Österreich auf dem Weg zur Demokratie?: Aufmerksame Beobachtungen aus einem halben Jahrhundert 9783205792031, 9783205788539

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Österreich auf dem Weg zur Demokratie?: Aufmerksame Beobachtungen aus einem halben Jahrhundert
 9783205792031, 9783205788539

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Studien zu Politik und Verwaltung Herausgegeben von Christian Brünner · Wolfgang Mantl · Manfried Welan

Band 106

Manfried Welan

Österreich auf dem Weg zur Demokratie ? Aufmerksame Beobachtungen aus einem halben Jahrhundert

Zum 75. Geburtstag herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Alfred J. Noll

Böhl au Verl ag Wien · Köln · Graz

Gedruckt mit der Unterstützung durch die MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78853-9 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, i­ nsbesondere die der Über­setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf f­ otomechanischem oder ä­ hnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http  ://www.boehlau-verlag.com Umschlaggestaltung: Michael Haderer Umschlagabbildung: Privat Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck    : Generaldruckerei Szeged

Inhaltsverzeichnis

Die »große Illusion« (1964). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Freiheit in Österreich – eine Collage (1983) . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Erinnerung an die vergessene Revolution 1848 (2008). . . . . . . . . . . 23 Mobilisierung der Christen (1968) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Demokratische Demokratie-Reform (1969) . . . . . . . . . . . . . . . .

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Demokratie und Demokratisierung (1970). . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Demokratiereform und Gemeinden (1970).. . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Lehre von der Gewaltentrennung und das B-VG (1970). . . . . . . .

45

Pluralismus und Föderalismus (1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Betrachtungen zum Demokratieverständnis (1971) . . . . . . . . . . . .

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Mehrheitswahl – mehr Demokratie (1971). . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Gedanken zur Situation des Parlaments heute (1973) . . . . . . . . . . . 121 Demokratie im Wandel (1973) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Das Janusgesicht der westlichen Demokratie (1974) . . . . . . . . . . . . 147 Demokratie und Demokratisierung (1974). . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Die Kanzlerdemokratie in Österreich (1976). . . . . . . . . . . . . . . . 175 Zur Zukunft der politischen Bildung (1980) . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ? (1981) . . . . . . . 197 Art. 1 B-VG (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Der Staatsbürger zwischen Parlamentarismus und Präsidialismus (1993) .. 235 Zur Lage des Parlaments (1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Inhaltsverzeichnis

Präsidialismus oder Parlamentarismus  ? (1996) . . . . . . . . . . . . . . . 245 Wer soll uns vertreten  ? (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Demokratie in Österreich (2000). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Die Macht des Wortes (2002).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Der diskrete Charme einer Minderheitsregierung (2002).. . . . . . . . . 297 Globalisierung und Menschenrechte (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Regierungsbildung und B-VG (2004).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Die Legitimationsprinzipien der österreichischen Bundesregierung (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Entwicklungsmöglichkeiten des Regierungssystems (2009).. . . . . . . . 331

Nachwort des Herausgebers.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Drucknachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Personenregister.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

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Die »große Illusion« (1964)

Das von der unabhängigen Presse initiierte Volksbegehren über die Radio- und Fernsehreform ist die Premiere der direkten Demokratie in Österreich. Politiker haben ihre Antipathie gegen diesen Akt des – mit ihrer Brille gesehen – politischen Dilettantismus geäußert, im Fernsehen sogar showmäßig exerziert. Parlamentarier haben von »Demagogie des Volkes« gesprochen. Parteipresse und das offizielle Blatt der Republik haben geschwiegen. Das Verhalten der Berufspolitiker und Parlamentarier ist für den begreiflich, der meint, daß Parlamentarismus und Demokratismus verschiedene Ideologien sind. Für den Berufspolitiker ist Politik ein Monopol der Repräsentanten des Volkes, die dieses zwar einerseits vertreten, sich als Stellvertreter des Volkes ansehen, andererseits aber von ihm in ihrer Tätigkeit völlig unabhängig und frei sind. Die Stellvertreter des Volkes sind bei der Ausübung ihres Berufes an keinen Auftrag des Volkes gebunden. Die Ideologie des Parlamentarismus beruht auf der Fiktion der Repräsentation, diese Fiktion dient aber zugleich der Legitimation der Herrschaft der Repräsentanten. Hans Kelsen hat dies folgendermaßen beschrieben  : »Je größer die staatliche Gemeinschaft, desto weniger erweist sich das ›Volk‹ als solches imstande, die wahrhaft schöpferische Tätigkeit der Staatswillensbildung unmittelbar selbst zu entfalten, desto mehr ist es schon aus rein sozialtechnischen Gründen gezwungen, sich darauf zu beschränken, den eigentlichen Apparat der Staatswillensbildung zu kreieren und zu kontrollieren. Andererseits wollte man den Schein erwecken, als ob auch im Parlamentarismus die Idee der demokratischen Freiheit, und nur diese Idee, ungebrochen zum Ausdruck käme. Diesem Zweck dient die Fiktion der Repräsentation, der Gedanke, daß das Parlament nur Stellvertreter des Volkes sei.«

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Die »große Illusion«

Revolution der Parlamentarier Unter den Leitideen, die der österreichischen Bundesverfassung vom 1. Okto­ ber 1920 ihr spezifisches Profil geben, waren Demokratismus und Parlamentarismus die umstrittensten. Die Revolution 1918 war eine Revolution von Parlamentariern. Österreichs Revolutionen im 20. Jahrhundert wurden bisher ausschließlich von Politikern getragen. Dem Manifest des Kaisers vom 16. Oktober 1918 gemäß waren die deutschen Abgeordneten der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder am 21. Oktober 1918 zu einer Vollversammlung zusammengetreten, hatten sich als »provisorische Nationalversammlung für Deutsch-Österreich« konstituiert und am 30. Oktober 1918 durch Inanspruchnahme der obersten Staatsgewalt die Monarchie liquidiert. In dieser Zeit waren Parlamentarismus und Demokratismus die integrierenden Ideen der Politik. Die Fiktion der Repräsentation hat dabei den Parlamentsabsolutismus vom Standpunkt der Volkssouveränität her legitimiert. In den Gesetzen vom 12. November 1918, 14. März 1919, 21. Oktober 1919 und 1. Oktober 1920 hat das Parlament einstimmig die demokratische Republik beschlossen. Adolf Merkl hat in verschiedenen Schriften auf die Worte hingewiesen, die Ignaz Seipel in den Verhandlungen der konstituierenden Nationalversammlung (Stenographisches Protokoll, S. 3375) am 29. September 1920 sprach  : »Wir haben einhellig festgestellt, daß unsere Verfassung für immerwährende Zeiten die demokratische Grundlage festhalten muß.« Merkl fällte 1935 folgendes Urteil über diese Epoche  : »Die Demokratie, die 1918 errichtet und 1920 in aller Feierlichkeit und im besten Glauben wohl fast a­ ller Beteiligten in der Verfassungsurkunde verankert wurde, war ein papierenes Bollwerk. Die Todesursache dieser Verfassungsdemokratie war letztlich die, daß es eine Demokratie ohne geschulte und überzeugte Demokraten, ja vielleicht überhaupt ohne Demokraten war.« Heute weiß man  : Die Demokratie war den großen politischen Gruppen bloß die rechtliche Plattform, von der aus man die Gefahr einer Diktatur der anderen am besten abwehren zu können glaubte. Merkl diagnostizierte die damalige Situation  : »So gut wie allen maßgeblichen Politikern lag aber der Parlamentarismus um vieles näher als das demokratische Prinzip. Dieses war gewissermaßen das ideologische Aushängeschild, unter dem auf parlamentarischem Boden der Macht- und Interessenkampf ausgefochten werden konnte. Und so wurde die Demokratie, der selbst ein so skeptischer, dabei aber realistischer Kritiker wie Aristoteles eine wohl unverlierbare Zukunft zuschreibt … in die 8

Die »große Illusion«

latente Krise des Parlamentarismus hineingezogen und in dieser freiwilligen, aber durchaus nicht unvermeidlichen Schicksalsgemeinschaft dem Untergang geweiht.«

Wachsende Entfremdung von Herrschern und Beherrschten Die Krise der Ersten Republik war u.a. dadurch entstanden, daß man die Demokratie mit der Repräsentationstechnik des Parlamentarismus verwechselte. Die latente Krise der Zweiten Republik besteht darin, daß in den herrschenden politischen Kreisen Demokratie mit der Regierungs- und Gesetzgebungstechnik der Koalition verwechselt wird. Jede der beiden Großparteien ist zu schwach, um zu regieren, und gleichzeitig zu stark, um zu opponieren. Die Koalition trug und trägt Früchte. Nicht nur für die Regierten (wirtschaftlicher Wiederaufbau nach 1945, politische Stabilität, Abschluß des Staatsvertrages, Sozialgesetze, Schulgesetze usw.), sondern auch und mehr noch für die Regierenden  : Ein Duopol der Herrschaft ohne Korrektur und Kontrolle. Durch den Mangel an Polarität von Gesetzgebung und Regierung ist das System der checks and balances durchbrochen. Die durch die Repräsentationstechnik an sich gegebene Entfremdung zwischen Herrschenden und Beherrschten wird vergrößert. Diese Entfremdung wird durch die Verparteilichung der Presse begünstigt. Die Kritik der Politik durch die Presse ist auf ein Minimum reduziert. Wirklichkeit und Wahrheit werden parteilich verfremdet. Die Wahrheit wird von den Politikern nicht ernst genommen. Der Staatsbürger erfährt sie nicht. Die politische Verantwortung der Nichtpolitiker kann sich infolge mangelnder Information nicht aktualisieren. Die Vernachlässigung der Möglichkeiten, Wahrheit zu publizieren, und damit die Vernachlässigung der Demokratie überhaupt ersieht man auch am Zustand unserer Hochschulen, am Niveau unserer Presse, an unserem Radio- und Fernsehprogramm und am Verhalten der Politiker gegenüber Erkenntnissen unabhängiger Institutionen. Es ist tragisch, daß Österreichs Politikern das Wesen der Demokratie, daß die Erkenntnis der Wahrheit allen aufgegeben ist, fremd ist. Von rationaler Diskussion auf der Basis einer kritisch-relativistischen Haltung, die jedem Wert und jeder Wahrheit gleiche Chance und gleiches Risiko gibt, kann keine Rede sein. Günther Nenning meint, daß die »Vielzahl und Vielfalt von Meinungen … den Wettkampf zwischen wahr und nicht wahr« gewährleistet. 9

Die »große Illusion«

Unsere Politiker glauben aber, absolute Wahrheit und damit absolutes Recht zu besitzen. Sie sind gegenüber Kritikern allergisch, aber ziehen keine Konsequenzen. Ihnen sei Hans Kelsen entgegengehalten  : »Demokratie schätzt den politischen Willen jedermanns gleich ein, wie sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck ja nur der politische Wille ist, gleichermaßen achtet. Darum gibt sie jeder politischen Überzeugung die gleiche Möglichkeit, sich zu äußern und im freien Wettbewerb der Gemüter der Menschen sich geltend zu machen.«

Teilhabe und Teilnahme des Volkes an der Staatswillensbildung ? Die Demokratie ist ihrer Grundvorstellung nach die Identität von Herrschern und Beherrschten, Herrschaft des Volkes über das Volk. Die Teilhabe und Teilnahme an der Bildung des Staatswillens wird durch die sog. politischen Rechte garantiert. Das wesentlichste davon ist das Wahlrecht. Die politische Freiheit ist aber nicht nur im Stimmrecht konkretisiert. In jeder modernen demokratischen Verfassung besteht ein Nebeneinander von repräsentativen und plebiszitären Institutionen. Das gilt auch für das B-VG. Aber die direktdemokratischen Elemente sind so in den Parlamentarismus eingebunden, daß man nur von einer Repräsentativdemokratie mit plebiszitären Ergänzungen sprechen kann. Dieser Eindruck wird durch die Gestalt des Proporzwahlrechtes noch verstärkt. Die Parlamentarier haben dadurch dem Volk in der Verfassung eine Art Miß­­trauensvotum und dem Parlament einen Vertrauensvorschuß erteilt.

Diktatur der Parteien ? Schon 1935 fragte Merkl, warum der Einschlag aus dem Ideenkreis der unmittelbaren Demokratie, warum die plebiszitären Einrichtungen, wie Volksbegehren und Volksabstimmung, so stiefmütterlich bedacht wurden, daß diese Gegengewichte und Korrekturen des Parlamentsabsolutismus nicht wirksam werden konnten . Er beantwortete diese Frage selbst  : »Die Parteiherrschaft sollte in keiner Weise geschmälert oder gar gefährdet werden  ; um jeden Preis sollte vermieden werden, daß der einfache Staatsbürger, der überhaupt nur als 10

Die »große Illusion«

Wähler in Frage kam, anders denke und anders wähle, als es die Parteiinstanzen vorzuschreiben für gut fanden. Die Demokratie wurde durch den Parlamentarismus, der Parlamentarismus wiederum durch seine Überspitzung als Parteiherrschaft in Frage gestellt und entwurzelt. Diese Absicht ist gewissermaßen dokumentarisch durch das Wahlrecht erwiesen, das durch die Ausschaltung des Wählerwillens auf eine Diktatur der Parteien hinauslief.« Zu hoffen ist, daß die Parlamentarier, insbesondere die staatstragenden Koalitionsparteien, dies bei der geschäftsordnungsmäßigen Behandlung des Volksbegehrens beherzigen.

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Freiheit in Österreich – eine Collage (1983)

Vorwort »Recht und Freiheit sind ein paar bedeutungsvolle Worte, aber nur in der einfachen Zahl unendlich groß, drum hat man sie uns auch immer nur in der wertlosen vielfachen Zahl gegeben. Was für eine Menge Rechte haben wir g’habt, diese Rechte der Geburt, die Rechte und Vorrechte des Standes, dann das höchste unter allen Rechten, das Bergrecht, dann das niedrigste unter allen Rechten, das Recht, daß man selbst bei erwiesener Zahlungsunfähigkeit und Armut einen einsperren lassen kann. Wir haben ferner das Recht g’habt, nach erlangter Bewilligung Diplome von gelehrten Gesellschaften anzunehmen. Sogar mit hoher Genehmigung das Recht, ausländische Courtoisie-Orden zu tragen. Und trotz all diesen unschätzbaren Rechte haben wir doch kein Recht g’habt, weil wir Sklaven waren. Was haben wir ferner alles für Freiheiten g’habt  ! Überall auf ’n Land und in den Städten zu gewissen Zeiten Marktfreiheit. Auch in der Residenz war Freiheit, in die Redoutensäle nämlich die Maskenfreiheit. Noch mehr Freiheit in die Kaffeehäuser  ; wenn sich ein Nichtverzehrender ang’lehnt und die Pyramidler geniert hat, hat der Marqueur laut und öffentlich g’schrien  : Billardfreiheit  ! Wir haben sogar Gedankenfreiheit g’habt, insofern nämlich wir die Gedanken bei uns behalten haben. Es war nämlich für die Gedanken eine Art Hundsverordnung. Man hat’s haben dürfen, aber am Schnürl führen  !  – Wie man’s loslassen hat, haben’s einen erschlagen. Mit einem Wort, wir haben eine Menge Freiheiten gehabt, aber von Freiheit keine Spur. Na, das is anders geworden …« Johann Nestroy, Freiheit in Krähwinkel (Monolog des Ultra). Erstaufführung am 1. Juli 1848 bis 4. Oktober 1848 (Einnahme der Stadt durch die Regierungstruppen), 36mal gespielt.

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Freiheit in Österreich – eine Collage

Der Mangel an Freiheitstradition und Rechtssinn 1831 ließ Anastasius Grün in den »Spaziergängen eines Wiener Poeten« das Volk auf die Gnade des Staatskanzlers warten  : »Brauchst Dich nicht vor ihm zu fürchten  ; es ist artig und gescheit, trägt auch keinen Dolch verborgen, unter seinem schlichten Kleid  ; Österreichs Volk ist’s, ehrlich, offen, wohlerzogen auch und fein, sieh’, es fleht ganz artig  : dürft’ ich wohl so frei sein, frei zu sein  ? Vor dem ›Thron des Hochgewaltigen‹, vor dem Kaiser, erbittet er  : ›Offnes Wort in Schrift und Mund  ! … Gold gediegnes, reines  : Freiheit und Gesetz im Bund  !‹ … ›Herr, gib frei uns die Gefangnen  : den Gedanken und das Wort  !‹«

Das »freie Lied« motivierte aber »Vater Franz« nicht. Metternich verlangte vom Verfasser, daß er entweder auswandern oder schweigen müsse. Er schwieg. Die Zensur war eine Tradition in Österreich, die vielleicht noch heute unsere Hemmungen in Wort und Schrift, beim Reden und Schreiben bewirkt. Sogar Dichter wie Grillparzer wurden »zensuriert«. »Man kann ja nie wissen«, Sagte die offizielle Zensur zu ihm. »Man kann nie wissen«, sagt die innere Zensur noch heute zu vielen. »Ja, derf ’n s’ denn das  ?« fragte die Autorität. »Ja, darf ich denn das  ? Darf ich so frei sein, frei zu sein  ?« fragen heute noch viele, zu viele. 1861 schrieb Ferdinand Kürnberger in dem Aufsatz »Was ist Freiheit  ?«  : »Wo der Absolutismus auf uralten historischen Wurzeln im Volke steht, wird er die Gewohnheiten und Anschauungen der konstitutionellen Gesetzgeber und Verwalter noch auf lange hinaus beherrschen. Übergangsperioden vom Absolutismus zum Konstitutionalismus sollen daher vor allem anderen mit der Gründung der passiven Freiheit beginnen. Weniger dringend ist die Frage, wie die Staatsregierung auf das Volk zurückzuführen, als Staatsanmaßung vom Volke wegzuwenden ist. Weniger wichtig ist es, was zum Wohle des Ganzen künftig geschehen soll, als was zum Wehe des Einzelnen von nun an nicht mehr geschehen darf. Kurz, es handelt sich weniger um eine paragraphenreiche, unter wortreichen Reden durchdebattierte Konstitution, als um eine einfache Habeas-Corpus-Akte. Das Individuum will zunächst über seine persönliche Freiheit beruhigt sein, ehe es dem komplizierten Bau der Staatsfreiheit vertrauensvoll seine Hände reicht.«

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Freiheit in Österreich – eine Collage

Die »Passivfreiheit«, das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, die kleine Freiheit, sie dürften sich wenigstens nach 1945 in der Bewußtseinsverfassung der Österreicher durchgesetzt haben. Aber ist das für eine demokratische Republik genug  ? Um 1900, als nach Jahrhunderten der Grundherrschaft die »Herrschaft der Grundrechte« im großen und ganzen formell durchgesetzt waren, schrieb Max Burckhard, Schriftsteller, Rechtsgelehrter von Rang, Hofrat des Verwaltungsgerichtshofes und fortschrittlicher Burgtheaterdirektor, über die »Erbsünde des Österreichers«, mit der wir erblich belastet seien  : »Und diese Sünde ist der Mangel des Freiheitssinnes, oder was dasselbe ist, des Rechtssinnes, des Rechtssinnes wenigstens in Dingen des öffentlichen Lebens, jenes Rechtssinnes, auf Grund dessen der einzelne nicht nur dann empört aufschreit, oder doch erbittert knirscht, wenn eine Rechtsbeugung, eine Vergewaltigung der Machthaber ihn selbst oder einen seiner engen Genossen trifft, sondern auch dann, wenn es sich um einen Fernstehenden, ja um einen Gegner handelt.«

Burckhard meinte, daß in einer Zeit, da allenthalben das System der Bevormundung der »dummen« Völker durch die »weisen« Regierungen in Blüte gestanden ist, auch unsere Vorfahren zu »guten Untertanen« »erzogen« worden seien. Zu Untertanen, das heiße zu Menschen, von denen sich jeder nur um das kümmert, was ihn unmittelbar selbst betrifft. Und das seien wir im Wesen geblieben. »Der einzelne kümmert sich nur um das, was ihm selbst schmerzvoll auf den Nägeln brennt. Und genauso machen es die Parteien und ihre Vertreter … Krakee­len und schimpfen,  – ja  ; aber im entscheidenden Moment hartnäckig und unabhängig sein, – nein. Über die Freiheit perorieren und sie für sich selber haben wollen, – ja  ; aber sie bei den anderen respektieren – nein. Freilich, bei weitem nicht alle sind so. Gott sei Dank  ! Und auch anderswo findet man derlei. Leider  !«

Die Niederlagen der Freiheit Jahrhundertelang und gerade auch im 20. Jahrhundert hat »man« in Österreich immer wieder Menschen verfolgt, in die Emigration oder Resignation getrieben, welche Neinsager waren. Die österreichische Geschichte ist von Niederlagen der Freiheit geprägt. 15

Freiheit in Österreich – eine Collage

Schon die Gegenreformation kann man als Beispiel dafür anführen, daß un­­beugsame und aufrechte Menschen auswandern mußten und anpassungswillige und -fähige Jasager zurückblieben. Das wirkt noch heute nach. Wie oft bewirken innere Besatzungsmächte vorauseilenden Gehorsam  ! Revolutionär-oppositionelle Strömungen des Adels, der Städte und der Bauern führten im Österreich der Neuzeit nicht zu einem bündischen Staatsgebilde, die Stände unterlagen. Für eine Folge- und Fernwirkung stärkerer ständischer Institutionen in die Richtung des modernen Parlamentarismus war in Österreich keine Chance. Einige Jahrzehnte schwacher Parlamentarismus können Jahrhunderte des starken Absolutismus nicht aufwiegen. Die Folge der ständischen Niederlagen war die absolutistische bürokratische Staatsbildung der Habsburger und damit die »Hofratsnation«. Damit kam es zu jenem »Vorwalten der Verwaltung«, zur »bürokratischen Hegemonie«, zur »Herrschaft der Mandarine«, die so sehr auch unsere Republik prägt. Die revolutionär-oppositionellen Strömungen des 18. Jahrhunderts waren für diese neue Staatsmacht harmlos. Es gab kein Bürgertum als Träger einer solchen Bewegung. Selbst in den höchstentwickelten Regionen waren nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung »Bürgertum«, also Kaufleute, Handwerker, Unternehmer, Intellektuelle. Das Moderne dieses Bürgertums, die Beamten und die privilegierten, nichtzünftischen Wirtschaftskapitäne waren überdies geradezu Schöpfungen des Absolutismus. Sie waren wegen ihrer Schwäche prinzipiell auf die Zentrale und ihre Bürokratie angewiesen. Die Reformperiode Maria Theresias und Josephs II. brachte als Revolution von oben den starken zentralistischen Staat. »Alles für das Volk, nichts durch das Volk  !« Die Reform- und Modernisierungsschübe lösten sukzessive die alten intermediären Gewalten auf und schufen den einheitlichen Untertanenverband. Der Absolutismus reduzierte den Feudalismus. Die Angst vor der Revolution führte vom Reformabsolutismus zum väterlichen Despotismus und zur Verstärkung der österreichischen Gesellschaftsordnung des Bürokratismus. Der kleinliche, mißtrauische, bewußt schlecht bezahlte Beamte und die Figur des Naderers auf der einen Seite und der seine kleinen Freiheiten im privaten Kreis, im Hause, im Beisel und im Kaffeehaus konsumierende Biedermeier auf der anderen Seite haben in uns mehr als Spuren hinterlassen. Die Revolution 1848, die vielleicht einzige Revolution von unten, verlangte vor allem die Aufhebung der Zensur und eine Konstitution, damals noch ein magisches Wort. Sie war aber nicht nur regional und inhaltlich gespalten, durch nationale und soziale Divergenzen zersplittert, sie war auch im Zentrum 16

Freiheit in Österreich – eine Collage

führerlos. Sie wurde von der Konterrevolution, von Monarch und Militär niedergeschlagen. Diese Niederlage blieb im Unterbewußtsein. Die bäuerlichen Massen wurden zwar durch die Grundentlastung befreit. Aber sie waren für politische Partizipation und für das liberale Freiheitsgut zu wenig motivierbar, geschweige denn mobilisierbar. Sie konnten von den neuen privaten Freiheiten, von Privateigentum und Privatautonomie noch kaum erfolgreich Gebrauch machen. Sie waren auf die neue große Freiheit nicht vorbereitet. Sie brauchten Schutz und Schirm durch Autorität, Selbsthilfe und Staatshilfe. Die Arbeitermassen wiederum wurden auf Grund der bürgerlichen Freiheiten der Unternehmer ausgebeutet. Auch sie brauchten Schutz und Schirm durch Autoritäten, Selbsthilfe und Staatshilfe. Und so entwickelten sich langsam im Zuge der Liberalisierung der Gesellschaft und der Demokratisierung des Staates Agrarrecht, Arbeitsrecht, Sozialrecht und die sie dominierenden Großorganisationen. Der Gebrauch der Freiheiten und der Mißbrauch der Freiheiten führten aber zu die Massen entlastenden und gleichzeitig den einzelnen belastenden Freiheitsbeschränkungen und zu mehr Bürokratie. Das ist bis heute so geblieben. Wird eine Freiheit von einigen mißbraucht, so wird sie meist in der Folge für alle bürokratisch beschränkt. Staat, Großorganisationen und ihre Bürokratien sind nicht zuletzt aus diesem Grund immer größer geworden, und heute spricht man auf Grund der dichten und starren Organisation der Gesellschaft von Neofeudalismus. Eine historische Belastung der Freiheit in Österreich bedeutet es auch, daß überwiegend außenpolitische und militärische Niederlagen des Staates zu liberalen und demokratischen Zugeständnissen führten. Das Oktoberdiplom 1860, das Februarpatent 1861, vor allem die Dezemberverfassung 1867, die den bürgerlichen Rechtsstaat brachte, sind Beispiele dafür. Und erst der Untergang AltÖsterreichs 1918 brachte die demokratische Republik und die Freiheiten der Demokratie. Österreichs Aufstieg zum liberalen Rechtsstaat, zur Demokratie, zur Republik war auch das Ergebnis österreichischer Niederlagen. Die Freude über die Freiheit wurde so nicht lebendig. Auch die praktische Erfahrung mit den demokratischen Freiheiten in der Ersten Republik führte dazu, daß sie erst dann als großer und gemeinsamer Wert erkannt wurden, als sie verlorengegangen waren. Erst der Mißbrauch und der Verlust ließen erkennen, daß man von den demokratischen Freiheiten einen anderen Gebrauch machen muß als in der Ersten Republik. Wie stand man zum liberalen Erbe, zum Freiheitserbgut, das der Grundkonsens der demokratischen Republik hätte sein sollen  ? 17

Freiheit in Österreich – eine Collage

Ein Beispiel für viele  : Weil sich Sozialdemokraten und Christlichsoziale 1918 nicht auf einen neuen Katalog der Menschen- und Bürgerrechte einigen konnten, wurde zwar der vom Liberalismus geprägte Grundrechtskatalog von 1867 Bestandteil der Verfassung, aber er wurde ebensowenig Grundkonsens wie Demokratie und Verfassung überhaupt. Sie wurden in erster Linie Abwehrund Angriffswaffen im Kampf der beiden großen Lager gegeneinander. Das liberale Erbe und die demokratischen Einrichtungen wurden Mittel, um die Alleinherrschaft zu erlangen und/oder die Gefahr der Diktatur der anderen abzuwehren. Die Eroberung der Politik durch verbale und letztlich faktische Gewalt und der Kampf der Gesinnungen zerstörte die Gemeinschaft der Freiheit. Und wie stehen die Parteien heute zum liberalen Erbe  ? Paradigmatisch dürfte sein  : Seit 20 Jahren wird hinter verschlossenen Türen in bürokratischer Manier über einen neuen Freiheitskatalog verhandelt. Das, was jeden und alle angeht, nämlich die Freiheiten der Menschen in diesem Lande, wird unter Ausschluß der Öffentlichkeit und des Volkes »diskutiert«. Kann so das ererbte Freiheitserbgut von den Bürgern erworben werden, um es zu besitzen  ?

Die Rückverweisung des Menschen auf sich selbst und der demokratisierte Leviathan Unmittelbar nach dem Erlebnis autoritärer und totalitärer Regime stellte Heimito von Doderer 1946 fest, daß wir, unseres Rückhaltes verlustig, auf den Staat zugetaumelt seien  : »… und weil alle bald nur mehr weit aus dem Fenster gebeugt und mit Beziehung auf die Gasse zu leben vermochten, bei verlorener Eigenständigkeit des Alleinseins unfähig geworden, so legten sie gewissermaßen das Hauptteil ihres Gewichts auf den Staat, der ihnen Arbeit und Brot und Vergnügen schaffen sollte, und alles Erdenkliche noch, wie einen Ersatz für das verlorene Ich, ja eine Art Paradies auf Erden als ein en masse zu Erreichendes, bis das Politische zu einer Heilskategorie anschwoll, sich über alles andere erhob und sogar den Himmel säkularisierte.«

Doderer forderte damals die sanfte und stille »allmähliche Aufrichtung des Menschen, seine Wieder-Aufrichtung, bis da und dort immer mehr Einzelne beginnen, auf ihren eigenen Beinen zu stehen und am Ende gar ihre eigene Sprache zu reden statt eines vagen und unanschaulich gewordenen Heil-Idioms«. 18

Freiheit in Österreich – eine Collage

Die Rückbesinnung und Rückverweisung des Menschen auf sich selbst wäre, idealistisch gesehen, die eigentliche Notstands-Arbeit des Staates hier und jetzt  : Das forderte Doderer vor bald 40 Jahren. Der Staat könne damit beginnen, alles sorgfältig zu vermeiden, was die bereitliegenden Bahnungen des Massen-Daseins nur irgendwieder in Erinnerung oder gar in Schuß zu bringen vermöchte. Er fordert vom Staat ein allmähliches und fast unmerkliches Aufgeben vom Kompetenzen – freilich, ohne daß das irgendwo offiziell proklamiert würde –, »indem man all diesen Menschen, die heut’ in jeder Angelegenheit zunächst einmal nach der zuständigen Stelle und nach der Vorschrift fragen (so haben sie sich selbst hergerichtet und so hat man sie noch extra zugeritten), da und dort eine milde Zurückweisung auf sich selbst, auf ihre eigene Entschlußkraft, Kompetenz und Verantwortlichkeit erteilte.« Doderer blieb aktuell. Allzu stark wirken das altösterreichische Streben nach Sicherheit und die große Kontinuität von einem großen bürokratisch regierten Reiche fort. Und vielleicht weil wir in einer Welt immer komplizierter werdender Ungewißheit leben, wurde immer größere Sicherheit gefordert. Damit wurde die Abhängigkeit von Parteien, von Bund und Verbänden, von Ländern, Gemeinden, Sozialversicherungsträgern, Kammern und anderen Rechtsträgern – vom Staat im weitesten Sinn – immer wieder und immer mehr mehrheitlich legitimiert. Es entspricht der josephinischen Tradition unserer politischen Kultur und der Hegemonie der Bürokratie, die Befriedigung gesellschaftlicher und auch individueller Bedürfnisse von »oben«, von zentralen Autoritäten, vom »Staat« zu erwarten. Die staatliche Zentralgewalt hat die Agrar- und Feudalgesellschaft zur modernen Wirtschaftsgesellschaft geführt. Bauernbefreiung und Grundentlastung waren Folgen der Revolution 1848, aber »der Staat« befreite von Feudalbanden, »der Staat« modernisierte, über »den Staat« wurde schließlich auch die soziale Frage gelöst, die durch den von ihm geförderten technischökonomischen Fortschritt produziert worden ist. Die etatistische und zentralistische Einstellung ist historisch-politisch erklärbar. Sie stammt vom Absolutismus. Der Demokratismus in Gestalt der Parteiendemokratie hat diese Einstellung noch verstärkt. Denn der Wettbewerb der Parteien um den Staat und zum Staat hat erst recht alle Erwartungen aller Schichten auf ihn gelenkt. Er wurde im Bewußtsein vieler zum Vehikel sozialer Gerechtigkeit. Die von den Parteien gelenkte etatistische Erwartungskultur hat zu immer mehr Ansprüchen und Abhängigkeiten immer mehr Schichten gegenüber dem Staat geführt.

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Freiheit in Österreich – eine Collage

Er wurde zum Mittel, um über die eigenen Verhältnisse leben zu können. Ökonomismus wurde zum Grundkonsens der Politik, die auf den Staat als größten Nehmer und Geber, Verteiler und Umverteiler zentriert wurde. Die Folgen sind nicht nur die »Ökonomokratie«, sondern auch die Vergesellschaftung des Staates durch die stärksten Interessengruppen, die Expansion des staatlichen Bereiches, die Bürokratisierung vieler Lebensbereiche. Die Verflechtungen und Verknüpfungen von Staat und Gesellschaft sind unüberschaubar und undurchsichtig geworden. Mit dem Wirtschaftswachstum ist der Staat im weiteren Sinn gewachsen, der immer mehr Bedürfnisse befriedigen muß, die von der Politik miterzeugt werden. Die Durchrechtlichung und Durchstaatlichung der Gesellschaft ist so groß geworden, daß Initiativen und Aktivitäten gehemmt sind. Fast jede Innovation braucht Interventionen, Protektionen, Konzessionen, Subventionen. Es besteht in vielen Bereichen eine von Staat und Recht blockierte Gesellschaft, in der man Freiheit nicht zuletzt deshalb wenig fühlt, weil man sich gar nicht mehr zurechtfindet und sich nicht rühren kann.

Die kleine Freiheit und ihre Gefährdung Ein Graffito an der Wand der Albertina in Wien spricht das Unbehagen aus  : »Seine Ketten spürt nur der, der sich bewegt.« Konsequenz  : Apathie gewährt dann die größte Freiheit. Konformismus gibt Sicherheit. Sicherheit ist Freiheit. »Die große Freiheit ist es nicht geworden, die kleine Freiheit – vielleicht  !« schrieb Erich Kästner 1951. Um diese kleine Freiheit beneiden uns viele Völker. Aber auch die kleine Freiheit verlangt geistige Unruhe und Bewegung, damit sie lebendig bleibt. Seit 1955 haben wir ununterbrochen mehr Freiheit und Wohlstand als die meisten anderen Staaten der Erde. Aber wir müssen auch im Inneren selbständig und unabhängig werden, auf eigenen Füßen stehen und gehen lernen, nicht nur im eigenen Stall oder Stamm, nicht nur im kleinen Kreis, sondern in der großen Gesellschaft und in der Öffentlichkeit. »Nur nix riskieren  ! Wenn du eine Ruhe gibst, kann dir nix passieren  !« Das ist leider noch immer eine Maxime der politischen Bildung der Praxis  : Sie erfuhren viele in den vielen Familien, in denen Engagierte von staatlich Engagierten verfolgt worden sind. Der Gebrauch der Freiheit ist mehr Existenzrisiko als Vermehrung von Lebenschancen – das ist eine österreichische Lebenserfahrung. 20

Freiheit in Österreich – eine Collage

Daher denkt man sich seinen Teil und läßt die anderen reden. Umso mehr kann man über sie schimpfen. Studien der letzten Jahre über die politische Beteiligung und den Wertewandel der Österreicher im internationalen Vergleich weisen und den höchsten Prozentsatz an Inaktiven und Konformisten zu und den geringsten an Reformisten, Aktivisten und Protestierenden. Der Rückzug in die persönliche Privatsphäre, vielleicht in ein Ökobiedermeier, ist das verwunderlich  ? Solange die kleinen Freiheiten unangetastet bleiben, kann die große Freiheit ruhig durch den Staat im weitesten Sinn beschränkt werden. Solange der Staat Sicherheit und Service bietet, ohne in die unmittelbare, engere Privatsphäre einzugreifen, akzeptiert man fast alles. Das schließt kritische Distanz, ja Mißtrauen im konkreten Verhältnis zwischen Bürger und Bürokratie durchaus ein. Das Unbehagen an der Bürokratisierung der Gesellschaft und des kleinen Alltags steigt. Der Staat im weitesten Sinn kostet die Bürger immer mehr, Eingriffe und Zugriffe der öffentlichen Hand nehmen spürbar zu und weg, die Befriedigung der Sicherheitsbedürfnisse durch sie in der Zukunft wird schon bezweifelt, die bürokratische Hegemonie erzeugt selbst Unsicherheit durch die komplizierte Amtssprache, Formulare, Vorschriften, Zuständigkeiten, Verfahrens- und Verhaltensweisen. Die beamtenhierarchische Nation wird gegenüber dem Pluralismus ihrer Bürokratien umso skeptischer, je mehr die kleine Freiheit und ihre materiellen Grundlagen gefährdet sind. Mündige Bürger brauchen keinen Führer. »Grown ups do not need leaders«, lehrt Karl Popper. Aber immer wieder geistert durch die Meinungsbefragungen das Bedürfnis nach dem starken Mann. Zu viele sind Untertanen geblieben. Die Monarchie und manches andere haben sich auch in unserer Republik fortgesetzt. Man braucht nur an die vielen kleinen Monarchen und ihre Klientel zu denken, an die Einstellungen zur Politik, die man als pluralistische Untertanenmentalität charakterisieren könnte. Republik ist nicht einfach. Sie ist nicht einfach Nicht-Monarchie. Sie verlangt »Mut zum aufrechten Gang«. Sie lebt nicht von ihren Führern, sondern von ihren Bürgern. Noch immer fehlen die schönsten Bestimmungen unseres Rechts, die Selbstbestimmungen, im Bewußtsein, das Selbstbewußtsein  : »Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist daher als eine Person zu betrachten …« (§ 16 ABGB)

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Freiheit in Österreich – eine Collage

und »Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus« (Art. 1 B-VG).

»Subjekt«, »Individuum«, »Person« – schon noch in unserer Umgangssprache werden diese Worte abwertend gebraucht. Wann haben sie im Alltag jenen hohen Wert, der ihnen im Christentum und nach dem liberalen Erbe zukommt  ?

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Erinnerung an die vergessene Revolution 1848 (2008)

In der Revolution 1848 brachen im größten Staat Europas nach Russland zwei große und komplexe Fragen auf  : soziale und nationale. Die meisten Menschen waren in dieser Zeit noch in der Landwirtschaft tätig. Die Grundherrschaft lastete vielfach auf ihnen. Der Feudalismus wurde aber schon vom Kapitalismus abgelöst. Die Industrialisierung führte zum Anwachsen der Städte und zum Industrieproletariat. Das Bürgertum hatte bereits wirtschaftliche Rechte, von der Politik aber war es ausgeschlossen. Aufstrebende Bürgerschichten und vorherrschende Adelsgruppen standen sich gegenüber. In der Revolution trafen sich daher unterschiedliche Interessen und Ziele  : die bürgerliche Verfassungsbewegung, Bauernrevolten, Protestwelle des Proletariats, nationale Befreiungsbewegungen, Emazipationsbestrebungen. Der zündende Funke war die Nachricht von der Februarrevolution in Paris. Am 13. März wollten Studenten und Bürger in Wien den zusammentretenden niederösterreichischen Ständen Petitionen um eine Konstitution und Pressefreiheit überreichen. Von den Ständen, die im Landhaus in der Herrengasse tagten, sollten die Petitionen an die Hofburg weitergehen. Dazu kamen Handwerker und Arbeiter. Demonstranten drangen in den Sitzungssaal ein. Es kam zum Militäreinsatz und zu einem Blutbad. Es gab Tote, die sogenannten Märzgefallenen. Metternich wurde vom Kaiser entlassen. Damit war ein Hauptziel erreicht. Denn die meisten Revolutionäre wollten das Metternich’sche System abschaffen, aber nicht den Kaiser. Sie erwarteten sich von ihm sogar die Erfüllung ihrer Forderungen nach einer Konstitution und Freiheit im Staat. Die Unzufriedenheit der Nationalitäten unter dem repressiven System Metternichs führte zum Aufstand der Völker, aber nicht zur politischen Forderung nach einem solidarischen Völkerbund oder nach einer demokratischen Republik aller Völker. So gelang es der Krone und ihren Anhängern, durch eine Politik des Auseinanderdividierens der Nationalitäten und Gesellschaftsschichten und mit besonderen Koalitionen die Revolution zu schwächen. Durch diese Politik des 23

Erinnerung an die vergessene Revolution 1848

divide et impera und mithilfe des Militärs wurde der Aufstand der Völker und Klassen schließlich niedergeschlagen. Nachdem Kaiser Ferdinand am 15. März eine Verfassung verheißen hatte, wurde am 25. April die sogenannte Pillersdorf ’sche Verfassung veröffentlicht. Gegen das beschränkte Wahlrecht protestierten vor allem die Studenten. Am 15. Mai kam es zur Sturmpetition, mit der ein allgemeines Wahlrecht erzwungen wurde. Am 30. Mai erging die neue Wahlordnung. Schließlich konstituierte sich am 10. Juli der erste frei gewählte Reichstag. Am 22. Juli wurde er von Erzherzog Johann als Vertreter des Kaisers in der Winterreitschule der Hofburg eröffnet. Am. 26. Juli stellte der Abgeordnete Hans Kudlich, ein 25-jähriger Bauernsohn und Student der Rechte aus Mähren, den Antrag  : »Von nun an ist das Untertänigkeitsverhältnis samt allen daraus entspringenden Rechten und Pflichten aufgehoben, vorbehaltlich der Bestimmungen, ob und wie eine Entschädigung zu leisten sei.« Er sprach vom langen, mühsamen Kampf um Menschenrechte und nannte die Aufhebung der Untertänigkeit die »Thronrede des österreichischen Volkes«. Der Antrag wurde in veränderter Version mit überwältigender Mehrheit angenommen. Am 7. September wurde das Grundentlastungsgesetz vom Kaiser sanktioniert. Wegen der Oktoberrevolution in Wien wurde der Reichstag nach Kremsier in Mähren verlegt. Dort entwickelte er ein Verfassungswerk. Es beruht auf der Theorie der Volkssouveränität. Dementsprechend heißt es im Katalog der Grundrechte des österreichischen Volkes im § 1  : »Alle Staatsgewalten gehen vom Volke aus und werden auf die in der Konstitution festgesetzten Weise ausgeübt.« Damit ist Art. 1 B-VG  : »Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus«, vorweggenommen. Die dem Kaiser zustehenden Rechte werden als durch die Verfassung festgesetzte Zuständigkeiten erklärt. Damit ist das Volk die Quelle aller Staatsgewalten. Ihre Ausübung wird durch die Verfassung nach Gegenstand und Raum für die Staatsorgane begrenzt. Der Kaiser wird Organ der vom Volk beschlossenen Verfassung. Dagegen verkündete schon das Thronbesteigungspatent Franz Josephs vom 2. Dezember die monarchische Souveränität. Unter einer Krone steht die Gesamtmonarchie als der eine große Staatskörper. Der Monarch ist bereit, seine Rechte mit den Vertretern der Völker zu teilen. Das bedeutet ein Teilen und Herrschen des Monarchen über die Völker und nicht ein Herrschen des Volkes, das durch die Verfassung Gewalten teilt und zuteilt. Die Grundrechte waren ein Hohelied der Freiheit. Die Militärmachthaber konnten das nicht akzeptieren. Die kaiserlichen Armeen schlugen die Revolution mit Gewalt nieder. Die tatsächlichen Machtverhältnisse bestimmten die Rechtsverhältnisse. Die Antwort 24

Erinnerung an die vergessene Revolution 1848

auf den § 1 der Grundrechte des österreichischen Volkes war die oktroyierte Verfassung vom 4. März 1849, die sogenannte oktroyierte Märzverfassung  : »Wir verkünden danach unter heutigem Tage die Verfassungsurkunde für das einige und unteilbare Kaisertum Österreich, schließen hiedurch die Versammlung des Reichstages zu Kremsier, lösen denselben auf und verordnen, dass dessen Mitglieder sofort nach Veröffentlichung dieses Beschlusses auseinandergehen.« Der Kaiser erklärt mit dem Missbrauch einer falsch verstandenen Freiheit ein Ende zu machen  : »Diesen Missbrauche zu steuern, die Revolution zu schließen, ist unsere Pflicht und unser Wille.« So beendete Franz Joseph die Revolution. Der zweite Teil des Kremsier-Entwurfes, »die Konstitutionsurkunde für die österreichischen Staaten«, bestimmte Österreich als »unteilbare konstitutionelle Erbmonarchie«, wobei die Länder des »Kaiserreiches« als gleichberechtigt und autonom erklärt wurden. Insgesamt enthält der Kremsier-Verfassungsentwurf vieles, was im B-VG seine Ausgestaltung erfuhr. Dazu gehören vor allem die Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und Föderalismus. Sie sind als Formen der politischen Freiheit vom und im Staat 1848 in die österreichische Geschichte eingetreten. Der Föderalismus war schon im Mittelalter vorgeformt. Nach dem Kremsier-Entwurf waren Gesetzgebung und Vollziehung auf Reich und Länder aufgeteilt und diese durch eine von ihnen beschickte Kammer an der Reichsgesetzgebung beteiligt. Es war ein unitarischer Bundesstaat  : Die wichtigsten und meisten Zuständigkeiten waren dem zentralen System zugewiesen. Im Zweifel war überhaupt die Zentralgewalt zuständig. Schon damals waren die Länder von der Gerichtsbarkeit ausgeschlossen. Hinsichtlich der Bestellung der Volkskammer und der Länderkammer ist das Zweikammersystem in beiden Verfassungen gleichartig, hinsichtlich ihrer Stellung im Gesetzgebungsverfahren unterschiedlich. Hier war der Kremsier-Entwurf länderfreundlicher als das B-VG und machte zu jedem Beschluss des Gesamtparlaments einen übereinstimmenden beider Kammern erforderlich. Das Einkammersystem in den Ländern ist dagegen ähnlich wie heute gestaltet  ; die Abgeordneten der Landtage sind nach der Volks- bzw. Bürgerzahl zu wählen. Das Wahlrecht ist wie heute nach einheitlichen Grundsätzen gestaltet. Schließlich sind die Länder wie im B-VG hinsichtlich ihrer Verfassung nur an die durch die gesamtstaatliche Verfassung aufgestellten Schranken gebunden. Beide Verfassungen räumen im Übrigen dem Staatsoberhaupt sowohl das Recht zur Auflösung des Zentralparlaments als auch zur Auflösung der Landtage ein. In beiden Verfassungen ist ein Vollzugsföderalismus festgelegt. 25

Erinnerung an die vergessene Revolution 1848

Auch die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts war unitarisch und zentralisiert wie im B-VG. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Verfassungsgerichtsbarkeit sind in beiden Verfassungen ähnlich ausgestaltet, allerdings bestehen hinsichtlich der Normenkontrolle nur Ansätze beim Reichsgericht. Der Kremsier-Entwurf – diesbezüglich der EU-Verfassung ähnlich – wollte eine Vielvölkergemeinschaft zur Einheit in der Vielfalt bringen. Es ging vor allem um die Berücksichtigung der Nationalitäten. Das Nationalitätenproblem sollte durch die Einrichtung national möglichst einheitlich abgegrenzter Kreise in den von mehreren Volksstämmen bewohnten Ländern gelöst werden. Die Berücksichtigung der Nationalitäten bei Bildung der Landtagswahlbezirke, vor allem aber durch die Aufstellung nationaler Schiedsgerichte in den Ländern von gemischter Nationalität wurde als zukunftsführender Weg gesehen. Der Kremsier-Entwurf wollte einen monarchischen Bundesstaat schaffen. Das Regierungssystem des Reiches war dem Kaiser als Oberhaupt des Gesamtstaates, das Regierungssystem der Länder dem Kaiser als Oberhaupt des einzelnen Landes zugedacht. Die Funktion als Reichsoberhaupt sollte sich aus der Stellung als Oberhaupt der einzelnen Länder ergeben. Damit wäre der monarchische, unitarische Bundesstaat Österreich in seiner Art einmalig, dem republikanischen, föderalistischen Bundesstaat USA gegenübergestanden. Der KremsierEntwurf scheiterte an den tatsächlichen Machtverhältnissen. Die Souveränität des Volkes und der Verfassung musste der Macht des Kaisers und des Militärs weichen. Bis 1918 blieb der Kaiser »geheiligt, unverletzlich und unverantwortlich« und formell Träger aller drei Staatsgewalten. Die Revolution 1848 ist nicht in die Tradition der demokratischen Republik Österreich eingegangen. Wenn es auch keinen Revolutionspatriotismus gibt, so hat sich doch die Revolution in unserer Verfassung durchgesetzt. Da es keinen Revolutionspatriotismus gibt, gibt es auch keinen Verfassungspatriotismus. Das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 (B-VG) ist immerhin unter den Verfassungen Europas eines der ältesten. Es brachte in mancher Weise die Revolution von 1848 zu einem normativen Abschluss. Es drückt in seinen Spielregeln die politische Freiheit als politischen Grundkonsens rechtlich aus. Es vermittelt als Grundordnung des Gemeinwesens Identität und Kontinuität. Aus der politischen Verlassenschaft der Revolution 1848 hat das B-VG verpflichtendes Freiheitserbgut gemacht. Und wenn wir zum Radetzkymarsch klatschen, sollten wir wissen, dass das kein Revolutions- oder Konstitutionsmarsch war, sondern ein Marsch zu Ehren des kaiserlichen Feldmarschalls, der als Sieger von Custozza die Revolution in Italien niedergeschlagen hat. 26

Mobilisierung der Christen (1968)

… Die große Stunde der christlichen Demokratie schlug in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Christliche Parteien, die sich in bewußtem Gegensatz zu ihren Vorgängern vor dem Zweiten Weltkrieg »demokratisch« nannten, etablierten sich als neue, prägende politische Kräfte. Der Aufbau eines neuen Europa stand in ihrem Zeichen, Initiativen für ein Vereintes Europa gingen von ihnen aus, sie bildeten den Damm gegen die kommunistische Flut, sie brachten große Staatsmänner hervor. Heute stehen die christlich-demokratischen Parteien in einer problematischen Phase. Waren zwei Jahrzehnte Verantwortung für die europäische Nachkriegspolitik zu viel  ? Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems hat die christlich-demokratischen Parteien nicht verschont. Aus Weltanschauungsparteien wurden Allerweltsparteien. Der Versuch, »sich die Massen geistig und moralisch einzugliedern« (Kirchheimer) wird aufgegeben  ; die »ideologische Durchdringung wird einer weiteren Ausstrahlung und einem rascheren Wahlerfolg geopfert«. … Das christlich-demokratische Heldenzeitalter scheint vorbei zu sein. Den Nachfolgern fehlt der Mythos von Partei- und Staatsgründern. Dieser personellen Ernüchterung entspricht der Pragmatismus und Praktizismus in der Politik. Diese ist vor allem Wirtschafts- und Sozialpolitik und steht in der pluralitären Demokratie im Zeichen der Großverbände, in deren Dienst die Parteien zumindest in diesem Bereich stehen. Die sogenannte Entideologisierung läuft synchron mit der Distanzierung der Kirche von der Verbindung mit einer Partei. Die Kirche kann längst nicht mehr mit irgendwelchen Parteien identifiziert werden oder sich identifizieren lassen  ; ihre Haltung zu Staat und Parteien hat sich geändert  ; der demokratische Sozialismus ist hoffähig geworden  ; der Wert der Koexistenz und des Dia27

Mobilisierung der Christen

logs mit dem Marxismus wird offiziell anerkannt, usw. Ist eine Mobilisierung der christlichen Demokratie unter diesen Vorzeichen nicht sinn- und aussichtslos  ? Was könnte sie sein  ? Welchen Auftrag hätte sie  ? *** Mobilisierung der christlichen Demokratie darf kein Rückfall in die Vergangenheit sein. Sie darf kein Rückzug sein  ; sie darf nicht bedeuten, sich hinter Wall und Graben zu verschanzen, sich in einem politischen Katholizismus als fester Burg einzuschließen, einen Kult abstrakter Prinzipien und Programme unter Unverständnis christlichen Geistes zu pflegen und die alte »in-group«Herrlichkeit in »out-group«-Feindschaften und Fehden, Ausfällen und Ausfälligkeiten abzureagieren. Mobilisierung der christlichen Demokratie soll ein »aperturismo« sein, ein Offenwerden gegenüber »den anderen«, ein befreiter, offener Katholizismus. Mobilisierung der christlichen Demokratie soll ein Sich-in-Bewegung-Setzen der Christen als Individuen in der Demokratie und für die Demokratie sein. Falsch wäre es, christliche Demokratie als Fahne oder Firmenschild zu benützen und vor sich herzutragen. Es besteht sie Gefahr, daß man sich dahinter versteckt und bloß mitmarschiert. Es geht nicht um Äußerlichkeiten, sondern um eine Verinnerlichung. Worum es den Christen als großes Ziel gehen soll ist, daß wir die Wirklichkeit Christi auch im Alltag der Demokratie wahrnehmen. Ferdinand Ebner spricht von der Wirklichkeit, in der Christus als leuchtendes, wärmendes, lebenspendendes Licht uns entgegenstrahlt, in der Geistigkeit und Menschlichkeit sich finden und in der Gott dem Menschen sich geoffenbart hat, indem sie uns den Menschen offenbarte. Freilich ist zu diesem Ziel große Erziehungs- und Selbsterziehungsarbeit zu leisten. Ansätze, Kristallisationspunkte sind vorhanden. Was im Kleinen und in der Stille geschieht, ist tröstlich. … Nahziel sollte das »aggiornamento« unseres demokratischen Gemeinwesens und unseres politischen Lebens sein, die Befreiung von Beständen unbewältigter Vergangenheit und Gegenwart, die Aufhebung vieler »Frageverbote«. Die Christen sind aufgerufen (und das muß besonders für unsere Republik gelten), ein inter- und vor allem ein intraparteiliches »aggiornamento« einzuleiten. Mauern von Vorurteilen, Berge von Mißtrauen wären abzutragen, insbesondere auf mittlerer und unterer Apparat- und Funktionärsebene. Viel28

Mobilisierung der Christen

leicht hätte ein solches »Heutigwerden« auch Ausstrahlungen auf Mitglieder und Wähler. Das Sich-in-Bewegung-Setzen der Christen kann innerhalb und außerhalb der politischen Parteien vollzogen werden. Als Engagement innerhalb einer politischen Partei könnte es zu einer erneuerten, ja zu einer neuen christlichen Demokratie kommen. Eine realistische Betrachtung wird für dieses Ziel in Österreich mehr Chancen in der ÖVP sehen als in anderen Parteien. Doch es geht bei der Mobilisierung der christlichen Demokratie primär nicht um Fragen der Organisation, sondern des Bewußtseins, um die Bewußtseinswerdung der Freiheit und Verantwortung des Christenmenschen. Das verlangt eine Metanoia des Geistes und der Sprache. Da im Bereich der Politik die Verhaltensweisen nicht schon im kindlichen Sozialisationsprozeß gebildet werden, sondern erst mit dem Eintritt in den Prozeß der politischen Sozialisation, wäre ein Umlernprozeß möglich. Dieser Prozeß müsste einerseits von jungen Menschen getragen werden, andererseits müßte er in »Schüben« in die politischen Institutionen getragen werden, da der einzelne Homo novus beim Eintritt in elitäre Machtschichten erfahrungsgemäß einem Anpassungs- und Umwandlungsprozeß unterworfen ist, der im Ergebnis den Status quo des Denkens eher stärkt als verändert. Doch ist der einzelne herausgefordert und er trägt die Verantwortung. Auf ihn kommt es an. In diesem Zusammenhang wäre etwas über die Präsenz christlichen Geistes in unserem politischen Stil und in unseren politischen Umgangsformen zu sagen. Wir neigen leider dazu, uns zu sehr mit abstrakten Problemen zu beschäftigen. So interessieren wir uns oft mehr für die Perfektionierung unserer Institutionen als für die konkreten Menschen, die in diesen Institutionen leben. Hier wäre mehr christlicher Wirklichkeitssinn, mehr Liebe nötig. Politik, die von »mobilisierten« Christen getragen wird, muß primär als Ethik, nicht als Technik entworfen werden. Das fordert Opferbereitschaft, Wahrheit und Redlichkeit im politischen Raum, personsgebundene und personsbewußte Verantwortung, mehr effektive Kontrolle der Machtträger, mehr Klugheit und Arglosigkeit, mehr Freundschaft und liebevolle Begegnung, mehr Kommunikationsfreudigkeit, mehr Erziehung zu politischem Verantwortungsbewußtsein, zu politischer Urteils- und Entscheidungsfähigkeit und vor allem mehr Bewußtseinswerdung der Freiheit. Nur dann kann demokratisches, christliches Klima entstehen, nur dann kann die Entfremdung zwischen Institution und Individuum, zwischen Machtträgern und Bürgern vermieden werden. 29

Demokratische Demokratie-Reform (1969)

I. Demokratiereform ist heute ein Schlagwort, dessen sich alle politischen Richtungen bedienen. Dem »kleinen Mann«, auf dem die Demokratie als Herrschaftsform aufgebaut ist, auf den sie ihrer Idee nach baut, muß aber die Reform erst nahegebracht werden. Hier bedarf es großer Aufklärungsarbeit von allen Beteiligten. Denn wenn der einzelne den Reformen kein Verständnis und kein Vertrauen entgegenbringt, wäre die Demokratiereform keine demokratische Reform. Wie soll also reformiert werden  ? Reformen in einer Demokratie können nicht ohne einen Konsens der Mehrheit der Bevölkerung vor sich gehen. Die Bevölkerung wäre zunächst über die Reformbedürftigkeit unserer politischen Institutionen aufzuklären. Nur dann kann auch mit der Bereitschaft der Bevölkerung zur Reform, mit einer »geistigen Reform«, mit einer »metanoia«, gerechnet werden. Daher gilt das Prinzip  : keine Reform hinter verschlossenen Türen. Zunächst wäre für unsere politischen Institutionen eine Diagnose zu stellen. Diese Diagnose muß der Bevölkerung die Probleme bewußt machen. Dem einzelnen müssen die Reformnotwendigkeiten und Reformmöglichkeiten dargelegt werden. Nur dann werden auch Verständnis und Bereitschaft für die Reform bestehen. Dann erst soll zur Diskussion aufgerufen werden, in kleinen ad hoc gebildeten Gruppen, in den Diskussionsforen von Vereinen, Verbänden, Parteien usw. Impulse neuer Aktivitäten können nur von einzelnen, von kleinen Gruppen ausgehen, die nicht vom Gesetz der großen Zahl beherrscht sind. Von kleinen Arbeitsgemeinschaften und Teams können neue Ideen, neue Wege, neue Initiativen kommen. Diese kleinen Gemeinschaften können Zellen der Demokratiereform sein, wo sich vor allem die zur politischen Verantwortung erwachte und erwachsene Jugend bewähren könnte. Hier liegen auch die Aufgaben der 31

Demokratische Demokratie-Reform

Massenmedien. Die Massenmedien müssen die Diskussionsergebnisse in das Bewußtsein der Öffentlichkeit umsetzen. Nur dann kann die Reform der Demokratie auch eine demokratische Reform werden. Die demokratischen Institutionen, insbesondere Parteien und Verbände, dürfen nicht in den Geruch kommen, den Status quo der Herrschaftsstruktur vor Reformen zu bewahren, sondern sollten den Ansatz dafür bieten, den Status quo progressiv zu verändern. In ihnen muß das Prinzip der permanenten politischen Diskussion gelten. Neue politische Ideen, Aktionen und Alternativen müssen vor allem in die Parteien hineinkommen. Sie müssen dafür aufgeschlossen und geistig offen sein. Die Parteien müssen sich aus dem Prozeß der Entideologisierung und Entpolitisierung und von der Beschränkung auf Personal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik befreien und wieder »politische« Institutionen werden.

II. Die Frage, was reformiert werden soll, kann hier nicht annähernd beantwortet werden. Es sollen hier nur einige Probleme kurz aufgeworfen werden  :

Wahlreform Die Vor- und Nachteile des Mehrheitswahlrechtes und des Verhältniswahlrechts müßten neu überdacht werden. Wir müssen uns endlich darüber klar werden, ob wir eine parlamentarische Regierungsweise als alternative Regierungsweise ohne Koalitionszwang haben wollen oder nicht. Halten wir im Prinzip eine Einparteienregierung durch die siegreiche der beiden Großparteien und die Übernahme der Oppositionsaufgabe durch die unterlegene zweite große Partei für die uns adäquate Regierungsweise, so müssen wir uns nach allen bisherigen Erfahrungen für das Mehrheitswahlsystem entscheiden oder für ein mehrheitsförderndes Proporzwahlrecht. Die Vorschläge über neue Mittel und Wege, den einzelnen Wähler aktiver in den Wahlprozeß einzuschalten, sollten nicht untergehen. Dem einzelnen Wähler sollte die Möglichkeit gegeben werden, jene Kandidaten, die er als die besseren und besten ansieht, selbst auf dem Stimmzettel dem Namen und der Reihenfolge nach einzusetzen. Der Wähler hätte »seine« Kandidaten in der Anzahl der zu vergebenden Mandate auf den Stimmzettel zu schreiben. Nicht die Partei, sondern 32

Demokratische Demokratie-Reform

der einzelne Wähler hätte damit definitiv die Abgeordneten zu bestimmen, der einzelne Wähler müßte mehr nach politischem Wissen und Gewissen entscheiden. Eines ist sicher  : Diese Art der Wahl wäre unbequem. Aber die Demokratie ist eine unbequeme Herrschaftsform oder besser  : keine Herrschaftsform für bequeme Staatsbürger. Die Möglichkeit des »Streichens« soll verbessert werden.

Reform des Parlamentarismus Zunächst muß man sich darüber klar werden, welche Funktionen das Parlament heute erfüllen soll. Soll das Parlament Legislative im traditionellen Sinn bleiben  ? Soll es einerseits, verkörpert durch die Mehrheitsfraktion, Ausführungsorgan der Regierungsinitiativen, andererseits, verkörpert durch die Opposition, Kontrollorgan sein  ? Soll es ein Organ der Öffentlichkeit sein, mit dem Schwergewicht der parlamentarischen Auseinandersetzung im Plenum, soll das Schwergewicht der parlamentarischen Auseinandersetzung endgültig in die Ausschüsse verlegt werden  ? Sollen die Ausschüsse öffentlich beraten  ? Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen  ? Mit diesen Fragen in Zusammenhang steht das Problem des Verhältnisses zwischen Parlament und Regierung. Bleibt die Gesetzgebung, besser gesagt, das letzte Wort im Gesetzgebungsprozeß weiterhin im bisherigen Ausmaß Sache des Parlaments, so besteht die Tendenz, daß diese »ratifizierende« Funktion des Parlaments hinsichtlich der Regierungsvorlagen seine politische Aufgabe und Aufsicht überwuchert. Vom rechtsstaatlichen und vom demokratischen Prinzip her wäre es vertretbar, der Regierung mehr Rechtssetzungsbefugnis zu übertragen, das Parlament dadurch zu entlasten und in seiner politischen Rolle und Kontrolle aufzuwerten. Vorschlag  : taxativer Katalog der Parlamentslegislative. Im übrigen Regierungsgesetzgebung. Wenn die »Regierungsgesetze« dieselben Anforderungen erfüllen, die heute an das vom Parlament beschlossene Gesetz gestellt werden (inhaltliche Bestimmtheit, Beachtung der Grundrechte und der Kompetenzverteilung, also Verfassungsmäßigkeit), und wenn die Normenkontrolle und der Rechtsschutz, insbesondere die Rechtsverfolgungsmöglichkeiten für den einzelnen entsprechend ausgebaut werden, so bestehen gegen diese Art der Gesetzgebung keine Bedenken. Die Stellung des Parlaments und des einzelnen Parlamentariers verlangen eine Anpassung an das 20. Jahrhundert, ebenso die Normen der Geschäftsordnung. Unser Parlamentarismus ist noch von Vorstellungen des 19. Jahrhunderts geprägt, was in verschiedenen Bestimmungen der Verfassung und des Geschäftsordnungs33

Demokratische Demokratie-Reform

gesetzes auch normativ zum Ausdruck kommt. Der Gegensatz von Staat und Gesellschaft, Monarch und Bürgertum, Exekutive und Legislative kommt noch zum Ausdruck, obwohl heute Regierung und Legislative zwei Maschinen sind, die vom selben Motor, der Mehrheitspartei, betrieben werden. Die mehrheitsbestimmten Kontrollrechte des Parlaments müssen in minderheitsbestimmte Kontrollrechte umgewandelt werden, da der Gegensatz zwischen Legislative und Exekutive durch den Gegensatz von Regierung und Opposition ersetzt worden ist. Die außerberufliche Immunität und das sogenannte freie Mandat müßten den Erfordernissen eines modernen Parlamentarismus angepaßt werden, die außerberufliche Immunität könnte überhaupt entfallen, das freie Mandat könnte auf die Tätigkeit des Abgeordneten in den Ausschüssen beschränkt werden. Das Parlament als solches, also nicht die Klubs, wäre mit unabhängigen wissenschaftlichen Institutionen zu umgeben. Den Abgeordneten müßten Assistenten und Schreibkräfte zur Verfügung stehen, ebenso eine umfangreiche Dokumentation (Datenbank, Computer). Eine allzu große »Gegenbürokratie« birgt allerdings die Gefahr einer Verbürokratisierung des Parlamentarismus in sich.

Politische Parteien Die Rechtsstellung der Parteien ist zu regeln – derzeit gelten sie als Vereine, ohne aber als Vereine eingerichtet zu sein. Die Parteien müssen ihrer tatsächlichen Bedeutung für die Demokratie entsprechend in die Verfassung als Träger der politischen Willensbildung eingebaut werden. Das Problem der Parteienfinanzierung wartet noch auf eine Lösung, die sowohl die Parteien als auch die Prinzipien der Demokratie und der Verfassung berücksichtigt. Die Vorarbeiten (da)für sind getan. Es fehlt aber die rechtliche Durchführung.

Ausbau der innerparteilichen und innerverbandlichen Demokratie Verbesserung der Stellung des Einzelnen in Parteien und Verbänden  : Ähnlich wie die staatliche Herrschaftsorganisation demokratisiert worden ist und dem einzelnen politische Rechte gewährleistet worden sind, müssen 34

Demokratische Demokratie-Reform

auch innerhalb der Partei- und Verbandsorganisationen dem einzelnen Mitglied besondere Rechte gegeben werden. Das einzelne Mitglied muß nicht nur frei und geheim wählen können, es müssen ihm auch darüber hinaus Mitspracherechte und Vorschlagsrechte in den Statuten eingeräumt werden. Die kritische Teilnahme und Teilhabe am Partei- und Verbandsleben muß garantiert werden, die offene Auseinandersetzung und Diskussionsfreiheit. Heute ist es erfahrungsgemäß oft nicht so wichtig, was sich außerhalb der Parteien abspielt, sondern was innerhalb der Parteien gespielt wird, welche Gruppen innerhalb der Partei zum Zuge kommen  : Reaktionäre und Progressive. Neben dem Ausbau der Rechte des einzelnen Partei- und Verbandsmitgliedes müssen auch die Rechte von Minderheiten ausgebaut werden. Minderheiten und einzelne müssen einen Rechtsschutz gegenüber administrativen Maßnahmen der Partei- und Verbandsorganisationen genießen. Die Parteien und Verbände sollten weniger auf passive Wähler als auf aktive Mitglieder Wert legen. Daher Aufruf an die Aktivbürger  : Nicht nur Kritik an den Parteien und Verbänden, sondern Kritik in den Parteien und Verbänden, nicht Opposition gegen Parteien und Verbände, sondern Opposition in den Parteien und Verbänden. Die Parteien und Verbände müssen insbesondere dem Bedürfnis der Jugend nach politischer Aktion und Beteiligung entgegenkommen. Stellung der Partei- und Verbandsfunktionäre, Verbesserung der Qualität und Auslese der Kandidaten für das Parlament  : Die Qualifikation der Funktionäre, die Wiederwählbarkeit und die Unvereinbarkeit von Funktionen. Die Zukunft der Demokratie hängt von der Erziehung zur Demokratie, von der Pflege des politischen Nachwuchses und von der Kandidatenauslese ab. Hier müßten in den Parteien und Verbänden organisatorische Vorkehrungen und Vorsorgen getroffen werden, sei es durch innverbandliche und innerparteiliche Schulungen und Prüfungen, sei es durch die Normierung der Unvereinbarkeit von Funktionen, sei es durch die Beschränkung der Wiederwählbarkeit auf zwei Funktionsperioden. Personalunionen können in gewissem Ausmaß zur Koordination von Interessen notwendig sein, im Übermaß führen sie zu Versteinerungs- und Erstarrungstendenzen. Wohlerworbene Rechte wollen nicht gerne aufgegeben werden. Wechselseitige Versicherungen garantieren den Status quo. Es kommt zur Ausschaltung von Innovations- und Initiativeffekten und zum Immobilismus im politischen Leben.

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Demokratische Demokratie-Reform

Regierungsreform Die Prinzipien der Regierungsstruktur (Ressortprinzip, Kollegialprinzip und Kanzlerprinzip) und ihr Verhältnis zueinander wären neu zu ordnen. Die Kompetenzverteilung zwischen Bundesregierung und Bundesminister wäre zu klären. Auch hier sind die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts normativ und auch im Bewußtsein versteinert. So dürfte das Ressortprinzip heute überholt sein. Die Institution des Bundeskanzlers wäre zu einem reinen Regierungs- und Koodinierungsorgan auszubauen. Der Bundeskanzler wäre dann nicht mehr Ressortminister, er wäre von administrativen Angelegenheiten befreit. Ihm wären die Konzeption und Koordination der Regierungspolitik sowie die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung mit Einschluß der Informations- und Dokumentationsangelegenheiten zuzuordnen. Darüber hinaus müßten gegenüber dem Ressortpartikularismus und -egoismus institutionelle Vorkehrungen getroffen werden. Moderne Führungstechniken müssen in den Bereich der Regierung eingeführt werden (Informationsaufbereitung, Planspiele, Öffentlichkeitsarbeit usw.). Es wird vorgeschlagen, eine Trennung von policy-planning und policy-execution, also von politisch-planerischen Aufgaben (Organisation und Verwaltungsplanung, Gesetzgebungsarbeit, Klarstellung von Grundsatzfragen) einerseits und administrativer, durchführender Tätigkeit (Gesetzesvollzug und Erledigung von Fachfragen) andererseits, in den einzelnen Ressorts zu vollziehen. Für die politisch-planerischen Aufgaben sollte das sogenannte Stabsystem als Organisationsprinzip eingeführt werden. Das würde bedeuten, daß die Mitglieder des Stabes außerhalb der Ministerialhierarchie und internen Ressorteinteilungen stehen. Den Gefahren der Stabsarbeit (Abkapselung, Isolierung, mangelnder Kontakt mit der »Linie«) ist dadurch zu begegnen, daß die Mitglieder des Stabes die normale Beamtenlaufbahn einige Zeit mitmachen und später wieder in die Laufbahn zurückkehren könnten. Es könnte auch dafür gesorgt werden, für die Aufgaben Berater heranzuziehen, die nur für das jeweilige Regierungsteam arbeiten und bei politischem Wechsel wieder aus dem Dienst ausscheiden. Das Schlagwort »modernisation of politics« soll hier als Stichwort für die Diskussion gegeben werden.

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Demokratie und Demokratisierung (1970)

Demokratisierung ist das Schlagwort unserer Tage, Demokratisierung ist die Forderung unserer Zeit. Nirgendwo wird diese Forderung vehementer gestellt als in den Demokratien westlicher Prägung. Die »Demokratisierung der Demokratie« durchzieht wie ein roter Faden politische Postulate und Programme der westlichen Welt. Der Ruf nach Demokratisierung der Demokratie klingt paradox. Aber es gereicht der westlichen Welt nicht zur Schande, wenn in ihr der Ruf nach Demokratisierung am lautesten erschallt. Denn dies beweist, daß gesellschaftspolitische Forderungen unter dieser Herrschaftsform wenigstens öffentlich artikuliert und diskutiert werden können, daß also die formell garantierten Grund- und Freiheitsrechte im großen und ganzen auch tatsächlicher lebendig sind. In diesem Sinn ist in der Demokratie westlicher Prägung mehr Freiheit als in Demokratien anderer Prägung, auch wenn man sonst zwischen den Herrschaftsformen in Ost und West weniger prinzipielle als graduelle Unterschiede sehen mag  : Dort Monopol, hier Oligopol der Machtausübung, dort Monopolisierung sozialer Entscheidungsprozesse durch eine homogene Elite, die – vom Volk formal bestätigt – den Herrschaftsapparat zentralistisch leitet, hier Konkurrenz zwischen Oligarchien, von denen jeweils eine – von der Mehrheit der Bevölkerung legitimiert – die Staatsleitung übernimmt, ohne daß aber die anderen von der Herrschaft ausgeschlossen sind  ; hier wie dort bürokratisch verfestigte und von sich reproduzierenden Eliten geleitete Herrschaftsapparate mit mehr oder weniger Mitbestimmung des Volkes. Sieht man im Status quo der Herrschaft und Hierarchie  – aus welchen Gründen immer  – eine Notwendigkeit und in der Verringerung politischer und sozialer Herrschaft eine soziale Utopie, so wird man Demokratisierung als sinnlos abtun, insbesondere in der Demokratisierung westlicher Prägung. Sieht man im Abbau politischer und sozialer Herrschaft und im Ausbau der Kontrolle der Herrschenden durch die Beherrschten, in der Verstärkung der Abhängigkeit der Herrschaftsträger durch die Herrschaftsunterworfenen eine realisierbare Alternative zum Status quo, so wird 37

Demokratie und Demokratisierung

man sich den Forderungen nach Demokratisierung nicht verschließen, sondern dafür aufgeschlossen sein. Man muß sie ernst nehmen. Gehen wir von der Idee der Demokratie aus. In ihr vereinigen sich nach den Worten Hans Kelsens zwei Postulate unserer praktischen Vernunft, drängen zwei Urinstinkte des geselligen Lebewesens nach Befriedigung. »Fürs erste die Reaktion gegen den aus dem gesellschaftlichen Zustande fließenden Zwang, der Protest gegen den fremden Willen, dem sich der eigene beugen muß, gegen die Qual der Heteronomie. Es ist die Natur selbst, die sich in der Forderung der Freiheit gegen die Gesellschaft aufbäumt.« Dabei wird erfahrungsgemäß die Heteronomie umso drückender empfunden, »je unmittelbarer im Menschen das primäre Gefühl des eigenen Wertes sich in der Ablehnung jedes Mehrwertes eines anderen äußert, je elementarer gerade dem Herrn, dem Befehlenden gegenüber das Erlebnis des zu Gehorsam Gezwungenen ist  : Er ist ein Mensch wie ich, wir sind gleich  ! Wo ist also sein Recht, mich zu beherrschen  ? So stellt sich die durchaus negative und tief innerst antiheroische Idee der Gleichheit in den Dienst der ebenso negativen Forderung der Freiheit.« Mit den Schlagworten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und den Forderungen nach Demokratie und Verfassung trat das Bürgertum 1789 und 1848 den Kampf gegen die alten Autoritäten an, gegen Monarchie, Kirche, Aristokratie usw. Die Emanzipation des Bürgertums von staatlicher, kirchlicher usw. Bevormundung und seine Partizipation am politischen Entscheidungsprozeß führte aber nicht zu einem Reich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Neue Herrscher und Herrschaftsformen etablierten sich. Die ökonomische Freiheit der einen führte durch die ökonomische Ungleichheit der anderen zur Herrschaft der einen über die anderen. Die alten bürgerlichen Revolutionen hatten keine Antwort auf die sozialen Fragen. Die Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg brachten wieder neue Herrscher und Herrschaftsformen. Die Parteien lösten das Herrscherhaus und die Aristokratie ab. In Österreich kam es zur Demokratisierung des Staates. Seit fünfzig Jahren ist Österreich eine demokratische Republik, seit 1918 gehen nach der Verfassung Recht und Staat vom Volk aus. Seit etwa 25 Jahren herrscht auch so etwas wie ein politischer Konsens bei den maßgebenden politischen Kräften.

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Demokratie und Demokratisierung

Welchen Sinn hat also die Forderung nach Demokratisierung ? Sie kann zunächst bedeuten, die Demokratie im Bereich der staatlichen Institutionen zu verbessern. Diese Art der Demokratisierung wird unter dem Schlagwort Demokratiereform angeboten. Diesbezüglich besteht weitgehender Konsens, wenn auch bis heute nur Ansätze einer Demokratiereform vorhanden sind und eine große Kluft zwischen Demokratiereform als Wort und Wirklichkeit besteht. Demokratisierung kann aber auch bedeuten, in anderen gesellschaftlichen Bereichen Demokratie zu etablieren. Hier scheiden sich die Geister. Die beiden Extremmeinungen lauten etwa  : Man könne das Demokratiemodell, nach dem die Staatsorganisation und die politische Willensbildung aufgebaut ist, nicht auf andere Bereiche der Gesellschaft übertragen, ja, die politische Demokratie funktioniere überhaupt nur dann, wenn man das demokratische Prinzip allein im Bereich des Staates i.e.S. verwirkliche. Die andere Extremmeinung geht dahin, in gesellschaftlichen Bereichen, in denen Macht ausgeübt wird  – und das sind praktisch alle – gleichgültig, ob sie als »privat« oder »öffentlich« anzusehen sind, z. B. also in Familie, Schule, Betrieb, Dienststelle usw., jede hierarchische Struktur und jede Ungleichheit abzubauen. Warum Demokratie im Sinne von Kontrolle der Herrscher durch die Beherrschten, Verantwortlichkeit und Abhängigkeit der Herrschaftsträger gegenüber den Herrschaftsunterworfenen und der Öffentlichkeit auf die staatliche Herrschaftsordnung beschränkt sein soll, ist nicht leicht einzusehen. Die Demokratisierung gesellschaftlicher Bereiche könnte soziale Energien freimachen, die dem Gemeinwesen zugute kommen können. Andererseits ist es unrealistisch zu glauben, daß man alle gesellschaftlichen Bereiche gleichschalten und alle Menschen tatsächlich gleichmachen kann. Das verhindern allein schon die Verschiedenheiten von Mensch und Mensch. Überdies ist es eine Erfahrungstatsache, daß selbst in demokratisch geordneten Sozialbereichen gewisse Ungleichheiten auf Grund der Arbeitsteilung und Rollenverteilung bestehen. Was aber realisierbar ist, ist ein Mehr an Freiheit, Gleichheit, Verantwortlichkeit, Öffentlichkeit in Machtbereichen, die sich außerhalb der staatlichen Institutionen i.e.S. befinden. Daß außerhalb und jenseits der staatlichen Institutionen gesellschaftliche Macht recht massiv ausgeübt wird und die Gruppen, die diese gesellschaftliche Macht in den Parteien, in den Verbänden, in der Wirtschaft usw. innehaben, zu einem großen Teil außerhalb offener Machtzuweisung, offener Machtkontrolle und offener Machtablöse stehen, wird man kaum leugnen können. Mag sein, daß dieser Zustand von der großen Mehrheit der Bevölkerung stillschweigend 39

Demokratie und Demokratisierung

hingenommen wird. Das bedeutet aber nicht, daß der einzelne diesem Zustand bewußt zustimmt. Es mangelt ihm möglicherweise an Einsicht in die eigene Interessenlage. Aber hier hätte die politische Aufklärung einzusetzen, um einerseits den Zustand der Fremdbestimmung und Fremdherrschaft und andererseits den eigenen Wert bewußt werden zu lassen. Soll sich unsere Demokratie asymptotisch einem Zustand nähern, der ihrer Idee nahekommt, nämlich der Beteiligung aller mündigen Menschen an aller gesellschaftlicher Machtausübung, soll unsere Demokratie eine soziale Machtverteilung werden, »welche alle für die soziale Machtausübung, die das Gemeinwohl berührt, verantwortlich macht und alle ermächtigt, diese Machtausübung zu überwachen und in sie einzugreifen, und zwar ohne andere Begrenzungen als die, welche das allgemeine Beste erforderlich macht« (Hans Kelsen), so müssen wir davon ausgehen, daß Demokratie nichts Fixes und Fertiges ist. Wir müssen einsehen, daß Demokratie nichts Gegebenes, sondern etwas Aufgegebenes ist. Wenn wir nicht immer nach mehr Demokratie streben, werden wir immer weniger Demokratie erleben.

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Demokratiereform und Gemeinden (1970)

Wer die Diskussion über die Demokratiereform in Österreich verfolgt, dem fällt auf, daß sie sich im wesentlichen auf den Bereich der Bundesebene (z.B. Wahlrechtsreform, Parlamentsreform) und auf Parteien und Verbände beschränkt. Der Bereich der Gemeinden ist ausgeklammert. Was als Kompliment gegen der Gemeindedemokratie gedeutet werden. Wahrscheinlicher aber ist, daß man die kleinste Territorialeinheit des Gemeinwesens vergessen hat. Geht man von der Theorie über die »grass roots«-Demokratie aus, d.h. von der Überzeugung, daß Demokratie im Sinne von möglichster Identität von Herrschern und Beherrschten überhaupt nur in kleinen Verbänden praktiziert werden kann, so müßte die Demokratiereform-Diskussion gerade bei der Gemeinde beginnen. Man hat im 19. Jahrhundert die Gemeindeselbstverwaltung den archimedischen Punkt des Rechtsstaates genannt. Wie steht es mit der Gemeinde im 20. Jahrhundert  ? Könnte man die den archimedischen Punkt der Demokratie nennen  ? Die Selbstverwaltung entstand bekanntlich aus einer spezifisch historischpolitischen Spannungslage. Der dualistischen Struktur Staat–Gesellschaft und dem politischen Kampf zwischen Bürgertum und absoluten Monarchen entspricht die Zweiteilung von monarchischer Staatsverwaltung und bürgerlicher Selbstverwaltung in Handelskammern und Gemeinden. Dabei entsprach die Selbstverwaltung österreichischer Prägung jener Idee der Selbstverwaltung, wonach die engeren Verbände innerhalb des Staates ihre Angelegenheiten möglichst unbeeinflußt von der Staatsverwaltung selbst verwalten. Das Bürgertum fand in der Selbstverwaltung ein Surrogat für die mangelnde Mitwirkung an der zentralen Staatswillensbildung, die lange Zeit der Monarch dominierte. Mehr als die Handelskammern waren die Gemeinden ein Teilersatz demokratischer Willensbildung, so daß das Engagement des Bürgertums für die Gemeinde­ selbstverwaltung, die im Gegensatz zur Staatsverwaltung demokratische Züge aufwies, verständlich ist. Als sich Ende der Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts das Bürgertum gegenüber dem Monarchen im Staat weitgehend durchgesetzt 41

Demokratiereform und Gemeinden

und im Parlament seine wichtigste Waffe zur Realisierung seiner politischen Wünsche gefunden hatte, ließ sein Interesse an der Gemeindeselbstverwaltung nach. Mit der Integration des Bürgertums im Staat verloren die Gemeinden den Charakter von Pflanzstätten der Demokratie. Die Gemeinden verwandelten sich aus progressiven, demokratischen zu konservativen, ja reaktionären Elementen. Während die Demokratisierung des Staates, insbesondere durch die Demokratisierung des Wahlrechts, fortschritt, blieb es bei den Gemeinden beim Status quo ante. Da das Wahlrecht nicht demokratisiert wurde, konnten auch die im Staate neu aufsteigenden Schichten, insbesondere die Arbeiterschaft, nicht für ein politisches Engagement in der Gemeinde gewonnen werden. Damit stand die Masse der Bevölkerung der Gemeindeselbstverwaltung interessenlos gegenüber. Der stolze, 1849 geprägte Grundsatz »Die Grundfeste des freien Staates ist die freie Gemeinde« war vergessen. Die Idee der Selbstverwaltung hat damals einen Schlag erlitten, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Erst 1919 wurde das Klassenwahlsystem abgeschafft und das Wahlrecht auf Gemeindeebene dem Wahlrecht auf Staatsebene angeglichen. Im übrigen blieb bekanntlich im Gemeindeverfassungsrecht alles beim alten. Die Monarchie setzte sich gewissermaßen in der Republik fort. Die Bundes-Verfassungsnovelle 1962 über die Gemeinden brachte Neuerungen. Sie brachte aber keinen Fortschritt hinsichtlich der gemeindlichen Selbstverwaltung und der Demokratisierung. Felix Ermacora hat schon 1963 festgestellt, daß durch die Gemeindeverfassungsnovelle 1962 der Rückschritt, den die gemeindliche Selbstverwaltung genommen hat, gesetzlich bestätigt wurde. Der Rückschritt bestehe vor allem in dem vollkommenen Abbau der Möglichkeit der Gemeinde, nach »freier Selbstbestimmung anzuordnen und zu verfügen« und in der Bindung jeglichen gemeindlichen Selbstverwaltungsaktes an die Bundes- und Landesgesetze. Die gemeindliche Selbstverwaltung wurde der Staatsverwaltung weitgehend assimiliert. In der Vorstellung der Staatsbürger wurde die Gemeinde vielfach zur untersten Instanz  ; kurz, die alte Spannungslage zwischen Staat und Gemeinde hat sich gewandelt. Gerade dieser Wandel aber fordert einen Ausbau der Demokratie auf Gemeindeebene. In der Bundesverfassung ist die Struktur der Gemeindedemokratie insofern präformiert, als einerseits bestimmt ist, welche Organe der Gemeinde »jedenfalls« vorzusehen sind (der Gemeinderat  – von den Wahlberechtigten der Gemeinde zu wählender allgemeiner Vertretungskörper  –, der Gemeindevorstand [Stadtrat] bzw. der Stadtsenat, der Bürgermeister), und andererseits das Wahlrecht in den Gemeinderat grundsätzlich 42

Demokratiereform und Gemeinden

geregelt ist. Außerdem wird der politische Proporz im Gemeindevorstand institutionalisiert  : Im Gemeinderat vertretene Wahlparteien haben nach Maßgabe ihrer Stärke Anspruch auf Vertretung im Gemeindevorstand. In den Gemeindeordnungen und Gemeindewahlordnungen werden diese Grundsätze wiederholt ausgeführt, ergänzt. Eine Durchsicht aller dieser Rechtsvorschriften ergibt, daß dem »Volk« in der Gemeinde relativ wenige Möglichkeiten der unmittelbaren Teilnahme und Teilhabe an der Gemeinderegierung offenstehen. Geht man davon aus, daß das Verhältnis von territorialer Größe und politischer Herrschaft die Gemeinde von allen Gebietskörperschaften am ehesten der direkten Demokratie zugänglich macht, so befremdet dies. Die österreichischen Gemeinden sind nicht plebiszitär, sondern repräsentativ organisierte politische Gemeinschaften. Damit wohnt ihnen wie allen repräsentativ organisierten Gemeinschaften die Gefahr inne, daß sie vom ehernen Gesetz der Oligarchie beherrscht werden, daß sich Cliquen bilden und daß Erstarrung im Machtprozeß eintritt. Kommt es zu solchen Erscheinungen, verliert die Gemeinde ihr Lebenselement  : das Interesse des Einzelnen an seiner unmittelbaren politischen, kulturellen, ökonomischen und sozialen Umwelt. Politische Entfremdung und politische Apathie darf aber gerade in der kleinsten Territorialeinheit des Gemeinwesens nicht eintreten, ist sie doch den Willensbekundungen, Wünschen und Interessen des Volkes zumindest potentiell am ehesten zugänglich. Diese Zugänglichkeit muß maximal genutzt werden. Sie muß in den Dienst der demokratischen Idee treten. Geht man davon aus, daß Demokratie nichts Fixes und Fertiges ist, sondern eine permanente Aufgabe mit dem Ziel, die Kontrolle der Herrschenden durch die Beherrschten auszubauen, die Abhängigkeit jener von diesen zu verstärken, politische und soziale Herrschaft abzubauen, so wird man versuchen müssen, neue Mittel und Wege zu finden, um das Volk aus Bevormundungen zu befreien. Auf Gemeindeebene bieten sich vor allem jene Verfahren der direkten Demokratie an, die als Korrektive repräsentativer Herrschaft bekannt sind. Als solche sind vor allem zu nennen  : Initiative, Referendum, Plebiszit und Abberufung. Sie sollten generell in alle Gemeindeordnungen Eingang finden. Auch könnte generell die unmittelbare Wahl des Bürgermeisters durch das Wählervolk der Gemeinde eingeführt werden. Im Zusammenhang damit könnte über eine Unvereinbarkeit von Bürgermeisteramt und Gemeinderatsmitgliedschaft diskutiert werden, um die Kontrolle des Bürgermeisters durch den allgemeinen Vertretungskörper der Gemeinde besonders zu gewährleisten. Öffentliche Hearings und Diskussionen können eingesetzt werden, um das kritische Engagement der 43

Demokratiereform und Gemeinden

Bevölkerung auf Gemeindeebene zu verstärken. Die Gemeinde bietet sich als Experimentierbereich für neue Wege der Demokratie geradezu an. Vielleicht könnte man mehr als bisher von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Die Stärkung der Gemeinde-Demokratie wird der österreichischen Demokratie ganz allgemein zugute kommen.

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Die Lehre von der Gewaltentrennung und das B-VG1 (1970)

Allgemeines Die Lehre von der Gewaltentrennung2 nimmt im »Esprit des lois« Montesquieus wenig Raum ein. Sie hat aber einen ungeheuren Einfluß auf Verfassungstheorie und Verfassungspraxis ausgeübt. Ihre Bedeutung hat sich geradezu zum Dogma verfestigt. Diese Dogmatisierung steht im Widerspruch zu Montesquieus Anliegen und zu seinem undogmatischen Denken. Aus der Erkenntnis, daß Macht nur durch Macht gehemmt werden kann, rechtspolitische Konsequenzen ziehend, verlangt Montesquieu eine Trennung der drei Staatsgewalten, um Freiheit zu gewährleisten.3 Er verbindet allerdings das rechtstechnische Prinzip der Gewaltentrennung, wonach die drei Staatsgewalten grundsätzlich voneinander getrennt und nur negativ untereinander verbunden sein sollen, sodaß die eine die andere hemmen kann, mit einem soziologischen Prinzip, mit dem Prinzip des Gleichgewichts der sozialen Kräfte. Gewaltentrennung fungiert nur dann als Instrument der Machtkontrolle, »wenn die drei Gewalten nicht bloß rechtlich und organisatorisch, sondern auch sozial geteilt sind, wenn verschiedene gesellschaftliche Gruppen die verschiedenen Gewalten beherrschen«.4 Die bedeutendsten sozialen Kräfte sollen in die staatlichen Institutionen entsprechend eingesetzt und in eine Balance gebracht werden dergestalt, daß Frei1 Das Manuskript ist im Feber 1970 abgeschlossen worden, Melichars Gutachten zu den Verhandlungen des 4. Österr. Juristentages ist daher ebensowenig berücksichtigt wie die politische Konstellation nach dem 1. März 1970. 2 Auf die oft vertretene terminologische Differenzierung zwischen Gewalten»teilung« und Gewalten»trennung« wird hier nicht eingegangen. Vgl. dazu etwa Loewenstein, Verfassungslehre2, 1969, S. 39 Anm. 15. 3 Freiheit bedeutet ihm, das tun zu können, was man wollen darf, und nicht gezwungen zu sein, zu tun, was man nicht wollen darf, also wie Voltaire formulierte, von nichts anderem abhängig zu sein als vom Gesetz. 4 Neumann, Montesquieu, in  : Demokratischer und autoritärer Staat, 1967, S. 181.

