen Jüngsten zu sich, zieht ihn auf, und Raymond wird sein treuester Gefolgsmann. Einmal verlieren sie bei der Verfolgung eines Wildschweins ihre Jagdgesellschaft, sie verirren sich im Wald, kommen in die Nacht. Plötzlich bricht ein Eber aus dem Gebüsch. Er wirft den Grafen zu Boden. Raymond will ihn retten, trifft aber mit dem Spieß versehentlich seinen Herrn. Verzweifelt und wie von Sinnen läßt er sich von seinem Pferd führen. Da begegnet er einer wunderschönen Frau: Melusine. Sie weiß,

Vgl. HOFFRICHTER 1928, S. 65f. Ebd., S. 4ff.; vgl. ROLOFF 1969, S. 160f.

Ebd., S. 160. K. SCHNEIDER 1958.

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was ihm geschehen ist, und verspricht, ihm zu helfen. Er solle den Unfall verschweigen, sich mit ihr vermählen; sie wolle ihm Gut und Geld, Ehre und Glück bringen; nur dürfe er niemals nachforschen, was sie am Samstag tue. Raymond geht darauf ein; sie richtet eine prächtige Hochzeit aus, baut dann Schlösser und Kirchen und bringt in den folgenden Jahren neun Söhne zur Welt. Sie sind aber alle mit irgendeinem körperlichen Makel behaftet. Einer hat nur ein Auge mitten auf der Stirn, ein anderer dagegen drei, wieder einer hat einen mächtigen Eberzahn, ein weiterer einen Haarfleck auf der Nase, usf. Breit wird der Geschichte dieser Söhne nachgegangen. Uryens kämpft in Zypern gegen die Heiden und wird König über die Insel, Gyot gewinnt die Herrschaft in Armenien, Anthoni heiratet die Fürstin von Lützelburg, Reinhart wird König von Böhmen. Eine besondere Rolle aber spielt der wilde, starke Geffroy mit dem Eberzahn: Einer der Brüder, Froymond, hat sich entschieden, in dem von Melusine gestifteten Kloster Mallieres Mönch zu werden. Als Geffroy davon erfährt, bekommt er einen Wutanfall und verbrennt es mit allen seinen Insassen zu Asche. Daraufhin wird Raymond von wildem Zorn gepackt, er macht seiner Frau Vorwürfe, daß sie ihm einen so unmenschlichen Sohn geboren habe, und er beschimpft sie öffentlich als Schlange, denn er hat sie doch einmal am Samstag heimlich beim Baden beobachtet und dabei gesehen, daß ihr Leib vom Nabel an abwärts in einen silbxig-blauen Schlangenschwanz ausläuft. Sie hat ihm den Tabubruch nachgesehen, aber die öffentliche Beschimpfung ist nicht wiedergutzumachen: Melusine fährt durch die Lüfte davon und muß als Gespenst umgehen bis zum Jüngsten Tag. Die Geschicke der Söhne werden im folgenden noch weitererzählt, insbesondere werden die Abenteuertaten Geffroys breit geschildert, der übrigens reumütig das Kloster Mallieres wieder aufbaut und schließlich die Verzeihung des Vaters erlangt. Die Verschmelzung von Feenmärchen und Familiengeschichte mag zunächst vor allem dem Zweck gedient haben, die Herrschaft des Geschlechts der Lusignan-Parthenay pseudomythisch zu verankern und zu begründen. Es gibt eine Reihe analoger Abstammungssagen (Typus >MerovechDas MeerwunderCanzoniere< ziehen. Aber während diese Linie zu einer Ästhetik des fiktionalen Scheins führt, der sich selbst als intertextuelles Spiel darstellt,94 zeichnet sich eine zweite ab, die zur Diskussion um jene Instanz, die das Spiel trägt, hinlenkt: hier ist der Punkt, an dem sich eine historische Dimension öffnen kann. Sie bleibt bei Petrarca zunächst noch sozusagen punktuell, indem sie in der biographisch-situativen Fixierung aufgeht. In dem Maße jedoch, in dem die intertextuelle Kombinatorik historisch geortet wird, wird sie subjektbezogen, das Spiel wird kreativ, und d. h. letztlich, daß es sich selbst sprengt. Den Übergang bildet die narrative Montage. Sie zielt nicht wie die intertextuelle Selbstreflexion auf ein Bewußtsein des Fiktionalen, sie öffnet vielmehr einen literarhistorischen Horizont, indem sie im Rückgriff auf Traditionelles die Erfahrung dieses Traditionellen zum biographischen Thema macht - der Mont Ventoux-Brief. Schließlich - in der >Melusine< - wird die Montage zur Form, in der das Alte das Neue bedeuten kann. Festzuhalten ist also, daß der Weg zu einer positiven Individualität über die Entwicklung eines intertextuellen Literaturbewußtseins führt: es etabliert sich eine poetische Zwischensphäre als Spielraum mit einer gewissen Öffnung in eine literaturgeschichtliche Dimension. Ermöglicht wird dieser epochale Schritt dadurch, daß man seit Petrarca die traditionelle Imitatio naturae in die Imitatio antiquitatis verwandelt oder jene, allen inneren Widersprüchlichkeiten zum Trotz, mit dieser gleichsetzt. Die Ablösung des Prinzips der Imitatio naturae durch die Idee des schöpferischen Individuums vollzieht sich historisch nur scheinbar als direkte Auseinandersetzung, in Wirklichkeit kommt es zunächst zu einer gespannten Balance zwischen Nachahmung und kreativer Variation.95 Der Cusaner formuliert sie philosophisch als relative Kreativität im Eigenraum des Geistes, wobei er das Individuelle in entsprechender Relationierung als defizient und doch positiv ansetzt. Literarisch tritt das Positiv-Individuelle auf der subjektiven Seite als Organisationspunkt der intertextuellen Kombinatorik in Erscheinung und drängt von da aus zur biographisch-faktischen Verankerung des Umgangs mit der neuen sprachlich-literarischen Zwischensphäre. Objektiv wird das Individuelle dann, noch bevor es sich als solches - etwa in einer sich entwickelnden Figur - entfalten kann, Thema und Problem, wobei gerade die kombinatorische Technik genützt wird, um die Möglichkeit zum Individuellen als dem Neuen in ihrer ganzen Zwiespältigkeit aufzudecken. Während der traditionelle höfische Roman einem vorgegebenen Strukturentwurf verpflichtet ist, der das Individuelle als Negatives über einen Weg positiv-funktional bindet, gibt der neue Roman des 15. Jahrhunderts das sinnver-

Ebd., S. 312f. Es ist also Hans Blumenbergs 'klassische' Studie: >Nachahmung der Natur< entsprechend zu korrigieren oder zu ergänzen: BLUMENBERG 1957. 360

mittelnde Handlungsmuster auf, um das Geschehen dem Zufall auszuliefern, der zugleich gut und böse ist. Die Preisgabe der Struktur setzt das Individuelle frei, um es jedoch auf neue Weise zu binden, denn diese Preisgabe wird nur dadurch möglich, daß an ihre Stelle der Spielraum des Literarischen als einer Wirklichkeit von eigener Art und intermediärer Funktion getreten ist. Es kommt zu einem fruchtbaren Experimentieren zwischen einem sprachlich-literarischen Horizont, der das Individuelle in der Variation aufgehen läßt, und einem Subjekt, das in dem Maße, in dem es sich der historischen Dimension dieses Horizontes bewußt wird, die Variation ortet und sie auf seine eigene Historizität bezieht. Dieses Experimentieren erreicht mit der Idee des Innovativ-Individuellen seine Grenze: wenn diese Idee sich durchsetzt, tritt an die Stelle des Umgangs mit der literarischen Tradition die schöpferische Subjektivität; sie verschlingt den objektiven Horizont, um die 'Welt' aus sich heraus neu zu gebären. Die unmittelbaren Folgen sind ebenso bekannt, wie der moderne Umschlag in die Gegenrichtung: die neue Entsubjektivierung und Entindividualisierung zugunsten objektiver Regularitäten und Strukturen unterschiedlicher Art und auf unterschiedlichen Ebenen. Die Situation am Ende der Entwicklung korrespondiert in aufschlußreicher Weise - man könnte sagen: mit umgedrehten Vorzeichen - dem Gegenbild in ihrer Anfangsphase, was dieser gerade heute ein besonderes Interesse sichern sollte.

361

Das Kugelspiel des Nicolaus Cusanus und die Poetik der Renaissance

Der Lehrdialog über das Kugelspiel >De ludo globiParmenides< 137 B - ein Werk übrigens, das Cusanus sich von seinem Freund Georg von Trapezunt hat übersetzen lassen. Vgl. auch HUIZINGA 1956, S. 142ff. Man stellt mit einiger Überraschung fest, daß Johan Huizinga bei seinen geschichtlichen Ausblicken zum Spiel Cusanus unberücksichtigt läßt. 7 Karl-Heinz Volkmann-Schluck bemerkt zu Recht, daß das, was vorher nur für die ars Geltung j\y\

Dieses spielerische Tun des Menschen erhält nun dadurch seine höchste Würde, daß es in Analogie zur schöpferischen Tätigkeit Gottes gesehen wird. Zum ersten Mal wagt man es nun, auch den Menschen als creator zu bezeichnen - eine Bestimmung, die bisher allein Gott zukam, während der Mensch nur als factor begriffen wurde, als Hersteller von Gegenständen, als Handwerker.8 Ja, Cusanus kann, indem er ein Wort des Hermes Trismegistos aufgreift, geradezu sagen: ,Der Mensch ist ein zweiter Gott', also nicht nur ein Mikrokosmos, sondern eigentlich ein Mikrotheos.9 Dieses bis zum Schöpferischen weitergetriebene Homo-imago-Dei-Konzept ist folgendermaßen zu verstehen: der Mensch verhält sich zu der Ordnung der Dinge in seinem Geist, wie Gott sich zu seiner Schöpfung verhält. Hier wie dort ist die Welt - bei Gott die faktische, beim Menschen die geistige - das Ergebnis eines kreativen Aktes. Damit ist zugleich die Differenz genannt, die dem Begriff gemäß in der Analogie steckt: Gottes Schöpfungsakt schafft eine geistige Welt, in der die Dinge sich in einer Gegenstandsordnung darstellen, durch die sie erst als solche erkennbar werden. Der menschliche intellectus ist die similitudo des göttlichen intellectus}0 Die schöpferischen Akte Gottes und des Menschen sind also in ihrer Kreativität ähnlich zu nennen, und doch sind sie vom Menschen her gesehen radikal verschieden. Das ist wiederum das paradoxe UrbildAbbild-Verhältnis. Zum schöpferischen Spiel des Menschen gehört auch die ihm eigentümliche Verbindung von Notwendigkeit und Freiheit, und dies in doppelter Hinsicht: einmal die Notwendigkeit und Freiheit, Regeln erfinden zu müssen und zu dürfen, und zum andern die Notwendigkeit und Freiheit, die Bewegung innerhalb dieses Regelgefüges zu variieren. Die Bahn der Kugel im Ludus globi ist unendlich variabel. Jede Bewegung ist immer nur Annäherung an das absolute Ziel. In der Freiheit des kreativen Spiels gründet damit zugleich seine Unvollkommenheit. Auf das Leben übertragen heißt dies: die peregrinatio des Menschen zu seinem Ziel in der Ewigkeit ist ebensowenig mit Sicherheit und Genauigkeit zu planen wie die Bahn der Kugel beim Ludus globi.11 Es gibt Unkalkulierbares, es gibt Widerstände, die ablenken. Der menschliche Geist stößt mit seinem Planen auf die Fortuna, auf die blinde Gewalt der Natur. Aber dieser Widerstand berührt den kreativen Akt selbst hatte, nun auch für das Denken gilt: „Die ars, die Versichtbarmachung des Seins durch Selbstdarstellung der mens, übernimmt die Führung über das Weltverhalten des Menschen" (VOLKMANN-SCHLUCK 1957, S. 147f.). 8

Dies jedenfalls im Lateinischen, während das gr. jtoir|Tf|c, nicht differenziert; vgl. TIGERSTEDT 1968, S. 468f. Zur mittelalterlichen Position (Augustinus, Thomas) siehe CRAMER 1986. 9 adverte Hermetem Trismegistum dicere hominem esse secundum Deum (III, S. 8). Vgl. WATTS 1982, S. 206; LEVAO 1985, S. 67ff. 10

Stent Deus est creator entium realium et naturalium formarum, ita homo rationalium entium et formarum artificialium; quae non sunt nisi sui intellectus similitudines, sicut creaturae Dei divini intellectus similitudines. Ideo homo habet intellectum, qui est similitudo divini intellectus in creando (III, S. 8); vgl. OTTO 1984, S. 38f.

1

' Et licet sit impossibile dum globus movetur praescire, in quo puncto quiescat, neque propterea semper in circulo quiescit, quia circulum aliquotiens subintrat, non minus tarnen ex consuetudine et continuata practica praevideri poterit coniectura verisimili in circulo globum quietem accepturum. - Difficilius tarnen in quo ordine per circulos distincto et penitus impossibile, in quo puncto. Terreno igitur homini et eius peregrinationi globus Habens ponderosum corpus et in latus terrenum inclinatum et eius motus, quia per hominis fit impulsum, aliqualiter similatur (III, S. 280).