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Die Lehre von der Gewaltentrennung und das B-VG

heit und Sicherheit des einzelnen garantiert und politische Änderungen nur durch einmütiges Vorgehen der Beteiligten möglich sind. Das Montesquieusche Konzept der Kombination von Gewaltentrennung und soziopolitischer Infrastruktur wurde oft mißverstanden. Die Gewaltentrennung wurde zur säkularisierten Trinität, zum absoluten Dogma, zum Denkklischee, abgelöst und isoliert von der gesellschaftlichen Infrastruktur, nur organisationstechnisches Mittel ohne Bezug zur sozialen Realität.5 Freilich ist andererseits klargeworden, daß der Ausdruck »Trennung der Gewalten« nicht wörtlich verstanden werden darf. Das wäre sowohl theoretisch als auch praktisch unsinnig. Keine Verfassung der Welt verwirklicht eine Gewaltentrennung im wörtlichen Sinn. Gewaltentrennung wird heute überwiegend als System der Hemmungen und Gegengewichte und als System ausgleichender Kontrollen (»Balancemodell«), häufig auch als unbedingter Schutz gewisser Kernbereiche der Staatsgewalten (»Kernbereichsschutz«) verstanden.6 Zunehmend emanzipiert man sich von der Belastung durch die dogmatisierte Gewaltentrinität und postuliert die Befreiung der bleibenden Idee aus dem Prokrustesbett zeitbedingter Dogmatisierung. Der Blick öffnet sich für neue Konzeptionen  : »Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung.«7

Gewaltentrennung in Österreich Im 485 Seiten umfassenden »Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts«8, das noch immer für Studium und Praxis maßgebend ist, kommt der Begriff »Gewaltentrennung« nicht vor. Adamovich/Spanner befassen sich zwar mit der Trennung der Justiz von der Verwaltung (Art. 94 B-VG), meinen aber, daß sich dieser Grundsatz einzig und allein auf die Organisation der Behörden beziehe. Eine vom Inhaltlichen her bestimmte Trennung von Justiz und Verwaltung lehnen sie ab.9 Das Verhältnis Legislative–Exekutive wird unter dem Aspekt 5 Vgl. Wahlen, Institutionalisierte Opposition, in  : Die Furche 1967, Nr. 8, S. 4. 6 Zum Kernbereichsschutz und Balancegedanken vgl. insb. Leisner, Die quantitative Gewaltenteilung – Für ein neues Verständnis der Trennung der Gewalten, DÖV 1969, S. 405 ff. 7 So der Titel des Beitrages Kägis zur Festschrift für Hans Huber, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, 1961, S. 151 ff. 8 Adamovich, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts5, bearbeitet und ergänzt von Spanner, 1957. 9 Adamovich/Spanner, a.a.O., S. 209 ff.

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Die Lehre von der Gewaltentrennung und das B-VG

der Gewaltentrennung nicht behandelt. Auf S. 105 wird im Zusammenhang mit dem demokratischen Prinzip und der Mitwirkung des Bundesvolkes an der staatlichen Willensbildung lediglich festgestellt, daß die Republik Österreich »bis zur zweiten BV-Nov. von 1929, in bewußter Abkehr vom Postulat der ›Gewaltenteilung‹, als eine rein parlamentarische Demokratie eingerichtet« war. Adamovich steht hier offenbar im Banne Kelsens, der in seinen Arbeiten über das österreichische Verfassungsrecht 1918 bis 1929 immer wieder zum Ausdruck brachte, daß das Prinzip der Volkssouveränität (Art. 1 B-VG) das Gewaltentrennungsprinzip überwunden habe.10 Auf Betreiben Kelsens wurde bekanntlich die herkömmliche Gewaltenterminologie im B-VG sprachlich überwunden. Die »reine Rechtsterminologie« prägt die Sprache der Verfassung 1920.11 Kelsens Kampf gegen die Lehre von der Gewaltentrennung wird begreiflich, wenn man davon ausgeht, daß er diese nicht als Instrument der Machtkontrolle, sondern als Machtinstrument des Monarchen verstanden hat  ; er interpretierte die Gewaltentrennungslehre als Machtlehre des Monarchen und nicht als Freiheitslehre des einzelnen. Für ihn ist das Gewaltentrennungsdogma der Kernpunkt in der Ideologie der konstitutionellen Monarchie,12 wenn er auch zugeben muß, daß man die Gewaltentrennung auch in demokratischer Richtung wirksam werden sieht, zunächst »sofern sie eine Aufteilung der Macht bedeutet und eine die Expansion und willkürliche Ausübung der Staatsgewalt fördernde Konzentration der Gewalt verhindert«, dann aber dadurch »daß sie das bedeutsame Stadium der generellen Staatswillensbildung dem unmittelbaren Einfluß der Regierung zu entziehen strebt und der unmittelbaren Beeinflussung durch die Normunterworfenen eröffnet, die Funktion der Regierung aber zur Gesetzesvollziehung herabdrückt«.13 Beim Werden der österreichischen Verfassung hat Kelsen allerdings einzig und allein die Gegensätzlichkeit und 10 Vgl. Kelsen, Die Organisation der vollziehenden Gewalt Deutschösterreichs nach der Gesetzgebung der konstituierenden Nationalversammlung, öZöffR 1. Bd. 1919/20, S. 52 f.; derselbe, Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich, 3. Teil, 1919, S. 129  ; derselbe, Österreichisches Staatsrecht, 1923, S. 135. 11 »Diese spricht nicht mehr, wie dies in anderen Verfassungen üblich ist, von gesetzgebender, vollziehender und richterlicher Gewalt, sondern von den bezüglichen Funktionen und Kompetenzen (Gesetzgebung und Vollziehung, zu welch letzterer auch die Gerichtsbarkeit gehört)  … Für die Sphäre des Rechts und der juristischen Betrachtung kommen eben nicht Gewalten, sondern nur Rechtsnormen, die Kompetenzen statuieren, in Betracht.« (Kelsen/ Fröhlich/Merkl, Die Bundesverfassung vom 1. Okt. 1920, S. 65.) 12 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1929, S, 81. 13 Kelsen, a.a.O., S. 83.

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absolute Unvereinbarkeit von Volkssouveränität und Gewaltentrennung vertreten.14 Im Gegensatz zu Kelsen registrierte Nawiasky, daß schon die Verfassung 1918 die Gewaltentrennung in der von der altösterreichischen Verfassung gewählten Form in wesentlichen Zügen übernommen hat  :15 Die Gesetzgebung war Sache der Nationalversammlung, die Regierungs- und Vollzugsgewalt Sache des Staatsrates, die richterliche Gewalt Sache der Gerichte. Die Märzverfassung 1919 machte die Staatsregierung zur Nachfolgerin des Staatsrates und setzte sie als Trägerin oberster Exekutivfunktion ein, die Gesetzgebung blieb Sache der Nationalversammlung, die richterliche Gewalt Obliegenheit der Gerichte. Und auch nach dem B-VG 1920 sind die drei Staatsfunktionen drei verschiedenen Organgruppen übertragen  : die Gesetzgebung des Bundes obliegt dem Nationalrat und Bundesrat (Art. 24, Art. 41 ff. B-VG), die Gesetzgebung der Länder wird von den Landtagen ausgeübt (Art. 95 ff. B-VG)  ; die obersten Verwaltungsgeschäfte des Bundes obliegen dem Bundespräsidenten und den Bundesministern, einzeln und in ihrer Gesamtheit als Bundesregierung (Art. 19, 60, 69 B-VG), die Vollziehung jedes Landes übt eine Landesregierung aus (Art. 101 B-VG)  ; unter der Leitung dieser obersten Organe der Vollziehung führen weisungsgebundene Organe die Verwaltung (Art. 20 B-VG)  ; die vom Bund ausgehende Gerichtsbarkeit (Art. 82 Abs. 1 B-VG), die in allen Instanzen von der Verwaltung getrennt ist (Art. 94 B-VG), wird von Richtern ausgeübt, die in Ausübung ihres richterlichen Amtes unabhängig und unabsetzbar sind (Art. 87, 88 B-VG). Durch die Verfassungsreform 1929 wurde der monistische Parlamentarismus in einen dualistischen Parlamentarismus umgeformt. Der durch das B-VG 1920 institutionalisierte Typ der Versammlungsregierung wurde in Richtung einer eigentlichen parlamentarischen Regierung weiterentwickelt.16 Exekutive und Legislative teilen sich in die Funktion der Fällung der politischen Grundentscheidungen und deren Ausführung, wobei sie wechselseitigen Hemmungen und Beschränkungen und gegenseitigen Kontrollen unterliegen.17 Inter- und Intraorgankontrollen sind dabei nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck der Verhinderung von Machtmißbrauch. Der Staat tritt nicht in 14 S. dazu die kritischen Bemerkungen von Winkler, in  : Das österreichische Konzept der Gewaltentrennung in Recht und Wirklichkeit, Der Staat 1967, S. 293 ff. 15 Nawiasky, Der Aufbau der Regierungs- und Vollzugsgewalt Deutschösterreichs nach der Gesetzgebung der provisorischen Nationalversammlung, öZöffR 1919/20, S. 28. 16 Vgl. Loewenstein, a.a.O., S. 83. 17 Vgl. Loewenstein, a.a.O.

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einer Person auf, sondern in einer Fülle von Organen, die kooperieren müssen, sich dadurch kontrollieren und ausbalancieren. Es ist ein Strukturprinzip unserer Verfassung, daß vor allem die Verfassungsorgane zu ihrer Existenz- und Funktionsfähigkeit des Tätigwerdens anderer Verfassungsorgane bedürfen. Der Sinn dieses Systems der Interdependenz von an sich independenten Organen liegt in einer Balance der Machtträger und damit in einer Freiheitsgarantie. Das B-VG institutionalisiert allerdings keine »gewaltentrennende Demokratie« i. S. einer »Präsidentschaftsdemokratie«  ;18 von der gewaltentrennenden Präsidentschaftsdemokratie, als deren Prototyp die amerikanische Verfassung gilt, ist das österreichische Regierungssystem verschieden. Es weist die typischen Züge eines parlamentarischen Regimes auf  : Minister- und Abgeordnetenamt sind vereinbar, die Mitglieder des Parlaments, die Regierung ist ständig dem Parlament verantwortlich und bleibt nur im Amt, solange sie über die Unterstützung der Parlamentsmehrheit verfügt, die typischen wechselseitigen Instrumente des Parlamentarismus, das Recht der Parlamentsauflösung auf Seite der Exekutive und die Möglichkeit eines Mißtrauensvotums auf Seite des Parlaments sind vorhanden. Die 1929 reformierte Institution des Bundespräsidenten ist nur ein Gegengewicht des Parlamentarismus neben der erschwert abänderbaren Verfassung, der Verfassungsgerichtsbarkeit, den bundesstaatlichen und den plebiszitären Einrichtungen.19 Wenn auch in den österreichischen Verfassungen nie ausdrücklich statuiert wurde, daß die Staatsgewalt »durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt« wird (so Art. 20 Abs. 2 GG), so geht doch aus allen Verfassungen seit 1918 und insb. aus dem Aufbau und Inhalt des B-VG 1920 i. d. F. 1929 hervor, daß bei allen Verfassungskonzeptionen von der klassischen Gliederung in die herkömmlichen drei »Gewalten« ausgegangen wurde. Bejaht man diese Ausgangsposition, so kann man leugnen, daß der Verfassungsbau jeweils an einem inhaltlich bestimmten Ordnungsprinzip orientiert war. Die an der Verfassungsgesetzgebung jeweils beteiligten Personen fanden ja kein Rechtsvakuum vor, sondern ein Gemeinwesen mit hoher Rechtskultur. Aus der alten Rechtsordnung ergaben sich die 18 So wörtlich der Bericht des Verfassungsausschusses 405 Blg. III. GP, S. 3, der sich bei diesen Bezeichnungen auf die Staatsrechtslehre beruft. 19 Vom britischen Modell des Parlamentarismus weicht allerdings unser Regierungssystem ab, insb. deshalb, weil weder ein Mehrheitswahlsystem noch ein pyramidenförmiger Aufbau der Regierung mit einem Prime-Minister als Spitze besteht und weil der volksgewählte Bundespräsident kein britischer Monarch ist.

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Inhalte der jeweiligen Staatsfunktionen. Man konnte von einem festen Bestand an Vorstellungen über vom Gegenstand her bestimmte Grenzen von Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung ausgehen und die traditionellen legislativen, exekutiven und richterlichen Aufgaben den neu geschaffenen Organen zuteilen. Für alle Verfassungen von 1918 bis 1929 gilt daher  : Im großen und ganzen ist eine Deckung der drei herkömmlichen Staatsfunktionen mit einer entsprechend dreigeteilten Staatsorganisation festzustellen, wenn auch sowohl auf Seite der Funktionen als auch auf Seite der Organe mehr oder weniger Durchbrechungen bestehen. Dabei ist festzustellen, daß 1918 »der Haupt­sache nach zunächst nur die bestehenden gesetzgebenden Organe ausgewechselt« wurden, »gegen die sich ja immer der Hauptangriff einer Revolution wendet«. »Die vollziehende Gewalt hat im ersten Augenblick, wenn auch in ihren Spitzen entscheidende Wandlungen, so doch keine völlige inhaltliche Umwälzung erfahren. Die richterliche Gewalt, deren Selbständigkeit und Unabhängigkeit augenscheinlich auch einen Schutz vor den Anfechtungen einer Staatsumwälzung gewährt, ist fürs erste ganz unberührt geblieben.«20 Diese Worte Merkls gelten für die ganze Verfassungsentwicklung 1918 bis 1934. Legislative und Exekutive waren die variablen Größen, die Justiz war die konstante Größe der Verfassungszyklen. Sie blieb in ihren Grundzügen seit 1867 im großen und ganzen unberührt und wurde selbst von der Verfassung 1934 in ihrer organisatorischen Struktur wenig verändert. Die Judikative war im Vergleich zur Legislative und Exekutive ein verfassungsrechtlicher Ruhepol. Daher begegnete auch die Einführung einer ausgedehnten Verfassungsgerichtsbarkeit 1920 wenigen Hindernissen seitens der politischen Kräfte. Wittmayer hat schon 1919 darauf hingewiesen, daß dem »allgemeinen Autoritätssog zum Parlament« (Pernthaler) nur die »hochheilige, richterliche Gewalt« widerstehen konnte.21 Dieses Vertrauen zur Justiz dürfte mit ihrem Ansehen in AltÖsterreich zusammenhängen. Man glaubte an die Autorität dieses Zweiges der Staatsgewalt, weil man an seine Neutralität glaubte. Weil die Judikative im Gegensatz zur Exekutive und Legislative offenbar als politikferne Staatsgewalt galt, blieb sie in den Verfassungskämpfen außer Streit gestellt. Umstritten waren dagegen das Verhältnis von Legislative und Exekutive und die Konstruktion der obersten Exekutive. 20 Merkl, Die Verfassung der Republik Deutschösterreich, 1919, S. 6. 21 Wittmayer, Zu den Voraussetzungen und Grundproblemen der provisorischen Verfassung von Deutschösterreich, öZöffR 1919/20, S. 93.

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Die Verfassungsentwicklung der Ersten Republik ist die Suche nach einem idealen Verhältnis von Exekutive und Legislative. Die Suche ging von einem Extrem in das andere, vom totalen Übergewicht der Legislative über die Exekutive (Verfassungen 1918 bis 1920) zum Übergewicht, ja Monopol der Exekutive in bezug auf die Legislative (Verfassung 1934). Möglicherweise hat die Nov. 1929 einen gewissen Gleichgewichtszustand gebracht. Den Nachweis dafür hat aber erst die Zweite Republik erbracht, die 1945 – im Gegensatz etwa zu Frankreich, Italien und Deutschland – zum Stand der Verfassungsentwicklung 1929 zurückkehrte und bis zum heutigen Tag in und mit der Verfassung i. d. F. der Nov. 1929 lebt. Antoniolli kommt das Verdienst zu, das Konzept der Gewaltentrennung nach dem B-VG sozusagen wiederentdeckt und neu ins Bewußtsein gehoben zu haben.22 Er zeigt die Ergänzungsbedürftigkeit der nur auf das Organisatorische abgestellten Rechtsmeinung von Adamovich/Spanner auf und wies nach, daß der Verfassungsgesetzgeber von einer materiellen Gliederung der Staatsaufgaben in Angelegenheiten der Rechtsetzung, der Verwaltung und der Rechtsprechung ausging und daß die Verfassung jedenfalls dem einfachen Gesetzgeber unübersteigbare Schranken für die Zuteilung dieser Staatsaufgaben an die drei Organgruppen setzt. Die Bundesverfassung normiere außer der formalen auch eine ganz gewichtige materielle Trennung der Gewalten. Daraus ergebe sich eine fundamentale materielle Ordnung der Staatsaufgaben, die als ein echtes Baugesetz der Verfassung nicht verletzt werden dürfe.23 Winkler kam im Weg einer rechtsdogmatischen Analyse des geltenden Verfassungsrechts zum Ergebnis, daß den Staatsfunktionen durch das B-VG eine bestimmte Wesenhaftigkeit und eine Bestandsgarantie dafür zugedacht sei.24 Die dadurch vorbestimmte Gestalt der Gewaltentrennung zeige sich in der Einrichtung mehrerer Verfassungsorgane, von denen jedes jeweils primär für eine bestimmte Staatsfunktion bestellt sei, durch Sekundärfunktionen (Berufungsund Abberufungs-, Mitwirkungs- und Kontrollrechte) aber mehrfachen Einfluß auf die primäre Funktion der Organe der anderen Gewalten ausübe, ohne daß dabei die Qualität der Funktion der anderen Gewalt verändert werde.25 Als Gesamtbild ergebe sich ein Pluralismus oberster Organe mit eindeutiger Ge22 Vgl. sein Referat am 2. Österreichischen Juristentag (1964) und »Herrschaft durch Gewaltentrennung«, FORVM 1964, S. 355 ff. 23 Antoniolli, a.a.O., S. 357. 24 Winkler, a.a.O., S. 299. 25 Winkler, a.a.O., S. 303.

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waltentrennung und starker gewaltenverbindender Verflechtung. Dabei seien die Verflechtungen von Legislative und Exekutive äußerst dicht und zahlreich, während die Judikative relativ isoliert sei.26 Das deckt sich mit dem oben wiedergegebenen historischen Befund. Winkler schließt seine rechtsdogmatische Untersuchung mit der Feststellung, daß Gehalt und Wesen traditioneller Gewaltentrennung geradezu verfassungsrechtlich beweisbar seien und daß sich im B-VG gegenüber dem Konzept des Konstitutionalismus nur der legitimierende Gedanke (Art. 1 und Art. 44 Abs. 2 B-VG  !) und in Konsequenz davon auch die Gestalt der Gewaltentrennung geändert hätten. Winklers Befund kann heute als herrschende Lehre gelten. Es dürfte heute allgemein anerkannt sein, daß Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung durch das B-VG sowohl organisatorisch-funktionell als auch materiell bestimmt sind. Nur unter der Voraussetzung inhaltlich bestimmter Staatsfunktionen ist ja die Organisation des Staates, wie sie das B-VG vornimmt, überhaupt sinnvoll. Welchen Sinn hätten die Bestimmungen über die Mitwirkung des Nationalrates und des Bundesrates an der Vollziehung des Bundes (Art. 50 ff. B-VG), der obersten Organe der Vollziehung an der Gesetzgebung (Art. 41 ff. B-VG), welchen Sinn hätten ansonsten die Bestimmungen des Art. 18 B-VG, die besonderen Garantien für die Richter (Art. 87, 88 B-VG), die Trennung von Justiz und Verwaltung (Art. 94 B-VG), das Recht, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf (Art. 83 Abs. 2 B-VG), die Bestimmung des Art. 92 Abs. 1 B-VG, der den OGH als oberste Instanz in Zivil- und Strafsachen einrichtet  ? Welchen Sinn hätten alle Formalien des B-VG, wenn nicht den, eine inhaltlich bestimmte Ordnung unter Schutz und Garantie zu stellen  ?

Gewaltentrennung und soziopolitische Infrastruktur Das B-VG verwirklicht die Gewaltentrennung institutionell. Wie besteht aber diese Gewaltentrennung in der Realität  ? Montesquieu folgend, müssen wir die Verfassungsstruktur in ihrer Kombination mit der soziopolitischen Infrastruktur sehen und prüfen, ob die Gewaltentrennung tatsächlich als Machtbalance und damit als Instrument der Machtkontrolle funktioniert. Bei der Beantwortung dieser Frage müssen wir vor allem vom österreichischen Parteiensystem ausgehen. Dieses ist durch das Vorhandensein zweier nahezu gleich starker 26 Winkler, a.a.O., S. 305.

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Großparteien, die regelmäßig zusammen über 90 % der Parlamentssitze besetzen, und einer Kleinpartei charakterisiert, die es regelmäßig auf etwa 5 % der Parlamentssitze bringt. Dieses Zweiparteien- oder hinkende Dreiparteiensystem ergibt zusammen mit dem relativ hohen Grad an »Versäulung« der österreichischen Gesellschaft27 und vor allem im Zusammenhang mit dem Wahlsystem in aller Regel eine Koalitionsregierung und nur ausnahmsweise eine Alleinregierung. Von den möglichen Varianten sollen zwei herausgehoben werden und dann die jeweilige Konkretisierung des verfassungsgesetzlichen Gewaltentrennungskonzepts kurz skizziert werden. 1. Die Alleinregierung 1966 bis 1970 Wir registrieren zunächst die für ein parlamentarisches Regierungssystem typische personelle und funktionelle Einheit von Regierung und Legislative. Die Leitung der Exekutive und die Lenkung der Legislative lagen in den Händen der Führer der Mehrheitspartei. Ersteres ergab sich i. w. auf Grund der Art. 19, 20, 69 B-VG sowie auf Grund der Konventionalregel, wonach der Bundespräsident den Chef der mandatsstärksten Partei zum Regierungsbilder und Regierungschef ernennt, letzteres ergab sich auf Grund des Art. 41 B-VG. Die Regierung monopolisierte in der Praxis die Gesetzgebungsinitiative und ließ ihre Vorlagen vom Parlament ratifizieren. Das Parlament war bei der Wahrnehmung seiner legislativen Aufgabe in der überwiegenden Anzahl der Fälle mit Regierungsvorlagen befaßt, die von den Abgeordneten in der überwiegenden Anzahl der Fälle nach den Intentionen der Regierung in Gesetze umgewandelt wurden. Die praktische Monopolisierung der Legislative durch die Exekutive wird durch eine Reihe von Bestimmungen des B-VG und des GOG des NR unterstützt und ergänzt.28 Die institutionellen Unterstützungen stammen aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie, stehen aber heute im Dienste der Mehrheitspartei. Diese fungiert überdies in der Praxis als eiserne Klammer, die theoretisch verschiedene Institutionen, nämlich Bundesminister bzw. Bundesregierung und Nationalrat (in Gestalt der Mehrheitsfraktion), zusammenschmiedet. Das Parlament steht also der Regierung in der Staatspraxis nicht als Einheit und in 27 Zur »Versäulung« vgl. insb. Lehmbruch, Proporzdemokratie, politisches System und politische Kultur in der Schweiz und in Österreich, 1967, S. 33 ff. 28 S. dazu im einzelnen Fischer, Die Mitwirkung der Vollziehung an der Gesetzgebung, ÖJZ 1968, S. 253 ff.

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seiner Gesamtheit gegenüber, die politische Trennungslinie verläuft innerhalb des Parlaments zwischen Regierungspartei und Opposition. Daher ist zwischen Regierung und Parlament(smehrheit) keine »separation of powers« und keine »independence of powers«, sondern eine »cooperation of powers« und eine »interdependence by integration« festzustellen. Dies entspricht dem parlamentarischen Regierungssystem. Abweichend von diesem System ist aber die Opposition institutionell benachteiligt. Obwohl sie der eigentliche Gegenspieler der Regierung ist, ist ihre Rolle im Rahmen der Staatswillensbildung – abgesehen von retardierenden und influenzierenden Effekten – i. w. auf die Verfassungsgesetzgebung beschränkt. Auch hinsichtlich des parlamentarischen Kontrollinstrumentariums ist die Opposition gehandicapt. Denn dieses Instrumentarium liegt paradoxerweise weitgehend in der Hand der Regierungsmehrheit. Es ist damit seinem ursprünglichen Sinn entfremdet. Lediglich dem Interpellationsund Fragerecht kommt die Bedeutung einer echten Kontrolleinrichtung zu. Aber auch für dieses Kontrollrecht besteht die Gefahr der Entwertung und Sinnentfremdung, wenn es in den Dienst der Regierungspartei gestellt wird.29 Dem soziopolitischen Gegenüber von Regierungspartei und Opposition wird also von den Institutionen der Verfassung her zu wenig Rechnung getragen. Damit aber entspricht die Verfassung nicht dem Montesquieu’schen Konzept, denn nach diesem sollten ja die vorhandenen politischen Kräfte in der Staatsorganisation den ihnen entsprechenden Einsatz finden. Dieses institutionelle Defizit im parlamentarischen Raum macht verständlich, warum die Opposition von der Ebene der Verbände,30 von föderalistischen31 und plebiszitären32 Einrichtungen her operierte und auf diese Weise eine maximale Beeinflussung des Regierungssystems anstrebte. Möglicherweise ist nur durch dies Ausweichen auf andere Ebenen des Regierungsprozesses die Rolle der parlamentarischen Opposition für eine Großpartei erträglich. Durch die faktische Fusion von Legislative und Exekutive und durch die institutionelle Schwäche der Opposition im Parlament liegt heute der bei weitem wichtigste Aspekt des Gewaltentrennungskonzeptes des B-VG in der richterlichen Unabhängigkeit und in der Trennung der Justiz von den beiden 29 Vgl. Neisser/Welan, Betrachtungen und Bemerkungen zur Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (Slg. 1965), ÖJZ 1968, S. 63. 30 Vgl. Welan, Regierungssystem und Sozialpartnerschaft, Wirtschaftspolitische Blätter 1970, S. 25 ff. 31 Vgl. Welan/Winkler, Die Normenkontrolle und ihr Ausbau, ÖJZ 1967, S. 650. 32 Vgl. das Arbeitszeitvolksbegehren im Jahre 1969.

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übrigen Staatsgewalten. Trotzdem kann man nicht sagen, daß die Gewaltentrinität durch eine Gewaltendualität ersetzt worden wäre. Denn man darf nicht übersehen, daß heute die Regierung (die Führung der Mehrheitspartei) in eine Fülle von Abhängigkeiten gestellt ist, die in der Verfassung nur zum Teil zum Ausdruck kommen. Die Regierung ist nach dem B-VG vom Bundespräsidenten abhängig, weniger durch sein Ernennungs- und sein Entlassungsrecht (Art. 70 B-VG) als dadurch, daß er der Staatspersonalpolitik der Regierung Widerstand entgegensetzen kann (Art. 65 Abs. 2 lit a B-VG). Die Regierung ist überdies trotz der institutionellen Schwächen der parlamentarischen Opposition auf eine gewisse Kooperationsbereitschaft aller im Nationalrat und im Bundesrat vertretenen politischen Kräfte angewiesen, wobei auch die bundesstaatlichen und plebiszitären Institutionen und insbes. die Verfassungsgerichtsbarkeit hemmend, beschränkend und kontrollierend wirken können. Darüber hinaus ist die Regierung in besonderer Weise von der Wählerschaft abhängig, die bei der nächsten Wahl das Urteil über sie spricht. Außerdem ist die Regierung durch die Großverbände, die verschiedenen Gruppen innerhalb der eigenen Partei, die öffentliche Meinung, die Massenmedien, durch internationale Instanzen usw. in ihren Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeiten beschränkt. Zusammenfassend ist für die Alleinregierung 1966 bis 1970 ein institutionelles Defizit der Opposition im parlamentarischen Raum festzustellen. Die Regierung hatte dadurch in diesem Raum ein politisches und technisches Übergewicht und das Monopol der Legislative, wobei diese Überlegenheit der Regierung gegenüber dem Parlament nicht nur die Folge der in ihr konzentrierten Parteimacht, sondern vor allem die Folge ihrer Ausstattung wie Information, Personal und Kapital war. Immerhin konnte die politische Kontrolle von einer großen Oppositionspartei insoweit effektiv wahrgenommen werden, als es zu klaren politischen Fronten und zur offenen Konfrontation zwischen Regierung und Opposition im Parlament kommen konnte. 2. Die Große Koalition vor 1966 Bekanntlich wurde in dieser Ära die Fusion von Legislative und Exekutive bis zum Exzeß vorangetrieben. Es kam nicht nur zu der für ein parlamentarisches Regierungssystem typischen personellen und funktionellen Einheit von Regierung und Parlament, sondern auch zum Verschwinden der parlamentarischen Opposition. Die Regierung konnte sich auf mindestens 85 % der Parlamenta55

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rier stützen, die durch Partei- und Koalitionsdisziplin zusammengehalten wurden. Die Große Koalition als ein a priori feststehendes Regierungskartell ohne Alternative minimisierte die zwischenparteiliche Konkurrenz und Kontrolle im Parlament und verhinderte damit die Transparenz des Regierungsprozesses. Die Möglichkeiten der FPÖ, parlamentarische Kontrolle auszuüben, waren wesentlich geringer als die Möglichkeiten der SPÖ während der ÖVP-Alleinregierung. Da die FPÖ auch auf anderen Ebenen kaum eine effektive politische Rolle ausüben konnte, war die Bedeutung der parlamentarischen Opposition praktisch auf ein Minimum reduziert. Die Große Koalition ähnelte durch die totale Fusion von Exekutive und Legislative  – das Parteikartell war Verfassungsgesetzgeber, einfacher Gesetzgeber, Leiter und Kontrollor der Verwaltung – und den Mangel einer effektiven parlamentarischen Opposition einem Einparteiensystem östlicher Prägung.33 Allerdings kam es auch in der Großen Koalition zu einer spezifischen Gewaltentrennung. Die politische Trennungslinie verlief aber nicht innerhalb des Parlaments zwischen Regierung und Opposition, sondern zwischen und innerhalb bestimmter Ressorts und Einflußsphären. Das Parteienkartell etablierte einen bipolarisierten Parteienstaat eigener Prägung, wobei die jeweiligen Koalitionspakte die Grundsätze der Verteilung der Machtpositionen, der Kooperation und der Personalpolitik festsetzten. Die sogenannte Bereichsopposition  – jede der beiden Großparteien war Opposition für den Bereich, den die andere beherrschte – konnte aber die mangelnde parlamentarische Opposition auf die Dauer nicht ersetzen. Die Massenmedien fungierten – von wichtigen Ausnahmen abgesehen – nicht als Ersatz der politischen Kontrolle  ; sie waren zu einem großen Teil entweder einseitig orientiert oder proporzmäßig besetzt und damit paritätisch neutralisiert. Das Regierungskartell mit eingebautem Oppositionsmechanismus litt oft unter einer Immobilisierung der Partei- und Regierungsspitzen durch gegenseitige Blockade.34 Für die Ära der Großen Koalition vor 1966 ist daher primär ein Defizit an politischer Kontrolle, sekundär aber auch ein Defizit an »Regierung«, insb. an Innovationen und Initiativen, festzustellen. Die latente Koalitionskrise führte überdies wiederholt zu Regierungskrisen. Das Mißtrauen kam nicht vom Parlament, es aktualisierte sich vielmehr in der 33 Vgl. Duverger, Die politischen Parteien, 1959, S. 399. 34 Für die Lösung von Sachaufgaben, insbes. im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik, boten sich in solchen Situationen die Großverbände an. In diesem Sinne fungierte das Kartell der Großparteien als Katalysator der Entwicklung zum Verbändestaat.

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Regierung selbst. Darauf trat aber nicht nur diese, sondern auch das Parlament zurück  : Die verfassungsgesetzlich vorgesehene vierjährige Legislaturperiode des Nationalrates wurde regelmäßig durch Selbstauflösung auf drei bis dreieinhalb Jahre verkürzt, weil die Regierung durch die Uneinigkeit der Koalitionspartner blockiert war.35 Es ist bemerkenswert, daß dieses Parteienkartell nicht nur zur totalen Verschmelzung von Legislative und Exekutive und zum Verlust der politischen Kontrolle führte, sondern auch den bundesstaatlichen, präsidialen und plebiszitären Elementen der Verfassung manches an Entfaltungsmöglichkeiten nahm oder ihnen zumindest eine koalitionskonforme Prägung gab. Noch bemerkenswerter ist allerdings die Tatsache, daß die Judikative, vor allem die Verfassungsgerichtsbarkeit und die Verwaltungsgerichtsbarkeit, durch die Große Koalition eine besondere »Aufwertung« erfuhr. Das Defizit an politischer Kontrolle führte zu einer Potenzierung der gerichtlichen Kontrolle. Die an sich »politikferne« Judikative wurde oft in den Mittelpunkt der Politik gerückt. Sie mußte – wie im Fall Habsburg – ihr eigentlich wesensfremde Aufgaben übernehmen. Das führte zu einer Überforderung der Gerichtsbarkeit und darüber hinaus zu einer der größten Krisen der Zweiten Republik.36 Es zeigte sich, daß Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, die sowohl dem Rechtsschutzinteresse des einzelnen als auch dem Allgemeininteresse am Schutz des Rechtsstaates dienen, in dieser Funktion nicht geeignet sind, die politische Kontrolle zu ersetzen.37

Zusammenfassung Wir haben gesehen, daß sich die konkrete Gestalt der Gewaltentrennung nur durch eine Zusammenschau und Kombination von Verfassungsgefüge und soziopolitischer Infrastruktur erfassen läßt. Dabei hat sich gezeigt, daß sowohl in einer Großen Koalition als auch in einer Alleinregierung der bei weitem be35 Bekanntlich beschloß der NR sogar zweimal über die Weisung der Parteiführungen seine Auflösung, weil die blockierte BReg. das Budget nicht in der verfassungsgesetzlich vorgesehenen Zeit dem NR vorlegen konnte. 36 Zum Fall Habsburg vgl. insbes. Winkler, Fußtritte für den Rechtsstaat, FORVM 1963 H. 115/116, S.  343 ff.; H. 117, S.  412  ; H. 118, S.  478 ff. und Kafka, AÖR Bd. 88 (1963), S. 451 ff. 37 Zum Unterschied von richterlicher und politischer Kontrolle  : Bäumlin, Die Kontrolle des Parlaments über Regierung und Verwaltung, ZSR 1966, S. 240 ff.

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deutsamste Aspekt der Gewaltentrennung in der Unabhängigkeit der Richter und in der Trennung von Judikative von Legislative und Exekutive liegt. Daher wird sich hier de lege lata und de lege ferenda ein Eintreten für das Modell des Kernbereichsschutzes und die richterliche Autonomie und ein Eintreten für die Emanzipation der dritten Staatsgewalt empfehlen.38 Anders liegt die Situation bei den übrigen zwei Staatsgewalten. Hier bietet sich das Balancemodell an. Dabei wäre es sinnlos, Legislative und Exekutive zu isolieren, vielmehr ist im Verhältnis von Regierung und Parlamentsmehrheit Gewaltentrennung als Zusammenarbeit zu konzipieren. Ein neues »Gleichgewicht« wäre im Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition einzurichten, da letztere derzeit ein institutionelles Defizit im parlamentarischen Raum aufweist. In der Zeit der Großen Koalition vor 1966 verwandelte sich dieses institutionelle Defizit in ein Manko an politischer Kontrolle überhaupt, wobei auch die übrigen »checks and balances« der Verfassung ihre Wirksamkeit nicht so entfalten konnten wie in der Alleinregierung. Überdies hat sich gezeigt, daß man bei der Problematik der Gewaltentrennung in der parlamentarischen Demokratie von heute nicht allein mit rechtswissenschaftlichen Methoden operieren kann. Hier ist eine Kooperation von Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft notwendig.

38 Vgl. dazu insbes. BMJ (Hg.), Gesamtreform der Justiz. Plan einer Neugestaltung der Organisation der Gerichtsbarkeit und ihrer Stellung im Verfassungsgefüge, 1970.

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Pluralismus und Föderalismus (1970)

Der Wandel von Staat und Gesellschaft Die politische Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts war durch den Gegensatz von Staat und Gesellschaft bestimmt. Gesellschaft bedeutet in diesem Zusammenhang nicht das Gesamtvolk, sondern das Bürgertum. Dieses war wohl Träger bedeutender wirtschaftlicher und kultureller Macht, aber ohne politische Macht. Vom Staat als Herrschaftsorganisation war es ausgeschlossen. Der Staatsapparat lag in den Händen des Monarchen, der von Aristokratie und Geistlichkeit unterstützt wurde. Der monarchische Absolutismus hat den modernen Staat geschaffen. Die bis dahin ständisch und feudalistisch gegliederte Gesellschaft wurde nivelliert. Lokale, partikuläre und kirchliche Gewalten wurden entmachtet. Die wirtschaftlichen Interessen konnten sich in den größeren, nach außen mehr Sicherheit, nach innen mehr Einheit gewährleistenden Staaten neu entfalten. Von einer einheitlichen, berechenbaren und verläßlichen Rechtsordnung profitierte vor allem das wirtschaftstreibende Bürgertum. Der monarchische Staat wurde finanziell von der bürgerlichen Wirtschaft abhängig. Das außerhalb der staatlichen Herrschaftsorganisation vor allem im Bereich von Handel, Gewerbe und Industrie tätige Bürgertum erkannte die Zeichen der Zeit und verlangte vom Monarchen die Gewährleistung staatsfreier Sphären, um sich in Freiheit und Sicherheit betätigen zu können. Es forderte Selbstverwaltung und Mitwirkungsmöglichkeiten an der Staatswillensbildung, insbesondere an der Gesetzgebung. Sein Kampf gegen den monarchischen Beamten- und Militärstaat war im wesentlichen ein Kampf für den Parlamentarismus. Das Parlament war das Organ, in dem die bürgerliche Gesellschaft dem im Monarchen personifizierten Staat gegenüber- und entgegentreten konnte. Im Parlament konnte das Bürgertum seine politische Rolle und Kontrolle im und gegenüber dem Staat entfalten. Durch den Parlamentarismus verlagerte sich die Spannung zwischen Monarchen (Staat) und Bürgertum (Gesellschaft) 59

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in die Staatsorganisation selbst. Auf diesem historischen Boden wuchsen die Vorstellungen vom absoluten Gegensatz von Exekutive und Legislative, ein Gegensatz, an den auch heute noch geglaubt wird, obwohl er in der politischen Wirklichkeit längst relativ geworden ist. In der modernen parlamentarischen Demokratie ist das Parlament als Gesetzgebungsorgan und die mit den obersten Leitungs- und Verwaltungsgeschäften betraute Regierung in der Hand der Mehrheitspartei. Zwischen der Parlamentsmehrheit als Gesetzgeber und der Regierung besteht in der Regel eine politische Einheit, kein Spannungsverhältnis. Im Kampf gegen den Monarchen gelang es der bürgerlichen Gesellschaft, der typischen Aufgabe des Parlaments, der Gesetzgebung, sowohl einen rechtlichen als auch einen politischen Mehrwert gegenüber den anderen Staatsfunktionen zu geben. Über die Gesetzgebung suchte das Bürgertum seine politische Abwehr- und Angriffsrolle gegen den Monarchen, dessen Bollwerk die Verwaltung blieb, rechtlich auszuspielen. Dem in Opposition zum Absolutismus des Monarchen aufgekommenen Parlamentarismus ist deshalb verständlicherweise eine Überschätzung des Gesetzes eigentümlich. Doch wurde bald erkannt, daß das Gesetz nicht nur eine Schutzfunktion für den einzelnen, sondern mehr noch eine Nutzfunktion für die die Gesetzgebung tragenden Schichten erfüllt. Die naive Gesetzesgläubigkeit ging verloren. Der Schutz vor dem Zugriff und Eingriff des Staates verlagerte sich vom Gesetzgeber auf richterliche Kontrollorgane. Die Abkehr vom Glauben an die Unfehlbarkeit des Gesetzgebers fand institutionellen Ausdruck in der Verfassungsgerichtsbarkeit. Mit der Demokratisierung des Staates war der Aufstieg der politischen Parteien verbunden. Ihre Entstehung entspricht einem gewissen Stadium in der Entwicklung der politischen Rechte der Staatsbürger, der Erringung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. In dem Maße, in dem das Wahlrecht auf mehr und mehr Schichten der Bevölkerung ausgedehnt wurde und sich die Machtbefugnisse des Parlaments vergrößerten, nahmen die Aufgaben der Parteien zu. Die Parlamentarier gruppierten sich je nach ihrer Einstellung zu gemeinsamer Aktion und Reaktion. Die Verbreiterung des Wahlrechtes machte es notwendig, die neuen Wählerschichten organisatorisch zu erfassen. Durch die Parteien wurden die aufsteigenden sozialen Schichten politisch mündig gemacht. Die Persönlichkeit des einzelnen Abgeordneten begann hinter das Kollektiv der Partei als solcher zu treten. Die Parteien veränderten sich. Aus Zusammenschlüssen zum Zwecke der Wahlagitation und der gemeinsamen parlamentarischen Aktion entwickelten sich überlokal und auf Dauer organisierte Verbände 60

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mit bürokratischem Apparat und eigenem Programm. Sie bestimmen nicht nur die Wahlen und parlamentarischen Aktionen, sondern suchen ihre Interessen und Ideen durch ständige Teilnahme am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess zur Geltung zu bringen. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht und in seinem Gefolge die modernen Massenparteien verwandelten die Stellung des Parlaments und der Parlamentarier. In der Zeit, in der das Wahlrecht noch ein Vorrecht von Besitz und Bildung war, wurde das aus Honoratioren der Gesellschaft bestehende Parlament als elitäre Versammlung angesehen, die gegenüber dem Monarchen das Volk, die Öffentlichkeit und die Vernunft repräsentierte. Jedes Parlamentsmitglied sah man als Repräsentanten des ganzen Volkes an, es mußte daher in Ausübung seines Amtes selbständig und unabhängig sein, insbesondere frei von Aufträgen der Wähler  ; daher die Verankerung des freien Mandates in den Verfassungen. Vor dem Monarchen und seiner Exekutive musste der Abgeordnete geschützt werden  ; daher die verfassungsmäßige Gewährleistung der Immunität. Mit der Schwächung der Stellung des Monarchen begann das Parlament als Ganzes eine Gegenrolle zur Regierung zu verlieren. Eine neue politische Gewaltentrennung und Rollenverteilung spielte sich ein. Die politische Trennungslinie verläuft nicht mehr zwischen den Staatsorganen Regierung und Parlament, sondern im Staatsorgan Parlament zwischen den Parlamentsfraktionen, zwischen regierender Mehrheit und Opposition. Die Gegenrolle zur Regierung wurde von der parlamentarischen Opposition übernommen, während Regierung und Parlamentsmehrheit zwei Maschinen sind, die vom selben Motor, der Regierungspartei, betrieben werden. Partei- und Fraktionsdisziplin sind bei der neuen Rollenverteilung notwendige Voraussetzungen für das Funktionieren des Systems. Die Parlamentarier sind daher nicht unabhängig, vielmehr ist eine Abhängigkeit von den sie als Kandidaten aufstellenden Parteien feststellbar. Auch das Wählervolk ist von den die Kandidaten stellenden Parteien abhängig. Die Parlamentswahlen wurden aus Persönlichkeitswahlen zu unpersönlichen Listenwahlen. Das persönliche Element ging aber nicht verloren. Es verlagerte sich auf die im Wahlkampf herausgestellten Parteiführer, die aber weniger als Parlamentarier, sondern als zukünftige Regierungsführer oder Oppositionsführer angesehen werden. Dieser Wandel zeichnete sich schon nach dem Ersten Weltkrieg ab. Die politischen Parteien haben damals im Namen des Volkes jenes Machtvakuum ausgefüllt, das durch den Untergang früherer Machtträger entstanden war. Nach dem Abgang des Monarchen von der politischen Bühne haben die Parteien die Regie im politischen Prozeß übernommen. Sie wurden 61

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Mitte, Mittel und Mittler der politischen Meinungs- und Willensbildung. In ihnen findet das für die Demokratie »charakteristische stete Aufströmen einzelner aus der Gemeinschaft der Geführten in die Führerstellung« statt. Sie fungieren als »Subjekt und Objekt der Wahlen«. Sie stellen die Wahlkandidaten und damit die künftigen Träger der Staatsleitung, organisieren die Wahlen, wirken auf die Wähler ein und versorgen Parlament und Regierung mit neuem Personal. Der im Zuge der Demokratisierung des Staates sich vollziehende politische Aufstieg neuer sozialer Schichten hat auch die Rolle des Staates verändert. Während der Staat im 19. Jahrhundert seinen Hauptzweck nur in der Erhaltung und Gewährleistung der bestehenden Ordnung erblickt hatte, erstreckt sich die Tätigkeit des modernen Staates auf nahezu alle Bereiche. Der Wandel des Staates zeigt sich insbesondere im Bereich der Verwaltung, die immer mehr Aufgaben zu erfüllen hat. Diese Aufgabenvermehrung begann schon Ende des 19. Jahrhunderts, als die öffentliche Hand die Versorgung der Bevölkerung mit Wasser, Gas, Elektrizität und Verkehrsmittel übernommen hatte. Der Hauptzweck des Staates verwandelte sich von der Erhaltung des Bestehenden zur Gestaltung einer angemessenen Wirtschafts- und Sozialordnung. Im 19. Jahrhundert hatte sich der Staat im großen und ganzen vom Prozeß der Einkommens- und Güterverteilung ferngehalten. Im Zuge der Demokratisierung des Staates forderten die aufsteigenden sozialen Schichten, die zunächst nur politisch, aber nicht wirtschaftlich zum Zuge gekommen waren, eine Teilnahme und Teilhabe des Staates am Wirtschaftsprozeß und an der sozialen Bedürfnisbefriedigung. Der Staat mußte Verteilungs- und Umverteilungsfunktionen übernehmen. Er begann als Unternehmer großen Stils aufzutreten  ; er wurde Produzent und Arbeitgeber. Er setzte Stützungs- und Sanierungsmaßnahmen. Die ständige Aufgabenvermehrung bewirkt nicht nur eine zunehmende Verrechtlichung und damit Verstaatlichung aller Lebensbereiche, sondern auch ein ständiges Steigen der Staatsausgaben, was wiederum eine ständige Erhöhung der Einnahmen verlangt. Die neuen Verfassungen nach dem Ersten Weltkrieg gingen zwar noch überwiegend vom Ordnungsstaat der liberalen Ära aus, in der sozialen und ökonomischen Wirklichkeit trat der Staat aber mehr und mehr als Leistungs- und Verteilungsstaat, als Wirtschafts- und Sozialstaat auf. In dieser Funktion bedient er sich gegenüber dem einzelnen nicht nur hoheitlicher Formen, vielmehr ist ein Trend zu privatrechtlichen Organisations- und Betätigungsformen wahrzunehmen, die außerhalb des verwaltungs- und verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes stehen, der ja nur auf die Hoheitsverwaltung abgestellt ist. Mögen dafür die aufsteigenden sozialen Schichten, die politischen Parteien, Interes62

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senverbände, die Staatsbürokratie, Macht- und Finanzbedürfnis der jeweiligen Staatsführung richtunggebend gewesen sein, Tatsache ist, daß sich der Staat dorthin verlagerte, wo herkömmliche Rechtsschutz- und Kontrolleinrichtungen seiner Machtstellung kaum gerecht werden. Diese Entwicklungstendenzen verstärkten sich noch im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit. Not und Mangel führten zu Zentralisierungs- und Zwangsmaßnahmen. In Zeiten des Wohlstandes kommt es nur zum Teil zur Aufhebung derartiger Maßnahmen. Verstaatlichungs-, Zentralisierungs-, Bewirtschaftungs- und Zwangsmaßnahmen zeigen auch in föderativen und freiheitlichen Demokratien Beharrungstendenz und entwickeln Eigendynamik. Die Politik, im 19. Jahrhundert wesentlich »Staatspolitik«, wurde im 20. Jahrhundert wesentlich Wirtschafts- und Sozialpolitik. Gesellschaft und Staat wurden mehr und mehr aufeinander verwiesen. Der äußere Gegensatz zwischen beiden Bereichen verschwimmt. Die relativ einheitliche bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts hatte dem Staat gegenüber eine Abwehrhaltung eingenommen  ; die relativ differenzierte Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts nimmt äußerlich gegenüber dem Staat eine Anspruchshaltung ein, ohne aber die innere Abwehrhaltung gegenüber dem Staat grundsätzlich aufgegeben zu haben. Nach außen ist der einzelne Staatsbürger in seinem Verhältnis zum Staat weniger an Grundsätzen und Weltanschauungen orientiert als an seinen wirtschaftlichen und sozialen Interessen. Je nach dem Maße und der Art der Verwiesenheit der einzelnen Staatsbürger auf den Staat wurden sie diesem Staat gegenüber zu Interessenbürgern. Diese Interessen kann der einzelne aber nur über den Zusammenschluss mit anderen, also organisiert zur Geltung und Darstellung bringen. Neben den politischen Parteien kennzeichnen daher Interessenverbände die moderne Demokratie. Organisationen, die der Vertretung und Wahrnehmung der Interessen ihrer Mitglieder dienen, haben sich in der differenzierten, arbeitsteilig organisierten Industriegesellschaft als unentbehrlich erwiesen. Die Verbände bilden durch Zusammenfassung gleicher Interessen ein im Verhältnis zum einzelnen unvergleichlich wirkungsvolleres Gewicht und Gegengewicht gegenüber anderen Verbänden und dem Staat. Ursprünglich waren Verbände von größerer Bedeutung vor allem zur Verbesserung der ökonomischen Machtlage entstanden, z. B. die Gewerkschaften, die landwirtschaftlichen Genossenschaften. Heute ist die Vielheit und Vielfalt der Gruppen, zu denen sich Menschen zusammengeschlossen haben, vor allem eine Folge der Mannigfaltigkeit der Interessen der modernen Gesellschaft und eine Folge der umfassenden Betätigung des Staates. Die Fülle der staatlichen Betätigung 63

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begünstigt die Tendenz, sich kollektiv zusammenzuschließen, sei es um abzuwehren und sich zu schützen, sei es um anzugreifen und zu fordern. Nur durch eine wirksame Organisation ist heute eine Nutzenmaximierung realisierbar. Unabhängig von der Rechtsform, die z. B. eine Körperschaft öffentlichen Rechts, eine Genossenschaft oder ein Verein sein kann, üben die Interessenverbände ähnliche Funktionen aus. Sie fassen gleich gerichtete private Interessen zusammen, bringen sie im Wege des Interessenausgleiches auf einen größeren Nenner, um sie dann als einheitliche Interessen der von ihnen Repräsentierten zu vertreten und durchzusetzen. Der gesellschaftliche Raum ist kein einheit­licher absolut gesetzter Gegenraum gegenüber dem Staat, sondern ein Bereich differenzierter privater Interessen, die, kollektiv organisiert, meist politische Bedeutung haben können. Der Einfluß der Verbände auf den politischen Prozeß wird im allgemeinen umso größer sein, je stärker ihre finanzielle Basis, ihre organisatorische Verfestigung, je größer ihre Bedeutung bei Wahlen ist und je intensiver ihre Verflechtung mit dem Staat und den Großparteien ist. Auch die Qualität ihrer Funktionäre und Bürokratie spielt eine große Rolle. Die politischen Parteien, die weitgehend das Bestreben aufgegeben haben, die Massen geistig und moralisch einzugliedern und aus Weltanschauungsparteien zu Allerweltsparteien geworden sind, stehen mit den organisierten Interessen in Verbindung und Beziehung. Soweit sie nicht überhaupt ein Verband oder eine Koalition von Interessenverbänden sind, stellen sie sich in den Dienst wichtiger Verbände, leisten Kundendienste. Sie sichern sich unter und in den Verbänden Einflußsphären, haben sich Verbände an- und eingegliedert. Da die Parteien einerseits die Personen für die wichtigsten Staatsämter stellen und andererseits die politische Meinung und den Staatswillen und damit die Wirtschafts- und Sozialordnung wesentlich mitbestimmen, suchen auch umgekehrt die Verbände ihren Einfluß bei den ihnen nahestehenden Parteien zu wahren und zu mehren. Personalunionen verschiedenster Art sichern Koordination und Kooperation. Diesen Abhängigkeiten und Verbindungen kommt in Hinblick auf die Aufgabe der Parteien, die an sie herangetragenen Interessen zu klären, auszugleichen und im Rahmen eines Gesamtkonzeptes zu vertreten sowie im Hinblick auf die Notwendigkeit der steten Beeinflussung der Massenmedien und der öffentlichen Meinung große Bedeutung zu. Die Verbände stellen den politischen Parteien Funktionäre und Experten zur Verfügung und sind darüber hinaus ein ständig einsatzbereites politisches Personalreservoir. Auch mit dem Staat und mit der staatlichen Willensbildung sind die Verbände auf mannigfaltige Weise verbunden. Ihren Einfluß üben sie auf fast alle 64

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Staatsfunktionen und Staatsorgane aus. Ein Kranz von Beiräten und Kommissionen, die von den Großverbänden meist paritätisch besetzt sind, umgibt die staatlichen Einrichtungen. Im Wege von gesetzlich garantierten Mitwirkungsmöglichkeiten an der Gesetzgebung und Gesetzesvollziehung nehmen die Verbände direkt an der Staatswillensbildung teil, sei es etwa durch die Begutachtung von Gesetzes- und Verordnungsentwürfen, sei es etwa durch Anhörungsrechte bei der Anwendung von Wirtschafts- und Sozialgesetzen. Dabei bestehen und entstehen für die Träger der staatlichen Einrichtungen oft weniger rechtliche als faktische Bindungen, was im Ergebnis eine Machtverlagerung vom Staat auf die Großverbände mit sich bringt. Es kommt zu einer eigentümlichen Arbeits- und Gewaltenteilung zwischen Staat und Verbänden dergestalt, daß die Entscheidung und Verantwortung formell von den Staatsorganen allein, faktisch aber sowohl von den Staatsorganen als auch von den Verbandsorganen zu tragen sind. Diese Entwicklung hat es auch mit sich gebracht, daß das Parlament heute nur mehr formell das bestimmende Staatsorgan ist. Faktisch ist es, soweit man im politischen Prozess ein Entscheidungszentrum überhaupt lokalisieren kann, die Regierung in Zusammenarbeit mit der Bürokratie und den Verbänden. Die parlamentarische Einigung hat an Bedeutung verloren. Der Interessenausgleich wird meist im außerparlamentarischen Bereich von Regierungspartei, Verbänden, Experten und Bürokratie ausgehandelt. In der modernen Demokratie ist es daher verfehlt, im Parlament eine Einrichtung zu sehen, die in der Lage wäre, politische Probleme rasch, rationell und effektiv zu lösen. Das Parlament ist nur einer von mehreren Faktoren, die am politischen Prozeß beteiligt sind  ; es kommt oft erst in der letzten Phase dieses Prozesses zu Wort und hat im großen und ganzen nur eine ratifizierende Funktion. Aufgabe des Parlaments kann es heute nicht sein, politische Entscheidungen vorzubereiten und zu treffen  ; dazu ist es allein schon auf Grund seiner mangelnden Ausstattung mit Experten und Bürokratie nicht in der Lage. Wohl aber ist es Aufgabe des Parlaments, die politischen Entscheidungen der Regierung zu diskutieren. Dabei fällt den Parlamentariern der Opposition die Rolle der Kritik und Kontrolle zu. Im Parlament treffen alle wichtigen politischen Kräfte eines Gemeinwesens zusammen. Das Miteinanderreden und die Zusammenarbeit verhindern eine Entfremdung der politischen Parteien. Das Parlament als Plenum sichert die Öffentlichkeit des Regierens und macht den Wettbewerb der Parteien lebendig. Wenn die Parlamentarier propagandistischer Effekte wegen ihre Reden zum Fenster hinaushalten, so hat auch das seinen Vorteil. Die Bevölkerung wird mit 65

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den konträren Meinungen der Parteien vertraut gemacht. Die Arbeit in den parlamentarischen Ausschüssen vollzieht sich nicht öffentlich. Die Parlamentarier arbeiten hier sachlicher und weniger mit propagandistischen Effekten als im Plenum. Für die Öffentlichkeit wird freilich immer das Plenum »das Parlament« darstellen.

Pluralismus, Föderalismus und Demokratie Der Wandel von Staat und Gesellschaft ist noch nicht allgemein bewußt geworden. Nicht zuletzt ist diese Tatsache Ursache für das in der Bevölkerung vorhandene Unbehagen in der Demokratie. Man misst die Demokratie von heute an Demokratiemodellen von gestern und stellt mit Unbehagen Abweichungen fest. Ist Demokratie nicht Herrschaft des Volkes, Identität von Herrschern und Beherrschten, Volkssouveränität  ? Diesen Idealen der Demokratie wird abwertend die Wirklichkeit als »Parteienstaat«, »Kammerstaat«, »Verbändestaat« gegenübergestellt. Die Situation ist zwar anders als in der Zwischenkriegszeit, aber die Antipathie gegen politische Parteien und Interessenverbände ist heute wieder feststellbar. Die horizontale Gliederung der modernen Massendemokratie in eine kaum überschaubare Vielfalt verschiedenartiger Gruppen, die dem von der Verfassung proklamierten einheitlichen Volksbegriff gegenüberstand, das Mit- und Gegeneinander, Neben- und Durcheinander von sozialen Gebilden, die dem Staat nach dem Zerfall der relativ homogenen bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gegenübertraten, erzeugten schon in der Zwischenkriegszeit Unbehagen an der Demokratie und das Bedürfnis nach »wahrer« Demokratie, nach Ordnung und starken Männern. Es scheint typisch für das kontinentaleuropäische Staatsdenken zu sein, daß es vor allem gegen das Verbandswesen Stellung nahm und dadurch – vielleicht unfreiwillig – zum Wegbereiter und Fürsprecher der Diktatur wurde. Der deutsche Staatsrechtslehrer Carl Schmitt hat schon 1931 die Gefahren, die dem Gemeinwesen durch Machtbestrebungen von Ländern, Parteien und Verbänden drohen können, in düsteren Farben dargestellt. In seiner berühmten Studie »Der Hüter der Verfassung« charakterisiert er die Verfassungswirklichkeit des Deutschen Reiches zu Beginn der dreißiger Jahre vor allem durch den Pluralismus der Länder und Verbände. Diese seien durch den gemeinsamen Gegensatz zu einer geschlossenen und durchgängigen staatlichen Einheit verbunden. In diesem Gegensatz zur staatlichen Einheit sieht Schmitt das Wesen des Pluralis66

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mus überhaupt. Die Entwicklung der Träger des Pluralismus gehe dahin, daß eine Mehrheit fest organisierter Komplexe mit eigenen Bürokratien und einem ganzen System von Hilfs- und Stützorganisationen über die Landesgrenzen hinweg sich im Deutschen Reich ausbreite und sich der staatlichen Willensbildung sowie der öffentlichen Machtpositionen im Reich, in den Ländern und in den Selbstverwaltungskörpern bemächtigt. Fest organisierte politische Parteien, Interessenverbände und Religionsgesellschaften »bestehen und handeln als Träger einer relativ sicheren und festen, berechenbaren sozialen Machtfülle. Ihre Bedeutung ist für verschiedene Sachgebiete (Außenpolitik, Wirtschaft, Kultur, Weltanschauung) verschieden, und nur in ihrem systematischen Zusammenarbeiten richtig zu erkennen  ; aber die pluralistische Aufteilung des Staates ist als Tendenz klar genug sichtbar.« Als Folgeerscheinung der verschiedenen Arten des Pluralismus registriert Schmitt Tendenzen zur Zurückdrängung des Staates und zu seiner Aufteilung. Diese Tendenzen würden zur drohendsten Gefahr, wenn sich die föderalistischen mit den pluralistischen Elementen verbinden, wenn also der Pluralismus in seiner stärksten Gestalt auftritt. Neben den Erscheinungswesen des Pluralismus registriert Schmitt die Wendung zum totalen Staat. Sie bestehe darin, daß der Gegensatz von Staat und Gesellschaft verschwindet. Mit dem Siegeszug der Demokratie und des Gesetzesstaates werde der Staat zur »Selbstorganisation der Gesellschaft«. Organisiert sich aber die Gesellschaft zum Staat, so werden alle sozialen und wirtschaftlichen Probleme unmittelbar staatliche Probleme. Man kann nicht mehr zwischen staatlich-politischen und gesellschaftlich-unpolitischen Sachgebieten unterscheiden. »Die zum Staat gewordene Gesellschaft wird ein Wirtschaftsstaat, Kulturstaat, Fürsorgestaat, Wohlfahrtsstaat, Versorgungsstaat  ; der zur Selbstorganisation der Gesellschaft gewordene, demnach von ihr nicht mehr zu trennende Staat ergreift alles Gesellschaftliche, d. h. alles, was das Zusammenleben der Menschen angeht. In ihm gibt es kein Gebiet mehr, demgegenüber der Staat unbedingt Neutralität im Sinne der Nichtintervention beobachten könnte. Die Parteien, in denen die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen und Tendenzen sich organisieren, sind die zum Parteienstaat gewordene Gesellschaft selbst, und weil es wirtschaftlich, konfessionell, kulturell determinierte Parteien gibt, ist es auch dem Staat nicht mehr möglich, gegenüber dem Wirtschaftlichen, Konfessionellen, Kulturellen neutral zu bleiben.« In dem zur Selbstorganisation der Gesellschaft gewordenen Staat gibt es eben nichts, was nicht wenigstens im Kern staatlich und politisch wäre. Die entscheidende Stufe in der Entwicklung 67

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zum totalen Staat ist die Wendung zum Wirtschaftsstaat. In ihr liege die auffälligste Veränderung gegenüber den Staatsvorstellungen des 19. Jahrhunderts. Während damals staatsfreie Wirtschaft und wirtschaftsfreier Staat einander gegenüberstanden, und der Staat nur einen kleinen Teil des Einkommens der Gesellschaft kassierte, bestimmte nun der Staat, infolge der starken Vergrößerung sowohl des Staatsbedarfs wie des staatlichen Einkommens, als Teilhaber und Neuverteiler des Volkseinkommens, als Erzeuger, Verbraucher und Arbeitsgeber, die Volkswirtschaft maßgebend. Schmitt sah in der Entwicklung zum Pluralismus einerseits und in der Wendung zum totalen Staat andererseits nicht ein widerspruchsvolles Verhältnis, sondern ein kausales. Nach ihm ist der moderne demokratische Staat total aus Schwäche und Widerstandslosigkeit entstanden. Seine Expansion ist nicht die Folge seiner Stärke, sondern seiner Schwäche, seiner Unfähigkeit, dem Ansturm der Parteien und der organisierten Interessen standzuhalten. Unter dem Druck von Parteien und Interessengruppen verschiedenster Art sei der Staat gezwungen worden, quantitativ total zu werden und in allen Sphären des menschlichen Zusammenlebens zu intervenieren. Er müsse jedem nachgeben, jeden zufriedenstellen, jeden subventionieren und den widersprechendsten Interessen gleichzeitig zu Gefallen sein. Schmitts Schilderung einer defekten Demokratie besticht. Aber diese Bestechung darf nicht dazu verführen, in einer pluralistischen und föderativen Demokratie die Wurzel aller Übel zu sehen und die Erlösung von allen Übeln von einem starken zentralistisch organisierten Staat zu erwarten. Ein Blick auf Gemeinwesen mit starkem Staat und ohne föderalistisch-pluralistische Polykratie führt zur Besinnung auf Wesen und Wert von Pluralismus und Föderalismus. Vorschläge zur Stärkung des Staates im Sinne Carl Schmitts laufen darauf hinaus, die Fiktionen vom homogenen Volk und vom neutralen Staatsoberhaupt zu verbinden, indem man dieses jenen küren lässt, worauf sich Autorität und Neutralität eines über dem pluralistischen Getriebe erhabenen Staates von selbst einstellen sollen. Die Erfahrungen, die wir mit diesen Vorschlägen gemacht haben, stimmen uns nachdenklich. Vorschläge, die Stärkung der Staatsautorität durch Stärkung der Exekutive auf Kosten der Legislative und in einem Bundesstaat durch Stärkung des Bundes auf Kosten der Länder zu versuchen, wurden in Österreich 1929 verwirklicht. Sie haben an Überzeugungskraft verloren. Es darf ja nicht vergessen werden, daß die von Schmitt kritisierten Erscheinungsweisen des Pluralismus sich nur in deinem freiheitlich verfassten Gemeinwesen entfalten können. Ein Gemeinwesen mit autokratischer totalitärer Re68

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gierungsstruktur schließt ein Wirken von Verbänden außerhalb von Staat und Einheitspartei aus. Machtausübung und Zugang zur Macht sind monopolisiert, das Verbandsleben ist verstaatlicht oder in Parteiinstitutionen übergeleitet. Alle Gruppenbildungen der Machtadressaten werden vom Staat und seiner Einheitspartei kontrolliert und dirigiert. Der monolithischen Herrschaftsstruktur soll eine Einheitsgesellschaft entsprechen. Eine vielgliedrige, in Verbänden organisierte Gesellschaft kann sich nur in einem Staatsgebilde entfalten, das freiheitlich und demokratisch gefügt ist, in dem einzelne und Gruppen sich staatsfrei entfalten können und am politischen Willensbildungsprozeß mitwirken dürfen. Nur in einer freiheitlichen Demokratie ist eine Vielfalt möglich, die in der sozialen Realität in der Form föderalistisch und pluralistisch organisierter Interessen politisch in Erscheinung tritt. Nur dort, wo individuelle Freiheit besteht, kann auch soziale Freiheit, Freiheit der Gesellschaft und Freiheit in der Gesellschaft bestehen. Es gehört zum Wesen der Demokratie westlicher Prägung, daß verschiedene Interessen und Ideen vertretende Gruppen sich uneingeschränkt am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozeß beteiligen können. Sieht man im Föderalismus eine Organisationsform, »die es ermöglicht, Freiheit im Inneren mit Stärke nach außen zu verbinden« (Montesquieu), so setzt auch er Regierungsformen voraus, welche die gewöhnlich mit freiheitlicher Regierung verbundenen Merkmale tragen. Diktaturen mit Einparteienregierung und Ablehnung freier Wahlen schränken die freiheitsfördernde Funktion des föderativen Prinzips ein. Ist es der Sinn des Föderalismus, die Entfaltung von territorial gegebenen Eigenständigkeiten und Verschiedenheiten in einem Staat zu ermöglichen, steht Föderalismus für Vielheit und Vielfalt in Einheit, so wird die Unvereinbarkeit mit einer autokratischen totalitären Regierung klar. Diese wird den monolithischen Einheitsstaat vorziehen oder formell föderative Einrichtungen als Mittel zur tatsächlichen Staatszentralisierung benützen. Jeder Bundesstaat hat seinen eigenen Ursprung  ; es können ethnische und sprachliche Anlässe, etwa der Minderheitenschutz, landschaftliche und landsmannschaftliche, partei- und wirtschaftspolitische, historische und kulturelle Gründe zur Bildung eines Bundesstaates führen. Immer aber kommt es zu einander gegenüberstehenden Herrschaftsräumen, die eine Teilung der Staatsmacht bewirken  : Einerseits eine Verteilung der Staatsfunktionen in territorialer Aufgliederung, andererseits eine Vervielfachung der an sich gegebenen Trennung von Gesetzgebung und Vollziehung. So kann ein nach territorialen Gesichtspunkten aufgegliedertes Gemeinwesen Kräfte gegen die Verabsolutierung des Staates und gegen totalitäre Erscheinungen entwickeln. 69

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Es ist daher verständlich, daß der Politologe Karl Loewenstein sowohl den Föderalismus als auch den Pluralismus der Verbände in die Kategorie der vertikalen Kontrollen einordnet. Diese umfassen diejenigen Kontrollen, die sich zwischen den verfassungsmäßig eingesetzten Machtträgern, denen die Durchführung des Staatsbetriebes obliegt, und den sonstigen mehr oder weniger rechtlich bestimmten sozialpolitischen Kräften der Gesellschaft eines Gemeinwesens auswirken, mögen diese auf territorialen, interessenmäßigen oder individuellen Gestaltungsprinzipien beruhen. Es handelt sich um die politischen Spannungsverhältnisse zwischen Bund und Ländern im territorialen Pluralismus, zwischen Staat und Verbänden im funktionellen Pluralismus und zwischen Staat und dem einzelnen. Beim territorialen Pluralismus liegt das Vertikale im Verhältnis verschiedener Ebenen von staatlichen Autoritäten, im Verhältnis verschiedener Ebenen von Zuständigkeiten. Deshalb liegt in der Verteilung der Kompetenzmaterien zwischen der zentralen Autorität und den lokalen Autoritäten der Schlüssel und oft das Kreuz der föderativen Herrschaftsstruktur. Die vertikale Kontrolle des funktionellen Pluralismus spielt sich dagegen zwischen der nach Interessen gegliederten Gesellschaft als solcher und den verfassungsmäßigen Machtträgern ab. Die pluralistischen Gruppen vertreten die Interessen der Gesellschaft gegenüber den staatlichen Machtträgern, schieben sich als filtrierende und vermittelnde Gewalten zwischen die Masse der Regierten und die offiziellen Machtträger, beeinflussen sie und damit die staatliche Willensbildung und Machtausübung und leiten die Entscheidungen der Herrschaftsgewalt über den wirtschaftlichen und politischen Status des einzelnen an diesen weiter. Pluralismus und Föderalismus können nicht nur eine die Freiheit vom Staat, sondern auch eine die Freiheit im Staat fördernde Funktion haben. Die Gegensätze zwischen Bund und Ländern und zwischen Staat und Verbänden können den heute der Politik weitgehend in anspruchsvoller Gleichgültigkeit gegenüberstehenden einzelnen zum Mitdenken und Mitreden, zum Unterscheiden und Mitentscheiden anregen. Der Mensch unserer Zeit, der außengeleitete Typ (Riesman), der homme situé (Burdeau), der homo actualis (Binswanger) bedarf starker Impulse von außen. Territorialer und funktionaler Pluralismus schaffen Kontraste und Spannungen, die geeignet sind, das Interesse des einzelnen an der Politik wachzurufen. Sie können den Kontakt des einzelnen zur Politik fördern und haben so erzieherische Bedeutung. Sie schaffen eine Vielzahl von Bereichen, in denen sich das politische Kräftespiel selbständig entfalten kann. Sie führen zu einer Streu70

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ung der Demokratie. Die Ausbildung der vielen politischen Zentren in Bund, Ländern und Verbänden fordert den einzelnen zum kritischen Engagement und zur politischen Aktivität heraus. Durch die demokratische Bestellung von Bundes-, Landes-, Gemeinde- und Verbandsorganen ist eine gewisse Lebendigkeit der Demokratie geradezu institutionalisiert  ; damit auch die Aktivität der politischen Parteien, deren staatsrechtliche Rolle ja besonders bei politischen Wahlen in Erscheinung tritt. Sie schärfen als rivalisierende Organe des politischen Konkurrenzkampfes den Blick des einzelnen für wesentliche politische Probleme und mobilisieren neue politische Kräfte. All dies freilich nur, wenn die einzelnen sich auch tatsächlich engagieren. Die Antipathie gegen die pluralistische Demokratie hat verschiedene Gründe. Es würde zu weit führen, ihnen nachzuspüren. Hier soll nur auf typische Vorstellungen verwiesen werden, die noch heute verbreitet sind. So sieht man im Staat noch immer eine über den Interessen schwebende Autorität, einen mystischen Organismus, ein höchstes Wesen, die Wirklichkeit eines absoluten Wertes und lehnt die demokratische Vorstellung ab, »daß die Menschen den Staat bilden, daß der Staat als spezifische Ordnung menschlichen Verhaltens nicht außerhalb oder überhalb der Menschen, sondern in ihnen und durch sie existiert« (Kelsen). Auch unsere Vorstellungen von der Demokratie sind oft Ursache für unsere Abneigung gegen die pluralistische Demokratie. Eine bei uns weitverbreitete Demokratievorstellung geht, losgelöst von historischen und sozialen Realitäten, von einem einheitlichen Volksbegriff aus. Wir vermuten, daß so etwas wie ein einheitlicher Volkswille existiert, ein einheitlicher Gemeinwille, in dem das Gemeinwohl in Erscheinung tritt. Das Volk wählt Vertreter, die den Volkswillen ausführen und das Gemeinwohl verwirklichen sollen. Es ist verständlich, daß bei solchen Demokratievorstellungen die Existenz von Parteien und Verbänden oft als etwas angesehen wird, das bestenfalls gerade noch hinzunehmen, aber an sich störend, wenn nicht gar demokratiefeindlich ist. Der Rousseausche Demokratiebegriff, der hinter diesen Vorstellungen steht, ein Demokratiebegriff, der  – wie Rousseau selbst betont  –, wenn überhaupt, nur in kleinen Verbänden realisierbar ist, wird uns noch immer im Erziehungs- und Lernprozeß mitgegeben. Der Umstand, daß dieser Demokratiebegriff noch heute von großer Bedeutung ist, zeigt auf, wie wirklichkeitsfremd und traditionslos unser Verhältnis zur Demokratie ist. Traditionslos, weil in der österreichischen Geschichte nie ein homogenes Volk existiert hat, sondern gerade die Vielheit und Vielfalt von Ländern, Völkern, Landsmannschaften, Ständen oder Verbänden eine politische Konstante bilden. Wirklichkeitsfremd, 71

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weil die heterogene Natur der Gesellschaft verkannt wird. Wirklichkeitsfremd auch deswegen, weil die moderne Industriegesellschaft interessenmäßig überaus differenziert und deshalb in eine Fülle von Gruppen aufgegliedert ist.

Der österreichische Föderalismus Der österreichische Föderalismus ist historisch-politisch bedingt. Die Länder sind geschichtlich gewachsene Individualitäten und politische Realitäten. Das Haus Österreich beließ ihnen eine eigene Staatlichkeit. 1918 endete mit dem Untergang der Monarchie die letzte monarchische Union von Ständestaaten in Europa. Von den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern blieben die deutschen Stammländer übrig. Ihrem Streben nach relativer Selbständigkeit musste die Neuorganisation des Staates Rechnung tragen. Allen Beteiligten war klar, daß nur eine bundesstaatliche Organisation in Frage käme. Art. 2 B-VG. Bestimmt daher  : »Österreich ist ein Bundesstaat.« Diese Selbstaussage des Art. 2 B-VG und das die Kompetenzaufteilung beherrschende Ordnungsprinzip, insbesondere die Generalklausel des Art. 15 B-VG und die Bestimmungen über den Bundesrat, scheinen am bundesstaat­ lichen Charakter Österreichs keinen Zweifel zu lassen. Der Verfassungsgerichtshof sprach schon im Erkenntnis Slg. 1030/1928 aus  : »Die Idee des Bundesrates ist es, die den Geist unserer Verfassung bestimmt. Von ihr ist der Gesetzgeber ausgegangen, sie bildet die allgemeine Voraussetzung der von ihm gesetzten Normen, die ohne diese Voraussetzungen nicht richtig verstanden werden können. Der Idee des Bundesstaates entspricht es, daß Gesetzgebung und Vollziehung zwischen Bund und Ländern geteilt werden und daß der Bund ebenso wie die Länder geteilt werden und daß der Bund ebenso wie die Länder die ihnen übertragenen Funktionen durch ihre eigenen Organe besorgen.« Damit ist das Stichwort Kompetenzverteilung gefallen. Im Bundesstaat bedeutet die Kompetenzverteilung kein bloß formales Prinzip, sondern sein Lebenselement. Daher soll hier die Kompetenzverteilung in großen Umrissen skizziert werden  : Betrachtet man die vom B-VG getroffene Aufteilung der Aufgaben auf Bund und Länder, so ist zunächst hervorzuheben, daß die Länder als solche nicht am Verfahren der Verfassungsänderung beteiligt sind. Weiters ist festzustellen, daß auf dem Gebiet der einfachen Gesetzgebung das Schwergewicht quantitativ und qualitativ beim Bund liegt. Die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder 72

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ist beschränkt  : Landesverfassungsrecht und Gemeindeverfassungsrecht sind im B-VG bereits weitgehend vorgeformt  ; die übrigen Kompetenzmaterien, die ins Gewicht fallen, wären etwa Landesplanung, Grundverkehr, Bauwesen, Feuerpolizei, Jugendschutz, Fremdenverkehr, Landeskulturangelegenheiten, darunter Jagd, Fischerei, Feldschutz, Tierzucht, Tierschutz, Naturschutz, ferner Lichtspiel- und Theaterangelegenheiten, Sportangelegenheiten, Leichen- und Bestattungswesen. Kurz  : Die Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen ist im Sinne des Unitarismus gelöst. Diesbezüglich ist Österreich ein unitarischer Bundesstaat. Auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit hat der Bund überhaupt ein Monopol. Diesbezüglich ist Österreich ein Einheitsstaat. Anders ist die Lage auf dem Gebiet der Verwaltung. Prinzipiell werden im Bereich der Länder auch die Gesetze des Bundes, soweit nicht eigene Bundesbehörden bestehen, von den Ländern vollzogen, d. h. vom Landeshauptmann und den ihm unterstellten Landesbehörden (Art. 102 B-VG). Allerdings besteht neben dem regelmäßig bis zur Ministerialebene durchlaufenden Instanzenzug ein Aufsichts- und Weisungsrecht des zuständigen Bundesministers gegenüber dem Landeshauptmann. Doch lässt sich trotzdem die Feststellung treffen, daß im Bundesstaat österreichischer Prägung das Schwergewicht der Vollziehung der Bundesgesetze bei den Ländern liegt. Die Frage der Aufteilung der Verwaltungskompetenzen ist also im Sinne des Föderalismus gelöst. Diesbezüglich ist Österreich ein föderalistischer Bundesstaat. Allerdings ist dieses Konzept in der Wirklichkeit nicht ganz durchgeführt. So sind z. B. die Länder auf dem wichtigen Gebiet der allgemeinen Sicherheitspolizei ohne Zuständigkeit. Grob gesehen kommt es also zu einer eigentümlichen Teilung und Verschmelzung der Gewalten. Der funktionellen Trennung von Gesetzgebung und Verwaltung entspricht die organisatorische Trennung von Bund und Ländern. Auf diese Weise wird das Bedürfnis nach bundeseinheitlicher genereller Regelung mit dem Bedürfnis nach lebensnaher Verwaltung und einer Länderstaatlichkeit in Einklang gebracht. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, daß das rechtsstaatliche Prinzip eine unitarisierende Wirkung ausübt. Infolge der strengen Bindung der Verwaltung an das Gesetz bleibt den Landesorganen bei der Vollziehung von Bundesgesetzen relativ wenig Entscheidungsraum. Die größte Schwäche der Länder liegt auf dem Gebiet des Finanzwesens. Man kann behaupten, daß die Länder nur eine »Finanzhoheit von Bundes Gnaden« haben. Ihnen stehen nämlich Gesetzgebungskompetenzen auf dem Gebiet des Aufgabenrechtes nur insoweit zu, als sie nicht vom Bundesgesetz73

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geber für sich in Anspruch genommen werden. Der Steuer-Kompetenz des Bundes sind zwar gewisse Schranken gesetzt, von einer Steuerautonomie der Länder kann aber nur sehr bedingt gesprochen werden. Allein das Verhältnis des Bundeshaushaltes zu den Landes- und Gemeindehaushalten (72 : 12 : 16 im Jahre 1964) zeigt die Schwäche der Länder auf. Die Verfassung nennt Österreich einen Bundesstaat. Verglichen mit anderen Bundesstaaten ist freilich die Stellung der Länder im Vergleich zum Bund schwach. Doch sind solche Vergleiche irreführend. Sie verkennen die historisch-politische Einmaligkeit jedes Bundesstaates. Auch der Bundesstaat Österreich ist eine historisch-politische Individualität. Aus diesem Grund wird hier die Frage, ob Österreich ein Bundesstaat ist, außer Streit gestellt. Es wird vielmehr versucht, einige Umstände in Erinnerung zu rufen, die Österreich zu einem Bundesstaat mit unitaristischen und zentralistischen Zügen werden ließen. Die Atmosphäre und das Klima, in denen unsere Verfassung nach dem Ersten Weltkrieg entstand, waren dem föderalistischen Gedanken nicht gerade günstig. Die Nachkriegszeit mit ihren Nöten und Krisen, die wirtschaftliche und soziale Unsicherheit, die improvisierte demokratische Republik, der als Provisorium gedachte Kleinstaat, an dessen Lebensfähigkeit niemand glaubte und dessen Anschluß an das Deutsche Reich als Fernziel allen vor Augen stand, das revolutionäre Machtstreben aufsteigender sozialer Schichten, das alles konnte wohl separatistische Bestrebungen, nicht aber den Föderalismus als solchen fördern. Die Staatsbürokratie, die die Kontinuität der Verwaltung trotz Diskontinuität der Verfassung gewährleistete, war staatstreu, aber kaum föderalistisch gesinnt. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang das »Protokoll über die zwischenstaatsamtliche Besprechung in der Staatskanzlei« vom 11. Oktober 1919 (St K Zl. 3236/7 vom 24. Oktober 1919), »betreffend gewisse in den einzelnen Staatsämtern für die Ausarbeitung eines Bundesverfassungsentwurfes durchzuführende Vorbereitungsarbeiten«. Staatskanzler Renner führte aus, das erste Stadium des Werdegangs der künftigen Verfassung Österreichs werde das der zwischenstaatsamtlichen Verhandlung über das Verfassungswerk sein. Das Ergebnis dieser Verhandlungen werde den parlamentarischen Parteien zur Kenntnis gebracht werden, um ein Bild über das voraussichtliche Schicksal des Verfassungswerkes gewinnen zu können. Die Parteien seien sich darüber einig, daß das Staatswesen eine bundesstaatliche Verfassung erhalten solle. Diese werde ihr Vorbild mehr in jener des Deutschen Reiches als in jener der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu suchen haben. Das Hauptproblem werde die Auseinandersetzung zwischen der zentralen Bundesgewalt und der 74

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Landesgewalt bilden. Niemand sei mehr berufen als die Staatsämter, sich darüber klar zu werden, welche Kompetenzen im Interesse der Lebensfähigkeit des Ganzen und zur Ermöglichung eines starken geschlossenen Auftretens nach außen der Bundesgewalt würden vorbehalten bleiben müssen und welche Kompetenzen ohne Nachteil an die Länder abgegeben werden können. In der Folge gaben die Ressorts der Staatskanzlei nachweisbar ihre Wünsche in Form von Kompetenzkatalogen bekannt  ; damit waren die heutigen Zuständigkeiten des Bundes von der Zentralbürokratie im wesentlichen konzipiert. Der Werdegang der Kompetenzverteilung ging über Zentralbürokratie, Parteien, Länder und wieder über die Parteien. Die Wirtschaft, gewohnt großräumig zu denken, forderte ein einheitliches Währungs-, Wirtschafts- und Zollgebiet sowie die Konzentration der für sie bedeutsamen Kompetenzen in der Hand des Bundes. Typisch für die Haltung der Wirtschaft ist ein vom 1840 gegründeten Niederösterreichischen GewerbeVerein in Wien an die Staatskanzlei gerichtetes Schreiben vom 10. Juli 1920, »betreffend wirtschaftliche Forderungen an die Verfassung«. Es wurden u. a. strenge Durchführung des Grundsatzes der Einheit des Wirtschaftsgebietes, Übertragung des gesamten Gewerbewesens an den Bund, Einheitlichkeit des Staatsbürgerrechtes, der Regelung über die Freizügigkeit der Person und des Eigentums, einschließlich der Pass- und Fremdenpolizei gefordert, weiters Gleichmäßigkeit der Verwaltungsorganisation in den Ländern, Überweisung der Organisation, der Einrichtung und Verwendung der Gendarmerie und Sicherheitspolizei (ausgenommen der Lokalpolizei) an den Bund. Auch die Arbeiterschaft war einheitsstaatlich eingestellt  ; auch sie forderte Konzentration der sie betreffenden Materien beim Bund. Die sozialdemokratische Partei lehnte den Föderalismus überwiegend ab. So sagte Otto Bauer noch am 20. August 1920 in der 7. Sitzung des Unterausschusses des Verfassungsausschusses, daß seine Partei dem Gedanken des Föderalismus wenig Sympathie entgegenbringe, da er bloß den tatsächlichen Machtverhältnissen entgegenkomme. Von den drei großen Berufsschichten  : Wirtschaftstreibende, Arbeiterschaft und Bauernschaft setzte sich eigentlich nur die letztere für einen starken Föderalismus ein. Die Kompetenzverteilung widerspiegelt die Interessen der verschiedenen beruflichen und politischen Vertretungen. Der Dynamik der auseinanderstrebenden Länder traten die zentralistischen unitarisierenden Tendenzen der Großparteien entgegen. War jene einmal abgefangen, konnten sich diese umso mehr entfalten. Der Staatsrechtslehrer Ermacora stellt daher fest  : 75

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»Bei der Entstehung des Verfassungswerkes kommt zum Ausdruck, daß die föderalistische Dynamik von den in den Landesparlamenten und in der Nationalversammlung vertretenen Parteien, die da und dort ein und dieselben waren, aufgefangen und in eine über den Länderinteressen stehende Parteilinie gelenkt wurde. Das Entstehen der Bundesverfassung ist ein Erfolg der Nationalversammlung, also der unitarischen Idee.« Zweifellos hat neben der geschichtlich gewordenen und gewachsenen Eigentümlichkeit der Länder, die eine föderalistische Prägkraft entfaltete, die Abneigung gegen das »rote Wien« zu Beginn der Ersten Republik eine den Föderalismus fördernde Funktion ausgeübt. Diese Abneigung entfaltete aber paradoxerweise bald unitarisierende und zentralisierende Tendenzen. Als nämlich jene politischen Kräfte, die in den meisten Ländern die Herrschaft innehatten, auch im Bund die Führung übernahmen, blieb wohl die Antipathie gegen das rote Wien bestehen, aber das Bekenntnis zum Föderalismus wurde vom Bekenntnis zur Staatsautorität überdeckt. Das Schlagwort von der Stärkung der Staatsautorität sollte die politischen Wünsche nach Stärkung der Exekutive auf Kosten der Legislative und Stärkung des Bundes auf Kosten der Länder verschleiern. Die durch Kompetenzverschiebungen zugunsten des Bundes bedingte Schwächung aller Bundesländer wurde in Kauf genommen, da ja dadurch im Ergebnis auch Wien geschwächt wurde. Die Zeit der Ersten Republik war durch eine politische Polarisierung der Gesellschaft gekennzeichnet  ; der Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen deckte sich weitgehend mit wirtschaftlichen und sozialen Interessengegensätzen, mit den Gegensätzen zwischen Bundeshauptstadt und Bundesländern, mit dem Gegensatz von Antiklerikalen und Katholiken, mit dem Gegensatz der »Bürgerlichen« im Bund und den »Roten« in Wien. Eine solche Polarisierung kann zwar zu einer gewissen Versteifung föderalistischer Elemente führen, indem der Bundesstaat in den Dienst des Parteikampfes gestellt wird, aber die bürgerkriegsähnliche und religionsähnliche Situation der Zwischenkriegszeit ließ einen echten Föderalismus auf die Dauer nicht aufkommen. In dem Augenblick, in dem die Machtpositionen sowohl im Bund als auch in den Ländern in der Hand der den Föderalismus an sich bejahenden Partei waren, demaskierte sich diese und organisierte den Staat unitarischer denn je. Die Versäulung, d. h. die Ausrichtung aller Interessen, seien es regionale, wirtschaftliche und soziale, kulturelle auf die beiden Großparteien ÖVP und SPÖ, so daß kein Interesse neutral bleibt, charakterisiert auch die Zweite Re76

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publik. Auch für sie ist mit den Worten des Staatsrechtslehrers Kafka »die Tendenz beider großer Parteien typisch, sich jedes organisierbares Interesse auch organisatorisch einzuverleiben«, mit der Folge, »daß nahezu alle Gliederungen der Gesellschaft die Polarität der politischen Organisationen widerspiegeln«. Von großer Bedeutung ist vor allem, daß die großen Verbände, die drei großen Kammerorganisationen und der Gewerkschaftsbund, jeweils einer der beiden Großparteien nahestehen. Das gilt auch für die Länder. Trotz der Versäulung ist aber die politische Situation in der Zweiten Republik nicht mit jener der Ersten Republik vergleichbar. Das gemeinsame Erlebnis der totalitären Diktatur und des Krieges, der äußere Druck der Alliierten, die Bejahung eines selbständigen Österreichs, eines eigenständigen österreichischen Staatsvolkes und eine bewusst erlebte Staatsgründerrolle verwandelten nach dem Zweiten Weltkrieg das grundsätzliche Misstrauen zwischen den Großparteien. Es wurde gewissermaßen rationalisiert. Der mangelnde Konsens über die Spielregeln der Mehrheitsregierung wurde durch die Koalitionsregierung mit eingebautem Oppositionsmechanismus ersetzt. Auf Grund der Koalitionsvereinbarungen kam es zu einer eigenartigen Gewalten- und Arbeitsteilung. Die beiden Parteien erlangten einen faktischen politischen Anspruch auf bestimme Bereiche und bauten in ihrer »Reichshälfte« ihren Einfluss aus. Die Konfliktregelungsmuster des Aushandelns und Ausgleiches etablierten sich. Jede der beiden Parteien war Opposition für den Bereich, den die andere beherrschte (Bereichsopposition). Die Rolle der Großparteien als Vertragspartner war mit der Gründung der Zweiten Republik und der Wiederbelebung der alten Verfassung nicht zu Ende. Sie setzte sich in der Verfassungspraxis fort und wurde das prägende Element der österreichischen Politik. Weniger die auch stattfindenden substantiellen Kompromisse als vielmehr die funktionellen Kompromisse, das Junktimieren und Lizitieren, die Politik des »Divide et impera« und des »do ut des« riefen Erinnerungen an die Monarchie und ihre beiden Reichshälften wach. Die Länder wurden eher zu Objekten als Subjekten der Staatspolitik. Nicht die Länder, sondern die beiden Großparteien, ihre Koalition und ihr Proporz wurden »the sine qua non of Austria«, »the first acceptable substitute for the ›Dynastic Symbol‹ of the Empire« (Secher). Der Umstand, daß die große Koalition nach dem Zweiten Weltkrieg hohe Integrationskapazität entwickelte und die politische Einheit des Staates gewährleistete, bedeutete ein Finden der Mitte des Gemeinwesens. In diesem Finden der Mitte liegt das historische Verdienst der Koalition. Daß ihre Leistungskapazität im Laufe der Zeit verfiel, dürfte weniger im eingebauten Oppositionsme77

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chanismus oder darin seine Ursache haben, daß der äußere Druck der Alliierten wegfiel, als in personellen Veränderungen der politischen Führungsgarnituren, in der Ablösung der Koalitionspolitiker durch die Reformpolitiker. Auch die Entfremdung von Aktivvolk und Parteienkartell mag eine der Ursachen des Verfalls der Koalition gewesen sein. Die Führer der Großparteien waren in diesem Regierungssystem zu sehr unter sich, der einzelne als kleiner Mann stand außerhalb des Systems. Die Wählerschaft konnte bei den Wahlen nicht als höchste Autorität entscheiden. Die Wähler entschieden nicht über ein politisches »Entweder-Oder«, über den Wechsel von Regierung und Opposition, sondern über ein politisches »Sowohl-Als-auch«. Die Wahlen bestimmten die Ausgangsposition der Koalitionspartner für die Neuverteilung von Machtpositionen innerhalb der Koalition. Die Wahlen hatten keine regierungsbildende Funktion, sondern den Charakter von Plebisziten für eine spezifische Technik des Regierens. Sie fungierten nicht als Chance des Machtwechsels von Regierungs- und Oppositionspartei, sondern nur als Chance neuen Machtausgleiches durch neue Proportionen innerhalb der Koalition. Kurz  : Die Proportionen änderten sich, der Proporz blieb. Die Wahl 1966 führte scheinbar zum Wechsel. Gestützt auf eine parlamentarische Mehrheit, die einerseits die legislative Durchführung von Regierungsinitiativen garantiert und andererseits Möglichkeiten eines Misstrauensvotums blockiert, konnte die ÖVP den Übergang zur Alleinregierung wagen. Die SPÖ hatte die für eine Koalition von der ÖVP angebotenen Bedingungen abgelehnt  ; der Bundespräsident, nach der Verfassung Herr der Regierungsbildung, hielt sich bei der Bestellung der Regierung an die herkömmlichen Konventional­ regeln. Er respektierte den Willen beider Großparteien hinsichtlich der zu wählenden Regierungsform, letzten Endes ließen ihm die Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat auch keine andere Wahl. Der Übergang zur Alleinregierung verlief reibungslos, ein Beispiel dafür, daß man die Bedeutung eingespielter Konfliktregelungsmuster nicht überschätzen darf. Ähnliches gilt auch für die seit April 1970 amtierende Minderheitsregierung der SPÖ. Allerdings darf man auch nicht übersehen, daß das Konfliktregelungsmuster des Aushandelns und Ausgleiches, wenn auch weniger auf der Staatsebene, so doch auf der Ebene der Verbände weiterhin praktiziert wird. Die paritätische Politik der Großverbände erweist sich als koalitionsähnliche Regelungstechnik. Auf Grund ihrer Konfliktregelungsmuster kann diese Politik als Fortsetzung der Koalition bezeichnet werden. Die Entscheidung mancher Probleme der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist in der Koalitionsära aus dem Entscheidungsbereich der Regierung in den 78

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der Verbände übergegangen und auch in der Alleinregierung dort verblieben. Daraus ergibt sich eine ähnliche Doppelrolle mancher Funktionäre wie in der Koalitionszeit  : Dieselben Männer, die als Parteifunktionäre im Parlament als Regierung und Opposition gegeneinander spielen, müssen im Rahmen der paritätischen Institutionen als Verbandsfunktionäre miteinander spielen. Ein Rückblick auf die Koalitionszeit bringt uns zu Bewußtsein, daß die Länder in dieser Ära viele Rechte eingebüßt haben. Der Föderalismus kam zu kurz. Die Entfremdung von Bund und Ländern verstärkte die Entfremdung von Regierung und dem kleinen Mann. Doch führte gerade dieser Umstand zu Widerständen und zum gemeinsamen Vorgehen der Länder gegen den Bund. So paradox es klingen mag, die Schwächung der rechtlichen Stellung der Länder bewirkte eine Stärkung ihrer politischen Stellung. Dies fand seinen Niederschlag vor allem in Aktionen der politischen Kräfte der Länder innerhalb der beiden Großparteien und im Rahmen der Verbindungsstelle der Bundesländer. Diese Institution, die über eine bloße Geschäftsstelle für die Konferenzen der Landeshauptmänner, Landesamtsdirektoren und Landesfinanzreferenten längst hinausgewachsen und zu einem Koordinierungsorgan der Länder geworden ist, wurde 1951 durch einstimmigen Beschluß der Länder geschaffen. Sie wurde aber erst im Mai 1966, also erst nach dem Ende der Koalition, von der Bundesregierung zur Kenntnis genommen. Die institutionalisierte Zusammenarbeit der Länder wurde nicht nur von manchen Parteikreisen, sondern auch von der Hochbürokratie des Bundes ungern zur Kenntnis genommen. Die Koordination der Länderinteressen und die Kooperation der Länder erschwert eine »divide et impera«-Politik der Zentralstellen. Sie wertet die politische Bedeutung der Länder jenseits von Schwarz und Rot gegenüber dem Bund auf und eröffnet dem österreichischen Föderalismus neue Entfaltungsmöglichkeiten. Der Bundesrat hat in dieser Richtung versagt. Er hat sich je nach dem gegebenen Kräfteverhältnis der beiden Großparteien als Organ der Regierung oder als Organ der Opposition erwiesen, aber nicht als Repräsentationsorgan von Länderinteressen. Das Forderungsprogramm der Bundesländer konnte daher nie vom Bundesrat ausgehen, sondern nur im Rahmen der Verbindungsstelle der Bundesländer erstellt werden. Dieses Forderungsprogramm, das insbesondere eine Stärkung der verfassungsrechtlichen Stellung der Länder, eine Erneuerung der Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern, eine Neuregelung des Finanzausgleiches und Fragen der Verwaltungsreform, insbesondere die Instanzenzugverkürzung, umfaßt, ist der lebhafteste Ausdruck der neuen Entfaltung des Föderalismus. 79

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Es ist bemerkenswert, daß die Verbindungsstelle der Bundesländer in Wien, und zwar am Sitz des Amtes der Niederösterreichischen Landesregierung, ihren Sitz hat, obwohl ihr kleiner Verwaltungsapparat auch anderswo hätte Unterkunft finden können. Vom Standpunkt der Länder, und zwar im Sinne der geographischen Verhältnisse, wäre etwa Salzburg als Sitz der Verbindungsstelle geeigneter als Wien. Es stellt sich daher die Frage, warum Wien eine solche Anziehungskraft für die Länder hat. Diese Anziehungskraft der Bundeshauptstadt ist in der österreichischen Politik nichts Neues. Immer schon entsandten die Landesorganisationen der Parteien Vertreter in die Regierung, in das Parlament und in Verbändeorganisationen nach Wien. Dabei war früher ein Übergewicht der Länder Wien und Niederösterreich festzustellen. Dieses Übergewicht ist geschwunden. Es hat sich bereits ein Länderproporz durchgesetzt, der insbesondere in der Einparteienregierung der ÖVP eine ebenso große Rolle spielte wie der Bündeproporz dieser Partei  ; ja es hat sich die Anschauung verbreitet, daß jedes Land ein Recht auf Vertretung in der Bundesregierung hat. Das Übergewicht der Kompetenzen des Bundes gegenüber denen der Länder macht den Zugang zu den obersten Bundesorganen, insbesondere zur Bundes­ regierung, zum wichtigsten Zugang zur Macht. Wien ist verfassungswegen Bundeshauptstadt und Sitz der obersten Organe des Bundes. Daneben ist Wien auch der Sitz der wichtigsten tatsächlichen Machtpositionen  : In Wien haben die Zentralen der Parteien und die Dachorganisationen der Verbände ihren Sitz, ebenso die maßgebenden Massenmedien. Die Niederösterreichische Landesregierung ist ebenso in Wien verblieben wie die Niederösterreichische Landwirtschaftskammer. Es ist daher verständlich, warum auch die Verbindungsstelle der Bundesländer in der Bundeshauptstadt ihren Sitz aufgeschlagen hat. Die Konzentration der Machtpositionen in Wien wird ihre Anziehungskraft weiter entwickeln. Die kommunizierenden Gefäße der Macht sind in Wien konzentriert und von den Ländern isoliert. Draus ergeben sich Gefahren für eine harmonische Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Die räumliche Entfernung von Wien bewirkt immer wieder ein politisches Desinteresse peripherer Länder an Wien und eine politische Entfremdung von Ländern und Bund, die auch durch die Entsen­ dung von Landespolitikern nach Wien nicht kompensiert wird. Bestenfalls können diese die Durchsetzung bestimmter politischer Einzelziele der Länder gewährleisten. Diese Realitäten können nicht durch formelle Bekenntnisse zum Föderalismus geändert werden  ; im Gegenteil, sie werden dadurch nur verschleiert. Man muss sie zur Kenntnis nehmen und sich darauf einstellen. 80

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Möglicherweise kann eine den politischen Kräften in den Ländern entsprechende innere Organisation der beiden Großparteien, die insbesondere die Fragen der Pflege des politischen Nachwuchses, der Kandidatenauslese, der Ämterkumulation und der Wiederwählbarkeit umfassen müßte, Lösungen bieten. Insgesamt läßt sich ein faktischer Übergang föderalistischer Bestrebungen von der Staatsebene auf die Parteienebene feststellen. Diese Tendenz hat im politischen Leben eine Reihe von Wirkungen erzielt, so die Ablösung der Koalitionspolitiker durch die Reformpolitiker und damit im Zusammenhang den Übergang vom Koalitionssystem zum System von Regierung und Opposition. Die politischen Kräfte der Länder werden sich auch in Zukunft vor allem durch und über die beiden Großparteien entfalten können. Dem kann durch die angedeuteten organisatorischen Maßnahmen nachgeholfen werden. Neben dieser innerparteilichen Föderalisierung wird auch die Zusammenarbeit der Länder im Rahmen der Verbindungsstelle verstärkt werden müssen. Wie eine solche Zusammenarbeit wirkungsvoll vor sich geht, demonstrieren auf einer anderen Ebene die Verbände schon seit langem. Die Länder müssten ihre Verbindungsstelle finanziell und personell ausstatten, ein kleiner Stab von Experten und der bisher vernachlässigte Einsatz von Mitteln der Öffentlichkeitsarbeit würden genügen.