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nicht; der moralische Wille wird von der Fortuna nicht tangiert, die geistige Ordnung ist ihr nicht unterworfen: hier ist der Mensch frei, er kann sein Spiel im Rahmen seiner Möglichkeiten ungehindert setzen (III, S. 278/280).12 Aus dieser Einsicht fließt eine Positivität, die einen in ihrer Daseinsbejahung in Erstaunen setzen mag. Der menschliche Geist bleibt Herr über die Wirklichkeit. Die Ordnung der Dinge ist das Ergebnis eines kreativen Denkens, die Kultur ist ein frei gesetztes Spiel, über das die Welt erst ihre sinnvolle Gestalt erhält. Und da dieses Spiel des Geistes in Analogie zur Kreativität Gottes steht, kann es nichts anderes sein als Gotteslob: Leben heißt ein Lobgesang Gottes sein. So äußert sich Cusanus in einem anderen Spätwerk, das gewissermaßen die Summe seines Philosophierens zieht, in >De venatione sapientiae< (I, S. 82/84). Es ist nicht unverständlich, daß man in diesen Überlegungen zur Konstitution der intelligiblen Welt aufgrund der dem Geiste eigenen Kategorien eine Vorwegnahme späteren transzendental-philosophischen Denkens gesehen und die Linie bis zu Kant weitergezogen hat.13 Aber man sollte hier nicht voreilig sein, denn das Transzendentale bleibt ein Aspekt, der eingebunden ist in eine Philosophie ganz anderer Art. Der kritische Punkt des gesamten Konzepts ist zweifellos des Cusaners Lehre von der similitudo, von der Ähnlichkeit zwischen dem Endlichen und dem Ewigen, vom Menschen als imago Dei und von der Welt als Abbild Gottes. Was heißt das, wenn Cusanus sagt, ,die sichtbaren Dinge seien in Wahrheit Bilder der unsichtbaren'?14 Man ist versucht, solche Äußerungen traditionell aufzufassen. Und zweifellos stehen dahinter die Tradition der platonischen Methexis und die mittelalterlich-theologische Idee der Analogia entis. Cusanus nimmt explizit auf die platonische Abbildtheorie Bezug. Und so ist es nicht überraschend, daß es immer wieder zu platonisierenden Interpretationen der Cusanischen Philosophie gekommen ist. Zwar hat schon Joachim Ritter in seinem Forschungsbericht von 1939/40 energisch dagegen Stellung genommen.15 Aber so ganz eindeutig ist die Sachlage nicht, und so gibt es bis in die jüngste Zeit noch Versuche, Nicolaus Cusanus aus dem Geist des Piatonismus zu verstehen - so etwa Willi Schwarz.16 Und es ist zuzugeben: es findet sich beim Cusaner die Vorstellung von einer Stufenordnung der Erkenntnis, und diese Stufen stehen zueinander im Verhältnis der Teilhabe. Und doch ist sein Denken nicht mehr wirklich dem Konzept eines hierarchischen Kosmos verpflichtet, dessen Spitze Gott einnimmt, von dem das Sein herabströmt und zu dem der Mensch emporstrebt. Nach der traditionellen Vorstellung von der Teilhabe besitzt das endliche Sein das ewige Sein und seine Transzendentalien sozusagen in abgeschwächter Form; ontologische Analogie heißt Identität und Differenz zugleich: Identität insofern, als auch das endlich Seiende Sein hat und wahr, gut oder schön sein kann, Differenz insofern, als das irdische Sein, das irdisch Wahre, Gute oder Schöne nicht die Vollkommenheit des absoluten Seins, des göttlichen Wahren, Guten oder Schönen erreicht, sondern nur einen Abglanz davon besitzt, nur abbildhaft daran partizipiert. 12

Vgl. WATTS 1982, S. 203 ff. mit Literaturhinweisen in Anm. 30 zum Fortuna-Begriff bei Cusanus und im italienischen Humanismus. 13 Zum transzendentalen Charakter der menschlichen Gesten bei Cusanus: OTTO 1981, S. 261. 14 visibilia veraciter invisibilium imagines esse (I, S. 228). 15 RITTER 1939/40, S. 124ff. Im kritischen Anschluß an ihn: K. JACOBI 1969, S. 63ff.; die Auseinandersetzung mit Ritter S. 72ff. 16

SCHWARZ 1970.

366

Dieses Konzept der Teilhabe hat dann in der hochmittelalterlichen Theologie eine präzisierende Verschärfung in der Weise erfahren, daß man das Verhältnis von Identität und Differenz in die Formel von der unähnlichen Ähnlichkeit faßte. Unähnliche Ähnlichkeit bedeutet nach der Formel des Laterankonzils von 1215, daß bei der Analogie zwischen dem Endlichen und dem Ewigen die Unähnlichkeit immer größer ist als die Ähnlichkeit.17 Wenn nun der Cusaner sagt, das Irdische sei zwar Abbild des göttlichen Urbildes, aber dann hinzufügt, diese similitudo habe doch nichts mit dem Urbild gemein, so erscheint diese paradoxe Aussage wie eine überpointierte Formulierung der Denkfigur von der Ähnlichkeit bei je größerer Unähnlichkeit. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied. Die klassisch-mittelalterliche Denkfigur der unähnlichen Ähnlichkeit zielte darauf, den Menschen über die Ähnlichkeit hinaus mit der radikalen Differenz zu konfrontieren. Es ging darum, jenen äußersten Punkt dieser endlichen Wirklichkeit zu erreichen, an dem man das Ganz-Andere, die absolute Differenz erfährt - ein Durchbruch, der jedoch nicht aus eigener menschlicher Kraft herbeigeführt werden kann, sondern der nur durch das Entgegenkommen der göttlichen Gnade möglich wird. Beim Cusaner verhält es sich anders. Es geht ihm nicht um diesen Akt des Transzendierens; bei ihm wird das Denken vielmehr an der Schranke der absoluten Differenz auf sich selbst zurückgeworfen.18 Es versteht sich in seiner Eigerigesetzlichkeit als schöpferisches Spiel, das sich über die Strukturähnlichkeit zwar auf Gott bezieht, oder man kann auch sagen: sich über die analoge Form des Kreativen mit Gottes Kreativität berührt, doch auch hier wiederum im Sich-Brechen an der Differenz, nicht im Blick auf den Durchbruch von der Differenz her. Die unähnliche Ähnlichkeit wird hier philosophisch also in der Weise eingesetzt, daß sie jenen Spielraum eröffnet, in dem die menschliche Kreativität sich entfaltet. Wie vollzieht sich eine solche Reflexion, die sich als Sich-Brechen an der Differenz versteht? Ich komme nochmals auf die Kugel des Ludus globi zurück. Wie verhält sich diese Kugel zu Gott? Gott als das Urbild aller Abbilder, als die Form aller Formen, ist in gewisser Weise auch eine Kugel. Aber man darf dem Cusaner kein pantheistisches Konzept unterstellen, wie das schon zu seiner Zeit durch den Heidelberger Professor Wenck geschehen ist. Wir dürfen Gott dann als eine Kugel bezeichnen, wenn wir ihn uns als eine Kugel denken, dergegenüber es keine größere mehr geben kann. Oder nach der berühmten Definiton des >Liber XXIV philosophorumHuge Scheppel< der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken2: Als die Entscheidungsschlacht zwischen dem Helden und dem französischen Großadel bevorsteht, zwischen Hugues Capet, der für die verwitwete Königin und deren Tochter kämpft, und dem Grafen Fedry von Champagne, der das Mädchen und die Macht an sich bringen will, in dieser Situation fordert die Königin Hugues auf, das Lilienbanner mit sich zu führen.3 Die Königin will damit die Feinde beeindrucken, ja aus der Fassung bringen, aber wohl nicht nur dies. Hugues begreift die persönliche Erhöhung, die die Übernahme des Emblems bedeutet, er erklärt sich für unwürdig: man könnte es ihm als Anmaßung auslegen, und als er sich dem Wunsch der Königin schließlich doch fügt, ist dies gewissermaßen eine Vorwegnahme der späteren Investitur. Wem es nicht schon früher aufgegangen ist, dem wird bei dieser Szene spätestens klar, worauf die Geschichte hinausläuft: offen ist eigentlich nur noch, ob Hugues die Mutter oder die Tochter bekommt. Beide möchten - aber die Mutter wird schließlich tapfer verzichten. Historisch ist die Szene mit der Übergabe des Lilienbanners, wie gesagt, unmöglich, aber es ist dies zweifellos ein effektvoller erzählerischer Einfall. Und dem zolle ich mit meinem anachronistischen Titel gerne Anerkennung. Nun ist dieser geschichtliche Querschläger freilich noch verhältnismäßig harmlos im Vergleich zu anderem, was die Chanson an Geschichtsverwehungen bietet. Das dickste Ding ist, daß sie Hugo Capet, den Begründer der kapetingischen Dynastie, zum Sohn einer Metzgerstochter macht. Und dieser Metzgersproß soll also dadurch auf den französischen Thron gekommen sein, daß er die Erbprinzessin des letzten Karolingers heiratete. Der letzte Karolinger des Westreiches: das müßte Ludwig V. gewesen sein, aber die Chanson wirft ihn mit Ludwig dem Frommen und Ludwig III. zusammen.4 Die Geschichte von der Thronbesteigung Hugo Capets fügt sich auf diese Weise in den Zusammenhang des Karlischen Heldensagenzyklus ein. ' Vgl. BOSSUAT 1950, S. 473. 2

DE LA GRANGE 1966, URTEL 1905. Vgl, im übrigen Hans-Hugo Steinhoff, VL2 2, Sp. 482-488, zum >Huge ScheppelPurgatorio< XX, 34ff. In Vers 49 nennt er seinen Namen: Ugo Ciapetta, und drei Verse später spricht er von seiner Herkunft: Figliuolo fui d'un beccaio di Parigi. Vgl. den Kommentar von GMELIN 1988 V, S. 319ff. 6 DE LA GRANGE 1966. Auch Hermann Gmelin denkt an eine Entstehung in Paris; dabei könnte eine volksetymologische Ableitung von Capet aus chapler ^schlachten') mit im Spiel gewesen sein (GMELIN 1988 V, S. 321f.). Elisabeth hat den Namen offensichtlich auch in diesem Sinne verstanden. 7

BOSSUAT 1950, S. 454ff.

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sein sollte, da jedenfalls aufgegriffen worden ist und den Anstoß zu einer Chanson de geste gegeben hat. Ja, um so schlimmer, wenn man da nicht davor zurückschreckte, sich eine so feindselige Geschichte anzueignen! Und so sieht man sich denn allemal wieder mit der Ausgangsfrage konfrontiert, wer in Frankreich an dieser zwielichtigen Kapetingergenealogie sein vergnügtes Interesse gehabt haben könnte. Und da mag man denn die Sache wenden, wie man will, man landet doch fast zwangsläufig wieder in den Pariser Schlachthöfen. Wie kommt man weiter? Man wird vermuten, über eine Prüfung der Entstehungssituation. Was läßt sich diesbezüglich ausmachen? Wie genau kann man die Chanson von Hugues Capet datieren? Nachdem Hugues beim Kampf um Paris in einem ersten Ausfall seine tolle Kühnheit demonstriert hat, läßt ihm die Königin einen gebratenen Pfau servieren. Der Held, überwältigt von soviel Ehre, tut bei diesem Pfauenbraten ein Gelübde: er gelobt, daß er ins Lager der Feinde reiten und dort in Einzelaktion einen oder zwei der Besten erschlagen werde.8 Und das löst er dann auch mit unglaublicher Bravour ein. Dieser Pfauenschwur ist ein literarisches Motiv, es steht im Zentrum der >Voeux du Paon< des Jacques de Longuyon, und dieses Werk ist der Bestseller des 14. Jahrhunderts gewesen. Die Datierung: 1312/13.9 Damit hätte man einen Terminus post quem für die überlieferte Fassung. Bossuat meint jedoch, daß man noch präziser datieren könne.10 Er sieht in der in der Chanson gegebenen Topographie von Paris und der Darstellung der Kampfbewegungen bei der Verteidigung der Stadt Reflexe von Situationen und Begebenheiten, die in den Zusammenhang von Kämpfen gehören, die sich in den Jahren 1356-58 in und um Paris abgespielt haben. Mir fehlen die lokalhistorischen Kenntnisse, um dies überprüfen zu können. Doch ist daran zu erinnern, daß es sich bei den betreffenden Vorgängen um den Aufstand der Pariser Bürgerschaft unter Etienne Marcel handelte, einen Aufstand also, der sowohl gegen den Adel wie gegen den Dauphin gerichtet war und der letztlich gescheitert ist. Wenn die Anspielungen der Chanson auf diesen Aufstand so deutlich sind, wie Bossuat behauptet, dann müßte man die Chanson geradezu als Gegenbild dazu geschaffen und verstanden haben, denn die Fronten verlaufen ja ganz unterschiedlich: in der Chanson gehen anders als beim Aufstand Etienne Marcels das Königshaus und die Bürgerschaft gemeinsam gegen den Großadel vor. Es läßt sich im Zusammenhang der historischen Situation von 1356/58 eine solche literarische Frontumstellung kaum plausibel machen. Welche Partei sollte sie unter welchen Interessen vorgenommen haben? Wie immer man diese Geschichte vom Metzger als König drehen und wenden mag, es scheint, daß sie historisch nicht überzeugend unterzubringen ist. Das zeigt sich auch an einem besonders aktuellen Motiv, mit dem die Chanson zumindest halb ins politische Fettnäpfchen tritt. Ich denke an die Thronfolge über die weibliche Seite. Über dieser Frage ist 1328 bekanntlich der Hundertjährige Krieg ausgebrochen. Eine französische Chanson, die zu dieser Zeit einen solchen Thronfolgefall vorführt und feiert, mußte Gefahr laufen, als Propaganda für Eduard III. verstanden zu werden. So dreht die Chanson denn den Spieß um, indem sie behauptet, gerade die Wirren, zu denen es " D E L A G R A N G E 1966, S. 59ff. 9

RITCHIE 1921-1929, hier 1921, vv. 3910ff. Vgl. zur Nachwirkung SCHROEDER 1971, S. 42.