Das österreichische Verbändewesen Das österreichische Verbändewesen ist durch verschiedene Ordnungs- und Gestaltungsprinzipien gekennzeichnet, die es vom Verbändewesen in anderen Staaten unterscheidet. Zunächst ist hervorzuheben, daß die Verbandstätigkeit weitgehend in Form der Selbstverwaltung in Kammern vor sich geht. Nicht zuletzt deshalb hat man Österreich als »Kammerstaat« bezeichnet. Die Kammern sind Körperschaften öffentlichen Rechts. Sie besorgen ihre Angelegenheiten selbständig und unabhängig vom Staat  ; dieser hat nur ein Aufsichtsrecht hinsichtlich der Rechtmäßigkeit. Sie sind durch Gesetz geschaffen und mit Pflichtmitgliedschaft und Umlagepflicht der Mitglieder ausgestattet. Damit sind ihr Bestand und ihre finanzielle Basis garantiert. Ihre Organe, meist ein Präsident mit Vertretern (Präsidium) als vollziehendes und ein Kammertag als beschließendes Organ, werden von den Mitgliedern aus den Mitgliedern gewählt. Die Rechtsform der Kammern als Körperschaften öffentlichen Rechts hat eine staatsähnliche Bestandsgarantie zur Folge. Dadurch sind die Kammern ein Ele81

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ment der Stabilität und der Konstanz in der österreichischen Politik geworden. Seit eh und je haben sie neben der Wahrnehmung und Vertretung von Interessen die Aufgabe, den Staat zu beraten und zu unterstützen. Die Beratungsfunktion ist vor allem durch das gesetzlich verankerte Recht auf Begutachtung von Gesetzen und Verordnungen gewährleistet. Der Einbau der Verbände als Kammern in die Rechtsordnung ist in Österreich sehr weit fortgeschritten. Die Kammern sind aber keine Monopolorganisationen. Neben ihnen gibt es noch eine große Zahl »freier Verbände« in Form von Genossenschaften und Vereinen. Sie treten den Kammern im politischen Wettbewerb gegenüber oder ergänzend und helfend zur Seite. Die Existenz einer Kammer schließt die Bildung eines freien Verbandes auf diesem Gebiet nicht aus. Das Grundrecht der Vereinsfreiheit ist voll gewährleistet. Neben der Rechtsform der Selbstverwaltung ist die Bundesstaatlichkeit ein Ordnungselement im österreichischen Verbändewesen. Die einzelnen Kammern sind Schöpfungen des Bundesgesetzgebers oder Landesgesetzgebers. Dies richtet sich nach der im B-VG niedergelegten Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern. Die beruflichen und wirtschaftlichen Interessen haben sich beim Werden der Verfassung in die ihnen angemessen erscheinende Staatsgewalt hineinbegeben, Wirtschaft und Arbeiterschaft in die des Bundes, die Landwirtschaft in die der Länder. Das bundesstaatliche Organisationsprinzip hat allerdings keinen rechtlichen Einfluss auf die freien Verbände. Eine Art Fernwirkung ist aber festzustellen. Weiters ist zu betonen, daß auch die vom Bundesgesetzgeber geschaffenen Kammern eine föderative Organisationsstruktur aufweisen. Neben den ordnenden Prinzipien der Selbstverwaltung und der Bundesstaatlichkeit spielt auch die Versäulung, die Ausrichtung aller Interessen auf die beiden Großparteien ÖVP und SPÖ für das österreichische Verbändewesen eine große Rolle. Die drei großen Kammerorganisationen und der Gewerkschaftsbund sind je von einer der beiden Großparteien dominiert. Dabei darf nicht übersehen werden, daß es innerhalb dieser Verbände Minderheiten gibt, die zum anderen Lager gehören und deren Rechte über ihre Quantität hinaus von der Mehrheit respektiert werden. Trotz des 1966 stattgefundenen Überganges vom Koalitionsregime zum Regierungs-Oppositions-System im Bund besteht in den großen Verbänden ein von den beiden Großparteien getragenes Koalitionssystem. Auch zwischen den Verbänden hat die Koalition eine gewisse Fortsetzung gefunden, nämlich in den verschiedenen Formen der Zusammenarbeit der Großverbände, sei es als Kollektivvertragspartner auf dem Arbeitsmarkt, sei 82

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es in den Kollegien und Kommissionen, Beiräten und Fonds, die sich in der Verwaltung angesiedelt haben. Als Beispiele seien genannt  : die Kommissionen der Fonds nach dem Marktordnungsgesetz, die Kommission nach dem Landwirtschaftsgesetz, Mühlenfonds und Mühlenkuratorium, die Fachkommission nach dem Futtermittelgesetz, der Lastenverteilungsbeirat, der Beirat nach dem Außenhandelsgesetz, nach dem Anti-Dumping-Gesetz, der Paritätische Ausschuß nach dem Kartellgesetz, der Beirat für Pensionsanpassung, der Zollbeirat, der Rohstofflenkungsausschuß, die Kodexkommission nach dem Lebensmittelgesetz, die Preiskommission nach dem Preisregelungsgesetz. Diese Liste ließe sich weiterführen, ohne daß es zu einer erschöpfenden Aufstellung käme, denn die laufende Gesetzgebung vermehrt diese Einrichtungen ständig. Sie dienen oft dazu, die unmögliche oder auch oft unmöglich scheinende inhaltliche Bestimmung wirtschaftlicher Normen durch Ad-hoc-Kompromisse oder Willensäußerungen zu ersetzen. Auf der Ebene der großen Wirtschaftspolitik ist vor allem die Paritätische Kommission für Preis- und Lohnfragen zu nennen, die aus dem Bundeskanzler, dem Bundesminister für Inneres, dem Bundesminister für Handel, Gewerbe und Industrie, dem Bundesminister für Soziale Verwaltung sowie je zwei Vertretern der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, des Österreichischen Arbeiterkammertages, der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern Österreichs und des Österreichischen Gewerkschaftsbundes besteht. Der Konzeption nach ist sie eigentlich älter, da sie auf die 1947 von den Großverbänden geschaffene Wirtschaftskommission zurückgeht, in deren Rahmen eine Reihe von Abkommen zur Regulierung der Lohn- und Preisentwicklung abgeschlossen wurden. Die auf Grund eines Vertrages der vier Großverbände errichtete Wirtschaftskommission wurde 1951 mit Bundesgesetz BGBl. Nr. 104/1951 als Wirtschaftsdirektorium der Bundesregierung auf gesetzliche Grundlage gestellt und personell erweitert. Auf Grund eines Antrages der Vorarlberger Landesregierung hob der Verfassungsgerichtshof mit Erk. Slg. 2323/1952 Bestimmungen des Außenhandelsverkehrsgesetzes wegen Verletzung des Art. 69 Abs. 1 B-VG auf, weil sie in verfassungswidriger Weise die Bindung eines Bundesministers an Beschlüsse des Wirtschaftsdirektoriums vorgeschrieben hatten. Damit wurde die durch die Verfassung festgelegte ausschließliche Befugnis der zuständigen Bundesminister oder innerhalb ihrer verfassungsgesetzlich oder gesetzlich festgelegten Kompetenzen der Bundesregierung zur obersten Führung der Bundesverwaltung in verfassungswidriger Weise eingeschränkt. Das Gesetz über das Wirtschaftsdirektorium trat 1954 außer Kraft, die Wirtschaftskom83

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mission bestand weiter fort, bis sie durch die Paritätische Kommission ersetzt wurde. Diese hat keine gesetzliche Grundlage. Sie beruht auf einem Vertrag der Großverbände und ist eine freiwillige Einrichtung, die auf Ersuchen der Bundesregierung 1957 errichtet wurde. Sie kann wohl empfehlen, aber nicht anordnen, entscheiden oder verfügen, sie hat keine Hoheitsrechte  ; sie wirkt durch ihre faktische Autorität gegenüber dem Staat und über die in ihr vertretenen Verbände gegenüber deren Mitgliedern. Nach einem am 27. Dezember 1961 zustande gekommenen Abkommen zwischen der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft und dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (Raab-Olah-Abkommen) ist die Kommission »ein auf freiwilliger Basis funktionierendes Beratungs- und Koordinierungsorgan der Sozialpartner«, das sich »in Zukunft auch mit einschlägigen Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik befassen und die Ergebnisse der Beratungen der Bundesregierung in geeigneter Weise zur Kenntnis bringen« soll. 1963 schuf die Kommission einen Unterausschuss für die Untersuchung von Grundsatzfragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik, den Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen. Er besteht aus je drei Vertretern der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, des Österreichischen Arbeiterkammertages, der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern und des Österreichischen Gewerkschaftsbundes. Der Beirat bereitet wirtschaftspolitische Entscheidungen vor, und zwar durch wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten, die meist in der Gruppe geleistet werden und im Ergebnis einen Kompromisscharakter haben. Neben diesem Unterausschuß besitzt die Paritätische Kommission seit ihrer Gründung einen ständigen Unterausschuss zur Erledigung von Preisangelegenheiten (Preisunterausschuß), dem je ein Vertreter der drei Kammerorganisationen, des ÖGB sowie die Bundesminister für Finanzen und für Inneres angehören, und seit 1962 einen Unterausschuß für Lohnfragen (Lohnunterausschuß), der aus je zwei Vertretern der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft und des ÖGB sowie je einem Vertreter der Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern und des Österreichischen Arbeiterkammertages besteht. Alle diese Einrichtungen entlasten den Staat. Sie sichern den wirtschaftlichen und sozialen Frieden. Freilich wird damit den Trägern der obersten Staatsorgane nicht die Entscheidung und Verantwortung genommen. Doch ist festzustellen, daß die Vorbereitungsarbeiten im vorstaatlichen Raum die Wirkungen von Vorentscheidungen entfalten und von den Staatsorganen kaum geändert werden. Damit besteht auch in einem Regierungs- und Oppositionssystem durch die Zusammenarbeit der Großverbände auf dem Gebiet der Wirtschafts84

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und Sozialpolitik eine Fortsetzung der Koalition, wenn auch mit anderen Mitteln und in anderen Formen. Im folgenden soll am Beispiel der drei bedeutendsten Kammerorganisationen und am Beispiel des mächtigsten österreichischen Verbandes, des Gewerkschaftsbundes, das österreichische Verbändewesen skizziert werden. Die Kammern der gewerblichen Wirtschaft – Von den drei großen Kammerorganisationen ist die Handelskammer die älteste. Ihr Daseinsrecht leitete sich einst aus der Spannungslage zwischen Monarch und Bürgertum ab. Im Sinne des Dualismus von Staat und Gesellschaft vollzog sich Mitte des 19. Jahrhunderts eine Aufspaltung der einheitlichen staatlichen Verwaltung, die in der absoluten Monarchie geschaffen worden war. Neben dem zentralistisch aufgebauten monarchischen Verwaltungsapparat obrigkeitlichen Charakters trat die dezentralisiert aufgebaute Besorgung bestimmter Angelegenheiten in Gemeinden und Handelskammern, die Selbstverwaltung. Die Aufgaben der Kammern entsprachen jener Idee der Selbstverwaltung, wonach die engeren Verbände innerhalb des Gemeinwesens ihre Angelegenheiten selbst verwalten und gestalten sollen. Wie für die Gemeinden war dabei auch für die Handelskammern die Revolution von 1848 von entscheidender Bedeutung. Der Staat war auf die Wirtschaft und das Bürgertum angewiesen. Er konnte insbesondere auch deshalb nicht auf die Mitarbeit der Wirtschaft verzichten, weil er sich selbst immer mehr mit Wirtschaftspolitik befasste. Er gab daher den Wünschen nach Errichtung von Kammern nach. Ein Erlass des Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Bauten vom Dezember 1848 sah die Errichtung von Kammern als »beratende Institute« vor. Sie hatten »Wünsche und Vorschläge über alle Gewerbs- und Handelszustände in Verhandlung zu nehmen«, sollten »ihre Ansichten und Gutachten für die Erhaltung und Förderung des Gewerbefleißes und des Verkehrs zur Kenntnis der Staatsbehörden bringen« und waren »über neue Gesetze und Verordnungen in Gewerbs- und Handelsangelegenheiten um ihr Gutachten zu vernehmen«. Auf das provisorische Handelskammergesetz von 1850, das die Kammern als »das Organ« bestimmte, »durch welches der Handels- und Gewerbestand seine Anliegen dem Handelsministerium eröffnet und die Bemühungen des letzteren zur Förderung des Verkehrs unterstützt«, folgte die definitive Gesetzregelung im Jahre 1868, wonach »zur Vertretung der Interessen des Handels und des Gewerbes mit Einschluss des Bergbaues« Handels- und Gewerbekammern zu 85

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bestehen haben. Zwischen diese beiden Gesetze fiel 1860 das Inkrafttreten der neuen Gewerbeordnung, die die letzten Reste der mittelalterlichen Zünfte beseitigte und die Dezemberverfassung 1867, ein Gesetzesbündel, von dem hier nur das heute noch geltende Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger hervorgehoben werden soll. Im Gesetz vom Jahre 1868 ist der Wirkungskreis der Kammern ähnlich wie im Erlaß aus dem Dezember 1848 umschrieben. Die Kammern wurden zu Kurien für die Wahl der Abgeordneten in die Landtage und in das Abgeordnetenhaus. Durch die Wahlreform 1873 wurden sie berechtigt, ohne Umweg über die Landtage Abgeordnete in den Reichsrat zu entsenden  ; dieses Recht verloren sie erst 1907 mit der Einführung der direkten Wahl. Seit ihrer Entstehung sind die Handelskammern Körperschaften öffentlichen Rechts auf Grund Gesetzes und haben eine Doppelfunktion  : einerseits Interessenvertretung der Wirtschaft, andererseits Beratungsorgan des Staates. Trotz ihrer staatsähnlichen Rechtsform sind die Kammern ihrer Bestimmung nach als Selbstverwaltungskörper immer gesellschaftliche Einrichtungen gewesen. Ihnen lag ja ein typisch gesellschaftliches Prinzip zugrunde  : die Vertretung der Interessen der gewerblichen Wirtschaft gegenüber dem Staat. Daneben waren die Kammern in der Monarchie ein Teilersatz für eine parlamentarische Willensbildung, wie die Selbstverwaltung für das Bürgertum ja überhaupt eine Kompensation für die nicht verwirklichte Forderung nach umfassender Mitwirkung an der zentralen Staatswillensbildung war. Nach dem Übergang von der konstitutionellen Monarchie zur demokratischen Republik wurde im Handelskammergesetz 1920 das Prinzip der Selbstverwaltung weiter ausgebaut und das Kammerwahlrecht demokratisiert. Das Schwergewicht verlagerte sich von der Beratungsfunktion auf die Funktion der Interessenvertretung. Nach dem Entstehen der Zweiten Republik wurde die Handelskammerorganisation wiederhergestellt und der Selbstverwaltungsgedanke in spezifischer Form verwirklicht. Durch das Handelskammergesetz 1946 und die Fachgruppenordnung 1947 wurden die Aufgabengliederung und der Kompetenzbereich der österreichischen Handelskammern konstituiert. Zugleich mit der Schaffung einer Dachorganisation, der Bundeswirtschaftskammer, wurden die Kammern und als Rechtsnachfolger der alten Gewerbegenossenschaften die Fachgruppen und ihre Zentralorganisationen, die Fachverbände, in einem hierarchischen Aufbau vereinigt. Die Organisation der Kammern der gewerblichen Wirtschaft ist nach fachlichen und räumlichen Gesichtspunkten gegliedert. Den Fachinter86

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essen einerseits und den föderalistischen Interessen andererseits wird durch die Organisation Rechnung getragen. Fachlich ist die Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft in sechs Sektionen gegliedert (Gewerbe, Industrie, Handel, Geld-, Kredit- und Versicherungswesen, Verkehr und Fremdenverkehr). Innerhalb der Bundessektionen sind für jede Branche Fachverbände, im Bereich der Bundessektion Gewerbe Bundesinnungen, im Bereich der Bundessektion Handel Bundesgremien genannt, errichtet. Räumlich ist eine Gliederung in der Weise gegeben, daß in jedem Bundesland eine eigene Landeskammer besteht, die ihrerseits fachlich in die gleichen sechs Sektionen wie die Bundeskammer aufgegliedert ist. Innerhalb der Landessektionen sind entsprechend den auf Bundesebene bestehenden Fachverbänden Fachgruppen, in den Gewerbesektionen Landesinnungen, in den Handelssektionen Landesgremien genannt, errichtet. Wenn in einem Bundesland für einzelne Branchen keine Fachgruppen errichtet sind, nehmen Fachvertretungen mit einem bis höchstens zwölf Fachvertretern die Interessen der Kammermitglieder dieser Branche wahr. Da in den Fachgruppen oder Fachverbänden vielfach verschiedene Berufssparten mit spezifischen Sonderinteressen zusammengeschlossen sind, können zur Wahrung dieser Sonderinteressen innerhalb der Fachgruppen oder Fachverbände Berufsgruppen gebildet werden. Das Kammerorganisationsrecht widerspiegelt so einerseits den Entwicklungsgang der Kammern und die Fülle der Institutionen, die früher neben den Handelskammern bestanden haben – insgesamt sind gegen 1000 Körperschaften öffentlichen Rechts in der Kammerorganisation zusammengefasst –, andererseits die Branchenstruktur der Wirtschaft und die föderative Struktur des Staates. Die Landwirtschaftskammern  – Land- und forstwirtschaftliche Berufsvertretungen, halb obrigkeitlich diktierter, halb freiwilliger Art hatten sich seit der Zeit Maria Theresias in Form von Ackerbau- und Landwirtschaftsgesellschaften gebildet. Die erste wurde 1764/65 in Kärnten gegründet. Die Bestrebungen zur gesetzlichen Verankerung orientierten sich an den Handelskammern, wie ja überhaupt die Handelskammern das Leitbild für die Ausgestaltung der beruflichen und wirtschaftlichen Selbstverwaltung in Österreich gewesen sind. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts kam es zu Landesgesetzen über Landeskulturräte. Sie waren teils öffentlich-rechtlich, teils privatrechtlich, teils als Landesinstitute ohne Rechtspersönlichkeit errichtet. Diese Landeskulturräte hatten als berufsständische Vertretung die Pflege der Landeskultur und die 87

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Förderung der wirtschaftlichen Interessen der Landwirtschaft ihres Landes und ausdrücklich die Beobachtung des speziellen Einflusses der Gesetzgebung und Verwaltung auf die Verhältnisse der Landeskultur zur Aufgabe. Gleichzeitig kam es zu Versuchen einer Gründung von Ackerbaukammern. Sie wurden aber als schädlich und überflüssig abgelehnt. 1902 wurde das Reichsrahmengesetz, betreffend die Errichtung von Berufsgenossenschaften von Landwirten (RGBl. Nr. 91), beschlossen. Die Konstituierung von Zwangsgenossenschaften wurde aber nicht ausgeführt. Ab 1922 wurden Landwirtschaftskammern gebildet  ; die erste in Niederösterreich mit Gesetz LGBl. Nr. 59/1922, die anderen folgten, 1932 traten als letzte die Gesetze für Kärnten und Oberösterreich in Kraft. Die noch fehlende Kammer für Wien wurde 1958 geschaffen. Der zeitliche Abstand in der Gründung und auch die Unterschiede der Regelungen in den Landesgesetzen führten zu einem Nebeneinander von verschiedenen Institutionen. Die angestrebte Gleichheit wurde mit Bundesgesetz BGBl. Nr. 259/1924, betreffend das Verhältnis der land- und forstwirtschaftlichen Hauptkörperschaften zu den Bundesbehörden, samt ergänzenden Landesvorschriften erreicht. § 1 lautet  : »Die Bundesbehörden haben Gesetzesentwürfe, die die Interessen der Land- und Forstwirtschaft berühren, vor der Einbringung in den gesetzgebenden Körperschaften sowie besonders wichtige Verordnungen…, welche die erwähnten Interessen berühren, vor ihrer Erlassung den land- und forstwirtschaftlichen Hauptkörperschaften zur Begutachtung zu übermitteln.« Die Landwirtschaftskammern haben im Gegensatz zu den Handelskammern und Arbeiterkammern keine gesetzliche Zentral- und Ausgleichsstelle, weil auf Grund des Kompetenzkataloges des B-VG. Gesetzgebung und Vollziehung auf dem Gebiet des Landwirtschaftskammerwesens Landessache ist. Daher wurde immer schon versucht, eine Zentralstelle zu errichten. Schon im Jahre 1908 hatte die Landwirtschaftsgesellschaft in Wien die »Präsidialkonferenz der Landeskulturräte und Landwirtschaftsgesellschaften der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder« gegründet. 1923 wurde eine »Präsidentenkonferenz der landwirtschaftlichen Hauptkörperschaften« geschaffen. 1946 wurde die Präsidentenkonferenz wiedererrichtet, als Verein aber erst 1953 konstituiert. Mitglieder dieses Vereins sind die Landwirtschaftskammern und der allgemeine Verband für das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen in Österreich. Die Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern ist eine Koordinationsstelle und lenkt bis zu einem gewissen Grad die Politik der Länderkammern. Die Errichtung der Präsidentenkonferenz geschah ja im wesentlichen in der Absicht, 88

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eine gewisse Gleichheit der einzelnen Mitglieder in ihrem Umgang mit der Bundesregierung zu erreichen. Vorher hatte jede Kammer einen gesonderten Zugang zum Landwirtschaftsministerium gesucht, was sich allzusehr zum Vorteil der größeren und einflußreicheren Kammern auswirkte. Politisch gewinnt die Präsidentenkonferenz mehr und mehr die Funktion einer Bundeskammer. Rechtlich muß sie sich mit der Entfaltung im Rahmen ihrer Vereinsstatuten und des Vereinsrechtes begnügen. Die Arbeiterkammern – Der Wunsch nach Errichtung von Arbeiterkammern geht bis auf das Revolutionsjahr 1848 zurück. Die Hoffnung durch Verwirklichung von Kammern der Arbeiterschaft eine Vertretung im Parlament zu sichern, ähnlich wie es im Bereich der gewerblichen Wirtschaft durch die Handelskammern geschehen war, wurden aber enttäuscht. Trotz einer entsprechenden Petition an das Abgeordnetenhaus im Jahre 1874 kam es in der Monarchie zu keiner eigenen beruflichen Interessenvertretung der Arbeiter und Angestellten. Die Vereins- und Versammlungsfreiheit wurde zwar 1867 verfassungsmäßig gewährleistet, die Koalitionsfreiheit durch das sog. Koalitionsgesetz 1870 anerkannt, den Vereinigungen auf dem Gebiet der Arbeitsinteressen wurde aber durch diese rechtlichen Regelungen faktisch jede Wirkung abgesprochen. Erst in der demokratischen Republik, nämlich 1920, wurden durch Bundesgesetz Kammern für Arbeiter und Angestellte errichtet  ; durch ein weiteres Bundesgesetz wurden sie 1921 der Stellung der Handelskammern angeglichen. Das Leitbild der Handelskammern war auch bei der Errichtung der Arbeiterkammern maßgebend. Im Gegensatz zu anderen Ländern, wo es nur Handelskammern gibt, hat sich in Österreich die Einrichtung »Kammer« vervielfacht. Die Kammerorganisation auf dem Gebiet der gewerblichen Wirtschaft förderte durch ihr bloßes Dasein die Errichtung von gesetzlichen Vertretungen in fast allen Berufssparten. Die Handelskammern wurden gewissermaßen zu Katalysatoren der Entwicklung zum »Kammerstaat«. Man hat in dieser Vervielfachung eine »reductio ad absurdum« der ursprünglichen Idee der Förderung von Handel und Gewerbe gesehen  ; doch darf nicht übersehen werden, daß in einer demokratischen Gesellschaft, in der alle Schichten der Bevölkerung politisch mündig sind, notwendigerweise eine bewährte Einrichtung wie die der Handelskammern beispielgebend wirkt und verallgemeinert wird. Die Ziele, die mit der Errichtung der Arbeiterkammern angestrebt wurden, gehen klar und deutlich aus den erläuternden Bemerkungen zur Regierungs89

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vorlage hervor  : »Es handelt sich darum, für die in Gewerbe und Industrie, im Handel und Verkehr beschäftigten Arbeiter und Angestellten Kammern zu schaffen, die den entsprechenden Kammern der gewerblichen Wirtschaft nicht nur völlig gleichwertig, sondern auch in ihrem Wirkungskreise und ihrer Organisation derart ähnlich gestaltet sind, daß ein Zusammenwirken der beiderseitigen Körperschaften bei Lösung von wichtigen Aufgaben der wirtschaftlichen Verwaltung ohne Schwierigkeiten möglich ist. Werden späterhin … auch für die Unternehmer und Arbeiter der Landwirtschaft entsprechende Einrichtungen geschaffen, so sind alle Voraussetzungen gewonnen, um neben den auf breiter demokratischer Grundlage beruhenden gesetzgebenden Körpern der erwerbstätigen Bevölkerung eine besondere, nach den Hauptberufszweigen gegliederte Teilnahme an der wirtschaftlichen Verwaltung zu sichern. Unter diesen Umständen ist die Errichtung von Arbeiterkammern nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres nächstliegenden Zwecks, sondern ebensosehr im Hinblick auf die Eingliederung der neuen Organisation in den beabsichtigten Neubau der wirtschaftlichen Verwaltung zu würdigen.« Die Gewerkschaften traten von allem Anfang an für die Schaffung von Arbeiterkammern ein, da sie in ihnen ein mit Bestandsgarantie ausgestattetes Instrument sahen, auf die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung Einfluß zu nehmen. Die starke Machtposition der Arbeiterkammern entwickelte sich aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Nachkriegszeit erforderte einen für die Übernahme von wirtschaftlichen Verwaltungsaufgaben geeigneten Apparat. Die politischen Parteien konnten diese Funktion nicht erfüllen. Sie wollten auch nicht die Konzepterstellung und Durchführung unpopulärer Bewirtschaftungsaufgaben allein der Ministerialbürokratie überlassen. Dieser Umstand war für die Ausweitung der Einflußsphäre aller Interessenvertretungen von großer Bedeutung. Der zweite Umstand war das politisch günstige Klima der Koalition. Dazu kommt, daß der Einfluß der Arbeiterkammern von der Machtposition der Gewerkschaften abhängig ist. Da der Österreichische Gewerkschaftsbund nach 1945 einheitlich und straff organisiert wurde und direkt wie indirekt einen großen Einfluß auf die Wirtschaftspolitik ausübte, gewannen auch die Arbeiterkammern einen Machtzuwachs. Den Arbeiterkammern gehören auf Grund des Arbeiterkammergesetzes 1954 grundsätzlich alle Arbeiter und Angestellten an (ausgenommen sind z. B. Verwaltungsbeamte sowie land- und forstwirtschaftliche Arbeitskräfte). Die Arbeiterkammern sind regional (nicht aber auch fachlich) nach demselben Schema konstruiert wie die Handelskammern. Es gibt daher neun Landeskammern 90

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sowie eine Bundesorganisation (Österreichischer Arbeiterkammertag). Den Arbeiterkammern wurden die gleichen Rechte wie den Handelskammern eingeräumt. Das Hauptgewicht legen sie auf Schulung und Beratung der Arbeitnehmer und Betriebsräte, auf Publizistik und Erarbeitung von Grundlagen für die wirtschafts- und sozialpolitische Interessenvertretung der Arbeitnehmer. Sie arbeiten eng mit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund zusammen. Diese Zusammenarbeit hat zu einer Arbeitsteilung geführt, wonach die Arbeiterkammern mehr die Interessenvertretung der Kammerangehörigen gegenüber dem Staat, die Gewerkschaften dagegen die Interessenvertretung der Dienstnehmer gegenüber den Arbeitgebern übernommen haben  ; die Gewerkschaften haben sich daher auf die Lohnpolitik, die Arbeiterkammern auf die allgemeine Wirtschafts- und Sozialpolitik spezialisiert. Die Kooperation wird durch die Wahl von Gewerkschaftsfunktionären in die Organe der Arbeiterkammern garantiert. Alle Schlüsselpositionen in den Arbeiterkammern sind von Gewerkschaftern besetzt, weshalb die Arbeitsteilung zwischen Arbeiterkammern und Gewerkschaften reibungslos funktioniert. Der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) ist seiner Rechtsform nach ein freier Verein. Im Gegensatz zu der Pflichtmitgliedschaft bei den Kammern ist die Mitgliedschaft freiwillig und steht jedem in Österreich gegen Lohn oder Gehalt tätigen Arbeitnehmer, Inländern wie Ausländern, offen. Im Gegensatz zu anderen Staaten der freien Welt, wo sich die Gewerkschaften meist nach weltanschaulichen, politischen oder beruflichen Kriterien aufsplittern, ist der ÖGB eine Einheitsgewerkschaft. Der ÖGB ist die am stärksten zentralisierte Gewerkschaft der freien Welt. Auch in Österreich gab es bis 1933 rivalisierende Gewerkschaften. Nach 1945 haben sich die wichtigsten politischen Richtungen zum Aufbau eine Einheitsgewerkschaft entschlossen, in der sie als Fraktionen vertreten sind. Nicht vertreten ist die FPÖ, was historisch-politisch zu erklären ist. Über 1,5 Millionen Menschen gehören dem ÖGB an. Das bedeutet, daß gegen 70 Prozent aller Arbeitnehmer in Österreich Mitglieder des ÖGB sind. Dadurch ist auch der Organisationsgrad der österreichischen Arbeitnehmer überaus hoch. Der Gewerkschaftsbund ist räumlich (Landesexekutiven des ÖGB, Bezirkssekretariate) und fachlich (16 Gewerkschaften, aufgeteilt in Berufssektionen und Fachgruppen) gegliedert. Zu den wichtigsten Aufgaben der Gewerkschaften gehört der Abschluss von Kollektivverträgen. Großer Wert wird auf Bildungsarbeit und Information gelegt. Der ÖGB nimmt auch maßgeblich am wirtschafts- und sozialpolitischen Geschehen teil, teils durch Gesetzbegut91

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achtung und Beratung der Regierung, teils durch Entsendung von Delegierten in Beiräte und Kommissionen. Der ÖGB ist der mächtigste aller Verbände. Er besitzt alle Möglichkeiten der anderen Großverbände und darüber hinaus die Waffe des Streikrechts.

Aufgaben und Verantwortung der Grossverbände Um die Bedeutung der drei großen Kammern und des Gewerkschaftsbundes zu verstehen, genügt es nicht, einen Blick in ihre Gesetze, Statuten usw. zu werfen, vielmehr muß man unsere gesamte heutige politische Wirklichkeit, unsere Wirtschafts- und Sozialordnung ins Blickfeld nehmen. Die Gesetze haben sich ja nicht so sehr gewandelt wie die Wirklichkeit. Die Formen sind im großen und ganzen dieselben wie vor hundert Jahren  ; der Inhalt dieser Formen aber hat sich mit dem Wandel von Staat und Gesellschaft und damit mit dem Wandel ihres Verhältnisses geändert. Als 1848 die Handelskammern gegründet wurden, dachte man ebenso wenig an eine Entwicklung zum »Kammer- und Verbändestaat« wie 1867, als die Grundlagen unseres Vereinsrechtes, oder 1873, als die Grundlagen unseres Genossenschaftsrechtes geschaffen wurden. Die Gründe für die wachsende Bedeutung der Verbände sind bereits dargestellt worden. Die Bedeutung der Verbände ist ein alle Staaten der westlichen Welt kennzeichnender Grundzug. In Österreich verbindet sich dieser moderne Grundzug mit Traditionen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung. Die gemeindliche Selbstverwaltung wurde – wenn auch nicht rechtlich – so doch im Effekt zur untersten staatlichen Instanz. Sie hat an Bedeutung eingebüßt. Im Gegensatz zur weitgehend heteronom gewordenen Gemeinde-Selbstverwaltung ist die wirtschaftliche Selbstverwaltung weitgehend autonom geblieben. Das hängt damit zusammen, daß heute der vorparlamentarische Raum auf Bundesebene das Gebiet der Politik darstellt. Dazu kommt, daß heute fast jedes politische Problem auch ein wirtschaftliches Problem ist. Bei jeder wirtschaftlichen Frage ist aber ein mehr oder weniger unmittelbares Interesse der von den drei Kammerorganisationen vertretenen Bevölkerungsschichten gegeben. Dem kommt das Bestreben der obersten Staatsorgane entgegen, sich bei den Interessenvertretungen abzusichern, indem sie deren Experten zur Mitarbeit an Gesetzesentwürfen und in die entsprechenden Arbeitskommissionen einladen. Dem kommt auch das Organisationsrecht entgegen. Der Aufgabenkreis der 92

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Kammern ist nämlich so weit gefasst, daß sie praktisch bei jeder Frage zum Zuge kommen können. Das Organisationsrecht verwendet den unbestimmten Gesetzesbegriff »Interessen« bei der Bestimmung der Kammeraufgaben. Damit aber kommt es praktisch zu einer Allzuständigkeit der Kammern, zumindest soweit es sich um die Begutachtung von Gesetzes- und Verordnungsentwürfen der Vollziehung handelt. Daß diese Gutachten der endgültigen Regierungsvorlage nicht angeschlossen sind, entspricht traditionellen, widerspricht aber demokratischen Vorstellungen. Diesbezüglich fehlen Publizität und Transparenz im Prozeß der Normenerzeugung. Die wichtigsten Bereiche der Einflußnahme sind die Wirtschafts-, Verkehrs-, Außenhandels-, Agrar-, Sozial-, Finanz- und Zollpolitik. Damit stehen vor allem das Bundesministerium für Handel, Gewerbe und Industrie, das Bundesministerium für Bauten und Technik, das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, das Bundesministerium für soziale Verwaltung, das Bundesministerium für Finanzen und – wegen der Preispolitik – das Bundesministerium für Inneres im Spannungsfeld der organisierten Interessen. Bei der Auswahl der Minister spielte dieser Umstand bisher eine große Rolle, gleichgültig, ob es sich um die Koalitionsregierung oder um die Einparteienregierung handelte. In diesen Ressorts sind auch die meisten von den Großverbänden paritätisch besetzten Kommissionen, Beiräte, Kollegien usw. beheimatet. Dort vor allem wirkt sich die Tendenz der Pluralisierung der staatlichen Verwaltung aus. Im staatlichen Bereich spielt sich die Einflußnahme der Großverbände auf die Rechtserzeugung nicht nur im vorparlamentarischen Raum, sondern auch im Parlament selbst ab, da ja die Parlamentarier zu einem großen Teil aus den Verbänden kommen  ; sie entfaltet sich nicht nur in den verschiedenen Bereichen der Verwaltung, sondern auch, wenn auch abgeschwächt, in Bereichen der Gerichtsbarkeit durch die Nominierung von Laienrichtern. Als Beispiele seien die arbeitsgerichtlichen Senate angeführt, denen jeweils zwei Beisitzer angehören, von denen der eine dem Kreis der Unternehmer, der andere dem Kreis der Beschäftigten entnommen wird  ; vorschlagsberechtigt ist die zuständige gesetzliche bzw. die sonstige Interessenvertretung. Weiters sollen noch die Kartellgerichte und die Kausalsenate in der Handelsgerichtsbarkeit genannt werden, wo Beisitzer auf Grund von Vorschlägen der Kammern tätig sind. Im außerstaatlichen Raum sind jene Verbände, die ihrer Stellung nach am Arbeitsmarkt organisiert sind, rechtsetzend tätig. Sie fungieren als Träger einer Kollektivautonomie, welche die Privatautonomie ergänzt hat. Der Kollektivvertrag zwischen Verbänden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist zwar 93

Pluralismus und Föderalismus

nicht formell, wohl aber inhaltlich an die Stelle der vielen Einzelverträge zwischen privaten Arbeitergebern und Arbeitnehmern getreten und die wichtigste Rechtserscheinung im Arbeitsrecht geworden. Durch ihre beratende Mitwirkung, durch ihre Vor- und Mitentscheidung im Rahmen der Staatswillensbildung, als Partner am Arbeitsmarkt, als Beteiligte am politischen Prozeß und als soziale Machtfaktoren prägen die Großverbände die Staats- und Gesellschaftsstruktur Österreichs. Sie schaffen eine neue Staatswirklichkeit. Durch sie wird auch die Rechtsordnung umgewandelt  ; mitbetrof­f en ist auch die Wirtschaftsordnung. Wie Staat und Gesellschaft ist auch die Wirtschaft in einem steten Wandel begriffen. In diesem Bereich ist die Bedeutung der Verbände unübersehbar. Vor allem für den einzelnen, dessen Wohl und Wehe von seinem Verband und dessen Verhältnis zu gegenbeteiligten Verbänden und zum Staat abhängig ist. Der Staat wird von den Verbänden entlastet und belastet. Überall dort, wo der Staat in irgendeiner Weise in das wirtschaftliche Geschehen eingreift, ist die Möglichkeit und von den Interessenvertretungen her gesehen die Notwendigkeit gegeben, daß sie die staatliche Intervention in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchen. Sie setzen mit ihrer Politik in erster Linie dort an, wo über die Gestaltung der rechtlichen und sozialen Organisation einer Volkswirtschaft entschieden wird. Das hat zur Folge, daß die Wirtschaftsverbände die Organe des Staates im Sinne ihrer Zielsetzungen zu beeinflussen suchen und andererseits der Staat selbst die Wirtschaftsverbände bei der Erfüllung seiner Aufgaben zur Mitarbeit heranzieht. Damit werden die Wirtschaftsverbände mehr und mehr zu Trägern wirtschaftlicher Ordnungsfunktionen. Die funktionelle und personelle Beteiligung der Verbände am Staat nimmt ständig zu. Die staatliche wirtschaftspolitische Willensbildung wird seitens der Verbände durch ihr bloßes Dasein und durch ihre Einflußnahme auf die Staatsfunktionen vorgeformt. Entsprechend dieser wirtschaftspolitischen Bedeutung der Verbände hat man die Verbandswirtschaft als eigenes Modell neben die beiden diametral entgegengesetzten Organisationsformen der Wirtschaft, Zentralverwaltungswirtschaft und Verkehrswirtschaft, gesetzt. Österreich weist ein aus Elementen aller drei Modelle gemischtes System auf. Man kann es als gelenkte Marktwirtschaft mit Dominanz der Verbände charakterisieren. Die wirtschaftspolitische Trägerschaft der Großverbände lässt dem Staat oder besser der Regierung als Träger der Wirtschaftspolitik zwar noch einen gewissen Spielraum, eine Wirtschaftspolitik ohne oder gar gegen die Großverbände ist aber undurchführbar, ja es ist zweifelhaft, ob die Regierung auf längere Sicht auch nur gegen einen der Groß94

Pluralismus und Föderalismus

verbände regieren könnte. Auch das symbiotische Verhältnis der Großverbände zu den beiden Großparteien dürfte dies unmöglich machen. Es bleibt als wesentlich festzustellen, daß in einer Verbandswirtschaft die gesamtwirtschaftliche Koordination weder durch eine zentrale Planungsstelle noch im Wege eines Marktautomatismus erfolgt. Der österreichischen Verbandswirtschaft fehlt ein eingebauter Stabilisator, der von sich aus für einen befriedigenden Interessenausgleich sorgt. Theoretisch könnte der Staat in Form eines Koordinationsorgans als ein solcher Stabilisator auftreten, und in der Tat ist die Regierung als Koordinator bemüht. Bei der Bedeutung der Großverbände ist es allerdings fraglich, wie weit die Regierung mit ihren Koordinierungsversuchen gehen kann. Sie ist jedenfalls dabei von der Wohlmeinung und Mitarbeit der Verbände abhängig. In Österreich haben die Großverbände selbst für einen befriedigenden Interessenausgleich zu sorgen. Sie haben zwar in erster Linie die Interessen ihrer Mitglieder wahrzunehmen, fungieren aber in zweiter Linie als Koordinatoren und Kooperatoren der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Nach innen haben sie für einen Ausgleich der von ihnen betreuten Interessen zu sorgen, nach außen müssen sie mit den gegenbeteiligten Verbandsautoritäten auf einen Interessenausgleich hinarbeiten. Die Aufgabe, die Belange der eigenen Mitglieder in einer auf Zusammenarbeit mit anderen Verbänden hinzielenden Politik zu wahren, birgt die Gefahr der Entfremdung der Mitglieder von der Verbandsführung in sich. Für das kleine Mitglied genügt das Bewußtsein nicht, daß sein Verband das mitbestimmt, was im Gemeinwesen geschieht. Es erwartet, daß sich die Verbandsorgane seiner persönlichen Anliegen annehmen. Diese Erwartung aber wird von den Funktionären, den Experten und der Bürokratie der Großverbände oft zu wenig erfüllt. Der Kontakt nach unten ist häufig unterbrochen, ja oft hat das einzelne Mitglied den Eindruck, daß die Funktionäre es vergessen haben und »oben« mit den anderen Verbänden Dinge beschließen, die auf seinem Rücken zur Auswirkung kommen. Dieses Erlebnis hat zur Folge, daß neue Gruppen entstehen, von denen man erwartet, daß sie die speziellen Anliegen besser wahrnehmen als der Großverband. Ähnlich wie der Machtanstieg des Bundes zu einer Wiederbelebung des Föderalismus geführt hat, so führt der Machtanstieg der Großverbände und ihr Einbau in die Staatsorganisation zu einem »Aufstand« des einzelnen und kleiner Gruppen. Diese Erscheinungen verlangen von den Großverbänden die Verstärkung des Kontaktes zum einzelnen Mitglied. Auch organisatorisch müßte den Entfremdungstendenzen entgegengearbeitet werden. Dem einzelnen Mitglied und den Minderheiten 95

Pluralismus und Föderalismus

müßten über das bloße Wahlrecht hinaus besondere Mitsprache- und Kontrollrechte gewährleistet werden, die räumliche und fachliche Dezentralisation müßte optimal ausgenützt werden, um dem Mitglied die Verbandspolitik näherzubringen. Die Verbandswirtschaft verlangt ebenso wie die pluralistische Demokratie von den beteiligten Verbänden eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Der Kompromiß wurde zur Grundform der Willensbildung in der Verbandswirtschaft und in der Verbändedemokratie. Dies muß den Parteien und Verbänden ständig bewußt sein, soll dieses System funktionieren. Neben der Kompromißbereitschaft spielt für das Funktionieren dieses Systems das Bewußtsein der Gemeinwohlverantwortung eine große Rolle. Parteien und Verbände werden heute einander oft so gegenübergestellt wie früher Staat und Parteien. Diese, so sagt man, repräsentierten bloß Partikularinteressen, während der Staat das Gesamtinteresse repräsentiere, also »über« ihnen stehe. Heute ordnet man die Gemeinwohlfunktion den politischen Parteien zu und sieht in den Verbänden bloß Repräsentanten des Eigennutzes. Diese Vereinfachung übersieht den Gesamtzusammenhang aller politischen Probleme. Sieht man im Gemeinwohl ein regulatives Prinzip, an dem sich alle Träger des politischen Prozesses orientieren müssen, soll auf die Dauer eine demokratische Gemeinschaft bestehen können, so wird man nicht nur den Parteiführern, sondern auch den Führern der Großverbände die Würde der Gemeinwohlverantwortung aufbürden. Den politischen Parteien als Hauptträgern der staatlichen Willens- und politischen Meinungsbildung und den Verbänden als Repräsentanten organisierter Interessen kommt in der pluralistischen Demokratie die Verantwortung für die Gestaltung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu. Das gilt insbesondere für Österreich, wo zwei Großparteien und vier von ihnen dominierte Großverbände die Politik praktisch monopolisieren  ; wo Bund, Länder, Gemeinden und Verbände, die Macht der beiden Großparteien, ihre interne Machtstruktur und ihre Beziehung zueinander repräsentieren  ; wo der Großteil der Bevölkerung in politisch je auf eine der beiden Großparteien ausgerichteten Primärbeziehungen lebt  ; wo die »Versäulung« und die Reproduktion eines bipolarisierten Parteienstaates geradezu sozial garantiert sind. Dieses politische System, das von der Politikwissenschaft (Lehmbruch) als eine der reinsten Ausprägungen eines Typs »kooperativer Konfliktregelung« bezeichnet wird (»Konkordanz-«, »Proporz-« und »Koalitionsdemokratie«) hat Vorzüge. Sie bestehen vor allem in sozialem Frieden, Stabilität, Konstanz, großer Integrationskapazität und entsprechen den Bedürfnissen einer konflikt96

Pluralismus und Föderalismus

scheuen Gesellschaft. Das System hat aber auch Nachteile  ; sie bestehen vor allem in geschwächter Leistungskapazität. Mangelnde politische Konkurrenz führt zu einem Mangel an politischen Neuerungen, weil diese nur auf Kosten etablierter Interessen erfolgen könnten, und zu einem Defizit an Planung, weil die Einigung in bezug auf die Erhaltung des Status quo der Macht leichter und systemnotwendiger ist als die Einigung über zukünftige Ziele. Außerdem tendiert das System zu einem politischen Konformismus, der die Insider gegenüber den Outsidern über Gebühr begünstigt und dem Nonkonformisten wenig Chancen bietet. Österreich ist eine stabile, konservative Demokratie. Dies entspricht offenbar der großen Mehrheit seiner Bevölkerung. (mit Gertrude Welan)

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Betrachtungen zum Demokratieverständnis (1971)

Die drei Arten der Demokratie nach Macpherson »Demokratie war einmal ein schlimmes Wort. Wer überhaupt etwas darstellte, der wußte, daß Demokratie in ihrem ursprünglichsten Sinn – als Herrschaft des Volkes oder Regierung entsprechend dem Willen der Masse des Volkes etwas Schlechtes sein würde, tödlich für die Freiheit des Einzelnen und für alle Annehmlichkeiten zivilisierten Lebens. Das war die Einstellung fast aller gebildeten Menschen seit frühester Zeit bis vor hundert Jahren.« Dann, innerhalb von fünfzig Jahren, wurde aus der Demokratie eine gute Sache, eine so gute Sache, daß es heute fast keinen Staat mehr gibt, der sich nicht als Demokratie präsentiert und interpretiert. Jedes Herrschaftssystem betrachtet sich als Volksherrschaft. Alle herrschenden Eliten herrschen »als Volk«, »durch und für das Volk« oder »im Namen des Volkes« oder »im Auftrag und unter Aufsicht des Volkes«  : »alle Staatsgewalten gehen vom Volk aus«, »alles Recht des Staates geht vom Volk aus«. Die ganze Welt ist demokratisch  ; aber sie ist nicht eine Demokratie. Die Demokratien sind so verschieden, daß man sie nur dem Namen, nicht aber der Sache nach auf einen Nenner bringen kann. Deshalb muß man fragen, welche Demokratie gemeint ist, wenn von Demokratie die Rede ist. Der kanadische Politologe Macpherson zeigt überzeugend auf, daß in der heutigen Welt im großen und ganzen drei Vorstellungen von Demokratie aktiv wirksam sind  : die liberale der westlichen Welt, die kommunistische Demokratie des Ostens und die Demokratie der dritten Welt, die weder kapitalistisch noch kommunistisch ist. Die kommunistische und die Demokratie der dritten Welt sind beide Varianten der nichtliberalen Demokratie. Sie unterscheiden sich von der liberalen Demokratie vor allem dadurch, daß sie kein System konkurrierender Parteien, keine Konkurrenzgesellschaft mit den für sie typischen bürgerlichen und politischen Freiheitsrechten aufweisen. 99

Betrachtungen zum Demokratieverständnis

Welche von den drei großen Konzeptionen und Entwicklungsformen sich global durchsetzen wird und ob nicht neue entstehen, wissen wir nicht. Die Führungsschichten aller drei Systeme meinen offenbar, daß je ihr System dem Menschen am meisten entgegenkommt, daß ihr System »humankonformer« und »demokratischer« sei als die anderen, daß sie auf dem rechten Weg und die anderen in einer Sackgasse seien. Die drei Systeme beeinflussen einander, wobei festzustellen ist, daß die liberale Demokratie – schon allein wegen ihrer besonderen Verwirklichung der mit dem politischen Konkurrenzsystem notwendig zusammenhängenden Grundfreiheiten, wie z. B. die Meinungsäußerungs-, Presse- und Wirtschaftsfreiheit – mehr als die beiden anderen Systeme für Vorstellungen anderer Demokratien »aufnahmebereit« ist.

Österreich als Demokratie westlicher Prägung Aufgrund der Verfassung läßt sich Österreich eindeutig als Demokratie westlicher Prägung qualifizieren. Die das demokratische und liberale Baugesetz der Verfassung konstituierenden Normen im allgemeinen sowie Art. 26 Abs. 6 B-VG und Art. 8 des Staatsvertrages 1955 im besonderen weisen Österreich als liberale Demokratie aus. Auch die politische und ökonomische Realität weist deren Züge auf. Und auch unsere Geschichte zeigt Parallelen zu der anderer westlicher Demokratien. Zuerst etablierte sich bei uns ein liberales System in Gestalt der konstitutionellen Monarchie und einer im Grundzug kapitalistischen Wirtschaft, dann erst wurde das demokratische  – allgemeine und gleiche – Wahlrecht eingeführt. Zuerst bestanden bei uns Marktwirtschaft, bürgerliche Gesellschaft und bürgerlicher Rechtsstaat. Erst mit der Verwirklichung des Koalitionsrechts begann die eigentliche Demokratisierung des Staates. Das Wahlrecht wurde von oben nach unten erweitert, wurde auf mehr und mehr Schichten des Volkes ausgedehnt. Wie in den meisten anderen westlichen Staaten wurde das demokratische Wahlrecht erst dann eingeführt, als die bürger­ liche Gesellschaft und der bürgerliche Rechtsstaat bereits da waren. Der Rechtsstaat hat bei uns mehr Tradition als die Demokratie. Über die Demokratie wurde daher bisher bei uns viel weniger reflektiert als über den Rechtsstaat. Daran ändert nichts, daß der bürgerliche Rechtsstaat durch die Demokratisierung des Staates verwandelt wurde und eine spezifische demokratische Ausprägung erfahren hat und die staatlichen Institutionen die Verwirklichung sowohl liberalen als auch demokratischen Gedankenguts darstellen. 100

Betrachtungen zum Demokratieverständnis

Das Demokratieverständnis in Österreich Welchem Demokratieverständnis huldigen wir  ? Meines Erachtens ist unser Demokratieverständnis theoretisch weitgehend an Rousseau orientiert. Aus Art. 1 B-VG (»Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.«) leiten etwa Adamovich/Spanner – und deren Meinung kann zumindest in der Staatsrechtslehre als herrschend geltend – die theoretische Verankerung der »Volksouveränität« ab, den Gedanken, »daß von Mensch zu Mensch das Volk der ursprüngliche Träger der Staatsgewalt sei«. Die Feststellung, daß das Recht vom Volk ausgehe, bedeute »Festlegung der Identität von Herrschenden und Beherrschten«. Das ist Rousseau. Untersucht man aber die Verfassung darauf, ob und inwieweit das Prinzip der Identität Herrscher-Beherrschte im einzelnen durchgeführt wird, so wird man sagen müssen, daß seine Verwirklichung vom B-VG nicht einmal symptomatisch versucht wird. Das B-VG installiert nämlich eine Repräsentativdemokratie (vgl. insbesondere Art. 24, 26, 95, 35, 56 B-VG), und zwar – da die plebiszitären Komponenten völlig in die Schranken der repräsentativen Komponenten gestellt sind (vgl. insbesondere Art. 41 Abs. 2 B.VG im Zusammenhang mit dem VolksbegehrensG, Art. 43, Art. 44 Abs. 2 B-VG im Zusammenhang mit Art. 44 Abs. 1 B-VG und dem Volksabstimmungsgesetz, Art. 60 B-VG im Zusammenhang mit dem BundespräsidentenwahlG)  – eine Repräsentativdemokratie mit nur schwachen plebiszitären Komponenten. Dieser Befund müßte von der Verfassung her gesehen eigentlich dazu führen, die Formel »Identität Herrscher-Beherrschte« aufzugeben. Die Staatsrechtslehre hat aber diese Formel offenbar liebgewonnen. Offiziell war und ist für unser Demokratieverständnis ein unreflektierter Rousseau das Leitbild. Von diesem Leitbild her ist es nur konsequent, wenn bei uns die Existenz von Parteien und Verbänden häufig als etwas Negatives angesehen wurde und wird. Parteien und Verbände werden gerade noch toleriert, gewissermaßen als notwendiges Übel. Dieses wird aber an sich als störend, ja als demokratie- und verfassungsfeindlich angesehen. Ist dies von der Verfassung her gerechtfertigt  ? Die österreichische Verfassung ist ihrer Genesis nach ein Produkt von politischen Parteien. Sie basiert in vielen Bereichen auf »Mißtrauenskompromissen« der beiden Großparteien. Sie ist in vieler Beziehung geradezu als Instrument für politische Parteien angelegt, die sich mit Mißtrauen gegenüberstehen. Trotz dieser offenkundigen Tatsachen wurde hinsichtlich der Entwicklung nach 1945 festgestellt, die »von der Verfassung selbst initiierte repräsentative Demokratie« sei einer »Umgestaltung zum Parteienstaat 101

Betrachtungen zum Demokratieverständnis

unterzogen worden«. Von der Verfassung und von der politischen Infrastruktur her aber muß man fragen  : Was sonst hätte die österreichische Demokratie sein können  ? Als repräsentative, parlamentarische Demokratie ist Österreich spätestens seit 1918 ein Parteienstaat, nach 1945 wurde dies durch die Große Koalition nur besonders deutlich. Selbst eine nur an den Artikeln der Verfassung orientierte Staatsrechtslehre konnte die eigentlichen Träger der Verfassungsinstitutionen nicht mehr ignorieren. Ähnliches gilt für die Verbände, insbesondere die Kammern. Die mit einer repräsentativ-demokratischen Verfassung bei der vorliegenden politischen Infrastruktur erfahrungsgemäß notwendigerweise verbundene Parteienund Verbändedemokratie wurde und wird häufig geradezu als Gegensatz zu dieser Verfassung aufgefaßt. Es ist anzunehmen, daß hier entweder ein paläo-liberales Repräsentationsmodell als Maßstab fungiert oder ein an Rousseau orientiertes unreflektiertes Demokratiemodell. Nach diesem wählt ein homogenes Volk Vertreter, die den wegen der Homogenität des Volkes – einheitlichen – das Gemeinwohl realisierenden Volkswillen in Gesetze transformieren, die Grundlage der gesamten anderen Staatstätigkeit sind. Dabei wurde und wird das Spannungsverhältnis der historisch gegensätzlichen Begriffe »Demokratie« und »Repräsentation« gar nicht bewußt. Die Hypothese, durch ein einwandfrei demokratisches Wahlrecht sei bereits »government with the consent of the people« garantiert und demzufolge das Spannungsverhältnis der historisch konträren Begriffe »Demokratie« und »Repräsentation« aufgehoben, bilden nach Ernst Fraenkel das Grunddogma anglo-amerikanischen Verfassungsdenkens, und darüber hinaus in allen von John Locke beeinflußten Staats- und Gesellschaftssystemen der westlichen Welt einen selbstverständlichen Bestandteil des politischen Denkens. Man könnte dieses Dogma auch der österreichischen Verfassung »unterlegen«, da sie alle Elemente einer Repräsentativdemokratie westlicher Prägung aufweist. »Bewußt« wurde dieses Modell von den an der Verfassungsgebung beteiligten Kräften allerdings nicht normativ verwirklicht – man war eher, aber auch dies kaum »bewußt«, an Rousseau orientiert. Der Verfassungsprozeß 1918–1920 läßt diese Deutung, das Resultat (das B-VG 1920 i.d.F. 1929) läßt jene Deutung zu. Wer sich also in Österreich gegen den Parteienstaat ausspricht, spricht sich eigentlich gegen die durch die Verfassung eingerichtete Form der Demokratie aus. Meist bleibt die Verfassungs- und Demokratiekritik ohne rechtspolitische Konsequenzen. Konsequenterweise müßte man nämlich für eine andere Verfassung und Demokratie plädieren, etwa für die markanteste Erscheinungsform der 102

Betrachtungen zum Demokratieverständnis

modernen plebiszitären Demokratie, das Rätesystem, wonach das Volk nicht nur legitimiert ist als Träger der Souveränität zu herrschen, sondern auch dazu berufen, als Inhaber der Exekutivgewalt zu regieren, oder etwa für einen altliberalen Staat, eine konstitutionelle Monarchie mit Klassenwahlrecht und einem Parlament, das als Sitz des besitzenden und gebildeten Bürgertums dieses gegenüber einem Monarchen repräsentiert. Jedenfalls müßte ein Verfassungsmodell entworfen werden, das die Parteien ausschaltet oder ihren Einfluß sehr einschränkt. Weder die eine noch die andere, noch eine neue Variante sind von der österreichischen Staatsrechtslehre nach 1945 diskutiert worden. Es ist anzunehmen, daß die vereinfachte Rousseau-Formel »Identität von Herrschenden und Beherrschten« ohne weitere Differenzierung nach wie vor das offizielle Demokratiemodell darstellt, obwohl weder die Verfassung noch die politische Realität diesem Modell entsprechen. Denn wie bietet sich die politische Realität dar  ? Sie dürfte am ehesten dem von Schumpeter und Downs entwickelten pragmatischen Modell entsprechen, wonach Demokratie ein institutionelles System ist, in dem durch Wahlen die jeweilige Zusammensetzung des Führungsteams bestimmt wird und wenigstens zwei derartige Teams sich um Stimmenmaximierung bemühen. Diese vereinfachten Darlegungen sollten die Problematik unseres Demokratieverständnisses aufzeigen. Diese Problematik rührt nicht zuletzt daher, daß sich die Schöpfer des B-VG, die Führer der drei politischen Lager, nicht auf ein inhaltserfülltes Demokratiemodell einigen konnten. Sie einigten sich über ein bestimmtes Set von Konfliktregelungsmustern, im übrigen war Demokratie für sie mehr oder weniger ein Mittel, zur Alleinherrschaft zu gelangen und/oder die Gefahr der Diktatur der anderen abzuwehren. In diesem Sinn bestand ein Konsens. Über die Frage, welchem Modell der Demokratie die Verfassung folgen sollte, bestand kein Konsens. Und nach 1945 bejahte man einfach die Verfassung 1920 i. d. F. 1929 … Zusammenfassend kann hinsichtlich des Demokratieverständnisses in Öster­ reich vereinfacht festgestellt werden  : In der Staatsrechtstheorie folgt man weitgehend Rousseau (»Identität von Herrschenden und Beherrschten«), die Verfassung läßt sich als System à la Locke deuten (wobei die repräsentativen Komponenten noch dadurch verstärkt werden, daß die plebiszitären Komponenten durch ihre Konstruktion und das Parteiensystem weitgehend in den Dienst der repräsentativen Elemente gestellt sind), die Praxis läßt sich an Hand des Schumpeter/Downschen Modells deuten.

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Mehrheitswahl – mehr Demokratie (1971)

Demokratie als Herausforderung Seiner historischen Zielsetzung nach war der Kampf um die Demokratie in Österreich ein Kampf um die Volkssouveränität und damit ein Kampf gegen die alten Obrigkeiten und gegen die privilegierten herrschenden Schichten in Staat und Gesellschaft. Es ging um die Emanzipation von politischer Bevormundung und um die Partizipation des Volkes am politischen Entscheidungsprozeß. Die Revolution 1848 zerbrach an der Macht des Monarchen, moralisch aber siegte die Idee der Demokratie. Das erste volksgewählte Parlament Österreichs, der Kremsierer Reichstag, proklamierte im »Entwurf der Grundrechte des österreichischen Volkes« die Volkssouveränität  : »Alle Staatsgewalten gehen vom Volke aus.« Es dauerte aber noch siebzig Jahre, bis sich die Idee der Volkssouveränität politisch und rechtlich durchsetzen konnte. Die Revolution von 1848 fand 1918 in einem tragischen Nachziehverfahren ihr späte Erfüllung  : der Aufstieg Österreichs zur Demokratie war mit dem Untergang der österreichischen Monarchie verbunden. Unsere Demokratie wurde aus einer Antistellung groß. Sie hatte ursprünglich einen politisch-polemischen Charakter und wurde vom Protest gegen die Heteronomie und vom Postulat für Autonomie in die Höhe getragen. Die Institutionen – das Wahlrecht, das Parlament, die Grundrechte, die Bindung der Verwaltung an das Gesetz, die Verwaltungsgerichtsbarkeit usw.  – waren ursprünglich vom Geist des Protests gegen Fremdherrschaft und von der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung erfüllt. Die Versöhnung der demokratischen Idee mit dem Staat führt dazu, daß die Los-von-der-MachtBewegung zu einem Kampf um die Macht überging. Der Kampf um Freiheit und Gleichheit wurde mit dem Kampf um die Macht verbunden. Neue Machthaber, insbesondere die politischen Parteien, etablierten sich, neue Fremdbestimmungen entstanden, ohne daß aber die alten gänzlich beseitigt wurden. 105

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

Die Ablösung alter Eliten durch neue bewirkte, daß die Institutionen einem Funktionswandel unterzogen wurden. Sie wurden vielfach zu reinen Techniken und Methoden reduziert und verloren damit ihren ursprünglich politisch-polemischen Sinn. Das Ziel, dem sie ursprünglich dienten, die Minimierung und Rationalisierung der Macht, wird heute kaum mehr gesehen. Aber man hat den Institutionen auch keinen neuen politischen Inhalt gegeben, es sei denn, einen herrschaftsetablierenden. Kritik an den Institutionen ist selten und wird nicht gerne gehört. Der Raum der Verfassung ist meist auch dort tabuisiert, wo er reformbedürftig ist. Die Träger der Institutionen, die elitären Gruppen der politischen Parteien, sind auf diese Weise abgesichert. Verfassung und Demokratie als Angriffswaffen verwandelten sich zu Garanten des Status quo, wurden aus progressiven Elementen zu konservierenden, zu Reproduktionsmechanismen etablierter Machtverhältnisse. Die Institutionen der politischen Ordnung werden entpolitisiert. Damit werden sie dem Volk entfremdet und stehen nur einem Kreis von Eingeweihten nahe. Und doch  : Wieder protestiert der politisch Selbstbewußte, fordert Selbstbestimmung, die Heteronomie provoziert bei den kritisch Denkenden Opposition usw. Der Kampf um die Freiheit und der Kampf um die Macht geht weiter. Seit 50 Jahren hat Österreich eine Verfassung, die im Art. 1 proklamiert  : »Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.« Hat dieses Programm Wirkungen gezeigt  ? Ist die Demokratie gewachsen  ? Ist die Gesellschaft im Vergleich zu 1920 demokratischer geworden  ? Sicher bejaht die Bevölkerung heute die Demokratie mehr als vor 50 Jahren. Und seit etwa 25 Jahren herrscht auch so etwas wie ein Verfassungs- und Demokratiekonsens bei den wichtigsten Machthabern. Geht man aber von den Institutionen aus, so steht die Demokratie im großen und ganzen noch dort, wo sie schon 1929 war. Genauer  : Demokratie gibt es in Österreich eigentlich nur in einem Sektor der Gesellschaft – im Bereich der staatlichen Institutionen. Aber auch hier ist der Stand im großen und ganzen bei 1920 geblieben. Auch hier ist vieles verbesserungsbedürftig, stammt doch unser Institutionengefüge aus einer Zeit, in der andere politische Macht- und Interessenlagen als heute aktuell waren. Da die Verfassung in Österreich das ist, wozu sie und was aus ihr die beiden Großparteien machen, wäre diese Reform leicht durchzuführen. Die Institutionenreform im Bereich der Verfassung ist ein Kinderspiel im Vergleich zum Problem der Demokratisierung der Gesellschaft, die eine qualitative Änderung der Gesellschaftsordnung bedeutet. Hier ist vieles tabuisiert. Wo wäre anzusetzen  ? Vor allem in jenen Bereichen, wo Macht am stärksten gebildet, akkumuliert 106

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

und ausgeübt wird  : in den politischen Parteien, in den Großverbänden, in der Wirtschaft, in den Massenmedien. Innerparteiliche Demokratie, innerverbandliche Demokratie, Wirtschaftsdemokratie, Demokratisierung der Massenmedien sind vier Themen für eine permanente Diskussion. Allerdings scheiden sich hier die Geister. Die beiden Extreme lauten  : Man kann das DemokratieModell, nach dem die Staatsorganisation aufgebaut ist, nicht auf andere Bereiche der Gesellschaft übertragen, die politische Demokratie funktioniere überhaupt nur dann, wenn das demokratische Prinzip allein im Bereich des Staates realisiert werde. Die andere Extremmeinung geht dahin, alle gesellschaftlichen Bereiche, seien sie privat oder öffentlich, zu demokratisieren. Sicher kann Selbstbestimmung nicht in allen Bereichen der Gesellschaft in gleicher Weise und mit den gleichen Techniken erreicht werden. Warum aber Demokratie im Sinne von Kontrolle der Herrscher durch die Beherrschten, das Prinzip der Öffentlichkeit, Verantwortlichkeit und Abhängigkeit der Herrschafts- und Machtträger gegenüber den Herrschafts- und Machtunterworfenen auf die staatliche Herrschaftsordnung im engsten Sinn beschränkt sein soll, ist nicht leicht einzusehen. Und daß außerhalb und jenseits der staatlichen Institutionen gesellschaftliche Macht recht massiv ausgeübt wird und die Gruppen, die diese Macht in den Parteien, in den Verbänden, in der Wirtschaft, in den Massenmedien innehaben, weitgehend außerhalb offener Machtkontrolle und offener Machtablöse stehen, ist nicht zu übersehen. Wenn auch dieser Zustand von der großen Mehrheit der Bevölkerung stillschweigend hingenommen wird, so bedeutet das nicht, daß der einzelne diesem Zustand bewußt zustimmt. Hier hätte die politische Aufklärung einzusetzen, um einerseits den Zustand der Fremdbestimmung und andererseits den eigenen Wert bewußt werden zu lassen. Die Entwicklungslinie Fremdbestimmung – Mitbestimmung – Selbstbestimmung wird von manchen als Utopie abgetan. Ein Mehr an Demokratie kann aber nicht als unrealistisch abgetan werden. Demokratie ist ja nichts Fixes und Fertiges, Abgeschlossenes, Perfektes. Sie ist eine immerwährende Herausforderung an den Menschen, nach mehr Selbstbestimmung zu streben.

Wahlrechtsreform als Teil der Demokratiereform Wenn auch heute im Bereich des Staates i.e.S. als auch außerhalb dieses Bereichs ein Demokratiedefizit festzustellen ist, so heißt das nicht, daß im Staat alles beim alten bleiben soll. Man muß sich aber dessen bewußt sein, daß die 107

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

Diskussion über die Verbesserung der Demokratie im Bereich des Staates nicht die Diskussion über andere gesellschaftliche Bereiche ausschließen oder beschränken darf und weder als Technik der Ablenkung von den anderen Problemen noch als demokratisches Alibi funktionieren soll. Die Verbesserung der Demokratie im Bereich der staatlichen Institutionen wird in Österreich unter dem Schlagwort Demokratie-Reform angeboten. Die Wahlrechtsreform ist ein Teil dieser Reform. Dementsprechend befassen sich alle Demokratiereformer mit Wahlrechtsreformen. Die Forderung nach einer Änderung des Wahlrechts wurde sogar an die Spitze der Regierungserklärung 1970 gestellt. Ein Wahlrechtsentwurf wurde ausgearbeitet. (Am 4. Dezember 1970 wurde vom Nationalrat mit den Stimmen der SPÖ und der FPÖ die sog. kleine Wahlrechtsreform beschlossen. Die folgenden Ausführungen gelten auch für die neue Wahlrechtslage.) Damit wurden die Grundsätze unseres Wahlrechts, die in Art. 26 B-VG festgelegt sind, zur Diskussion gestellt. Ein seit langem im nichtkontroversiellen Raum stehender Teil der Verfassung rückt in den kontroversiellen Raum. Art. 26 unseres Bundes-Verfassungsgesetzes bestimmt wesentlich Gehalt und Gestalt unserer staatlichen Demokratie. In ihm findet das Programm des Art. 1 B-VG  : »Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus«, seine wichtigste Realisierung. Merkl hat dies präzise formuliert  : »Durch die Gestaltung des Wahlrechts entscheidet die Verfassung über die im Art. 1 B-VG verkündete demokratische Staatsform.« Die Wahl eines zentralen allgemeinen Vertretungskörpers durch das Volk bildet die wichtigste Komponente des demokratischen Baugesetzes, das unsere Verfassung bestimmt. Gemäß Art. 26 Abs. 1, 1. Satz B-VG wird der Nationalrat vom Bundesvolk auf Grund des gleichen, unmittelbaren, geheimen und persönlichen Wahlrechtes der Männer und Frauen, die das neunzehnte Lebensjahr vollendet haben, nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Diese Bestimmung ist eine Art Biographie der österreichischen Demokratie. In ihr kommt die Geschichte des Kampfes um das Wahlrecht in das Parlament zum Ausdruck. Wie in fast allen kontinental-europäischen Staaten vollzog sich dieser Kampf in Etappen. Man kann drei Entwicklungsstufen feststellen  : Zunächst wurde das Wahlrecht – trotz feierlicher Proklamation der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz – nur privilegierten Schichten konzediert. In der weiteren Folge konnte das beschränkte Wahlrecht beseitigt werden  ; das allgemeine und gleiche Wahlrecht setzte sich durch. Die dritte Stufe brachte neben dem Frauenwahlrecht das Verhältniswahlrecht. 108

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

Die Präferenz für den Proporz Die Proporzpräferenz ist historisch-politisch begründet und läßt sich als Reaktion zum altösterreichischen Mehrheitswahlrecht erklären. Dieses war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ungerecht empfunden worden. Paradigmatisch dafür sind etwa die Ausführungen Geyerhahns im Österreichischen Staatswörterbuch (hrsg. v. Mischler/Ulbrich, 3. Bd., 1907, S. 648)  ; er hält ein Plädoyer für das Proporzwahlrecht und polemisiert gegen die Ungerechtigkeit der Mehrheitswahl. Er zitiert Rosins Wort  : »Bei jeder Mehrheitswahl spielt in den einzelnen Wahlbezirken jede Partei, für sich betrachtet, va banque, ›Alles oder nichts  !‹ ist die Losung«, und hält das Proporzwahlsystem für demokratischer. Das Ergebnis leidenschaftlicher Erbitterung im Wahlkampf, von Wahlbündnissen heterogener Parteien, von Wahlenthaltungen – dies alles sprach gegen die Mehrheitswahl. Im Vielvölkerstaat und Vielparteienstaat Alt-Österreich spielte darüber hinaus der Gedanke der Vertretung nationaler und politischer Minderheiten und die Möglichkeit einer gerechten Repräsentation im Sinne der spiegelbildlichen Vertretung aller in den Königreichen und Ländern der Monarchie vorhandenen Meinungen gegenüber der Krone eine große Rolle bei der Forderung nach der Proporzwahl  ; die Majorisierung nationaler und politischer Minderheiten sollte durch dieses Wahlsystem unmöglich gemacht werden. (Beispiele dafür sind die ersten Institutionalisierungen des Proporzes im mährischen Ausgleich 1905 und in der Reichsratswahlordnung 1907 in bezug auf die Landgemeindebezirke.) Der Übergang zum Proporzwahlrecht im Gefolge der Revolution 1918 war in diesem Sinne nur konsequent. Allerdings hatte sich die politische Infrastruktur völlig gewandelt, Deutschösterreich war weder ein Vielvölkerstaat mit vielen Minoritäten noch ein Vielparteienstaat. Die »drei Lager« waren ja im wesentlichen nur durch drei entsprechende Parteien vertreten. Folgt man der Auffassung, daß Repräsentation nur dort sinnvoll ist, wo eine Instanz besteht, der gegenüber repräsentiert werden soll, so war auch diese politische Voraussetzung entfallen  ; denn die Krone, der gegenüber die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder, Völker und Volksteile repräsentiert wurden, war ja nicht mehr vorhanden. Auch die Verfassungsstruktur hatte sich geändert. Aus der gewaltentrennenden konstitutionellen Monarchie mit ihrem Gegensatz von Parlament (Bürgertum) und Exekutive (Krone) wurde eine parlamentarische Demokratie mit Gewaltenverbindung und personeller und funktioneller Identität von Legislative und oberster Exekutive. Eine Verfassungsordnung wurde 109

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

errichtet, welche die Regierung nicht von oben, vom Monarchen, sondern von unten, vom Volk über das Parlament, entstehen läßt und an das Vertrauen des Parlaments bindet. War das Proporzwahlsystem unter diesen gewandelten soziopolitischen und rechtlichen Voraussetzungen eigentlich sinnvoll  ? Dazu ist zu sagen, daß politische Postulate oft erst dann verfassungsrechtlich realisiert werden, wenn sich die soziopolitischen Voraussetzungen dieser Postulate verändert haben. Die Forderung nach dem Proporz war schon längst zur Ideologie geworden. Man sah im Proporz einen wesentlichen Fortschritt der Demokratisierung und verlieh ihm einen demokratischen »Mehrwert«. Darüber gibt der Motivenbericht zum Gesetz vom 18. Dezember 1918 über die Wahlordnung für die konstituierende Nationalversammlung, StGBl. Nr. 115, Aufschluß (auszugsweise zit. bei H. Kelsen, Die Verfassung der Republik Deutsch-Österreich, 2. Teil, 1919, S.  45 f.). Durch den Proporz würden wertvolle Minderheiten »nicht einfach von siegreichen Mehrheiten niedergetreten und aus der Gesetzgebung ausgeschaltet«. Der Wahlkampf höre beim Proporz auf, gehässig und persönlich zu sein, er werde dafür umso nachdrücklicher und bei ritterlichen Formen umso sachlicher. Allüberall habe der Proporz die Wahlsitte mit einem Schlag verbessert. Er bringe jede beachtenswerte Interessengruppe faktisch zur Vertretung, ohne darum die Leidenschaften durch das Vabanquespiel, »alles oder nichts«, das ja jede Mehrheitswahl zeigt, bis zum Siedepunkt zu erhitzen. Der Proporz zivilisiere jede Art von Wahlen und verinnerliche die politische und Weltanschauung des Wählers. Die politische Wirklichkeit der Ersten Republik bot dann trotz Proporzwahlsystem bekanntlich nicht dieses idyllische Bild. Die Wahlkämpfe wurden erbittert geführt und die Parteien leisteten sich den Luxus des Radikalismus. Zum Beginn der Ersten Republik aber hatte sich allerdings so etwas wie eine Konkordanzdemokratie à la Schweiz in Form der Zusammenarbeit der drei großen politischen Lager etabliert. Auch der Renner/Mayr-Verfassungsentwurf erinnert in manchem an das schweizerische Regierungssystem  ; so etwa der Passus  : »Die Proportionalvertretung soll die verhältnismäßige Anteilnahme aller an der Regierung und Verwaltung an Stelle der Herrschaft des Einen über den Anderen, somit die Mitregierung an Stelle der Alleinherrschaft (der Diktatur) setzen. Die Verfassung sieht in dieser Bestimmung ein wesentliches und spezifisches Merkmal wahrer Demokratie« (F. Ermacora, Quellen zum österr. Verfassungsrecht, 1967, S. 250). Allerdings wurde dann im B-VG 1920 nicht eine Demokratie Schweizer Prägung errichtet, und auch in der politischen Wirklichkeit etablierte sich keine Konkordanzdemokratie. Nicht Konsens und Konkordanz der 110

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

großen politischen Lager »verlangten« nach dem Proporzwahlsystem, sondern die permanente Bürgerkriegssituation. Mißtrauen und Machtbedürfnis der großen politischen Lager hätten von vornherein jedes Wahlsystem, das ihnen nicht eine proportionale Vertretung im Parlament garantiert hätte, unakzeptabel gemacht. Nicht so sehr die »Gerechtigkeit« des Proporzwahlsystems als das gegenseitige Mißtrauen und die Angst vor der möglichen Diktatur der anderen schlossen den Gedanken an ein mehrheitsbildendes Wahlrecht aus. Für die zwei unversöhnlichen großen politischen Lager war es absolut notwendig, daß die Parlamentswahlen Richtung und Grüße von politischen Veränderungen in der Wählerschaft gewissermaßen statistisch zum Ausdruck bringen.