10

BOSSUAT 1950, S. 460ff.

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bei der Thronfolge Hugues' gekommen sei, hätten dazu geführt, daß man den Beschluß faßte, die Thronfolge über die weibliche Linie für künftig zu unterbinden.' 1 Die Chanson muß also die von ihr verherrlichte Heirat Hugues' mit der Karolingerprinzessin zugleich als nicht empfehlenswerten Sonderfall hinstellen, um nicht in ein falsches politisches Fahrwasser zu geraten. Doch es haftet dieser Absicherung post festum doch etwas so Leichtfertiges an, daß man sich fragen muß, ob der Chanson überhaupt etwas an der zeitgenössischen Politik gelegen war. Man kann die Frage natürlich nicht sicher verneinen; es ist nicht auszuschließen, daß sich nicht doch noch eine politische Konstellation findet, auf die die Chanson von Hugues Capet ideologisch paßt. Aber selbst wenn man fündig würde, wäre damit noch wenig gewonnen, denn von viel größerer Bedeutung bleibt ja, daß diese Metzgergeschichte unabhängig von ihren Entstehungsbedingungen über die Jahrhunderte und über die Landes- und Sprachgrenzen hinweg weitergegeben worden ist, daß sie also von jeder konkreten Aktualität, wenn denn eine bestanden haben sollte, ablösbar war - oder man könnte auch sagen, daß sie eine permanente Aktualität besaß. Die Frage ist nur, worin sie bestand: vielleicht in immer neuen Aktualisierungen? Aber bevor man die ideologische Hasenjagd durch die Jahrhunderte freigibt, sollte man als Literarhistoriker vielleicht doch seinen eigentlichen Gegenstand erst einmal ins Auge fassen und festhalten, daß die Geschichte vom Metzgersproß, der König von Frankreich wird, vor allem ein grandioser Erzählstoff ist. Und ich meine: als solcher hat er Literaturgeschichte gemacht. Jedenfalls hat er, wie immer man ihn primär oder sekundär vereinnahmt haben mag, alle denkbaren ideologischen Aktualitäten immer wieder überrundet. Die Geschichte unserer Literaturen besteht auch aus erzählerisch zugkräftigen Stoffen, die eigentlich niemandem in den Kram passen und die vielleicht gerade deshalb Spaß und Furore gemacht haben. Es ist ja so, daß im Falle des Hugues Capet, alias Huge Scheppel, eigentlich alle Parteien auf die Schippe genommen werden und niemand ungeschoren davonkommt. Und diese Bemerkung soll der Anlaß sein, endlich, nach all den Vorwarnungen, zur Sache selbst zu kommen. Was wird denn in dieser Geschichte, wenn man sie einmal ganz ohne die Scheuklappen denkbarer Interessen betrachtet, konkret-stofflich geboten? Ich folge der Version Elisabeths, die sich im ersten Teil - abgesehen von einigen Milderungen - mit der erhaltenen französischen Chanson deckt, während sie im zweiten Teil eine französische Fassung spiegelt, die nicht erhalten ist.12 Huge Scheppel ist offenbar nicht bei der schönen Metzgerin, sondern bei seinem Vater aufgewachsen, jedenfalls führt er nach dessen Tod ein fröhlich-ritterliches Leben. Er tummelt sich auf Turnieren, und nach sechs Jahren hat er dabei nicht nur sein beträchtliches väterliches Erbe durchgebracht, sondern auch noch wacker Schulden gemacht. Die zornigen Gläubiger setzen ihm hart zu, und da verschwindet er bei Nacht und Nebel nach Paris, damit die sich, wie es heißt, ,ein wenig abkühlen können'. Er 11

DE LA GRANGE 1966, S. 176. Zur Geschichte dieser Regelung vgl. BOSSUAT 1950, S. 472f. Elisabeth bewahrt das Argument in der deutschen Version: URTEL 1905, fol.41 . I2 URTEL 1905, S. 15. Hermann Urtel vertritt die Auffassung, daß der erste Teil zunächst eine kurze Fortsetzung enthalten habe, die dann zweimal, in unterschiedlicher Weise, erweitert worden sei. Jedenfalls lasse sich Elisabeths zweiter Teil nicht von der erhaltenen Chanson ableiten. Elisabeth hat ihre Übersetzung im übrigen nochmals überarbeitet. Dem Druck liegt die überarbeitete Fassung zugrunde.