Proporzdemokratie – das politische System Österreichs ? Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich in Österreich die sog. Koalitionsdemokratie oder Proporzdemokratie etabliert, sei es in Gestalt der Koalition der beiden Großparteien, sei es in Gestalt der Kooperation der vier Großverbände (sog. Sozialpartnerschaft, »Bereichskoalition«). Politische Phänomene, welche für die zwanzig Jahre der Großen Koalition der beiden Großparteien ÖVP und SPÖ und für die permanente Kooperation der vier Großverbände (Handelskammerorganisation, Arbeiterkammerorganisation, Gewerkschaftsbund und Landwirtschaftskammerorganisation) typisch waren und auch sind, haben dazu geführt, daß die Politikwissenschaft das politische System Österreichs als Ausprägung eines Typs »kooperativer Konfliktregelung« qualifiziert hat. Es entspricht dem sogenannten »Konkordanzmodell« – dem Gegentyp zum »Konkurrenzmodell« – und läßt sich durch folgende spezifische Konfliktregelungsmuster charakterisieren  : 1. Gewisse Bereiche in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft werden von vornherein von je einer der beiden Großparteien oder einem ihrer Satelliten dominiert. 2. Wichtige politische Posten und Positionen werden nach dem Grundsatz der Parität und des Proporzes besetzt. 3. Strittige politische Fragen werden nicht durch Mehrheitsentscheidungen gelöst, sondern durch Kompromisse. Dabei sind weniger die echten, substantiellen Kompromisse als vielmehr die funktionellen (»Junktims«), also die politischen Tauschgeschäfte, typisch. Dieses Modell, das der deutsche Politikwissenschaftler Lehmbruch (Proporzdemokratie, 1967) entworfen hat, deckt sich natürlich nicht ganz mit der österreichischen Wirklichkeit  ; es beschreibt diese nicht exakt, sondern hebt typische Entscheidungsprozesse anschaulich hervor. 111

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

Lehmbruch meint, daß die umschriebenen Techniken der kooperativen Konfliktregelung in der politischen Tradition Österreichs angelegt sind und führt dafür eine Reihe von Beweisen an. Die Konfliktregelungsmuster der beiden Großparteien und der vier Großverbände von heute entsprechen den Konfliktregelungsmustern der Nationalitäten in der österreichisch-ungarischen Monarchie von gestern. Sie sind nach Lehmbruch Elemente der politischen Kultur Österreichs geworden, die von den politischen Eliten auf die neu in die Eliten eintretenden Personen übertragen werden. Daß der politische Neuling von der jeweiligen politischen Elitegruppe konformiert wird, sich anpaßt, um dadurch zu avancieren, kann als Regelfall angesehen werden. Nonkonformisten haben wenig Chancen. Dem Neuling wird im politischen Lernprozeß die jeweilige Ideologie der beiden großen Lager »mitgegeben«. Dem Außenstehenden scheinen die ideologischen Unterschiede der beiden Großparteien gering. Ohne Zweifel haben sich die Programme angeglichen. Empirisch wurde nachgewiesen, daß bei den Spitzenfunktionären der beiden Großparteien ein relativ starker Konsens, bei den mittleren Parteikadern hingegen eine ausgeprägte ideologische Polarisierung gegeben ist. Funktionäre der Großverbände dagegen sind mehr konsensuell und pragmatisch orientiert. Das »Lagerdenken« herrscht aber auch da. Es wird von den Trägern des Sozialisationsprozesses der nächsten Generation tradiert. Auf diese Weise werden politische Verhaltensmuster stabilisiert, konserviert und permanent reproduziert. Die für Österreich typische politische Integrationsform ist die sog. »Versäulung«. Die politische Ausrichtung und Bindung an die beiden Großparteien ist so stark, daß sich alle anderen gesellschaftlichen Beziehungen und Interessen ihnen unterordnen. Die beiden Großparteien haben die Tendenz, sich jedes organisierbare Interesse organisatorisch einzuverleiben. Dementsprechend lebt der Großteil der österreichischen Bevölkerung in politisch je auf eine der beiden Großparteien ausgerichteten Primärbeziehungen. Die Reproduktion eines bipolarisierten Parteienstaates ist damit sozial garantiert. Die Herrschaft der beiden Großparteien und der von ihnen dominierten Großverbände erfährt durch das von der Verfassung für Bundes-, Landes- und Gemeindeebene und gesetzlich für die Kammern vorgeschriebene Proporzwahlrecht keine Störung. Im Gegenteil, die Herrschaft der beiden Großparteien wird durch das bestehende Wahlrecht abgesichert. Denn das Proporzwahlsystem läßt in stabilen Demokratien die Machtverhältnisse erstarren. Andererseits ermöglicht es dem Wahlvolk keine Entscheidung über die Regierungsbildung und das Regierungsprogramm und es sichert auch nicht gut die Verantwortlichkeit der Regierung und ihrer Kontrolle durch die Wäh112

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

lerschaft. Denn dafür wären klare Mehrheiten im Parlament notwendig. Diese aber kommen in Österreich nur ausnahmsweise zustande  ; die Wahlen delegieren vielmehr den Führungen der beiden Großparteien die Entscheidung über die Regierungsbildung und Regierungskurs. Der Bundespräsident, der nach der Verfassung formell Herr der Regierungsbildung ist, hat dabei praktisch nur jenen Aktionsspielraum, den ihm die Führungen der beiden Großparteien lassen. Da neben den nahezu gleich starken Großparteien, die regelmäßig zusammen über mehr als 90 Prozent der Parlamentssitze und Wählerstimmen verfügen, eine Kleinpartei, die FPÖ, besteht, muß die Strategie der Großparteien die Kleinpartei berücksichtigen. Diese versucht, das Zünglein an der Waage zu spielen. In die Regierung wurde sie zwar bisher nicht aufgenommen, da sie aber durch ihre Parlamentssitze mit jeder Großpartei zusammen regelmäßig eine absolute Mehrheit bildet, sind beide Großparteien insbesondere im parlamentarischen Bereich von ihr abhängig. Das Proporzwahlsystem wertet in diesem Sinn die Kleinpartei auf. Die Mehrheit der Wählerschaft wird dagegen abgewertet, denn ihr kommen bei diesem Wahlsystem und bei diesem Zweiparteien- oder hinkenden Dreiparteiensystem geringe Entscheidungsmöglichkeiten zu. Jede Perfektionierung des Proporzwahlsystems wird diese »Aufwertung« einer Kleinpartei und die »Abwertung« der großen Mehrheit der Wählerschaft verstärken. Daher müßte man annehmen, daß die beiden Großparteien für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht eintreten. Das ist aber nicht der Fall. Keine der politischen Elitegruppen Österreichs tritt für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht ein. Offensichtlich scheuen die Führungen der Großparteien das mit einem solchen System verbundene Risiko und kalkulieren mit einer möglichen Unterstützung durch die Kleinpartei. Daß diese von sich aus nicht für ein Mehrheitswahlrecht eintritt, ist verständlich. Damit ist die Problematik der Wahlrechtsreform in Österreich angedeutet.

Warum ein mehrheitsförderndes Wahlrecht ? Über Vorzüge und Nachteile von Verhältniswahl und Mehrheitswahl streitet man schon seit mehr als hundert Jahren, ohne daß sich die Argumente wesentlich geändert hätten. Die Suche nach einem gerechten Wahlrecht ist eine der vielen Suchen nach der Gerechtigkeit. Die Beantwortung der Frage, welches Wahlsystem gerecht ist, hängt davon ab, welchen Sinn und Zweck man der 113

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

Wahl gibt. Vereinfacht  : Will man durch die Wahl im Parlament ein Spiegelbild der in einer Gesellschaft vorhandenen politischen Meinungen entstehen lassen, erwartet man also über die Zuweisung der Macht hinaus von der Wahl auch eine Art Machtstatistik, so wird man sich zum Proporzsystem bekennen  ; will man durch die Wahl eine auf Zeit gewählte stabile und arbeitsfähige Regierung und ein Parlament entstehen lassen, das als Majorität die Regierung unterstützt und als Minorität (Opposition) die Regierung kontrolliert, wird man sich zum Majoritätssystem bekennen. Die Proportionalisten sind »Individualisten«. Sie meinen, daß nur numerische Gleichheit gerecht sei, und fordern, daß jede Stimme »gleich viel wert sein soll« und jedes Mandant »gleich viel kosten soll«. Die Anhänger der Mehrheitswahl fragen nicht danach, was für jeden einzelnen Bürger gerecht ist, sondern danach, was für die Mehrheit gerecht ist. Der Gerechtigkeit für den einzelnen wird die Gerechtigkeit für die Mehrheit gegenübergestellt. Diese abstrakte Betrachtung gibt aber keine Antwort auf die Frage, welches Wahlsystem für ein Land in concreto besser ist. Auch die Beantwortung dieser Frage ist zwar letztlich von subjektiven Wertentscheidungen motiviert, sie muß sich aber an konkreten Daten orientieren. Diese Daten ergeben sich aus der Verfassungsstruktur und aus der politischen Infrastruktur. Beide müssen in einer Zusammenschau erfaßt werden. Außerdem müssen die Konsequenzen überdacht werden, die durch die Entscheidung für das eine oder andere Wahlsystem voraussichtlich entstehen können. Gehen wir von den Strukturprinzipien des österreichischen Regierungssystems nach dem B-VG aus. Sie sind kurz skizziert folgende  : 1. Der mit den traditionellen Aufgaben eines Parlaments betraute Nationalrat wird vom Bundesvolk nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt (Art. 26 B-VG). 2. Der mit den traditionellen Aufgaben eines Staatsoberhauptes betraute Bundespräsident wird vom Bundesvolk gewählt, wobei gewählt ist, wer mehr als die Hälfte aller gültigen Stimmen für sich hat (Art. 60 B-VG). 3. Der Bundespräsident ernennt die Bundesregierung und kann sie entlassen (Art. 70 B-VG), kann aber  – im wesentlichen diese Akte ausgenommen  – nur über Vorschlag der Regierung oder des von ihr ermächtigten Ministers und nur unter Gegenzeichnung des Bundeskanzlers oder der zuständigen Minister tätig werden (Art. 67 B-VG). 4. Es besteht parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister und Vereinbarkeit von Minister- und Abgeordnetenamt. Dagegen darf der Bundespräsi114

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

dent nicht Mitglied des Parlaments sein und ist praktisch unantastbar (es gibt Möglichkeiten der Abberufung, aber sie sind kaum durchführbar). 5. Der parlamentarische (und nicht präsidiale) Grundzug des österreichischen Regierungssystems wird durch zwei Konventionalregeln ergänzt und bestätigt. Erstens finden Regierungsbildungen im Anschluß an die Parlamentswahlen statt (und nicht im Anschluß an die Präsidentenwahl, was theoretisch ebenso möglich wäre). Und zweitens beauftragt der Bundespräsident den Chef der mandatsstärksten Partei mit der Regierungsbildung und ernennt ihn zum Bundeskanzler. Es soll noch einmal hervorgehoben werden, daß die beiden Großparteien und die von ihnen dominierten Großverbände die Träger des Regierungsprozesses sind. Im Vergleich dazu sind die anderen Machtträger, die am Regierungsprozeß teilnehmen, etwa die anderen Parteien – selbst die FPÖ –, der Bundespräsi­ dent (der ja selbst aus einer der beiden Großparteien kommt), die Massenmedien und die Hochbürokratie in Staat und Verbänden (die zum großen Teil einer der beiden Großparteien nahestehen), im allgemeinen zwar nicht als qualité, wohl aber als quantité négligeable anzusehen. Die Wählerschaft hat die Macht der beiden Großparteien in Staat und Verbänden durch hohe Mitgliederzahlen, hohe Wahlbeteiligung und hohe Stimmen- und Mandatszahlen seit 1945 permanent legitimiert. Damit repräsentieren alle wichtigen gesellschaftlichen Institutionen, vor allem der Staat und die Großverbände, die Macht der beiden Großparteien, ihre interne Machtstruktur und oft das Verhältnis und die Beziehungen der beiden Parteien zueinander (vgl. dazu A. Pelinka/M. Welan, Verfassung und Demokratie in Österreich, 1971, S. 161 f.). Das derzeitige Wahlsystem mag unter diesem Aspekt »systemkonform« sein. Es garantiert das Kräftegleichgewicht der beiden Großparteien, gewährleistet die Existenz der FPÖ und schließt neue Kleinparteien vom politischen Prozeß zumindest formal nicht aus. Warum sollte man für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht eintreten  ?

1. Entscheidungskapazität des Systems Zunächst einmal darum, weil das geltende Wahlrecht vom Standpunkt eines parlamentarischen Regierungssystems und eines bipolarisierten Parteienstaates »systemkonträr« ist. Ein Zweiparteiensystem, verbunden mit einem parlamen115

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

tarischen Regierungssystem, ist erfahrungsgemäß auf die Dauer nur dann funktionsfähig, wenn es mit dem Mehrheitswahlrecht verknüpft ist. Der österreichischen Staatspraxis wurde und wird ein Defizit an politischen Entscheidungen vorgeworfen. Mag sein, daß sich ein Kleinstaat von marginaler Bedeutung in der Weltpolitik Entscheidungsdefizite leisten kann, aber wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Wählerschaft zu einem großen Teil außengeleitet, reaktiv und rezeptiv sind. Wer die Entscheidungskapazität des österreichischen Regierungssystems verbessern will, wird nicht umhin können, eine Strukturverbesserung in Richtung eines mehrheitsbildenden Wahlrechts ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Will man in Österreich kein parlamentarisches System nach britischem Muster installieren, will man das österreichische Zweiparteiensystem nicht in den Dienst eines alternierenden Systems stellen, das einerseits die regierende Partei aktionsfähig macht und andererseits der Wählerschaft eine Alternative zwischen zwei Regierungsprogrammen und Regierungschefs gewährleistet, so müßte eine Diskussion über ein anderes Regierungssystem eröffnet werden.

2. Mehr Entscheidungskapazität der Wählerschaft, mehr Abhängigkeit der Parteien vom Volk, mehr Abhängigkeit der Regierung vom Volk Derzeit werden die Wahlkämpfe so geführt, als ob die Wählerschaft eine Alternative zwischen zwei Programmen und Parteichefs hätte. Diese Alternative ist eine Fiktion, kein Faktum. Denn der Wähler kann beim derzeitigen Wahlrecht nur halb und halb über die Führungsansprüche der beiden Großparteien entscheiden. Am Tag der Entscheidung, am Wahltag, verlagert sich nämlich – als Folge des Wahlergebnisses, das regelmäßig keine absolute Mehrheit für eine der beiden Großparteien bringt  – die politische Entscheidung, insbesondere die Entscheidung über Regierungsbildung und Regierungskurs, auf die Führung der beiden Großparteien. Diese können je nach innerem Kurs Koalitionen mit der anderen Großpartei, mit der Kleinpartei oder Minderheitsregierungen bilden, wobei der Aktionsspielraum des Bundespräsidenten kaum größer ist als der Raum, den ihm die Führungen der beiden Großparteien lassen. Das Volk hat bei der Ausübung seines wichtigsten politischen Rechts wenig Einfluß auf die wichtigsten Machtträger. Die oben genannten Konventionalregeln haben den Einfluß des Volkes zwar vergrößert, aber unklare Mehrheitsverhältnisse 116

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

emanzipieren die Führungen der Großparteien vom Volk. Je unklarer die Mehrheitsverhältnisse, desto weniger sind die Parteien vom Volk abhängig. Das derzeitige Wahlsystem garantiert bei der derzeitigen politischen Infrastruktur dem Volk zwar die Funktion eines politischen Statistikers, reduziert es aber, was die politische Entscheidung betrifft, leicht zum politischen Statisten. Wer für die Verstärkung der Abhängigkeit der Herrschaftsträger – und das sind in Österreich die Großparteien – von den Herrschaftsunterworfenen, dem Volk, ist, wer für den Ausbau der Kontrolle der Herrschenden durch die Beherrschten eintritt, wird daher sich fragen müssen, ob nicht das Mehrheitswahlrecht derzeit in Österreich ein Mehr an Demokratie gewährleisten könnte. Ob es nicht den Wahlakt zu einer bindenden Entscheidung der Mehrheit des Volkes darüber machen könnte, welcher von den beiden Großparteien die politische Führung zukommen soll. Ob aus einer Fiktion der Demokratie nicht ein Faktum werden könnte. Ob vielleicht das Mehrheitswahlrecht im Vergleich zum Status quo einen demokratischen Mehrwert hätte. Mit diesen Ausführungen verbunden sind folgende Überlegungen  : Die Wählerschaft bestimmt und bestellt derzeit unmittelbar nur das Parlament, nicht die Regierung. Das hängt damit zusammen, daß nach traditioneller demokratischer Ideologie das Parlament das wichtigste politische Entscheidungsorgan ist. Die Realität der Demokratie zeigt ein anderes Bild. Die Regierung ist das wichtigste Entscheidungsorgan. Den Ursachen des Machtverlustes der Legislative gegenüber der Exekutive braucht hier nicht nachgegangen zu werden. Geht man aber davon aus, daß in der modernen Demokratie das Schwergewicht des politischen Entscheidungsprozesses regelmäßig auf der Regierungsebene liegt, ist ein Wahlsystem, nach dem der Wähler unmittelbar nur das Parlament, nicht aber die Regierung legitimieren und kontrollieren kann, weniger demokratisch als ein Wahlsystem, nach dem klare parlamentarische Mehrheitsverhältnisse zur Investitur der Regierung durch die Wählerschaft und zur Kontrolle der Regierung durch die Wählerschaft zustande kommen. Klare Mehrheitsverhältnisse kommen bei einem Proporzwahlsystem nur ausnahmsweise, bei einem Mehrheitswahlsystem dagegen regelmäßig zustande. Nur bei diesem bestellt und bestimmt daher das Volk bei den Parlamentswahlen nicht nur das Parlament, sondern auch die Regierung. Will man daher für das Volk mehr Mitbestimmung am Regierungsprozeß, wird man vom derzeitigen Wahlsystem abgehen müssen. Seinerzeit, als das Parlament noch ein Angriffsinstrument der Gesellschaft gegen den monarchischen Staat war, als Österreich noch ein Vielvölkerstaat und Vielparteienstaat war, hätte das Proporzwahlsystem 117

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

weniger Heteronomie und mehr Autonomie, kurz  : mehr Demokratie gewährleisten können. Heute bringt das Proporzwahlsystem dem Volk nicht mehr Autonomie, sondern mehr Heteronomie, und damit weniger Demokratie. Auf das, was in der modernen parlamentarischen Demokratie am wichtigsten ist, nämlich Regierungsbildung und Regierungskurs, hat das Volk einen geringeren Einfluß als bei einem Mehrheitswahlsystem. Polemisch kann man daher fragen, was es für einen Sinn hat, wenn jede Stimme in bezug auf die Sitze des politisch relativ unbedeutenden Parlaments gleiches Gewicht hat, wenn aber die Mehrheit der Stimmen weder für Kreation noch für die Kontrolle der politisch relativ bedeutenden Regierung das ausschlaggebende Gewicht hat.

3. Personalisierung der politischen Führung und Verantwortung Plädoyers für die Mehrheitswahl heben gewöhnlich den Personalisierungseffekt dieser Wahlart hervor. Die Persönlichkeitswahl wird der Parteienwahl gegenübergestellt. Man fordert Persönlichkeitswahl durch Mehrheitswahl im Einerwahlkreis anstelle der anonymen Listenwahl. Geht man von der politischen Realität Österreichs aus, wird man der Forderung nach Personalisierung der Wahl eher skeptisch gegenüberstehen. Sicher wäre es für die österreichische Demokratie wünschenswert, wenn etwa mehr Nonkonformisten in der Politik tätig wären. Mag sein, daß die Mehrheitswahl im Einerkreis dazu führen könnte, wenn innerparteilich entsprechende institutionelle Reformen durchgeführt werden. Allerdings besteht die Gefahr, daß das Parlament mit Lokalmatadoren, politischen Showmen und Primadonnen besetzt wird, was besonders in einem Kleinstaat parlamentarisches Regieren unnützerweise erschweren würde. Was den Kontakt zwischen Abgeordneten und Wählern betrifft, so ist dieser innerparteilich viel leichter herzustellen als durch Wahlrechtsreformen. Sicher, man könnte Techniken der Kritik, der Kontrolle und der Abberufung der Abgeordneten durch ein bestimmtes Wählerquorum und vor einem bestimmten Wählerforum einrichten. Damit würde man aber die Grundtatsache der modernen Demokratie, daß das Parlamentsmitglied in erster Linie ein Abgeordneter einer politischen Partei ist und das Volk nur mitrepräsentiert, nicht beseitigen. Was durch die Mehrheitswahl positiv personalisiert würde, ist die politische Führung und Verantwortung. Schon heute genießt der Chef der mandatsstärksten Partei unmittelbar nach der siegreich geschlagenen Parlamentswahl eine personalplebiszitäre Legitima118

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

tion, die ihn zum Bundeskanzler macht. Der Bundespräsident vollzieht dabei lediglich den Wählerwillen. Ist einmal ein Parteiführer im Bundeskanzleramt, so macht ihn die ununterbrochene Publizität, die seiner Person, seinen Aktionen und seinen Meinungsäußerungen zuteil wird, zur Zentralfigur des politischen Prozesses. Er verkörpert die politische Führung, er wird für die Politik des Landes verantwortlich gemacht. Diese »Personalisierung der Regierung«, die man schon allein wegen der komplexen, schwer durchschaubaren Machtbeziehungen gerne annimmt, darf aber nicht über die institutionellen Schwächen des Bundeskanzlers hinwegtäuschen. Im derzeitigen Wahlsystem liegt die Hauptursache für diese Schwäche. Jeder als Sieger aus den Parlamentswahlen hervorgegangene Parteichef kann als Bundeskanzler unmittelbar aus der Wählerschaft eine politische Autorität und ein politisches Guthaben ableiten. Aber er kann dieses Guthaben äußerst schwer im Regierungsprozeß investieren und in progressive Politik umsetzen, wenn er nicht über die absolute Mehrheit im Parlament verfügt. Ein mehrheitsbildendes Wahlrecht böte diese Möglichkeit. Solange diese Stärkung von der Basis her verweigert wird, wird der österreichische Bundeskanzler die Erwartungen, die in einen parlamentarischen Regierungschef gesetzt werden, nur teilweise erfüllen können. Die österreichische Geschichte gibt dafür viele Beispiele. Da eine politische Führerstellung in Partei und Parlament möglich ist, bringen Koalitionsregierungen und erst recht Minderheitsregierungen von vornherein Beschränkungen des Bundeskanzlers mit sich. Bei jenen ist er in der Regierung geschwächt, bei diesen im Parlament. In beiden Fällen ist er in seinen Entfaltungsmöglichkeiten gehemmt. Damit aber fehlt dem Amt des Bundeskanzlers jene moralische Herausforderung, die das Amt des britischen Regierungschefs auszeichnet. Damit aber fehlt auch dem Amt des Oppositionsführers jener Charme, der das des Leaders of Opposition anziehend macht. Man kann diesen Ausführungen eine einseitige Vorliebe für Großbritannien vorwerfen. Motiviert aber wurden sie durch die Sorge um Österreich und seine Demokratie. Die österreichische Demokratie zeigt Erstarrungs- und Versteinerungsphänomene. Es wäre falsch, diese Phänomene monokausal zu erklären und auf das Verhältniswahlsystem allein zurückzuführen. Die Erstarrungs- und Versteinerungstendenzen dürften eher dadurch zu erklären sein, daß die beiden Großparteien vor allem mit der Hilfe der vier Großverbände ein politisches System errichtet haben, das zu sehr die repräsentativen Komponenten und zu wenig die plebiszitären Komponenten der Demokratie berücksichtigt, das zu sehr auf Konkordanz und zu wenig auf Konkurrenz ausgerichtet ist. Das Mehr119

Mehrheitswahl – mehr Demokratie

heitswahlsystem könnte in diesem Konkordanzsystem vielleicht als belebender, provozierender Störungsfaktor fungieren. Derzeit ist ein Defizit an Konkurrenz, an substantiellen Kontroversen und substantiellen Alternativen zu registrieren, das die Gefahr der »Entpolitisierung der Politik« bedeutet. Es fehlt aber auch an selbstbewußter kritischer Öffentlichkeit, die jenseits und diesseits von Rot und Schwarz politisches Bewußtsein bildet.

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Gedanken zur Situation des Parlaments heute (1973)

Parlamentarismuskritik – Ausdruck einer Parlamentskrise ? Vor 50 Jahren stellte Hans Kelsen fest  : »Der Kampf, der Ende des 18. und anfangs des 19. Jahrhunderts gegen die Autokratie geführt wurde, war im wesentlichen ein Kampf für den Parlamentarismus … Und obgleich der Parlamentarismus als die Staatsform des 19. und 20. Jahrhunderts immerhin auf recht respektable Leistungen hinweisen kann  : die vollkommene Emanzipation des Bürgerstandes gegenüber den Privilegien der Geburtsstände, später dann die politische Gleichberechtigung des Proletariats und damit auch den Beginn der moralischen und wirtschaftlichen Emanzipation dieser Klasse gegenüber der besitzenden – so ist doch das Urteil, das die zeitgenössische Geschichtsschreibung und die politische Ideologie von heute über den Parlamentarismus fällt, kein günstiges … Täuschen wir uns nicht darüber, man ist heute ein wenig parlamentsmüde geworden, wenn es auch vielleicht noch lange nicht soweit ist, daß man – wie manche Autoren – schon von einer ›Krisis‹, von einem ›Bankrott‹ oder gar von einer ›Agonie‹ des Parlamentarismus sprechen darf« (Vom Wesen und Wert der Demokratie2, 1929, S. 26 f.). In einer 1972 erschienen Schrift heißt es  : »Wenn Kritik töten könnte, so wäre das parlamentarische Regierungssystem schon seit Jahren vergangene Geschichte. In Wirklichkeit aber haben die Formen seiner theoretischen Erledigung die Legitimationsgrundlagen des parlamentarischen Systems kaum erschüttert … Daß Parlamente heute mehr dazu dienen sollen, die faktisch bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu verschleiern, und damit stabilisieren zu helfen, mag Lesern dieser Kritik einleuchten  – gesamtgesellschaftlich jedoch scheinen sie bislang ohne nennenswerten Einfluß geblieben zu sein« (K. Lenk, Wie demokratisch ist der Parlamentarismus  ?, 1972, S. 44). Was ist Gegenstand der Parlamentarismuskritik  ? Parlamentarismuskritik setzt oft bei der mangelnden Effizienz des Parlaments an  : es entscheide zu we121

Gedanken zur Situation des Parlaments heute

nig, es entscheide zu wenig rasch, es entscheide zu wenig selbst, es entscheide zu wenig unabhängig. Es sei eine »Quatsch- und Schwatzbude«, hieß es früher, es sei nur mehr »Erfüllungsgehilfe und Instrument der Regierung«, heißt es heute. Vom Parlament als dem Nadelöhr des politischen Prozesses wird gesprochen, von der Vergeudung sozialer Energien durch den parlamentarischen Betrieb. Von anderer Seite wird die demokratische Legitimation und Funktion des Parlaments kritisiert. Es sei nicht Repräsentation des Volkes, sondern Repräsentation der Herrschaft, es übe nicht mehr legislative, sondern nur noch exekutive Funktionen aus  ; es sei aber gerade in seiner reduzierten und deformierten Gestalt notwendig, um den Massen die Verbindung von Volk und Herrschaft vorzuspielen. Es übe so nicht Kontrolle von Herrschaft aus, sondern Legitimation von Herrschaft, Legitimation von Kontrolle über das Volk. Soweit Kritiker des Parlaments dieses nicht überhaupt als überholt, veraltet, leerlaufend ansehen, gehen sie meist von einer bestimmten Vorstellung des Parlaments aus und messen an diesem Vorstellungsmodell die politische Realität. Manchmal ist dieses Modell ein fixiertes historisches Bild, das bestimmte sozioökonomische Bedingungen voraussetzt, die schon lange nicht mehr gegeben sind, manchmal ist dieses Modell wirklichkeitsfern, ein von Zeit und Ort abstrahiertes Idealparlament, eine irreale Utopie. Solche Wunschbilder oder historische Fixierbilder werden auch gerne der Verfassung unterstellt. Ein Vergleich dieser Bilder mit der Realität ergibt dann die bekannte Schere  : Das Auseinanderklaffen von Verfassung und sogenannter Verfassungswirklichkeit wird diagnostiziert. Die Realität wird gewogen und für zu leicht befunden. Das fällt besonders leicht, wenn die Verfassungen selbst bei der Regelung des Verhältnisses von Legislative und Exekutive am Modell der konstitutionellen Monarchie orientiert sind. So geht auch die österreichische Bundesverfassung (B-VG) noch von einer soziopolitischen Konstellation aus, wonach das Parlament als solches, als Mehrheit, der Regierung als etwas »Anderes« gegenübersteht. Man wird in der reifen Parteiendemokratie von der Verfassung daran erinnert, daß das Parlament einmal Gegenspieler kaiserlicher Regierungen war. Die Rechtsnormen sind in diesem Bereich weitgehend dieselben geblieben wie in der konstitutionellen Monarchie, unser Verfassungsrecht stellt im Verhältnis von Parlament und Regierung eine von der konstitutionellen Monarchie abgehobene Form dar. In unserem Fall muß daher das Verfassungsrecht kritisiert werden, weil es ein wirklichkeitsfremdes Bewußtsein bildet. In der Tat haftet den Rechtsnormen bei isolierter, d. h. vom Leben losgelöster Betrach122

Gedanken zur Situation des Parlaments heute

tung, etwas Unwirkliches an  ; sie konstituieren im Bewußtsein des Betrachters eine unwirkliche Atmosphäre. Ihre aktuelle Bedeutung ist nur dann erkennbar, wenn man die Realisierung dieser Normen durch die Träger des heutigen politischen Prozesses betrachtet. Der dialektische Prozeß, der sich zwischen sozialer Realität und dem jeweils zur Konkretisierung aufgegebenen Normenmaterial aktualisiert, prägt sowohl das Verhalten der beteiligten Personen und Gruppen als auch das Normenmaterial selbst. Der Wortlaut der Normen mag gleichbleiben, veränderte soziale Umweltbedingungen führen zur Änderung der sozialen Funktion der Normen. Was seinerzeit dem Monarchen und seiner Regierung als Instrument gegenüber dem Parlament der Honoratioren und diesem gegenüber jenen diente, ist heute überwiegend Instrument der Regierung gegenüber der Opposition und Instrument der Mehrheit gegenüber der Minderheit geworden, weniger aber Instrument der Opposition gegen die Regierung. Da Regierung und Parlamentsmehrheit heute in einer Partei integriert sind, bedeutet das, daß die Opposition unter einem instrumentellen Defizit leidet. Daher fordern viele Kritiker des Parlamentarismus  : Das rechtliche Verhältnis von Regierung und Parlament soll der neuen politischen Konstellation, dem Spannungsverhältnis von Regierungspartei(en) und Oppositionspartei(en) angepaßt werden, damit sich diese Spannung in entsprechenden rechtlichen Formen ausspielen, damit sich eine neue institutionelle Gewaltenteilung einspielen kann. Wertet man aber die parlamentarische Opposition zu sehr auf, so liefert man den Kritikern des Parlaments erst recht wieder Anlaß zur Kritik. Denn dann besteht die Gefahr, daß der Parlamentarismus einerseits unter einem Effizienzdefizit leidet, andererseits die Mehrheitsverhältnisse und damit die Entscheidungen der Wählerschaft institutionell zu wenig honoriert werden. Der Vorwurf mangelnder Effizienz und mangelnder demokratischer Qualität würde dann erst recht erhoben werden. Bei all diesen Überlegungen darf nicht vergessen werden, daß man weder das Parlament noch sein Verhältnis zur Regierung, zu den politischen Parteien und zur Wählerschaft isoliert betrachten darf. Das parlamentarische Regierungssystem wird vor allem von vier Elementen getragen  : der Wählerschaft, dem Parteiensystem, dem Parlament und der Regierung. Keines dieser Elemente hat einen stationären Charakter. Sie sind ständig in Bewegung, in Entwicklung, lassen im Zusammenspiel immer wieder gegenseitige Anpassungsschwierigkeiten entstehen, müssen in diesem Prozeß der Kooperation immer wieder nach einer bestimmten Balance suchen, immer wieder ihr Verhältnis zueinander neu finden (vgl. Barker, Zur Theorie des Parlamentarismus, in  : Kluxen [Hg.], Parlamentarismus, 1967, S. 60 f.). 123

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Das parlamentarische Regierungssystem verlangt von seinen Trägern, sei es das Volk, insbesondere als Wählerschaft, seien es die Parteien, seien es die politischen Führer in Parlament und Regierung, ein bestimmtes Verhalten, damit das Zusammenspiel seiner wichtigsten Elemente funktioniert und das System in diesem Prozeß in Form bleibt. Veränderungen der sozialen Umwelt müssen in diesem Prozeß verarbeitet werden. Die sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse schaffen neue Bedingungen für das Zusammenwirken und die Ergebnisse des Zusammenwirkens tragen ihrerseits zum gesellschaftlichen Wandel bei. Das parlamentarische Regierungssystem ist erfahrungsgemäß das offenste und anspruchsvollste unter den freiheitlich-demokratischen Regierungsformen. Es läßt viele Varianten zu und gibt den verschiedenen politischen Konstellationen eine Fülle von Ausdrucksmöglichkeiten. Es ist sehr abhängig von der soziopolitischen Infrastruktur und jeder stärkere Strukturwandel verlangt von allen Beteiligten Umdenken und Umstellung. Krisen des Parlamentarismus entstehen meist dann, wenn dieses Umdenken nicht oder zu wenig vorhanden ist, wenn ein gemeinsames Umdenken, eine gemeinsame Vernunft, fehlt. Dann bestehen Anpassungsprobleme, dann entstehen Anpassungsdefekte. Es fällt auf, daß die Kritiker des Parlamentarismus ihre Kritik meist nicht auf alle Elemente des Systems ausdehnen  : Volk und Regierung sind meist ausgeklammert, das Parlament und die Parteien sind die Schuldigen. Letzteres ist insofern richtig, als die politischen Parteien in der Gegenwart die übrigen Elemente des parlamentarischen Systems dominieren. Man kann überpointiert sagen  : Die Parteien sind das Volk, die Parteien sind der Staat. Unsere Verfassung, die noch von der faktisch und auch rechtlich längst in vieler Hinsicht überwundenen und aufgegebenen Trennung von Staat und Gesellschaft ausgeht, begreift die Parteien noch nicht als formierte Organe der Verfassung, sondern als gewissermaßen gesellschaftliche Veranstaltungen. Wie im Verhältnis von Regierung und Parlament bildet die Verfassung auch hier realitätsfremdes Bewußtsein. Das ist in einem Gemeinwesen, dessen politische Kultur stark vom Glauben an das Gesetz, von Legalismus und Formalismus geprägt ist, äußerst problematisch. Ein paläoliberales Demokratie- und Parlamentsverständnis, dem vielleicht nie die soziale Wirklichkeit entsprochen hat, wird so von der Verfassung erzeugt und ständig von der politischen Realität radikal widerlegt. Wem dient dies  ? Cui bono  ? Sicher nicht dem parlamentarischen Regierungssystem, aber auch nicht den Parteien. Nirgends ist das Versagen der »gemeinsamen Vernunft« so deutlich festzustellen wie auf dem ureigensten Gebiet der Parteien selbst, ihrer Stellung in der Verfassung. Diese »Verfassung ohne Parteien« ist das Werk von 124

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Parteien für Parteien. Ihre Institutionen sind ihrer Entstehung nach auf Parteien ausgerichtet und diese haben sich darin eingerichtet. Sie wurde und wird von den Parteien als politisches Kampf- und Tauschmittel, Regierungs- und Kontrollinstrument verwendet, die Parteien kommen aber nur am Rande in ihr vor. Die Verfassung ist auch hier wie ein historisches Museum  : Sie erinnert daran, daß unsere heutigen Parteien erst mit den Parlamenten und den Wahlen entstanden sind  : Sie erwähnt die Parteien als wahlwerbende und als parlamentarische Gruppen. Noch mehr am Rande der Verfassung als die Parteien befinden sich die Verbände, obwohl gerade in Österreich die Handelskammern früher zum Bestandteil des politischen Systems wurden, früher politisch »in« waren als das Parlament oder gar die Parteien. Die Parteien- und Verbändeprüderie der Verfassung ist somit eine Prüderie der Parteien und Verbände. Die Veränderungen, die das Parlament durch die Entwicklung Österreichs zum ausgeprägten Parteien- und Verbändestaat erfuhr, lassen sich somit nicht aus der Verfassung herauslesen oder ableiten. Sie sind nur durch eine Realanalyse begreifbar. Manche sehen in diesen Veränderungen Deformationen des Parlamentarismus und der Demokratie. Diese Sicht ist dogmatisch auf einen stationären Parlamentarismus fixiert, der Parlamentarismus hat danach eine bestimmte Gestalt, die der Betrachter gewissermaßen in einem Schnappschuß, durch eine Momentaufnahme des historischen Entwicklungsprozesses, erfaßt hat oder die er sich als Ideal aus verschiedenen Elementen in seiner Vorstellung zusammengestellt hat. Diese Sicht ist also unhistorisch. Sie läßt vom Parlament Dinge erwarten, die man nie erwarten konnte. Sie läßt auch außer acht, daß diese Veränderungen weitgehend auf Wegen, die die Verfassung vorschreibt, weitgehend durch ein »peaceful changing«, evolutionär, vor sich gegangen sind und damit systemimanente Entwicklungsmöglichkeiten des Parlamentarismus aktualisiert wurden. Vielleicht ist der Ausdruck Transformation des Parlamentarismus auch nicht viel zweckmäßiger als Deformation. Aber es dürfte etwas neutraler sein. Im folgenden sollen die Transformationen des Parlamentarismus kurz beschrieben sein.

Der Parlamentarismus im Wandel des politischen Systems – die Transformation des Parlamentarismus Allgemein wird die »parteien- und verbändestaatliche« Transformation des Parlamentarismus konstatiert, ebenso die durch den Wandel der Staatsaufgaben 125

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und des Staatscharakters bedingte »verwaltungsstaatliche« Transformation  ; der Planungs-, Lenkungs-, und Verteilungsstaat von heute machte vor allem die Regierung und ihre Bürokratie zu dominierenden Faktoren des politischen Systems, während das Parlament an Bedeutung verloren hat. Die gesteigerte gesellschaftliche Funktion der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens, hat zu einer »massenmedialen«, »televisionären« Transformation des Parlamentarismus geführt. Auch die televisionäre Transformation kommt der Regierung zugute. Das Parlament als solches verlor dabei. Diese Transformation des Parlamentarismus sind Auswirkungen einer tiefgreifenden Veränderung der politischen und sozialen Entwicklung, sind Folgen eines Strukturwandels des politischen Systems. Die parteienstaatliche Transformation hat den der Verfassung offenbar vorschwebenden liberal-demokratischen, repräsentativen Parlamentarismus in der politischen Wirklichkeit geradezu in sein Gegenteil verkehrt (vgl. G. Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie, in  : Matz [Hg.], Grundprobleme der Demokratie, 1973, S. 182). Mit der Demokratisierung des Wahlrechts und damit des Parlaments hat dieser Prozeß begonnen. Mit dieser Demokratisierung begann der Aufstieg der politischen Parteien, welche die politisch mündig gewordenen Massen mobilisiert und organisiert haben. Je mehr die Parteien sich organisatorisch verfestigten und gesellschaftlich ausbreiteten, desto »unabhänginger« wurden sie vom Parlament und auch vom staatlichen Regierungssystem, desto mehr wurden sie relativ selbständige Systeme in und neben dem politischen System. Der rechtliche Machtanstieg des Parlaments ist den Parteien zu verdanken, deren faktischer Aufstieg im politischen System vom Parlament ausging, aber auf Kosten des Parlaments ausging. Es ist das »Paradoxon« festzustellen, daß das Parlament umso mehr an faktischer Bedeutung im politischen Prozeß verlor, je mehr an rechtlicher Bedeutung es in der Verfassung gewann. Die staatliche Demokratie entstand und entwickelte sich als parteienstaatliche Demokratie, wobei die Parteien sich der Mittel und Wege des liberalen Repräsentativsystems als Angriffs- und Verteidigungswaffen bedienten. In der Ersten Republik, also nach 1918, wurden es Instrumente, um zur Alleinherrschaft zu gelangen oder die Gefahr der Diktatur der anderen abzuwehren. Nach 1945, in der Zweiten Republik, bekamen diese Institutionen eine die Parteienherrschaft stabilisierende und expandierende Funktion. Die Ambivalenz dieser Institutionen ist eine Erfahrungstatsache, die aber zu wenig reflektiert wird. Die parteienstaatliche Demokratie hat die alte Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament (von der noch die Verfassung ausgeht und der ein Ge126

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gensatz der diese Institutionen einmal tragenden politischen Kräfte entsprach) in eine Gewaltenteilung zwischen Großparteien transformiert. Gewaltenteilung spielt sich nur mehr in und zwischen jenen Institutionen ab, wo solche Parteien miteinander konfrontiert sind  ; wo sie nicht in Konfrontation stehen, kommt es zu Fusionierungen verschiedener Art. Diese Transformation hat meist zur Konsequenz, daß das Parlament als Mehrheit die Regierung unterstützt, daß nur die Opposition im Parlament Gegenspieler der Regierung ist, daß die Abhängigkeit der Regierung vom Parlament faktisch zur Abhängigkeit des Parlaments von der Regierung und zur Abhängigkeit der Minister von der Parteiführung geworden ist, soweit nicht überhaupt Identität vorliegt. Die Hauptkonsequenz aber liegt darin, daß die sogenannten Parlamentswahlen faktisch auch Regierungswahlen, meist Wahlen des Regierungschefs aus konkurrierenden Parteichefs geworden sind, daß die Parlamentswahlen abgesehen von dieser personalplebiszitären Funktion nicht Wahlen von Individuen, sondern von Kollektiven sind, daß sie zu Plebisziten für die wichtigsten Parteien geworden sind bzw. Funktionen »statistisch-registrierender Art« erfüllen (Leibholz, a.a.O., S. 212). Die Parlamentswahlen erteilen der siegreichen Partei den generellen Auftrag zu regieren  ; die Regierungsbildung und das Regierungsprogramm sind dann konsequenterweise Umsetzung dieses Auftrags in die politische Wirklichkeit. Dem Wahl- und Regierungsprogramm kommt unter diesem parteiplebiszitären Aspekt besondere Bedeutung zu. Die etablierten Parteien haben das Monopol der Kandidatenaufstellung für jede Art von Wahlen, insbesondere aber für die Parlamentswahlen. Die Parlamentswahlen sind Sache der etablierten Parteien, die ihre Kandidaten aufgrund innerparteilicher und innerverbandlicher Karriere präsentieren. Wer im Parteien- und Verbändesystem eine bestimmte Position erworben hat, erlangt einen Wahrscheinlichkeitsanspruch auf einen Parlamentssitz. Die Aufstellung bedeutet, daß man »in« ist und fungiert als politische Nobilitierung. Grob gesprochen geht der politische Corpus honorum entweder über die Parteiorganisation im engen Sinn oder über Großverbände. Wichtigste Karrieremuster sind parteimäßige Vordienstzeiten und die Effektivität als Verbandsfunktionär. Man wird Abgeordneter nicht eigentlich durch die Parlamentswahl, aufgrund seiner allgemeinen Qualität, sondern aufgrund der Leistungen für eine etablierte Partei- und Verbändeorganisation und der Zugehörigkeit zu dieser. Es entsteht innerhalb dieser Organisationen eine Meritokratie, die durch die Kandidatenaufstellung von innen und dann durch die Wahl von außen honoriert wird. Die Auslese ist nicht Sache der Wähler, sondern Sache der zuständigen Parteiinstanzen. Der Abgeordnete ist somit zwar von der 127

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Wählerschaft unabhängig – dieser Sinn des sogenannten freien Mandats blieb bestehen und ist sogar verstärkt realisiert als früher –, von der Partei ist er aber abhängig. Insbesondere im Bereich des Parlaments. Hier besteht faktisch ein imperatives Mandat  ; der sog. Fraktionszwang wird dabei nicht eigentlich als Not und Nötigung empfunden, Parteidisziplin ist im Parteienstaat praktisch eine Notwendigkeit. Da die Funktion der Parlamentarier zu einem Beruf geworden ist, ist es gerechtfertigt, ihnen Bezüge auszuzahlen. Damit aber wird der Parlamentarier meist auch wirtschaftlich, existenzmäßig, von seiner Partei abhängig. Da die Bezugsregelung in Österreich dem Gehaltsschema der höchsten Bundesbeamten entspricht, ist der Parlamentarier geradezu Parteibeamter mit Sonderzulagen, Zeitvorrückung, Vordienstzeitenanerkennung, Ruhebezugsanspruch usw.; aus der früheren Aufwandsentschädigung ist nunmehr auch rechtlich eine Besoldung geworden. Der Abgeordnete steht und fällt nicht nur mit seiner Partei  ; er steht und fällt auch mit der Konformität zu seiner Partei. Die Toleranzgrenzen sind freilich in den Parteien verschieden. Das Parlament, das sich aus diesen Abgeordneten zusammensetzt, kann seiner Natur nach nur eine Stätte sein, »an der sich gebundene Parteibeauftragte treffen, um anderweitig (in Ausschüssen oder Parteikonferenzen) bereits getroffene Entscheidungen registrieren zu lassen« (Leibholz, a.a.O., S.  194). Es überrascht nicht, sondern liegt im Systemwandel begründet, wenn es dem parlamentarischen Bereich an Ideen, Spontaneität und Phantasie mangelt. Die Parteiführungen erwarten das ja auch gar nicht von ihren Fraktionen, sondern wollen ein Monopol der politischen Ideen und Initiativen für sich reklamieren. Sie erwarten von den Parlamentariern eine loyale Kooperation. Auch die Öffentlichkeit erwartet dies bei der Personalisierung der Politik, die die Massenmedien betreiben. Das Parlament des Parteienstaats ist reaktives und exekutives, nicht initiatives und aktives Organ. Es ist vor allem integrierendes Organ. Es stabilisiert die Regierung durch Integration, es domestiziert die Opposition durch Integration. Die Integrationsprozesse laufen innerhalb der einzelnen Fraktionen ab und zwischen den Fraktionen. Dabei haben formelle und informelle Verfahrensregelungen und die politische Kultur große Bedeutung. Das Parlament ist die Stätte, wo sich die Parteienvertreter zusammensetzen und auseinandersetzen müssen, sei es nicht öffentlich in den Ausschüssen, sei es öffentlich im Plenum. Es ist gewissermaßen die Institutionalisierung der Maxime »durchs Reden kommen d’Leut z’samm‹«  ; es ist der Ort der gemeinsamen politischen Vernunft. Dabei wird die legislative Kleinarbeit in der Nichtöffentlichkeit der Ausschüsse geleistet, die unter dem Zwang konstruktiver Kooperation stehen, die öffentliche Diskus128

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sion im Plenum steht unter dem Zwang des ständigen Kampfes zwischen den Parteien um Stimmung, Zustimmung und Stimmen der Wählerschaft. Nicht andersdenkende Abgeordnete sollen und können im Parteienstaat beeinflußt werden, sondern die Wähler. Die Unterstützung der Regierung durch die Fraktion und die Kontrolle und Kritik der Regierung durch die Opposition stehen unter diesem Konkurrenzzwang, vor allem im Plenum des Parlaments. Alle diese Erscheinungen finden sich mit mehr oder weniger Abweichungen in fast allen westlichen Staaten mit parlamentarischem Regierungssystem. Es sind Phänomene, die sich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit aus der Struktur des modernen Parteienstaats ergeben. Österreich als besonders ausgeprägter Parteienstaat erlebt manche Erscheinungen nur ausgeprägter als anderswo. Umso bemerkenswerter ist es, daß hierzulande eine Scheu besteht, die sich aus der parteienstaatlichen Demokratie ergebenden Konsequenzen zu ziehen  : Weder im politischen Bewußtsein noch in der Verfassungspolitik wurden Konsequenzen gezogen. Das Bezügegesetz ist hier eine pikante Ausnahme. Die Verfassung ist durch dieses Gesetz zur Realität hin fortentwickelt worden. Und es ist bemerkenswert, wie stark sich auf der einen Seite Elemente eines liberal-repräsentativen Parlamentarismus und eines überholten Gewaltentrennungsdogmas, auf der anderen Seite Elemente einer Parlamentssouveränitätsideologie im Bewußtsein halten können. Diese Vorstellungen sind als Bewußtseinseffektivität ein Teil der sozialen Realität. Die Wirklichkeit besteht eben aus mehreren Wirklichkeiten. Das erschwert Reformen. Institutionelle Konsequenzen werden nur gezogen, wenn, wo und wie man sie braucht, aber auch das nur in Ansätzen. Die dominierenden Parteien im Parteienstaat brauchen auch keine institutionellen Absicherungen. Das gilt insbesondere in Österreich, wo die Großparteien alle Institutionen der Gesellschaft, die nur irgendwie parteimäßig politisierbar sind, in ihren Einflußbereich gebracht haben. Die beiden Großparteien sind nicht nur Träger der politischen Führung und Integration auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene, auf der Kammer- und Verbändeebene, sondern dominieren oder influenzieren fast alle organisatorischen Gebilde der Gesellschaft. Die beiden großen Lager hatten schon in der Ersten Republik in sich geschlossene, »versäulte« Subgesellschaften gebildet, mit besonderen Subkulturen, deren Ausdruck vor allem die sog. »Lagermentalität« ist. Der Parteiengegensatz hatte sich in der Ersten Republik mit den ökonomischen, sozialen, territorialen Interessengegensätzen und mit der gegensätzlichen Einstellung zu Religion und Kirche gedeckt. Das »Lagerdenken« wurde in jeder Familie zur Tradition  ; eine Generation gab es der anderen im 129

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Sozialisationsprozeß weiter. Das Erlebnis von Diktatur und Krieg, der äußere Druck der Besatzungsmächte und die gemeinsame Bejahung eines selbständigen Österreichs bauten manches vom Gegensatz zwischen den Großparteien ab, ohne aber die Lagermentalität als wesentliches Element unserer politischen Kultur zu beseitigen. Der Lagergegensatz fand seinen Ausdruck in der geradezu totalitären Strategie der beiden Großparteien, die Gesellschaft zu verparteilichen, und seinen Ausgleich im politischen Gleichgewichtssystem der Großen Koalition, die in den zwanzig Jahren nach 1945 das Gemeinwesen nach den Mustern der politischen Konkordanzdemokratie regierte (G. Lehmbruch, Proporzdemokratie, 1967  ; K.-H. Naßmacher, Das österreichische Regierungssystem, 1968  ; A. Pelinka/M. Welan, Demokratie und Verfassung in Österreich, 1971). Im Zuge des Aufbaues eines Clearings- und Kompensationssystems kam es zum Abbau der ideologischen Auseinandersetzung und zur Aufteilung aller wichtigen gesellschaftlichen Machtpositionen. Die Strategie der beiden Großparteien war in der Zweiten Republik von allem Anfang an darauf ausgerichtet, jedes organisierbare Interesse sich lagermäßig einzuverleiben, alle gesellschaftlichen Gruppierungen politisch zu polarisieren, paritätisch zu neutralisieren, proporzmäßig zu organisieren (G. Kafka, Der Parteien- und Verbändestaat am Beispiel Österreich, Wort und Wahrheit 1962, S.  595, 610). Zusammenfassend und vereinfachend läßt sich die Interessenstruktur des österreichischen politischen Systems als »versäult« charakterisieren  : Parteien, Verbände, Wähler und Medien sind hauptsächlich in zwei getrennte Lager geschieden (P. Gerlich, Politisches System und Integration, in  : E. Bodzenta [Hg.], Die österreichische Gesellschaft, 1972, S. 188). Österreich ist somit ein Parteienstaat besonderer Art. Kaum ein anderes Parteiensystem kennt eine solche Organisationsdichte  : zwei Millionen Österreicher, etwa 40 Prozent der Wähler, sind formell Mitglieder einer der beiden Großparteien. Neben dem außerordentlich hohen Grad an Konzentration und Organisationsdichte, dem wohl hohe Wahlbeteiligungen, aber nicht große politische Aktivitäten der Massen in den Parteien entsprechen, ist für das österreichische Parteiensystem die sehr weit gehende personelle und funktionelle Identität von Großparteien und Großverbänden charakteristisch. Ausgeprägter Parteienstaat bedeutet bei uns auch ausgeprägter Verbändestaat. Alle größeren Verbände sind parteipolitisch gegliedert oder lassen sich einem der beiden großen Lager zuordnen. Die Rechtslage stärkt diesen Status quo durch das Verhältniswahlrecht und den öffentlich-rechtlichen Charakter wirtschaftlicher Großverbände. Insgesamt besteht ein lagermäßig firmiertes System formierter Interessen, für das eine starke Kopflastigkeit charakteristisch 130

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ist. Ausdruck dieser Kopflastigkeit sind die Multifunktionäre der Meritokratie, die die Kommandostellen in Verbänden, Großparteien und auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene einnehmen. Die Rollenhäufung bedeutet Machtkumulation bei relativ kleinen Gruppen und dient vor allem dazu, die Elemente des politischen Systems zu koordinieren und dieses zu stabilisieren. Die Fusionierung von Großparteien und Großverbänden in interessenmäßiger und personeller Hinsicht ist dabei so stark, daß man beide Arten von politischen Kräften kaum unterscheiden kann. Die Entwicklung zum ausgeprägten Parteien- und Verbändestaat war mit der Entwicklung des Staates zum Sozial- und Wirtschaftsstaat, zum Planungs-, Lenkungs-, Leistungs- und Verteilungsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Je mehr Verstaatlichung der Gesellschaft, desto mehr Verparteilichung und Verbandlichung. Die expandierende, intensive Steuerung der Gesellschaft durch den Staat und die immer mehr um sich greifende Verstaatlichung der Gesellschaft bedeuten weitgehend Steuerung durch Parteieliten, welche die Staats- und Verbändeorganisationen dominieren, ihrerseits aber von der Kooperationsbereitschaft von Bürokratie und Experten, der technokratischen Elite, abhängig sind. Die lagermäßige Integration dieser technokratischen Elite ist daher für die Parteien besonders wichtig. Schon in der Zeit der Großen Koalition wurde aus dem gesamtpolitischen System ein relativ autonomes Subsystem ausgegliedert, das konzentriert und zentralisiert im Wege eines ständigen »big bargaining« makroökonomische Prozesse steuert und präventives Krisenmanagement betreibt, die sog. Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft, die Kooperation der vier Großverbände. Diese Ausdifferenzierung bewirkt eine Befriedung im Verhältnis antagonistischer gesellschaftlicher Interessen – man hat gesagt, der Klassenkampf würde zur Sozialpartnerschaft domestiziert –, aber auch im Verhältnis von Staat und Verbänden, insgesamt eine Stabilisierung des Systems. Sie geht aber zu Lasten des Parlaments, das »entlastet« wird. Sie setzt dem parlamentarischen Übergewicht einer Partei das Gleichgewicht der Interessengruppen als Gegengewicht gegenüber und verwandelt es in eine Art Gleichgewicht. Unter dem Gesichtspunkt der extensiven und intensiven Verparteilichung, Verbandlichung und Verstaatlichung der Gesellschaft ist es klar, daß der parlamentarische Bereich nur einer von vielen für die Parteien »interessanten« Bereichen ist. Diese »Relativierung« des Parlaments impliziert einen Bedeutungsverlust des Parlaments. Es ist ein Instrument der Parteien unter vielen. Zu nennen sind hier in erster Linie die Regierung, die Großverbände, die Bürokra131

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tie, die Massenmedien, die verstaatlichte Wirtschaft. Dabei dürfen auch nicht verfassungsrechtliche Momente übersehen werden. Österreich weist einen dezentralisierten Parlamentarismus mit elf parlamentarischen Körpern und zehn Regierungen und ein umfassendes, differenziertes, dezentralisiert organisiertes System von öffentlich-rechtlichen Interessenvertretungen mit Tausenden politischen Positionen auf. Tausende politische Positionen bestehen auch auf Gemeindeebene. Dazu kommt die sehr ausgeprägte Verfassungsgerichtsbarkeit, die durch die Normenkontrolle eine zweite Kammer, eine Art Oberhaus und ein recht effektvolles Gegengewicht zu den Parlamenten auf Bundes- und Landesebene ist. Ein Gegengewicht ist auf Bundesebene auch der Bundespräsident. Die bundesstaatliche Organisation, die Kammerorganisation, die Gemeindeorganisation, die Verfassungsgerichtsbarkeit, die Bundespräsidentschaft – das alles, mit einem parlamentarischen Regierungssystem kombiniert, nimmt diesem an politischem Gewicht. Damit ist der Nationalrat, den man meist meint, wenn man von »Parlament« spricht, von vornherein durch die Rechtsordnung in seinen politischen und personellen Möglichkeiten beschränkt. Eine Reihe anderer politischer Institutionen absorbieren politische Macht, die ansonsten zumindest formell ihm zugewiesen wäre, ebenso ein gut Teil des politischen Führungspersonals, oder es kommt zu Ämterkumulationen. Personalunionen sind bei der komplizierten dezentralisierten politischen Organisation des Kleinstaats Österreich in gewissem Ausmaß eine Strukturnotwendigkeit. Die von der Verfassung normierten Unvereinbarkeiten sollten aber korrigiert und ergänzt werden. Zumindest beim Nationalrat. Der »Parlamentarier« kann heute vielfach gar nicht Parlamentarier werden. Regelmäßig sind z. B. etwa die Hälfte der Nationalratsabgeordneten Organe von Großverbänden. Der Umstand, daß im Bewußtsein der Multifunktionäre offenbar wenige Rollenkonflikte entstehen, deutet aber kaum darauf hin, daß die Rolle des Parlamentariers alle anderen überragt. Unter diesen institutionellen und personellen Aspekten wird man fast zu einer Apologie des Istzustandes, ja zum Lob des Parlaments motiviert. Das Parlament ist sozusagen besser, als es sein könnte. Und da sein Stellenwert im politischen System davon abhängt, welche Rolle die beiden Großparteien im Verhältnis zueinander spielen – sind sie Träger verschiedener Rollen, also Träger der Regierungsrolle einerseits und der Oppositionsrolle andererseits, so bedeutet das erfahrungsgemäß eine politisch-publizistische Aufwertung des Parlaments – so kann man seit 1966 geradezu von einer Blütezeit des österreichischen Parlaments sprechen. Es kam tatsächlich zu einer Auflockerung und Aktivierung 132

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des politischen Lebens, wobei die sog. unabhängigen Massenmedien den politischen Wettbewerb zwischen den Großparteien einerseits überdimensioniert darstellen und aufheizen, andererseits als Punkterichter, Benoter und oft auch Belehrer verfolgen. Mehr als die politisch-ökonomische und die technokratische Elite spielt diese massenmediale Elite eine Rolle im Bewußtsein der Parteiführer. Die Massenmedien haben auch durch Überbewertung des Effekts der parlamentarischen Kontrolle zur Aufwertung des Parlaments in der Öffentlichkeit beigetragen. Allerdings führt die politische Aufwertung der Massenmedien ihrerseits nach 1966 dazu, daß die Veröffentlichung des Regierungsprozesses sich mehr und mehr außerhalb des Parlaments abspielt. Das erzeugt mehr Sympathie als die Arkanpolitik der Großen Koalition, aber das Parlament kommt wie in der Großen Koalition hinsichtlich seiner Öffentlichkeitsfunktion zu kurz. Die Information und Argumentation über die Regierungspolitik findet nicht primär zentralisiert und konzentriert im parlamentarischen Bereich oder von diesem Bereich ausgehend statt, vielmehr geschieht sie in Interviews, Gesprächen und Pressekonferenzen, via Massenmedien, dezentralisiert und dekonzentriert  ; Organe der Regierungspartei stehen dabei Organen der Massenmedien, Organe der Opposition Organen der Massenmedien gegenüber, selten stehen sich aber Organe der Regierung und Organe der Opposition im Bereich der Massenmedien direkt gegenüber. Dadurch hat der Raum des Parlaments nicht jene Öffentlichkeit, politische Brisanz, Dialektik, Information, Konfrontation, Kontrolle, die er haben könnte. Dies bedeutet im Zusammenhang mit der legislativen Belastung der Parlamentarier und dem damit verbundenen Papierkrieg und Kleinkram die Gefahr einer Entpolitisierung des Parlaments. Es wäre zu überlegen, ob nicht für das Parlament eine »Informationspriorität« gegenüber den Massenmedien verfassungsmäßig zu garantieren wäre, so daß die Regierung in Ausübung ihrer Informations- und Öffentlichkeitspolitik immer zuerst das Parlament zu befassen hätte und dabei direkt mit der Opposition konfrontiert wäre. Das Fernsehen hat weiters der Politik und insbesondere dem Plenum des Parlaments mediengerechte Verhaltensweisen aufgezwungen und verlangt eine besondere Kunst der Selbstdarstellung. Wenn auch in Wien nicht mehr so sehr wie früher der atavistische Kult des Schauspielers in Blüte steht, sind es nicht noch immer die Schauspieler, die den Wiener ins Theater ziehen  ? Vom Stück weiß man sehr oft nicht einmal den Verfasser  ; ist es in der Politik, im Plenum des Parlaments, im Fernsehen anders  ? Die Massenmedien stehlen allerdings dem Parlament nicht nur die Schau, sondern sie geben sie ihm auch. Das Fernsehen verlangt von den Politikern schau- und showgerechtes 133

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Verhalten. Das dem Parlament an sich anhaftende theatralische Element wird durch das Medium Fernsehen gesteigert. Die Massenmedien tragen besonders zur Personalisierung der Macht bei, indem sie bestimmte Personen der Politik, insbesondere Regierungsmitglieder, vor allem aber den Regierungschef, ständig in Wort und Bild präsentieren. Die Parlamentarier kommen weit weniger ins Bild und zu Wort. Es entsteht ein gewisses Personenritual. Dieses regt geradezu zu einem teleplebiszitären, massenmedialen Regieren an. Unter Heranziehung einer ständig in Bewegung gesetzten Meinungsforschung kann die Stimmung, Zustimmung und Aufnahmebereitschaft der Massen von der Regierung wirksam geformt werden. Das Parlament arbeitet gewissermaßen auf einer anderen Ebene und auf andere Distanz. Das teleplebiszitäre und massenmediale Agieren überhaupt ist eine Sache der Regierung. Das Parlament als solches ist insbesondere im Fernsehen eher ein passives, vermitteltes Element. Diese Bemerkungen sollen die Feststellung der Wiederbelebung des parlamentarischen Lebens nach 1966 nicht abschwächen, wohl aber modifizieren. Die Wiederbelebung und der geänderte Stellenwert des Parlaments im politischen System fand im übrigen seinen Niederschlag in einer Reihe von politikwissenschaftlichen Arbeiten […], ja es will scheinen, daß der Aufstieg der Politikwissenschaft in Österreich damit in einem Zusammenhang steht. Gerade aber weil es dem Parlament seit 1966 »so gut geht«, ist es wichtig festzustellen, daß es viele Erwartungen, die man 1966 hatte, nicht erfüllte, nicht erfüllen konnte. Das gilt vor allem für seine nach der Verfassung typische Aufgabe  : die Gesetzgebung. Indikator für dieses »Versagen« ist hier die Dominanz des vorparlamentarischen Raums, was Initiative und Konzeption der Gesetze betrifft. Hatte man es früher der Großen Koalition und ihrem Koalitions- bzw. Arbeitsausschuß zugeschrieben, daß das Parlament die politischen Entscheidungen des vorparlamentarischen Raums bloß nachvollzog und mit Gesetzeskraft ausstattete, so zeigen die Erfahrungen der Alleinregierung sowohl der ÖVP als auch der SPÖ, daß sich am faktischen Entscheidungsübergewicht des vorparlamentarischen Raums grundsätzlich nichts geändert hat  : Die übergroße Mehrheit aller Gesetzesbeschlüsse geht auf Regierungsvorlagen zurück  ; und die übergroße Mehrheit dieser Regierungsvorlagen wird vom Nationalrat entweder unverändert oder aber nur geringfügig verändert zum Gesetz erhoben. Das Parlament ratifiziert, nachdem ein bestimmtes Verfahren teils nicht öffentlich, teils öffentlich stattgefunden hat. Die Expansion der Gesetzgebung bedeutet in diesem Zusammenhang nicht Aufwertung des Parlaments, im Gegenteil, es kommt eher zu einer Abwertung. Der wachsende Regelungsbedarf fast aller 134

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Gesellschaftsbereiche setzt das Parlament unter Druck und führt zwangsläufig mehr und mehr zur Ausdifferenzierung früher parlamentarischer Funktionen in den vorparlamentarischen Raum. Dieser Raum steht im Kräftespiel von Regierung, Verbänden, Technokratie und Bürokratie. In diesem Raum hat sich ein kooperativer Pluralismus von Regierung, Verbänden, Technokratie und Bürokratie etabliert. Der Bereich der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik wird dabei weitgehend von den Großverbänden dominiert. Hier fungiert die Regierung oft als Ratifikationsorgan und als Notar, wie im übrigen Bereich das Parlament gegenüber der Regierung. Die Spitzenorgane der Parteien und Verbände sind die faktischen Repräsentativorgane der Demokratie, welche die rechtlichen Repräsentativorgane der Verfassung dominieren. Sie koordinieren durch Kooperation die politischen Prozesse und stabilisieren das System. Stabilisierung, verbunden mit einer Reform der kleinen Schritte, ist die Hauptfunktion des politischen Systems. Das Tempo und die Qualität dieser Reform hängen von den Regierungen auf Staatsund Verbändeebene ab. Konkret haben Staatsregierungen und Verbänderegierungen die Erbschaft vieler Machtbefugnisse angetreten, welche die Parlamente verloren haben. Überall ist der Zugang zu den immer umfassender und komplexer werdenden Informationen, die politische Entscheidungen voraussetzen, für die Regierenden leichter als für die Parlamentarier, die stärker auf traditionelle Methoden beschränkt bleiben oder ihre anderen Funktionen dafür einsetzen müssen. Der Ausstattung der Regierung mit Sachverstand, Bürokratie, Kapital und Information können die Parlamente nicht entsprechen. Regierung und Verbände haben sich der Entwicklung der industriellen und postindustriellen Gesellschaft angepaßt, die Parlamente sind noch vielfach in der vorindustriellen Gesellschaft geblieben. Das Anwachsen ökonomischer und sozialer Dienste, das Anwachsen der vom Staat dominierten, gesteuerten oder zumindest beeinflußten Gesellschaftsbereiche, insbesondere auf dem Wirtschaftssektor, kommt der Regierung und den Großverbänden, nicht aber den Parlamenten zugute (Duverger, Demokratie im technischen Zeitalter, 1973, S. 185 ff.). Das gilt auch für den Prozeß des Abbaus nationalstaatlicher Souveränität und des Anwachsens internationaler Verpflichtungen. Die Bundesregierung ist dementsprechend das wichtigste Instrument der Parteien neben den Großverbänden. Dies geht auch aus dem Rang der Regierungsmitglieder und Verbändespitzen in der innerparteilichen Hierarchie hervor. Auf dem Gebiet der Rechtsetzung durch Gesetze und Staatsverträge dürfen hier Reformen kaum möglich sein, die nicht wieder auf Kosten des Parlaments 135

Gedanken zur Situation des Parlaments heute

gingen. Denn überträgt man der Regierung Bereiche der Gesetzgebung, um das Parlament zu »entlasten«, so bewirkt dies erst recht wieder eine vermehrte Abhängigkeit des Parlaments von der Regierung, die noch übergewichtiger wird. Eher wäre noch die Übertragung der Gesetzgebung auf die Ausschüsse eine Entlastung des Parlaments, und zwar des Plenums. Dieses könnte mehr als bisher in den Dienst der Veröffentlichung des Regierungsprozesses und der Auseinandersetzung von Regierung und Opposition gestellt werden. Man hat über das »Versagen« des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren viel diskutiert. Realistisch gesehen, ist es kaum reparabel. Die Gesetzgebungspolitik ist in Österreich faktisch nur von der Regierung zu leisten. Denn nur sie verfügt über den entsprechenden technischen Hilfsapparat, nur sie ist durch ihre Ausstattung mit Kapital, Personal, Information und Sachverstand in Kooperation mit den ebenfalls gut ausgestatteten Großverbänden den Aufgaben einer Gesetzgebung im Dienste des modernen Planungs-, Lenkungs-, Verteilungs- und Sozialstaats gewachsen. Auch der Aufbau einer parlamentarischen Technokratie würde wenig ändern. Das »Versagen« des Parlaments als Kontrollor ist aber reparabel, vor allem wenn und insoweit es durch kluge institutionelle Reformen in den Dienst des Spannungsverhältnisses von Regierung und Opposition gestellt wird. Aber auch im Bereich der Kontrolle würde das Parlament nach dieser Aufwertung bestenfalls gegenüber der Regierung an Bedeutung »gewinnen«, gegenüber der Verwaltung, der Bürokratie, würde es nach wie vor im Nachteil sein. Denn die Bürokratie hat in Österreich eine Monopolstellung. Das politische Leitungspersonal wird heute weitgehend von ihr kontrolliert, ohne seinerseits in der Lage zu sein, die Bürokratie zu kontrollieren. Hier wirkt nur Ethik, Loyalität und Selbstkontrolle. Das ist aber keine parlamentarische Kontrolle. Es wird in Zukunft notwendig sein, die Kontrollfunktionen des Parlaments mehr und mehr auszudifferenzieren, wie z. B. durch die Rechnungs- und Gebarungskontrolle und die Volksanwaltschaft, oder die Bürokratie mehr ins Parlament zu integrieren oder sie zu verparlamentarisieren, etwa durch Wahl leitender Beamter. Neben der Bürokratie kontrollieren auch die Massenmedien. Auch das ist keine parlamentarische Kontrolle. Der Zugang zu den Massenmedien und ihre Steuerung ist daher ebenso wie die Indienststellung der Bürokratie ein strategisches Anliegen des Leitungspersonals auf Staats-, Verbands- und Wirtschaftsebene. Die politische Elite, die vom Volk legitimiert ist, steht Eliten des Sachverstands und der Medien gegenüber. So entsteht eine neue politische Gewaltenteilung – die einer neuen gesellschaftlichen Arbeitsteilung entspricht. 136

Gedanken zur Situation des Parlaments heute

Parlament und Opposition im Wandel vom Koalitionsregime zum Konkurrenzregime Das bis 1966 operierende Kartell der Großparteien schaltete eine wirksame parlamentarische Opposition aus. Diese besondere Transformation des Parlaments potenzierte den allgemeinen Prozeß der parteien-, verbände- und verwaltungsstaatlichen Transformation des parlamentarischen Regierungssystems. Funktionen der Opposition wurden aus dem Bereich des Parlaments ausgegliedert und vor allem in die Regierung eingegliedert. Andererseits wurden parlamentarische und Regierungsfunktionen sektoral in den Bereich der Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft ausdifferenziert und der allgemeine politische Entscheidungsprozeß verlagerte sich aus Regierung und Parlament auf den Koalitionsausschuß, beides Folgen der Überforderung der Leistungs- und Integrationskapazität der Regierung. Die Regierungspraxis der Koalition mit eingebautem Oppositionsmechanismus ließ Kontrolle und Kritik durch den einen Koalitionspartner in bezug auf den Bereich, der vom anderen dominiert wurde, durchaus zu. Diese Bereichsopposition fand als »Bereichskritik« weniger im Parlament als in anderen Bereichen der Öffentlichkeit, besonders in den Parteizeitungen und Politikerreden statt, als »Bereichskontrolle« unter Ausschluß der Öffentlichkeit vor allem im Zuge der Regierungs- und Verwaltungsführung selbst. Die Rolle der Koalitionsopposition wurde besonders gut von der SPÖ gegenüber der immer mit leichtem Mandantsvorsprung führenden ÖVP gespielt, so daß die SPÖ 1966 für die parlamentarische Opposition besser vorbereitet war, als es die ÖVP gewesen wäre. Die kooperativen Konfliktregelungsmuster  – Lösung strittiger politischer Fragen durch substantielle oder funktionelle »do ut des«-Kompromisse, Junktims, Personal- und Ämterpolitik nach Parität und Proporz, Einrichtung von Kondominien (nicht allerdings die jahrelangen Lagererbhöfe und Lagerdomänen) – bedeuteten Kontrolle. Sie bewirkten Integration durch Kontrolle. Überhaupt war ja das Koalitionsregime primär ein Kontrollinstrument und erst sekundär ein Regierungsinstrument der Großparteien, was der Grundtatsache entsprach, daß es weniger auf Vertrauen zueinander als auf Mißtrauen gegeneinander gründete. Die Kontrolle durch parlamentarische Opposition war weitgehend außer Betrieb, die Kontrolle durch Koalitionsopposition war ständig in Betrieb. Sie funktionierte, insbesondere auch durch Staatssekretäre, »parteiwirksamer«, als es eine parlamentarische Opposition je sein kann, aber vielleicht nicht so »publikumswirksam« wie eine parlamentarische Opposition. Neben diesem Publizitätsdefizit litt die Koalitionsopposition daran, daß sie eher 137

Gedanken zur Situation des Parlaments heute

als Ausdruck latenter Koalitionskrisen denn als Ausdruck politischer Konkurrenz empfunden wurde. Das Koalitionsregime als eine a priori feststehende Regierungsweise ohne realistische Alternative setzte ja der politischen Konkurrenz Schranken. Der Übergang zur Alleinregierung brachte 1966 einen Wandel. Die Konkordanzdemokratie schlug aber damit nicht in eine Konkurrenzdemokratie um, sondern wurde zunächst eine Konkordanzdemokratie mit konkurrenzdemokratischem Image. Der Regimewandel spielt sich zwar im Bewußtsein der Öffentlichkeit ein, in der politischen Realität zunächst aber nur im Bereich von Regierung und Parlament. Die Muster der kooperativen Konfliktregelung blieben im übrigen auch hier weiterhin dominierend im Vergleich zur Mehrheitsentscheidung. Die ÖVP, durch ihren bündischen Aufbau und durch die paritätische Zusammensetzung der führenden Parteigremien schon innerparteilich auf das Konfliktregelungsmuster des Aushandelns und der Partnerschaft ausgerichtet, ging in ihrem Regierungsstil nicht definitiv zum Konfliktregelungsmuster der Mehrheitsentscheidung über. Sie verhielt sich in den meisten Fällen so, als ob sie der führende Koalitionspartner einer Koalitionsregierung wäre und spielte ihre parlamentarische Mehrheit kaum aus. Die kooperative Konfliktregelung wurde in den Subsystemen Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft, im Verhältnis Bund-Länder, im Bereich der Länder und Gemeinden und zwischen ihnen, wo dieses Muster größtenteils ja auch rechtlich institutionalisiert ist, weiterhin praktiziert. Innerhalb der Großverbände und zwischen ihnen kam es zur Fortsetzung der Großen Koalition mit anderen Mitteln. Man konnte von »Bereichskoalition« sprechen. Die SPÖ unternahm als parlamentarische Opposition wenig gegen diese Fortsetzung. Und noch weniger ist dies – interessenbedingt – bei der ÖVP seit 1970 der Fall. Die Führer der Großverbände, die auch Führer der Großparteien sind und als solche Regierung und Opposition spielen, also gegeneinander operieren, müssen auf Verbändeebene kooperieren. Sie spielen Doppelrollen, ähnlich den Regierungsmitgliedern in der Großen Koalition und auf Landesebene. Da die Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft nicht nur im außerstaatlichen Raum institutionalisiert ist, sei es in Form der Mitwirkung und Teilnahme der Verbände an der staatlichen Verwaltung, sei es in Form der staatlichen Verwaltungsführung durch Verbände unmittelbar, muß das Konfliktregelungsmuster des Aushandelns und der koalitionäre Stil auch in der Alleinregierung praktiziert werden. Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik hat er weiterhin Vorrang vor der Mehrheitsentscheidung. Das gilt sowohl für die Alleinregierung der ÖVP 1966–1970 als auch – allerdings mit Einschränkungen – für die Alleinregierung der SPÖ seit 1970. 138

Gedanken zur Situation des Parlaments heute

Es ist somit festzustellen, daß viele Elemente der Konkordanzdemokratie auch nach dem offiziellen Übergang zur Konkurrenzdemokratie weiterwirken. Andererseits ist seit diesem Übergang evident, wie schwach die rechtliche Stellung selbst einer großen Opposition im Parlament ist und wie sehr die Ausübung selbst der schwachen Rechte vom guten Willen der Regierungspartei abhängt. Die Rolle der parlamentarischen Opposition im Rahmen der Gesetzgebung ist – abgesehen von retardierenden und influenzierenden Möglichkeiten – im wesentlichen auf die Verfassungsgesetzgebung beschränkt. Daher muß sich jede große Opposition als Verfassungspartei gerieren. Durch ein sehr umfassendes, nicht von der Verfassung festgelegtes Begutachtungsverfahren im vorparlamentarischen Raum ist überdies einer großen Opposition, insbesondere von der Ebene der von ihr dominierten Großverbände und Länder her, Ingerenz durch »antizipative Reaktion« auf die Gesetzgebung möglich. Die Regierung(spartei) muß freilich nicht auf Einwände der Begutachtung eingehen. Die Elemente der Konkordanzdemokratie bewirken aber, daß sie es tut. Die Verhaltensmuster der Konkordanzdemokratie beherrschen auch weitgehend die Arbeit der Ausschüsse und der Präsidialkonferenz. Rund 80 % aller Gesetzesbeschlüsse werden dementsprechend auch im Parlament der Konkurrenzdemokratie einstimmig gefaßt. Wirken aber die Elemente der Konkordanzdemokratie nicht, kann die Regierungsmehrheit im Rahmen der Verfassung die einfachen Gesetze allein machen und braucht bei entsprechender Besetzung des Verfassungsgerichtshofs kaum Angst vor der Normenkontrolle zu haben. Aus der Verfassung kann man herauslesen  : Nach dem Konzept der Verfassung ist zwar die Mehrheitsherrschaft durch das Proporzwahlsystem erschwert  ; wenn aber eine Großpartei die absolute Mehrheit erreicht, wird der Übergang zum Konfliktregelungsmuster der Mehrheitsentscheidung geradezu von der Verfassung angeregt. Wer die Mehrheit hat, soll regieren können und das Gesetzgebungsmonopol besitzen. Er soll auch die Mißtrauensvotierung verhindern können, die Genehmigung des Bundesvoranschlages und von Staatsverträgen, die Festsetzung gewisser Tarife, Gebühren, Preise, Bezüge, die Wahl von Organen des Rechnungshofes, die Erstattung von Vorschlägen für die Ernennung der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs, die Staatspersonalpolitik in der Hand haben. Die Verfassung weist darüber hinaus auch das parlamentarische Kontrollinstrumentarium weitgehend der Mehrheit zu. Das Enqueterecht, das Resolutionsrecht, die Ministeranklage beim Verfassungsgerichtshof wegen Gesetzesverletzung liegen völlig in ihrer Hand, das Interpellationsrecht kann von ihr gehandhabt oder auch gegenüber der Opposition in ihrem Interesse ausgelegt werden. Darüber 139

Gedanken zur Situation des Parlaments heute

hinaus ist der Regierung als solcher eine Reihe von Mitwirkungsrechten am parlamentarischen Prozeß selbst eingeräumt, die ihr außer Initiative intensive Ingerenz auf die Legislative ermöglichen. Um halbwegs funktionieren zu können, muß daher die Opposition die Toleranz der Regierung und deren Liebe zum Parlament ständig auf die Probe stellen. Eine Konkordanz über ein Set an ungeschriebenen Spielregeln zugunsten der Opposition ist damit Voraussetzung gerade für eine funktionierende Konkurrenzdemokratie. Fällt diese Konkordanz weg, wird die Regierung zur »Mehrheitsdiktatur«, die Opposition zur »Obstruktion« provoziert. Die Abhängigkeit der Opposition von der Regierung wird noch dadurch verstärkt, daß das Parlament der Ausstattung der Regierung mit Sachverstand, Bürokratie, Kapital und Information nicht einmal auch nur ansatzweise entspricht. Nicht zuletzt auch dieses rechtliche und technologische Defizit, vor allem aber die Lagerstruktur der österreichischen Gesellschaft macht aus jeder großen parlamentarischen auch eine außerparlamentarische Opposition, die ihre Dominanz in den verschiedenen politischen Subsystemen, insbesondere auf Verbände- und Länderebene gegen die Regierungspartei einsetzt. So influenziert die Konkurrenzdemokratie im Gesamtsystem zunehmend Elemente der Konkordanzdemokratie in den Subsystemen in ihrem Sinne, was wieder auf das politische Gesamtsystem zurückwirkt und stimulierend wirkt. Im Bereich der Kontrolltätigkeit läßt sich seit 1966 eine quantitative und qualitative Intensivierung der parlamentarischen Arbeit feststellen. Hervorhebung verdient, daß die Kontrolltätigkeit im Vergleich zur legislativen Tätigkeit sogar leicht überwiegt. Das könnte Anlaß für entsprechende Reformen sein, die das Plenum von legislativer Arbeit entlasten. Da die Interpellation das von der Opposition einzige allein handbare formalisierte parlamentarische Kontrollinstrument ist, soll diese Tätigkeit als illustratives Beispiel angeführt werden (vgl. S.  Morscher, Die parlamentarische Interpellation, 1973, S. 15, 131)  : Von 1945 bis 1959 schwankten die schriftlichen Anfragen im Nationalrat zwischen 380 und 603 je Gesetzgebungsperiode (GP). Nach Einführung der Fragestunde im Jahre 1961 (9. GP) ging die Zahl der schriftlichen Anfragen in der 9. GP (1959 bis 1962) stark zurück und betrug 296  ; mündliche Anfragen wurden in der 9. GP 441 aufgerufen. In der 10. GP (1962 bis 1966) wurden 384 schriftliche Anfragen eingebracht und 951 kurze mündliche Anfragen aufgerufen, für die 11. GP (1966 bis 1970) lauten die Zahlen 1570 und 2195, für 140

Gedanken zur Situation des Parlaments heute

die 12. GP (1970/71) 860 und 575, für die 13. GP ab 1971 nach 3 Sessionen 1245 und 475  ! – Die Gesamtzahl der in der 5. bis einschließlich 10. GP des NR (1945 bis 1966) gestellten dringlichen Anfragen betrug nur 13. In der 11. GP kam es zu 34, in der 12. zu 10, in der 13. GP nach 3 Sessionen zu 12 dringlichen Anfragen. Hinsichtlich der anderen parlamentarischen Kontroll- und Mitwirkungsrechte an der Vollziehung ist vorweg festzustellen, daß der Regierungswandel unterschiedlich wirkte (die folgenden Feststellungen sind P. Gerlich, Parlamentarische Kontrolle im politischen System, 1973, entnommen)  : Die Intensivierung außenpolitischer Aktivitäten im Zuge der immer dichter werdenden internationalen Verflechtungen führte bei der Genehmigung von Staatsverträgen bisher zu einer Intensivierung der Kritik der Regierung durch die Opposition. In der Außenpolitik dominieren – offenbar bedingt durch die Neutralität und den Kleinstaatscharakter Österreichs  – weiterhin konkordante Verhaltensmuster. Anders ist es hinsichtlich der Budgetbewilligung. Die Budgetdebatte nahm umfangsmäßig stark zu und fungiert als die große kontroversielle Heerschau von Regierung und Opposition, mit großer Resonanz in den Medien. Die Opposition setzt sich dabei besonders kritisch mit der allgemeinen Regierungspolitik auseinander. Hier haben sich Verhaltensmuster der Konkurrenzdemokratie etabliert. Ähnliches gilt – wenn auch in geringerem Ausmaß – hinsichtlich der Behandlung des Rechnungsabschlusses und des Rechnungshofberichts, auf dessen wichtigste Ergebnisse durch Resolutionen des Parlaments reagiert wird. Allgemein ist allerdings in bezug auf das Resolutionsrecht zu sagen, daß es quantitativ und qualitativ reduziert zum Ausdruck kommt, ein Reflex seines Mehrheitsrechtscharakters. Die Berichtstätigkeit der Regierung verstärkte sich und eröffnete der Opposition die Chance verstärkter Kritik. Die Beschlußfassung über die Berichte läßt aber den Schluß zu, daß hier konkordante Verhaltensmuster aufrecht bleiben. Die parlamentarische Untersuchungstätigkeit wurde möglich, läßt aber durch den Charakter des Enqueterechts als Mehrheitsrecht bedingt keine Intensivierung zu. Hingegen hat der Regimewandel nicht nur eine Aktivierung, sondern geradezu eine Reaktivierung des parlamentarischen Petitionswesens mit sich gebracht. Der Tendenz nach ist insgesamt ein Übergang von einer Konkordanzdemokratie zu einer Konkurrenzdemokratie festzustellen. Der Regimewandel hat zur Reintegration parlamentarischer Funktionen ins Parlament geführt, was eine allgemeine Belebung der parlamentarischen Tätigkeit bewirkte, aber auch die personellen und institutionellen Schwächen des 141

Gedanken zur Situation des Parlaments heute

Parlaments offenlegt. Die ständige Konfrontation zwischen Regierung und Opposition manifestiert das Ende der Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament, welche die Verfassung realitätsfern institutionalisiert. Sie macht klar, daß die Aufwertung des Parlaments nur durch kluge Aufwertung der Opposition gegenüber der Regierung möglich ist, weiters, daß die von der Opposition getragene parlamentarische Kontrolle vor allem im Dienst der Konkurrenz der beiden Großparteien steht. Nicht so sehr die Kontrolle als solche als ein Wahlsieg und die Koalition mit der Kleinpartei sind das Ziel der Opposition. Das jetzige Mehr an parlamentarischer Kontrolle bedeutet im übrigen nicht ein Mehr an Kontrolle einer Großpartei in bezug auf die andere  – dafür stellte das Koalitionsregime weit mehr Mittel und Wege zur Verfügung  –, wohl aber mehr öffentliche Kritik und Auseinandersetzung. Im Zuge dieses Mehr an Auseinandersetzung kommt es besonders auf die Zusammensetzung des Parlaments an. Denn nach wie vor dient es der Rekrutierung des politischen Führungspersonals und der Domestizierung rivalisierender politischer Eliten. Nach wie vor ist es der Ort, wo die Integration dieser Gruppen stattfinden muß, wo die politische Kultur des Gemeinwesens in ihrer Kontinuität und in ihrem Wandel sich manifestiert. Der sich abzeichnende Übergang von der Konkordanzdemokratie zur Konkurrenzdemokratie wird daher gerade das Parlament in seinen Dienst stellen müssen. Hoffen wir, daß es sich bewährt.

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Demokratie im Wandel (1973)

Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus. Und es geht auch auf das Volk hin. Dazwischen sind Verbände, Massenmedien, Parteien, Bürokratien. Dazwischen sind politische Eliten, dazwischen ist eine politische Klasse, so lautet die Kritik an unserer Demokratie. Das ist aber nicht gegen die Verfassung. Ihr repräsentativ-demokratischer Grundzug, ihr Wahlsystem, ihre Form des Parlamentarismus konnte und kann bei der soziopolitischen Infrastruktur und bei unserer politischen Kultur zu gar nichts anderem führen als zur Herrschaft der beiden Großparteien mit der Kleinpartei als dem Zünglein an der Waage. Die Verfassung wurde ja auch von solchen Gruppen als Regierungs- und Kontrollinstrument geschaffen. Sie ist auf die drei politischen Lager ausgerichtet.

Volk als Schiedsrichter Die Verfassung ist das, was die Großparteien aus ihr machen. Sie geben ihr in der Staatspraxis die konkrete Gestalt. Diese Gestalt ändert sich meist nach den Wahlen. Denn wenn das Volk auch am politischen Kampf und Spiel nicht unmittelbar teilnimmt, so teilt es doch die Karten dafür aus und ist Schiedsrichter. Die Variationen über das Thema Zweiparteienherrschaft sind so verschieden, daß man glauben könnte, es gelte jeweils eine andere Verfassung. Die Eigenart der Parteien teilt sich den jeweils von ihnen besetzten Verfassungsinstitutionen mit, wie umgekehrt die Institutionen ihre Träger prägen. So wird der Staat »verparteilicht«, die Parteien werden »verstaatlicht«. Da die institutionelle Schwäche der Opposition die Regierungspartei praktisch zur Staatspartei macht, konnte man 1966 bis 1970 von einem »ÖVP-Staat«, kann man seit 1970/71 von einem »SPÖ-Staat« sprechen. 143

Demokratie im Wandel

Demokratie im Wandel  ? So muß man fragen. Denn die Regelungen der Verfassung über die Demokratie haben sich nicht geändert. Demokratie im Wandel, stellt man fest. Denn  : geändert hat sich der Staat, geändert hat sich die Gesellschaft. Wie in allen westlichen Industriegesellschaften zeigt der primäre Produktionssektor personell schrumpfende Tendenzen zugunsten vor allem des Tertiärsektors. Wir werden immer mehr zur Angestellten- und Dienstleistungsgesellschaft. Dieser Übergang bringt Unsicherheit, Anpassungs- und Umstellungsschwierigkeiten. Die wichtigsten Träger des Sozialisationsprozesses, insbesondere die Familie, veränderten sich. Die Stellung der Frau, der Jugend, des Alters wandelten sich.

Konkurrenz nach Konkordanz Sozialer Aufstieg vollzieht sich mehr als früher über Bildung und politische Betätigung als über Besitz. Beim Bildungswesen besteht noch immer keine faktische Gleichheit. Tradierte Werte und Vergangenheitsorientierungen werden abgebaut, neue Werte werden rezipiert, die Weltgesellschaft setzt sich durch. Zur Religion baut sich eine neue Haltung auf, alte Subkulturen werden geprägt, neue entstehen. Dieser pluralistischen, dynamischen Industriegesellschaft entsprechend wandelt sich der Staat. Er wurde sozialer Wohlfahrtsstaat, Servicestaat im weitesten Sinn, auf den jeder angewiesen ist und dem gegenüber jeder eine Anspruchs- und Abwehrhaltung zugleich einnimmt. In der Zweiten Republik wurde das religionskriegsähnliche Mißtrauen zwischen den Lagern abgebaut. In der omnipotenten Koalition wurde das Mißtrauen rationalisiert und in den Dienst der Bereichsregierung und Bereichskontrolle gestellt. Die demokratischen Institutionen bekamen herrschaftsstabilisierende, integrierende Funktionen. Aus der Bürgerkriegsdemokratie mit Opposition gegen das System war die patriarchalische Konkordanzdemokratie mit Bereichsopposition geworden  : mit ihren typischen Konfliktregelungsmustern der Junktimierung verschiedener Sachfragen, des Kompromisses und der proporzmäßigen Personalpolitik. Der Übergang zur Alleinregierung 1966 brachte nur zum Teil einen Wandel von der Konkordanz- zur Konkurrenzdemokratie. Seit 1970 ist auf Seite der SPÖ eher die Tendenz zum weiteren Abbau der Konkordanzdemokratie festzustellen, während die ÖVP vor allem an der Sozialpartnerschaft festhalten will. Ob diese in ihrer bisherigen Form erhalten bleibt, muß aufgrund verschiedener Tendenzen bezweifelt werden. Der Parlamenta144

Demokratie im Wandel

rismus ist in Österreich sozialstaatlich, sozialpartnerschaftlich und televisionär transformiert worden. Kann aber nicht auch die Sozialpartnerschaft ihrerseits via Parlament und Massenmedien durch die Regierung transformiert werden  ? Fallweise werden die Verhaltensmuster unserer politischen Kultur nicht mehr eingehalten, selbst in jenen Bereichen nicht, wo sie jahrzehntelange Tradition aufweisen. Die Regelungen der Verfassung ändern sich auf diese Weise freilich nicht. Aber die lebende Verfassung, die durch die Anreicherung der Verfassungsregeln mit Mustern der politischen Kultur einen bestimmten Inhalt gewonnen hat, ändert sich. Es entsteht Unsicherheit im Bereich der Verfassung. Dies verlangt ein neues politisches Möglichkeitsdenken, neue Formen der Konflikt­ austragung, der Opposition, der Kontrolle.

Demokratiereform vergessen ? Wesen und Wert der österreichischen Demokratie hängen vor allem von den Aktionen der beiden Großparteien ab. Die Verfassung sagt, wie Recht erzeugt wird. Das Was  ? ist der Entscheidung der Großparteien anheimgestellt. Diese transformieren ihre Politik in Rechtsnormen. Dieses inhaltlich bestimmte Rechtsmaterial unterhalb der Verfassung wirkt auf diese ein. Sie wird inhaltlich influenziert. Wenn daher etwa gesellschaftliche Bereiche im Wege der einfachen Gesetzgebung neue, demokratisierte Organisationsstrukturen zugewiesen bekommen, ändert sich auch die österreichische Demokratie in entscheidender Weise, ändert sich auch die Gesellschaftsfunktion der Verfassung. Die Verfassung schweigt dazu. Sollte nicht gerade diese Frage, die Frage der Demokratie in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, in den Bereich des Verfassungsrechts aufgenommen werden  ? Ende der sechziger Jahre gab es eine große Demokratiereformdiskussion. Sie betraf eine neue, auch sozial verstandene Freiheit des einzelnen, die Stellung von Parteien, Verbänden und Massenmedien, die Reform von Föderalismus und Parlamentarismus, die gesellschaftliche und staatliche Demokratie in Österreich. Demokratiereform als Verfassungsreform  : Wo ist sie geblieben  ?

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Das Janusgesicht der westlichen Demokratie (1974) Demokratie als Herrschaftsform hat sich durchgesetzt, Demokratie als Lebens- und Denkform nicht

Die Freiheit des Westens Die politische Ideen- und Institutionengeschichte wird wesentlich von der Würde und der Freiheit des Menschen bestimmt. Die Idee der Freiheit hat vor allem der Westen immer wieder für sich reklamiert. Man kann die Geschichte der westlichen Gesellschaft als die Geschichte von Idee und Realität der Freiheit umschreiben. Die Idee der Freiheit durchzieht wie ein roter Faden die Geschichte der politischen Theorie des Westens. Die Geschichte der gesellschaftlichen Praxis schaut freilich anders aus. In der gesellschaftlichen Realität finden wir immer wieder Formen der Unfreiheit. Freiheit war und ist oft eine Freiheit auf Kosten anderer. Daß diesen ihre Unfreiheit oft gar nicht bewußt ist, macht den Zustand nicht besser. Da Freiheit etwas ist, das dauernd erkämpft sein will, gestern, heute, morgen, ist das Bewußtsein der Unfreiheit allein nur ein erster Schritt auf einem langen, mühevollen, oft in die Irre führenden Weg. Wer hat gar die Energie, fortgesetzt und uneigennützig Freiheit für andere zu erkämpfen  ? Es gibt oft Helden der Freiheit, aber selten Heilige. Freilich, es kommt nicht so sehr auf die Helden und Heiligen der Freiheit an, sondern darauf, ob und wie der Geist der Freiheit jeden einzelnen zu sozialem Verhalten verpflichtet. Die Demokratien des Westens sind auf der Idee der Freiheit aufgebaut. Ihre Institutionen sind gewissermaßen historische Stationen auf dem Weg zur politischen Freiheit. Aber diese Institutionen haben vielfach ihre Verbindung mit dem alten politischen Ethos, aus dem sie entstanden sind, verloren. Und die Träger dieser Institutionen haben zu wenig an neuem politischem Ethos entwickelt. Die westliche Demokratie hat sich weitgehend zu einer sozialen und politischen Technik entleert  ; sie weist ein Defizit an sozialer 147

Das Janusgesicht der westlichen Demokratie

und politischer Ethik auf. Damit ist die Freiheit gefährdet. Denn sie hat ihren Sinn vielfach verloren. Demokratie als Herrschaftsform hat sich durchgesetzt, Demokratie als Lebens- und Denkform nicht. Es besteht ein Widerspruch, der die Demokratien unglaubwürdig macht. Man kritisiert deswegen meist die Träger der politischen Institutionen, die politischen Führer. Gewiß, heute sind die politischen Führer Träger und Präger des Menschenbildes. Sie haben eine besondere Erziehungsaufgabe. Aber Demokratie als Lebensform fehlt vor allem in den Verhaltensformen des Alltags, im Straßenverkehr, am Arbeitsplatz, im sogenannten Privatleben. Es fehlt an brüderlichem Sozialverhalten. Es fehlt an sozialem Gebrauch der individuellen Freiheit. Es fehlt an gesellschaftlichem Verantwortungsbewußtsein. Der »Ichmensch« verdrängt den »Mitmenschen«. Das bestimmende Menschen- und Weltbild ist egozentrisch.

Janus und Catoblépas  : das Doppelgesichtige und Selbstzerstörerische der westlichen Demokratie Die westlichen Demokratien werden bestimmt durch die Existenz freier, perio­ disch stattfindender Wahlen, einen politischen Wettbewerb und sozialen Plura­ lismus verschiedener Gruppen, Interessen, Ideen, Meinungen, deren Sprachrohr vor allem mehr oder weniger unabhängige Massenmedien sind, durch eine Beschränkung der Macht der Regierenden durch Bindungen an Verfassung und Gesetz, durch politische Konkurrenz- und politische Kontrolleinrichtungen verschiedener Art, durch liberale Grundrechte, verbunden mit einem System der sozialen Sicherheit, durch eine gewisse Trennung von privatem und öffentlichem Bereich, durch eine mehr oder weniger freie Wirtschaft, die sich im wesentlichen profitmaximierend verhält, durch eine Kultur, die auf humanistischen und christlichen Traditionen aufbaut. Schließlich ist die gesellschaftliche Praxis durch einen Egoismus in den Verhaltensweisen der Individuen, Gruppen, Organisationen charakterisiert, durch einen Individual- und Interessenegoismus, der teils mehr anarchistische, teils mehr organisierte Züge trägt. Dieser Egoismus bedeutet einen Widerspruch zwischen individuellem Profit und dem allgemeinen Interesse, zwischen privater Bedürfnisbefriedigung und Gemeinwohl. Manche meinen, die Unvollkommenheit der westlichen Systeme ergebe sich daraus, daß nicht nur die Bürger und ihre Organisationen die Inhaber der politischen Macht seien, sondern auch das »Kapital«. Die Bürger müßten die politische Macht teilen mit den Inhabern des Kapitals, seien es Individuen oder 148

Das Janusgesicht der westlichen Demokratie

große Wirtschaftsunternehmen, nationale oder multinationale staatliche oder private Konzerne. Wegen dieses Widerspruchs seien die westlichen Systeme intern und nach außen, also in ihrem Gesamtverhalten, alles andere als demokratisch. Die westlichen Systeme stützten sich auf ihre ungleichen Beziehungen zu den weniger entwickelten Staaten. Man spricht von indirektem Imperialismus, der durch die Macht des mächtigsten ökonomischen Systems bestimmt wird. In diesem Sinn meint der französische Politologe Maurice Duverger in seinem 1973 erschienenen Buch »Demokratie im technischen Zeitalter« (französische Originalausgabe  : Janus  : Les deux faces de l’Occident), daß man die westlichen Systeme Pluto-Demokratie nennen müsse, weil in ihnen die Macht sowohl auf dem Volk (demos) wie auf dem Reichtum (plutos) beruhe. Die Plutodemokratie sei wie Janus, der römische Gott mit dem doppelten Gesicht, dessen Bild die Münzen der römischen Republik vor 22 Jahrhunderten zierte. Das westliche System zeige heute zwei entgegengesetzte, aber sich zugleich ergänzende Gesichter. Auf der einen Seite freiheitlich-demokratische Züge, auf der anderen Seite unersättliches, egoistisches Profitstreben, das sich durch Zerstörung einer lebenswerten Umwelt selbst um die positiven Früchte des Produktionserfolges bringt. Die westliche Welt trage selbstzerstörerische Tendenzen in sich, die als Überflußgesellschaft und als Vergeudungskapitalismus noch relativ harmlos beschrieben werden. Neben Janus, dem zweigesichtigen römischen Gott, führt Duverger zur Deutung der westlichen Gesellschaft eine zweite mythologische Interpretationsfigur ein, den Catoblépas. Er ist ein legendäres stierähnliches Fabelwesen, das sich langsam selber auffrißt, ohne es zu merken. Der kapitalistische Imperativ des Profits sei die Ursache der selbstzerstörerischen Tendenzen des westlichen Systems. Sicher bestehen Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten der Demokratie westlicher Prägung. Aber es sind keine grundlegenden Unterschiede, sondern eher Nuancen und Akzente. Allgemein ist ein beunruhigender Widerspruch vorhanden zwischen dem Anwachsen der produzierten Quantitäten und der schrumpfenden Qualität des Lebens. Ist aber der Rückgriff auf das Wirtschaftssystem, wie ihn Duverger vornimmt, nicht etwas zu einseitig  ? Muß man nicht beim Janusgesicht der westlichen Demokratien auf die Diskrepanz zwischen der Demokratie als Herrschaftsform und der Demokratie als Lebensform abstellen  ? Das ist auch eine Vereinfachung, aber es kommt darin vielleicht mehr zum Ausdruck, als wenn man nur auf die Wirtschaft abstellt. Das Verhalten der Wirtschaft mag sich, vielleicht zwangsweise, den anderen Lebensbereichen zu einem großen Teil mitgeteilt haben. Aber es ist nicht ausgemacht, dass eine Änderung des Verhaltens der Wirtschaft eine Änderung 149

Das Janusgesicht der westlichen Demokratie

der Verhaltensformen in den anderen Lebensbereichen nach sich zieht. Duverger geht es darum, das Selbstzerstörerische des westlichen Systems darzustellen. Aber bestehen der Imperativ des Profits und das Selbstzerstörerische nicht auch in anderen Gesellschaftssystemen  ? Schon der Alt-Österreicher Joseph Schumpeter hat in seinem 1942 erschienenen Werk »Capitalism, Socialism, and Democracy« die Tendenz zur Selbstzerstörung als dem kapitalistischen System innewohnend bezeichnet. Der kapitalistische Prozeß zerstöre nicht nur seinen eigenen institutionellen Rahmen, sondern schaffe auch die Voraussetzungen für einen anderen. Er meinte aber, dass Zerstörung nicht das rechte Wort sei. Vielleicht sei es besser, von einer Wandlung zu sprechen. Das Ergebnis des Prozesses sei nicht einfach eine Leere, die mit irgend etwas, was gerade auftaucht, ausgefüllt werden könnte  ; Dinge und Seelen würden in solch einer Weise umgewandelt, dass sie der sozialistischen Form des Lebens zugänglicher werden. Freilich gibt es nach Schumpeter keine rein wirtschaftlichen Gründe, weshalb der Kapitalismus nicht noch eine weitere erfolgreiche Runde bestehen sollte. Seit Schumpeters Analyse ist einige Zeit vergangen. Die liberalen Demokratien des Westens sind fast durchwegs Sozialstaaten geworden und auf dem Weg zur sozialen Demokratie. Wir alle sind mehr oder weniger »Sozialisten«, insbesondere was Staatsinterventionen und soziale Sicherheit betrifft. Duverger diagnostiziert allerdings auch nach diesem Übergang zum Sozialstaat die Dominanz des Profit-Imperativs. Trotzdem glaubt er, das Janusgesicht des Westens könne in einer Art von neuem demokratischen Sozialismus wieder ein freiheitlich-demokratisches Gesicht werden. Freilich  : Keine der Formen des Sozialismus, die bisher bekannt sind, scheine in der Lage, dies zu leisten. Duverger glaubt aber, die Gemeinschaftsmoral des Sozialismus würde jenen Widerspruch mildern, den der Kapitalismus verschärft  : den Widerspruch zwischen quantitativer Entwicklung und qualitativer Entwertung.

Für einen neuen sozialen Sinn der Demokratie Mit Duverger müssen wir die Frage stellen  : Gibt es eine Möglichkeit, der westlichen Gesellschaft ein, und zwar ein freiheitlich-demokratisches Gesicht zu geben  ? Duvergers Ausweg aus den selbstzerstörerischen Tendenzen des westlichen Systems in der Phase der Überflußgesellschaft und der Technokratie ist eine neue Art von Sozialismus, eine neue Gemeinschaftsmoral, ein neues Demokra­ 150

Das Janusgesicht der westlichen Demokratie

tieverständnis. Es geht vor allem darum, die ethischen Grundlagen der Demo­ kratie neu zu diskutieren. In vielen Bereichen der Rechtsordnung hat sich soziales Gedankengut durchgesetzt, im nicht mit Zwangsnormen geregelten Bereich der Gesellschaft, vor allem im Privatbereich, herrscht ein egoistischer Individualismus vor. Warum  ? In der Familie, in der Schule, durch die Träger der Sozialisation ganz allgemein dürfen wir noch immer zu sehr zu Privatmenschen und zu wenig sozialen und politischen Menschen erzogen werden oder erziehen. Der Rechtsdenker Merkl stellte fest  : Die Freiheit erfährt ihren Sinn erst durch ihren rechten Gebrauch  : Der letzte Sinn der Freiheit sei die Steigerung der sozialen Gerechtigkeit. Ist für uns wirklich der letzte ethische Sinn der Freiheit die Steigerung der sozialen Gerechtigkeit  ? Erfährt unsere Freiheit im Erziehungsprozeß diese Sinngebung  ? Freiheit wird doch erfahrungsgemäß meist egozentrisch, als bloßes privatisierendes Freisein verstanden, als subjektives Recht und nicht als soziale Pflicht. Das Prinzip der unbedingten Hochschätzung des Individuums ist aber nur dann sinnvoll, wenn dem Individuum seine Hauptverpflichtung ständig bewusst ist  : Für die Freiheit der anderen und für Gerechtigkeit für die anderen einzutreten. Hat sich der passive Privatbürger schon zum aktiven Staatsbürger entwickelt  ? Freiheit wird noch immer nicht als Freiheit und Gerechtigkeit auch für den anderen, für den Andersdenkenden verstanden. Von der »Freude am Anderssein des Andern«, wie sie etwa Friedrich Heer postuliert, ganz zu schweigen. Warum versagt die Demokratie in der Erziehung zu ihren Werten ähnlich wie das Christentum  ? Ist nicht auch hier die große Diskrepanz zwischen normativer Idealität und sozialer Realität ein Grund der Unglaubwürdigkeit  ? Wir brauchen die allgemeine Diskussion über Werte, über eine neue Interpretation der Grundwerte der Demokratie, wenn wir der Demokratie einen neuen sozialen Sinn geben wollen. Es geht um den Vorrang von Gemein­schaftswerten auf Kosten des materiellen Eigeninteresses, um ein neues gesellschaftliches Verhältnis zur Umwelt, um das Hinwirken auf eine internationale Solidarität einer schon heute vorhandenen Weltgesellschaft. Es geht um die Verbesserung des menschlichen Lebens im Natur- und Kulturbereich, um die Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen, um ein neues soziales Denken und Verhalten, um einen neuen demokratischen Humanismus. Die Freiheit des Westens gibt dafür Chancen genug. Und nichts spricht dagegen, dass die westliche Demokratie schöpferische Phantasie, Diskussions- und Experimentierfreudigkeit und sozialen Idealismus aufbringen kann.

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Demokratie und Demokratisierung (1974)

Demokratiebegriffe Man sagt allgemein, Demokratie heißt Volksherrschaft. Das klingt schön und gut. Was bedeutet aber Volk, was bedeutet Herrschaft  ? Auf diese Fragen geben gängige Demokratiedefinitionen keine oder kaum eine Antwort. Als klassische Demokratieformeln gelten Begriffsbestimmungen wie  : »government of the people, by the people, and for the people« (A. Lincoln, Gedenkrede von Gettysburg, 1863), »Herrschaft des Volkes über das Volk« (H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Neudruck 1963, S.  14), »Identität von Norm­­erzeugern und Normadressaten« (a.a.O., S.  14, 98 f.), »Identität von Herr­schenden und Beherrschten, Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden« (C. Schmitt, Verfassungslehre3, 1957, S.  234). Diese vorwiegend an der politischen Philosophie Rousseaus orientierten Formeln umschreiben die Idee, nicht aber die Realität der Demokratie. Kelsen (Demokratie, 1927, S. 37 ff.) brachte das anläßlich des Fünften Deutschen Soziologentages in Wien 1927 besonders klar zum Ausdruck  : »Demokratie ist der Idee nach eine Staats- (oder Gesellschafts-)Form, bei der der Gemeinschaftswille (die soziale Ordnung) durch die ihm Unterworfenen erzeugt wird  : Identität von Subjekt und Objekt der Herrschaft, von Führer und Geführten.« Besonders klar hob er auch die Momente hervor, die der Realisierung dieser Idee in der historisch-politischen Wirklichkeit enge Schranken ziehen. Er nennt insbesondere die Qualitäten der zur Erzeugung des Gemeinschaftswillens Berufenen, das mangelnde politische Interesse, das sozialtechnisch notwendige Majoritätsprinzip, die sozialtechnische Arbeitsteilung  : das Repräsentationssystem, die Natur des stufenweisen Erzeugungsprozesses des Gemeinschaftswillens in technisch fortgeschrittenen Gemeinwesen, insbesondere beim Staate, die notwendige Vermittlerrolle der Parteien beim Prozeß der Gemeinschaftswillensbildung. 153

Demokratie und Demokratisierung

Die Identität von Regierenden und Regierten wurde vielfach als utopisches oder realitätsblindes Mißverständnis abgetan. Um die Realität der Demokratie in den Begriff zu bekommen, wurde von verschiedenen Seiten versucht, die klassische Demokratiedefinition zu modifizieren und zu revidieren. Orientiert an der die Grundlage angelsächsischer Demokratie bildenden politischen Philosophie Lockes wurde Regierung als eine Treuhandschaft aufgefaßt, als trust, den das Volk begründet und dessen Nutznießer es ist  ; der Zweck der Regierung hat sich allein am Wohl der Regierten zu orientieren. Demokratie bedeutet dann nicht »Selbstregierung des Volkes«, sondern »Regierung mit Zustimmung des Volkes«, »unter Aufsicht des Volkes«. Andere revidierte Demokratieformeln lauten etwa  : »Demokratie ist die Identität der Interessen von Herrschenden und Beherrschten« (D. Schindler, Über die Bildung des Staatswillens in der Demokratie, 1921)  ; »Wo keine Identität von ›Herrschern‹ und ›Beherrschten‹, also keine wirkliche ›Selbstregierung der Regierten‹ mehr möglich ist, soll wenigstens eine Identifikation der letzteren mit ersteren möglich sein« (M. Draht, in  : Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentationsverfassung, hrsg. v. H. Rausch, 1968, S. 296)  ; »Demokratie beruht auf der Eroberung der staatlichen Betriebsdirektion mit den gesetzlich erlaubten Mitteln des Zusammenschlusses und der Stimmenwerbung« (R. Thoma, in  : Hauptproblem der Soziologie. Erinnerungsgabe für M. Weber, 1923, S. 58)  ; »Demokratie ist ein System der Bildung und Konkurrenz politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes erwerben« (J. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie2, 1950, S.  428), »Demokratie ist die Herrschaftsausübung durch eine zu alternierender Führung und Regierung tendierende Kombination konkurrierender politischer Gruppen im Auftrag und unter Kontrolle des Volkes« (O. Stammer, Politische Soziologie und Demokratieforschung, 1965, S. 176). Die Formel »Demokratie ist Identität von Herrschenden und Beherrschten« umschreibt die Idee der Demokratie schlechthin, die Formel »Demokratie ist ein institutionelles System, in dem durch Wahlen die jeweilige Zusammensetzung des Führungsteams bestimmt wird und wenigstens zwei derartige Teams sich um Stimmenmaximierung bemühen« beschreibt die Realität der Demokratie westlicher Prägung. Mißt man die politische Wirklichkeit an jener Formel, so gibt es kein Gemeinwesen der Welt, das ihr voll entspricht, mißt man die politische Welt an dieser Formel, so entspricht ihr fast jede Demokratie der westlichen Welt. Kann aber das Bedürfnis nach Demokratie befriedigt sein, wenn man von der eigenen Demokratie wohl sagen kann, daß sie die 154

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formale Minimalforderung, die an einen demokratischen Staat gestellt wird, erfüllt, daß sie aber der Idee nur annäherungsweise entspricht  ? Ist das Bedürfnis nach Demokratie mit einem repräsentativen Verhältnis der Regierenden zum Volk zufriedengestellt  ? Ist es gar durch die Feststellung befriedigt, daß bei vereinfachender Sicht zwischen der Demokratie westlicher Prägung und Demokratien anderer Prägung weniger prinzipielle als graduelle Unterschiede bestehen  ? Dort Monopol, hier Oligopol der Machtausübung  ; dort Monopolisierung sozialer Entscheidungsprozesse durch eine mehr oder weniger homogene Elite, hier Konkurrenz mehrerer mehr oder weniger heterogener Eliten. Bestehen aber nicht hier wie dort bürokratisch-hierarchisch verfestigte und von sich reproduzierenden Eliten geleitete Herrschaftsapparate mit mehr oder weniger Mitbestimmung und Wahlmöglichkeit des Volkes, wobei hier unter Volk die große Masse ohne Besitz und Macht verstanden wird  ? Diese Frage verlangt Besinnung, Besinnung auf die Idee der Demokratie.

Die Idee der Demokratie In der Idee der Demokratie vereinigen sich nach den Worten Kelsens zwei Postulate unserer praktischen Vernunft, drängen zwei Urinstinkte des geselligen Lebewesens nach Befriedigung (Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 3). »Fürs erste die Reaktion gegen den aus dem gesellschaftlichen Zustande fließenden Zwang, der Protest gegen den fremden Willen, dem sich der eigene beugen muß, gegen die Qual der Heteronomie. Es ist die Natur selbst, die sich in der Forderung der Freiheit gegen die Gesellschaft aufbäumt« (a.a.O.). Dabei wird erfahrungsgemäß die Heteronomie umso drückender empfunden, »je unmittelbarer im Menschen das primäre Gefühl des eigenen Wertes sich in der Ablehnung jedes Mehrwertes eines anderen äußert, je elementarer gerade dem Herrn, dem Befehlenden gegenüber das Erlebnis des zu Gehorsam Gezwungenen ist  : Er ist ein Mensch wie ich, wir sind gleich  ! Wo ist also sein Recht, mich zu beherrschen  ? So stellt sich die durchaus negative und tief innerst antiheroische Idee der Gleichheit in den Dienst der ebenso negativen Forderung der Freiheit« (a.a.O.). Das Bewußtsein des Eigenwertes kann aber nicht nur die Ablehnung der Fremdherrschaft, sondern auch etwas Positives, etwas Aktivierendes zur Folge haben  : Individuelles Selbstbewußtsein verlangt soziale Selbstbestätigung und Selbstbestimmung. Die »Antipathie gegen die Heteronomie« stellt sich politisch-positiv als »Sympathie für die Autonomie« dar. 155

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Aus der Annahme, daß wir – in der Idee – gleich seien, kann nach Kelsen wohl die Forderung abgeleitet werden, »daß einer den anderen nicht beherrschen solle«. R. Marcic (Demokratie – der Baustil des Wandels, AKV-Informationen 1/1970, S. 23) hat diese Forderung in den Imperativ gekleidet  : »Du sollst über Deinen Nächsten nicht herrschen  !« Da aber keine Gesellschaft ohne Ordnung sein kann, ja durch eine Ordnung überhaupt erst begründet wird, stellt sich die Frage  : Wie findet man eine Gesellschaftsordnung, die jeden einzelnen schützt und in der jeder einzelne, obgleich er mit anderen zusammenlebt, doch nur sich selbst gehorcht und damit frei bleibt  ? Diese Frage stelle bekanntlich Rousseau  ; er beantwortete sie mit der Forderung nach direkter Selbstbestimmung, nach unmittelbarer Demokratie, nach Identität von Subjekt und Objekt der Herrschaft. Rousseau gibt allerdings zu erkennen, daß er selbst nicht an die allgemeine praktische Möglichkeit eines direkten Regiertwerdens des ganzen Volkes durch das ganze Volk glaubt. Der vielleicht größte Theoretiker der Demokratie ist auch einer ihrer größten Skeptiker. Ein anderer Theoretiker der Demokratie, G. Steffen (Das Problem der Demo­ kratie, 1912, S. 87), beantwortet die Frage mit einem etwas ausdifferenzierteren Demokratiebegriff. Nach ihm ist Demokratie die direkte und indirekte Beteiligung aller mündigen Männer und Frauen an aller politischen und wirtschaftlichen Machtausübung innerhalb der Gesellschaft – jedoch nicht als Selbstzweck, sondern ganz und gar dem allgemeinen Besten untergeordnet. Die Demokratie ist danach »die soziale Machtverteilung, welche alle für die soziale Machtausübung, die das Gemeinwohl berührt, verantwortlich macht und alle ermächtigt, diese Machtausübung zu überwachen und in sie einzugreifen, und zwar ohne andere Begrenzung als die, welche das allgemeine Beste erforderlich macht.« Diese Definition bringt nicht nur die Idee der Demokratie zum Ausdruck  ; sie ist auch brauchbar, wenn man prüfen will, ob eine Gesellschaft demokratisch ist oder nicht. Die Zahl der Beteiligten an der Machtausübung in den verschiedenen Sozialbereichen ist freilich verschieden, ebenso die Art und Weise der Beteiligung. Die Möglichkeit, daß alle in gleicher Weise über alles entscheiden und verfügen, stellen sich die Verschiedenheit der Sozialbereiche, die verschiedenen Ordnungen des Soziallebens und die heterogene, interessengebündelte, differenzierte und arbeitsteilig organisierte Gesellschaft überhaupt als soziale Realität entgegen. Der Prozeß der Demokratisierung im Sinne der Herstellung von Demokratie oder von mehr und besserer Demokratie, im Sinne der Annäherung der sozialen Realität an die Idee der Demokratie verlangt aber, daß stets aufs neue nach neuen Formen der Teilnahme und Teilhabe aller Men156

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schen an der sozialen Machtausübung gesucht wird. Ist die Überwindung der Fremdbestimmung und die menschliche Selbstbestimmung nicht das Ziel der Demokratie  ? Ist dieses Ziel nicht ständig anzustreben  ? Soll nicht jede reale Demokratie sich als Mittel zu diesem Ziel begreifen  ?

Die Realisierung der Demokratie und die Forderung nach Demokratisierung Die politische Wirklichkeit war und ist der Idee der Demokratie mehr oder weniger angenähert. Die Geschichte bietet uns Beispiele genug. Die ersten großen und bekannten Experimente der Demokratie spielten sich in der Antike ab. Man nennt oft Athen zur Zeit des Perikles. Die athenischen Bürger besaßen umfassende Kontrolle über alle politischen Angelegenheiten. Allerdings waren diese Bürger tatsächlich eine privilegierte Klasse. Die außerhalb der Stadt Wohnenden konnten kaum ihren Boden verlassen, um ihre Bürgerpflichten und -rechte wahrzunehmen  ; Fremden waren die Bürgerrechte verwehrt  ; unterhalb der Fremden gab es noch die Sklaven, die mehr als ein Drittel der Bevölkerung ausmachten und keinerlei Rechte besaßen  ; die Frauen lebten geradezu orientalisch zurückgezogen. So ruhte die Demokratie der Athener auf einer antidemokratischen Grundlage (R. M. Maciver, Regierung im Kräftefeld der Gesellschaft, 1947, S. 172). Ähnliches könnte man auch in bezug auf das römische Experiment der Demokratie sagen (a.a.O.). Aus jüngerer Zeit bieten sich als Beispiele die Resultate der bürgerlichen Revolutionen von 1789 und 1848 an  ; sie haben »das demokratische Ideal beinahe zu einer Selbstverständlichkeit des politischen Denkens gemacht« (Kelsen, a.a.O., S. 1), die politische Wirklichkeit wurde aber bestenfalls nur im Bereich des Staates demokratisiert. Unter den Schlagworten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit traten bestimmte Schichten der Bevölkerung den Kampf gegen die alten Autoritäten an  ; dieser Kampf führte zur modernen Nationalstaatlichkeit, immerhin auch zur politischen Emanzipation des Besitz- und Bildungsbürgertums, zu dessen Partizipation am politischen Entscheidungsprozeß, aber nicht zu den demokratischen Gemeinwesen der Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit, die manche erwartet hatten. Alte Herrscher wurden von neuen abgelöst, alte Herrschaftsformen von neuen. Die ökonomische Freiheit führte trotz rechtlicher Gleichheit zur ökonomischen Ungleichheit, zur faktischen Unfreiheit trotz rechtlicher Freiheit, zur Herrschaft weniger über viele. Pessimistisch könnte man auf Grund 157

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der historischen Erfahrungen sagen  : Eliten kommen, Eliten gehen, Herrschaft und Ungleichheit bleiben bestehen. Die jeweilige Realisierung von Demokratie bringt die Idee nur unvollkommen zur Geltung. Und doch schimmert die Idee durch alle ihre historischen Erscheinungsformen. Seit der Französischen Revolution, also seit etwa 200 Jahren, läßt sich diese Idee in sogar fast allen Gemeinwesen der Welt erkennen, insbesondere an Hand bestimmter staatlicher Institutionen, die in den meisten Verfassungen versammelt sind, wie z. B. Mitwirkungsmöglichkeiten des Volkes an der Staatswillensbildung, insbesondere Wahlen, Plebiszit, Referendum  ; Gleichheit zumindest aller Staatsbürger usw. Die Idee der Demokratie hat sich weltweit verbreitet. In der Ausgestaltung und noch mehr in der praktischen Handhabung der demokratischen Institutionen bestehen freilich viele Unterschiede. Jedes Gemeinwesen hat sozusagen seine eigene Demokratie. Trotzdem lassen sich verwandte Demokratien, Demokratiefamilien, feststellen, die jeweils in bestimmten Strukturmerkmalen übereinstimmen. Auf diese Weise hat man drei typische Formen der Demokratie unterschieden, deren jede eine bestimmte Gesellschaftsform auf einer bestimmten Entwicklungsstufe gestaltet und ihrerseits wieder von ihr beeinflußt wird  : die wesentlichen, liberalen Demokratien, die kommunistischen Formen der Demokratie und die Demokratieformen der sogenannten dritten Welt (C. B. Macpherson, Drei Formen der Demokratie, 1967, insb. S. 7 und 53 ff.). Die Ausprägung, Verbreitung und Bewährung dieser beiden nichtliberalen Varianten der Demokratie, die über zwei Drittel der Welt ausmachen, blieb nicht ohne Wirkung auf die Menschen der westlichen Welt. Die Tatsache, daß sich die meisten nichtliberalen Formen der Demokratien als funktionsfähig und darüber hinaus als ökonomisch, sozial und politisch konkurrenzfähig erwiesen haben, dürfte die Überlegenheit der Demokratien westlicher Prägung im Bewußtsein der westlichen Völker erschüttert haben. Die liberale Demokratie muß nun mit anderen Arten der Demokratien um die Verwirklichung von Fortschritt, Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, Bildungsniveau usw., aber auch von Frieden und Gerechtigkeit konkurrieren. Zu dieser von außen her bedingten Ursache für die Problematisierung der liberalen Demokratiekonzeption kommen Strukturprobleme von innen. Hervorzuheben ist insbesondere der innerhalb der Formen der liberalen Demokratie sich abspielende Wandel von Staat und Gesellschaft. Er wird durch folgende Schlagworte signalisiert  : Wandel vom Ordnungsstaat von gestern zum Lenkungs-, Leistungs- und Verteilungsstaat, zum Wirtschafts- und Sozialstaat, zum quantitativ totalen Vielzweck- und Verwaltungsstaat von heute, zum 158

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Servicestaat  ; Abdankung der Eigeninitiative und Privatautonomie zugunsten kollektiver Initiative und Autonomie  ; Herrschaft von anonymen kollektiven Mächten  ; Herrschaft der Parteien, Verbände, Wirtschaftskörper, Manager, Bürokratien und Massenmedien  ; Oligarchisierung dieser Bereiche  ; wachsende Verschmelzung von Staat und Gesellschaft, Totalität der Politik usw. Vor allem der Funktionswandel, ja -verlust des Parlaments spielt eine verunsichernde Rolle (vgl. für Österreich A. Pelinka/M. Welan, Demokratie und Verfassung in Österreich, 1971, S.  63 ff.). Die massenmediale, parteien- und verbändestaatliche Transformation des Parlamentarismus, die ständige Expansion des Verwaltungsstaates, auf den der einzelne mehr und mehr angewiesen ist, der Abbau der nationalstaatlichen Souveränität, die Ausbildung von komplexen Sach- und Funktionszwängen in der Industriegesellschaft – all das hat Unbehagen und Unsicherheit über Wesen und Wert der liberalen Demokratie zur Folge. Sie ist in eine Krise geraten. Ausdruck dieser Krise sind die Verwirrung des Demokratieverständnisses (vgl. dazu H. Schneider, Wissenschaft und Weltbild 1970, S. 81 ff., S. 177 ff.), die Demokratiekritik (z. B. J. Agnoli/P. Brückner, Die Transformation der Demokratie, 1967), die Forderung nach Demokratiereform und der Ruf nach Demokratisierung (vgl. zu ersterem für Österreich z. B. Chr. Broda/L. Gratz, Für ein besseres Parlament – für eine funktionierende Demokratie, 1969  ; E. Busek/G. Wilflinger, Demokratiekritik  – Demokratie­ reform, 1969  ; P. Diem/H. Neisser, Zeit zur Reform, 1969  ; K. H. Ritschel [Hg.], Demokratiereform, 1969  ; Demokratiereform [= AKV Informationen 3/1969]  ; Marcic, a.a.O., Pelinka/Welan, a.a.O., und zu letzterem z. B. H. v. Hentig, Demokratisierung, in  : H. J. Schulz [Hg.], Politik für Nichtpolitiker, 1. Bd., 1969, S. 87 ff.; G. u. H. Wilke, Die Forderung nach Demokratisierung von Staat und Gesellschaft, in  : Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung »Das Parlament«, B 7/1970, S. 33 ff.). Auf Grund der historischen Erfahrung kann man sagen, daß die Idee der Demokratie von der Realität bisher noch nie eingeholt wurde. Die Verwirklichung der Idee wurde niemals erreicht und wird vielleicht niemals erreicht werden. Die Idee der Demokratie läßt sich erfahrungsgemäß nur asymptotisch, nicht aber voll realisieren. Sie konkretisiert sich bei bestimmten politischen und sozioökonomischen Bedingungen in einer bestimmten Gestalt. Die Idee erscheint in verschiedenen Gestalten. Demokratie hat nicht einen ein für allemal fixierten Gehalt, sondern entfaltet sich jeweils als historische Figur. Daher wäre es falsch, eine der vielen Erscheinungsweisen der Demokratie aus dem historischen Zusammenhang herauszulösen, zu isolieren und zu verabsolutieren. 159

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Falsch wäre es insbesondere, ein bestimmtes Ensemble von sozialen Institutionen als die Demokratie schlechthin herauszustellen. Ähnlich wie in der Idee des Christentums ist auch in der Idee der Demokratie viel Utopisches beschlossen. Diese Ähnlichkeit ist kein Zufall, ist doch das demokratische Ideengut zu einem gut Teil säkularisiertes christliches Gedankengut. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit  ! Ist das nicht Christentum  ? Und es kommt nicht von ungefähr, daß das Wort »government of the people, by the people, and for the people« in einer alten christlichen Tradition steht (das Vorwort zu Wyclifs Bibelübersetzung 1384 lautet  : »This bible is for the government of the people, by the people, and for the people.« Siehe Schneider, a.a.O., S. 83). Ähnlich wie mit dem praktizierten Christentum steht es mit der praktizierten Demokratie. Es ist davon immer zu wenig vorhanden. Ist nicht schon auf Grund dieser Einsicht die Herstellung von mehr und besserer Demokratie, die Forderung nach Demokratisierung immer gerechtfertigt  ? Ist die Forderung nach Demokratisierung in einer Zeit der Krise der Demokratie nicht besonders gerechtfertigt  ?

Die Realisierung der Demokratie in Österreich Österreichs Weg zum bürgerlichen Rechtsstaat und zur liberalen Demokratie – Das Ideengut der französischen und amerikanischen Revolution, die Lehren von den Menschenrechten und von der Volkssouveränität, von der gewählten Volksvertretung und von der Gewaltentrennung strömten um die Wende des 18. Jahrhunderts auch nach Österreich ein. Allerdings ohne äußeren Erfolg. Betrachten wir die Zeit des Vormärz. Die Staatsbildung Österreichs war abgeschlossen, die eigentliche Verfassung war nach wie vor die Pragmatische Sanktion 1713, die ja die Basis für das werden des österreichischen Gesamtstaates gewesen war. Nach dem Tod Josephs II. und Leopolds II. war die Ära des aufgeklärten Absolutismus mit seinen Revolutionen und Reformen von oben und damit Chancen für frühliberale und demokratische Vorspiele beendet. Kaiser Franz war ein Feind der liberalen und demokratischen Ideen der Aufklärung und ein entschiedener Anhänger einer absolutistischen Regierungsform. Den Verfassungsstaat lehnte er ab. Die Aufgaben des modernen Staates, der sich an der Idee des Wohlfahrtsstaates orientierte, wurden durch persönliches Regieren des absoluten Monarchen mit Hilfe des Kabinetts bewältigt. Polizei und katholische Kirche waren die Hüter dieser »Verfassung«. 160

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Nach dem Tode des Kaisers Franz 1835 wurde das persönliche Regieren durch das Kabinett durch eine kollektive Regierung abgelöst. Es wurde nur mehr administriert und nicht regiert. Im Verhältnis Staat – Untertan ist in der Ära Metternich ein absoluter Stillstand eingetreten. Als fortschrittliche Gesetze sind im wesentlichen nur das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch (1812) und das Strafgesetz (1803) in Wirksamkeit getreten, Gesetze, deren Ausarbeitung schon unter Maria Theresia begonnen hatte. Sie brachten wesentliches Gedankengut der Aufklärung und der rationalistischen Naturrechtslehre in die Rechtsordnung, obwohl gerade dieses Gedankengut offiziell verpönt war – ein Indiz für die Kraft fortschrittlicher und freiheitlicher Ideen und ein Paradoxon Austriacum. In einer »Verfassung« aber fanden diese Ideen keinen Niederschlag. Diese Ideen bewegten vor allem das Bildungs- und Besitzbürgertum, aber auch Gruppen des ständischen Adels. Diese Gruppen erstrebten auch eine Änderung des Systems des monarchischen Absolutismus im Sinne einer Teilnahme der bisher nicht oder nur beschränkt landtagsfähigen Schichten am öffentlichen Leben. Die Zeit des Vormärz war im großen und ganzen durch eine reaktionäre und restaurative Beharrung gekennzeichnet, die allmählich durch innere Schwäche und frühliberale Bestrebungen in Bewegung und Erwartung geriet (vgl. dazu insb. E. Winter, Romantismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz, 1968). Erst aber die Februarrevolution in Paris löste Wirkungen aus. Das revolutionäre Bewußtsein internationalisierte sich. Es entstand ein demokratisches Selbstbewußtsein und eine internationale demokratische Solidarität. Die breiten Volksmassen konnten und wollten die Herrschaft des Monarchen und des Adels, der Polizei und der Beamten nicht mehr erdulden. Die revolutionäre Wiener Bewegung vom März 1848 hatte zunächst zur Folge, daß der Kaiser neben der Aufhebung der Zensur eine Konstitution verhieß, ein damals magisches Wort. Die Bildung eines verantwortlichen Ministeriums wurde angeordnet  ; es löste die kollegialen Hofkanzleien ab. Im April 1848 erhielt Österreich seine erste Verfassung. Sie trat allerdings nie ins Leben. Sie war – an der belgischen Charte 1831 orientiert – für das liberale Bürgertum konzipiert und befriedigte dessen politische Bedürfnisse, nicht aber die der Arbeiterschaft. Diese war nicht organisiert. Sie folgte in vielen Aktionen den Studenten, die dank ihrer Aktivität die Volksmassen beeinflussen konnten. Die »akademische Legion« beherrschte kurze Zeit das Proletariat, konnte es aber nicht auf Dauer führen. Revolution und Volk waren führerlos. »In Wien war gewissermaßen eine demokratische Republik errichtet worden, die niemand leiten konnte.« Die definitive Demokratisierung des 161

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Staates wurde nicht zuletzt aus diesem Grund versäumt. Wohl hatte zunächst eine Wahlordnung Ende Mai 1848 ein halbwegs demokratisches Wahlrecht gebracht, auf Grund dessen auch gewählt wurde  ; der Verfassungsbau wurde dem Ministerium entzogen, der gewählte Reichstag arbeitete selbst einen neuen Verfassungsentwurf aus, der Entwurf des Grundrechtskataloges proklamierte ausdrücklich die Volkssouveränität  : Alle Staatsgewalten gehen vom Volk aus. Aber die Revolution war bald zu Ende und damit die durch sie bewirkte Solidarität der Massen. Die Klassen- und Nationalitätengegensätze traten immer mehr hervor. Im Oktober 1848 war die Arbeiterschaft schon isoliert. Das Besitz- und Bildungsbürgertum war politisch saturiert, mit ihm wünschte das Kleinbürgertum in Handel und Gewerbe Ruhe, Ordnung und Sicherheit und die bäuerlichen Massen zeigten sich nach der gesetzlichen Sicherung der Grundentlastung an einer Fortführung der Revolution, ja sogar an einer Verteidigung der politischen Errungenschaften desinteressiert. Die österreichische Militärmacht konnte mit Hilfe der russischen die Revolution niederschlagen. Kaiser Franz Joseph regierte autokratisch  – absolutistisch  – zentralistisch im Bewußtsein des Gottesgnadentums. Der Neoabsolutismus wurde etabliert, durchsetzt von manchen liberalen Ideen, die vor allem von den Ministerien her kamen. Hof und Adel, Militär und Klerus vermochten aber im ganzen eine reaktionäre Entwicklung einzuleiten, die erst infolge staatswirtschaftlicher, militärischer und außenpolitischer Schwierigkeiten zu Zugeständnissen und Reformen von oben führte. Oktoberdiplom und Februarpatent 1861 waren der Ausdruck dieser Zugeständnisse. Mit ihnen bahnte sich ein gewisses konstitutionelles Leben an. Jede Liberalisierung aber war mit der Verstärkung des Nationalismus verbunden, der die gesamte Monarchie in nationalkonservativer, nationalliberaler und nationaldemokratischer Prägung durchsetzte. Diese drei Hauptrichtungen bekämpften einander häufig, so daß die Krone durchaus dominieren konnte und der dekretierte Verfassungsstaat nur Fassade war (vgl. dazu insb. E. Winter, Revolution, Neoabsolutismus und Liberalismus in der Donaumonarchie, 1969, S.  107 ff., 149 ff.). Erst die Dezemberverfassung 1867 wandelte Österreich endgültig in eine konstitutionelle Monarchie. Der Hochliberalismus und sein Träger, das in der Wirtschaft dominierende Bürgertum, setzten sich im Verein mit der zentralistischen österreichischen Bürokratie im Verfassungsleben durch. Analysiert man die Dezemberverfassung 1867, so erkennt man in ihr die Struktur des bürgerlichen Rechtsstaates, wie ihn Aufklärung und Liberalismus konzipiert haben, eine Konzeption, die verschiedene Elemente wie Freiheitsrechte, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Richter, Gesetzesgebunden162

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heit der Verwaltung, Ministerverantwortlichkeit, Parlament und beschränktes Wahlrecht zu einer systematischen Einheit zusammenschließt. Analysiert man das Wahlrecht und die politische Wirklichkeit, so erkennt man, daß sich das Besitz- und Bildungsbürgertum politisch durchgesetzt hatte. Es kam praktisch zur Alleinherrschaft einer Oberschicht, in der die Deutschen dominierten. Das beschränkte Wahlrecht begünstigte diese Oberschicht und damit die Deutschen als führende Staatsnation. Mit der Verbreiterung des Wahlrechts wurde sowohl die soziale Homogenität des Parlaments als auch die nationale Hegemonie der Deutschen zerstört. Nationalitäten- und Klassenkämpfe wurden damit gewissermaßen offiziell. Durch die Gemeinde- und Länderautonomie und durch die Ausdehnung des Wahlrechtes auf mehr und mehr und auch die besitzlosen Schichten wurden diese Kämpfe noch verstärkt. Die sukzessive Demokratisierung des Wahlrechts führte sukzessiv zur Potenzierung der Nationalitäten- und Klassenkämpfe. Die stetige Verbreiterung des Wahlrechtes zum Abgeordnetenhaus des Reichs­rates markiert formell die Geschichte der Demokratie in Österreich  : 1873 wurde die direkte Wahl zum Reichsrat eingeführt, 1883 in den Stadtgemeinden der Steuerzensus auf das Maß der Landgemeinden (nämlich fünf Gulden) herabgesetzt, 1896 zu den Kurien des Abgeordnetenhauses, die an die alten Landstände erinnerten, eine allgemeine Wählerkurie hinzugefügt. 1907 wurde das allgemeine und gleiche Wahlrecht nach national einheitlichen Wahlkreisen eingeführt. Im Zuge fortschreitender Demokratisierung begann seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts der Aufstieg der modernen Massenparteien. Der alte Deutschliberalismus war in Auflösung begriffen. Er wurde von drei Lagern abgelöst, dem christlichsozial-konservativen, dem sozialistischen und dem nationalen, deren Neben-, Gegen- und Miteinander die soziale, ökonomische und kulturelle Struktur Österreichs seither beherrscht (vgl. A. Wandruszka, Österreichs politische Struktur, in  : H. Bendedikt [Hg.], Geschichte der Republik Österreich, 1954, S. 289–485). Halten wir fest  : Als die Demokratie in Österreich Eingang zu finden begann, war das österreichische Staatsgebäude vorwiegend vom Stile des Liberalismus geprägt, die Gesellschaft war die bürgerliche Gesellschaft der Welt von gestern. Wie in vielen Staaten der westlichen Welt entstand die Demokratie als ein später, ja verspäteter Zusatz zum liberalen Staat. Der Wandel von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie mit bürgerlicher Mitwirkung an der Gesetzgebung einerseits und bürgerlichen Grundfreiheiten andererseits und der Wandel von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft mit Rechtsfreiheit und 163

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-gleichheit der Person, Privatautonomie und -eigentum hatten diese Entwicklung überhaupt erst möglich gemacht. Insbesondere der Gebrauch des Vereins- und Versammlungsrechtes, der Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit bot den in der konstitutionellen Monarchie vom Wahlrecht ausgeschlossenen Massen die Möglichkeit, ihre Forderungen gegenüber Staat und Gesellschaft organisiert und mit kollektivem Druck vorzubringen. Halten wir weiters fest  : Wie der bürgerliche Rechtsstaat wurde auch die Demokratie in Österreich aus einer Antistellung groß. Der Einbau liberaler und demokratischer Institutionen in den monarchischen Beamten- und Militärstaat verstaatlichte zunächst den antistaatlichen Liberalismus, später auch zum Großteil den antistaatlichen Demokratismus. Die Demokratie, angetreten im und zum Kampf mit der Staatsgewalt, versöhnte sich mit dem Staat. Die Versöhnung der demokratischen Bewegung mit dem Staat führte dazu, daß die Los-von-der-Macht-Bewegung zu einem Kampf um die Staatsmacht wurde (vgl. dazu allgemein D. Koigen, Die Kultur der Demokratie, 1912, S. 165 ff.). Aus einer Drohung für den Staat wurde Demokratie eine Form des Staates, eine Technik der Staatswillensbildung. Der Staat selbst wandelte sich. Aus einem Instrument des Monarchen, der Aristokratie und des besitzenden Bürgertums wurde er zu einem Instrument der großen politischen Lager. Dieser Wandel zeichnete sich in Österreich endgültig nach dem Ersten Weltkrieg ab, als die drei Lager, insbesondere die Christlichsozialen und Sozialdemokraten, im Namen des Volkes und von diesem durch die Wahlen legitimiert, die wichtigsten Machtpositionen des Staates besetzten. Aus dem Kampf gegen den Staat war ein Kampf um den Staat geworden, vor allem ein Kampf um den Zugang zur Rechtssetzung. Für Alt-Österreich ist noch hervorzuheben, daß das allgemeine Wahlrecht Staat und Gesellschaft nicht demokratisierte. Die Staatsführung war auf Grund der ausländischen Erfahrungen sicher, daß es keinerlei radikal-demokratische Effekte haben werde und daß sie es in ihre Strategie des »divide et impera« gegenüber dem Wirrwarr von Nationen und Parteien wirkungsvoll einsetzen konnte. Das Resultat war ein in aller Regel arbeitsunfähiges Parlament. Durch den Effekt der Kombination von allgemeinem Wahlrecht und heterogener politischer Infrastruktur versank das Parlament im Zuge der Wahlrechtsausdehnung völlig in Agonie. Stabile Mehrheiten ließen sich nicht finden, die Parteizersplitterung führte zur Desintegration des Parlaments, die Regierung erledigte die Geschäfte diktatorisch mit Notverordnungsparagraphen (vgl. H. Lentze, Der Ausgleich mit Ungarn und die Dezembergesetze von 1867, in  : Die 164

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Entwicklung der Verfassung Österreichs, 1963, S. 109 f.). Alt-Österreich blieb de facto trotz demokratischer Fassaden ein Obrigkeitsstaat mit bürgerlich-liberalen, rechtsstaatlichen Verbrämungen. Kurz  : Ält-Österreich war eine Art von rechtsstaatlicher Diktatur. Demokratie, Verfassung und Demokratieverständnis in Österreich  – 1918 erlebte die Idee der Volkssouveränität einen österreichischen Nachsommer. Die Revolution von 1848 fand in einem Nachziehverfahren ihre Erfüllung. Immer wieder finden wir in den provisorischen Verfassungen und schließlich in der definitiven Verfassung den Hinweis auf das Prinzip der Volkssouveränität. Die Idee der Volkssouveränität mußte zumindest verbal in den Verfassungen dominieren, um die drei Lager, insbesondere die zwei Großparteien, als die faktischen Nachfolger des Monarchen und eigentlichen Träger des Machtprozesses zu legitimieren. Die Herrschaft des Volkes aber war auf Dauer nicht Herrschaft im Interesse des Volkes, sondern wandelte sich bald in Herrschaft im Interesse der eigenen und gegen die andere Partei und schließlich, 1933, zur Herrschaft ohne und gegen das Volk, zur Diktatur. Eine Analyse des B-VG ergibt, daß Österreich eine »gemischte Verfassung« im traditionellen Sinn aufweist. Darauf hat vor allem Marcic immer wieder hingewiesen. Monarch und Aristokratie sind natürlich daraus geschwunden, sie sind z. T. durch die Parteien ersetzt, z. T. durch andere Gruppen, und alle Amtsträger leiten ihr Amt formal vom Volk ab. Das Volk und seine Repräsentanten stehen sich gegenüber. Das vielleicht besondere in Österreich ist, daß der repräsentative Grundzug der Verfassung aus deren Genesis heraus als ein »Baugesetz des Mißtrauens« interpretiert werden muß, als ein Prinzip des Mißtrauens, das die Parteien zueinander und vielleicht sogar dem Volk gegenüber hatten. Aus diesem Prinzip des Mißtrauens ist zu erklären, warum Volksbegehren und Volksabstimmung so stiefmütterlich behandelt worden sind und warum Einrichtungen zu einem Ganzen verbunden sind, die heterogener Natur sind  ; warum ein die Mehrheitsbildung im Parlament hemmendes Proportionalsystem nach Schweizer Art mit einem Verhältnis von Parlament und Regierung nach britischem Muster verknüpft und diesem parlamentarischen System ein Staatsoberhaupt nach dem Vorbild der Weimarer Verfassung aufgepfropft worden ist (vgl. dazu insbesondere Pelinka/Welan, a.a.O., S. 162 ff.). Der extremen und radikalen Parlamentsgläubigkeit der Linken setzte die Rechte den Glauben an die Autorität des volksgewählten neutralen Staatsoberhauptes entgegen. Diese heterogenen Elemente sollten ein Gleichgewicht der 165

Demokratie und Demokratisierung

politischen Kräfte bewirken. Das Mißtrauensprinzip äußerte sich im übrigen auch in der geradezu raffiniert komplizierten Ausgestaltung des Föderalismus. Merkl (Ursprung und Schicksal des Leitgedankens der Bundesverfassung, Juristische Blätter 1934, S. 157 ff.) in einer Art Absage zum B-VG fest, daß drei politische Ideen der österreichischen Verfassung das Gepräge gegeben haben  : Demokratismus, Parlamentarismus und Föderalismus und daß gerade der Demokratismus offiziell und scheinbar am unbestrittensten war. Merkl hebt aber hervor, daß es eine Demokratie ohne geschulte und überzeugte Demokraten war, ja vielleicht überhaupt ohne Demokraten. »Heute weiß man, die Demokratie war den großen politischen Gruppen bloß die rechtliche Plattform, von der aus man die Gefahr einer Diktatur der anderen am besten abwehren zu können glaubte. Ob überhaupt und bei wem die Mentalreservation einer eigenen Diktatur mitgespielt hat, entzieht sich der Untersuchung. Jedenfalls drückte es einen Zweifel an der Beständigkeit der Demokratie aus, wenn man zu ihrer Sicherung und vielleicht auch zu mehr als dieser  – nicht bloß Rechtsgarantien, sondern auch bewaffnete Bollwerke gegen einen inneren Feind errichtet.« Merkl hebt auch hervor, daß vielfach die Demokratie mit der Repräsentationstechnik des Parlamentarismus verwechselt wurde und daß sowohl Parlamentarismus und Demokratismus traditionslos waren und gedankenlos miteinander verknüpft wurden. »Die Demokratie wurde durch den Parlamentarismus, der Parlamentarismus wiederum durch seine Überspitzung als Parteienherrschaft in Frage gestellt und entwurzelt. Diese Absicht ist gewissermaßen dokumentarisch durch das Wahlsystem erwiesen, das durch die Ausschaltung des Wählerwillens auf eine Diktatur der Parteien hinauslief […] Die Parteienherrschaft sollte in keiner Weise geschmälert oder gar gefährdet werden  ; um jeden Preis sollte vermieden werden, daß der einfache Staatsbürger, der überhaupt nur als Wähler in Frage kam, anders denke und anders wähle, als es die Parteiinstanzen vorzuschreiben für gut fanden« (a.a.O.). Mutatis mutandis gelten die Worte Merkls auch heute, da ja die Verfassung gilt, die er reflektiert. Auch heute ist man sich in Österreich der historisch gegensätzlichen Begriffe »Demokratie« und »Repräsentation« kaum bewußt. Die mit einer Repräsentativverfassung bei der vorliegenden politischen Infrastruktur erfahrungsgemäß notwendigerweise verbundene »Parteien- und Verbändedemokratie« wurde und wird in Österreich häufig geradezu als Gegensatz zu dieser Verfassung aufgefaßt. Es ist anzunehmen, daß hier entweder ein paläoliberales Repräsentationsmodell als Maßstab fungiert oder ein an Rousseau orientiertes, unreflektiertes Demokratiemodell. Wer sich in Österreich gegen den »Parteien- und Verbändestaat« ausspricht, 166

Demokratie und Demokratisierung

spricht sich gegen die Verfassung aus. Meist bleibt diese Verfassungskritik allerdings ohne rechtspolitische Konsequenzen. Man prangert als verfassungswidrig an, was geradezu verfassungskonform ist. Konsequenterweise müßte man nämlich im Anschluß an die Kritik des Parteien- und Verbändestaates für eine andere Verfassung und für eine andere »Demokratie« plädieren, etwa für die markanteste Erscheinungsform der modernen plebiszitären Demokratie, das Rätesystem, wonach das Volk nicht nur legitimiert ist, als Träger der Souveränität zu herrschen, sondern auch dazu berufen, als Inhaber der Exekutivgewalt zu regieren, oder etwa für einen altliberalen Staat ähnlich einer konstitutionellen Monarchie mit Klassenwahlrecht. Verfassungsmodelle, welche die Parteien ausschalten oder ihren Einfluß einschränken, sind aber nach 1945 offiziell nicht diskutiert worden. Es ist anzunehmen, daß die vereinfachte Rousseau-Formel »Identität von Herrschenden und Beherrschten« ohne weitere Differenzierung nach wie vor das offizielle Demokratie-(Verfassungs-)verständnis darstellt (vgl. L. Adamovich, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts6, 1971, S. 76), obwohl die Verfassung nur zu einem kleinen Teil diesem Modell entspricht. Vereinfachend kann hinsichtlich des Demokratieverständnisses in Österreich festgestellt werden  : In der offiziellen Staatsrechtstheorie folgt man weitgehend Rousseau (»Identität von Herrschenden und Beherrschten«), die Verfassung läßt sich eher als System à la Locke deuten (wobei die repräsentativen Komponenten noch dadurch verstärkt werden, daß die plebiszitären Komponenten durch ihre Konstruktion und das Parteiensystem weitgehend in den Dienst der repräsentativen Elemente gestellt sind), die Praxis läßt sich an Hand des SchumpeterDowns’schen Modells, deuten, wonach Demokratie ein institutionelles System ist, in dem durch Wahlen die jeweilige Zusammensetzung der Führung bestimmt wird und wenigstens zwei Gruppen sich um Stimmenmaximierung bemühen. Thesen zur österreichischen Demokratie  – In der Ersten Republik war die Demokratie wegen der Gegnerschaft der beiden großen Lager, die einem Religionskrieg glich, ein improvisiertes Provisorium. Formell bekannten sie sich zu Demokratie und Verfassung, in Wahrheit aber waren diese Abwehr- und Angriffswaffen der beiden Großparteien im Kampfe gegeneinander. Demo­kratie war mehr oder weniger ein Mittel, zur Alleinherrschaft zu gelangen und/oder die Gefahr der Diktatur des anderen abzuwehren. Über die Frage, welchem Regierungssystem man eigentlich folgen sollte, bestand in Wahrheit kein Konsens. 167

Demokratie und Demokratisierung

Nach 1945 kehrte man in die alte Verfassung zurück  ; das Mißtrauen wurde in der Koalitionsregierung mit eingebautem Oppositionsmechanismus gewissermaßen rationalisiert und in Pflicht genommen. Manches an Mißtrauen war durch das gemeinsame Erlebnis von Diktatur und Krieg, durch den Alliiertendruck von außen und durch den Glauben an die Nation Österreich im Inneren abgebaut worden. Die beiden großen Lager nahmen die Kompetenzkompetenz in Anspruch und teilten sich die Machtposition über den Staat weit hinausgehend auch in Gesellschaft und Wirtschaft auf. Dies führte zu einem politischen Gleichgewichtssystem und zu einem Machtversicherungsverein auf Gegenseitigkeit. Die Institutionen der Verfassung bekamen herrschaftsstabilisierende Funktion und wurden zu Reproduktionsmechanismen etablierter Machtverhältnisse. Während in der Ersten Republik ein Zuwenig an ideellem und praktischem Konsens vorhanden war, war in der Zweiten Republik ein Zuviel an praktischem Konsens vorhanden. Die beiden Großparteien näherten sich auch programmatisch an. Erfahrungsgemäß schadet der realen Demokratie ein Zuviel an Konsens auf bestimmten Gebieten ebenso wie ein Zuwenig. Das Zuviel kann zur Erstarrung, das Zuwenig zur Auflösung führen. Dies insbesondere bei einer Verfassungsordnung, die zu sehr von repräsentativen Elementen geprägt ist und von plebiszitären nur verbrämt wird. Seit dem Übergang vom Koalitions- zum Regierungs-Oppositionssystem wird der Entideologisierungsprozeß zumindest teilweise rückgängig gemacht und verwandelt sich merklich zu einem Reideologisierungsprozeß in den Parteien. Im Mittelpunkt dieses Reideologisierungsprozesses steht die Frage der Demokratisierung.

Demokratisierung Begriffe und Meinungen  – Demokratisierung ist heute ein Mode- und Schlagwort. Die Bedeutungsfülle erleichtert und erschwert gleichzeitig seinen Gebrauch. Die Bedeutung  : Herstellung von Demokratie oder Herstellung von mehr oder besserer Demokratie genügt offensichtlich nicht mehr, um den Sprachgebrauch zu verstehen. Was Kelsen (a.a.O., S. 1) hinsichtlich der Demokratie sagte, könnte man auch hinsichtlich der Demokratisierung sagen  : Wie jedes Schlagwort verliert auch dieses seinen festen Sinn. »Weil man es – dem politischen Modezwang unterworfen – zu allen möglichen Zwecken und bei allen möglichen Anlässen benützen zu müssen glaubt, nimmt dieser mißbrauch168

Demokratie und Demokratisierung

teste aller politischen Begriffe die verschiedensten, einander oft sehr widersprechenden Bedeutungen an, sofern ihn nicht die übliche Gedankenlosigkeit des vulgär-politischen Sprachgebrauches zu einer keinen bestimmten Sinn mehr beanspruchenden, konventionellen Phrase degradiert.« Der deutsche Politologe W. Hennis hat das Wort Demokratisierung in seinem gegenwärtigen Gebrauch analysiert und drei Hauptbedeutungen unterschieden (in  : Demokratisches System und politische Praxis der BRD, hrsg. v. Lehmbruch/Beyme/Fetscher, 1971, S.  72). Demokratisierung begegne »uns zunächst als eine gedankenlose liberale Parole, als Synonym für mehr Liberalität, Offenheit, besseres ›Betriebsklima‹ hier und da – im Sinne von ›demokratischer machen‹ gleich ›besser, freiheitlicher‹ machen«. Eine weitere Verwendung des Wortes liege darin, daß »die zu demokratisierenden »Strukturen« nicht primär unter dem Gesichtspunkt ihrer gesellschaftlichen Aufgaben betrachtet werden, »sondern unter dem Aspekt ihrer Herrschaftsverhältnisse, die man unter Abstraktion von dem Zweck der Herrschaft in Analogie zum modernen Politikverständnis kurz als Machtverhältnisse versteht«, worauf dann auf diese Machtbereiche jene Prinzipien der Machtkontrolle und Machtverteilung, Machtverantwortung angewendet werden, die im Bereich der politischen Macht als die demokratisch legitimierten angesehen werden (a.a.O., S. 73 f.). Es handelt sich beim zweiten Sprachgebrauch um Übertragung der im Staatsbereich institutionalisierten Organisationstechniken, insbesondere der Formen und Regeln der Willensbildung, auf andere gesellschaftliche Bereiche. Im dritten Sprachgebrauch wird »Demokratisierung nicht mehr verstanden als Herstellung einer demokratischen Herrschaftsweise, sondern als ein ›Prozeß‹, in dessen Folge Herrschaft überhaupt abgeschafft wird, […] als Prozeß der Aufhebung […] der Herrschaft von Menschen über Menschen«, als »Beseitigung jeder Ungleichheit«, als »Radikaldemokratisierung« (a.a.O., S. 76). Auf die Polemik von Hennis gegen diese Art der Demokratisierung braucht hier nicht eingegangen zu werden  : Hervorzuheben ist, daß er die Theorie der Demokratisierung nur für den Staat und seine territorialen Untergliederungen gelten lassen will, nicht aber für andere Sozialbereiche. Hennis hält den Begriff der Demokratisierung für sprachlich verfehlt. Er meint, daß es sich bei allen Demokratisierungsreformen des ersten und zweiten Sprachgebrauches seiner Einteilung um Versuche der »Binnenkonstitutionalisierung« handelt. »Man kann  – und warum sollte man nicht in Schulen, Universitäten, Wirtschaftsbetrieben, Zeitungsredaktionen, Krankenhäusern usw. die Formen des menschlichen Miteinanders ändern, sie freier, auch ihrer 169

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rechtlichen ›Strukturen‹ weniger hierarchisch gestalten. Für Anhörung, Mitwirkung, auch Mitbestimmung, sollte, wo immer es möglich ist, Raum gegeben werden. Nur ›demokratisch‹ läßt all dies sich nicht legitimieren« (a.a.O., S. 86, 94 f.). Kurz, er sieht in dem Wort Demokratisierung einen falschen Begriff. Von seinem Standpunkt aus hat Hennis recht. Allerdings hat sich der Begriff im Sprachgebrauch durchgesetzt, man wird ihn heute kaum mehr durch den Begriff »Binnenkonstitutionalisierung« ersetzen können. Ohne Zweifel ist Demokratisierung der wirksamere und »politischere« Begriff. Er hat in der Politik Eingang gefunden und politisches Bewußtsein gebildet, politische Hoffnungen erweckt, und mit ihm wurde und wird um Menschen geworben usw. Es muß aber immer klargestellt und bekannt werden, in welchem Sinne das Wort »Demokratisierung« gerade gebraucht wird. Zu einer »Sprachregelung« wird es freilich nicht kommen. Wenn man aber das Wort erkenntnismäßig nicht nachvollziehen kann, muß man wenigstens jeweils Bekenntnisse verlangen können. Überblickt man die Debatten und Diskussionen, die unter dem Titel »Demo­kratisierung« stattfinden, so ist festzustellen, daß für die Demokratisierung im ersten Sprachgebrauch ein Konsens bei fast allen politischen Kräften besteht. Wer will nicht mehr Liberalität, mehr Offenheit, mehr Transparenz  ? Die Geister scheiden sich aber schon bei der Demokratisierung im zweiten Sprachgebrauch. Die Extreme lauten etwa  : Demokratie funktioniert nur dann, wenn man das demokratische Prinzip allein in einem bestimmten Bereich des Staates verwirklicht. Die Idee der Demokratie soll daher nur für diesen Zweig des Staates im engsten Sinn und seine territorialen Untergliederungen gelten. Die Übertragung auf andere Zweige des Staates und der Gesellschaft wird abgelehnt. In Österreich sind schon längst durch eine Reihe von Gesetzen demokratische Grundsätze, die für einen Teilbereich des Staates gelten, wenn auch in Anpassung an die Aufgaben und Eigenarten des jeweiligen Bereiches auch auf andere soziale Gebiete und Gebilde ausgedehnt worden  ; funktioniert die Demokratie deshalb weniger  ? Zu nennen sind insbesondere alle sozialen Bereiche, wo Körperschaften öffentlichen Rechts eingerichtet sind, also z. B. alle »Kammerbereiche«  ; das Betriebsrätewesen, das Personalvertretungswesen. In all diesen Bereichen sind Organisationsgrundsätze, die einem staatlichen Teilbereich entlehnt sind, mehr oder weniger modifiziert und differenziert, auf andere Sozialbereiche übertragen worden. Damit ändert sich die Demokratie, aber sie funktioniert nicht weniger. Die andere Extremmeinung geht etwa dahin, in allen Sozialbereichen, in denen Macht ausgeübt wird  – und das sind alle Sozialbereiche  –, jede hier170

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archische Struktur und jede Ungleichheit abzubauen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Sozialbereich mehr oder weniger staatsähnlich, mehr oder weniger öffentlich, mehr oder weniger privat ist. Diese Meinung ist aber eher als Herausforderung zum kritischen Denken aufzufassen denn als konkreter Vorschlag. Denn selbst wenn man eine totale Demokratisierung für wünschenswert hält, wird man die Realisierbarkeit schon auf Grund der Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes Menschen und der Verschiedenartigkeit aller Menschen bezweifeln müssen  ; außer es wird in die Erbanlagen des Menschen eingegriffen und permanenter sozialer Zwang auf das Individuum ausgeübt. Das aber darf und kann man gerade denjenigen, welche die soziale Wirklichkeit an die Idee der Demokratie annähern wollen oder die reale Demokratie von der Idee der Demokratie her erneuern wollen, nicht generell unterstellen. Es geht um das Bewußtmachen und tendenziell um den Abbau von Fremdherrschaft in sozialen Machtbereichen. Daß innerhalb und außerhalb, diesseits und jenseits der staatlichen Institutionen gesellschaftliche Macht recht massiv ausgeübt wird und die Gruppen, die diese gesellschaftliche Macht in der Wirtschaft, in den Massenmedien, in den Parteien, in den Verbänden usw. innehaben, die Eliten, zu einem großen Teil außerhalb offener Machtzuweisung, offener Machtkontrolle und offener Machtablöse stehen, wird man kaum leugnen können. Diese Eliten, die zusammen unsere »politische Klasse« bilden, dominieren letztlich auch im Staatsbereich. Dort muß sich die politische Klasse aber wenigstens einer gewissen Kontrolle durch die nicht zur politischen Klasse gehörenden Staats­bürger unterwerfen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Massen von den Eliten in den genannten Bereichen läßt aber beim einzelnen kaum das Bewußtsein politischer Freiheit zu, von Gleichheit und Brüderlichkeit ganz zu schweigen. Besteht nicht eher das Gefühl des Ausgeliefertseins  ? Mag sein, daß dieser Zustand von der Mehrheit der Bevölkerung stillschweigend hingenommen wird. Gilt aber dieses Stillschweigen als Zustimmung  ? Stimmt der einzelne diesem Zustand bewußt und kritisch zu  ? Es mangelt ihm möglicherweise an Einsicht in die eigene Interessenlage. Hätte hier nicht die politische Aufklärung einzusetzen, um einerseits den Zustand der Fremdbestimmung und Fremdherrschaft und andererseits den eigenen Wert bewußt werden zu lassen  ? Demokratisierung als Lern- und Aufklärungsprozess  – Demokratie wird in Österreich offiziell nicht bloß als »eine besondere Form der staatlichen Organisation«, sondern auch als »eine besondere Denk- und Lebensform« verstanden, deren geistige Grundlagen der Gedanke der Toleranz 171

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und auch ein gewisser weltanschaulicher Relativismus sind (Adamovich, a.a.O., S. 86). Sind aber diese geistigen Grundlagen im Wege des Sozialisationsprozesses schon ins Bewußtsein der Massen gedrungen  ? Jüngste Untersuchungsergebnisse über Vorurteile in Österreich sprechen dagegen. Freiheit wird noch immer nicht als Freiheit auch für den anderen, für den Andersartigen, Andersseienden, Andersdenkenden verstanden. Demokratie fordert ein intensives Interesse der Bevölkerung für Politik und soziale Fragen. Umfragen haben ergeben, daß sich nur eine Minderheit für diese Probleme dauernd interessiert. In vielen Bereichen der Rechtsordnung hat sich soziales Gedankengut durchgesetzt, im nicht mit Zwangsnormen geregelten Bereich der Gesellschaft, vor allem im Privatbereich, dürfte vielfach ein egoistischer Individualismus vorherrschen. Warum  ? In der Familie, in der Schule, durch die Träger der Sozialisation ganz allgemein dürften wir noch immer zu sehr zu Privatmenschen und zu wenig zu sozialen und politischen Menschen erzogen werden oder erziehen. Ist für uns wirklich der letzte ethische Sinn der Freiheit die Steigerung der sozialen Gerechtigkeit  ? (Vgl. A. Merkl, Die politische Freiheit als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis, in  : Die Wiener rechtstheoretische Schule, hrsg. v. Klecatsky/Marcic/Schambeck, 1968, Bd. I, S. 735). Erfährt unsere Freiheit im Erziehungsprozeß diese Sinngebung  ? Freiheit wird erfahrungsgemäß meist egozentrisch, als bloßes privatisierendes Freisein verstanden, nur als subjektives Recht und nicht auch als soziale Pflicht. Das Prinzip der unbedingten Hochschätzung des Individuums ist nur dann sinnvoll, wenn dem Individuum seine Hauptverpflichtung ständig bewußt ist  : für die Freiheit der anderen und für Gerechtigkeit für die anderen einzutreten. Hat sich der passive Privatbürger schon zum politischen Aktivbürger emanzipiert  ? Üben die Eliten erzieherische Funktionen in diesem Sinn aus  ? Diese Fragen verlangen Demokratisierung im Sinne eines Lern- und Aufklärungsprozesses, der von einzelnen und kleinen Gruppen in die Bevölkerung hineinzutragen ist. Es geht primär um eine »Demokratisierung von innen und von unten«, um ein neues soziales Denken, um eine erneuerte gesellschaftliche Verantwortung, um Brüderlichkeit im Alltagsverhalten. Soll die soziale Realität der Idee der Demokratie angenähert werden, so bedeutet das, daß man Demokratie nie als geschlossene Ordnung, sondern als offene Ordnung, als einen Weg, als einen immerwährenden und mühevollen Prozeß aufzufassen hat (Kelsen, a.a.O., S. 101, 119). Das bedeutet aber auch, daß die bestehende gesellschaftliche Ordnung immer wieder von der Idee der Demokratie her in Frage zu stellen ist, daß immer wieder Fragen zu stellen sind. Welche Fragen sind das  ? 172

Demokratie und Demokratisierung

Bei jeder gesellschaftlichen Machtausübung wäre zu fragen, woher sie ihre soziale Legitimation nimmt  ; ist sie vom Konsens der Machtunterworfenen getragen, ist sie Folge einer Sachkompetenz, einer notwendigen Arbeitsteilung, ist sie oktroyiert  ? Ist sie frei zugewiesen, kann sie frei kontrolliert, kann sie frei entzogen werden  ? Machtbildung, Machtausübung, Möglichkeiten der Machtkontrolle und Möglichkeiten des Machtwechsels sind zu analysieren. Wie steht es um Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten in den verschiedenen sozialen Schichten  ? Welche Schichten werden am meisten beherrscht, haben am wenigsten Mitsprache  ? Für die meisten Menschen ist nur in ihrer unmittelbaren Umgebung und Umwelt politisches Erleben und Erfahren unmittelbar. Ansonsten wird es vermittelt. Daraus ergeben sich Fragen  : Wie steht es um die Gemeindeund Betriebsdemokratie  ? Wie steht es um die Massenmedien  ? Wie steht es mit der innerparteilichen und der innerverbandlichen Demokratie  ? Welche Stellung hat der Nonkonformist in der Gesellschaft  ? Wie wird er respektiert  ? Wie wird das Recht auf Dissens und individuelle Abweichung geachtet, inwieweit kann es gegen den Konformitätszwang der Gesellschaft verteidigt werden  ? Bei welchen sozialen Schichten und in welchem Ausmaß existiert ein politisches Problembewußtsein  ? In welchen sozialen Schichten herrscht politische Indifferenz und Lethargie  ? Wie steht es um Wahrheit und Menschlichkeit im politischen Raum  ? Diese und ähnliche Fragen müßten durch öffentliche Diskussionen in das Bewußtsein der Öffentlichkeit dringen. Nur durch Diskussionen auf breitester Basis können die Massen und insbesondere die junge Generation politisiert werden. Nur die offene und kritische Diskussion übt eine befreiende und aufklärende und bewußtseinsändernde Wirkung auf den einzelnen und auf die Gesellschaft aus. Die offene Diskussion ist das Agens und der Motor der Demokratie. In und durch Diskussion können gesellschaftliche Probleme allgemein bewußt gemacht werden. Nur wenn das Bewußtsein der Massen ständig in Bewegung gesetzt wird, können Probleme wie Österreichs Beitrag zum Frieden, seine Hilfe für die dritte Welt, Fragen des Gesundheits- und Umweltschutzes, des Bau- und Wohnungswesens, des Bildungs- und Kulturwesens, der gerechten Vermögens- und Chancenverteilung, um nur einige der aktuellsten zu nennen, auch gelöst werden. Ansonsten fehlt der Druck von unten, die vorwärtsdrängende Kraft der Demokratie. Demokratisierung als ständige Rechtsreform – Die Rechtsordnung einer interessenmäßig differenzierten Gesellschaft ist weltanschaulich nicht einheitlich, sondern vielfältig. Die verschiedenen Wertvorstellungen finden mehr 173

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oder weniger im Recht ihren Niederschlag. Je bunter die in einer Gesellschaft vorhandenen Wertvorstellungen, um so mehr ist die Rechtsordnung bei demokratischer Willensbildung eine Mischung verschiedenartigen politischen Gedankenguts  ; eine solche Mischung ergibt sich auch daraus, daß bei einer Aufeinanderfolge verschiedener politischer Herrschaftssysteme das Recht des alten Regimes in der Regel vom neuen Regime im großen und ganzen übernommen wird (vgl. A. Merkl, Die Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung, in  : Die Republik Österreich, hrsg. v. H. Klecatsky, 1968, S. 80). Diese Überlegun­ gen machen klar, daß gerade die österreichische Rechtsordnung nicht aus einem Guß ist und nicht einem gesellschaftspolitischen Modell folgt. In ihr findet sich nicht nur das verschiedenartige politische Gedankengut der Gegenwart. Einer fülligen und ideologisch buntscheckigen Rechtsordnung steht der einzelne ziemlich hilflos und ratlos gegenüber. Demokratisierung kann hier in erster Linie bedeuten, jedem, besonders aber den wirtschaftlich Schwächeren, Rechtsinformation und -service zu bieten. Nur dadurch kann man über formelle Publizität hinaus eine Durchsichtigkeit der Rechtsordnung erreichen. Und nur dann kann der einzelne Einsicht in das Recht gewinnen, zu ihm Stellung nehmen und teilhaben am Sein und Werden des Rechts. Da das Recht heute der wichtigste der Regulatoren ist, die das Sozialleben steuern, ist der Zugang zum Recht und zur Rechtsetzung von größter Bedeutung. Nur wer den Zugang zur Gesetzgebung hat, hat den Zugang zur Rechtsreform und damit zur Gesellschaftsreform. Im Zuge des Lernprozesses Demokratisierung müssen wir uns in diesem Zusammenhang davon befreien, die Verfassung nur als Institutionenset zur Erhaltung bestimmter Werte zu sehen und sie auch funktionell-dynamisch auffassen als ein Instrumentarium zur Annäherung der sozialen Wirklichkeit an die Idee der Demokratie. Im Wettstreit um mehr und bessere Demokratie sollten sich die österreichischen Lager treffen und begegnen. Über Art, Umfang und Maß der Demokratisierung werden immer Konflikte entstehen. Konsens aber sollte darüber bestehen, daß Demokratie in die gesamte Gesellschaft eingeführt wird und daß sie so weit wie möglich unmittelbar gestaltet wird. Die Enttäuschung und Vergeblichkeit der Demokratisierung, welche die österreichische Geschichte und damit auch die österreichischen Menschen geprägt hat, könnte hier ein Ansporn sein. Sieht man mit René Marcic in der Demokratie »die Form der permanenten Revision«, »die politische Form der sozialen Mobilität«, den »Baustil des Wandels« (vgl. vor allem  : Demokratie  – der Baustil des Wandels, a.a.O., S. 28), so darf man von allen politischen Kräften ein Ja zu einer Rechtsreform in Permanenz erwarten, die im Dienste der Demokratisierung steht. 174

Die Kanzlerdemokratie in Österreich (1976)

Einleitung Der Bundeskanzler spielt die Hauptrolle im politischen Prozeß. Wie kaum anderes fordert das Amt des Bundeskanzlers die Individualität heraus und widerspiegelt die Persönlichkeit seines jeweiligen Trägers. Das Amt ist die Prämie für den aus den Parlamentswahlen erfolgreich hervorgegangenen Parteiführer, der Siegespreis im Wettkampf um die Stimmen der Wählerschaft. Wer diesen vom Volk zugesprochenen Preis aus den Händen des Bundespräsidenten empfängt, kann Geschichte machen  : Er bestimmt die Richtlinien der Politik. Er bestimmt Technik und Stil des Regierens. Er prägt das Bild des Staatsmannes und die Einstellungen zur Politik. All das steht freilich nicht in der Verfassung.

Der Bundeskanzler im Verfassungsrecht und Verfassungsleben Es gab eine Zeit, da ein Staatsrechtslehrer  – es war Georg Jellinek  – sagen konnte, der österreichische Regierungschef sei nur ein Budgetposten. Er führe im geschriebenen Recht nur eine budgetäre Existenz, sei aber sonst nicht geregelt. Diese Zeit ist vorbei. Der Bundeskanzler führt eine verfassungsrechtliche Existenz. Aber die Verfassung regelt ihn nur sparsam. Er ist verdeckt von der auffälligen, dekorativen Figur des Bundespräsidenten. Während die Verfassung über diesen viel aussagt und ihn abschließend regelt, sagt sie über den Bundeskanzler wenig aus und läßt vieles offen. Sie sagt nicht, daß der Bundeskanzler Parteichef ist. Sie sagt nicht, daß er aus der mandatsstärksten Partei kommt. Sie sagt nicht, wie lange seine Funktionsperiode dauert. Sie sagt nicht, daß Kanzlerbestellung und Regierungsbildung im Abschluß an die Nationalratswahlen stattfinden. Sie sagt auch nicht, daß der Bundespräsident in der Politik hinter 175

Die Kanzlerdemokratie in Österreich

dem Bundeskanzler zurücktreten soll. Sie sagt nicht, welche politische Wirkung ein Bundeskanzler haben kann. Dies alles ist nicht der Verfassung, sondern der Staatspraxis zu entnehmen. Verfassungskonventionen haben hier die Verfassungsnormen ergänzt. Sie haben sich diesen im Zuge der Verwirklichung der Verfassung angelagert und eine bestimmte Erwartungsstruktur aufgebaut. Die politische Wirkung des Bundeskanzlers ist allerdings auch nicht irgendwelchen Konventionalregeln des Verfassungslebens zu entnehmen. Sie kann aus keiner Norm, sondern nur aus der konkreten Realität abgeleitet werden. Nicht der Text der Verfassung, sondern die jeweils verwirklichte Verfassung, die jeweilige Staatspraxis, informiert darüber. Die Verfassung selbst regelt in aller Kürze die Berufung, die Abberufung und den verfassungsrechtlichen Aufgabenbereich des Bundeskanzlers. Sie sagt, daß der Bundeskanzler vom Bundespräsidenten ernannt wird, von ihm entlassen werden kann, in bestimmten Fällen zu entheben ist. Sie sagt, daß der Bundes­kanzler auch Bundesminister ist, ein oberstes Organ der Vollziehung des Bundes, mit obersten Verwaltungsgeschäften betraut. Sie sagt, daß die Bundes­minister in ihrer Gesamtheit die Bundesregierung unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers bilden, woraus eine Koordinationskompetenz des Bundeskanzlers abgeleitet werden kann. Sie weist dem Bundeskanzler ein Vorschlagsrecht in bezug auf Ernennung und Entlassung der Bundesminister zu. Kein Bundesminister kann ohne Vertrauen des Kanzlers ins Amt kommen und im Amt bleiben. Das Prinzip des Kanzlervertrauens findet in der Gegenzeichnung der Bestellungsakte durch den Bundeskanzler seine formelle Ergänzung. Als politisches Vertrauensprinzip bringt es die übrigen Regierungsmitglieder in eine enge Beziehung zum Bundeskanzler. Sie sind – obwohl in ihrer Amtsführung selbständig und eigenverantwortlich – vom Bundeskanzler politisch abhängig, sie sind ihm auch politisch verantwortlich. Ihre Amtsführung unterliegt damit auch einer politischen Kontrolle durch den Bundeskanzler. Das alles kann man aus der Verfassung ableiten. Auch für das Prinzip der Einstimmigkeit in der Bundesregierung gilt dies. Die Verfassung ist mit einer bestimmten politischen Infrastruktur verflochten und auf sie bezogen. Ergebnis der Verwirklichung der Verfassung ist die Staatspraxis. Von der Staatspraxis her läßt sich feststellen  : Das Kanzlervertrauensprinzip kann unter bestimmten realen Voraussetzungen zu einem Kanzlerprinzip werden. So, wenn der Bundeskanzler, der regelmäßig Parteiobmann ist, Vorsitzender einer Alleinregierung mit absoluter Mehrheit im Parlament ist. Das Kanzlervertrauensprinzip kann andererseits zum Koalitionsvertrauens176

Die Kanzlerdemokratie in Österreich

prinzip werden, wenn der Kanzler Vorsitzender einer Zwei- oder Mehrparteien­ regierung ist. Um die Position des Bundeskanzlers im Verfassungsleben zu verstehen, müssen zumindest das Parteisystem und die jeweilige parteipolitische Konstellation im Regierungssystem mitberücksichtigt werden. Da nur ein Führer der beiden Großparteien zum Zug kommt, sind die Auswahl und der Aufbau von poten­ tiel­len Kanzlern eine wesentliche staatspolitische Aufgabe der Großparteien. Nicht der Bundespräsident entwickelt Selektionskriterien in bezug auf den Bun­deskanzler, wie es der Verfassungswortlaut vermuten läßt. Die Selektions­ kriterien sind innerparteilichen Entscheidungsvorgängen zu entnehmen. »Wer wird wie Obmann in SPÖ und ÖVP  ?« – das ist die Frage. Auch die Regie­rungs­­ chancen hängen erfahrungsgemäß von der Struktur der Kanzlerpartei und von der Stellung des Obmanns in der Partei ab. In einer Alleinregierung einer Partei mit präsidialer, eher unitarischer und homogener Struktur stehen dem Bundeskanzler ganz andere Möglichkeiten offen als in einer Alleinregierung einer Partei mit direktorialer, föderalistischer und heterogener Struktur. Ein SPÖ-Kanzler hat andere Regierungschancen als ein ÖVP-Kanzler. Die Position des Bundeskanzlers im Verfassungsleben hängt nicht sosehr von der Position seiner Partei im Parlament, sondern von seiner Position in der Partei ab. Strukturen, Interessenlagen, Tradition, Subkultur der Regierungspartei teilen sich dem Regierungsbetrieb mit. Sie bestimmen auch Gehalt und Gestalt des Kanzleramtes. Nicht sosehr das, was in der Verfassung steht, sondern das, was nicht in der Verfassung steht, ist erfahrungsgemäß für das Amtsverständnis bestimmend. Der Kanzler einer eher auf Veränderung der Gesellschaftsordnung ausgerichteten Partei wird eine andere Aufgabe in seinem Amte sehen als der Kanzler einer eher auf Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung ausgerichteten Partei. Dieser kann sich z. B. als Garant der Ordnung, jener als Motor der Veränderung der Gesellschaftsstruktur verstehen. Die zentrale Idee des einen kann »Demokratisierung«, die zentrale Idee des anderen kann »Rechtsstaat« lauten. Die Verfassung läßt diese politische Interpretation des Kanzleramtes offen.

Parteiobmann, Regierungschef, Bundesminister, Verfassungsgarant – und die Kanzlerverantwortlichkeit Es ist eine Konventionalregel, daß nur der Chef der mandatsstärksten Partei Bundeskanzler wird. Diesbezüglich steht das »Amt des Regierungschefs« im 177

Die Kanzlerdemokratie in Österreich

Vordergrund. Das B-VG beruft den Bundeskanzler aber nicht nur zum Regierungsbildner und Regierungsvorsitzenden, sondern auch zu Agenden, die in als »Hüter der Verfassung«, als Garanten des Verfassungsvollzuges ausweisen. Ähnlich wie der Bundespräsident ist er eine integrierende, zentrale Schlüsselfigur im komplizierten System der Gewaltenteilung und Gewaltenverbindung, der Inter- und Intraorgankontrollen  : so ist er Verbindungsorgan zwischen Exekutive und Legislative, zwischen Nationalrat und Bundesrat, zwischen Bundespräsident und Bundesminister  ; Einberufungsorgan in bezug auf Verfassungsorgane, gegenzeichnungs- und Kundmachungsorgan, Vertreter des Bundespräsidenten. Im übrigen sieht die Verfassung im Bundeskanzler auch einen Bundesminister und beruft ihn zur Leitung eines Bundesministeriums, des Bundeskanzleramtes. Das Bundeskanzleramt und das ihm eingegliederte Kabinett des Kanzlers sind die wichtigsten Hilfsinstrumente des Bundeskanzlers in allen seinen staatlichen Funktionen. Dazu können noch Staatssekretäre kommen. Zu diesem staatlichen Regierungsapparat kommt noch der Parteiapparat. Im Vergleich dazu ist der Bundespräsident ein unterentwickeltes Staatsorgan. Das Bundesministeriengesetz 1973 hat im übrigen das Bundeskanzleramt zum qualitativen und quantitativen Superministerium gemacht und damit der Sonderstellung des Bundeskanzlers im Vergleich zu den Bundesministern Rechnung getragen. Diesbezüglich sind insbesondere die Zuständigkeiten, betreffend Planung und Gestaltung der Regierungspolitik, Information und Massenmedien hervorzuheben. Die Verfassung gibt dem Bundeskanzler in Gestalt des Vizekanzlers einen ständigen Vertreter im gesamten Wirkungsbereich. Auch damit wird der Bedeutung des Bundeskanzlers in besonderer Weise Rechnung getragen. Im Verfassungsleben kann der Vizekanzler freilich auch eine wichtige politische Ergänzungs-, Ausgleichs- und Koordinationsrolle spielen oder sogar – wie in der großen Koalition  – zum zweiten Regierungschef werden. Optisch bildet sich das Bild eines Duumvirats. Trotz dieser Schlüsselstellung im unmittelbaren Verfassungsvollzug, trotz der Mitwirkung an der Berufung und Abberufung der Regierungsmitglieder, trotz des Vorsitzes in der Bundesregierung, alles Kompetenzen, die den Bundeskanzler nicht als Bundesminister, sondern als eigenes, mit besonderen Verfassungsgeschäften betrautes Verfassungsorgan ausweisen, weicht die Rechtsstellung des Bundeskanzlers von der der Bundesminister nicht ab. Die Verfassung zieht aus den Kompetenzen keine Konsequenzen in bezug auf den Status. Wie bei den Bundesministern sind Ernennbarkeit, Unvereinbarkeit und die Stellung gegenüber dem Parlament geregelt. Es gibt nach der Verfassung auch keine 178

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Kanzlerverantwortlichkeit. Der Kanzler verantwortet zwar anderes als die Bundesminister. Es gibt aber keine eigene Kanzlerverantwortlichkeit, sondern nur die Ministerverantwortlichkeit. Die Ministerverantwortlichkeit scheidet sich traditionellerweise in eine rechtliche und politische. Jene besteht im Einstehen für erfolgte schuldhafte Gesetzesverletzung  ; diese darin, daß die Mitglieder der Bundesregierung vom Vertrauen des Nationalrates getragen sein müssen. Sie wird insbesondere durch das Interpellations-, das Resolutions- und das Enqueterecht geltend gemacht. Ultima ratio ist das Mißtrauensvotum, die Versagung des Vertrauens. Freilich ist die Ministerverantwortlichkeit nicht sehr lebendig. Solange sie nicht zum fast ausschließlichen Instrument der parlamentarischen Minderheit geworden ist, hat sie keine praktische Konsequenz. Sie hat symbolische Bedeutung, insbesondere beim Bundeskanzler. Wenn er die meisten Interpellationen auf sich zieht, bedeutet das nicht so sehr, daß er am stärksten kontrolliert wird, sondern Anerkennung seines hohen Stellenwerts im politischen Prozeß. Die Amtsführung unterliegt nach der Verfassung auch einer politischen Kontrolle durch den Bundespräsidenten. Ihm steht jederzeit das Recht zu, den Bundeskanzler oder die gesamte Regierung zu entlassen. Auch hier drückt sich ein politischer Vertrauensgrundsatz aus. Aber auch diese Kontrolle des Bundeskanzlers hat im Verfassungsleben praktisch keine Bedeutung. Die verfassungsmäßige Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers ist in der Staatspraxis darauf reduziert, daß er der Opposition Rede und Antwort stehen muß. Damit hat er auch die meisten Chancen, seine Politik im Parlament öffentlich zu rechtfertigen. Er hat das letzte Wort, die letzte Selbstdarstellung in allen Angelegenheiten, er erinnert daran, daß er die letzten Wahlen gewonnen hat. Die Reduktion der parlamentarischen Verantwortlichkeit, verbunden mit der massenmedialen Transformation des Parlaments, gibt der parlamentarischen Verantwortlichkeit eine plebiszitäre Note. Frage und Antwort gehen zum Fenster hinaus, um das Volk über die Qualität des Kanzlers zu informieren. Alles ist auf die Motivation des Wählers ausgerichtet. Die formelle parlamentarische Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers ist von einer Verantwortlichkeit informeller Art gegenüber dem Wählervolk ergänzt, ja ersetzt worden. Diese personalplebiszitäre Verantwortlichkeit wird bei jeder größeren Wahl aktualisiert, auch bei Wahlen auf Landesebene, auch bei der Bundespräsidentenwahl. Alle größeren Wahlen fungieren auch als Kanzlerplebiszite. Das Volk geht zu den Parlamentswahlen, um eine bevorzugte Person, ein bevorzugtes Image zu wählen. Das Programm ist erst in zweiter Linie interessant. Der Bundeskanzler 179

Die Kanzlerdemokratie in Österreich

muß bei jeder Wahl Rechenschaft legen. Diese plebiszitäre Verantwortlichkeit ist heute die »Kanzlerverantwortlichkeit«. Die Ministerverantwortlichkeit als solche ist zur Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Kanzler geworden. Die Amtsführung der Minister unterliegt an sich der Kontrolle durch den Bundeskanzler. In der SPÖ-Alleinregierung hat man den Eindruck, daß die alte Ministerverantwortlichkeit überhaupt tot ist und daß die politische Kontrolle, die im Kanzlervertrauensprinzip liegt, besonders lebendig ist. Das Kanzlervertrauensprinzip ist eben zum Kanzlerprinzip geworden. Die Transformation der parlamentarischen Verantwortlichkeit in eine personalplebiszitäre betrifft im übrigen nicht den Bundeskanzler allein. Sie betrifft auch Landeshauptleute und Bürgermeister größerer Städte. Auch dort haben die Wahlen zu Vertretungskörpern personalplebiszitäre Funktionen. Der personal­plebiszitäre Stil des politischen Prozesses bringt leicht Sündenbockund Under-dog-Legenden mit sich  : Der Führer ist an allem schuld, er tut aber auch vielen leid. Diese personalplebiszitäre Verantwortlichkeit hat auch innerparteiliche Konsequenzen. Die Geltendmachung der innerparteilichen Verantwortlichkeit wird immer mehr ein wesentliches Problem. Auch innerparteilich müssen ­Foren und Formen vorhanden sein, in denen der politische Führer Rede und Antwort steht, über das, was er tut, getan hat und tun wird. Hier ist eine der wichtigsten Kontrollmöglichkeiten. Hier ist aber auch die Sündenbocktheorie in besonderer Weise aktuell. Die Partei kann alle Schuld auf einen abschieben und sich so scheinbar entlasten und befreien, vor allem knapp vor Wahlen. Ein Kanzler, Landeshauptmann, Bürgermeister ohne »Erbsünde« kann neu aufgebaut werden.