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taucht bei seinem Metzgeronkel Symont auf und erklärt ihm, daß er abgebrannt sei. Der schlägt ihm vor, in seine Metzgerei einzutreten, er habe keine Kinder, und so könne er einmal das Geschäft übernehmen. Aber Huge sagt, er habe ein anderes Handwerk gelernt, er möchte lieber jeden Monat ein neues Kleid, ein paar Windhunde und einen Falken, er möchte lieber zweyne odir dry pfiff er . . .vnd das lüstlich seyten spil (fol. lv) hören als das Geplärr von Ochsen und Kälbern. Da beginnt dem guten Onkel Alles syn blüt von sin füssen bis oben zu der zwirbeln uß . . . zu gryselen (fol. lv). Er fürchtet, daß dieser Bursche, wenn er auch nur ein halbes Jahr im Haus bleibe, ihm seinen ganzen Besitz vertun würde. So steckt er ihm schnell 200 Gulden zu, und Huge reitet in beglückter Dankbarkeit davon, um sich weiter ritterlich herumzutummeln. Der Dichter geht jetzt in die Einzelheiten, und da wird deutlich, worin dieses Ritterleben eigentlich besteht. Huge besitzt einen begnadeten Sexappeal: wo er hinkommt, empfängt man ihn mit offenen Armen und Beinen; er schwängert alles, was da zu schwängern ist, und das bringt ihn in immer neue vertrackte Situationen, denn die Väter der verführten Schönen stellen ihm nach, so daß er jeweils die bösen Häscher totschlagen und verschwinden muß. Und so zieht er, während ihm die untröstlichen Mädchen heiße Tränen nachweinen, mit Anflügen von echtem Bedauern von Land zu Land, von Bett zu Bett, vom Hennegau nach Holland und nach Friesland und von da nach Deutschland. Er beklagt schließlich sein Geschick, denn er erkennt, daß er bei seiner unermüdlichen Buhlerei Seele und Leben riskiert, aber so töricht das alles sei: es ist doch grosse freud vnd wollust da Inne (fol. 2V) - und was will der Mensch mehr? In Friesland wird die Lage besonders prekär, da verführt er die Nichte des Königs. Er wird geschnappt, soll gehängt werden; aber die Königin verwendet sich für ihn, indem sie ihren Gemahl an seine eigenen Buhlereien erinnert, und auch die Räte fänden es schade, diesen schönen, höfischen Jüngling baumeln zu sehen. So gelingt es ihm auch da zu entkommen. Schließlich gerät er in einem Wald an ein paar Räuber, die eine Grafentochter geraubt haben; er befreit das Mädchen und widersteht der Versuchung, es gleich selbst zu vernaschen. Er gibt es seinem Vater zurück und wird reich belohnt, mit Gold und Silber, einem seidenen Gewand und einem schönen Pferd. In dieser Pracht reitet er nach Paris zurück, wo er, da er nicht mehr so abgerissen ist wie das erste Mal, von seinem Metzgeronkel freundlich empfangen wird. Im übrigen ist dieser inzwischen so wohlhabend geworden, daß er meint, ihn gefahrlos in sein Haus aufnehmen zu können. Er bezahlt ihm sogar seine alten Schulden. Der Onkel möchte ihn nun ordentlich verheiraten, aber Huge ist der Meinung, es sei gar eyn sorglich dinck frowen zu nemen. Hingegen dünkt es ihn gar ein lieplich dinck heymlich liebe zu haben wann man leret da mit wißlich Reden / Vnd eyn Redelich wesen zu füren / So komet ouch alle ere von liebeschafft / Dann der da bulschafft treyt / Der vnder stet bywilen gar künliche Sachen / Die er süst nit gedencken dorste / zwunge yne nit grosse liebde dar zu (fol. 5V). Und so treibt er's denn auch in Paris, und alle lieben ihn, Dann er was gar eyn lieplicher/Schoner man/vnd stunden syn synne vnd gedanck alzijt nach eren (fol. 5V). Indessen ist der französische König, nachdem er das Land von der Bedrohung durch Türken und Heiden gerettet hat, unerwartet gestorben. Man sagt, der Graf Sauari von Champagne habe ihn vergiftet. Und der erkühnt sich nun auch noch, mit seinem Anhang in Paris zu erscheinen und die Erbprinzessin zur Ehe zu verlangen. Eine dramatische Szene: die Adeligen mit ihrer ganzen bedrohlich-bewaffneten Macht vor der Königinwitwe. Diese versucht, Zeit zu gewinnen; sie sagt, sie müsse sich erst mit 377

den zwölf Pairs und den vornehmsten Bürgern von Paris beraten. Doch die Tochter an ihrer Seite hält nicht an sich, sie schreit dem Grafen ins Gesicht, daß er ihren Vater vergiftet habe. Es droht ein Gewaltakt: „Was stehen wir hier herum wie die Weiber, nehmen wir uns doch das Mädchen, ob es will oder nicht." Mit Mühe kann die Königin wenigstens einen Tag Aufschub erwirken. Nun schickt sie nach den Bürgern. Unter ihnen ist Symont, der reiche Metzger, der seinen Neffen Huge mitbringt, der übrigens geraten hat, für alle Fälle unter den Rökken die Rüstungen anzulegen. Als man sich nun gegenübersteht, erklärt Huge dem Grafen Sauari, daß man ihn lieber an einen Baum hängen sollte, als ihm die Königstochter zu geben, und dann spaltet er ihm kurzerhand den Kopf bis auf die Zähne. „Nun, ihr frommen Bürger, schlagt zu", sagt er darauf, und da geht das allgemeine Gemetzel los. Wenige nur entkommen, unter ihnen Friderich, der Bruder des Grafen Sauari, und der Herzog von Burgund. Die Königin besieht sich hinterher befriedigt das Blutbad und erkundigt sich nach dem Retter. Man sagt ihr, das habe Huge der Metzger getan, er habe wohl geglaubt, daß er an seiner Fleischbank stehe, denn er habe die Adligen tranchiert wie Schweinefleisch. Huge fällt vor der Königin formvoll auf die Knie. Sie betrachtet ihn wohlgefällig, sie denkt, sie habe noch nie einen schöneren jungen Mann gesehen, und sie verspricht ihm, ihn zum Ritter zu schlagen. Indessen bringen Friderich von Champagne und der Herzog von Burgund ein riesiges Heer zusammen, sie sind entschlossen, Paris dem Erdboden gleichzumachen, die Königin zu verbrennen und überhaupt dem allzu reich und mächtig gewordenen Stadtbürgertum zu zeigen, wer Herr ist im Land. Die Königin auf der andern Seite kann sich nur auf wenige Getreue stützen, sechs Grafen kommen, von denen jeder hundert Ritter mitbringt, während die Feinde über mehr als hunderttausend Mann verfügen. Zum Glück aber erreichen die Boten der Königin ihren Neffen Drogue in Venedig, der mit dem König von Ungarn gerade gegen den Sultan gerüstet hat, und die schiffen sich nun mit ihrem Heer nach Frankreich ein. Indessen beginnt der Kampf um Paris, dargestellt als Episodenreihe: Ausfall der Belagerten, auf Antrieb Huges, wider alle Vernunft; großes Gemetzel; Huge schlachtet gewaltig mit seiner Streitaxt, aber man muß sich schließlich zurückziehen. Bericht an die Königin: Mutter und Tochter, die süberliche marie, sind in gleicher Weise entzückt. Und nun folgt die schon erwähnte Szene mit dem gebratenen Pfau und Huges Gelöbnis, sich allein ins feindliche Lager zu begeben, um da ein paar ausgewählte Feinde zu erschlagen. Die Damen sind bestürzt, die Königin befiehlt, die Tore vor ihm verschlossen zu halten; da läßt sich Huge mit einem Seil über die Stadtmauer hinunter. Im Lager der Feinde gerät er zum Zelt des Königs von Friesland, der ihn einst hängen lassen wollte. Welch gute Gelegenheit, es ihm nun heimzuzahlen! Huge schlägt ihn nach wohlgesetzter Erklärung zusammen. Die Bluttat bringt das Lager in Aufruhr, man bedrängt den wild um sich Hauenden von allen Seiten; schon droht er zu erliegen. Da erscheint jener Graf, dessen Tochter er seinerzeit aus Räuberhand gerettet hat. Der fordert ihn auf, sich ihm zu ergeben. Huge, verwundet und erschöpft, händigt ihm sein Schwert aus, und der Graf läßt ihn dann heimlich entwischen, im richtigen Augenblick übrigens, denn in der Stadt hat man sein Verschwinden bemerkt und einen Ausfall riskiert, um ihn zu retten, aber die Freunde geraten in Bedrängnis, und es ist Huge, der sie heraushaut. Wieder meldet man die Taten den königlichen 378

Damen, die Liebe von Mutter und Tochter zu dem Helden wächst vehement mit der Zahl der Erschlagenen. Es nimmt die Königin arg mit: sie gedockte manchen wilden gedanck (fol. 21v). Die Tochter bemerkt es, es kommt zur Aussprache. Die Mutter gesteht zögernd ihre Leidenschaft, aber die Tochter fordert den Mann freundlich, aber brüsk für sich selbst: ,liebe frouwe, bidden ich uch vaste fruntlich, Daz ir eynen andern nement vnd mir hugen lassent' (fol. 21v). Der Mutter verschlägt's zunächst die Sprache, aber dann tritt sie besonnen zurück, erhebt Huge in den Ritterstand und macht ihn zum Herzog von Orleans. Aber die Lage der Eingeschlossenen spitzt sich allmählich zu, das Essen wird knapp. Indessen dringt der Ruhm Huges in die Lande. Auch jene Schönen im Hennegau und in Brabant, mit denen er sich seinerzeit so folgenreich vergnügte, hören davon, sie fordern ihre inzwischen herangewachsenen Sprößlinge auf, den Vater aufzusuchen und ihm Ehre zu machen. Und so ziehen sie denn los, zehn wackere Söhne, die Früchte seiner fröhlichen Zeugungskraft. Sie treffen sich zufällig unterwegs in einer Herberge, und nachdem sie mächtig ins Saufen gekommen sind, beginnt einer seinen Vater zu rühmen, der der beste von allen sei; man widerspricht, der Wortwechsel wird wild und geht in eine böse Schlägerei über, und die Jungs hätten beinahe die Nacht im Gefängnis verbracht, wenn nicht der Besonnenste von ihnen eingegriffen und gesagt hätte, sie sollten aufhören mit dem albernen Radau, sie hätten alle mit ihren Vätern nichts zu melden, denn sein Vater sei Huge Scheppel, der Herzog von Orleans. Da fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen: Große Versöhnung und gemeinsamer Marsch nach Paris. Übrigens: ein Erzähler, der das Vollblutkomödiantische dieses Streits um den besten Vater nicht sieht und die Szene einstreicht, muß schon von allen guten narrativen Geistern verlassen sein. Der Redaktor der deutschen Druckversion war dies leider.13 Vor Paris angekommen, beschließen die zehn, sich artgemäß zu betätigen - denn das geblütt ist nicht gutt dz seiner am nicht nach naturet (fol. 27r). So statten sie dem feindlichen Lager einen metzlerischen Überraschungsbesuch ab, als Visitenkarte sozusagen. Zum Glück kommt man ihnen von der Stadt aus zu Hilfe. Vor die Königin geführt und befragt, nennen sie ihren gemeinsamen Vater, und diese kann im Blick auf die zehn wackeren Burschen nicht umhin anzuerkennen, daß Huge in seiner Jugend sehr brav seinen Mann gestanden habe; und der errötet bescheiden. Und dann meint sie noch: man würde auch gern die Töchter sehen! Wo er die wohl versteckt habe! Diese Bemerkung ist übrigens ein hübscher feministischer Zusatz Elisabeths; sie fehlt jedenfalls in der uns überlieferten französischen Fassung.14 Indessen sind Drogue und der König von Ungarn mit ihren Truppen eingetroffen. Nach Einleitungsscharmützeln kommt es zur großen Entscheidungsschlacht, zu der Huge mit den königlichen Emblemen antritt. Die Feinde werden geschlagen, Graf Friderich und Asselin von Burgund werden gefangengenommen und müssen Urfehde schwören. Hochzeitsfest, Salbung Huges zum König von Frankreich. Die Geschichte hat noch eine Fortsetzung: Friderich und Asselin brechen ihren Schwur. Als Huge seine Ländereien visitiert, bemächtigt Friderich sich der Königin 13 14

Vgl. die dürftige Szene bei KINDERMANN 1928, S. 103. Vgl. DE LA GRANGE 1966, S. 123. Die Bemerkung gehört zur Überarbeitung (vgl. Anm. 12); sie findet sich nicht in der Hs., dagegen im Druck; siehe KINDERMANN 1928, S. 100.

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Marie und ihrer Mutter, die in Orleans zurückgeblieben waren. Indessen überfällt Asselin den König und sein Gefolge; die meisten werden erschlagen, aber es gelingt Huge zu entkommen, er versteckt sich im Dickicht eines Waldes. Die Verfolger finden nur sein blutüberströmtes Pferd und denken, er sei tot. Huge wird von einem Einsiedler aufgenommen, er erhält von ihm einen alten Rock und macht sich so als Waldbruder auf den Weg. Er trifft einen Vasallen, der ihm treu geblieben ist und der weiterhilft mit Rat und Tat. Huge verbirgt sich bei seinem Onkel Symont in Paris. Nocheinmal sind es seine Pariser Bürgerfreunde, die ihm zur Seite stehen. Mit ihnen erscheint er in der Kirche von Montmiral, als Friderich die Königin zum Altar führen will, und nocheinmal gibt es eines der üblichen befriedigenden Gemetzel. Friderich und Asselin werden gefangengenommen und geköpft. Happy-End. Soweit die wechselvolle Geschichte vom Aufstieg des Huge Scheppel, vom Verrat und von der glücklichen Rückgewinnung der Herrschaft. An dieser Geschichte ist bei näherem Zusehen verschiedenes doch höchst erstaunlich: Zum ersten: es ist eine Dynastiegründungsgeschichte, d. h., man hat sie doch wohl ursprünglich zu dem Zweck erzählt, die Ablösung eines Herrscherhauses durch ein anderes zu erklären und möglicherweise zu rechtfertigen. Dafür standen zwar über Grenzen und Zeiten hinweg verbreitete Schemata zur Verfügung, doch die Chanson von Hugues Capet hat keines davon benützt. Die traditionellen Schemata machen den neuen Herrscher bekanntlich zu einem Bastardsproß oder sonst irgendwie nicht ganz ebenbürtigen Abkömmling der alten Dynastie. Bald ist es die Königin oder die Königstochter, die irgendwie fremd gehen - so die Gattin Chlodios, die von einem Meerungeheuer überwältigt wird, woraus die Merowinger hervorgehen. Häufig wird der fremde Verführer mehr oder weniger deutlich zum Gott stilisiert. In der Kyrossage und ihren Verwandten ist es die Königstochter, die ein dubioses Kind zur Welt bringt, das dann trotz aller Vorsichtsmaßnahmen - Aussetzung usw. - schließlich auftaucht und den Großvater gewaltsam vom Thron stößt. Bald ist es aber auch der König, der mit einer fremden Frau ein Kind zeugt, das, herangewachsen, auszieht, um die Herrschaft im Reich des Vaters mehr oder weniger vehement an sich zu reißen.15 Von dieser Legitimationsmöglichkeit über einen illegitimen Sproß der alten Dynastie macht also die kapetingische Ursprungssage keinen Gebrauch. Trotzdem tauchen hier eine Reihe von Motiven auf, die für das traditionelle Schema typisch sind. So ist das Bastardkind, das aus der Fremde kommt, eine strahlende Erscheinung, und es verfügt über ungewöhnliche Kräfte: beides hat nicht nur seinen pragmatischen Sinn, sondern es dient zugleich dazu, die königliche oder gar übernatürliche Abkunft des wunderbaren Kindes offenbar werden zu lassen. Auch der Metzgersproß ist von überwältigender Schönheit, und auch er besitzt eine stupende physische Kraft. Aber das ist nun gerade nicht mehr Ausweis königlicher oder gar göttlicher Herkunft, sondern Legitimation an und für sich. Das heißt: Die Schönheit wirkt als sexuelle Faszination, die Kraft ist nichts anderes als persönliche und politische Gewalt. Alles Zeichenhafte ist somit abgestreift. Die Königstochter wählt den Metzgersproß, weil sie schlicht und einfach - wie alle Welt - seiner unwiderstehlichen Potenz verfallen ist. 15