»Primus inter pares« oder »dux et rex« ? Die Stellung des Bundeskanzlers zu den Bundesministern wird gerne mit der Formel »primus inter pares« umschrieben. Daß er im Verhältnis zu den übrigen Mitgliedern der Regierung nicht »par inter pares« ist, ist klar. Daß er ihnen gegenüber nicht »weisungsberechtigt« ist, ebenso. Daß er ein »primus inter pares« ist, ist die österreichische Kompromißformel. Sie findet sich in fast allen einschlägigen Werken. Sie ist aber zu einfach. Auch die Formel »im Verhältnis zur Bundesregierung ist er Vorsitzender des Kollegiums, nicht Vorgesetzter des Kollegiums, im Verhältnis zu den Bundesministern ist er Kollege unter Kollegen, nicht Chef«, ist zu wenig differenziert. Diese Formeln haben 180

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im Lichte der Rechtsstatik manches für sich, im Hinblick auf die Rechtsdynamik sind sie unvollständig. Sie sind zu verkürzt, um den in ständigen Prozessen befindlichen komplizierten Organkomplex, um den es hier geht, hinreichend zu umschreiben. Die Struktur der obersten Exekutive auf Bundesebene beruht auf einem Dualismus von Staatsoberhaupt und Regierung, die Struktur der Regierung als solcher beruht auf einer komplizierten Kombination von Ressort-(Ministerial-) prinzip, Kollegial-(Kabinetts-)prinzip und einem im Ansatz vorhandenen Kanzlerprinzip. So wie hier aufgezählt, kommt etwa die Rangordnung der Prinzipien im Verfassungswortlaut zum Ausdruck. Die Struktur darf aber nicht statisch gesehen werden, wenn man das Verfassungsleben deuten will. Man muß sie dynamisch sehen. Beobachtet man die Konkretisierung dieser Prinzipien in der Staatspraxis, so kann man je verschiedene Reihungen feststellen. Auch der Dualismus Staatsoberhaupt-Regierungschef stellt sich in der Staatspraxis anders dar, als man auf Grund des Verfassungswortlautes annehmen würde. Besonders deutlich wird dies, wenn man alte Aufsätze und Bücher über unsere politischen Institutionen liest und die derzeitige Staatspraxis damit vergleicht. Man lese etwa die Arbeiten aus der Ersten Republik über den Bundespräsidenten und über das Parlament und ihr Verhältnis zur Regierung und betrachte die heutige Stellung des Bundespräsidenten und des Parlaments und ihr Verhältnis zur Regierung in der Staatspraxis. Von der Verfassung her ist der Bundespräsident typisch plebiszitär konzipiert, der Bundeskanzler repräsentativ. In der Staatspraxis ist der Bundeskanzler nicht nur plebiszitär legitimiert, er agiert auch plebiszitär. Der Bundespräsident ist dagegen zum »repräsentativen Repräsentanten« geworden. Der Verfassungswortlaut spricht für einen starken Bundespräsidenten. In der Staatspraxis ist er »dignified part« der Verfassung. Dies trifft auch weitgehend auf das Parlament zu. Die Regierung und besonders der Bundeskanzler sind dagegen »efficient parts«. Im übrigen fällt auf, daß man bei uns zwar einerseits schwache politische Führer kritisiert, andererseits wieder das volle, bis zum Rande der Möglichkeiten gehende Ausnützen von rechtlichen Kompetenzen durch einen politischen Führer ablehnt. Es ist, als habe im Betrachter ein bestimmtes, ein für allemal fixiertes Bild der Institution allzu feste Konturen hinterlassen. Dieses Bild dient dann als Maßstab der »constitution in working« und der »institution in action«. Das Rollenbild des Bundeskanzlers war freilich von Anfang an das eines parlamentarischen Regierungschefs. Das haben selbst die sonst so zurückhaltenden 181

Die Kanzlerdemokratie in Österreich

Hauptvertreter der »Reinen Rechtslehre«, die bei der Verfassungwerdung dabei waren und das Verfassungswerk kommentierten, schon beim Bundeskanzler nach der Verfassung 1920 außer Streit gestellt. Also schon vor der Verfassungsnovelle 1929, die ja eine bedeutende Aufwertung des Bundeskanzlers, insbesondere durch das Kanzlervertrauensprinzip, brachte  ! Ebenso stand hinter dem Bundespräsidenten von Anfang an das Bild eines parlamentarischen Staatsoberhauptes. Die Verwirklichung der BV-Novelle 1929 in der Staatspraxis der Zweiten Republik entspricht diesem Rollenbild. In beiden Rollenbildern kann man die Verkörperung je eines Archetypus der Autorität erkennen, wie sie der französische Politologe Bertrand de Jouvenel typisierend umschreibt. Im Bundespräsidenten erkennt man den »rex«, den Träger der statischen, bewahrenden, politisch-integrierenden Autorität, den »Passivkönig«, im Bundeskanzler den »dux«, den Träger der aktiven, dynamischen, politisch inspirierenden Autorität, den »Aktivkönig«. Mit diesen Namen verbunden, dienen die Rollenbilder der Orientierung hinsichtlich des von den Rollenträgern üblicherweise zu erwartenden Verhaltens und ermöglichen die Kommunikation über die so identifizierbaren Rollen zwischen den Akteuren. Wenn allerdings der Bundespräsident in der Rolle des »rex« sehr zurückhaltend agiert und reagiert und sie in der Staatspraxis nicht auffüllt, so läßt er einen Raum offen, den der Bundeskanzler auffüllen kann. Der Bundeskanzler kann dann Rollenelemente des »rex« in die Rolle des »dux« einbringen. Der Bundeskanzler kann so in der Staatspraxis eine Spielart des amerikanischen Präsidenten werden, hinter dem eine Spielart des britischen Parlaments steht. Der Bundeskanzler kann Regierungschef sein und dazu noch ein wenig Staatsoberhaupt werden. Er kann damit eine Art Landesvater darstellen und sozial­ psychologisch als Vaterfigur auftreten. Sowohl Kreisky als auch schon Klaus demonstrierten dies.

Kanzlerdemokratie als Folge der Transformation des parlamentarischen Regierungssystems Das Heraufkommen der Kanzlerdemokratie hängt mit dem Strukturwandel des Parlamentarismus und dem Übergang zur »Alleinregierung« zusammen. Das politische Steuerungspotential hat sich im Zuge der parteienstaatlichen, verwaltungsstaatlichen und massenmedialen, insbesondere televisionären Transformation des Regierungssystems vom Parlament auf die Regierung ver182

Die Kanzlerdemokratie in Österreich

lagert. Die Expansion der Staatsaufgaben und der pluralitäre interessengegensätzliche Charakter des Gemeinwesens »verlangen« nach zentralisierter und personalisierter Koordination, Information, Lenkung und Leitung. Die Regierung dominiert das Parlament. Und der Bundeskanzler kann die Regierung dominieren. Der Bundeskanzler hat auf Grund seiner innerparteilich vermittelten Auto­ rität, gestärkt durch das Erfolgserlebnis eines Wahlsieges, unter der Voraussetzung, daß er Kanzler einer von einer absoluten Nationalratsmehrheit gestützten Alleinregierung ist, eine dem britischen Premierminister vergleichbare Stellung. Parlamentarische Mehrheit und innerparteiliche Autorität sind die Mittel, die der Kanzler für den Aufbau einer Kanzlerdemokratie braucht. Dabei ist eine knappe absolute Mehrheit wahrscheinlich für den siegreichen Parteiführer angenehmer. Denn sie stärkt die Parteidisziplin. Vom Parlament ist wenig zu befürchten  ; das halbwegs wirksame Fragerecht kann durch die Regierungspartei und ihr Informationsübergewicht in eine besondere Selbstdarstellung verwandelt werden. Die Opposition kann mit der Regierung im Parlament nur machen, was die Regierung will. Die institutionell angelegte Abhängigkeit der Regierung vom Parlament ist überlagert durch das Bestreben der Regierungspartei, ihr Programm parlamentarisch durchzusetzen und die Regierung gegen Angriffe der Opposition abzuschirmen. Die Personalunion von Parteiobmann und Regierungschef ist konsequent, ebenso der personalplebiszitäre Wettkampf der Parteiführer, insbesondere bei Parlamentswahlen. Die Berufung des Regierungschefs ist dem Bundespräsidenten durch den Wahlausgang geradezu vorgeschrieben. Der siegreiche Parteiführer gewinnt eine besondere, auf der personalplebiszitären Legitimation beruhende Unabhängigkeit gegenüber dem Bundespräsidenten, dem Parlament und auch gegenüber seiner Partei. Die personalplebiszitäre Stilisierung der Wahlen und des politischen Prozesses verschleiert die Tatsache, daß nach wie vor verschiedene Gruppen die Regierungspolitik inhaltlich bestimmen. Der Regierungschef ist sozusagen nur die Spitze des Eisberges. Die österreichische Kanzlerdemokratie entspricht dem Trend der Annäherung parlamentarischer Systeme an das amerikanische Präsidialsystem. Sie ist die österreichische Variante einer Erscheinung, die woanders schon lange als Prime-Ministerial Government, Premierministerregiment, Kanzlerdemokratie bekannt ist. Von großer psychologischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Personalisierung der Politik. Der komplexe und differenzierte politische Prozeß ist für den einzelnen nicht durchschaubar. Es kommt zur oberflächlichen Re183

Die Kanzlerdemokratie in Österreich

duktion des ohnehin einem nicht durchschaubaren Selektionsprozeß unterliegenden Informationsmaterials. Bei steigender Informationsflut und Unsicherheit wächst das Bedürfnis, den politischen Prozeß zu personalisieren, sich an Fixpersonen zu orientieren. Diesem Bedürfnis kommt die tägliche direkte Konfrontation des Publikums mit den Protagonisten der Politik über die Massenmedien entgegen. Die Massenmedien tragen permanent zur Personalisierung der Politik bei, indem sie bestimmte Personen der Politik besonders präsentieren. Vor allem das Fernsehen hat der Politik mediengerechte Verhaltensweisen aufgezwungen. Die Personalisierung der Politik spricht in Österreich gewisse Schau-Traditionen an, insbesondere Theatertraditionen. Wenn auch nicht mehr so sehr wie früher der atavistische Kult des Schauspielers in Blüte steht, so sind es doch noch immer die Schauspieler, die den Österreicher, speziell den Wiener, ins Theater ziehen. Vom Stück weiß man oft nicht einmal den Verfasser. Ist es in der Politik, in der Öffentlichkeit, im Fernsehen anders  ? Das Fernsehen verlangt von den Politikern showgerechtes Verhalten. Die Regeln der Telekratie sind freilich anders als die des Parlaments. Man kommt an, und gut an, wenn man sich fast allen überlegen fühlt und diese Überlegenheit auch sicher und seriös zeigt. Die Personalisierung der Politik spricht in Österreich auch tradierte politische Verhaltensweisen an. Einerseits bewirkt die Auflösung traditioneller Bindungen und Orientierungen zunehmend Wünsche nach neuer Identifikation und Orientierung, andererseits dürfte sich ein Obrigkeitsdenken, ein warten auf »Oben«, von der absoluten über die konstitutionelle Monarchie, von der Ersten Republik über die Diktaturen und die große Koalition bis heute erhalten haben. Es ist zuwenig abgebaut worden.

Das publizitäre Prinzipat Der Bundeskanzler hat eine Zugangspriorität zu den Medien und damit zur Öffentlichkeit. Er hat eine Art von publizitärem Dauermonopol. Wer ständig ins Bild und zu Wort kommt, prägt das Bewußtsein und Gesichtsfeld der Adressaten in besonderer Weise. Man erwartet ihn. Ab einem gewissen Punkt kann er es sich sogar leisten, sich optisch und akustisch »auszusparen«. Ein solches Aussparen ist sogar notwendig, um die Massen nicht mit Bild und Ton eines einzelnen zu übersättigen. Beim Aussparen wartet man geradezu auf 184

Die Kanzlerdemokratie in Österreich

ihn. Er hat die Erwartungsstruktur der Massen geprägt. Es prägt aber auch das Bild des Politikers schlechthin und erzeugt diesbezüglich bestimmte Erwartungen. Sein Stil bestimmt den politischen Stil überhaupt. Die Person des Bundeskanzlers steht im Lichte ununterbrochener Publizität. Ihm werden alle wichtigeren politischen Entscheidungen zugerechnet. An ihn wendet man sich in allen wichtigen kontroversiellen Fragen. Er ist der große Koordinator und Integrator, der große Schlichter und Schiedsrichter, er ist der wahre Volksanwalt im Volksempfinden. Ein empirisches Indiz dafür sind Tausende Briefe von Bürgern, die sich an ihn um Rat und Hilfe wenden. In ihn werden Hoffnungen und Wünsche gesetzt. Es besteht eine um ihn und auf ihn konzentrierte politische Erwartungsstruktur. Setzt er seine publizitäre und plebiszitäre Führerrolle über die Demoskopie und die Medien noch dazu bewußt und aktiv ein, erfüllt er nicht nur diese Erwartungen der Massen, vielmehr kann er darüber hinaus neue erzeugen, die wieder nur durch ihn und über ihn befriedigt werden können. Gewiß, publicity ist nicht policy. Aber sie ist ein effektvoll einsetzbares politisches Instrument, womit nicht nur die Massen, sondern auch die Protagonisten der Politik gebunden werden können. Die verschiedenen Machtapparate können informell abhängig werden. Er kann als »publizitärer Princeps« zur Spitze einer von ihm durch die Medien formierten informellen »Hierarchie« werden, die freilich labil und variabel ist. Bei dieser Formierung wird die »Staatsberedsamkeit« und »Selbstdarstellungsfähigkeit« einer ständigen Prüfung unterzogen. Staatsberedsamkeit und mediengerechtes Verhalten in Permanenz sind in der Kanzlerdemokratie mit ihrem »government by persuasion« wesentliche Voraussetzungen. Die Technik der permanenten Demoskopie und eine auf die Massenmedien ausgerichtete Regierungstätigkeit ermöglichen es dem Bundeskanzler, daß er sich als Sensorium und Exekutor des empirischen Volkswillens darstellt, daß er unter Hintansetzung intermediärer und repräsentativer Elemente als Agentur der Basis fungiert. So kann der Bundeskanzler die filternden Zwischeninstanzen des Partei- und Verbändesystems zumindest zum Teil überspielen. Er kann Distanz abbauen, welche die Apparate aufbauen. Er kann die Stufen des Autoritätsgefälles überspringen. Er kann sich zumindest äußerlich von der Parteiorganisation, die er führt, entfernen. Er kann unmittelbar und spontan Stimmung und Zustimmung erzeugen, dadurch integrieren und Mehrheiten bilden und binden. Der Bundeskanzler kann sich tatsächlich oder auch nur scheinbar von der eigenen Partei distanzieren, zum »Kanzler der Österreicher«, zum »Volkskanzler« werden. 185

Die Kanzlerdemokratie in Österreich

Die personalplebiszitäre Funktion der Parlamentswahlen hat auch innerparteiliche Konsequenzen. Der Sieg macht innerparteilich besonders stark. Obwohl in gewisser Konkurrenz mit Unterführern der eigenen Partei, ist der Bundeskanzler nach dem Sieg ziemlich frei. Dies demonstriert die Regierungsbildung. Während bei der Vergabe der sicheren Listenplätze für das Parlament innerparteiliche Kollegialorgane entscheiden und bestimmte Karrieremuster den Einfluß des Parteiführers einengen, kann der Bundeskanzler als Wahlsieger nicht nur gegenüber dem Bundespräsidenten, sondern auch und vor allem gegenüber der eigenen Partei eine Ministerliste seiner persönlichen Wahl durchsetzen. Durch die Ministerauswahl kann der plebiszitäre Kanzler die Kanzlerdemokratie sogar als Konsequenz der Regierungszusammensetzung entstehen lassen  : Neutrale, Parteilose, politische Neulinge, Technokraten und Experten sind für die Kanzlerdemokratie günstiger als ein Dutzend politischer Vollprofis oder gar ein Kabinett von Parteiunterführern. Man kann sagen  : Bundeskanzler werden macht innerparteilich frei. Nach dem Amtsantritt machen oft Unterführer der eigenen Partei das Regieren schwerer als die Opposition. Das hängt von deren Struktur, Tradition, Stil und personellen Situation ab. In jeder Partei entstehen von Zeit zu Zeit oder auf Dauer »heimliche Kanzler«. Manchmal sind sie freilich nur heimliche Kanzler für die Gegner. Daß aber der Bundeskanzler manchmal in Konflikte mit der Führungsgruppe der eigenen Partei kommt, ist klar. Andererseits kann er durch Heranziehen einer ständig in Bewegung gehaltenen Meinungsforschung und der Medien die Stimmung und Zustimmung der Bevölkerung auch in der eigenen Partei einsetzen. Dies trägt der Tatsache Rechnung, daß die konkurrierenden Kanzlerkandidaten das von ihnen begehrte Amt letztlich einem bestimmten Teil der Wählerschaft verdanken. Man spricht gern von der »neuen Mitte«, die im übrigen keineswegs homogen ist. Die Kanzlerkandidaten sind gezwungen, sich an den Einstellungen der mobilen Wählergruppen zu orientieren. Die Suche nach dem honorierenden und daher in der Werbung zu honorierenden Wähler ist ein Hauptproblem der Wahlwerbung. Als notwendige Voraussetzung für das Funktionieren der plebiszitären Kanzlerdemokratie hat Pelinka den ungebrochenen Informationskreislauf zwischen der Wählerschaft, dem Volk, dessen aktuelle und konkrete Interessenartikulation ja letzte Instanz ist, und dem plebiszitären Führer hervorgehoben. Er stellte fest  : »Diesen Informationskreislauf bewirken die Massenmedien und die Demoskopie. Die Massenmedien ermöglichen vor allem einen Informationsfluß von ›oben‹, vom

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Die Kanzlerdemokratie in Österreich

plebiszitären Organ, nach ›unten‹, zur Wählerschaft  ; die Demoskopie hingegen dient dem von ›unten‹ nach ›oben‹ führenden Informationsfluß. Der verstärkt plebiszitäre Charakter der Institution Bundeskanzler hängt mit der wachsenden Bedeutung dieser Informationsinstrumente zusammen. Erst die modernen Massenmedien haben die Umwandlung der Nationalratswahlen zu Kanzlerplebisziten zustande gebracht. Erst die Techniken der Meinungsforschung haben das rasche Reagieren auf subtile Meinungsverschiebungen der Wählerschaft möglich gemacht.«

Erst die Massenmedien haben dem Bundeskanzler die Öffentlichkeit selbst als Adresse und als Instrument gegeben, mit dem er direkt Stimmung und Stimmen machen kann. Im Zeitalter der Massenmedien hat derjenige das Gesetz des Handelns in seiner Hand, der als erster zu Wort, als erster ins Bild, kurz als erster zum und ins Medium kommt. Alle anderen können dann nur mehr reagieren. Der Bundeskanzler kann durch Pressekonferenzen, Interviews, Rundfunk- und Fernsehsendungen die Öffentlichkeit informieren, noch ehe die eigene Partei oder gar die Opposition davon erfährt. Er hat eine Publizitäts-, Informations-, Initiativ- und Stimulationspriorität. Er kann »teleplebiszitär« und »logoplebiszitär« reagieren. Man hat auch von »Telekratie« und »Logokratie« gesprochen. Dazu gehört die Fähigkeit, mit jedem in seiner Sprache reden zu können, die Beherrschung des politischen Esperanto, der politischen Sprachen, Jargons und Dialekte, die Verwendung neuer Redensarten, bestehen aus neuem Vokabular, die Amalgamierung des Gängigen und Modernen mit der Tradition zu einer vertrauenserweckenden Einheit. Mehr als jeder andere steht der Bundeskanzler in einer »Verantwortlichkeit des Formulierens«. Ein besonderes persönliches Naheverhältnis zu wichtigen Journalisten und zu wichtigen Meinungsforschern ist für den plebiszitären und publizitären Kanzler eine Notwendigkeit. Man hat zu Recht vom »Journalistenkanzler« gesprochen. Zu dieser Regierungstechnik gehört auch die Bildung von Kommissionen, die personell eine gewisse Objektivität zum Ausdruck bringen und in den Dienst einer eher auf Integration denn auf Konfrontation eingestellten Politik gestellt werden. Das Regieren durch informelle Kommissionen hat in Österreich eine lange Tradition  ; sie bedeutet meist eine gewisse Ausschaltung bestehender Institutionen und einer Erweiterung des Spielraums der Kommissionsbildner. Pelinka hat die demokratische Problematik von Demoskopie und Massenmedien im Zusammenhang mit dem plebiszitären Regieren beleuchtet  : An sich dazu konzipiert, eine Bindung an den empirischen Volkswillen zu garantieren, seien sie auch zur Steuerung des Volkes einsetzbar. Der Geheimhaltekult, der 187

Die Kanzlerdemokratie in Österreich

mit den Ergebnissen der Demoskopie meistens getrieben wird, weise auf diese Funktion. Ähnlich sei auch das zweite, plebiszitär konzipierte Informationsinstrument, die Massenmedien, von der Gefahr der Umstülpung bedroht. Die Informations- und Regierungsinstrumente Demoskopie und Massenmedien seien immer in Gefahr, nicht zur Artikulation des empirischen Volkswillens, sondern zu dessen Beeinflussung im Interesse der potentiellen Cäsaren und Bonapartes verwendet zu werden. Pelinka folgte hier Fraenkel. Ein aktiver Politiker folgte daraufhin Pelinka und sprach von Bonapartismus in Österreich. Man muß dies nicht so pathetisch formulieren, man kann sogar der Meinung sein, die umstülpende Vorgangsweise sei – zumindest bei absoluter Parlamentsmehrheit – legitim. Der »publizitäre Princeps« kann ja auch aufklärend, erzieherisch, inspirierend, stimulierend, anregend im guten Sinn wirken. Das Hauptproblem darf aber nicht übersehen werden  : es ist die Kontrolle. Die Kontrolle im Parlament und durch das Parlament ist kein voll taugliches Instrument mehr. Politische Kontrolle hängt von der Mobilisierung der öffentlichen Meinung und damit vom Zugang zu den Medien ab. Die Kontrolleinrichtungen der Verfassung »greifen« in der Kanzlerdemokratie ebensowenig wie in einer großen Koalition. Der plebiszitäre und publizitäre Kanzler, der sein Image ständig nach den jeweiligen Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert und die Erwartungsstruktur beeinflußt, hat eine neue Art der Unabhängigkeit gegenüber den Partei- und Verfassungsinstitutionen errungen. Die wichtigsten Träger der politischen Kontrolle sind neben Wählerschaft und Oppositionsgruppen die Massenmedien. Sie sind mehr als die parlamentarische und innerparteiliche Kontrolle die politische Kontrolle. Stabilisiert sich die Kanzlerdemokratie, so ist der Zukunft der Massenmedien im Hinblick auf ihre Kontrollfunktion größtes Augenmerk zu schenken. Hat aber die Kanzlerdemokratie überhaupt Zukunft  ? Unser ­verfeinertes Proporzwahlsystem erschwert ja bei hinkendem Dreiparteiensystem die Mehrheitsbildung im Parlament. Es verringert die Chancen einer absoluten Natio­ nalratsmehrheit der an Wählerstimmen stärksten Partei. Es verringert die Chance einer Alleinregierung und damit einer Kanzlerdemokratie auf Dauer. Es kann daher sein, daß gerade der Kanzler, für den die Kanzlerdemokratie geradezu maßgeschneidert zu sein scheint, durch die Wahlrechtsreform 1970 den weiteren Ausbau dieser Regierungsform verbaut hat. Es kann freilich auch sein, daß die SPÖ weiterhin die Mehrheitspartei bleibt und neue Parteiführer in die von Kreisky etablierte Kanzlerdemokratie hineinführt, insbesondere auch mit einer kleinen Koalition. Unabhängig von der Regierungsform stellt sich aber die Frage von der politischen Kontrolle. 188



Zur Zukunft der politischen Bildung (1980)

1. Politische Bildung steht immer im Zusammenhang mit den politischen Verhältnissen. Politische Bildung als Staatsaufgabe widerspiegelt den Charakter des jeweiligen Staates. Es ist daher zweckmäßig zurückzublicken, um zur Zukunft der politischen Bildung etwas sagen zu können. Erst nachdem der Staat im modernen Sinn entstanden war, entstanden seine Bürger und die Schule als seine Anstalt, die auch politische Bildung in seinem Sinn vermittelte. Schon der aufgeklärte Absolutismus beschränkte politische Bildung nicht nur auf Privilegierte. Fürstenspiegel, Prinzenpädagogik und politische Testamente der Monarchen sagen aber mehr über die Politik als die staatlichen Schulpläne. Die bürgerliche Erziehung sollte nur »für die Bildung des für seine Geschäfte aufgeklärten Bürgers« sorgen. Politische Bildung für Untertanen ist etwas anderes als politische Bildung für Bürger mit politischer Freiheit. Die Erziehung zum guten Untertanen, der sich gut bevormunden läßt und sich nur um die Geschäfte kümmert, die ihn unmittelbar selbst betreffen, auch das kann »politische Bildung« sein. 2. Erst nachdem Freiheit vom Staat und Freiheit im und zum Staat erkämpft worden waren, erst nachdem der Untertan zum Staatsbürger geworden war, der auch Staatsorgan werden konnte, wurde »Staatsbürgerkunde« aktuell. Schon damals sollte jeder das Wesentliche über seine Rechte und Pflichten wissen. Der Rechtsstaat sollte in das Bewußtsein der Staatsbürger. Er wurde auch Voraussetzung und Grundlage der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Indem mehr und andere Schichten als früher politisch aktiv wurden, wurde der Ruf nach mehr und anderer politischer Bildung immer stärker und verbreiteter. Mehr politisches Wollen und mehr politische Willensbildung verlangten mehr politisches Wissen, eine neue politische Bildung. Sogar Rektoratsreden befaßten sich mit dem Thema »Politische Bildung« und »Politische Erziehung« und mit ihren Mängeln in Theorie und Praxis. Der Bildungsweg entspreche 189

Zur Zukunft der politischen Bildung

noch nicht dem bereits zurückgelegten Weg zur Demokratie. Im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn mit seinen vielen desintegrierenden nationalen und sozialen Fragen müsse politische Bildung auch den Patriotismus beleben und den sozialen Frieden fördern. Aber es gab auch Skeptiker wie Tezner, der ­darauf hinwies, daß politische Bildung nicht notwendig den politischen Charakter und das patriotische Gefühl fördert. Die Empfehlung politischer Bildung als patriotisches Mittel nötige überdies zur Unterscheidung der verschiedenen Richtungen in patriotische und unpatriotische politische Bildung. Die Problematik der in der Endphase der Monarchie »von oben« erflossenen ÖsterreichIdeologie, die verordnet wurde, um die Einheit des Staates zu festigen, wurde schon damals klar. 3. 1913 diagnostizierte Hans Kelsen in »Politische Weltanschauung und Erziehung« einen auffallenden Mangel des Geisteslebens des 19. Jahrhunderts  : Dem Bildungstypus fehle das politische Element. Die materialistische Erklärung, daß die herrschende Klasse wirtschaftlich und politisch gesättigt sei und sich daher ihre Intelligenz den »unpolitischen Disziplinen« wie Technik, Naturwissenschaften und Philosophie zuwendete, befriedigte Kelsen nicht. Er sah im staatsfremden Charakter des Liberalismus, dessen »Politik der Befreiung letztlich zur Befreiung von der Politik« führe und in dessen psychologischer Struktur einen Grund. Der Individualismus, dem eine naturwissenschaftliche Bildung wesensverwandt sei, führe zum politischen Anarchismus und zum ethischen Nihilismus. Politischer Sinn und politische Bildung seien ihm fremd. Doch der Individualismus des 19. Jahrhunderts weiche nunmehr dem Kollektivismus. Mit dem Aufkommen der modernen Massenbewegungen seien wieder kollektivistische Weltanschauungen im Kommen. Damit erstarke der politische Sinn. Kelsens Erklärung der »unpolitischen Bildung« bedarf freilich einiger Erläuterungen, die von den »Niederlagen der Freiheit«, angefangen mit der Gegenreformation, auszugehen hätten. Max Burckhard sprach einmal von der »Erbsünde des Österreichers«, dem Mangel des Freiheits- und Rechtssinnes, wenn es um andere und um das öffentliche Leben geht. Dieses gilt es, auch heute noch, zu überwinden. Kelsen warnte im übrigen vor einer Schule, die als Staatsorgan mehr als politisches Wissen vermittelt  : »Sofern politische Erziehung auf Stärkung und Anspornung des politischen Triebes gerichtet ist, sofern sie politische Überzeugung, politisches Wollen und Handeln reifen, kurz mehr als die Vermittlung politischen Wissens sein soll, kann

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Zur Zukunft der politischen Bildung

man sie mit gutem Gewissen nicht der Schule, nicht unserer staatlichen Schule zur Pflege empfehlen. Politische Erziehung im Sinne einer Gefühls- und Willensbeeinflussung ist die natürliche Aufgabe der Partei …«

Die Schule solle einen Überblick über die wichtigsten Resultate der Sozialwissenschaften geben. Eine Verbreitung und Vertiefung der sozialwissenschaft­ lichen Bildung im allgemeinen und des politischen Wissens im besonderen ist auch für die Zukunft von großer Bedeutung im Verhältnis der Bürger zum Staat. 4. Das liberale Zeitalter der Sicherheit, dessen beste Kräfte im Glauben an das Prinzip »Wissen macht frei« die Rationalisierung und Säkularisierung der Macht durch eine Verfassung der Freiheit hatten erreichen wollen, scheiterte. Zwar wurden Werte der Welt von gestern, wie »Recht und Kultur«, »Bildung durch Wissenschaft«, traditionelles Bildungsgut. Es blieb aber nur einem kleinen Kreis vorbehalten. Die Pax liberalis konnte die soziale Frage und die nationale Frage nicht lösen. Grillparzers Wort  : »Von der Humanität über die Nationalität« wurde aktuell. Die Variation  : »Von der Humanität über die Rationalität zur Bestialität«, umschreibt die »Dialektik der Aufklärung«. Sie stellt die Fragwürdigkeit einer nur rational verstandenen Humanität bloß, welche die Natur des Menschen und seinen Anspruch verkennt. Werfel hat das knapp vor dem Zweiten Weltkrieg auf die Formel gebracht  : »Ohne Divinität keine Humanität.« Schon um die Jahrhundertwende hatte Tezner festgestellt  : »Alle Arten des politischen Hasses, welche je die Welt durchtobt haben, sind zum Ausgang unseres Jahrhunderts zusammengetroffen  ; der wechselseitige Haß der Besitzlosen und der Besitzenden, der Haß der politischen Parteien gegeneinander, der Nationalitätenhaß, der konfessionelle, der Rassenhaß. Drachenzähne sind auf dem Boden unserer Zeit ausgesät. Fährt der politische Pflug darüber, so entsteigen den Furchen gewappnete Männer, welche sich gegenseitig erschlagen …«

Die gute alte Zeit begann den Weltuntergang zu proben, in Österreich, der kleinen Welt, in der die große ihre Probe hält. 5. In der Ersten Republik hatten sich die Lehrer mit der »staatsbürgerlichen Erziehung« an der Verfassung, mit der »sozialen Erziehung« an der Gemeinschaft, 191

Zur Zukunft der politischen Bildung

mit der »nationalen Erziehung« an der Kulturgemeinschaft, mit der »sittlichen Erziehung« an Religiosität bei Achtung vor anderen Überzeugungen zu orientieren. Der Erfolg war gering. Politische Bildung durch die Schule darf nicht überschätzt werden. Sie hat nicht annähernd jene Wirkung, die im Parteienstaat von der Praxis der politischen Parteien ausgeht. Alles, was über das politische Wissen hinausgeht, wird offenbar mehr von den anderen Faktoren als von der Schule bestimmt. Kelsens Skepsis gegenüber der Schule, die mehr als politisches Wissen vermittelt und dann nur parteipolitisch wirken könnte, wurde von der Realität überholt. Der Kompromißcharakter der »Kelsen-Verfassung« hätte ein Verhalten der Zurückhaltung, der Mäßigung, der Disziplin, der Konfliktfähigkeit mit Kompromißbewußtsein, der Toleranz und der besonderen Sensibilität für formale Spielregeln bedurft. Auf die Kompromisse der Verfassung folgte aber kein Konsens, sondern die ständige Kontroverse, der politische Kampf mit militanter, ideologischer Ausrichtung. Er polarisierte die Gesellschaft und führte zur »Dialektik der Bürgerkriegspsychose« (Renner). Von vielen wurde der Mangel an Demokraten als Ursache des Endes der Demokratie angesehen. So stellte der Staatsrechtslehrer Merkl in seinem Kommentar »Die ständisch-autoritäre Verfassung« fest  : »Die Todesursache dieser Verfassungsdemokratie war letztlich die, daß es eine Demokratie ohne geschulte und überzeugte Demokraten, ja vielleicht überhaupt ohne Demokraten war.« 6. Der autoritäre Staat versuchte eine Integration des entzweiten Landes durch eine »Österreich-Ideologie« von oben, wobei der »österreichische Mensch«  – gewissermaßen als besserer Deutscher  – vom altösterreichischen Weltbürger zum Patrioten des weltanschaulich einseitigen »Dollfuß-Österreich« werden sollte. Nicht die leistungsmäßige, sondern die gesinnungsmäßige Qualifikation wurde forciert, die politische Anpassung honoriert. Konsequent und total wurde dies im NS-Staat vollzogen. Im totalitären Staat hatte die Schule die Aufgabe, zusammen mit den anderen Erziehungsmächten, aber mit den ihr eigentümlichen Erziehungsmitteln, »den nationalsozialistischen Menschen zu formen«. Im totalitären Staat war politische Bildung total. Die totalitäre Diktatur erzieht den Menschen durch ständige, einseitige Zu-, Ab- und Ausrichtung. Sie läßt ihm keine Ruhe. Läßt ihm die liberale Demokratie zu viel Ruhe  ? 7. In der Zweiten Republik wurde im Konsens der Koalitionsdemokratie der staatsbürgerlichen Erziehung viel Augenmerk gewidmet, wobei Toleranz, Hu192

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manität und bewußtes Österreichertum als besondere Ziele hervorgehoben wurden. 1956 wurde empfohlen, sie über den Bereich der Staatsbürgerkunde hinaus zu einem allgemeinen Prinzip der Erziehung zu machen. Der Erlaß »politische Bildung in den Schulen« aus 1978 löste den fast dreißigjährigen Erlaß über die staatsbürgerliche Erziehung ab. Auch er ist im Klima der Konsensdemokratie ergangen und wendet sich an alle Lehrer. Politische Bildung soll als Unterrichtsprinzip im Rahmen der durch Schulart, Schulstufe und Unterrichtsgegenstand gegebenen Möglichkeiten im Sinne vorgegebener Zielvorstellungen wirksam werden. Der Erlaß ist konsequent. Heute sind fast alle Fragen mit dem politischen Leben verwachsen. Indem fast alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche mit der Politik in einem Zusammenhang stehen, ist jedes Fach herausgefordert, zur politischen Bildung beizutragen. Damit ergibt sich eine Vielfalt, die durch die verschiedenen Lehrerpersönlichkeiten noch eine Steigerung erfährt. Man darf sich aber nicht zu viel erwarten. Die Vergangenheit lehrt uns, daß auch für die Zukunft ein Schuß Skepsis in bezug auf die Folgen und Erfolge der politischen Bildung durch die Schulen angebracht ist. Und die Gegenwart lehrt uns, daß zwar mehr politisches Wissen als früher gegeben ist, aber nicht mehr politische Tugend. Wir können daher auch für die Zukunft mehr Wissen über Staat, Recht, Wirtschaft und Gesellschaft und ihre Bezüge zu den verschiedenen Lebensbereichen erwarten. Und das wäre schon sehr viel. Aber wir werden kaum auf ein Ansteigen der politischen Begabungen und auf mehr politische Tugend hoffen dürfen. 8. Das für alle Lehrer geltende Unterrichtsprinzip »Politische Bildung« ist eine faszinierende Aufgabe, die viel Bildung, Phantasie und menschliche Erfahrung verlangt. Lehrerbildung und Lehrerfortbildung gehören daher zu den wichtigsten bildungspolitischen Fragen der Zukunft. Die Stellung der Lehrer im Schulsystem und im Gesellschaftssystem überhaupt ist eine der die Zukunft der Demokratie bestimmenden staatspolitischen Fragen. »Leben ist Lernen  !« Dieser Satz von Konrad Lorenz rückt das Lehren und Lernen des Lernens und das Lehren und Lernen des Lehrens ins rechte Licht. Die Nachfrage nach Wissen steigt weltweit an. Die Menschen wollen immer mehr und besseres Wissens. Gerade der moderne Mensch, der in seinem Leben viele, verschiedene Rollen mit unterschiedlichen Funktionen lernen muß und für den so wenig selbstverständlich ist, braucht vielfältige Bildung, um mit seinem Leben fertig zu werden. Es wird immer schwerer, ein ganz gewöhnlicher Mensch zu werden. Die Vielfalt der Rollen (Ehepartner, Mutter- oder Vaterschaft, Familienmit193

Zur Zukunft der politischen Bildung

glied, Mitbewohner, Nachbar, Berufstätiger, Verkehrsteilnehmer, vielfältiger Vertragspartner, Vereinsmitglied, Gemeindeangehöriger, Konfessionsangehöriger, Kammerangehöriger, Parteimitglied, Landesbürger, Bundesbürger usw.), die man größtenteils verlassen und wechseln kann und von denen man keine ganz sein kann, verlangt viel Wissen. Die Zukunft kann mehr Freizeit und Freistellung für die Bildung bringen. Man muß geradezu ein Enzyklopädist an gesellschaftswissenschaftlichen Informationen sein, um eine umfassende Orientierung haben zu können. Politisches Wissen erfährt also eine große Aufwertung. 9. Je komplexer und in sich gegliederter die Gesellschaft wird, desto größer wird das Bedürfnis nach politischer Bildung werden. Das Wissen um die vielen Rollen, die wir lernen müssen, und die vielen, verschiedenen Situationen, in die wir geraten, das Wissen um die Bedeutung der menschlichen Beziehungen in den verschiedenen Bereichen für die innere Stabilität, wobei gerade Ehe und Familie, Bekanntschaften, Nachbarschaften und Freundschaften, die Plätze der Kommunikation, hervorzuheben sind, das alles gehört zum »Lebenlernen«. Max Horkheimer hat in seinen Gedanken zur politischen Bildung hervorgehoben, daß es darauf ankommt, den Menschen zur ganzen Erfahrungsbreite des Lebens zu bringen, damit er nicht auf Macht eifersüchtig und neidisch sein muß. Die Überwindung des Vorurteils und die Haltung der Toleranz seien nur dem neidlosen, ausgeglichenen Menschen möglich, der über Erfahrungsbreite verfügt. Für ihn gebe es kein Motiv, andere zu schädigen oder ihnen nicht auch zu helfen. Aufeinander-hören- und Aufeinander-eingehen-Können gibt einem Möglichkeiten zum Menschsein in einer komplexen Gesellschaft. Einem umfassenden Prinzip der Toleranz und der Einhaltung formeller und mehr noch informeller Spielregeln in den verschiedenen Bereichen des Soziallebens, der Konflikt- und Kompromißfähigkeit, wird immer mehr Bedeutung zukommen. Und um der Freiheit willen ist eine Erziehung zur Bejahung der Ungewißheit und Unsicherheit notwendig, zur lebenslangen Suche nach »Sinn«. Das eigene Leben – die Autobiographie, die Erinnerung – wird dann zur Aufklärung, gibt einem das Gerüst zum Menschsein. 10. Wir sind heute eine Weltgesellschaft ohne Weltfrieden, aber mit Weltproblemen. Die Welternährungslage, die Rohstoff- und Energieproblematik, die Probleme der Erhaltung der Natur, die Fragen des Friedens, der Ökonomie und der Bildung  – das alles verlangt einen weltweiten Lernprozeß, um die 194

Zur Zukunft der politischen Bildung

Menschheit vor der Vernichtung zu bewahren. »No limits to learning  !« wie es der Club of Rome formuliert hat. Die äußeren Reserven werden früher oder später zu Ende gehen, und wir können nur dann überleben, wenn die inneren Reserven besser als bisher genützt werden. Lernen war historisch ein Lernen durch Erfahrung aus Krisen. Heute ist es notwendig, vom »adaptiven Lernen« zum »innovativen Lernen« überzugehen. Staaten wir Österreich können durchaus zur Avantgarde des weltweiten Lernprozesses werden. Das ist nicht nur eine Sache der Bildungspolitik, sondern auch der politischen Bildung. Politische Bildung der Gegenwart soll zu einer Bildungsgesellschaft der Zukunft beitragen. Ein Ziel Österreichs sollte »Kultur durch lebenslange Bildung« sein. Bildung schließt nicht mehr mit der Schule und im jugendlichen Alter ab, sondern ist ein das ganze Leben begleitender Prozeß. Daher stehen die Erwachsenenbildung und die Massenmedien in einer besonderen Herausforderung. Das herkömmliche Bildungssystem integriert sich mehr und mehr mit dem Informationssystem. Politische Bildung vollzieht sich schon längst ohne ein Unterrichtsprinzip im informativ-kommunikativen Bereich über die Massenmedien. Dort wird die Kenntnis von der Politik vermittelt. Darauf werden sich die traditionellen Bildungsstätten gerade im Hinblick auf die politische Bildung einstellen müssen. Nicht nur Eltern und Lehrer sind politische Erzieher, sondern auch Journalisten, Politiker, kurz die Umwelt. Ein Ziel jeder Bildung, besonders der politischen Bildung, sollte es sein, uns einen Schlüssel zum Wissen zu geben. Daher ist es so wichtig, Bildung interessant zu machen, zur eigenen Bildung anzuregen, Appetit zu machen für die Weiterbildung. Die Bildungsgesellschaft setzt voraus, daß man Bildung liebt und genießt, so daß man nie genug davon haben kann. Ein neutraler Kleinstaat in der Lage und mit der Vergangenheit Österreichs muß sich hüten, eine »geistige Provinz« zu werden. Kunst und Wissenschaft, Bildung und Kultur müssen international und kosmopolitisch sein. Zur Aufgabe unserer politischen Bildung sollte es deshalb gehören, die Provinzialisierung Österreichs zu verhindern, die Internationalität des Bewußtseins zu fördern und die Deprovinzialisierung modo austriaco auch in der Politik unter Beweis zu stellen.

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Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ? (1981)

Was ist politische Kultur ? »Political Culture« nach der Definition, die L. Pye in »Aspects of Political Developement« (1972) diesem Phänomen gegeben hat, ist »the set of attitudes, beliefs and sentiments that give order and meaning to a political process and that provide the underlying assumptions and rules that govern behavior in the politcal sytem«. Vereinfacht kann man darunter die politischen Einstellungen, die in einem politischen System vorhanden sind, verstehen. Sie ist in ihrer Wirkung ein verbindendes Element zwischen Mikro- und Markopolitik. Im Zuge gesellschaftlich-geschichtlicher Entwicklungen verwandeln sind Einstellungen und Haltungen zu bestimmten Verhaltensmustern und Konventionalregeln, manchmal werden sie rechtlich fixierte Institutionen, manchmal sterben sie ab und aus. Politische Kultur ist dementsprechend nicht eine fixe, geschlossene Einheit, sondern eine Mischung verschiedener, im Fluß befindlicher, von einander unterscheidbarer Bündel von mehr oder weniger großen Gemeinsamkeiten der Auffassung von uns zu politischen Fragen. Vor allem geht es um Einstellungen und Haltungen zu den Modalitäten des politischen Prozesses und zu den politischen Zielvorstellungen. In einem tieferen Sinn ist freilich alles Verhalten und jede Haltung politisch. Es ist daher zweckmäßig, einen weiten Begriff der politischen Kultur anzunehmen und den Begriff als Ausdruck der sozialen und wirtschaftlichen Existenz einer Gesellschaft zu deuten. Daher gehören zur politischen Kultur auch die Phänomene der Privatsphäre, die Probleme des Intimbereiches, die im allgemeinen aus dem politikwissenschaftlichen Begriffsverständnis ausgeklammert werden. Hier müssen wir uns auf Ausschnitte beschränken und in manchem spekulativ bleiben. Verallgemeinerungen sollen zum Widerspruch auffordern.

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Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ?

Geschichte und politische Kultur – Staatsgesellschaft und andere Aspekte des Österreichischen Die Wurzeln der politischen Kultur des modernen Österreichs, der seit 1945 bestehenden Zweiten Republik, lassen sich in eine Zeit zurückverfolgen, in der das Bezugsobjekt ein ganz anderes war. Bezugsobjekt der heute noch nachwirkenden, bestimmte Verhaltensmuster konstituierenden politischen Einstellungen war das alte Österreich-Ungarn bzw. Zisleithanien. Selbst als »Reichshälfte« war dieser Teil Alt-Österreichs in seiner Ausdehnung, Einwohnerzahl, vor allem aber in seiner regionalen und sozialen Vielfalt ein Vielfaches von dem, was dann als Republik Österreich entstanden ist. Das alte Österreich war eine extrem differenzierte, heterogene Gesellschaft mit scharfen sozialen und nationalen Gegensätzen. Trotz Nichtidentität des Bezugsobjektes gibt es aber eine Kontinuität in gewissen Haltungen und Einstellungen. Alt-Österreich wirkt noch heute. Die Monarchie wirkt in der Republik nach. Dazu gehört der Glaube an eine ungeheure Rolle des Staates, der Regierung und der Bürokratie, die in Österreich gewissermaßen als Maß aller Dinge fungiert. Diese obrigkeitsgläubige Einstellung zur Politik erwartet von Staat, Regierung und Bürokratie weit mehr, als diese geben können. Sie bereitet den Boden für unglaubliche Anhänglichkeit und Abhängigkeit. Sie erzieht aber auch zu einer oberflächlichen Anpassungsfähigkeit und zu jener scheinbaren Unterwürfigkeit, die durch die historische Erfahrung der vielen Regimewechsel gelehrt wurde, daß zumindest äußerlich jener recht hat, der Macht hat. Sie vertraut der Macht des positiven Rechts und mißtraut dem Naturrecht. Sie vertraut der Organisations- und Rechtssetzungshoheit des Staates mehr als der Privatautonomie der Gesellschaft. Sie erwartet von zentralen Lösungen mehr als von dezentralen. Sie fragt nach der zuständigen Autorität und nicht nach der freien Individualität. Daher geht es in der politischen Praxis mehr um Zuständigkeitsprobleme als um Freiheitsprobleme. Damit ist unsere Gesellschaft als »Staatsgesellschaft« konstituiert. Die Obrigkeitsgläubigkeit scheint verständlich in allen Regionen, in denen jahrhundertelang die Grundherrschaft oder gar die Gutsherrschaft das Leben prägten und nur jahrzehntelang Grundrechte gelten. Nicht erst von der Gegenreformation an war Anpassung notwendig, um nicht von den verschiedenen Machthabern zwangsweise »katholisch« gemacht zu werden, und der Satz »cuius est regio, eius est religio« wird heute dort, und nicht nur dort, praktiziert, wo Dienstnehmer eines öffentlichen Dienstgebers arbeiten. Jahrhunderte der Zensurherrschaft müssen überwunden werden, damit Meinungs198

Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ?

freiheit selbstverständlich wird. In einem Aufsatz »Was ist Freiheit  ?« schrieb Ferdinand Kürnberger 1961  : »Wo der Absolutismus auf uralten historischen Wurzeln im Volke steht, wird er die Gewohnheiten und Anschauungen auch der konstitutionellen Gesetzgeber und Selbstverwalter noch auf lange hinaus beherrschen. Übergangsperioden vom Absolutismus zum Konstitutionalismus sollen daher vor allem anderen mit der Gründung der passiven Freiheit beginnen … Das Individuum will zunächst über seine persönliche Freiheit beruhigt sein, ehe es dem komplizierten Bau der Staatsfreiheit vertrauensvoll seine Hände reicht.«

Diese Sätze sind z. T. heute noch aktuell. Die private, passive Freiheit ist dem Volk noch immer wichtiger als die politische, aktive Freiheit. Denn im Bewußtsein herrscht der Eindruck vor, daß gerade die sogenannte passive Freiheit die aktive ist, während die sogenannte aktive Freiheit praktisch Passivität verlangt oder bedeutet. Unsere Revolutionen 1848 und 1918 konstituierten nicht eine Nation und Integration, sondern führten zu Desintegration und Resignation. Der Weg zum Rechtsstaat, zur Demokratie, zur Republik war mit militärischen und politischen Niederlagen gepflastert. Die Opfer hat man heute vergessen. Erinnerung sollte zur politischen Bildung werden. Die Größe und Vielfalt der Gegensätze des alten Österreich beeinflußten die politische Sozialisation und damit die Formen der Tradition im neuen Österreich. Das neue Österreich konnte sich zunächst mit seiner Kleinheit nicht abfinden. Die Anschlußmentalität gehörte damals zur politischen Kultur fast aller Lager. Robert Musils Wort wird oft zitiert  : »Der gute Österreicher steht zwischen den beiden Heubündeln Buridans, Donauföderation und Großdeutschland.« Neuösterreich nannte sich, von allen politischen Lagern legitimiert, »Deutschösterreich«. »Österreich« war keine Namensgebung durch nationales, staatliches Recht, sondern wurde durch internationales, zwischenstaatliches Recht geschaffen. Und noch 1938 meinte Otto Bauer  : »Die Parole, die wir der Fremdherrschaft der faschistischen Satrapen aus dem Reiche über Österreich entgegensetzen, kann nicht die reaktionäre Parole der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs sein, sondern nur die revolutionäre Parole der gesamtdeutschen Revolution, die allein mit den anderen deutschen Stämmen auch den österreichischen Stamm der Nation von der Gewaltherrschaft der faschistischen Zwingherrn befreien kann.« Jean Améry hat die »Aspekte des Österreichischen« anschaulich umschrieben  : »Dem Österreicher der Ersten Republik war zutiefst unbehaglich in seiner 199

Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ?

Haut. Er hatte keine Achtung vor seinem Land – und darum niemals wirkliche Selbstachtung. Gehörte er der damals älteren Generation an, träumte er sich – wie meine eigene Mutter – häufig zurück in die k. u. k. Monarchie. Die Jüngeren starrten seit 1918 in ihrer großen Mehrzahl gebannt hinüber nach Deutschland, ins ›Reich‹  ; eine Minderheit nahm es ernst mit dem proletarischen Internationalismus. Keiner war eins mit sich und dem Alpenländchen. Zeichneten Karikaturisten den Österreicher, so stellten sie ihn als ein jämmerliches ›Simandl‹ mit Steireranzug und Gamsbarthut hin. Dies hat sich, soweit ich es zu beurteilen vermag, von Grund auf geändert. Die Österreicher sind Österreicher ›ganz unsentimental‹ …« Dieser Grundkonsens trägt heute die Republik wie die Bejahung von Demokratie und Freiheit. Die Anschlußmentalität wurde durch die Erfahrungen unter HitlerDeutsch­­­­land abgebaut. Eine Östereichermentalität wurde im Krieg und im KZ aufgebaut. Wie alle Muster der politischen Kultur, die von uns generalisiert dargestellt werden, muß man freilich auch sie differenziert vorstellen, nach Genera­tionen, Schichten, Gruppen, Regionen. Als Jahrgang 1937 habe ich Österreich anders internalisiert als andere Generationen. »L’Autriche oblige« ist die Kurzformel dafür. Es geht mir darum, in der eigenen Biographie bestimmte Austriazismen auszudrücken. Österreich ist mir so etwas wie eine regulative Idee. Dieses Bekenntnis zur Nation Österreich schließt jeden Nationalismus aus. Für manche ist Österreich eine Idee, für alle aber eine Realität, in der man sich recht wohl fühlt. Die Bejahung Österreichs als eines selbständigen Staates gehört heute wohl zu den Gemeinsamkeiten im Mixtum der politischen Einstellungen. Man darf aber nie vergessen, daß diese gemeinsame Einstellung das Ergebnis eines Prozesses ist. Er ist durch eine langsam erfolgende Aussöhnung mit der neuen Realität gekennzeichnet. War es in der Ersten Republik bei den verschiedenen Lagern eine Haltung, die man frei nach Doderer als Apperzeptionsverweigerung bezeichnen könnte, so ist in der Zweiten Republik die neue Realität, der Kleinstaat, zur Kenntnis genommen worden. Vielleicht konnte das neue Bezugsobjekt erst bejaht werden, nachdem die Bezugsobjekte in Gestalt der großen politischen Lager sich gegenseitig bejaht hatten. Zunächst hatte ja die Heterogenität der politischen Kultur den Aussöhnungsprozeß mit der Realität erschwert. Die Lagermentalität und die politische Subkultur der einzelnen Lager begünstigten nicht nur den Quasi-Religionskrieg, der sich bis zu Bürgerkrieg und Gewalt steigerte, sondern auch verschiedene Bezugsobjekte der Identität, insbesondere verschiedene Formen der Staatlichkeit. Dann aber ist eine überhöhende poli200

Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ?

tische Kultur als Struktur entstanden, ein Identifika­tionsprozeß, der dem Realitätsprinzip gefolgt ist. Da die politische Sozialisation vornehmlich innerhalb der einzelnen Lager erfolgte, wurde auch die Apperzeption und Versöhnung in erster Linie innerhalb der Subkulturen entwickelt. Eine die Subkulturen überhöhende politische Kultur ist erst allmählich eigenständig geworden. Die Übertragung dieser Identität von den einzelnen Lagern auf das gemeinsame Symbol »Republik Österreich« ist ein Vorgang, der im wesentlichen erst in den vierziger Jahren eingesetzt hat, wobei die occupatio quasi bellica durch HitlerDeutschland und das Quasikollektivprotektorat der vier Alliierten zur neuen Identität wesentlich beitrugen. Vor etwa zehn Jahren wurden als Charakteristika unserer politischen Kultur neben der Bejahung Österreichs und der Demokratie westlicher Prägung die Obrigkeitsmentalität, die »Lagermentalität« und die konsens- und proporz­ demokratische Einstellung hervorgehoben. Diese Haltungen haben sich nicht wesentlich, aber zum Teil verändert  : Die »Lagermentalität« ist eine Folge der Ende des 19. Jahrhunderts formierten, in sich geschlossenen ideologischen Sektoren der Gesellschaft mit besonderen Subkulturen, die vor allem von der Familie im Sozialisationsprozeß tradiert wurden und zur »Versäulung« der Politik führten. Sie ist modifiziert und pragmatisiert noch vorhanden. Die »konsens- und proporzdemokratische« Einstellung fand nach 1945 ­ihren Ausdruck in der kooperativen und konsoziationalen Regelung politischer Konflikte durch den »Macherteil« der politischen Elite. Das Konfliktregelungsmuster des Aushandelns und Ausgleichs (Packeln), das in der Monarchie zwischen den Nationen und Bürokratien praktiziert wurde, wurde in der Zweiten Republik für die Austragung von Interessengegensätzen schlechthin adaptiert. Es rangiert praktisch und statistisch gesehen vor der Mehrheitsentscheidung und wird in Formen der Konsensdemokratie (Konkordanzdemokratie, Sozialpartnerschaft) praktiziert. Obwohl die Verfassung der einfachen Mehrheit viele, vielleicht allzu viele Machtprämien gibt, verlangt sie im übrigen selbst gewisse Formen der kooperativen Konfliktregelung und des Kompromisses (z. B. Verfassungsgesetzgebung, Schulgesetzgebung). Auch der Proporz ist in verschiedener Weise Verfassungsgebot (Proporzwahlrecht, Proporz in der Zusammensetzung von Regierungen). Die Hegemonie der SPÖ, legitimiert durch drei absolute Mehrheiten, hat aber die Konsens- und Proporzdemokratie modifiziert. Auch neue Partizipa­ tionsformen, wie Bürger- und Basisinitiativen, haben sie verändert. Die Obrig201

Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ?

keitsgläubigkeit hat sich gewandelt. Die Einstellungen zur Autorität sind offener und kritischer als früher. Gesellschaftliche Autoritäten müssen sich mehr legitimieren als noch vor wenigen Jahren. Die politischen Autoritäten stehen neuen Anspruchs- und Abwehrhaltungen gegenüber. Wenn man die Geschichte der Zweiten Republik betrachtet, wird man feststellen, daß vor allem die Konflikte innerhalb eines politischen Systems die politische Kultur (in unserem Fall vor allem der einzelnen politischen Lager) hervortreten lassen. Es wäre interessant, eine Geschichte der Zweiten Republik unter dem Blickwinkel der Stellungnahmen zu aufgetretenen politischen Konflikten zu schreiben. Es wäre geradezu eine Aufgabe der politischen Bildung, die verschiedenen Fälle, die in den Medien meist personalisiert worden sind, unter diesem Blickwinkel zu untersuchen, etwa die Fälle Krauland, Habsburg, Olah, Müllner, Hofmann, Zwentendorf, Androsch, AKH. Diese Fälle sollten als Sachverhalt in den verschiedenen Lagerinterpretationen, in der Medieninterpretation und in der künstlerischen und wissenschaftlichen Interpretation dargestellt werden. So wie die reflektierte Autobiographie die beste politische Bildung für das Individuum ist, ist Geschichte im Spiegel verschiedener Interpretationen die beste politische Bildung für die Allgemeinheit.

Politische Strukturen und politische Kultur – Parteien- und Verbändestaat oder Ritualien im Rollennetz der Politik Unter den verschiedenen Konstellationen, die für die politische Kultur von besonderer Bedeutung sind, scheint vor allem das System der Parteien und Verbände für Österreich spezifisch zu sein. Man muß natürlich fragen, inwieweit es eine österreichische politische Kultur, etwas »typisch Österreichisches« überhaupt gibt. Man hat ja bekanntlich auch Schwierigkeiten, den Begriff »österreichische Literatur« zu definieren. Aber offensichtlich hängen die »typisch österreichischen« politischen Verhaltensmuster mit gesellschaftlich-geschichtlichen Besonderheiten zusammen. Österreich hat eine stark durchorganisierte Gesellschaft, im Bereich der Parteien und Verbände wahrscheinlich die höchste Organisationsdichte aller westlichen Demokratien. Vier von zehn Wählern, das sind 1,5 Millionen Menschen, sind in das Parteiensystem eingebunden. Die Parteien weisen wiederum einen hohen Zentralisierungsgrad auf. Dieser ist zwar je nach Partei verschieden, aber im großen und ganzen stützen sich alle österreichischen Parteien auf den 202

Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ?

Grundsatz der Zentralisation. Das ganze System konzentriert sich wiederum auf wenige bestimmte Parteien mit langfristig stabiler, weltanschaulich mehr oder weniger definierter Identität. Das hinkende Dreiparteiensystem mit zwei Großparteien und einer Kleinpartei wird durch den Umstand rund 60 angemeldeter Parteien kaum berührt. Die Konzentration wirkt als Reproduktionsmechanismus der etablierten Eliten, die durch ihr Kapital, Personal und durch ständige Wahlen auf verschiedenen Ebenen die gegebene Konstellation stabilisieren. Die Wählerschaft verfolgt dabei in erster Linie eine formale Partizipationskultur. Auffallend sind der rituelle Charakter der Wahlen sowie deren Häufigkeit. In Österreich wird fast permanent auf den verschiedenen Ebenen gewählt, in den Ländern und Gemeinden, auf Bundesebene (Bundespräsident, Nationalrat), dazu kommen die verschiedenen Wahlen in den Selbstverwaltungskörpern, in den gesetzlichen beruflichen Vertretungen, aber auch in den Betrieben sowie in den Verwaltungen (Personalvertretungswahlen). Die Wahlbeteiligung ist, ähnlich wie die Mitgliederbeteiligung in den Parteien, etwas Ritualisiertes. Man ist dabei, um nicht dabeisein zu müssen. Man zahlt als Mitglied die Beiträge, aber arbeitet nicht mit. Ähnlich ist es mit der Kirche. Mit den Beiträgen kauft man sich von weitergehenden Verpflichtungen frei. Als Wähler begnügt man sich im wesentlichen mit der Stimmabgabe, allerdings bei einer überraschend hohen Wahlbeteiligung. Sie dürfte damit zusammenhängen, daß es das allgemeine Wahlrecht für Frauen und Männer erst seit 1918 gibt. Von 1933 bis 1945 gab es faschistische Unterbrechungen, bis 1955 war Österreich von den vier Großmächten besetzt. Wie oft und wie lange war Österreich vor 1955 konsequent frei  ? Politisch frei und privat frei in unserem heutigen Sinn ist Österreich für die große Mehrheit erst seit einer Generation. Möglicherweise will sich also der Wähler die gewonnene Freiheit selbst bestätigen. Die hohe Wahlbeteiligung deutet darauf hin, daß Wählen als Bürgerpflicht empfunden wird. Dabei ist der österreichische Wähler in der Wahlzelle nie allein, die Lager­mentalität fungiert als innere Besatzungsmacht. Ist man mit dem eigenen Lager unzufrieden, wird man im Allgemeinen nicht Wechselwähler, sondern geht nicht zur Wahl oder gibt leere Stimmzettel ab. Man kann auch auf den verschiedenen Ebenen verschieden wählen. Die Wählbarkeit ist ritualisiert. Das bedeutet, daß auf der anderen Seite eine weitgehende praktische Passivität der Massen gegenüber der Politik festzustellen ist, eine Konsumenten- und Zuschauerhaltung. Das steht mit der Obrigkeitsgläubigkeit und mit der Bewertung der Politik im Einklang. Parteipolitik gilt als eher negativ, während Staatspolitik wie seinerzeit in der Monarchie 203

Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ?

als etwas »Höheres« aufgefaßt wird. Für den durchschnittlichen österreichischen Parteipolitiker ist daher wahrscheinlich der Aufstieg zum Staatsmann das Wunschziel seiner Karriere. Und für die Massen muß der Parteiführer Staatsmann sein, werden oder scheinen. Im Zusammenhang mit der praktischen Passivität der Massen steht die »rationale« (oder »rationelle«) Wahltaktik der Parteieliten, die sich im Wahlkampf eher an die Grenz- und Wechselwähler als an die Kernwähler wenden, obwohl v. a. die zwei Großparteien sowohl auf Grenz- und Wechselwähler wie auch auf Kernwähler angewiesen sind. Auf die letzteren aber ist Verlaß – sie kommen sich deswegen auch oft »verlassen«, ja verraten vor, sind innerparteilich manchmal große Kritiker, beschränken aber die Mitarbeit meist auf die Wahlen. Im Bereich der Gebietskörperschaften (Bund – Länder – Gemeinden) gibt es trotz des zur Erstarrung der Machtverhältnisse auf allen gebietskörperschaftlichen Ebenen beitragenden Proporzwahlrechtes für die Parteien echten Wettkampf. Im Bereich der Verbände herrschen die Parteieliten ohne wesentliche Konkurrenz. Zu stark ist die Dominanz eines Lagers. Die Verbände durchziehen und umschließen die österreichische Gesellschaft als ein durch öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Normen gespanntes Netzwerk. Österreich ist nicht nur eine der »perfektesten« Parteiengesellschaften, sondern auch eine der »perfektesten« Verbändegesellschaften. Dem Charakter einer Staatsgesellschaft entsprechen nicht nur die vielen öffentlichrechtlichen Korporationen, sondern auch die Symbiose, die der öffentliche, staatliche Sektor mit dem privaten Sektor in der Wirtschaft, aber nicht nur in diesem Bereich, eingegangen ist. Diese Symbiose besteht auch auf dem Gebiet der Kultur, der Massenmedien, der Information. Das Schul- und Bildungswesen ist dagegen fast zur Gänze verstaatlicht. Maria Theresias Satz »Die Schule ist ein politisch Ding« ist konsequent auf allen Stufen verwirklicht. Die Verstaatlichung der Gesellschaft ist so weit fortgeschritten, daß die Grundfreiheiten neue soziale Funktionen erhalten haben. Die Gesellschaft wird immer mehr Staat und dieser wird in seinen verschiedenen Gestalten und Tätigkeiten immer mehr zum Träger von Grundfreiheiten, schließt diese durch alleinige »Zuständigkeit« aus oder beschränkt die Effizienz der Grundfreiheiten. In der perfekten Verbandsstruktur wird die Leistungsgesellschaft überbewertet. Diejenigen, die außerhalb des Berufslebens stehen und Interessen außerhalb des Wirtschaftslebens haben, werden damit unterbewertet. Das System der beruflichen Zwangsverbände dominiert mit seinen Interessen die Politik. Da in diesen Verbänden sehr deutlich jeweils eine der beiden Großparteien do204

Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ?

miniert und die Funktionäre in der eigenen Organisation nur innerparteiliche Konkurrenz zu befürchten haben, kommt es geradezu zu einer Monopolstellung der »Leistungs«-Eliten. Ähnliches gilt für die Träger des allumfassenden Sozialversicherungswesens, das auch durch Zwangsverbände und Zwangsbeiträge geprägt ist, aber keine Wahlen der Organe durch die Mitglieder aufweist. Für Österreich typisch ist die Verschränkung von Parteien und Verbänden und von Staat und Wirtschaft, von Politik und Ökonomie. Die Eliten und Bürokratien der Gebiets- und Berufskörperschaften, der Parteien und Verbände organisieren große Bereiche von Produktion, Distribution und Konsum. In diesem durchorganisierten und reglementierten kooperativen System gibt es Tausende von politischen Positionen. Es entstehen viele Multirollen. Österreich ist eine Funktionärsgesellschaft. Es ist bekannt, daß man bei den für dieses System typischen Multifunktionären nicht feststellen kann, wie weit die eine Rolle geht und wo die andere anfängt. Man kann aber feststellen, daß kaum jemand wirklich unter diesen verschiedenen Rollen, die er im politischen System zu spielen hat, leidet. Im Gegenteil  : Die Institution des Multifunktionärs befriedigt offenbar sowohl persönliche als auch gesellschaftliche Bedürfnisse. Die Funktionäre und ihre Bürokratie leisten eine Bündelung, Bindung und Bändigung der gesellschaftlichen Konflikte. Sie produzieren Sicherheit und Stabilität. Und die sind die gefragtesten Güter der Nation.

Sicherheit als Grundwert – ihre Konsequenzen  : Staatspluralismus und Staatssozialismus Eine Einstellung fast aller Schichten der Bevölkerung, die in allen Untersuchun­ gen in verschiedener Form zum Ausdruck kommt, verdient besondere Hervorhebung  : das immense Sicherheitsbedürfnis. Stefan Zweig, dessen 100. Geburtstag wir heuer feiern, beginnt sein Werk »Die Welt von gestern« mit dem Kapitel  : »Die Welt der Sicherheit«. Er schreibt  : »Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich, am prägnantesten zu sein, wenn ich sage, es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen Monarchie schien auf Dauer gegründet, der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. Dieses Gefühl der Sicherheit war der anstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal.«

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Solche Zeugen widerlegen eindeutig die angebliche reine »Risikobereitschaft« des Liberalismus. Folgt man Zweig, war eigentlich das Gegenteil der Fall  : »Nur mit dieser Sicherheit galt das Leben als lebenswert und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an diesem kostbaren Gut. Erst waren es nur die Besitzenden, allmählich aber drängten die breiten Massen heran. Das Jahrhundert der Sicherheit wurde das goldene Zeitalter des Versicherungswesens.«

Der liberale Rechtsstaat brachte Sicherheit vor allem für die Besitzenden. Der Sozialstaat brachte sie auch den Massen. Der Aufbau und Ausbau der Sozialpartnerschaft und der Sozialversicherung hat nach 1955 das goldene Zeitalter der Sicherheit für die Massen geschaffen. Konkordanzdemokratie und Proporzsystem haben nach dem Zweiten Weltkrieg gewisse Mechanismen in der versäulten Gesellschaft etabliert, die einerseits von der Lagermentalität getragen waren, andererseits vom Gleichgewichtsdenken und vor allem vom Sicherheitsstreben. Diese Tendenz hat eine Eigendynamik entwickelt. Sie ist zur Strategie der Großparteien und Großverbände geworden, möglichst viele Bereiche der Gesellschaft in ihren Einflußbereich zu bringen. Das Resultat, die Verrechtlichung und Verstaatlichung der Gesellschaft kommt dem Sicherheitsbedürfnis des einzelnen und erst recht dem der politischen Kräfte entgegen. So entstanden schon vor Jahren ein etatistischer Pluralismus und ein Staatssozialismus, gegen den es wohl privaten »Widerstand«, aber zu dem es bisher keine große politische Alternative gibt. Allgemein hat man sich daran gewöhnt, im besonderen wird über die hohe Staatsquote geraunzt und geschimpft, wenn es einen »individuell« trifft. Der Begriff »Pluralismus« ist in seinem spezifisch österreichischen Sinn zu verstehen  : Durch den »Pluralismus« der öffentlich-rechtlichen Verbände und Einrichtungen werden bestimmte Gruppen und Interessen privilegiert. Der Österreicher lebt gewissermaßen in einer besetzten Gesellschaft und Öffentlichkeit. Sie sind durchorganisiert und durchnormiert und lassen außen und innen nur relativ wenig Freiräume offen. Die staatliche Organisations- und Rechtssetzungshoheit in der Hand immer wieder legitimierter Großparteien hat die Privatautonomie verdrängt oder an den Rand gedrängt. Sie hat ein Elitenoligopol etabliert und stabilisiert. Die Bürokratien unterstützen dieses Oligopol schon aus Eigeninteresse. Die große Frustration mancher Teile der Gesellschaft, die alles besetzt finden und relativ wenig Spielraum für Eigengestaltung haben, wird von dieser Situation ebenso verständlich wie die große Weigerung und Verweigerung gegenüber traditionellen Partizipationsformen durch junge Menschen. 206

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Österreich weicht in vielem von anderen entwickelten Industriegesellschaften ab, aber nicht in den Grundtendenzen  : Auch in Österreich gibt es die Verstärkung des sekundären und tertiären Sektors auf Kosten des – bereits sehr kleinen und sehr verunsicherten – Primärsektors. Alle Selbständigen, vor allem Bauern oder Gewerbetreibende, fragen, wohin es geht. Niemand kann ihnen wirklich antworten. Auch die Technobürokratie herrscht bei uns genauso wie anderswo. Jedoch, und das wird von allen Untersuchungen hervorgehoben, ist der Materialismus in Österreich noch stärker verankert als in anderen entwickelten Industriegesellschaften, die in die Richtung Postmaterialismus gehen. Wer die stille Armut der verschiedenen Schichten in Österreich kennt, ist über den sogenannten Materialismus nicht verwundert. Er entspricht dem Realitätsprinzip. Alles andere wäre »Apperzeptionsverweigerung«, Ideologie. Ein materialistischer Pragmatismus entspricht der Mehrheit der Österreicher, deren Elementarphilosophie mit der Kurzformel »Primum vivere – zuerst leben« umschrieben werden kann. Andererseits geht bei Minderheiten der Nachkriegsgeneration, die im Wohlstand aufgewachsen sind, die Bedeutung der materialistischen Ziele zurück. Formen von Unzufriedenheit zeigen sich  ; die Sehnsüchte gehen über das Vorhandensein eines Arbeitsplatzes, gutes Einkommen und Garantie eines starken Staates weit hinaus. Die Jugend, die ja der Agent des gesellschaftlichen Wandels ist, initiiert mit ihren neuen Einstellungen auch in Österreich Veränderungen in Richtung Postmaterialismus. Neu ist vor allem ihre Haltung zu Arbeit und Leistung, zu Beruf und Freizeit, zu Aufstieg und Ausstieg. Die Haltung, nur das Notwendigste zu leisten, zu arbeiten, um Lebenssinn und Wohlbefinden in der Freizeit, individuell und in Gruppen zu erreichen, spricht angeblich »Urbedürfnisse der Österreicher« an. Diese Einstellungen drücken mehr und anderes aus, als man woanders mit »me decade« oder »culture of narcissism« umschrieben hat. Sie bergen weniger die Gefahr in sich, blinde Neinsager hervorzubringen, die dem komplizierten Gesellschaftsleben die große Weigerung entgegenstellen und leicht blinde Jasager für eine einfache Heilsideologie werden können. Die Gefahr liegt in politischer Apathie und Passivität. Sie bergen aber auch »Chancen« in sich  : Es geht im Hintergrund wahrscheinlich nicht so sehr um »Selbstverwirklichung«, sondern um neue Bindungen und Identifikationen. Das Große, das längst nicht mehr das Ganze ist, und das Ganze, das längst nicht mehr das Wahre ist, unterliegen der Weigerung  : Aufbrechen der Großorganisationen, die sich zum Subjekt und den Menschen zum Objekt machen, Protest gegen die selbstzerstörerische Automatik des »Bigger and better«, Echt-Sein, unmit207

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telbar leben, Suche nach neuen Ordnungen und Bindungen, Autonomie und Selbstverwirklichung, Skepsis gegen Materialismus, Fortschritt, Industrialismus, Ablehnung der Technisierung, Kommerzialisierung und Bürokratisierung aller Lebensbereiche, Neubewertung des Lebens und der Natur, der Wunsch nach Frieden, Gemeinschaft, Glaubwürdigkeit, lebensvoller Familie und lebenswerter Umwelt machen »das Kleine« zum Schönen, Wahren und Guten. Manches erinnert an die seinerzeitige Jugendbewegung, die das Hohelied der Natur, die scheinbar heile Welt des Landes, und das sogenannte einfache Leben dem dekadenten Industrie- und Stadtleben und seiner Unsicherheit und Kompliziertheit gegenübergestellt hat. Gegen die Stadt und für das Land, gegen den Staat und für die Heimat, gegen die Fabrik und für das Handwerk, gegen die technisch-naturwissenschaftliche Zivilisation und nur für Natur, Verherrlichung der Regionen und Dialekte usw.  – das galt früher manchen als »rechts«, heute gilt es manchen als »links« –, nach Jean Améry ein Beispiel für geistesgeschichtliche Dialektik. Die Dialektik der Aufklärung erzeugt den intellektuellen Anti-Intellektualismus. Man kann vor eskapismusfreudiger Sehnsucht nach heiler Welt nur warnen. Das bestehende österreichische Sicherheitssystem der sich gegenseitig stützenden und nützenden Großorganisationen, der Parteien, Verbände und Bürokratien erfüllt wichtige gesellschaftliche Funktionen. Nach der mehrmaligen Umwertung aller Werte im Zeitalter komplizierter existentieller Unsicherheit ist die Existenz eines institutionellen Sicherheitssystems nicht überraschend. Wenn man mit Zweig die Zeit der untergegangenen Donaumonarchie als »Jahrhundert der gesicherten Werte« charakterisiert, dann ist heute, wo fast nichts mehr sicher ist, das Sicherheitsbedürfnis unserer Bevölkerung eine Selbstverständlichkeit. Unsere Geschichte und Umwelt vermitteln uns alles andere als Sicherheit. Deshalb ist es nicht überraschend, wenn das Prinzip Sicherheit auch schon für junge Menschen das Prinzip Hoffnung ist. Freilich ist es nicht dieselbe Einstellung zum Staat, welche die Alten haben. Man kann davon ausgehen, daß die bei fast allen Gruppierungen vorhandene Staatsfixierung mit dem großen Sicherheitsbedürfnis zusammenhängt. Die Staatsfixierung kommt nicht nur bei Unternehmern im mehr oder weniger offiziellen Subventions- und Interventionssystem zum Ausdruck, sondern noch mehr im System der gesetzlichen beruflichen Interessenvertretungen und gesetzlichen Versicherungsträger, die ja Staat im weiteren Sinne sind. Solidarität und Risikengemeinschaft sind mehr staatlicher Zwang in Großkollektive als Tugenden der Menschen unter einer Verfassung der Freiheit. Ein Übermaß 208

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an Gemeinschaftsdienst, Disziplin und Pflichtbewußtsein war in Österreich auf Dauer und als Regel nie vorhanden. Dagegen treten Verwaltungsrecht und Bürokratie im Übermaß auf.

Veränderungen im privaten Bereich – das moderne Biedermeier mit passiver Massenkultur Die Staatsfixierung drückt sich in vielfältigen Forderungen an den Staat aus, in einer Anspruchshaltung, die von ihm als Rechtsstaat die Schaffung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit im weitesten Sinn erwartet und von ihm als Leistungsstaat die aktive Garantie einer gewissen materiellen Lebensbasis verlangt. Die große Mehrheit der Österreicher will eine staatlich gesicherte materielle Basis. Deshalb wird die Vollbeschäftigungspolitik so stark betont, das Recht auf Arbeit wird von vielen als Staatsverpflichtung verstanden. Die Frage der »Zuständigkeit« ist wichtiger als die Frage der »Selbständigkeit«. Von den Politikern wird vielfach mehr erwartet als von sich selbst. Dieser Erwartungshaltung, die geradezu einem Eltern-Kind-Verhältnis ähnelt – »der Papa Staat wird’s schon richten« –, entspricht die fortschreitende Verrechtlichung und Verstaatlichung der Gesellschaft. Ihr entspricht aber auch die Sündenbockfunktion der Politiker, die für Unzufriedene »an allem schuld sind«. Gleichzeitig aber – und das ist ein für Österreich typischer Widerspruch – wird von den staatlichen Institutionen die totale Nichteinmischung in den Privatbereich gefordert und auch im Rahmen des Rechtsstaates gewährt. Der »Traum« des 19. Jahrhunderts vom gesicherten Dasein in Frieden und Freiheit scheint in der Zweiten Republik für viele »ein Leben« geworden zu sein. Deshalb widmet sich die Politik vor allem der Herstellung eines gewissen materiellen Wohlstandes, wobei das Privatleben und die Intimsphäre staatsfrei bleiben sollen. Der berühmte Wiener Grundsatz »leben und leben lassen«, ein Grundsatz, der Stefan Zweig 1939 immerhin noch humaner erschien als alle kategorischen Imperative, scheint noch heute im großen und Ganzen akzeptiert zu werden. Je mehr materieller Wohlstand, desto mehr wurden Freiheiten im privaten Tun und Lassen für viele eine Selbstverständlichkeit. Für andere sind sie es keineswegs. Die Ablehnung des Autoritären und die Abneigung gegen das Apodiktische und Dogmatische sind heute sicher stärker als früher. Seinerzeit galten alle möglichen dogmatischen Befreiungstheorien, heute herrscht 209

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eher Unsicherheit. Noch immer bestehen sehr wesentliche Ungleichheiten. Für die Menschen, denen es schlecht geht, ist noch immer das Oben-und-UntenModell der Gesellschaft bestimmend. Nur diejenigen, die es zu etwas gebracht haben, erklären die Gesellschaft mit dem Pluralismusmodell. Eine gewisse Sicherheit und Freiheit im privaten Bereich ist Allgemeingut geworden, und gleichzeitig haben sich auch Stil und Inhalte privater Lebensführung stark geändert. Die Liberalisierung des Strafrechts hat diese Änderung rechtlich nachvollzogen. Freilich hat die ungeheure Vermehrung des Verwaltungsstrafrechts den Weg in die verwaltete Welt nur unterstützt. Rechtlich gesehen ist die Freiheit im privaten Bereich unbemerkt weniger geworden. Zur Zeit Stefan Zweigs sollte vor allem dazu erzogen werden, das Bestehende als das Vollkommene zu respektieren. Die Meinung des Lehrers galt als unfehlbar, das Wort des Vaters als unwidersprechlich, die Einrichtungen des Staates als die absoluten, gewissermaßen in alle Ewigkeit gültigen. Heute ist man realistischer. Die menschliche Unvollkommenheit ist evident. Der zweite kardinale Grundsatz jener Zeit, der auch in der Familie gehandhabt wurde, ging dahin, daß junge Leute es nicht zu bequem haben sollten. Ehe man ihnen irgendwelche Rechte zubilligte, sollten sie lernen, daß sie Pflichten haben, vor allem die Pflicht vollkommener Fügsamkeit. Heute hat die Jugend mehr Freiheit, sie hat andere Probleme als früher. Die Einstellungen und Haltungen zur Kindheit, zur Jugend, zur Sexualität, zur Ehe, zur Religion, zur Autorität haben sich im Verlauf der letzten hundert, insbesondere der letzten 25 Jahre wesentlich geändert. Trotzdem haben erst kürzlich Befragungen ergeben, daß autoritäre Einstellungen heute noch, bei zumindest 50 % der Bevölkerung, große Resonanz finden. Die Änderung der Einstellungen ist also nicht so groß, vor allem nicht so allgemein, wie man erwarten könnte. Heute ist fast alles möglich. Wenn seinerzeit der Jugend eingeprägt und eingebleut werden sollte, daß sie im Leben noch nichts geleistet hätte und keinen Anspruch erheben dürfe, etwas zu fragen und zu fordern, so war das die traditionelle Methode der Einschüchterung. Man findet sie aber auch noch heute da und dort vor. Die Technik des Frageverbotes (»Das verstehst du noch nicht  !«) hat sich sicherlich auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt  ; auch heute wird noch ein großer Teil der Bevölkerung in ihren Erziehungseinstellungen von diesen Verhaltensweisen motiviert. Die Ablehnung des Kindes und der Jugend ist heute sublimer als um die Jahrhundertwende. Es sei hier nur auf die Verrechtlichung und Bürokratisierung von Kindheit und Schule, auf die durch Markt und Plan vermittelten 210

Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ?

eindimensionalen Lebensformen, auf die Monotonie des Massenkonsums und der Massenkultur verwiesen. Der Jugend geht es materiell besser, aber sie hat es existentiell schwerer. Wenn man feststellt, daß die Bindungen und Ordnungen von gestern zu einem gut Teil aufgelöst oder zumindest aufgeweicht worden sind, so trifft das vor allem auf Ehe, Religion und Recht zu. Scheidungsziffern haben ebenso zugenommen wie nichteheliche Gemeinschaften. Durch innere und private Bindung legitimierte Zweierbeziehungen treten zu der herkömmlichen Ehe. Es entsteht ein Pluralismus von Zweierbeziehungen ohne Illegalitätsbewußtsein. Im zwischenmenschlichen Verkehr haben viele Konventionen und Förmlichkeiten an Verbindlichkeit verloren. Für ältere Menschen sind viele neue Verhaltensmuster Ausdruck einer »Amerikanisierung« oder eines »Grobianismus«, wie er in Gesellschaften des Übergangs üblich ist. »Es ist eben alles ordinärer geworden«, sagte Friedrich Torberg. Auch in der Religion entstehen neue Differenzierungen. Es gibt Untersuchungen (vgl. P. M. Zulehner, Umfrage »Religion in Österreich«, Wien 1980), die darauf hinweisen, daß derzeit 10 % der österreichischen Bevölkerung ohne religiöses Bekenntnis sind. Nominell sind 85 % Katholiken, doch die vor allem während der letzten zehn Jahre stark gesunkene aktive Teilnahme am Kircheleben läßt erkennen, daß die Kirchenbindung lockerer geworden ist, daß Religion immer mehr zur differenziert gelebten Privatsache und die Kirchenautorität geringer wird. Die Kirchenorientierung ist schwächer geworden, das Gesamtniveau der Kirchlichkeit sinkt, die Trennung von Kirche und Politik wird überwiegend bejaht. Das schließt nicht aus, daß Minderheiten aktiver, strenger, rigoroser geworden sind. Zu den »fortschrittlichen« Minderheiten kommen immer mehr »konservative«, ja »reaktionäre« Minderheiten. Das positive Recht hat sich, insbesondere als Verwaltungsrecht, ungeheuer vermehrt. Die Rechtsordnung hat sich in viele flüssige Rechtsmaterien aufgelöst und ist insgesamt »nachgiebiger« geworden. Die Kontrolle der Einhaltung von außen ist einfach nicht mehr möglich und die Kontrolle von innen durch die Moral ist schwächer geworden. »Man« versucht sich’s zu richten und sich im Recht einzurichten. Neben dem »Gesetzesrecht« entsteht immer mehr »Behördenrecht« und noch mehr »lebendiges Recht«, das die Beteiligten an Ort und Stelle schaffen. Am Beispiel des Straßenverkehrsrechts und des Steuerrechts kann man die Einstellung der Massen zum Recht vielleicht am besten erkennen. Das Beispiel »Pfusch« ist besonders lehrreich. 211

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Die Aufhebung von verschiedenen Bindungen die Auflösung und Aufweichung verschiedener Ordnungen bringen zwar eine etwas größere Freiheit im Privatbereich, diese ist aber materiell bedingt. Auch von Staats wegen ist in den siebziger Jahren mehr Liberalität verordnet worden. Nicht dass gewissermaßen von Amts wegen alles erlaubt wäre, aber es ist in den letzten zehn Jahren mehr Liberalität, und zwar nicht nur im künstlerischen Bereich, feststellbar. Ausdruck dieser Liberalität ist vielleicht der Niedergang des Kabaretts. Die Kleinkunstbühne ist von der Staatskunstbühne verdrängt worden. Es gibt kaum mehr echtes politisches Kabarett. Die frühere offizielle österreichische Staatskultur ist von einer Kulturvielfalt abgelöst worden, die zwar nicht in ihrer Fülle gefördert, wohl aber gefordert wird. Die Phantasie ist zwar nicht an der Macht, wohl aber hat sie eine gewisse Freiheit. Aber auch sie verlangt Sicherheit, nachdem sie Freiheit bekommen hat. Auch sie fordert Sozialversicherung nach Individualfreiheit. Die politischen Kräfte haben im Zuge der Liberalisierung einen neuen Dialog mit Künstlern und Intellektuellen versucht. Er gehört sozusagen zum guten Ton. Aber unter so vielen Staatsschauspielern, Multifunktionären und Mandarinen kann der Intellektuelle keine politische Rolle spielen. Er kann bestenfalls das Denken in Bewegung halten, auch wenn sich die Dinge nicht ändern, schlechtenfalls zum »Hüter der Güter« hochstilisiert werden oder als Wurstel oder Kasperl ins Eck gestellt werden. Dabei sollte man den »Rückzug ins kritische Individuum« als Resignation werten – frei nach Nestroy die edelste Nation. Mehr Möglichkeiten im privaten und kulturellen Bereich bedeuten nicht, daß die Wahl- und Gestaltungsfreiheit im politischen Bereich wesentlich gestiegen sind. Trotz der Demokratisierung verschiedener Gesellschaftsbereiche spiegeln sich in den Befragungen starke Ineffizienzgefühle des einzelnen wieder. Der Umstand, daß es formell gegen sechzig Parteien gibt und daß es kaum ein Gebiet gibt, das nicht demokratisiert wurde, ändert daran leider nichts. Das Bewußtsein, daß man nichts machen kann, daß »die da oben« über einen bestimmen, ist bei einer sehr großen Anzahl der Bevölkerung vorhanden, und man kann annehmen, daß gerade dieses Bewußtsein dazu führt, daß man sich in das Öffentliche, Politische gar nicht einmengt und zu 75 % meint, daß die Politiker ihre Sache ganz gut machen. »Die da oben« ist die Formel für die Obrigkeit. Wenn ungefähr derselbe Prozentsatz die Politiker als unglaubwürdig ansieht, so kann das im Privatbereich überkompensiert werden. Der Minderwertigkeitskomplex, den man als Bürger in bezug auf den politischen Bereich hat, kann im privaten Bereich einen entsprechenden Ausgleich finden. Es entsteht so etwas wie ein mobiles Biedermeier mit passiver Massenkultur oder ein 212

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Privatanarchismus, jedenfalls politische Zuschauer- und Konsumentenhaltung. Dies zeitigt allerdings gefährliche Konsequenzen  : eine mehr und mehr vorhandene politische Apathie bei der großen Mehrheit unserer integrierten Gesellschaft und Frustration und Aggressivität bei kleinen Minderheiten. Was sind die »privaten« Heiligtümer der Österreicher  ? Die unverzichtbare Grundlage ist für fast 100 %  : Frieden und Gesundheit, ohne daß aber von den Menschen viel für Frieden und Gesundheit getan wird. Dazu kommen Werte der Individualität  : Man will um seiner selbst willen anerkannt und geliebt werden, unabhängig von Eigenschaften und Leistungen. Davon profitieren auch Werte wie persönliche Freiheit im weitesten Sinn, die Familie, die Freundschaft, die Umwelt als Heimat, die freiheitliche Staatsform. Diese freiheitlichen Einstellungen müssen aber mit stark autoritären koexistieren  ; 60 % der Österreicher erwarten oder verlangen, daß Kinder vor allem Gehorsam lernen, sie glauben, daß Freiheit nicht gut für die Jugend ist. Jugend als Agent der Veränderung stört die »Ruhe, Ordnung und Sicherheit«, auch wenn sie überwiegend selbst Sicherheit sucht. Für die Österreicher ist die Familie der Sicherheits- und Freiheitsraum. 90 % suchen in der kleinen Lebenswelt Zuflucht, wobei sich der Trend in den siebziger Jahren sogar verstärkt hat. Familie und Freundeskreis gelten als Basis des Lebensglücks. Der Rückzug der Interessen in den Privatbereich erklärt sich nicht zuletzt aus der Entleerung des öffentlichen Lebens und des Berufslebens von Freude und Emotion. Die »Herrschaft der Vernunft«, die praktizierte Rationalisierung kann eigentlich nur mehr im Intimbereich wettgemacht werden, und zwar durch Emotionen, die man vorfindet, selber produziert und auch konsumiert (etwa über das Fernsehen, das durchschnittlich zwei Stunden im Tag in Anspruch genommen wird). Daher ist auch die Beziehungsarmut groß und die Isolationsgefahr steigt. Sicherlich sind damit auch die Gefahr der politischen Apathie und deren Umschlagen in Aggression verbunden. Das betrifft meistens Einzelheiten und Minderheiten, aber daraus kann leicht ein Massenphänomen entstehen, wenn das emotionelle Vakuum aufgefüllt zum politischen Vehikel wird.

Das politische Interesse im gefesselten Pluralismus – von der passiven zur aktiven Freiheit ? Das Ausmaß politischer Aktivität ist in Österreich ziemlich gering. Nach wie vor interessieren sich 60 % wenig oder gar nicht für Politik, etwa 20 % üben 213

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irgendwelche politische Aktivitäten aus, das Wissen über rechtliche und faktische Determinanten des politischen Systems ist niedrig. Daher ist die Frage der politischen Bildung aktueller denn je. Allerdings darf man von ihr nicht zuviel erwarten – es sei nur daran erinnert, daß die Weimarer Verfassung gefordert hat, jeder Staatsbürger solle ein Exemplar der Verfassung bekommen, was auch tatsächlich der Fall gewesen ist. Nur ist deshalb das Verfassungsbewußtsein nicht gößer geworden. Hingegen gibt es Erfahrungen darüber, daß die Schulbildung nicht nur für sozialen Aufstieg, sondern auch für politische Teilnahme entscheidend ist. Die ungeheure Veränderung des Bildungssystems ist aber von der Bevölkerung und auch von den Massenmedien noch nicht bewußtseinsmäßig nachvollzogen worden. Es ist noch kaum bekannt, daß Österreich bald 150.000 Studierende haben wird, noch vor 25 Jahren waren es nur 15.000. Dasselbe gilt natürlich auch für die Allgemeinbildenden und Berufsbildenden höheren Schulen. Um den schlafenden Riesen »Bildungswesen« aufzuwecken, müßte mehr Aufklärungsarbeit betrieben werden, um den einzelnen über seine Möglichkeiten auch zu informieren und jedem seine Chance zu geben. Was die steigende Akademisierung der Gesellschaft – von derzeit 3,5 % der Erwerbstätigen auf 5 bis 7 % im Jahr 2000 – uns bringen wird, wissen wir nicht. Die geistige Geltung Österreichs kann heute nicht dieselbe wie um 1900 sein, Wien im besonderen kann nicht – wie noch in der Zwischenkriegszeit – eine der geistigen Hauptstädte der Welt sein. Das Potential des Vielvölkerstaates ist nicht mehr vorhanden. Aber wir können durch die Ausschöpfung unseres geistigen Reservoirs und durch die Förderung unserer Begabungen unter den vergleichbaren Kleinstaaten eine Führungsrolle im Geistigen erreichen. Die sogenannte »Parteienverdrossenheit« scheint eine Konstante zu sein und zur politischen Kultur zu gehören. Schon in den fünfziger Jahren wurde in den Schulen und in der Öffentlichkeit über die Koalition diskutiert, über die Unfähigkeit der Großparteien zur Opposition und zu einer großen und ganzen Politik. Es war nicht nur in der Jugend eine Aversion gegen den »perfekten« Parteienstaat, gegen die große Koalition, gegen die zwei Großparteien und erst recht gegen die dritte oder vierte Partei vorhanden. Das »Unbehagen in der Demokratie« war schon ein Gefühl der sechziger Jahre  : Es war der passive Widerstand gegen die totale Parteiengesellschaft. Insofern die Parteienverdrossenheit konstant bleibt, kann man sie auf ein »Rousseausches Demokratiebedürfnis« zurückführen, auf das Bestreben, die Identität von Herrschern und Beherrschten herzustellen. Das wird teilweise auch in der politischen Bildung noch immer vermittelt, so daß dann die Konfrontation mit der Realität erst 214

Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ?

recht zu einer Abwehrhaltung führt. Die politische Abstinenz, so heißt es in einer Studie, liegt in der Abspaltung der eigenen Lebenswelt von der politischen Sphäre, im Sinne einer ideologischen Trennung von »öffentlich« und »privat«, die real schon lange nicht mehr besteht. Dabei wird das grundlegende Grundrecht des liberalen Bürgertums, das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, besonders hoch bewertet. Auch über das Verfassungsmodell kann man sagen, daß es noch von einer grundlegenden Unterscheidung von politischer und privater Sphäre ausgeht. Der aus der liberalen Ära stammende Grundrechtskatalog wird so trotz einzelner späterer Modifikationen durch die aufgezeigte Bevölkerungsstimmung neuerlich legitimiert. Da wird auch verständlich, warum neuere Grundrechtstheorien und -verständnisse in Österreich nicht einmal an den Universitäten Platz greifen. Im Übrigen hat die zunehmende Verrechtlichung und Verstaatlichung der Gesellschaft die Dominanz der Juristen im öffentlichen Leben stabilisiert. Die Expansion der Staatsfunktionen in alle Gesellschafts- und Lebensbereiche hat zwar eine gewisse Vielfalt an Experten im öffentlichen Bereich nach sich gezogen. Die besonderen rechtsstaatlichen Anforderungen an die Verwaltung haben aber seit langem eine spezifische Juridifizierung der Politik und eine politische Rolle der Juristen zur Folge. Als traditioneller Verwaltungsstaat war und ist Österreich ein Verwaltungsjuristenstaat. Schon Hermann Bahr sprach von der »Nation der Hofräte«. Politische Kultur ist zum gut Teil bürokratische Kultur, Verwaltungskultur, Juristenkultur. Zur Hegemonie der Funktionäre des polit-ökonomischen Systems kommt die Hegemonie der Mandarine des administrativen Bereichs. Das dichte Netz der teils durch die Staatsbürokratie, teils durch die Gemeinde- und Verbändebürokratie getragenen und von den Funktionären des polit-ökonomischen Bereichs zur Schau getragenen öffentlich-rechtlichen Konfliktregelungsmusters läßt für »private« politische Aktionen relativ wenig Raum. Die durchorganisierte und verrechtlichte Gesellschaft domestiziert alles Neue und kanalisiert es in etablierte Institutionen. Der Staatspluralismus oder etatistische Korporativismus fesselt die mögliche Vielfalt. Man muß von einem beschränkten, gefesselten Pluralismus in Österreich sprechen. Interessant dabei aber ist, daß unter den politischen Aktivitäten die Teilnahme an Volksabstimmungen von 90 % der Österreicher als erwünscht betrachtet wird, daß der Wert der Volksbefragung ebenso hoch rangiert und daß über 70 % mit anderen über politische Probleme sprechen. In der Presse hat man von den »bequemen Stillen« gesprochen, was stark an das »gute Land« in Grillparzers »König Ottokars Glück und Ende« erinnert. Aber 215

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in der politischen Wirklichkeit haben die traditionellen Organisationen ein relativ geringes Rekrutierungspersonal, die politische Kultur der österreichischen Parteien stößt offenbar ab  ; man meint, es sei zuwenig Demokratie vorhanden, der Materialismus sei vorherrschend, das Intrigantentum sei zu stark. Auf der einen Seite kann man so leicht Karriere machen, man muß nur immer dabeisein und überleben. Auf der anderen Seite bewirkt das selbst auferlegte Gefühl politischer Ineffizienz eine gewisse Autoritätssehnsucht, um sich mit dem »Starken« identifizieren zu können. Daher ertönt auch immer wieder der Ruf nach der Autorität, nach dem starken Staat oder nach dem starken Mann. In einem Klima verbreiteter politischer Apathie, wo man sich ungeheuer viel gefallen läßt, in diesem »guten Land«, mit diesem »guten Volk«, macht sich die politische Unzufriedenheit eher gegen Minderheiten Luft als gegen etablierte politische Kräfte, sie drückt sich in Vorurteilen und Aggressionen aus  ; sei es im privaten Bereich, wo man ziemlich frei sein kann, sei es im Straßenverkehr, sei es am Arbeitsplatz. Während sich die älteren Menschen stark an Ordnungsvorstellungen orientieren und weniger Interesse an einer Ausweitung der politischen Einflußmöglichkeiten zeigen, wird diese passive bis apathische Haltung von Teilen der jüngeren Generation nicht geteilt. Sie sind nicht nur auf der Suche nach neuer Gemeinschaft, sondern proben auch neue Partizipation. Protestbereitschaft ist im übrigen nicht auf Jüngere beschränkt, sondern setzt sich bis in die mittleren Altersgruppen fort. Vor allem sind es Gebildete, die am ehesten protestbereit sind und dies im Zusammenhang einer allmählichen Umorientierung auf neue Prinzipien, wie Lebens- oder Umweltqualität, Ökologie, natürliche Ethik. Offenbar haben durch Ereignisse der letzten Jahre das Gefühl der politischen Unzufriedenheit, der eigenen politischen Ineffizienz und damit das Mißtrauen gegenüber der Hydra der etablierten Großorganisationen zugenommen. Die partizipativen Grundrechte, die Meinungsäußerungsfreiheit in allen ihren Erscheinungsformen, Vereins- und Versammlungsfreiheit, werden stärker in Anspruch genommen. Viele kleine Gruppen beginnen sich gegen die politischen Großorganisationen, und sogar in ihnen, zu formieren, die wiederum diesen Prozeß in ihren Organisationen durch »Grüne« und »bunte Hunde« aufzufangen und einzuverleiben suchen. Schon in der Ersten Republik kam den sogenannten Vorfeldorganisationen besondere Bedeutung zu. Sie binden »Nahestehende« einzeln oder in Gruppen an die Parteien. Im Ring dieser Vorfeldorganisationen scheinen neue bunte Stellen auf. Was die politischen Institutionen der Verfassung betrifft, so ist das Parlamentsverständnis in Österreich im großen und ganzen positiv. »Man« will we216

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niger ein neues Wahlrecht als neue Partizipationsformen. Das Modell eines direkt demokratisch legitimierten starken Mannes, der sich mittels Plebisziten dann seine Entscheidungen bestätigen läßt, übt nach wie vor eine gewisse Faszination aus. In der Praxis erklärt das die Beliebtheit der Kanzlerdemokratie, die als Wahlmonarchie empfunden wird. Gerade diese Faszination war im übrigen zumindest für bürgerliche Schichten schon Ende der zwanziger Jahre in Österreich symptomatisch. Das Bild der direkten Demokratie mit einem starken Wahlmonarchen ist ja ansatzweise in die österreichische Bundesverfassung eingegangen, da ja unser Parlamentarismus mit einer gewissen Präsidialdemokratie und Formen der direkten Demokratie gekoppelt ist. In der politischen Praxis erfüllt das die Kanzlerdemokratie, das plebiszitäre und publizitäre Prinzipat, das Regieren mit Hilfe der Demoskopie, der Massenmedien und der Öffentlichkeitsarbeit. Welche möglichen Alternativen erwarten die Österreicher  ? Sie haben eine gewisse Vorliebe für die Zusammenarbeit der Parteien in großer Koalition, sie bejahen und wollen eine starke Sozialpartnerschaft. Die Sehnsucht nach Harmonie ist groß. Bejaht werden aber auch mehr Volksabstimmungen, mehr und direkte Demokratie. Im Großen und Ganzen wird der Parlamentarismus bejaht, die Demokratisierungswünsche korrelieren weniger mit Änderungen des Wahlrechts als mit zusätzlichen und alternativen Partizipationsmöglichkeiten. Das Repräsentativsystem wird grundsätzlich akzeptiert, allerdings erwarten sich die Menschen von den Abgeordneten, daß sie sich viel mehr mit den konkreten Problemen der kleinen Leute beschäftigen. Die generell positive Beurteilung der Abgeordneten nimmt nach Bundesländern in Richtung Westen ab. Auch das ist interessant, weil hier die Distanz eine große Rolle spielt. Mehr Einfluß auf den Abgeordneten, mehr Kontakt zu den Abgeordneten läuft mit dem Wunsch nach mehr und besserer Demokratie und mehr Möglichkeiten der direkten Mitsprache parallel.

Zusammenfassung  : Kontinuität und Wandel Es gibt in der politischen Kultur Österreichs eine große Konstante, nämlich das vielfältige Sicherheitsbedürfnis, das mit einem besonderen individuellen Freiheitsbedürfnis kombiniert ist. Die meisten der heute lebenden Österreicher haben Krieg, Gewalt, materielle Not und Arbeitslosigkeit und Unterdrückung kennengelernt. Ihre Lebenserfahrung und die Schlüsse, die sie daraus gezogen 217

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haben, werden durch die Sicherheit, die das derzeitige politische System liefert, bestätigt. Doch alle Lebenserfahrung, alle Theorien sind zeit- und kulturgebunden. Sie sind höchst selektiv. Bestimmte Aspekte der Wirklichkeit werden verdrängt. So beruht der »Rückzug in den Privatbereich« auf einer überholten Trennung zwischen »Privatbereich« und »Öffentlichkeit«. Auch der private Bereich ist längst durchorganisiert und durchnormiert, von gesellschaftlichen Kräften und Institutionen gestaltet. Nur die ungeheure Ausweitung der »privaten« Wahl- und Handlungsmöglichkeiten, die auf Grund der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung möglich wurde, hat den Eindruck der Möglichkeit und Wirklichkeit einer Ausweitung privater Freiheit bewirkt. Dementsprechend tritt das Freiheitsbedürfnis weniger in Richtung politischer Freiheit auf als in einem Bedürfnis nach Gestaltungsmöglichkeiten im privaten Bereich. In der zu starken Trennung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich liegen Gefahren. Man wählt den Rückzug und die Flucht, man nimmt eine Neuberwertung des Intimbereichs vor, indem man versucht, privat vieles zu befriedigen, was in einer Demokratie im öffentlichen Bereich dann abgeht. Pessimistisch interpretiert, könnte man sagen, daß das, was Horkheimer und Adorno in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auf Grund ihrer Eindrücke von der amerikanischen Gesellschaft befürchtet haben, nun auch bei uns zu befürchten ist. Auf der anderen Seite wird man doch auch immer wieder sagen müssen, daß Prognosen im gesellschaftlichen Bereich einfach nicht mit Sicherheit zu stellen sind, weil man zu wenig weiß und die meisten Befragungen ja letzten Endes auch immer wieder das widerspiegeln, was die Interpreten in sie hineinlesen. Daher ist für absoluten Pessimismus kein Grund vorhanden. Man darf als Demokrat immer davon ausgehen, daß die Gesellschaft veränderbar ist  – und tatsächlich hat auch die österreichische Gesellschaft immer wieder während relativ kurzer Zeit Veränderungen erlebt. Was fehlt, ist das Bejahen der Unsicherheit und das Bejahen des Wechsels. Es geht um die Bewältigung dessen, was Hofmannsthal Ende des vorigen Jahrhunderts als »das Gleitende« und »eine Abwesenheit des Tröstenden« umschrieben hat. Was offenbar auch am Ende dieses Jahrhunderts Schwierigkeiten macht, ist die Unsicherheit, der Umbruch und Wandel, die Ungewißheit, die Kompliziertheit, das Auflösen alter Strukturen, die Veränderung der Institutionen, die wohl oft dem rechtlichen Text nach gleich geblieben sind, aber deren soziale Funktionen sich doch wesentlich verändert haben. Mit der Bejahung der Ungewissheit und der Unsicherheit muß man aber auch eine politische Bildung 218

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bejahen, die keine falschen Sicherheiten und Gewißheiten vorspiegelt, sondern Sicherheit durch kritisches Denken schafft. Da wir nicht wissen können, welche Antworten auf die Fragen der Zukunft die richtigen sind, sollten wir uns nicht auf die bestehenden Verhältnisse und ihre Antworten zurückziehen, sondern offen sein für neue Möglichkeiten. Absolute Positionen führen zu »zweiten Wirklichkeiten«, zur Apperzeptionsverweigerung und zu Versteinerungen. Freiheit bedarf eines Möglichkeitsdenkens. [Nachbemerkung  : Eine Vielzahl der von M. Welan in diesem Beitrag angeführ­ ten Daten wurden zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Aufsatzes aus dem von R. Deiser und N. Winkler erstellten Manuskript »Politische Partizipation in Österreich« (Rohbericht für die »Österreichische Gesellschaft zur Förderung der Forschung«, Wien 1980) entnommen  ; die beiden Autoren haben ihre Ergebnisse anschließend in Buchform veröffentlicht  : R. Deiser/N. Winkler, Das politische Handeln der Österreicher2, Wien  : Verlag für Gesellschaftskritik 1982.]

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Art. 1 B-VG (1992)

Signal und Denkmal Das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) hat keine feierliche Einleitung. Daher fungiert Art. 1 als erste Bestimmung auch als Einstimmung auf den folgenden Text  : 1. Österreich ist eine demokratische Republik. 2. Ihr Recht geht vom Volk aus. Schon als Vorschau auf die folgenden Bestimmungen gehört Art. 1 B-VG zur sprachlichen Schauseite unserer Verfassung. Durch seine Formulierung kann er wie eine feierliche Eingangsformel Kommunikation und Integration bewirken. Er kann Identifikations- und Legitimationsleistungen erbringen. Durch den ersten Satz wird verkündet, daß die Verfassung Österreichs demokratisch-republikanisch ist. Der zweite Satz geht auf Hans Kelsen zurück. Dieser hat eine auf der ganzen Welt verbreitete Formel einmalig formuliert  : Es heißt nicht, alle Macht oder die Macht des Volkes geht vom Volke aus  ; es heißt nicht, alle Staatsgewalt oder die Staatsgewalt geht vom Volk aus  ; es heißt nicht einmal, daß alles oder das Recht vom Volk ausgeht. Es wird im Anschluß an die Proklamation der demokratischen Republik nur verheißen, daß das Recht der Republik Österreich vom Volk ausgeht. Die Bundesverfassung ist bescheiden. Sie beschränkt sich auf die Aussage, daß nur das österreichische Recht vom Volk bestimmt wird. Damit sind Möglichkeiten anderer Ordnungen des Rechts respektiert und toleriert. Art. 1 B-VG ist eine besondere Verfassungsrechtsnorm. Auch wenn ihm von manchen jeder relevante Rechtsinhalt abgesprochen oder er als weitgehend überflüssig angesehen wird, als Programmbestimmung ist er allgemein anerkannt.

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Art. 1 B-VG

Art. 1 B-VG ist aber nicht nur eine besondere Verfassungsbestimmung, er ist auch ein Sprachdenkmal. Er gehört zur politischen Symbolik und signalisiert politische Werte. Als Sprach- und Rechtswerk gehört er zu unserer Kultur, insbesondere zur österreichischen Staatsidee. Er gibt Informationen über die Tradition und damit über die nach Karl Popper wichtigste Quelle unseres Wissens. Er verweist auf Hellas, Rom und das Christentum, auf die Aufklärung und die naturrechtliche Theorie des 18. Jahrhunderts, auf die bürgerliche Revolution und Konstitution, aber auch auf die Widersprüche und Brüche der österreichischen Geschichte. Art. 1 B-VG legt Name, Form und die Legitimationsgrundlage unseres Staates fest. Die Recht und Staat begründende Volkssouveränität ist wie Republik und Demokratie über 2000 Jahre Sache des Staats- und Rechtsdenkens und damit der Philosophie. Erst vor 200 Jahren wurde sie aber Staatsrecht. Die Verbindung von Menschenrechten und Volkssouveränität machte Geschichte, wurde in verschiedener Ausprägung verwirklicht und hat, wenn man der Gegenwart glauben kann, weltweite Zukunft. Der des Art. 1 B-VG muß immer wieder zu seinen geschichtlichen Kontext zurückgeführt werden, um seiner Bedeutung gerecht zu werden. Rechtsstaat und Demokratie waren hierzulande bekanntlich nicht an der Wurzel eins. Rechtsstaat, nämlich »Grundrechtsstaat«, »Verfassungsstaat«, »Gesetzesstaat«, wurde Österreich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Betonung muß auch mehr auf Staat als auf Recht liegen. Denn das alte Österreich war ein obrigkeitlicher Rechtsstaat. Demokratie, geschweige denn demokratische Republik, war Österreich noch lange nicht. Die Demokratie kam erst nach und nach zum Rechtsstaat hinzu, die Republik wurde erst 1918 unter Bruch der alten Verfassung möglich. »Demokratische« sind wir schon. Sind wir aber schon »Republik«  ? So fragen manche. Zur Vorgeschichte Wie in anderen aufgeklärten, absoluten Monarchien entwickelten im alten Österreich Naturrechtslehrer Ende des 18. Jahrhunderts Konzepte von Menschen- und Volksrechten. Im § 16 ABGB fand dies seinen schönsten normativen Ausdruck  : »Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist als eine Person zu betrachten …« Aber erst die Revolution 1848 konnte die Volkssouveränität als neue Legitimation und eine Verfassung als neue Rechtsgrundlage des Staates postulieren. 222

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Die Märzrevolution erzwang vom Kaiser das Versprechen einer Konstitution. Die daraufhin einseitig von Kaiser Ferdinand erlassene, der belgischen Konstitution nachgebildete »Pillersdorffsche Verfassung« erfüllte nicht die demokratischen Erwartungen und trat nie in Kraft. Die revolutionäre Bewegung erwirkte ein demokratisches Wahlrecht und im konstituierenden Reichstag eine Volksvertretung. Sie leistete gute Arbeit und begann mit der Grundentlastung eine große Reformarbeit. Auf Grund eines neuerlichen Revolutionsschubes wäre diese »demokratische Monarchie« fast eine »demokratische Republik« geworden. Aber die Wiener Praterschlacht im August brachte eine Konsolidierung der Reaktion. Die Oktoberrevolution war die politische Antwort auf die Kriegserklärung des Kaisers an Ungarn. Aber am 31. Oktober 1848 eroberte Windischgrätz Wien. Tausende wurden erschossen, Tausende verwundet, Dutzende zum Tode verurteilt. Die Erinnerung an die Opfer des Jahres 1948 ist bis heute nicht Übung geworden. Das kollektive Gedächtnis kennt die Revolution 1848 nicht. Der Zusammenhang von Revolution und Konstitution wurde nie Tradition. Nachdem der Reichstag nach Kremsier berufen worden war, setzte er durch seinen Konstitutionsausschuß die Reformarbeit fort. Die tatsächlichen Verhältnisse entwickelten sich aber in die Richtung der Restauration. Kaiser Ferdinand hatte sich schon als »konstitutioneller Kaiser« verstanden. Der Ende 1848 inthronisierte Franz Joseph nannte sich wieder »von Gottes Gnaden Kaiser«. Dagegen legte der kurz daraufhin publizierte Entwurf der Grundrechte des österreichischen Volkes in § 1 fest  : »Alle Staatsgewalten gehen vom Volke aus und werden auf die in der Konstitution festgesetzte Weise ausgeübt.« Der Kremsierer Entwurf in seiner Gesamtheit enthielt viele Elemente der Verfassung 1867, aber auch des B-VG 1920. Die Fachwelt behielt ihn in Erinnerung. Das kollektive Gedächtnis kennt ihn nicht. Am 6. März 1849 ließ Minister Stadion die vom Kaiser einseitig erlassene »Reichsverfassung für das Kaisertum Österreich« im Reichstag verlesen. Sie wurde nie verwirklicht, aber der Kaiser hatte die Realverfassung für sich. Er löste den Reichstag auf und legitimierte mit dem Gottesgnadentum den Neo­ absolutismus. Die Volkssouveränität konnte auch nach der Konstitutionalisierung der Monarchie 1867 nicht zur legitimierenden Grundlage werden. Erst der Untergang der Monarchie 1918 führte zum Aufstieg der Volkssouveränität. Sie wurde als neue Legitimationsgrundlage von Parlamentariern der politischen 223

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Parteien beschlossen, welche den Bruch mit der alten Verfassung und damit rechtlich eine Revolution vollzogen. Art. 1 des Gesetzes vom 12. Dezember 1918 über die Staats- und Regierungsform in Deutschösterreich bestimmte  : »Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt.« Diese Proklamation der Volkssouveränität wurde zwar durch Art. 2 entwertet, der Deutschösterreich zum Bestandteil der Deutschen Republik erklärte, aber auch dies war Ausdruck der neuen Selbstbestimmung. Nach den Wahlen vom 16. Februar 1919 übernahm gemäß Art. 1 des Gesetzes vom 14. März 1919 die »konstituierende Nationalversammlung« als höchstes Organ des Volkes die oberste Gewalt der Republik. Im Art. 1 des Gesetzes vom 12. März 1919 wurde die Festlegung der Staatsform von ihr feierlich wiederholt, bestätigt und bekräftigt. Das Gesetz über die Staatsform vom 21. Oktober 1919 regelte Konsequenzen aus dem Staatsvertrag von St-Germain vom 10. September 1919 und änderte dementsprechend den Namen »Deutschösterreich« in »Republik Österreich« um. Außer dieser neuen Festlegung des Staatsnamens wurde die Festlegung der neuen Staatsform zum vierten Mal innerhalb eines Jahres beschlossen. In den verschiedenen Vorentwürfen zur Bundesverfassung 1920 taucht die Formel von der Volkssouveränität in verschiedenen Formulierungen auf  : Nach dem ersten christlichen Entwurf ruht alle Gewalt beim Volke und geschieht nur im Namen des Volkes  ; nach den sozialdemokratischen geht alle öffentliche Gewalt vom Volk aus. Die Formulierung »Österreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt und in seinem Namen ausgeübt« findet sich im Entwurf Mayr, im sogenannten Linzer-Entwurf, im zweiten Entwurf der christlich-sozialen Partei und im Renner-Mayr-Entwurf. In den Erläuterungen zu diesem maßgebenden Entwurf heißt es u. a., daß Art. 1 nicht bloß beschreibend, sondern auch normierend sei. Es dürfe keine Gewalt geben, die nicht vom Volk eingesetzt ist, sei es direkt durch Volkswahl oder indirekt im Wege der Bestellung durch die Volksvertreter. Die öffentliche Gewalt habe ihren Ausgangspunkt im Volk selbst, sie habe in diesem ihren Sitz, das Volk übertrage sie auf die von ihm selbst bestellten Träger. Die unmittelbare Vorgeschichte des Art. 1 B-VG zeigt im übrigen eine unterschiedliche Entwicklung seiner beiden Absätze. Abs. 1 hat in fast allen Entwürfen gleichlautende Vorläufer. Beim Abs. 2 ist das nicht der Fall. Der dem Unterausschuss des Verfassungsausschusses schließlich vorliegende 224

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Entwurf hatte die Fassung »Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt und in seinem Namen ausgeübt«. Das erinnert an § 1 des Kremsierer Grundrechte-Entwurfes. Im übrigen ist hier auch an Art. 1 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung zu erinnern, wo es heißt  : »Die Staatsgewalt geht vom Volk aus«. Art. 1 Abs. 1 wurde vom Unterausschuß am 23. August 1920 angenommen. Gegen den Vorschlag des Sozialdemokraten Danneberg, für Abs. 2 die Formulierung »alle Gewalt im Staat geht vom Volk aus« zu wählen, wandte der Christlichsoziale Seipel ein, daß es sich dabei um »theologische Grundfragen handle«, und schlug die Beibehaltung der Linzer Fassung vor. Der Sozialdemokrat Bauer schloß sich als Vorsitzender dem an. Er hielt es nicht für nötig, die »Verfassung mit Streitfragen aus verschiedenen Weltanschauungen zu belasten«. In dieser Fassung (»Österreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt und in seinem Namen ausgeübt«) wurde Art. 1 in der Wiener Zeitung vom 29. August 1920 als vorläufiger Text veröffentlicht. Am 22. September wurde die heute geltende Fassung beschlossen. Dies ging auf einen Antrag von Hans Kelsen zurück. Er begründete dies mit Professorenkritik, nämlich, daß am Abs. 2 »zahlreiche Professoren ausgesetzt haben, daß der Subjektbegriff im doppelten Sinne gebraucht wird, und zwar sowohl als Organ wie als Kompetenz, nämlich als Organ eingesetzt, aber als Kompetenz ausgeübt«. Zum Inhalt Zur fallengelassenen Präambel und zum Staatsnamen – Das B-VG hat keine Präambel. Der maßgebende Vorentwurf enthielt noch eine feierliche Einleitung  : »Kraft des Selbstbestimmungsrechtes des Deutschen Volkes und seiner geschichtlich gewordenen Glieder und mit feierlicher Verwahrung gegen jede zeitliche Schranke, die der Ausübung dieses unveräußerlichen Rechtes gesetzt ist, vereinigen sich die selbständigen Länder der Republik Österreich zu einem freien Bundesstaat unter dieser Verfassung.« In diesem Proömium findet sich schon der von den Signatarmächten des Staatsvertrages von St-Germain normierte Staatsname »Republik Österreich«. Dominierend aber ist das unveräußerliche Recht der »Selbstbestimmung des Deutschen Volkes und seiner geschichtlich gewordenen Glieder«. Der politische Integrations- und Konstitutionswille ist dem »völkischen« und dem »föderalistischen« Element übertragen  : Die »selbständigen Länder 225

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der Republik Österreich« (vgl. Art. 2 B-VG) vereinigen sich »zu einem freien Bundesstaat unter dieser Verfassung«. Das Gemeinwesen baut sich auf dem in diesem freien Bundesstaat zusammengefaßten Willen der selbständigen Länder und dem in ihnen und durch sie zum Ausdruck kommenden Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes auf. Nach den Kommentatoren Kelsen, Froehlich und Merkl wurde diese feierliche Eingangsformel hauptsächlich aus dem formellen Grund fallengelassen, »weil das Bundes-Verfassungsgesetz mangels einer selbständigen Kodifizierung der Grund- und Freiheitsrechte keine selbständige Verfassungsurkunde darstellt«. Staat und Verfassung waren außerdem von vielen als Provisorium und Transitorium verstanden worden. Die fallengelassene Eingangsformel und der Staatsvertrag von St-Germain zeigen die Widersprüche des Selbstbestimmungsrechtes nach dem Ersten Weltkrieg auf. Das gilt auch für den Staatsnamen. Im Bewußtsein des Selbstbestimmungsrechtes war der Name »Deutschösterreich« festgesetzt worden, nachdem man zunächst auch Namen wie »Alpenrepublik«, »Südostdeutschland«, »Deutsches Bergreich«, »Donaugermanien«, »Deutschmark« diskutiert hatte. Der Staatsvertrag von St-Germain zwang der jungen Republik die dem alten Namen gleich lautende Bezeichnung auf. Die Kommentatoren bemerken dazu u. a.: »Nur unter dem Namen ›Republik Österreich‹ hat Deutsch-Österreich internationale Anerkennung zu finden vermocht. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker beinhaltet offenbar nicht auch das Recht eines Volkes, sich selbst seinen Namen zu geben.« Gerald Stourzh weist in diesem Zusammenhang nach, daß die Erste Republik der Zwang, sich »Republik Österreich« nennen zu müssen, schon im Oktober 1919 mit der verfassungsmäßigen Verankerung der deutschen Sprache als »Staatssprache« begleitet habe. Dies mit der Begründung, daß dadurch »unsere Eigenschaft als deutscher Nationalstaat zum Ausdruck gebracht werde«. Während die Kommentatoren des B-VG in der Ersten Republik mit »Österreich« Schwierigkeiten hatten, gehen die Kommentatoren der Zweiten Republik auf diese Problematik nicht mehr ein. Die geschichtliche Entwicklung hat zur Bejahung Österreichs und damit des Staatsnamens geführt. Die Festlegung der »Staatssprache« (Art. 8 B-VG) blieb aber. Das alte Österreich hat dies nicht gekannt. Die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, StGBl. Nr. 1, hat mit der Wiederherstellung der staatsrechtlichen Handlungsfähigkeit auch ein Bekenntnis zu Österreich normativ zum Ausdruck gebracht. Sie bestimmte, daß die demokratische Republik Österreich wiederhergestellt, »im Geiste der Ver226

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fassung von 1920 einzurichten ist« (Art. 1), und erklärte den im Jahr 1938 dem österreichischen Volk aufgezwungenen Anschluß für null und nichtig (Art. 2). Das Verfassungs-Überleitungsgesetz vom 1. Mai 1945, StGBl. Nr. 4, die vorläufige Verfassung vom 1. Mai 1945, StGBl. Nr. 5, und das Rechts-Überleitungsgesetz vom 1. Mai 1945, StGBl. Nr. 6, vor allem aber der Staatsvertrag von Wien, BGBl. N3. 152/1955, haben den Staatsnamen nicht nur national, sondern auch international bestätigt und bekräftigt. Dabei kann der erste Teil der Unabhängigkeitserklärung, dem der Verfassungsgerichtshof auch unmittelbare rechtsnormative Bedeutung beimißt, als eine Präambel zum Vollwirksamwerden des B-VG in der Zweiten Republik gedeutet werden. Sie wird ergänzt durch die Präambel des Staatsvertrages von Wien. So hat sich für das B-VG in der Zweiten Republik nicht nur der gesellschaftlich-geschichtliche Kontext, sondern auch der normative Text im Vergleich und im Verhältnis zur Ersten Republik entscheidend verändert. »… ist eine demokratische Republik« – Damit ist die Staatsform festgelegt. Wie schon in den vorhergehenden Verfassungen 1918 und 1919 ist damit der Monarchie eine Absage erteilt. Wie radikal diese zu werten ist, geht aus dem im Verfassungsrang rezipierten Gesetz vom 3. April 1919, StGBl. Nr. 219, betreffend die Landesverweisung und Übernahme des Vermögens des Hauses HabsburgLothringen, hervor. Danach sind alle Herrscherrechte und sonstigen Vorrechte des Hauses Habsburg-Lothringen sowie aller Mitglieder dieses Hauses Habsburg-Lothringen auf immerwährende Zeiten aufgehoben. Konsequent und diskriminierend schließt Art. 60 Abs. 3 B-VG Mitglieder regierender Häuser oder sonstiger Familien, die ehemals regiert haben, von der Wählbarkeit zum Bundespräsidenten aus. Auch das »Adelsaufhebungsgesetz«, StGBl. Nr. 211/1919, ist zu nennen. Schließlich dient auch Art. 10 Z 2 des Staatsvertrages von Wien der Republiksicherung, in dem Österreich verpflichtet wird, das Habsburgergesetz aufrechtzuerhalten. Der Kommentator des B-VG in der Zweiten Republik Kurt Ringhofer führt zu Art. 1 u. a. aus  : »… dieser Artikel bedeutet zunächst Selbstdarstellung des durch das B-VG konstituierten Staates  : Er versteht sich danach als res publica, als öffentliches Anliegen, und nicht etwa als Privatangelegenheit eines Herrscherhauses ...« oder irgendwelcher Parteien. Republik bedeutet mehr als die Verneinung der Monarchie. Sie erschöpft sich nicht im Abgehen von der erblichen Würde einer Staatsspitze, die geheiligt, unverletzlich und unverantwortlich war. Sie erschöpft sich auch nicht in der formalorganisatorischen Einrichtung und Funktion eines Staatsoberhauptes, 227

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das im Gegensatz zum Kaiser durch Wahl berufen wird, dessen Amt inhaltlich und zeitlich beschränkt ist und das rechtlich und politisch verantwortlich ist. Republik ist nicht nur »Nicht-Monarchie« und ein Gemeinwesen ohne erb­ liche Ämter und Gewalten. Das wirklich Neue ist die Gleichheit in der Freiheit der Zugänglichkeit aller Ämter und Verantwortlichkeit, Abberufbarkeit und Austauschbarkeit aller Amtsträger. Die Ämter sind begrenzt, insbesondere nach Gegenstand, Raum und Zeit. Vor allem René Marcic hat darauf hingewiesen, daß Republik mehr bedeutet als meist darunter verstanden wird. »Im Lichte seiner römischen Herkunft bedeutet Republik Rechtsstaat, seine qualifizierte Höchstform  : Verfassungsstaat, Volksstaat und Freistaat zugleich.« Er verstand Republik »ciceronisch« als »Gemeinwesen im Sinne einer innigen und lebendigen Rechtsgemeinschaft, wo sowohl der geistig-sittliche, wie der politische Kraftstrom von unten nach oben verläuft«. Auf jeder Stufe der Rechtserzeugung und Rechtsanwendung seien die Bürger zu beteiligen. Das mache den Unterschied zum Obrigkeitsstaat aus, wo die Regierung im Gegensatz zu ihren Objekten, den Untertanen, stehe. Dieser Dualismus »Obrigkeit – Untertanen« habe zugunsten eines genossenschaftlichbündischen und freien Gemeinwesens wegzufallen. Marcic meinte, daß in diesem Punkt das B-VG noch immer unerfüllt sei. Durch die lange Herrschaft des Obrigkeitssystems sei der Gegensatz Obrigkeit – Untertanen gewohnheitsmäßig im Volksbewußtsein eingewurzelt. Würde das B-VG hier erfüllt werden, so hätten einige Wege der Rechtssetzung eine Wandlung in demokratisch-republikanische Richtung zu vollziehen  : Das Polizeiverfahren, das Verwaltungsverfahren, das Gerichtsverfahren, das Gesetzgebungsverfahren. Dieser Sinn des Hauptwortes »Republik« wird durch das Eigenschaftswort »demokratische«, vor allem aber durch den Satz »Ihr Recht geht vom Volk aus« unterstützt. Indem Österreich als »demokratische Republik« gelten will, soll es nach der Formulierung Kurt Ringhofers »Sache ausnahmslos aller Österreicher sein«  : »Die Verfassung zu verwirklichen, auf ihrer Grundlage Recht zu erzeugen und zu vollziehen und auf diese Weise den Staat zu realisieren […] ist nach Art. 1 Aufgabe des gesamten Volkes  : ›Ihr Recht (sc. das der Republik Österreich) geht vom Volk aus‹ heißt nichts anderes, als daß prinzipiell jeder Österreicher  – in unterschiedlicher Art und Weise, jedenfalls aber als Wähler – in diesem Prozeß der Rechtskonkretisierung eingegliedert, insoweit mit Gemeinschaftsaufgaben

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betraut und also nicht bloß einzelner, sondern darüber hinaus  – im weitesten Sinn des Wortes – auch Staatsorgan, weil zur Realisierung des Staates berufen ist.«

Die Ämter und ihre Ordnung sind keine Res privata, sondern Res publica. Der einzelne muß sich daher als Teil und Träger des Ganzen verstehen, das die gemeinsame Sache aller und jedes ist. Das bedeutet auch, daß der Bürger selbst sich als souverän verstehen und seine Pflichten und Verantwortung als Souverän wahrnehmen muß. Indem eine Ordnung der Ämter festgelegt ist, die niemanden gehören, sondern jedermann anvertraut werden können, muß jeder vorbereitet sein, im Sinne des Gemeinwohls ein Amt zu übernehmen und dieses Vertrauen mit Verantwortlichkeit und im Hinblick auf das Gemeinwohl zu besorgen. Der Bürger darf sich selbst nicht nur als Privatmensch aktualisieren, er muß sich seiner selbst als jederzeit möglicher Amtsträger bewußt sein. Durch das Eigenschaftswort »demokratische« ist auch ausgeschlossen, daß die Republik Österreich eine aristokratische, eine Räterepublik oder sonst eine oligarchische Republik ist. »Ihr Recht geht vom Volk aus« – Der zweite Satz des Art. 1 ist ein Fundamentalsatz unserer Demokratie. Schon die Kommentatoren Kelsen, Froehlich und Merkl stellten allerdings fest, daß diese Deklaration in einem gewissen Widerspruch zu den in der übrigen Verfassung enthaltenen materiell-rechtlichen Bestimmungen steht, weil »das Recht nach den Bestimmungen der Verfassung grundsätzlich nicht unmittelbar durch das Volk gesetzt wird, sondern durch den Nationalrat und die Landtage«. Allerdings bedeutete die politische Entscheidung für die demokratische Republik im Licht der geschichtlichen Entwicklung nicht eine Entscheidung für eine Republik direktdemokratischer Prägung, sondern für eine Parlaments­ repu­blik. Das Volk ist zwar der ursprüngliche Träger der Herrschaft und wirkt auch in bestimmten Formen unmittelbar an der Staatswillensbildung mit, stattet aber in regelmäßigen, periodisch wiederkehrenden Wahlen Repräsentanten mit Vertrauen aus und zieht sie in diesen demokratischen Wahlen auch zur Verantwortung. Die Willensbildung des Volkes und die Staatswillensbildung durch die Verfassungsorgane fallen auseinander. Das Volk wird regelmäßig nur als Kreationsorgan und nur zusätzlich als Organ der unmittelbaren Staatswillensbildung tätig. Es mag sein, daß das »Volk« weitgehend mit Volksvertretung gleichgesetzt wurde, nachdem kurz vor der Entstehung der Bundesverfassung ein demokra229

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tisches Wahlrecht durchgesetzt worden war. Die Repräsentationsfiktion wurde zur Identifikationsfiktion hochstilisiert, wohl auch um dadurch eine höherwertige Legitimationsfunktion zu erreichen. Es handelt sich um eine der von Adolf Julius Merkl so genannten »Fiktionen der Demokratie«. 1920 hieß es tatsächlich noch im Art. 24 B-VG, daß »der vom ganzen Bundesvolk gewählte Nationalrat« gemeinsam mit dem von den Landtagen gewählten Bundesrat die Gesetzgebung des Bundes ausübt. Selbst wenn man davon ausgeht, »ihr Recht geht vom Volk aus« bedeute im Lichte der geschichtlichen Entwicklung (und Versteinerung), daß ein Parlament vorhanden sein und diese Volksvertretung in regelmäßigen, im voraus bestimmten Abständen durch demokratische Wahl zur Verantwortung gezogen und mit neuem Vertrauen ausgestattet werden muß, kann man den von den Kommentatoren aufgezeigten »gewissen Widerspruch« nicht ganz auflösen. Gerade weil in diesem Satz die Gewaltenterminologie beseitigt und durch eine reine Rechtsterminologie ersetzt worden ist, kommt dem Umfang und Inhalt der Teilnahme und Teilhabe der Bürger an der Erzeugung der Rechtsordnung besondere Bedeutung zu. Auch wenn man aus der Fassung »ihr Recht geht vom Volk aus« die Fassung »ihr Recht liegt beim Volk« machte, würde sich (wie im umgekehrten Fall der Weimarer Reichsverfassung mit der Staatsgewalt) nichts ändern. Den Kommentatoren war das bewußt. Deshalb bemerkten sie zu Art. 24 B-VG  : »Dieser Artikel berücksichtigt nur den Normalfall der Bundesgesetzgebung. Nicht in Betracht gezogen ist an dieser Stelle die unmittelbare Teilnahme des Bundesvolkes an der Gesetzgebung (Art. 41 und 43 bis 46). Gerade dieser Gedanke, daß das Volk die rechtschaffene Autorität ist, ist aber in Art. 1 an die Spitze der Verfassung gestellt.« Allerdings setzen sie gleich fort  : »Ihm wird dadurch Rechnung getragen, daß der Nationalrat als vom ganzen Bundesvolk gewählt ausdrücklich charakterisiert wird.« Die Ankündigung des Art. 1 wird also nach dieser Auffassung im Normalfall nicht oder nur annäherungsweise verifiziert. Wer ist nun »Volk« im Sinne des Abs. 2  ? Volk ist nicht die Gesamtheit aller Menschen, die auf dem Gebiet der Republik Österreich leben, sondern nur die Gesamtheit aller politisch vollberechtigten österreichischen Staatsbürger(-innen). Die Mehrheit der wahl- und stimmberechtigten Staatsbürger(-innen) und die Mehrheit der gewählten 230

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Volksvertreter(-innen) konkretisieren das »Ihr Recht geht vom Volk aus«. Aber definieren sie diese Formel  ? Für den »wissenden« Betrachter ist dieser Satz freilich durch die Wahl der Mitglieder des Nationalrates und der Landtage schon verwirklicht. Für den »unbefangenen« Betrachter löst sich der »gewisse Widerspruch« nicht auf, sondern beginnt wieder von neuem. Rechtsdogmatisch kann man also den Widerspruch mehrfach lösen  : Man spricht dem Satz jede Rechtsrelevanz ab, man setzt Volk mit den wahlberechtigten österreichischen Staatsbürgern gleich, versteht unter »vom Volk ausgehen« nur die Wahl und/oder setzt Volk mit den allgemeinen Vertretungskörpern gleich. Politisch löst sich der Widerspruch nicht auf. Wird das praktizierte repräsentativ-demokratische System politisch akzeptiert, dann hat der Satz zwar nur geringe politische Bedeutung. Besteht diese Akzeptanz aber nicht, wird er zur Provokation. Der Widerspruch des gesamten Repräsentativsystems zu Art. 1 B-VG wird bewußt, fördert und fordert politisches Konflikt- und Protestpotential. Der Widerspruch erzeugt Widerstand. Im Falle Hainburg wurde dieser »Widerstand in der rechtsstaatlichen Demokratie« praktiziert. Art. 1 B-VG ist in seiner Gesamtheit ein politisches Symbol. In ihm liegt die Erinnerung an den Kampf um Rechtsstaat, Demokratie und damit auch die Herausforderung, ständig ihre Lage zu reflektieren und ihre Weiterentwicklung zu initiieren. Österreich ist ja nicht deshalb demokratische Republik, deren Recht vom Volk ausgeht, weil Art. 1 B-VG das behauptet, sondern deswegen (oder besser  : nur dann, wenn), weil das Verfassungsrecht und darüber hinaus die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit diese Aussagen beweisen. Zu nennen sind insbesondere alle Bestimmungen, die Österreich zum »Grundrechtsstaat« und zur »Grundrechtsdemokratie« machen, die Mitwirkungsmöglichkeiten des Volkes an der Staatswillensbildung, die Kontrollen, aber auch die Regelungen über Parteien, Verbände und andere gesellschaftliche Formationen, Massenmedien und Öffentlichkeit überhaupt.

Schluss  : Art. 1 hat recht und macht Politik Selbst diejenigen, welche dem Art. 1 B-VG an und für sich keinen relevanten Rechtsinhalt zubilligen, ihn als unverbindliche Deklaration, unmaßgebliches Urteil oder weitgehend überflüssige Programmbestimmung werten, stellen fest, 231

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daß das demokratisch-republikanische Prinzip ein Strukturelement der verfassungsrechtlichen Grundordnung ist. Rechtsvorschriften, die zu dieser Grundordnung gehören, können nur durch ein gesamtänderndes Bundesverfassungsgesetz (Art. 44 Abs. 3 B-VG) erzeugt werden. Gemäß Art. 44 Abs. 3 B-VG ist die Abstimmung des gesamten Bundesvolkes zwingend vorgeschrieben. Art. 1 B-VG hat also selbst nach diesen Auffassungen insofern einen normativen Inhalt, als seine Abschaffung eine Änderung der verfassungsrechtlichen Grundordnung wäre und nur durch ein verfassungsänderndes Gesetz im vorgenannten Sinn erfolgen kann. »Die überragende politische Bedeutung des demokratisch-republikanischen Strukturelements rechtfertigt es, dieses als tragendes Konstruktionsprinzip zu bewerten, dessen Beseitigung eine Totaländerung der Bundesverfassung bedeuten, den Staat Österreich schlechthin zu einem anderen Staat machen würde. Eine solche ›Gesamtänderung‹ der Verfassung kann nicht allein von der Volksvertretung, sondern nur vom Volk selbst beschlossen werden …« Diese Worte Kurt Ringhofers gelten insbesondere für Art. 1, der ja das Wesentliche des Gemeinwesens in klassischer Kürze an die Spitze stellt. Adolf Julius Merkl hat in seiner »Verfassung der Republik Deutsch-Österreich« schon 1919 hinsichtlich solcher Sätze das noch heute herrschende Rechtsdenken zum Ausdruck gebracht. Andererseits stellte er fest, daß es einen guten Sinn hat, wenn die Verfassung vorweg richtunggebend die Staatsform proklamiert, worauf die Ausführungsgesetzgebung aus diesem Programm die einzelnen Verfassungseinrichtungen deduziert. Schließlich bemerkte er, daß noch mehr als auf juristischem Gebiet die Bedeutung eines solchen Gesetzesartikels auf politischem Gebiet liegt. In Juristenkreisen werde es allerdings mitunter verkannt, meist nicht entsprechend gewürdigt, daß der Beruf der Verfassungsgesetzgebung nicht ausschließlich und nicht immer der ist, Recht zu schaffen, sondern auch Politik zu machen. »Unser Gesetz und vor allem sein einleitender Artikel ist dazu geschaffen, an einem weltgeschichtlichen Wendepunkt große Politik zu machen.« Heute sind wir etwas nüchterner. Trotzdem sollte man nicht vom Bekenntnis des Art. 1 B-VG abgehen. Das Bekenntnis des ersten Satzes wird wohl von aller Rechtserkenntnis bejaht werden können. Soll man den zweiten Satz, den Kelsen formuliert hat und dessen totale Fiktionalität nach den Worten H. R. Klecatskys gleichwohl jenen von Anfang an über Jahrzehnte hinweg herausgefordert hat, eliminieren  ? 232

Art. 1 B-VG

So schön und gut H. R. Klecatskys Vorschlag ist, den Art. 1 B-VG wie folgt zu fassen  : »Das Recht der demokratischen Republik Österreich geht von der Würde des Menschen aus«, so ist es doch geschichtlich wahrer, den zweiten Satz des Art. 1 in seiner utopischen Formel und mit der Konsequenz des Widerspruches so zu belassen, wie er ist. In ihm ist die Würde des Menschen beschlossen. Und Hans Kelsen hat ihn formuliert.

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Der Staatsbürger zwischen Parlamentarismus und Präsidialismus (1993)

Unser Gemeinwesen war durch die Verfassung bis 1929 auf allen Ebenen als ein rein politisches Regierungssystem programmiert. Die Bundesverfassungs-Novelle 1929 hat dem Parlament auf Bundesebene einen volksgewählten Bundespräsidenten mit Befugnissen gegenübergestellt. Nach 1945 blieb dieses System bestehen. Aus verschiedenen Gründen etablierte sich auf allen Ebenen eine Zweiparteienherrschaft in Form einer Realverfassung, die sowohl die präsidialen Elemente als auch den Parlamentarismus überlagerte. Man sprach von einer bipolarisierten Parteiengesellschaft und im Hinblick auf SPÖ, ÖVP und FPÖ von einem »hinkenden« Dreiparteiensystem. Der Bundespräsident wird stärker In den letzten Jahren ist die Entwicklung der Parteienlandschaft durch eine »Erosion« der Großparteien und durch das Entstehen neuer Parteien charakterisiert. Die politische Landschaft hat sich verändert. Die Großen werden kleiner und es gibt mehr Kleine. Man spricht von »Normalisierung«. Das ist insofern richtig, als eine Verfassung der Freiheit mit einem Verhältniswahlsystem regelmäßig ein Vielparteiensystem zur Folge hat. Diese faktische Kraft des Normativen ersetzt nach und nach die Realverfassung von gestern. Diese war das Ergebnis der normativen Kraft der faktischen Macht der zwei Großparteien. Die »Zweiparteien-Herrschaft« war nicht wegen der Freiheiten und des Verhältniswahlsystems entstanden, sondern trotz dieser Rechtsnormen. Die Entwicklung der neuen Realverfassung teilt sich nach und nach den politischen Institutionen mit. Manche werden schwächer, manche stärker. Stärker wird durch diese Entwicklung der Bundespräsident. Insbesondere dann, wenn die führenden Parteien kleiner werden und sich kein Parteiführer auf eine ständige Mehrheit stützen kann. Es gibt dann nur mehr einen politischen Akteur, 235

Der Staatsbürger zwischen Parlamentarismus und Präsidialismus

der eine absolute Mehrheit hinter sich hat  ; es gibt nur mehr einen, der direkt demokratisch legitimiert ist und zumindest sechs Jahre lang stabil und sicher steht  : den Bundespräsidenten. Wenn der Amtsträger durch ein neues Rollenverständnis diese Aufwertung der Bundespräsidentschaft aktiv verwirklicht, so wird aus der politischen Nebenrolle eine Hauptrolle der Politik. Auf der obersten Ebene bereitet sich der Bundespräsident darauf vor. Sein politischer Aktionsradius ist größer geworden und er wird möglicherweise nach der Nationalratswahl noch größer werden. Während auf der Bundesebene der Weg zu einer parlamentarischen Präsidentschaftsrepublik sich einfach durch die Änderungen der Realbedingungen einspielt, wird hinsichtlich der Gemeinde- und Landesebenen eine Änderung der Rechtsbedingungen diskutiert. Auf diesen Ebenen sollten die exekutiven Spitzen direkt gewählt werden. Der alte politische Grundkonsens der indirekten Wahl der exekutiven Spitze auf allen politischen Ebenen besteht nicht mehr. Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, welches aufgrund der Bundesverfassung die Systemwidrigkeit des unmittelbar vom Volk gewählten Bürgermeisters festgestellt hat, soll durch eine Novellierung der Bundesverfassung überwunden werden. Diesbezüglich besteht ein großer politischer Konsens. Etwas anderes ist es bei der Direktwahl der Landeshauptmänner. Sie wird vor allem von Kreisen der ÖVP und der FPÖ gefordert. Allerdings sollte man von vornherein dieser »Präsidialisierung« eine Verstärkung der Landesparlamente gegenüberstellen. Der Erfahrung nach geht es weniger um mehr und bessere direkte Demokratie und Persönlichkeitswahlen als um mehr und bessere Kontrollen der Opposition und Minderheiten in den Parlamenten. Das gilt im übrigen auch für die Gemeinderäte. Jeder Präsidialisierung sollte eine Parlamentarisierung entsprechen, um Gewaltenteilung und Demokratisierung auf allen Ebenen vorwärtszubringen. Auch eine Direktwahl der Bürgermeister ? Schließlich wäre zu überlegen, ob man die Direktwahl der Bürgermeister und Landeshauptmänner einheitlich in der Bundesverfassung festlegt und dementsprechend auch mehr Kontrollen und Partizipation festlegt oder ob man die Präsidialisierung auf Gemeinde- und Landesebene den Ländern selbst überlässt. Im ersten Fall wäre auch darüber zu diskutieren, ob damit eine Gesamtänderung der Bundesverfassung verbunden ist oder nur eine Teiländerung. Eine Volksabstimmung wäre jedenfalls politisch zweckmäßig.

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Zur Lage des Parlaments (1994)

Eine grossartige Institution Der Parlamentarismus ist der erfolgreichste Weg der Demokratie. Wahlen von Repräsentanten durch das Volk und Erzeugung von allgemeinen Rechtsnormen durch diese Volksvertretung finden sich in allen Demokratien. Verfassungen legen diese Technik der Willensbildung des Staates fest. Sie »konstituieren« Demokratie als Partizipation des Volkes und als Legitimation des Staates in Gestalt des Parlamentarismus. Er hat sich sowohl zu verschiedenen Zeiten als auch in verschiedenen Ländern als besonders anpassungs- und entwicklungsfähig erwiesen. Das Parlament ist eine großartige politische Institution. Dies wahrscheinlich deshalb, weil es nicht auf einer Konstruktion beruht, sondern aufgrund jahrhundertelanger praktischer Erfahrung entstanden ist. Trotz dieses großen Erfolges und trotz dieser großen Tradition haben auf der ganzen Welt aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene allgemeine Vertretungskörper ihre Probleme. Parlamentskritik begleitet die Demokratie. Dabei wird in der Diskussion meist das Hauptaugenmerk auf den zentralen allgemeinen Vertretungskörper gelegt, den man mit dem Parlament schlechthin identifiziert. So ist es insbesondere in Österreich  : Der Nationalrat wird als das Parlament verstanden. Der Bundesrat schon weniger. Und noch weniger wird wahrgenommen, daß Föderalismus und Parlamentarismus in unserer Republik eine Verbindung miteinander eingegangen sind, so daß zehn Parlamente bestehen. Freilich sind die Probleme des Nationalrats auch die Probleme aller anderen Parlamente in Österreich. Daß dabei der eigentliche Wiener Parlamen­ tarismus am wenigsten wahrgenommen und diskutiert wird, obwohl hier zwei große allgemeine Vertretungskörper, der Gemeinderat und der Landtag bestehen, ist durch die besonderen Wiener Verhältnisse zu verstehen. Wenn vom Parlament in Wien die Rede ist, so ist damit eben der Nationalrat gemeint. Wenn vom unterentwickelten Wiener Parlamentarismus gesprochen 237

Zur Lage des Parlaments

wird, meint man Gemeinderat und Landtag der Bundeshauptstadt Wien. Der Nationalrat ist im Hinblick auf die formellen Kontroll- und Minderheitsrechte die fortgeschrittenste aller österreichischen Volksvertretungen. Das gilt auch für die Ausstattung mit personellen und sachlichen Erfordernissen. Schließlich gilt das auch in bezug auf die »neue Öffentlichkeit«.

»Neue Öffentlichkeit« und »Normalisierung« Mit »neuer Öffentlichkeit« sind hier nicht Parlamentskorrespondenz, Parlamentsjournalisten, die Beilage »Parlament« zur »Wiener Zeitung«, die Öffentlichkeitsarbeit des Parlaments gemeint. Damit ist vielmehr insbesondere die Öffnung für Kunst und Wissenschaft, für Künstler und Wissenschaftler, aber auch für die Jugend angesprochen. Wenn ein oberstes Organ sich gegenüber Wissenschaft und Kunst so öffnet wir der Nationalrat durch seine Präsidenten, hat das schon einige Bedeutung. Denn das Verhältnis von Politik und Politikern zu Wissenschaft und Kunst und umgekehrt ließ hierzulande zu wünschen übrig. Dabei verlangt die Architektur des Parlamentsgebäudes geradezu nach solchen Beziehungen. Ist diese Architektur der bauliche Ausdruck der konstitutionellen Monarchie, so sollten Kontakt und Kooperation zwischen Politik, Wissenschaft und Kunst der gesellschaftliche Ausdruck der demokratischen Republik sein. Im Parlamentsgebäude könnte eine gute Tradition entstehen. Über dieses Gebäude sagt sein Schöpfer Theophil Hansen  : »Denn so wie die Griechen die größte Entfaltung und höchste Vollendung der Kunst in ihren Tempeln verwirklicht haben, die Römer in den Foren, die spätere christliche Zeit in den Kirchen, so ist in unserer Zeit ein neues Moment hinzugekommen, auf das sich die Aufmerksamkeit der Völker konzentriert, das ist das Parlament.« Durch die neue Öffnung ist das Parlament offener geworden. Es ist aber vor allem durch die Vielfalt der Fraktionen lebendiger geworden. Hier zeigt sich jene »Normalisierung«, die man für das gesamte politische System diagnostiziert hat. Wir verstehen hier »Normalisierung« als faktische Kraft des Normativen  : Unter einer Verfassung der Freiheit haben demokratische Grundrechte und das Verhältniswahlsystem die faktische Folge einer Vielfalt von Parteien. Sie ist außerdem normativ durch das Parteiengesetz festgelegt. Wenn es lange Zeit in der Zweiten Republik ein Zweiparteiensystem gab, so war das nicht die faktische Kraft des Normativen, sondern die normative Kraft der faktischen Parteienherrschaft. Diese »Zweiparteienherrschaft« konnte sich 238

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trotz der Grundfreiheiten und des Verhältniswahlrechts etablieren, auch weil es das Volk so »wollte«. Sie war ein Beweis nicht nur »innerer Besatzungsmächte«, die man als normal und vielleicht sogar als normativ ansah. Wenn nun die Verfassung mit ihren Freiheiten und ihrem Verhältniswahlrecht auf allen Ebenen sich durchgesetzt und zur Vielfalt der Parteien geführt hat, so kann man das wohl als »Normalisierung« bezeichnen. Diese Normalisierungsdiagnose kann in besonderer Weise für den Nationalrat gestellt werden. Legitimation und Partizipation durch Proporzparlamentarismus tragen unsere Demokratie. Die fünf Fraktionen entsprechen der Pluralisierung der österreichischen Gesellschaft und sind Ausdruck ihrer Liberalisierung. Man kann also mit dem Parlament zufrieden sein. Fast könnte man wie weiland Professor Pangloss unsere Candids lehren, daß sie in der besten aller Welten oder zumindest in der für sie besten aller Zeiten leben. So ist es. Ist es so  ?

Postklassisches Parlament mit Rechten der konstitutionellen Monarchie Unser Parlament ist faktisch nicht mehr »klassisch«. Es hat parteien- und verbändedemokratische, leistungs- und verteilungsstaatliche Transformationen hinter sich. Republik und Parlament haben außerdem durch rund 2500 Staatsverträge und andere Verpflichtungen an »Souveränität« verloren. Öffentlichkeit ist schließlich zu einer selektiven Massenkommunikation geworden, die von den Massenmedien getragen wird. Aber unser Parlament ist mit wichtigen rechtlichen Regelungen in der konstitutionellen Monarchie und im Ordnungsstaat von gestern steckengeblieben. Heute wird anders und mehr regiert und verwaltet als früher. Der Staat ist zu einer unüberschaubaren Menge von großen, komplizierten und spezialisierten Verwaltungen geworden. Niemand kennt sie in ihrer Gesamtheit, niemand überblickt sie, nur punktuell und im nachhinein werden sie von außen kontrolliert. Seit Jahrzehnten wird daher dafür plädiert, daß das Parlament mehr und anders kontrollieren muß als früher. Träger dieser Kontrolle muß die Opposition sein. Es besteht schon lange nicht mehr das politische Spannungsverhältnis von »Parlament« (als Mehrheit) und Regierung, sondern von Opposition und Regierung. Trotzdem hat die österreichische Bundesverfassung noch immer nicht der Opposition die ihr in der Demokratie zustehende politische Rolle auch formell zugestanden. 239

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Aufgrund der tatsächlichen politischen Gesamtlage ergibt sich die verfassungsrechtliche Konsequenz, daß das Parlament zumindest in seinen Kontrollfunktionen »Oppositionskammer« werden muß. Kontrollrechte wir Frage-, Entschließungs-, Untersuchungsrecht, Geltendmachung der staatsrechtlichen Ministerverantwortlichkeit sollten zu ausschließlichen Rechten der Opposition werden. Kurz  : Die seit der demokratischen Republik eingespielte Gewaltenteilung zwischen Regierung und Opposition soll endlich voll »konstitutionalisiert« werden. Man könnte dabei auch ein »Anschlußrecht« der Regierungsmehrheit normieren, so daß das freie Mandat im Parlament auch hier mehr ins Spiel kommen kann.

Das Parlament muss endlich »Oppositionskammer« werden Opposition als Kontrolle ist keine Gefährdung der Demokratie und der Regierbarkeit. Sie ist Gewährleistung einer demokratischen Regierung. Wer das Ritual der Vergeblichkeit, das Theater der Rollenverteilung und die Machtdemonstrationen von Regierungsmehrheiten gegenüber der Opposition jahrzehntelang erlebt hat, weiß, wie demokratiepolitisch sinnlos Regelungen sind, welche die Regierungsmehrheit zur Kontrolle der Regierung ermächtigen und die Opposition letzten Ende ausschließen. Gerade weil mehr und mehr der Zweiparteienproporz im Parlament einem Pluralismus gewichen ist, ist die Zeit für eine konsequente Reform gekommen. Dies gilt erst recht, wenn die zwei Großparteien eine Art Dauerkoalition eingehen, wie es derzeit zu sein scheint. Freilich wird es immer die jeweilige Regierungsmehrheit sein, welche die bestehende Kontrolle (wonach die Mehrheit sich selber Fragen stellen kann, für sich selber Entschließungen faßt, für sich selber Untersuchungsausschüsse einsetzt und führt usw.) für ausreichend hält. Aber heute ist der Selbstdarstellung der Regierung im Parlament durch die Rechte der Mehrheit ein so großer Spielraum gegeben, daß etwa das Fragerecht praktisch zum Antwortrecht verkommen kann. Das tatsächliche Informations- und Publizitätsübergewicht und der Vorsprung der Regierungsspitzen außerhalb des Parlaments und in den Massenmedien sind so evident, daß auch Berichts- und Prioritätspflichten der Regierung gegenüber dem Parlament wenig ändern könnten. Parlament soll freilich auch Kompromiß sein. Eine kompromissarische Lösung, wonach nicht jede Minderheit alle parlamentarischen Kontrollen aus240

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üben kann, sondern bestimmte Kontrollen nur von der Opposition in ihrer Gesamtheit oder von qualifizierten Minderheiten wahrgenommen werden können, wäre zwar inkonsequent, vielleicht aber praktischer und durchsetzbarer. Es sollte bei der Parlamentsreform in Permanenz nicht nur um Minderheitsrechte im Parlament gehen, sondern um die Institutionalisierung der Opposition insgesamt. Trotz des Informations- und Entscheidungsübergewichts des »außer- und vorparlamentarischen Raumes« und trotz des Übergewichts der Regierungs-, Partei- und Verbändespitzen im besonderen stellen heute Politologen »Erosionen der Großparteien« fest. Sie können durch eine strukturelle Regierungskoa­ lition von SPÖ und ÖVP, welche immer wieder demoskopisch abgesichert, um nicht zu sagen legitimiert, wird, vielleicht teilweise abgewehrt werden. Gerade deshalb aber sollten die beiden Regierungsparteien »mehr Demokratie wagen«  : Sie sollten sich freimachen für eine Parlamentsreform, die durch Kontrollrechte die Opposition und damit das Parlament stark macht. Durch bestimmte Mehrheitsrechte kann die Regierung stabil genug bleiben. Alle Erfahrungen zeigen, daß die »innere Kontrolle« oder »Bereichsopposition« innerhalb der Regierung die parlamentarische Kontrolle nicht ersetzen, sondern nur bestenfalls ergänzen kann. Solange nicht eine konsequente Institutionalisierung der Opposition in Verfassung und Geschäftsordnung erfolgt ist, ist Parlamentsreform nur ein »Fortschreiben« des Status quo, aber kein »Fortschreiten«.

Das Parlament muss Sensorium der Öffentlichkeit sein Das Parlament hat in der letzten Zeit einen Ausbau seiner Hilfsdienste erfahren, der fortzusetzen ist. Ganz wesentlich wäre auch ein »Sprachdienst«. Denn unsere Gesetze sind nur mehr Experten und Spezialisten verständlich. Das Recht muß mehr Akzeptanz gewinnen. Die Gesetze wären außerdem viel mehr als bisher in ihrer Befolgung und Vollziehung zu beobachten. Leider wird diese Evaluation vom Parlament vernachlässigt. Aber gerade diese Arbeit ist heute notwendiger als je, um den Kreislauf des Rechts in allen seinen Erscheinungen zu verfolgen. Ständige Rückkoppelung zum Parlament ist vonnöten. Ambitionierte junge Kräfte an Verfassungsinstitutionen zu binden ist gerade bei einem pluralistisch gewordenen Parlament von besonderer Bedeutung. Diese neuen parlamentarischen Dienste sind als Kontaktdienste zur Bürokra241

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tie, zu Experten und Journalisten einerseits und zu Wahlkreisen und Bürgern andererseits auszubauen. Heute kommt es mehr denn je für die Volksvertreter darauf an, den Kontakt mit dem Volk und der Öffentlichkeit zu pflegen und ein Sensorium für die Bedürfnisse der Menschen und den Bedarf an Gemeinwohl zu entwickeln. Das Parlament als Sensorium der Öffentlichkeit und des Gemeinwohls verlangt organisatorische Neuerungen. Zu den Klubs, Ausschüssen, Kommissionen usw., also kollegialen Gliederungen des Parlaments, sollen individuelle hinzutreten. Es geht nicht nur um entscheidungsbevollmächtigte Ausschüsse und Abgeordnete, sondern auch um sog. Parlamentsbeauftragte. Die Parteien haben Bereichssprecher. Warum soll es solche Sprecher nicht für das Parlament geben  ? Die Vorsitzenden der Ausschüsse müssen sich im übrigen viel stärker in der Öffentlichkeit profilieren. Es gibt Ansätze dazu, aber noch immer ist unsere Republik, auch im parlamentarischen Bereich, eine »Staatsgesellschaft« und eine »Regierungsöffentlichkeit«. Jeder Ausschuß sollte überdies bestimmte Abgeordnete mit der Evaluation und Rückkoppelung beauftragen. Parlamentsbeauftragte von außen wären eine interessante Neuerung. Die Institution von Parlamentsbeauftragten als besondere Organe für besondere Aufgaben und für eine bestimmte Zeit empfiehlt sich. Das Parlament verkörpert als Volksvertretung das Höchstmaß an demokratischer Legitimation. Es ist in seiner Vielfalt als Kollegialorgan »mehr Volk« als direkt gewählte Organe der Vollziehung. Es widerspiegelt durch seine pluralistische Struktur die politischen Kräfteverhältnisse der österreichischen Gesellschaft. Trotzdem besteht die Gefahr, daß es durch direkt gewählte und/ oder »populäre« Organe der Vollziehung auf die Seite und in den Schatten gedrängt wird. Politik ist heute auch Showbusineß. Den meisten Parlamentariern liegt dieses Geschäft nicht. Schon den indirekt gewählten Bürgermeistern und Landeshauptmännern liegt es offensichtlich mehr. Wir wäre es erst bei direkt gewählten  ?

Das Parlament muss »repräsentativer« werden Trotzdem  : Das Parlament ist das Repräsentativorgan des Volkes. Aber wie repräsentativ ist es für das Volk  ? Setzt man das Volk mit Parteien, Verbänden, öffentlichem Dienst gleich, so ist das Parlament sehr repräsentativ, vielleicht zu repräsentativ. Aber für die Bevölkerung kann man es nicht als zufriedenstellend 242

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repräsentativ bezeichnen. Das gilt besonders für den Frauenanteil. Das neue Wahlrecht, das im Hinblick auf mehr Persönlichkeits- und weniger Parteienwahlrecht konzipiert ist, wird daran wahrscheinlich wenig ändern. Umso mehr müssen die Parteien bei der Kandidatenaufstellung selbst darauf Rücksicht nehmen. Die parteien-, verbände- und verwaltungsstaatlichen Transformationen des Parlaments haben vor allem die Parlamentarier verändert. So hat man nicht von ungefähr gesagt, daß die Lobbies bei uns im Parlament selbst sitzen. Gerade deshalb ist auch die Frage der Unvereinbarkeit von Ämtern neu zu diskutieren. Sie ist unsystematisch und inkonsequent gelöst. So können z. B. Verbandsfunktionäre aller Art Abgeordnete sein. Hochschulfunktionäre dagegen nicht. So werden öffentlich Bedienstete aller Art geradezu von der Verfassung für das Amt des Parlamentariers prädestiniert, Gewerkschafts- und Kammerangestellte sogar zweifach, ohne Kürzungen und bei bestem Service honoriert, während viele andere gesellschaftliche Bereiche fast chancenlos oder schlechter gestellt sind. Durch neue Unvereinbarkeiten könnte das Parlament auch repräsentativer und effektiver in seinen Kontrollen werden.

Parlamentarier sollen Vorbilder ohne Privilegien sein Für viele ist die Unverantwortlichkeit der Abgeordneten, die »Immunität«, unverständlich. Durch die Kontrolle der ganzen Öffentlichkeit, der Opposition und der Gerichte erübrigt sich wohl heute die außerberufliche Immunität. Und wenn die Opposition zu ihrer Konstitution und ihrem Recht käme, erübrigt sich auch die berufliche Immunität. Schon in den zwanziger Jahren sprach Hans Kelsen von einem ganz unzeitgemäßen Privileg. Auch die Unverantwortlichkeit gegenüber den Wählern ist im postklassischen Parlamentarismus neu zu diskutieren. Gerade die Gemeinwohlverpflichtung spricht zwar für die Unverantwortlichkeit im Sinne des freien Mandats. Bei der Länderkammer ist eine Abberufung aber vorstellbar. Das Persönlichkeitswahlrecht und die Direktwahl des Bundesrates sind möglicherweise Ansätze in eine neue Richtung. Damit ist die Persönlichkeit der Parlamentarier angesprochen. Die Vielfalt ihrer Funktionen kommt in den Massenmedien, insbesondere im Fernsehen zu kurz. Sie wird kaum je gewürdigt. Wer sich aber nicht in den Massenmedien entsprechend präsentieren kann, wird in seinen Wirkungs- und Anerkennungsmöglichkeiten reduziert. Die Öffentlichkeit von Ausschußsitzungen würde we243

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nig ändern. Kontakte zur Basis werden durch die Notwendigkeit der Kontakte zu Journalisten überlagert, ganz zu schweigen davon, daß der Erwerb von Fachkenntnissen für die Schaffung von guten Gesetzen in den verschiedenen Bereichen unter der Zeitknappheit und dem oft leeren Ritual der Parteitätigkeit leidet. Die Parteien müßten die Abgeordneten von manchem befreien, damit sie mehr und bessere Parlamentarier sein können. Auf ihre Art müssen die Parlamentarier selbst repräsentativer werden. Die Bevölkerung will von ihnen ein Vorbild. Es besteht immer die Erwartung besonderer Qualität. Schillers Satz »Die Welt wird alt und wird wieder jung, doch der Mensch hofft immer Verbesserung  !« gilt auch für das Parlament und seine Mitglieder. Nach meiner Vorstellung sollen die Parlamentarier besonders die klassischen Tugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Starkmut und Mäßigkeit repräsentieren. Sie sind nichts Besseres als das Volk, aber sie sollen eine bessere Welt glaubwürdig vertreten. Insofern müssen sie immer mehr Ideal- als Realpolitiker sein. »Zu was Besserm sind wir geboren  !«

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Präsidialismus oder Parlamentarismus  ? (1996) Demokratiepolitische Perspektiven

Parlamentarismus im Sinne der Bildung des maßgeblichen staatlichen Willens durch ein vom Volk gewähltes Kollegialorgan nach dem Mehrheitsprinzip hat sich fast weltweit durchgesetzt. Er ist auch wesentliches Element der modernen Demokratie, die nur als repräsentative, mittelbare, indirekte verwirklicht und verwirklichbar ist. Meist legen Verfassungen diese Technik der zentralen und allgemeinen Willensbildung des Staates ausdrücklich fest und normieren so repräsentative Demokratie als Partizipation des Volkes und Legitimation des Staates. Präsidialismus ist eine Sammelbezeichnung für Regierungsformen, die ein starkes republikanisches Staatsoberhaupt aufweisen. Das können demokratische, autokratische und sogar totalitäre Formen sein. Dabei wurde der Begriff des Staatsoberhauptes in der spätmittelalterlichen Staatslehre Europas gebildet, wo der Monarch als gottgewolltes Herrschaftswesen mit überirdischen Eigenschaften auftrat und den Staat repräsentierte. Aber auch die Anfänge der Theorie der Volkssouveränität finden sich in dieser Zeit, so daß ein ständiger Legitimationszwang für den Mo­narchen bestand. Zum Wesen des Staatsoberhauptes kommt man nur über den Weg des monarchischen Staatsrechtes. Dabei sind weniger typische Staatsoberhauptfunktionen, wie die Vertretung des Staates nach außen, Ernennungs-, Ehrungs- und Begnadigungsrechte, gemeint, sondern eine Reihe von Elementen, die gerade das Oberhaupt eines Gemeinwesens in europäischer Tradition prägen. Wesentlich ist der Gedanke eines allgemeinen Amtes, dessen Träger an eine höhere Ordnung gebunden und dementsprechend verantwortlich ist. Rechtsgebundenheit und Repräsentation des Ganzen gehören dazu. Erst die Theorie des Monarchenrechts und der Volkssouveränität transformierten diese Tradition. Die Theorie des Staatsoberhauptes in einer parlamentarischen Monarchie entwickelte sich in England und Frankreich. Der Monarch wurde hier zum »Pouvoir neutre«, zur zentralen Gewalt im Rahmen der Verfassung. Dieser 245

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Gedanke lebte noch in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik fort. Es gab aber auch die Idee, daß die Rolle des Staatspräsidenten sich nicht in der neutralen Oberaufsicht über die Verfassungsmäßigkeit des politischen Lebens erschöpfen solle, sondern daß er als aktiver Gestalter mit politischen Handlungsspielräumen auftreten müsse. Die Politikwissenschaft unterscheidet parlamentarische und präsidiale Regierungssysteme. Das parlamentarische Regierungssystem, das sogenannte Westminster-Modell, ist dadurch charakterisiert, daß die Regierung für ihr Entstehen oder zumindest für ihr Bestehen auf das Vertrauen der Volksvertretung angewiesen ist. Die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament ist der Kern dieses Systems. Trotz dieser parlamentarischen Verantwortlichkeit, ja gerade deswegen stehen Regierung und Parlament einander als oberste Staatsorgane gegenüber und üben relativ unabhängig voneinander die Gesetzgebung bzw. die Vollziehung aus. Insoweit besteht Gewaltentrennung. Das Parlament wirkt aber mehrfach an der Vollziehung und die Regierung wirkt mehrfach an der Gesetzgebung mit. Abgeordnete des Parlaments können Minister sein und umgekehrt. Die Aufteilung der Staatsfunktion ist mit der Teilnahme der einen an der anderen Staatsgewalt verbunden. Damit besteht bei formeller Gewaltentrennung im großen und ganzen Gewaltenverbindung in bestimmten Fällen und Formen. Indem die Mehrheitsparteien die Regierung tragen, werden Parlament und Regierung als Institutionen Teile einer Maschine, die von derselben politischen Kraft betrieben und zusammengehalten wird. In der Regel ist einer der Minister mit besonderen Rechten ausgestattet, insbesondere mit Vorschlag hinsichtlich der Bestellung der anderen und mit Vorsitz im Regierungskollegium. Dieser wird häufig als Regierungschef bezeichnet, auch wenn er kein weisungsberechtigter Vorgesetzter der Minister ist. Die Bestellung der Regierung kann dadurch erfolgen, daß die Volksvertreter den Regierungschef und die anderen Mitglieder der Regierung wählt, oder dadurch, daß ein Repräsentant der Partei, die über die Mehrheit der Parlamentssitze verfügt, als präsumptiver Regierungschef vom Staatsoberhaupt mit der Regierungsbildung betraut wird und die Ernennung der übrigen Mitglieder der Regierung vorschlägt. Die Regierung wird oft als exekutive Spitze des Parlaments bezeichnet, da ihre Mitglieder von den Parteien, die die parlamentarische Mehrheit innehaben, gestellt werden. Führende Politiker sind daher regelmäßig Regierungsmitglieder. Die Minderheit im Parlament hat Kontrollrechte gegenüber der Regierung und der Mehrheit. Aber auch die Mehrheit hat diese Kontrollrechte, wodurch 246

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sich Ungleichheiten ergeben, die eine effiziente Opposition unmöglich machen können. Bei Mehrheitswahlrecht ist die Opposition als Schattenkabinett die alternative Regierung. Bei Proporzwahlrecht kann es wechselnde oder strukturelle Koalitionen und Oppositionen geben. Das parlamentarische Regierungssystem weist eine große Bandbreite in seinen Ausgestaltungen auf. Daher gibt es ein unterschiedliches und wechselndes Zusammenwirken und gegenseitiges Abhängigsein von Exekutive und Legislative. Zu dieser gegenseitigen Abhängigkeit gehören das Recht der Parlamentsauflösung und das Mißtrauensvotum. »Wie im Arsenal der Interorgan-Kontrolle das Mißtrauensvotum die stärkste Waffe des Parlaments gegenüber dem Kabinett ist, so ist das Recht der Regierung zur Auflösung des Parlaments und zur Ausschreibung von Neuwahlen der gleichgewichtige Gegenschachzug gegenüber dem Parlament. Innerhalb des Rahmens des echten Parlamentarismus gehören diese beiden Mittel zumindest seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen wie Hand und Handschuh. Um diese beiden Einrichtungen kreist die Dynamik der politischen Macht. Seit dem Aufkommen der Massendemokratie ist die logische Folge des Mißtrauensvotums die Auflösung des Parlaments, um die schiedsrichterliche Entscheidung des höchsten Machtträgers, der Wählerschaft, zwischen dem Kabinett und der feindlichen Parlamentsmehrheit herbeizuführen […] Diese ultima ratio kommt jedoch in den parlamentarischen Staaten selten zum Zug. […] Das Institut des Auflösungsrechts als solches stellt den Kern der Machtdynamik im parlamentarischen Staate dar. Seine bloße Existenz macht das Kabinett stark, sein Fehlen schwächt es.« (K. Loewenstein, Verfassungslehre2, Tübingen 1959, S. 85 bzw. 217 f.)

Wesentlich ist Loewensteins Hinweis auf die Bedeutung der politischen Parteien im System  : »Ob auf der Grundlage gegenseitiger Abhängigkeit durch Integration oder gegenseitiger Abhängigkeit durch Koordination geführt, der Angelpunkt des Machtprozesses liegt in der Abhängigkeit des Parlaments wie der Regierung von der Haltung der Parteien« (a.a.O., S. 195).

Die meisten der rund 200 Staaten der Welt sind Republiken. Fast alle Republiken haben als Staatsoberhäupter Präsidenten und viele davon wiederum starke 247

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Präsidenten. Meist sind es Einzelpersonen, es gibt aber auch Personenmehrheiten, die als Kollegium das Amt des Staatsoberhauptes während eines durch die Verfassung festgelegten Zeitraumes innehaben und das Amt durch Wahl erlangen. Dazu gehören etwas das Präsidium des Obersten Sowjets der ehemaligen Sowjetunion. Der Präsidialismus im Sinne einer sogenannten Präsidialdemokratie oder Präsidentschaftsrepublik ist aber dadurch gekennzeichnet, daß die vollziehende Gewalt einem Präsidenten übertragen ist, der meist unmittelbar durch das Volk gewählt wird und unabhängig gegenüber der Volksvertretung agiert und umgekehrt. Im Gegensatz zum parlamentarischen Regierungssystem besteht eine strikte und konsequente Trennung zwischen vollziehender und legislativer Gewalt. Nach dem US-Modell wird die oberste Vollziehung, die Exekutive, von einem einzelnen ausgeübt  : Der Präsident ist Staatsoberhaupt, Regierungs- und Verwaltungschef, militärischer Oberbefehlshaber, oft auch Parteiführer. Alle anderen Träger der Vollziehung sind ihm gegenüber weisungsgebunden und verantwortlich. Weder er noch sie können dem Parlament angehören. Minister sind ihm verantwortlich und werden vom ihm bestellt und entlassen. Es gibt kein Parlamentsauflösungsrecht der Exekutive und kein Mißtrauensvotum der Legislative. Gleichwohl gibt es Interorgankontrolle  : Gegenüber dem Parlament wirkt der Präsident als Gegengewicht und Kontrolle, indem er das Recht hat, gegen Gesetzesbeschlüsse ein Veto einzulegen, usw. Umgekehrt bedarf der Präsident zur Ernennung von Verwaltungsleitern und Richtern der Zustimmung des Senats. Das hier anhand der US-Verfassung skizzierte Präsidialsystem vermittelt der exekutiven Spitze eine umfassende verfassungsrechtliche Position im Bereich der Verwaltung. Mehr als andere Amtsträger hat der Präsident die Nation zu repräsentieren, und zwar nach außen und nach innen. Im internationalen Verkehr mißt die internationale Gemeinschaft Nationen an ihren höchsten Repräsentanten, nach innen soll der Präsident die Wertewelt des jeweiligen Staates verkörpern und integrieren. Der Präsidialismus kommt auch in nichtdemokratischen Staaten vor. Er hat ja meist auch gewisse autoritäre Elemente in sich und in den Begriff des Präsidenten ist zum Teil auch monarchisches Erbe eingegangen. Zwischen den beiden Weltkriegen haben sich verschiedene autoritäre Regierungsformen entwickelt, die vor allem auf die Unfähigkeit der politischen Parteien und des mit ihnen verbundenen parlamentarischen Systems zurückgingen, eine effiziente Regierung zu schaffen. Man hat sie schlagwortartig als »Neo-Präsidialismus« (Loewenstein) bezeichnet. Es handelte sich im wesentlichen um Krisenerschei248

Präsidialismus oder Parlamentarismus  ?

nungen und Übergänge auf dem Weg vom demokratischen Staat zur Autokratie oder umgekehrt. Auch neue Demokratien der Gegenwart, die autoritäre und/ oder totalitäre Staaten ablösten, haben Vorlieben für starke Präsidenten und seinen Vorrang vor den anderen Staatsgewalten. In vielen Ländern der sogenannten »dritten Welt« und in Südostasien ist die Gesellschaft vielfach hierarchisch strukturiert und es gibt eine Tradition des Führertums. Die moderne Institution des Präsidenten tritt so an die Stelle traditioneller politischer Rollen. Auch die Entkolonialisierung hat eine Reihe von Führungspersönlichkeiten hervorgebracht, die in den meisten Fällen ein Präsidentenamt führten. Diese Führer waren oft charismatische Persönlichkeiten  ; in vielen Fällen brachte auch ihre militärische Karriere sie in entscheidende Positionen. Nachdem sie als Führer der Nation installiert waren, sorgte das Medienbild für das fehlende Charisma. Im Gegensatz zum komplexen parlamentarischen Regierungssystem mit seinen vielen Variationen ist der Präsidialismus ein einfaches Grundmodell. Es erlaubt eine Führungspersönlichkeit mit den notwendigen Vollmachten auszustatten. In vielen Fällen war die Wahl einer Präsidialrepublik eine bloße Legitimationsstrategie, vor allem in Ländern im Einflußbereich der USA. Ein wichtiger Grund liegt auch im hohen Prestige und Status dieser Funktion. Für europäische Demokratien ist die Tendenz zum Präsidialismus eher in den negativen Erfahrungen mit der jeweiligen Ausprägung des parlamentarischen Regierungssystems begründet. Das war in Frankreich der Fall, gilt aber auch für das heutige Polen. Starke Präsidenten treten auch häufig dort auf, wo es gilt, junge Staaten in der Staatengemeinschaft zu vertreten oder besondere außenpolitische Strategien durchzusetzen (H. G. Heinrich, Informationen zur politischen Bildung 10/1996, S. 19 ff.). Die Präsidialfunktion ist oft auch in parlamentarische Regierungssysteme eingebaut. Es ist allerdings schwierig, die verschiedenen Erscheinungsformen auf einen Generalnenner zu bringen. Man spricht von zweigeteilter oder bipolarer Exekutive (Präsident und Regierung), Dual- und Trialstruktur (Präsident, Regierung als Minister, Regierung als Kollegium). So kann es durch ein eigenes Präsidentenamt neben dem Regierungschef, den Ministern und dem Ministerkollegium unter dem Vorsitz des Regierungschefs zu einer ausgeprägten Gewaltenteilung auf der Staatsspitze kommen, so daß man geradezu von einer pluralistischen Regierungsform oder Pluralstruktur sprechen kann. »Der Möglichkeiten sind viele, beginnend mit dem rein ›ornamentalen‹ Charakter des Präsidialamtes, sodann folgend der Fall, daß der Präsident den Staat nach

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innen integriert und nach außen repräsentiert und endend mit derjenigen Ausgestaltung, wo der Präsident tatsächlich an der Regierungsführung beteiligt ist, die sonst beim parlamentarischen Regierungssystem einem speziell eingesetzten Organ (Regierung, Kabinett, Ministerpräsident) obliegt. Jedoch ist für den parlamentarischen Staat die Präsidialfunktion keineswegs unentbehrlich« (K. Loewenstein, Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen 1961, S.  334 f.; vgl. auch F. Koja, Allgemeine Staatslehre, Wien 1993, S. 250 ff.).