Zu den verschiedenen Typen der Dynastiewechselsage: Brüder GRIMM 1960, Nr. 405, 424; vgl. J. GRIMM 1953, S. 324f.; WIDENGREN 1960, S. 225ff.; BINDER 1964; CH. W. DÜNN 1960, S. 91

(mit reicher Literatur zum >RomulusHuge Scheppel< darin sehen, daß der Roman zu einer Zeit, als Philipp der Gute eine bedrohliche expansive Politik betrieb, als antiburgundische, prokönigliche Dichtung BRECHT 1967 XVI, S. 663.

Hans-Hugo Steinhoff, VL2 2, Sp. 488. 387

verstanden werden konnte. Die These dürfte angesichts der in den betreffenden Jahren immer wieder wechselnden Allianzen und Frontstellungen schwer zu verifizieren sein; aber selbst wenn sie sich plausibel machen ließe, brächte das wohl einen nicht reizlosen Nebeneffekt, mehr jedoch nicht. Die alternative ästhetische Position macht den Typus letztlich immun gegen durchgreifende Adaptationen. Man kann bestenfalls anpassen und kulturhistorisch retuschieren. Oder im Blick auf den Punkt 'Problemlosigkeit' gesagt: Da es keine Konzeption gibt, kann es auch zu keinen Neukonzeptionen kommen.

VI. Die Moral Wer Probleme hat, hat keine Moral, denn Probleme sind komplex, und die Moral ist einfach. Deshalb weigert sich Wolfram ausdrücklich, den Sinn seines >Parzival< auf eine lehrbare Formel zu bringen, und er spricht damit für den Typus des hochhöfischen Romans überhaupt, der nicht Lebensregeln geben, sondern Problembewußtsein wecken will. Die Reaktion darauf erfolgt in nachklassischer Zeit dann immer wieder gerade im Namen der Moral, konkret: im Namen dessen, was sich als vorbildhaftes Verhalten präsentieren und formulieren läßt. Die alternative Literatur muß sich somit hier gleich von zwei traditionellen Positionen absetzen. Sie wird also einen Standpunkt einnehmen, der sowohl im Gegensatz steht zur Literatur, die Probleme entfaltet, wie zu jener, die lehrhaft sein will. Sie erreicht diese doppelte Verweigerung, indem sie sich unmoralisch gibt. Und dies ist wiederum eine der Quellen ihres besonderen Vergnügens. Doch auch hierbei liegen die Dinge nicht einfach. Das Vergnügen an der Unmoral setzt insgeheim doch eine Moral voraus, und zwar eine, die dem landläufig Moralischen überlegen ist, indem sie ihre eigene Relativität mit ausspielt. Deshalb muß man sagen: Das Unmoralische ist auch n u r zum Vergnügen da, und sein Unernst verdeckt ein Ethos, an das man aber nicht herankommt, nicht herankommen soll. Jedenfalls ist eine unernste Unmoral einem wahren Ethos immer noch näher als ein proper in Handlung umgesetzter Normenkatalog. Auch in moralischer Hinsicht zeigt sich also das charakteristische Phänomen, daß die Verweigerung sich selbst unterläuft, so daß wiederum die Wahrheit im Spiel mit dem offenen Zwiespalt liegt. Virulente Widersprüchlichkeit, Kollage mit episodischen Effekten, narrative Unmittelbarkeit, das Bekenntnis zur Literatur als Unterhaltung, Geschichtslosigkeit, unernste Unmoral: das klingt in mancher Hinsicht überraschend modern, und so hat es sich denn auch angeboten, im Abschnitt über das Vergnügen als ästhetisches Prinzip Zitate aus einem andern >Kleinen Organon< anzubringen, einem Organon, das sich aus der Sicht der Moderne gegen eine leergelaufene Klassizität wandte. Es zeigt sich daran, daß die verschiedenen Varietäten antiklassizistischer Literatur zwangsläufig immer wieder auf ähnliche alternative Positionen rekurrieren. Wir sollten diesen Typen ihr Recht lassen, auch im Mittelalter. Die Bedingung ist freilich, daß die alternative Freiheit auch entsprechend genützt ist, konkret: daß gut, WILLIAMS

1988, S. 187ff., und 1989, S. 282ff.

daß fulminant erzählt wird. Und darauf zu achten, steht unserem Metier, meine ich, nicht schlecht an. Unterhaltung ist eine elementare und zutiefst menschenwürdige Funktion der Literatur. Wenn man das nicht will, kann man ja ein Lehrbuch lesen. Leider ist die Austreibung des Vergnügens aus der Literaturwissenschaft schon so weit gediehen, daß dieses Grundanliegen in Vergessenheit zu geraten droht. Es gibt heute Literaturgeschichten, in denen nicht ein einziges Mal die Frage gestellt wird, wie gut irgendetwas erzählt wird. Und wo schreibt denn heute noch jemand einen Aufsatz mit einem Titel wie >Die Erzählkunst dieses oder jenes Epikers