Parlamentarische Präsidentschaftsdemokratie oder parlamentarische Demokratie mit präsidialem Einschlag ? Österreich hat eine originelle Mischung von Parlamentarismus und Präsidialismus, die in der Verfassung 1920 i. d. F. 1929 ihren rechtlichen Rahmen gefunden hat. Pointiert formuliert  : Eine parlamentarische Demokratie setzte 1929 ein volksgewähltes Staatsoberhaupt in Richtung Präsidentschaftsrepublik in Bewegung, setzte ihm aber auch solche Schranken, daß ein parlamentarisches Regierungssystem weiter besteht. Die provisorischen Verfassungen 1918 und 1919 haben sich bewußt von der Monarchie distanziert. Auch die definitive Verfassung, das B-VG 1920, hat sich systematisch und konsequent vom Kaiserstaat abgesetzt  : Art. 1 B-VG bringt die Volkssouveränität besonders zum Ausdruck  ; wegen einer solchen Inartikulation wurde 1849 in Kremsier das erste frei gewählte Parlament von Kaiser Franz Joseph nach Hause geschickt und die März-Verfassung oktroyiert. In den Schlußbestimmungen hat das B-VG die Habsburger-Gesetze rezipiert. So sind Anfang und Ende der Verfassung antimonarchistisch und antihabsburgisch. Vor allem aber in der Entpersonalisierung der Staatsmacht in allen Staatsfunktionen kommt die Gegenbewegung zur Monarchie zum Ausdruck, war doch nach der Verfassung 1867 der Kaiser von Gottes Gnaden Träger aller Staatsfunktionen und »geheiligt, unverletzlich und unverantwortlich«. Der von der Sozialdemokratie an sich abgelehnte Bundespräsident wurde nach dem B-VG 1920 von der Bundesversammlung, dem Kollegium aus Nationalrat und Bundesrat, auf vier Jahre gewählt und besaß viele Einzelzuständigkeiten, aber keine Machtfunktionen. Überdies durften und dürfen Mitglieder regierender Häuser oder ehemals regierender Häuser nicht als Präsidenten kandidieren. Die Amtsperiode fiel mit derjenigen des Parlaments zusammen und der Bundespräsident war für die Ausübung seiner Funktionen der Bundes250

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versammlung verantwortlich. Durch die Bindung der gesamten Vollziehung an Verfassung und Gesetz und die umfassende Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde die Entpersonalisierung und Rationalisierung der Staatsmacht konsequent durchgeführt. Durch die Verfassungsnovelle 1929 sollte zwar kein Ersatzkaiser eingeführt werden, wohl aber die Autorität des Staates gesteigert und der Bundespräsident zum zweiten Zentrum der demokratischen Republik werden. Die Volkswahl steigerte seine demokratische Legitimation, die Ernennung und die Entlassung der Regierung seine politische Partizipation. Durch diese Änderungen wurde eine Angleichung an Deutschlands Regierungssystem vollzogen. Die Republik Österreich wurde im System der Regierung der Weimarer Republik nachgebildet. 1945 wurde in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April der »Geist der Verfassung von 1920« beschworen. Damit wurde auch ein anderer Geist übernommen. Das ist insofern bemerkenswert, als sich ja Deutschland nach 1945 von der Weimarer Lösung bewußt und konsequent abwendete. Norbert Leser nimmt an, daß hier  – wie bei vielem  – Karl Renner maßgebend war, der Bundespräsident mit einer starken Funktion werden wollte. Vielleicht dachte er auch an die Möglichkeiten, die seinem Lager in der Folge durch den Bundespräsidenten offenstanden. Renner ging auch in die imperiale Hofburg und beendete damit das »Untermieterdasein« des Bundespräsidenten im Bundeskanzleramt, das sich in der Ersten Republik etabliert hatte. Obwohl sich Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre nach 1945 in Deutschland intensiv mit dem Weimarer Modell auseinandersetzten und über seine Widersprüche aufklärten, hat man in Österreich nie daran gedacht, unser  – diesem Modell nachgebildetes  – präsidialparlamentarisches System zu revidieren. Unter dem »Quasikollektivprotektorat« der vier Mächte war das verständlich. Aber auch nach 1955 gab es nur vereinzelt von Theoretikern Kritik an diesem System. Überwiegend wurde die »Normalisierung« im Sinne des »Parteien- und Kammerstaates« kritisiert, aber nicht die heterogenen Elemente des Regierungssystems. Die politischen Praktiker waren im allgemeinen damit zufrieden. Hauptvertreter der deutschen Politikwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wie Ernst Fraenkel, Carlo Schmid, Ferdinand A. Hermens und seine Schüler, insbesondere Karl-Heinz Naßmacher, haben diese Konstruktion besonders negativ bewertet. Ernst Fraenkel stellte fest, die Väter der Weimarer Verfassung hätten den Gefahren der Vorherrschaft des Parlaments entgehen und eine »wahre« Par251

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lamentsregierung einrichten wollen. Die Inkorporierung des »echten« Parlamentarismus mit dem volksgewählten Staatsoberhaupt als Gegenspieler sei aber den vulgärdemokratischen Unterströmungen, die auf der Linken, und den antidemokratischen Unterströmungen, die auf der Rechten lebendig gewesen seien, entgegengekommen. Man sei von einem unrealistischen einheitlichen Volkswillen ausgegangen und habe das Parteiwesen und den pluralistischen Charakter der Gesellschaft verkannt. Diese Verkennung der gesellschaftlichen Realität habe zu einer Diskreditierung der politischen Parteien und zu einer Erschütterung der parlamentarischen Autorität geführt. Da die Weimarer Verfassung der Antwort auf die Frage, ob die Republik ein Parteienstaat sein solle, ausgewichen sei, habe sie eine politische Schizophrenie erzeugt. Die Weimarer Republik habe an einem Geburtsfehler gelitten, an dem sie zugrunde gegangen sei (E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Opladen 1964, S. 71 ff.). Carlo Schmid stellte fest, daß die Schöpfer der Weimarer Verfassung davon ausgegangen seien, daß an der Spitze des Staates eine starke Macht stehen müsse, und zwar umso stärker, je stärker die Rechte des Parlaments seien. Darum habe man den Reichspräsidenten mit besonderer Autorität ausstatten wollen. Diese sollte er mittels direkter Wahl durch das Volk erhalten und nicht durch das Parlament. So konnte er sich ebenso auf eine direkte demokratische Legitimation wie das vom Volk gewählte Parlament berufen. Sicher einer der verhängnisvollsten Fehler der Weimarer Verfassung. Diese Fehler zeigen an den konkreten Beispielen der Folgen, wie oft gerade das Gute, das man anstrebt, das Böse, das man nicht will, möglich macht (C. Schmid, Politik und Geist, Stuttgart 1964, S. 32). Karl Loewenstein bezeichnete die Weimarer Lösung als »Quadratur des Zirkels zwischen westlichem Parlamentarismus und amerikanischem Präsidialismus«. Dem traditionellen Parlamentarismus, der den Deutschen völlig unbekannt gewesen sei, habe man einen vom Volk gewählten Präsidenten aufgepfropft. Dieser von Regierung und Parlament unabhängige Machtträger sei als Gegengewicht zu dem vom Volk gewählten Reichstag und der von seiner Mehrheit getragenen Regierung gedacht gewesen. Diese Widersprüche hätten zu verhängnisvollen Fehlentwicklungen des Machtprozesses geführt. Von Anfang an sei für einen autoritären Präsidialismus der »dolus eventualis« vorhanden gewesen. Die Konsequenzen des plebiszitären Präsidialismus seien also zwar nicht erwünscht gewesen, wohl aber in Kauf genommen worden. Man habe allerdings die Auswirkungen des Verhältniswahlrechts, jenes unfehl252

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baren Mittels demokratischen Selbstmords, im Hinblick auf die Parteienstruktur und die damit verbundene Vervielfältigung der Parteien und Verminderung der Regierungsfähigkeit noch nicht gewollt. Der Glaube, man könne sich gegenseitig ausschließende Regierungsformen miteinander verbinden, sei aber der Weg in den Untergang gewesen. »Man wollte ein Gleichgewicht zwischen einem machtvollen, aber nicht souveränen Reichstag und einem nicht minder machtvollen Präsidenten, der aber dabei ›politisch neutral‹ sein sollte. Ein Konflikt sollte dann vom Volk auf Anruf eines Streitteiles entschieden werden. Dieser mechanistischen Auffassung entsprach eine Reihe von Gewichten und Gegengewichten, um Volk, Parlament und Regierung an der Ausübung der politischen Macht zu beteiligen. Weimar war wohl die komplizierteste Verfassungsmaschinerie, die man sich denken kann, und sie wurde dadurch nicht einfacher, daß sie auf eine Territorialordnung aufgepfropft war, die nicht mehr echt föderalistisch und noch nicht eindeutig unitarisch war« (K. Loewenstein, Verfassungslehre2, Tübingen 1959, S. 385).

Wie nach dem B-VG bedurfte der Kanzler des Vertrauens des Parlaments. Ein politischer Konflikt zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit konnte durch die Auflösung entschieden werden. Der Kanzler bedurfte aber wie nach dem B-VG auch des fortdauernden Vertrauens des Präsidenten. »Hier wirkte die Tradition der konstitutionellen Monarchie entscheidend nach. Der Reichspräsident, der vom Volk auf Dauer von sieben Jahren gewählt war, wurde als das stabilisierende Gegengewicht gegen den von den Parteien beherrschten Reichstag gedacht, dem man nicht vollkommen traute, weil man die Courage nicht hatte. Man stellte sich eine dynamische Demokratie mit zwei Zentren vor, dem Parlament und dem Präsidenten, die, beide demokratisch bestellt, auch gleichermaßen machtvoll sein wollten und sollten« (a.a.O.).

Die Wiederwahl des Reichspräsidenten war wie nach dem B-VG möglich. Nicht so sehr aufgrund der Verfassung, sondern als Folge von Imponderabilien gewann der an sich starke Präsident ein besonderes Gewicht in Krisenzeiten. Er war ein unabhängiges, plebiszitär legitimiertes Machtzentrum. Er war auch unabhängig von der Regierung. Darin sah Loewenstein die zweite Fehlkonstruktion. Der Präsident konnte den Kanzler ernennen und entlassen. Der Präsident konnte den Kanzler jederzeit entlassen, und zwar selbst dann, wenn dieser das 253

Präsidialismus oder Parlamentarismus  ?

Vertrauen des Parlaments nicht eingebüßt hatte. Dies wertete Loewenstein als unüberbrückbaren Widerspruch zu den Grundregeln des richtig verstandenen Parlamentarismus. Er erinnerte an den Fall des Reichskanzlers Dr. Brüning und daran, daß die Auflösung des Parlaments von einer Regierungs- zu einer Präsidialfunktion wurde. Der Präsident handhabte sie nach freiem Ermessen. Bereits vor dem Fall Brüning war die Auflösung einem Kanzler versagt worden  ; nachher wurde sie zweimal von Papen gewährt mit dem Zweck, sich die Parlamentsmehrheit zu beschaffen, obwohl etwa neun Zehntel des Parlaments gegen die Regierung waren. Auch von Schleicher wurde die Auflösung versagt, Hitler aber wurde sie vom Reichspräsidenten gewährt. Nach Loewenstein war die Auflösung zur Waffe des Präsidenten gegen Parlamentsmehrheiten geworden. Sie sei nur im Interesse von Kabinetten benutzt worden, die nichts hinter sich hatten als das präsidiale Vertrauen. Das sogenannte Präsidialkabinett, das dem kaiserlichen Kabinett vor 1918 wie ein Ei dem anderen glich, habe sich über den lästigen Reichstag hinweggesetzt und mit Hilfe des berüchtigten Art. 48 regiert. Daß der Reichstag nicht zweimal aus dem gleichen Anlaß aufgelöst werden durfte, sei bestenfalls eine Lex imperfecta gewesen. »Dazu kam noch die Waffe eines Reichspräsidenten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, Grundrechte außer Kraft zu setzen und alle angemessenen Maßnahmen einschließlich der Gesetzgebung ergreifen zu können. Daß der Reichstag die Maßnahmen nachher aufheben konnte, die ihm ja vorzulegen waren, war bedeutungslos, da es ja bei einem arbeitsfähigen Reichstag überhaupt nicht zu Anwendung des Art. 48 gekommen wäre« (a.a.O.).

Diese Kritiken kann man auf Österreich übertragen. Allerdings nicht ganz. Abgesehen davon, daß der Bundespräsident nicht von Anfang an mit Machtbefugnissen ausgestattet war, sondern erst durch die Novelle 1929 dem Weimarer Reichspräsidenten angenähert wurde, hat er auch nach der Novelle nicht die Unabhängigkeit und Stärke des Reichspräsidenten erlangt. Verfassungsrechtlich besteht ein wichtiger Unterschied. Art. 50 der Weimarer Reichsverfassung band die Akte des Reichspräsidenten nicht an den Vorschlag der Regierung, sondern nur an die Gegenzeichnung durch den Kanzler oder den zuständigen Minister. Dagegen erfolgen gemäß Art. 67 Abs. 1 B-VG alle Akte des Bundespräsidenten, soweit nicht verfassungsmäßig anderes bestimmt ist, auf Vorschlag der Bundesregierung oder des von ihr ermächtigten Bundesministers. Allerdings kann durch das freie Ernennungs- und Entlassungsrecht des Bundesprä254

Präsidialismus oder Parlamentarismus  ?

sidenten letzten Endes auch eine vorschlagswillige Regierung gefunden werden. Aber das politische System Österreichs hat sich anders entwickelt, als man hätte befürchten können. Lange hat auch das Herrschaftssystem der zwei Großparteien nach 1945 die Widersprüche der Verfassung zugedeckt. Die politischen Institutionen haben in diesem System eine relativ geringe selbständige Rolle gespielt. Trotzdem hat in den sechziger Jahren der Staatsrechtslehrer und Politikwissenschaftler Gustav E. Kafka (Wort und Wahrheit 1962, S. 609) auf »Baufehler unserer Bundesverfassung« hingewiesen. Anton Pelinka und ich sind ihm gefolgt und haben die »Strukturdefekte« des Regierungssystems im B-VG aufgedeckt  : Ein Proporzwahlsystem sei mit einem System der Gewaltenverbindung von Parlament und Regierung nach britischem Muster verbunden und in diese Kombination ein volksgewähltes Staatsoberhaupt eingebaut, das in seinem Verhältnis zum Parlament der Weimarer Reichsverfassung nachgebildet sei. Unsere Sanierungsvorschläge zielten auf Einführung eines mehrheitsfördernden Wahlrechts oder Mehrheitswahlrechts mit Schwächung des Bundespräsidenten. Die Wahlerfolge Kreiskys, dem es gelang, trotz des Proporzwahlrechtes absolute Mehrheiten zu erzielen, haben unsere Analyse in »Demokratie und Verfassung in Österreich« (Wien 1971) nicht öffentlich bewußt werden lassen. Die Problematik unseres – aus heterogenen Elementen zusammengesetzten – Regierungssystems wurde erst in den letzten Jahren bewußt, als infolge des Verhältniswahlrechts ein Mehrparteiensystem entstanden war und der Bundespräsident seine Rolle aktiver ins Spiel brachte. Die derzeitige Kombination von aufeinander nicht abgestimmten Elementen im Regierungssystem, insbesondere die von parlamentarischen und präsidialen Komponenten, kann immer wieder Lähmung im Regierungsprozeß ergeben. Führungskonkurrenzen von Kanzler, Vizekanzler und Bundespräsident sind im B-VG angelegt. Die institutionalisierten Konfliktmöglichkeiten lassen sich zwar durch kommunikative Praxis überwinden. Es besteht aber immer die Gefahr, daß die präsidialen Elemente eine Eigenbewegung annehmen und die parlamentarischen den Bewegungsgesetzen der jeweiligen Parteigremien folgen. Die Mischkulanz der Elemente verlangt eine besondere Gesprächskultur und auch eine gewisse Sympathie der Träger der obersten Organe der Vollziehung füreinander. Das Proporzwahlrecht zersplittert, die Einstimmigkeitsregel in der Regierung zwingt zu Kompromissen in Permanenz. Die Mischung von präsidialen, Ressort-, Kollegial- und Kanzlerelementen funktioniert nur dann, wenn alle 255

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beteiligten Amtswalter gern und gut zusammenarbeiten wollen und können. Als in der Ära Kreisky alle Amtsträger des vielgliedrigen Systems der obersten Vollziehung des Bundes Vertrauensleute des Kanzlers waren, ging die Reformpolitik in Wien – und anderes kann Regieren heute nicht mehr sein – besser vor sich als in London. Aber diese Zeiten kommen nicht wieder. Trotzdem steht jede Regierung unter ungeheurem Entscheidungs- und Konsensdruck. Im Wahlkampf kann man scharfe Konfrontationen und Richtungskämpfe austragen. Beim Regieren muß man sich zusammensetzen, um sich auseinanderzusetzen und doch zusammenzuarbeiten. Das komplizierte Regierungssystem verlangt eine besondere Geduld und Ausdauer der Beteiligten, weil nur eine Übereinstimmung aller Amtsträger und ein Ausgleich zur Entscheidung führen. Gerade dort, wo es Konzepte mit Konsequenzen geben soll, gerade dort, wo energisch Reformpolitik betrieben werden soll, gerade dort, wo es rasch und zweckmäßig zugehen soll, ist alles auf Kooperation, Konsens sowie Inter- und Intraorgankontrollen ausgerichtet.

Österreich zwischen Parlamentarismus und Präsidialismus ? Die B-VG-Novelle 1929 sollte nach Absicht ihrer Initiatoren aus einer radikal und konsequent parlamentarischen Demokratie eine präsidiale machen. In den parlamentarischen Verhandlungen gelang es aber den Sozialdemokraten der Initiative die Spitzen abzuschleifen, ohne ihr die Spitze zu nehmen. Der ausgehandelte Kompromiß brachte ein gemischtes System  : Je nach Sichtweise überwiegen im Text der Verfassung die parlamentarischen oder die präsidialen Elemente. Deshalb bezeichneten die Vertreter der bürgerlichen Regierungsparteien bei Beschluß der Novelle dieses gemischte System als »Präsidentschaftsrepublik« und »gewaltentrennende Demokratie«, die sozialdemokratische Opposition sprach hingegen vom »Wortspiel der Präsidentschaftsrepublik« und hob die parlamentarischen Konstanten hervor, wozu vor allem die Vorschlagsgebundenheit aller Akte des Präsidenten, die Gegenzeichnung, die Möglichkeit des parlamentarischen Mißtrauensvotums gegenüber der Regierung, aber auch die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Regierung und Bundespräsident gehören, wonach die Generalklausel für jene spricht und dieser nur in bestimmten, taxativ aufgezählten Fällen zuständig ist. Diese Konstanten bilden die wichtigste Grundlage dafür, daß das Regierungssystem a potiori und a posteriori als parlamentarisches qualifiziert werden muß. Trotzdem wird die Verfassung oft 256

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als »Suchbild« betrachtet. Je nach Einstellung entdeckt man in diesem »Vexierbild« mehr »Präsidiales« oder mehr »Parlamentarisches«. Schauen wir uns den Text mit präsidialer Brille an, so fällt uns der Bundespräsident durch seine Bestellung, seine Sonderstellung, seine vielen Aufgaben und durch seine besonderen politischen Befugnisse auf. Er erlangt als einziges Organ der obersten Vollziehung durch unmittelbare Volkswahl eine besondere demokratische Legitimation. Er ernennt ohne Vorschlag den Bundeskanzler und über dessen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung und die Staatssekretäre. Er ist aber an den Vorschlag des Kanzlers nicht gebunden. Er kann also von sich aus auch Einfluß auf die Zusammensetzung der Regierung ausüben. Kurz  : Er kann Regierungspersonalpolitik machen. Er kann auf die Regierungserklärung einwirken. Da er den Kanzler und die gesamte Regierung jederzeit entlassen kann, müssen sie ständig von seinem Vertrauen getragen sein. Damit kann er der Regierung auch die Richtung vorgeben und sie ständig kontrollieren. Die Regierung braucht für ihr Entstehen kein Vertrauensvotum des Parlaments. Dieses kann der Regierung erst nach der Ernennung das Vertrauen versagen, worauf sie zu entheben ist. Allerdings kann der Bundespräsident über Vorschlag der Regierung schon vorher oder gleichzeitig den Nationalrat auflösen. Der Bundespräsident vertritt die Republik nach außen. Damit ist er ermächtigt, durch Abgabe rechtsverbindlicher Erklärungen oder Akte nach außen aufzutreten. Das bedeutet die Möglichkeit der Mitwirkung in der Außenpolitik. Er ist zwar bei fast allen Akten an Vorschlag und Gegenzeichnung gebunden, aber er kann ja durchaus willige Regierungen suchen und finden. Schauen wir uns die Bundesverfassung »parlamentarisch« an, so ist die Regie­rung aufgrund der Notwendigkeit längerfristigen parlamentarischen Vertrauens geradezu die exekutive Spitze des Nationalrates  : Sie ist ihm politisch und rechtlich verantwortlich  ; Minister- und Abgeordnetenamt sind vereinbar, das Abgeordnetenamt lebt sogar auf für einen enthobenen Minister, der es bei seiner Ernennung aufgegeben hat  ; das System ist auf Gewaltenverbindung ausgerichtet. Die Parlamentsauflösung über Vorschlag der Regierung gehört wie das Mißtrauensvotum zum Instrumentarium eines parlamentarischen Regierungssystems  ; im Zweifel sind die Bundesminister für eine Angelegenheit und einen Akt zuständig, während die Aufgaben des Bundespräsidenten erschöpfend aufgezählt sind. Alle seine Akte bedürfen – von Ausnahmen abgesehen – des Vorschlages und der Gegenzeichnung  : Er ist ein unselbständiges Staatsoberhaupt, das voll und ganz in das parlamentarische System integriert ist. 257

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Wie bei allen Rechtstexten kommt es hier auch auf den gesellschaftlichen Kontext an, in diesem Zusammenhang vor allem auf das Parteiensystem und die politische Kultur. Ihre Konventionen hat das Regierungssystem im großen und ganzen als parlamentarisches weiterentwickelt. So findet nach einer Konvention die Regierungsbildung im Anschluß an die Nationalratswahlen statt (und nicht im Anschluß an die Präsidentschaftswahlen)  ; so beauftragt der Bundespräsident den Chef der mandatsstärksten Partei mit der Regierungsbildung, ohne sich dabei einzumischen  ; so akzeptiert er im allgemeinen die Ministerliste usw. Auf die Regierungserklärung nimmt er keinen Einfluß. Diese in der Zweiten Republik entstandenen Konventionen der Regierungsbildung und Regierungsführung werden im großen und ganzen eingehalten. Anders ist es mit der »Haltung der Zurückhaltung« im Sinne einer Reserveautorität. Der Bundespräsident tritt in der Öffentlichkeit stärker hervor und auf als je zuvor. Wien ist nicht Weimar. Die Republik Österreich ist nicht die Weimarer Republik. Aber Österreich hat sich verändert. Die Bindung an die früheren großen politischen Lager löste sich auf. Die Konzentration auf zwei Parteien ist vorbei. Ein Fünfparteiensystem eigener Art ist entstanden. Wer von »Normalisierung« spricht, hat recht  : Eine Verfassung mit einem Verhältniswahlrecht hat regelmäßig mehrere Parteien zur Folge. Die Verfassung hat in einer neuen Gesellschaft zu einer neuen politischen Realität geführt. Sie teilt sich nach und nach den politischen Institutionen mit. Manche werden schwächer, manche stärker. Das Parlament ist durch das Pentagon der Parteien offener und lebendiger geworden. Es partizipiert mehr als früher an der neuen Öffentlichkeit. In mancher Hinsicht lebt der Parlamentarismus neu auf. Aber auch der Bundespräsident kann durch die neue Entwicklung ohne Verfassungsänderung stärker werden. Wenn die regierenden Parteien sukzessive kleiner werden, sich kein Parteiführer auf die Mehrheit stützen kann, die Koalitionsführer zu wenig »leadership« entwickeln, dann kann der Bundespräsident vom ruhenden Pol zum dynamischen Element werden. Sein Amt kann sich von einer Nebenrolle zu einer Hauptrolle im politischen Prozeß wandeln. Der derzeit amtierende Bundespräsident wurde 1992 mit 57 Prozent Stimmenmehrheit gewählt und hat mit der Berufung auf seine Legitimation politische Kompetenzen beansprucht. Er wollte zwar kein »Zwischenrufer in der Tagespolitik« werden, aber stark und aktiv. Er bereitete sich darauf vor und beanspruchte eine andere Verfassungsverwirklichung als seine Vorgänger. Andere Akteure der Politik ließen aber diesen verfassungsrechtlich möglichen Rollenwandel nicht zu oder bremsten ihn. Es war nicht nur der Kanzler, 258

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der gegen eine Veränderung der Art »Aktivkönig wird Passivkönig«, »Passivkönig wird Aktivkönig« war und ist. Seine mandatsstärkste Partei hat gegen den aktiven Bundespräsidenten mobil gemacht. Vertreter der SPÖ, insbesondere ihre Klubobmänner, sprachen sich wiederholt gegen ein »(Hinein-)Regieren« des Bundespräsidenten aus. Auch von der ÖVP, deren Kandidat er war, wurde er nicht immer und bei jedem Versuch unterstützt. Grundsätzlich trägt sie aber das neue präsidiale Amtverständnis mit. Abgesehen von den Freiheit­ lichen waren die Oppositionsparteien vehement gegen den Rollenwandel. Es steht also parteimäßig drei zu zwei für den Parlamentarismus, mehrheitsfähig eher für den Präsidenten. Gegen die Stärkung der Befugnisse des Bundespräsidenten bildete sich eine sogenannte »Ampelkoalition«. SPÖ-Grüne-Liberale formierten sich vehement gegen den Bundespräsidenten und waren für eine Schwächung seiner Kompetenzen bis hin zur Abschaffung. Der Widerstand gegen den Rollenwandel und erst recht gegen einen Rollentausch hat so unterschiedliche Gruppen zur Antipräsidentenkoalition gemacht. ÖVP und Freiheitliche ihrerseits formierten keine Koalition für den Bundespräsidenten. Die Freiheitlichen allein sind für eine große Aufwertung, wonach der Bundespräsident gewissermaßen zum volksgewählten Ministerpräsidenten mit Richtlinienbefugnis werden soll. Auch in der Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre besteht keine einheitliche Vorstellung einer verfassungsrechtlich anderen Republik. Die einen wie Öhlinger, Pelinka und Welan sind für eine Schwächung des Bundespräsidenten bis hin zur Abschaffung, wobei das Parlament und auch die Regierung aufgewertet werden sollen, andere wie Koja, Leser und Winkler treten für einen Rollenwandel, wie ihn Klestil versuchte, und eine Aufwertung des Bundespräsidenten ein, manche wie Brünner plädieren für die Aufwertung mit konsequenter Gewaltentrennung zwischen Präsident und Regierung einerseits und Parlament andererseits. Die Massenmedien sind aus unterschiedlichen Gründen eher für das bestehende Recht, wenn auch mit unterschiedlicher Realisierung durch den Bundespräsidenten. Meinungsbefragungen haben ergeben, daß nur eine Minderheit der Bevölkerung für eine Mehrung seiner Möglichkeiten ist. Man will ihn eher zum »Repräsentieren als zum Regieren«. Das alles heißt freilich nicht, daß der Bundespräsident nicht von seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Befugnissen Gebrauch machen darf. Es ist aber offensichtlich, daß ihn manches zurückhält, manches sogar hindert. Er kann viel, ob er aber ein »Kann mit neuen Qualitäten« (Nenning) wird, kann derzeit bezweifelt werden. Bisher hat der Bundespräsident durch Rufe und 259

Präsidialismus oder Parlamentarismus  ?

Zwischenrufe in der Außenpolitik da und dort gepunktet, durch seine Amtsführung auch auf einigen Gebieten der Innenpolitik, so hinsichtlich der Staatspersonalpolitik im Schul- und Justizbereich. Er hat das Sparpaket im Zuge der Regierungsbildung unterstützt, aber es wurde nicht bekannt, daß er dabei auf weniger Minister und Staatssekretäre Wert gelegt hat. Manche hätten diese politische Symbolik des Sparens bei der Regierung erwartet. Man erwartet Signale vom Bundespräsidenten. Auch wenn er in Reserve steht für den »Fall«, insbesondere den Fall der Regierung, muß er in Bereitschaft sein. Noch sind wir von einem Präsidialismus weit entfernt. Die Bundesverfassung läßt unbstrittenermaßen einen aktiveren Bundespräsidenten zu. Es scheint aber so zu sein, daß die Versuche des Bundespräsidenten, aktiver und dynamischer zu werden, als Gegenbewegung den Parlamentarismus stärker werden ließen. Die Wirklichkeit ist nach Johann Nestroy immer das schönste Zeugnis für die Möglichkeit. Die Möglichkeiten des Parlaments gegenüber dem Bundespräsidenten werden im Fluß der neuen Wirklichkeit sichtbarer als früher. Das ging bis hin zur Kürzung seiner Kompetenzen. Es wurden aber auch Möglichkeiten des Bundespräsidenten bewußt. Die österreichische Mischkulanz von Parlamentarismus und Präsidialismus hat sich hinter dem immer dünner werdenden Koalitionsschleier sehen lassen. Das parlamentarische Regierungssystem mit präsidialem Einschlag ermöglicht präsidiale Ausschläge.

»Demokratiereform« an der Spitze ? Das B-VG enthält ein aus unterschiedlichen Elementen zusammengesetztes Bundesregierungssystem. Es besteht in mehrfacher Hinsicht ein »Sowohl-Alsauch«  : So stehen zwar die Elemente eines parlamentarischen Regierungssystems aufgrund der Systementscheidung der Bundesverfassungsgesetzgebung, vor allem im Lichte der Praxis, im Vordergrund  ; es bestehen aber auch Elemente eines präsidentiellen Regierungssystems. Das System der Gewaltenteilung von Gesetzgebung und Vollziehung ist mit einem System der Gewaltenverbindung von Parlament und Regierung kombiniert und erinnert einerseits an die konstitutionelle Monarchie, andererseits an ein Regierungssystem britischer Art. Die repräsentativ-demokratischen Komponenten stehen zwar im Vordergrund, es gibt aber auch direktdemokratische Komponenten, wie Volksbegehren, Volksabstimmung und Volksbefragung. Das Verhältniswahlsystem und andere Elemente des Proporzes sind mit einem differenzierten Majorzsystem im Par260

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lament und mit einem konsequenten Konsenssystem in der Bundesregierung (Einstimmigkeit) verbunden. In der Regierung im engeren Sinn überwiegt das Ressortprinzip vor dem Kollegialitätsprinzip  ; im Sinne der Befugnisse des Bundeskanzlers ist das Kanz­ ler(Präsidial)prinzip rechtlich am schwächsten ausgebildet. Aus Art. 69 Abs. 1 B-VG und Art. 77 B-VG leuchtet das Ressort- oder Ministerialprinzip so hervor, daß man von einer »Ministerrepublik« oder »Ministerdemokratie« sprechen kann. Von der unüberschaubaren Menge von obersten Geschäften der Bundesverwaltung ist der weitaus größte Teil den Bundesministern übertragen, die sie selbständig, unabhängig sowie eigen- und alleinverantwortlich zu besorgen haben. Der Bundeskanzler ist in diesem Zusammenhang einer von vielen und nur durch seine Vorschlagsrechte zur Ernennung und Entlassung und durch die Vorsitzrechte in der Regierung Primus inter pares. Seine Stellung hängt von seiner Mehrheit im Parlament, von der Zusammensetzung der Regierung, von seiner Stellung in seiner Partei, Realität und Imponderabilien so ab, daß sie nicht ein für allemal zu fixieren ist. Rechtlich ist seine Stellung relativ schwach. Auch seine Koordinationskompetenz gibt nur beschränkte Möglichkeiten. Der Bundesregierung als Kollegium kommen nur jene Aufgaben zu, die ihr durch das B-VG oder andere Rechtsnormen ausdrücklich als solche übertragen sind. Im Zweifel sind für eine Angelegenheit Bundesminister zuständig. Der Bundespräsident steht abseits von der großen Masse und Menge der Verwaltungsangelegenheiten. Im Bundesministeriengesetz kommt er nicht vor. Die Präsidentschaftskanzlei hat im wesentlichen nur im Bundesfinanzgesetz eine Rechtsgrundlage. Das B-VG weist ihm viele, aber bestimmte Agenden und im großen und ganzen nur Teilzuständigkeiten der obersten Bundesverwaltung ausdrücklich zu. Diese sind durch das B-VG und andere Bundesgesetze taxativ aufgezählt. Seine Zuständigkeiten sind daher im Verhältnis zur Regierung nach dem alten Grundsatz »taxativ, ergo limitativ« eher restriktiv als extensiv auszulegen. Alles, was im Bereich der Bundesverwaltung zu geschehen hat, ist in Form einer Generalklausel als Kompetenzbereich der Bundesminister einzeln oder in ihrer Gesamtheit als Bundesregierung umschrieben. Die Kompetenzabgrenzung zwischen Regierung und Präsident wird nicht nur formal – nach der Methode der Abgrenzung –, sondern ebenso materiell – nach dem Inhalt der Agenden – durch das Verhältnis von Regel und Ausnahme gekennzeichnet (vgl. K. Ringhofer, Die österreichische Bundesverfassung, Wien 1977, S. 222 f.). Die Regel spricht für die Regierung, und zwar für die Minister. 261

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Indem der Bundeskanzler Vorschlagender in bezug auf Ernennung und Entlassung der anderen Mitglieder der Bundesregierung ist, sind diese zunächst dem Kanzler und erst mittelbar über ihn dem Bundespräsidenten politisch verantwortlich. Daraus kann auch eine Informationspriorität des Bundeskanzlers und ein Kontrollrecht vor dem Bundespräsidenten abgeleitet werden. Aber insgesamt und rechtlich gesehen ist das Verhältnis der Mitglieder der Bundesregierung zum Bundeskanzler in jeder Hinsicht das der Gleichordnung und nicht das der Über- und Unterordnung. Es besteht auch kein Über- bzw. Unterordnungsverhältnis im Verhältnis der Mitglieder der Bundesregierung zum Bundespräsidenten. Die Berufung oder Abberufung eines Staatsorgans durch ein anderes ist für die Frage der Überund Unterordnung des einen unter das andere rechtlich irrelevant. Das gilt auch für das Vorschlags- und Gegenzeichnungsrecht in bezug auf diese Akte oder in bezug auf alle Akte eines Staatsorgans schlechthin. Auf Bundesebene besteht also ein überaus kompliziertes System der wechselseitigen Abhängigkeiten der obersten Organe. Die Möglichkeiten der Inter- und Intraorgankontrollen und die damit verbundene Gewaltenverbindung und -trennung sind im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spitze getrieben. Die Organe der obersten Verwaltung können sich leicht blockieren. Man kann freilich sagen, daß die Verfassung von der zumindest grundsätzlichen politischen Homogenität der obersten Organe, insbesondere von Bundeskanzler und Bundespräsident, ausgeht, und damit ein harmonisches Zusam­menwirken und eine Integration durch Koordination und Kooperation im Bereich der obersten Vollziehung erwartet. Mit der Zersplitterung des Parteiensystem in die Richtung eines ungleichen politischen Pentagons und mit den Spannungen innerhalb der Regierungsparteien sowie zwischen Präsident und Kanzler können das Parlament und das politische Leben spannender werden, die Regierbarkeit der Republik im Bundesbereich und nach außen ist aber schwieriger geworden. Die erschwerte Regierbarkeit verführt zum Wechseln von Allianzen, sie führt aber nicht zu gut vorbereiteten Konzepten mit Konsequenzen. So sind Veränderungen in der Politik leichter möglich, die Politik der Veränderung ist aber mühsamer geworden. Ende der 60er, anfangs der 70er Jahre, als die zwei Großparteien fast die ganze Wählerschaft auf sich vereinigten, wäre es staatspolitisch sinnvoll gewesen, ein mehrheitsförderndes Wahlrecht in Österreich einzuführen und damit die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems zu verbessern. Doch die Plädoyers für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht blieben erfolglos. 262

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Hermann Withalm war einer der wenigen in der ÖVP, der diesen Schritt in die Richtung des britischen Regimes befürwortete, die SPÖ aber vollzog unter Führung Kreiskys den Schritt in die andere Richtung. Sie verfeinerte das Proportionalwahlrecht, vor allem um der FPÖ die Existenz im Nationalrat zu sichern. Gustav E. Kafka (Wort und Wahrheit 1962, S.  609) folgend, haben damals eine Reihe jüngerer Staatsrechtslehrer und Politologen diese politische Grundsatzentscheidung als Schritt in die falsche Richtung qualifiziert. Erst recht läßt sich heute mit Norbert Leser fragen, ob die Weichenstellung zugunsten eines Kleinparteien begünstigenden Wahlrechtes eine weise und richtige war, und es muß mit ihm auch gefragt werden, ob die Autoren der Verfassung 1920, wenn sie – im Besitze unserer Erfahrungen – in die Lage kämen, eine Verfassung zu entwerfen, die nämliche Entscheidung träfen. Heute ist der Zug abgefahren. Die größeren Parteien sind für das Proportionalwahlrecht, um nicht wesentlich kleiner zu werden, die kleineren Parteien sind dafür, weil es ihnen mehr Möglichkeiten verschafft. Es dürfte auch den Demokratie- und Gerechtigkeitsvorstellungen der Wählerschaft mehr entsprechen als das Mehrheitswahlrecht nach britischem, nach französischem oder alt­ österreichischem Muster. Mit Norbert Leser bin ich allerdings der Auffassung, daß die Funktionsfähigkeit einer Regierung als höherer Wert betrachtet werden kann als eine abstrakte Gerechtigkeit, welche Stabilität gefährdet und Reformen erschwert. Wir werden also mit der Polyphonie vorlauter Solisten der obersten Verwaltung weiter leben müssen. Das vielgliedrige und im Ablauf schwerfällige System Bundespräsident, Bundesminister als solche, Bundesminister in ihrer Gesamtheit als Bundesregierung unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers, Einstimmigkeit in der Bundesregierung, Vorschlags- und Gegenzeichnungsgebundenheit aller Akte des Bundespräsidenten ist unter dem Blickwinkel der Regierbarkeit fragwürdig. Die Pluralstruktur der obersten Vollziehung bedeutet Gefahr der Konfusion und Verantwortungsdiffusion. Dort, wo Prioritätensetzung, Konzeption, Koordination und Konsequenz die Regel sein sollten, können sie aufgrund des Institutionengefüges und der Ablauforganisation der Funktionen zur Ausnahme werden. Durch Zuständigkeitsverstreuung kommt es zur Entpersonalisierung der Regierung und zur Diffusion der Verantwortlichkeit. Ob diese Entpersonalisierung der Regierungsmacht deren Rationalisierung bedeutet, ist zu bezweifeln. Hamilton hat in den »Federalist Papers« Nr. 70 unter anderem ausgeführt  :

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»Eine energische Exekutive ist eines der Hauptmerkmale einer guten Regierung […] eine schwache Exekutive bedeutet eine schwache Ausübung der Regierung, eine schwache Ausübung der Regierung bedeutet eine schlechte Ausübung und eine schlechte Ausübung ist eine schlechte Regierung.«

Unsere obersten Organe der Vollziehung können aufgrund der Verfassungsstruktur nur unter bestimmten Umständen stark sein. Umso mehr aber sollten die Reformvorschläge diskutiert werden, welche die Regierungsfähigkeit betreffen. Dabei sollte man ihnen nicht von vornherein Parlamentarismusgegnerschaft oder gar Demokratiefeindlichkeit unterstellen, sondern nach Diskussion kritisch dazu Stellung nehmen. Hier werden einige Vorschläge kurz vorgestellt. Der bekannteste ist der der Freiheitlichen unter Führung Jörg Haiders. In der Schriftenreihe des Freiheitlichen Forums 4 »Weil das Land sich ändern muß  ! Auf dem Weg in die dritte Republik« (Wien 1994, S. 21 ff.) wird ausgehend vom Wandel der österreichischen Gesellschaft u. a. festgestellt  : »Der dynamische Entwicklungsprozeß dieser Umbruchsphase kontrastiert zum politischen und rechtlichen Inventar des Staates mit seinen starren und zum Teil überholten Ausformungen, die sich als österreichisches Spezifikum weitgehend als extrakonstitutionelle Machtzentren und Einrichtungen, zumeist ohne demokratische Legitimation, zu einer Realverfassung verfestigten. Derartige nebenkonstitutionelle Machtzentren sind beispielsweise die Parteien und ihre Vorfelder, die Sozialpartnerschaft, die Paritätische Kommission für Lohn- und Preisfragen, die Landeshauptleutekonferenz, die Landesfinanzreferentenkonferenz, die Landesamtsdirektorenkonferenz u. a.«

Demgegenüber wird als Ziel eine fundamentale Staatserneuerung angestrebt. Sie soll mit einer Totalreform des Verfassungsrechts erreicht werden, wobei grundsätzlich dem Wahl- vor dem Ernennungsprinzip der Vorrang eingeräumt wird. Demnach sollte nicht nur an der Volkswahl des Bundespräsidenten festgehalten werden, sondern es sollten neben den allgemeinen Vertretungskörpern auch die obersten Organe der Verwaltung wie Landeshauptmänner und Bürgermeister durch direkte Volkswahl bestellt werden. Die Wahl der Bezirkshauptmänner wird nicht direkt angesprochen. Zur Reform der obersten Verwaltung des Bundes wird vor allem vorgeschlagen, daß der Bundespräsident aufgewertet wird  : Er sollte den Vorsitz im Mini­sterrat führen, ohne daß er einem eigenen Ressort vorstehen darf. Ferner 264

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sollte er mit einer Richtlinienkompetenz für die Bundesregierung  – gemeint sind offenbar alle Mitglieder der Bundesregierung – ausgestattet werden. Der Bundespräsident sollte dem Wahlvolk und dem Parlament gemeinsam politisch und rechtlich verantwortlich sein, weshalb sowohl für die Anklage vor dem Verfassungsgerichtshof wie auch für die Einleitung einer Volksabstimmung zur Absetzung qualifizierte Beschlußquoren in beiden Kammern des Parlaments erforderlich sein sollten. Die Absetzung sollte wie bisher durch das Bundesvolk erfolgen. Der Bundeskanzler sei abzuschaffen, da er ja bei dieser Neukonstruktion entbehrlich sei. Die Bundesminister bilden unter dem Vorsitz des Bundespräsidenten die Bundesregierung. Ihre Zahl sei durch Verfassungsbestimmung festzulegen, wie dies hinsichtlich der Zahl der Mitglieder der Landesregierung in einzelnen Landesverfassungen der Fall sei. Sie werden nicht mehr durch den Bundespräsidenten ernannt, sondern über Vorschlag von Abgeordneten vom Nationalrat gewählt. Die Art der Wahl wird nicht konkretisiert. Sie sind nur mehr dem Nationalrat und nicht mehr dem Bundespräsidenten politisch verantwortlich. (Ob er sie dann noch kontrollieren könnte, ist fraglich.) Jeder Bundesminister habe aufgrund einer ausdrücklichen Verfassungsbestimmung zumindest ein Ressort zu führen. Das Beistellen von Staatssekretären ist nur in der Form gestattet, daß leitende Beamte des jeweiligen Bundesministeriums eine solche unselbständige Regierungsfunktion ausüben. Im übrigen wird eine Unvereinbarkeit zwischen den obersten Organen der Vollziehung und der Zugehörigkeit zum Parlament verlangt. Die Freiheitlichen treten aber nicht nur für diese Aufwertung des Bundespräsidenten ein, sondern befürworten gleichzeitig eine Verstärkung der direkten Demokratie auf allen Ebenen. Betrachtet man ihre Vorschläge insgesamt, so zielen sie auf eine Art Mischung von deutsch-französischem und schweizerischem Regierungsmodell. Die Richtlinienkompetenz kommt vom deutschen Kanzler, der Vorsitz im Mini­sterrat vom französischen Präsidenten. Die Vorschläge sind ein großer Schritt zur Gewaltentrennung im Verhältnis von Exekutive und Legislative bei Beibehaltung, ja Verstärkung der politischen Verantwortlichkeit der Organe der obersten Exekutive gegenüber dem Parlament. Im einzelnen ist wesentlich, daß der Bundespräsident zum Ministerpräsidenten mit Richtlinien-, aber ohne Ressortkompetenz werden soll. Eine grundlegende Schwäche in diesem Vorschlag ist die Wahl der Bundes­ minister durch den Nationalrat über Vorschlag von Abgeordneten, wobei über 265

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den Ablauf dieses Vorgangs nichts gesagt wird. Werden sie nach Proporz gewählt, ist die Regierung noch heterogener als jetzt. Ist aber der Majorz maßgebend, kann der Bundespräsident einer Mehrheit von Bundesministern vorstehen, gegen die ihm auch seine Richtlinienkompetenz nichts nützt. Er hat kein Entlassungsrecht mehr und damit auch keine politische Kontrolle. Es ist fraglich, ob die Regierungsfähigkeit durch dieses System größer würde. Denn die Einheitlichkeit der obersten Exekutive ist bei diesem System nur bei parteimäßig homogener Mehrheit von Bundespräsident und Bundesregierung im Parlament wie bei Chirac in Frankreich möglich. Nur ausnahmsweise ist sie über die Richtlinienkompetenz des Bundespräsidenten herstellbar, wobei ihm aber das Druckmittel der Entlassung abhanden gekommen ist. Die Forderung nach einer umfassenden Verfassungsreform unter dem Motto »Dritte Republik« wurde in den 80er Jahren schon von der Steirischen Volkspartei gestellt. Sie ging damals davon aus, daß die Republik als Kleinstaat es sich nicht leisten könne, daß die eine politische Hälfte ständig ohne und über die andere regiere. Unser Land brauche eine Zusammenarbeit der großen politischen Kräfte, und zwar eine Regierung der Besten. Im Sinne der Personalisierung der Politik und einer längerfristigen, vorausschauenden Konzeption solle aber der Bundespräsident als Institution gestärkt werden, wobei auch an den Vorsitz im Ministerrat gedacht war. Gleichzeitig seien aber die parlamentarische Kontrolle und die direkte Demokratie zu stärken. So entstünde Raum für ein Gegengewicht bei Sammlung der besten Kräfte in einer Konzentrations­ regierung (B. Schilcher, Die Furche v. 13. Februar 1985, S. 2  ; J. Krainer, Österreichische Monatshefte 2/1985, S. 25–27). Anfang der 90er Jahre entstand eine Diskussion über die Direktwahl von Exekutivorganen, insbesondere von Bürgermeistern und Landeshauptmännern, für welche die Freiheitlichen, aber auch Teile der ÖVP und einzelne Vertreter der SPÖ eintraten. 1994 wurde nach dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, das die Direktwahl der Bürgermeister für bundesverfassungswidrig, weil dem parlamentarischen System widersprechend, erklärt hatte, durch Novellierung der Bundesverfassung diese Direktwahl möglich und damit ein Schritt zur Präsidialdemokratie gemacht (vgl. Journal für Rechtspolitik 3/1994). Der Innsbrucker Staatsrechtler Fried Esterbauer plädiert seit Jahren für die Direktwahl und ein gewaltentrennendes Regierungssystem nach dem Vorbild von Schweizer Kantonen. Er will einen Dualismus durch getrennte, direkt demokratische Legitimation von Regierung und Parlament. Der harte Kern dieser Reform wäre die Abkehr von der derzeitigen indirekt demokratischen Legiti266

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mation der Regierung (über ihre Vertrauensabhängigkeit gegenüber Parlament und Bundespräsident) durch eine vom Parlament unabhängige direktdemokratische Legitimation durch Volkswahl. Esterbauer (Demokratiereform  : Volkswahl der Regierung und Bundesstaatsreform, Wien 1991, S. 5 ff.) sieht eine grundlegende Schwäche des parlamentarischen Regierungssystems im Fehlen von Gewaltenteilung und Kontrolle im Verhältnis von Parlament und Regierung und im faktischen Verlust der Gesetzgebungshoheit des Parlaments. Nur dualistische Regierungssysteme, in denen die demokratische Legitimation der Regierung (Schweizer Kantone) bzw. des Regierungschefs (USA) ohne Umwege über das Parlament durch die Volkswahl direkt vom Volk zustande komme, wiesen diese Schwäche nicht auf. Es komme zur Gewaltenteilung und Kontrolle und nicht zu einer Disziplinierung der Parlamentarier durch Klub und Partei. Eine freie parlamentarische Willensbildung ohne Gefahr für den Bestand und die weitergehende Fähigkeit der Regierung könne entstehen. Der Parlamentarismus könne ohne Notwendigkeit bzw. Rechtfertigung des Verzichts auf das freie Mandat zugunsten von politischen Parteien aufleben. Auch wenn die Mehrzahl der Gesetzesentwürfe von der Regierung ausgearbeitet werde, habe das Parlament in einem solchen System die tatsächliche Entscheidungshoheit, die Gesetzesentwürfe anzunehmen oder abzulehnen, ohne daß die Regierung stürze. Damit seien Stabilität und Regierungsfähigkeit weitere Vorzüge dieses Systems. Der Staatsrechtler und Parlamentarier Christian Brünner (in  : FS für Ludwig Adamovich zum 60. Geburtstag, Wien 1992, S. 36–44) geht davon aus, daß unser politisches System nach wie vor ein Nachkriegssystem sei. Das B-VG sei nach dem Ersten Weltkrieg, die Realverfassung nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Es sei höchste Zeit, die politischen Institutionen und die politische Kultur fortzuentwickeln. Das gelte sowohl für die Parlamente, aber auch für die Regierungen. Insbesondere sei es fragwürdig, ob und inwieweit die Proporzregierungen, welche die meisten Bundesländer haben, noch den politischen Bedürfnissen entsprechen. Hier trifft sich Brünner mit Dachs, Pelinka und anderen, welche den Regierungsproporz nach den Verfassungen der Bundesländer in Frage stellen (vgl. im Gegensatz dazu die in den 70er Jahren vor allem von ÖVP-Seite geforderte Proporzregierung auf Bundesebene, etwa A. Khol, Österreichische Monatshefte 5/1975, S. 18–19). Brünner spricht sich für eine offene Diskussion aus. Terminologische oder Berührungsängste in bezug auf »Präsidialrepublik« oder »Dritte Republik« zu haben, sei falsch. Die Steirische Volkspartei habe schon in den 70er und 80er 267

Präsidialismus oder Parlamentarismus  ?

Jahren von der Notwendigkeit einer »Dritten Republik« geredet. Es ging vor allem darum, den Bundespräsidenten aufzuwerten. Heute gehe es darüber hinaus darum, zu prüfen, ob die Aufgaben von heute mit den Institutionen unseres politischen Systems überhaupt erfüllt werden können. Seine Antwort darauf ist »Nein«. Daher gehörten die Institutionen des Regierungssystems reformiert. Es sei notwendig, die Regierungsfähigkeit zu verstärken. Das System müsse Integrations- und Entscheidungskapazität durch Institutionen heben. Es gehe um Effizienz und Effektivität der Regierung, ohne daß deshalb die Konsensfindung und die demokratische Legitimation diskreditiert oder an den Rand gedrängt werden. Im übrigen plädiert er für die Unvereinbarkeit zwischen Spitzenfunktionären der Sozialpartner auf der einen Seite und Regierung und Parlament auf der anderen Seite. Durch die Unvereinbarkeit entstehe auch mehr Zugangsgleichheit zum Regierungsprozeß. Meine Vorschläge für die Entwicklung des Regierungssystems gehen vor allem in die Richtung der Stärkung der Regierung einerseits und des Parlaments andererseits. Modell dafür ist die Verfassung von 1919, welche in Staatsregierung und Nationalversammlung die zwei Brennpunkte des Regierungssystems hatte. Mit der Abschaffung des Bundespräsidenten – typische Staatsoberhauptfunktionen könnten die Präsidenten des Nationalrates ausüben  – würde die oberste Exekutive einheitlicher und parlamentarischer. Gibt man dem vom Parlament zu wählenden Kanzler ein Vorschlagsrecht hinsichtlich der vom Nationalrat zu berufenden und abzuberufenden Bundesminister und wertet man ihn durch einige Generalzuständigkeiten auf, so braucht er gar keine Richtlinienkompetenz, um jenes Staatsorgan zu werden, das zusammenführt und eint. Er könnte auch ohne diese Befugnis eine energische oberste Exekutive mit Konzept und Konsequenz bilden. In der Bundesregierung sollte vom Einstimmigkeitsprinzip zum Mehrheitsprinzip übergegangen werden. Das Parlament aber wäre durch das Regierungsbildungsrecht und die Staatsoberhauptfunktionen seiner Spitzen so aufgewertet wie noch nie. In der Frage der Unvereinbarkeit stimme ich den anderen Vorschlägen weitgehend zu. Mehr direkte Demokratie wagen, kann im übrigen unserer Republik nicht schaden.

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Wer soll uns vertreten  ? (1998) Persönliche Streifzüge durch die Republik der Funktionäre, Sekretäre und Mandarine

Österreich – Land der Politiker/innen Andreas Khol hat einmal unsere Republik als introvertiert organisiert bezeichnet. Nicht erst seit dem Beitritt zur EU ist sie auch extrovertiert organisiert. Die Republik der Funktionäre, der Sekretäre, der Mandarine wird kritisiert. Aber es ist eben vieles öffentlich-rechtlich institutionalisiert und demokratisiert. Manche sprechen von Demokratur. Aber was wäre die Alternative  ? Es gibt seit dem Absolutismus eine etatistische Tradition. Es gibt immerhin Freiheitsrechte seit dem Konstitutionalismus. Aber schon damals entstand die Verbindung von Etatismus und Pluralismus, die heute für so viele Gesellschaftsbereiche in Form autonomer Selbstverwaltung noch immer typisch ist. Land der Ämter  – In der Republik Österreich sind auf Gemeinde-, Landes- und Bundesebene in der allgemeinen Politik und in den verschiedenen Bereichen der Interessenpolitik, insbesondere in Berufsvertretungen, viele Positionen zu besetzen. Man kann annehmen, daß es über hunderttausend Positionen gibt, in die man gewählt oder sonst politisch bestellt wird. Der gegliederte Vielzweckstaat und die in freiwilligen und Pflichtverbänden organisierte Interessengesellschaft bieten auf mehreren Ebenen und in vielen Bereichen Möglichkeiten politischer Betätigung. Die »gefesselte« Gesellschaft  – Das Gemeinwesen ist so »formiert«, daß es manchmal »blockiert« wirkt. Die organisatorischen und funktionellen Verflechtungen von Staat, Parteien und Verbänden bilden ein feinstrukturiertes Netz, mit dem sich die Gesellschaft geradezu gefesselt hat. Dieses Netzwerk fin269

Wer soll uns vertreten  ?

det seinen personellen Ausdruck in sogenannten Multifunktionären  : das sind Personen, die politische Positionen in Bund, Ländern, Verbänden, Gemeinden, anderen Formationen und Parteien innehaben. Die Multifunktionäre – Multifunktionäre sind wegen der Koordination und Kooperation notwendig. Sie sind auch Folge eines für die vielen zu besetzenden Positionen zu geringen personellen Angebots und Wettbewerbs. Die Institution des Multifunktionärs befriedigt offenbar sowohl persönliche als auch gesellschaftliche Bedürfnisse. Die Funktionäre und ihre Bürokratie leisten eine Bündelung, Bindung und Bändigung der gesellschaftlichen Konflikte. Sie nehmen diese selektiv wahr, be- und verarbeiten die ausgewählten Probleme und stecken ihre Positionen ab. In kooperativer Konfliktregelung werden dann in Verhandlungen kompromißhafte Lösungen gesucht. Durch Partnerschaft und Bargaining werden Sicherheit und Stabilität erzeugt. Diese sind nicht nur die gefragtesten Güter der Nation, sondern auch die der eigenen Position und Karriere. Vertikale und horizontale Positionskumulierung  – Die Kumulation von politischen Positionen erfolgt vertikal und horizontal. So bleibt man mit der Basis in Kontakt und operiert in mehreren Positionen auf oberen Ebenen. »Während die vertikale Positionskumulierung vorwiegend eine Methode der Absicherung bzw. der Machterhaltung ist, ist die horizontale Positionskumulierung vor allem eine Methode der Machtausweitung. Je mehr wichtige Positionen einer politischen Ebene in den Händen einer Person vereinigt sind, desto größer ist ihre Macht. Die Macht nimmt einerseits zu durch die Kumulation der mit den jeweiligen Positionen verbundenen Ressourcen, wie Kompetenzen, Zugriff auf Personal und Know-how, Zugang zur Öffentlichkeit. Andererseits verhindert eine Positionskumulierung, daß diese Ressourcen in andere Hände fallen und möglicherweise für eine andere oder sogar entgegengesetzte Politik eingesetzt werden« (W. C. Müller u.a., »Politische Klasse«, politische Positionselite, politische »Stars«, in  : H. Dachs u.a. [Hg.], Die Politiker. Karrieren und Wirken bedeutender Repräsentanten der Zweiten Republik, Wien 1995, S. 31). Die politische Klasse  – Freilich vermitteln Multifunktionäre auch den Eindruck einer viele organisierte Gesellschaftsbereiche dominierenden politischen Klasse, die nicht nur für die, sondern auch von der Politik lebt. Die Politi270

Wer soll uns vertreten  ?

ker von heute sind ja in ihrer großen Zahl wirtschaftlich unselbständig. Politik ist für die kleinen Leute meist auch ein wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg. Und sie gehen meist als öffentlich Bedienstete in die Politik. Die Geschichte der Zweiten Republik bietet dafür viele Beispiele. Die Angehörigen der politischen Klasse halten im Durchschnitt rund zwei Positionen. Die Angehörigen der politischen Positionselite vereinigen im Durchschnitt etwa vier solcher Positionen in ihren Händen. »Noch deutlicher darüber liegt die Positionskumulierung bei den politischen ›Stars‹  : Sie halten im Durchschnitt gleichzeitig 5,5 Positionen, sind also auch in dieser Hinsicht eine Elite innerhalb der Elite« (ebd.). Politiker ist also nicht gleich Politiker, ganz abgesehen davon, daß Frauen insbesondere in den Spitzenpositionen und unter den Multifunktionären unterrepräsentiert sind.

Der Weg in die Politik und die Anforderungen Das »Ersitzungsmuster« – Im allgemeinen spielt sich der Weg zur Politik als Beruf noch nach alten Mustern ab  : Wer in einem Wahlkreis kandidieren will, muß sich empordienen. Er muß in Sektions-, Bezirks-, Orts-, Landesversammlungen auffallen, den Weg über Funktionen als Personalvertreter, Betriebsrat, Bezirksrat, Kammerrat und Gemeinderat, über den Landtag, den Bundesrat gehen, um in den Nationalrat gewählt zu werden. Man spricht in der Politikwissenschaft vom »Ersitzungsmuster«. Es ist ein »Leistungsmuster«  : Man muß politische Meriten erworben haben, um entsprechende Positionen zu erreichen. Dabei spielt die Zeit, die man als junger Mensch in Organisationen verbracht hat, eine wichtige Rolle. Dieses »Training« betrifft das öffentliche Reden, das Organisieren, das Geschäftsordnung-Kennen, das Kommunizieren- und Kooperieren-Können. »Längseinsteiger« haben es schon in jüngeren Jahren »in sich«. Manche Klassen- und Schulsprecher, Lehrlingsvertreter, Studentenfunktionäre, Vereinsvorstände usw. wurden später Politiker, die für die und von der Politik leben. Das »Expertenmuster« – Auch manche »Quereinsteiger« haben solche »Vordienstzeiten« hinter sich. Es muß nicht die Partei oder eine Vorfeldorganisation sein, in der man sich bewährt hat. Aber ohne Erfahrung in Gruppen, Organisationen oder Institutionen bleibt man leicht Einzelgänger ohne reale Chancen. 271

Wer soll uns vertreten  ?

Das gilt auch für Experten, die heute in der Politik eine immer größere Rolle spielen. Das »Expertenmuster« bleibt in der weiteren Folge niemandem erspart. Der »Universaldilettant« ist am ehesten auf der lokalen Ebene in der Gemeinde gefragt. Das ist das Schöne an der Kommunalpolitik. Arbeitsteilung und Spezialisierung beherrschen aber auch schon sie. Der »cursus honorum« – Der Weg in die und in der Politik, der »cursus honorum«, ist im übrigen rechtlich nur formal geregelt. Der Aufstieg ist überhaupt nur informell geregelt, und manches bestimmt der Zufall. Viel mehr als ein bestimmtes Wahlalter, »Rechtlichkeit« und »Amtsausübung nach bestem Wissen und Gewissen« ist den Rechtsnormen nicht zu entnehmen, nicht einmal Fleiß, Ausdauer und Weiterbildung. Selbst der Bundespräsident gelobt nur, daß er »die Verfassung und alle Gesetze der Republik getreulich beobachten und seine Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen« werde. Bestes Wissen und Gewissen können sehr viel, aber auch sehr wenig bedeuten. Im Durchschnitt haben politische Karrieren in der Zweiten Republik bis zur ersten besseren Position rund zehn Jahre gedauert. Politikerkarrieren  – 75 politische »Stars« unterscheiden sich diesbezüglich von den anderen Mitgliedern der »politischen Klasse«  : Ihre politische Karriere in der Zweiten Republik ist im Durchschnitt fast zweimal so lang, wie politische Karrieren sonst dauern. Im Durchschnitt beträgt die Amtszeit eines politischen »Stars« 22,7 Jahre. Je länger die politische Karriere und je wichtiger das bekleidete Amt, desto größer war potentiell der Einfluß auf die Politik (vgl. H. Dachs u.a., a.a.O. – insgesamt wurde ein Datensatz von 4200 Personen und 9500 Positionen im Zeitraum 1945–1992 erfaßt). Das Rollenbild – Aufgrund der vorgegebenen Strukturen versteht es sich von selbst, daß die österreichischen Politiker vor allem geschickte Kommunikatoren und Verhandler, Moderatoren und Organisatoren sein müssen. Das Anforderungsprofil von Politikern zeigt folgende Eigenschaften  : ­Politiker sollen sozial intelligent sein, glaubwürdig, ehrlich, bürgernah, einen g­ ewissen Bildungsgrad aufweisen, Erfahrung und auch ein wenig Charisma haben, ­wobei Generation, Region und Funktion eine besondere Rolle spielen (diese Eigenschaften stammen aus Umfragen unter Seminaristen der Universität für Bodenkultur und decken sich weitgehend mit den Ergebnissen allgemeiner Meinungsbefragungen). 272

Wer soll uns vertreten  ?

Politikertypen In der Alltagspraxis fallen einem wesentliche Unterschiede zwischen den »Stars«, den Spitzenpolikern in der Sonne der Öffentlichkeit und den Politikern der zweiten Reihe und Garnitur auf, die in der Öffentlichkeit ein Schattendasein fristen. Es gibt Politiker, die jede(r) kennt, und Politiker, die niemand oder nur ein kleiner Kreis kennt. Dabei kann die Mikro- und Mesopolitik wichtiger sein als die Makropolitik. Ein Bürgermeister kann oft mehr in der Gemeinde verändern als der Bundeskanzler im Bund. Politische Führer, politische Sachwalter und Experten, Macher und Moderatoren, Werber und Mitläufer kann man auf allen Ebenen und in allen Bereichen der Politik finden. Karl Renner hat verschiedene Anforderungen in der Politik und entsprechende Realtypen unterschieden  : den vielseitigen, abwägenden und vorausschauenden geistigen Leiter, den energischen Lenker und Macher, den wortgewaltigen, hinreißenden Agitator, den praktischen Organisator. Heute kommt überall der Experte, der Verhandler und der Kommunikator hinzu. Typologien aus der Politikwissenschaft – In der Politikwissenschaft findet man ganze Bibliotheken über die Typologie von Politikern. Wolfgang C. Müller (in  : P. Gerlich u.a. [Hg.], a.a.O., S. 17 f.) hat u. a. folgende von der Wissenschaft herausgearbeitete Typen von Politikern vorgestellt  : Amateure und Professionals. Für letztere besteht Politik aus Gewinnen und Verlieren. Gewinnen ist ihr primäres Ziel. Für Amateure ist Politik Dienst an der Öffentlichkeit, für die bestimmte Resultate erreicht werden sollen. Pragmatiker und Puristen. Während sich der Pragmatiker bemüht, das Mögliche zu erreichen, nimmt der kompromißlose Purist lieber eine Niederlage in Kauf, als von den eigenen Grundsätzen abzuweichen. Die Unterscheidung in Amtsinhaber, Staatsmann und Demagoge geht von psychoanalytisch orientierten Typen aus. Der Amtsinhaber ist ein echter Repräsentant der Wähler, der Staatsmann innerlich freier, der Demagoge neurotischer als sie. Karrierepolitiker sollen sich von »normalen« Politikern dadurch unterscheiden, daß sie eine außerordentlich starke psychologische Präokkupation für die Politik haben. Sie können sich ein Leben ohne Politik nicht vorstellen. Manche unterscheiden zwischen dem veränderungsorientierten Mobilisierer, der auf Entscheidungen und das Erreichen von Zielen hinstrebt, und dem auf 273

Wer soll uns vertreten  ?

einen Status quo orientierten Vermittler, der primär um Konsens bemüht ist. Ähnlich ist die Unterscheidung zwischen Bewahrer, Manager, Ideologe und Innovateur. Schließlich werden aktive und passive, positive und negative Persönlichkeiten unterschieden. Benjamin Barber hat die US-Präsidenten so klassifiziert, und zwar nach ihrem Arbeitseinsatz (aktiv/passiv) und ihrer Einstellung gegenüber den eigenen Handlungen, also ob das Amt primär Freude oder Bürde ist (positiv/negativ). Aus der Kombination dieser beiden Dimensionen ergeben sich vier Typen, mit denen bestimmte Verhaltensmuster assoziiert werden können  ; aktiv-positive Politiker sind primär an konkreten Politikergebnissen interessiert, aktiv-negative Politiker an Machtgewinn und -erhalt, passiv-positive Politiker wollen vor allem geliebt werden, während passiv-negative Politiker ihre Pflichterfüllung betonen. Wolfgang C. Müller (ebd.) kritisiert diese Typologien konzeptuell. Sie seien aber jedenfalls intellektuell anregend. Ihm ist voll und ganz zuzustimmen. Man könnte aus diesen Typologien vielleicht eine Art »Statuslehre« von Politikern herausarbeiten und Möglichkeiten der Klassifikation und der Qualifikation entwickeln.

Die Sorge um das Gemeinwohl Seit der Antike diskutiert man ausführlich über die Eigenschaften, welche Politiker aufweisen sollen. Antike Philosophen nannten vor allem die Fähigkeit, »die Gemeinschaft zu pflegen«. Die wahre Staatskunst solle nicht für das individuelle, sondern das Gemeinsame sorgen, da das Gemeinsame verbindet, während das Individuelle spaltet. Bei allen ihren Handlungen sollten Politiker nur das Beste ihrer Mitbürger im Auge haben und den eigenen Vorteil vergessen. Das Gemeinwohl, also Güter, die für alle Glieder der Gemeinschaft notwendig oder nützlich sind und nur durch die Gemeinschaft erhalten und gefördert werden können, wurde zum Maßstab. Tugenden  : von der Antike bis ins Mittelalter – Dafür sind Tugenden nötig, vor allem die vier Kardinaltugenden  : Klugheit, Mäßigkeit, Mut und Gerechtigkeit. Die Qualität der Politiker hat Platon durch seinen personalistischen Ansatz auf die Spitze getrieben  : Solange die Philosophen nicht Könige werden oder die Könige […] echte und gute Philosophen, solange nicht poli274

Wer soll uns vertreten  ?

tische Macht und Weisheitsliebe in der gleichen Person vereinigt sind, so lange wird es kein Ende der Probleme geben […].« Ciceros wichtigste Schrift ist »De re publica«. Sie beginnt mit einem Lob des Politikers und seiner »virtus«, also seiner besonderen Tugend. Der Sinn der Tugend liege in ihrem Gebrauch, und der wichtigste Gebrauch sei die Regierung des Staates, die Politik. Wie viele antike Staatsdenker war Cicero für den Staatslenker, für eine »vita activa«, und gegen das Ideal eines Lebens im Gärtchen, eine »vita contemplativa«, wie sie Epikur vertrat. Sein Materialismus, konzilianter Skeptizismus und gepflegter Individualismus erinnern einen wiederum an unsere Landsleute. Wie viele antike Denker verlangt Cicero, daß man sich als »pars rei publicae« für die »res publica« einsetzt. Der wahre Politiker setzt ein Leben für das Gemeinwesen und Gemeinwohl ein, obwohl die Ehre ungewiß und der Ruhm begrenzt bleiben. Er soll so handeln, daß er Ehre und Ruhm verdient, selbst wenn sie ihm vorenthalten werden. Das Christentum stand zunächst in Distanz zum Gemeinwesen, gab diese aber später auf und lieferte ihm eine Staatsideologie. Tertullian schrieb aber im Gegensatz zu Cicero  : »Nichts geht uns so wenig an, wie das, was alle angeht, wie das Gemeinwesen. Lieber das Martyrium als ein Staatsamt.« Der Apostel Paulus meint im Galaterbrief  : »Ein jeglicher prüfe sein eigen Werk, und alsdann wird er sich selber Ruhm haben und nicht an einem anderen.« Augustinus kritisiert das in der Antike so weit verbreitete Streben um Anerkennung und Ruhm. Es gehe nicht darum, daß gutwillige Menschen einen anerkennen, sondern darum, allein der Stimme des Gewissens zu folgen. Dem christlichen Politiker soll es um sein Seelenheil gehen. Nicht bei der Mit- und Nachwelt, sondern vor Gott soll er bestehen können. Zusammen mit einer herkömmlichen Untertanen- und Zuschauermentalität wirken solche Traditionen noch heute. Die Literaturgattung der Politikerspiegel, meist in Gestalt der Fürstenspiegel, erstreckt sich über einen Zeitraum von gut 3000 Jahren, beginnend in den alten Reichen Ägyptens und Babylons, so daß man über ein halbes Tausend Werke gezählt hat. Das Christentum hat die antiken durch die drei göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe ergänzt. Vervollkommnung und Wesensvollendung ist die von Gott gestellte und der Natur des Menschen entsprechende Aufgabe. Das doppelte Liebesgebot gilt als die Grundnorm, die auch von der Goldenen Regel vorausgesetzt wird. Thomas von Aquin hat in »De regimine principum« das Gemeinwohl präzisiert und postuliert. Es blieb in der Tradition der katholischen Kirche das Ziel für Politik und Politiker. 275

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Die »Institutio principis Christiani« des Erasmus von Rotterdam wird von dem Schweizer Politikwissenschaftler Alois Riklin auch den heutigen Politikern empfohlen. Der Freskenzyklus des Rathauses von Siena aus dem Jahre 1340 veranschaulicht für Riklin Richtlinien für Politiker  : Dort läßt sich die Politik von sechs Tugenden beraten – Gerechtigkeit, Besonnenheit, Großgesinntheit, Klugheit, Mut und Friede  ; Glaube, Hoffnung, Liebe sollen Kraftquellen sein. Die göttliche Tugend der Weisheit soll die Gerechtigkeit erleuchten und Eintracht in der Gemeinschaft bewirken. Neuzeit  : Psychologien statt Tugenden – In der Neuzeit wurden Tugenden weitgehend von Psychologien abgelöst. Dabei wurde Machiavellis »Il principe« geradezu zum Kultbuch. In unserer Zeit gibt es »Machiavelli-Kurse für Manager«. Machiavelli hat aber seine amoralischen Ratschläge immer und ausschließlich im höheren Interesse der Staatsraison abgegeben und nicht im Sinne egoistischer Karriereplanung. Er ging im Übrigen vom Durchschnittsmenschen aus, der bequem, gutmütig und wankelmütig, eigennützig und vorsichtig sei. Dementsprechend solle der Politiker als Staatsmann sich zwar den Schein der Milde, Güte und Frömmigkeit geben, müsse aber auch grausam sein und dürfe vor Wortbrüchen nicht zurückschrecken. Er müsse »Fuchs und Löwe zugleich« sein  : klug, listig, mutig und tapfer – aber all dies nur im höheren Interesse der Staatsraison. Die personalistische Ethik bestand aber trotz Machiavelli und der Psychologie weiter. William Penn hat in seiner Schrift zur Gründung von Pennsylvania den personalistischen Ansatz noch zugespitzt  : »Wenn die Politiker gut sind, dann setzen sie sich durch, auch wenn die Institutionen schlecht sind  ; sind die Politiker aber schlecht, dann taugen auch gute Institutionen nichts.« Montesquieu hat darauf hingewiesen, daß die Verfassung aus dem Charakter der Menschen entsteht, die einen Staat bilden, und daß diese Verfassung diesen Charakter wiederum formt. Das kann man auch an unserer politischen Kultur und ihren Mustern Proporz, Konsens, kooperative Konfliktregelung feststellen. Erhard Busek meinte einmal, daß Österreicher schon den Kompromiß sehen, bevor überhaupt der Konflikt ausgebrochen sei. Ich bekenne mich dazu. Der Idealtypus des Politikers nach Max Weber  – Die in der deutschen Sprache wohl bekannteste idealtypische Darstellung des Politikers der Moderne hat Max Weber in »Politik als Beruf« gegeben. Danach sind drei Qualitäten für den Politiker entscheidend  : Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. 276

Wer soll uns vertreten  ?

Leidenschaftliche Hingabe an die Sache allein ist zu wenig, es muß auch die Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache Leitstern des Handelns sein. Die entscheidende psychologische Qualität des Politikers sei aber das Augenmaß, die Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, Gelassenheit. Weber nennt zwei Arten von Todsünden auf dem Gebiet der Politik  : Unsachlichkeit und, oft, aber nicht immer damit identisch, Verantwortungslosigkeit, wobei die Eitelkeit, das Bedürfnis, selbst möglichst sichtbar in den Vordergrund zu treten, den Politiker am stärksten in Versuchung führt, eine von beiden oder beide zu begehen. Täglich habe der Politiker einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind zu überwinden  : die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlicher Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall der Distanz zu sich selber. Man darf, man kann manchmal lügen, aber man darf nie sich selber belügen. Wenn man halbwegs selbstkritisch ist, bringt einem das eigene Verhalten als Politiker seine eigenen Schwächen und Stärken als Mensch zu Bewußtsein, insbesondere freilich die Schwächen. Als anvertraute Aufgabe, die um des Gemeinwohls willen in Verantwortung wahrzunehmen ist, verlangt jedes Amt ein Ethos besonderer Art. Das politische Gelöbnis als feierliches, öffentliches Versprechen weist darauf hin. Ohne Gesinnungs- und Verantwortungsethik verkommt die Politik, verkommen die Politiker. Dabei ist heute mehr denn je neben der Mitwelt- und Umweltethik eine Nachweltethik gefordert. Der alte römische Spruch »Quidquid agis prudenter agas et respice finem« – »Was du auch machst, tue es klug und bedenke die Folgen, das Ende« – ist aktueller denn je. Resultatorientierte Ethik ist gefragt. Max Weber hat die Politik als »starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich« umschrieben, weil es eben das Problem sei, »wie heiße Leidenschaft und kühles Augenmaß miteinander in derselben Sache zusammengezwungen werden können«. Politik werde »mit dem Kopf gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele«. Mein Lehrer René Marcic fügte hinzu  : »Mit dem Kopf und für den Kopf  – wenn obendrein der Funke vom Herzen zum Herzen springt, umso besser  : umso politischer handelt der Staatsmann.« Ohne Stimmung erhält man keine Stimmen. Weber hat eine Qualität auch besonders genannt, nämlich den Mut, die Zivilcourage, die intellektuelle und moralische Kraft, die eigene Haltung vor Kollektiven verschiedener Art zu vertreten, insbesondere »die Tapferkeit vor dem Freund«.

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Wer soll uns vertreten  ?

Die »Schutzfunktion« der Verfassung – Sir Karl Popper warf den politischen Denkern von Platon bis heute eine falsche Fragestellung vor. Die grundlegende Frage der politischen Theorie sei nicht  : »Wer soll herrschen  ?, sondern  : Wie können wir unsere politischen Institutionen so gestalten, daß auch unfähige und unredliche Politiker keinen großen Schaden anrichten  ?« Unsere Verfassungen sind geradezu eine Antwort auf die Frage Poppers. Insbesondere die österreichische Bundesverfassung ist so organisiert. Sie stellt alle Erfahrungen und Einsichten in den Dienst der Organisation des Gemeinwesens  : Sie teilt die Macht auf verschiedene Ebenen und Bereiche auf und räumt keinem einzelnen eine alleinige Führerstellung ein. Je höher die Ebene und je größer der Bereich, für den Zuständigkeiten wahrzunehmen sind, desto weniger Macht steht dem Amtsinhaber zu. Je höher man kommt, desto mehr hat man vielleicht zu sagen, aber desto weniger hat man zu reden. So besteht ein Machtgefälle von der Gemeinde, in der der Bürgermeister noch eine Führerstellung hat, über die Landesebene, auf welcher der Landeshauptmann eine Vorrangstellung hat, bis hin zur Bundesebene, auf der schon die Aufteilung der Geschäfte der obersten Vollziehung auf Bundesminister, Bundesregierung und Bundespräsidenten die Gewaltenteilung auf die Spitze treibt. So wird den menschlichen Irrtümern, Unzulänglichkeiten und Schwächen besonders Rechnung getragen. Die Erfahrung, daß alle Machthaber dazu neigen, ihre Macht zu mißbrauchen, ist eine der Begründungen der umfassenden Gewaltenteilung. Die Erkenntnis, daß niemand, zumindest nicht im Detail, weiß, was jemandem guttut und frommt, ist ein Grund für die Gewährleistung von Freiheitsrechten. Jeder Mensch soll sein Leben im Rahmen des Rechts selbst bestimmen. Die Einsicht, daß man nicht weiß, wer wie am besten herrscht, ist eine der Grundlagen für demokratische Wahlen, für die Gewaltenteilung und für Mehrheitsregeln mit Minderheitenschutz. Herrschaft von Verfassung und Gesetz  – Die Verfassung versucht einen alten Traum des Abendlandes zu verwirklichen  : Nicht Menschen, sondern Gesetze sollen herrschen. Platon hat nach dem Scheitern des Philosophenkönigs diese Idee im »Politikos« und in dem »Nomos« formuliert. Aristoteles hat sie um die Unterscheidung von Verfassung und Gesetz erweitert. Durch die Herrschaft von Verfassung und Gesetz sind alle Amtsinhaber gebunden. Zu dieser Machtbändigung durch Recht kommt die Machtbeschränkung durch die jedem Menschen vor- und überstaatlich zukommenden Grund- und Freiheitsrechte. Die durch Recht gebändigte und durch die Menschenrechte beschränkte Macht 278

Wer soll uns vertreten  ?

wird zusätzlich noch geteilt und zeitlich, räumlich und sachlich begrenzt. Eine Mischung monokratischer, oligokratischer und polykratischer Elemente und von Laien und Berufsbeamten als Amtsträger ergänzt dies. Schließlich sind die Bürger an der gebundenen, geteilten, beschränkten und gemäßigten Macht der Amtsinhaber beteiligt. Sie bewirken durch periodisch wiederkehrende Wahlen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen eine Anpassung der politischen Machtverhältnisse an die gesellschaftliche Entwicklung und auf diese Weise eine friedliche Veränderung ohne Gewalt. Durch Teilnahme und Teilhabe verschiedener Gruppen an der Macht kommt es zum Wettbewerb und zum Ausgleich. So löst unsere Verfassung das Problem der Führerschaft, indem sie viele Führer vorsieht, Man könnte ihr den Grundsatz unterstellen  : »Mündige Bürger brauchen keinen großen Führer, aber sie brauchen viele kleine.« Der Kampf der Bürger gegen den im Monarchen personifizierten Staat war auch ein Kampf um diesen Staat. Die Herrschaft von Verfassung und Gesetz sollte die Herrschaft des Monarchen ersetzen und zur Rationalisierung und Entpersonalisierung der Macht führen. Der Neigung zu diesem entpersönlichten Sicherheitssystem entsprechen Einrichtungen und Verfahren wie die Bindung an Verfassung und Gesetz und die Kontrolle der Staatsorgane und Staatsakte auf ihre Rechtmäßigkeit und Gebarung. Durch Inter- und Intraorgankontrolle soll der Mißbrauch der Macht auch der kleinen Führer verhindert oder zumindest gemindert werden. Dementsprechend ist das ganze System mehr auf Sicherheit und Ausgleich als auf Raschheit und Einfachheit ausgerichtet. Dieses Sicherheits- und Versicherungssystem macht Reformpolitik mühsam und begünstigt Ideen und Interessen, die sich institutionell durchgesetzt haben. Das Zeitalter der Massenmedien – Die von dem Staatsrechtler Rudolf Smend postulierte schöne Verbindung des Sachlich-Richtigen mit dem SittlichRichtigen ist ein Problem im Zeitalter der Massenmedien. Sie kann oft nicht erreicht werden, wenn sie massenpsychologisch nicht wirksam ist. Die massenpsychologische Wirksamkeit hat zur Orientierung der Politik(er) an Meinungsbefra­ gungen und Massenmedien geführt. Der Erfolg in den Massenmedien wurde für Politiker oft maßgebender als der Erfolg der Mehrheit bei Wahlen und Abstimmungen. Rundfunk und Fernsehen haben das Berufsbild des Politikers ungeheuer verändert. Farbe, Akustik, Mimik, Gestik und Gebärde sind durch eine sophistizierte Transportapparatur ein rasch funktionierendes Mittel subtiler Beein279

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flussung. Die andere elektronische Art, sich ins Bild zu setzen und zu Wort zu kommen, ist jene durch Computer und Datenbanken. Auch in der Demoskopie gibt es spezialisierte Zubringer und Stäbe. Der Politiker ist von ihnen so abhängig geworden wie von Experten überhaupt. Das Image des Politikers und seiner Partei wird vor allem von den Massenmedien geprägt. Daher ist die Präsenz in ihnen ebenso wichtig wie die ständige Kontaktierung, das offizielle wie das vertrauliche Gespräch »off the record«. »Durchkommen«, »ankommen«, »rüberkommen«, »nachkommen«, »nachwassern« dies alles bedeutet Zeit. Die persönliche Erfahrung – Im übrigen ist es mühselig und schwierig, in der Informationsgesellschaft, besonders an einem zentralen Ort wie Wien, als Politiker »durchzukommen«. Auch nach Jahren ist man nahezu unbekannt, obwohl man ständig Präsenz- und Kontaktleistungen erbringt. Ausstellungen werden eröffnet, Diskussionen und Feiern durchgeführt, Bälle absolviert. Veranstaltungen aller Art verlangen Präsenz. Bestimmte Themen und Probleme verlangen bestimmte Personen. Meistens wird man von irgendwelchen zentralen Stellen, sei es von der Partei auf Landes- oder Bezirks­ ebene, sei es vom Klub des jeweiligen Vertretungskörpers, »eingeteilt«. Was für die Massenmedien und die Repräsentation gilt, trifft auch für Organisationen verschiedener Art zu. Meist wird erwartet, daß man kommt, und man verärgert, wenn man nicht kommt. Als Minderheit erlebt man von Zeit zu Zeit die Melancholie der Vergeblichkeit und das Ritual der Demütigung durch die Mehrheit. Man braucht Geduld, Mut zur Wiederholung, die Fähigkeit, das gleiche Problem und Thema mit mehr und anderen oder weniger und prägnanteren Worten zu formulieren. Das richtige Thema muß bei den richtigen Personen zur richtigen Zeit ankommen. Die Zeitknappheit  – Wegen des vollen Einsatzes braucht man eine robuste Gesundheit, physische und psychische Fitneß, oft auch die Fähigkeit, mit Kurzschlaf auszukommen. Aber auch der 16-Stunden-Tag in der Siebentagewoche sowie die Reduzierung von Mahlzeiten auf Abendessen und von physischer Erholung auf Gespräche auch in der Freizeit helfen wenig gegen die Zeitknappheit. Daraus ergeben sich Defizite  : Es besteht zuwenig Abstand, zuwenig Zeit zum Vor- und Nachdenken, zur Entspannung. Politik soll auch etwas Großes und Ganzes sein. Dazu ist meist zuwenig Zeit vorhanden. 280

Wer soll uns vertreten  ?

Sprache und Politik Politik wird heute durch Worte gemacht. Wer im Polylog der Politik zu Wort kommt, kommt meist auch ins Bild. Politisches Reden und politische Reden sind Teil der Kultur wie Werke des Rechts, der Wissenschaft, der Kunst. Sie sagen viel über Versuche und Irrtümer bei der Strukturierung der Zukunft und der Geschichte. Alle Akteure der Politik nutzen die Möglichkeit des Redens als Instrument der Information, Kommunikation, Motivation, Werbung, Propaganda, Demagogie. Hinsichtlich bestimmter Akteure der Politik besteht eine besondere Erwartungslage der Bevölkerung bei Problemen und Konflikten. So besteht ein differenzierter Rederaum bei den Akteuren und im Zeitalter der Zuschauerdemokratie eine abwartende und passive Rolle beim Publikum. Das widerspricht der Idee der Demokratie, entspricht aber der Arbeitsteilung. Kampf um Worte  – Politik ist auch ein Sprachspiel und ein Kampf um Worte. Die Erklärungen der politischen Akteure und ihre Konsequenzen sind ein Zeichen dafür, daß und wie Politik durch Worte gemacht wird, und lassen erkennen, wes Geistes Kind die Akteure sind. Es ist notwendig, manchmal »staatstragend« zu sein, manchmal aber auch »sound bites« bereit zu haben. Der römische Satz »Et iam dimissum, volat irrevocabile verbum« gilt noch immer  : Einmal das Wort aus dem Munde, macht es unwiderruflich die Runde. Nicht zuletzt soll bei der Erstellung besonderer Erklärungen, wie etwa bei einer Regierungserklärung, auf Qualität Wert gelegt werden. Richard Nixon sagte oft, »that the best politics is poetry rather than prose«. Man kann deshalb zwischen »poets« und »word processors« unterscheiden. Welcher politische Akteur fast ein Poet ist, wird vom Bürger entschieden. Sprache  : Instrument der Machtausübung – Die Prägung von Schlagworten und die Besetzung von Schlüsselbegriffen haben gezeigt, wie die Sprache als Instrument der Machtausübung bestätigt wird. Akteure der Politik haben immer wieder durch ihre Beredsamkeit eine eigene Sprache geschaffen und aus ihrer persönlichen Sprache politische Sprache gemacht. Daß damit die Gefahr verbunden ist, daß der Polylog der Politik zum Monolog wird, ist klar. Solche Monologe wirken oft auf den Sprechenden selbst so ein, daß er sich einer zweiten Wirklichkeit gegenüberfindet. Apperzeptionsverweigerung und 281

Wer soll uns vertreten  ?

Kommunikationsverweigerung können such aus dem strukturellen Zwang zu einer bestimmten Sprache ergeben. Beide Verweigerungen sind Todsünden in einer demokratischen Republik. »Sehen, was ist« und »sagen, was ist«, »Aufeinander-Hören und Miteinander-reden-Können« sind Tugenden der Politiker in der Demokratie.

Persönliche Aperçus »Politiker müssen mit der Zeit gehen, sonst müssen sie mit der Zeit gehen« – also sprach Karl Farkas, und wir müssen ihm recht geben. Allerdings muß man unterscheiden. Der alte deutsche Satz »einmal Bürgermeister, alleweil Bürgermeister« gilt noch immer in Österreich. Und man hat unsere Republik sogar einmal eine Bürgermeisterei genannt. Der Präsident des Verfassungsgerichtshofes, Prof. Antoniolli, bei dem ich mit Khol, Koja, Neisser u. a. dienen durfte, sagte uns oft als Lehrer  : »Auch der Bürgermeister regiert ja, gerade er.« In der Tat ist das schönste politische Amt auch das mächtigste in seinem Bereich. Der Bürgermeister ist Staatsoberhaupt, Regierungschef, Verwaltungschef, Wirtschaftschef, Personalchef, Vorsitzender des Gemeindeparlaments, meist auch lokaler Parteichef. Er ist der Politiker zum Anfassen, meist beliebt und wird wiedergewählt. Der Landeshauptmann ist in seinem Bereich schon schwächer, und vom Bundeskanzler und Bundespräsidenten will ich gar nicht reden. Es ist daher verständlich, daß gerade die am meisten föderalistische aller Parteien, die ÖVP, eine ausgesprochene Bürgermeisterpartei ist und weit mehr als die Hälfte der Chefs der rund 2350 Gemeinden stellt. Wenn wir naiv an Politiker und Staatsmänner denken, dann fallen Namen wie Hitler, Stalin, Mao, Roosevelt, Churchill, de Gaulle, Reagan, Gorbatschow. Und es ist bemerkenswert, daß hochrangige Historiker ebenfalls diese Namen nennen. Es handelt sich eben um Politiker, die Geschichte gemacht haben und Symbole geworden sind. Aber das ist nicht die die Wirklichkeit der Politiker Österreichs. Harry Pross hat auf die vielen kleinen Berufspolitiker hingewiesen und darauf, daß hier Beruf wie in jedem anderen Bereich Entscheidung zur Kontinuität, Erwerb von Spezialkenntnissen und Fortbildung, Steigerung der Einkünfte sowie Absicherung gegen Risken heißt. Und dies über Jahrzehnte, mit der Hoffnung auf einen friedlichen Lebensabend.

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Wer soll uns vertreten  ?

Nicht Heroismus, sondern »common sense« und Effizienz passen in das Berufsbild des modernen Politikers. Am Schluß ist Pensionismus und Heroismus. Die Problematik der Helden der Weltgeschichte ist uns zu bekannt, um Heroen haben zu wollen. Auch die artistische Auffassung des politischen Akteurs, wie sie durch Metternich oder Bismarck in die Schulbücher gekommen ist, hält dem demokratischen Sicherheitsstreben nicht stand. Der normale demokratische Politiker ist weder ein Revolutionär noch ein Desperado, weder ein Held noch ein Heiliger. Die meisten Politiker sind Menschen wie du und ich. Deshalb muß ich meinem Lehrer René Marcic recht geben, der so oft auf Ersetzbarkeit und Austauschbarkeit als Charakteristika des demokratischen Politikers hingewiesen hat  : »Der stete Wechsel derer, die regieren, zumindest die Möglichkeit, ist der untrügliche Ausweis der Demokratie. Daher ihr dynamisch-genossenschaftlicher Zug  : Neue Menschen steigen in die Regentenstellung auf, alte kehren in den Alltag zurück. Ein Kommen und Gehen ohne Unterlaß, ein Stromkreis ohne Unterbrechung. Jedermann kann aktiver Politiker werden, jedermann muß zu jeder Zeit sich bereithalten für den Ruf. Quivis ex populo Cincinnatus est. Auf übernatürliche Eignungen verzichtet die demokratische Gesellschaft. Die Technik der von Rechts wegen gebotenen Ablösung drückt der Demokratie Heilmittel in die Hand, wenn einer nicht weiß, daß seine Zeit verronnen ist  ; schützt sie vor solchen, die nicht zurücktreten können  ; ermöglicht das semper sentire cum tempore, daß die Zeit den Mann bekommt, den sie braucht  ; jede Zeit verlangt es nach dem eigenen Mann  ! Das soziale Gesetz der Demokratie bezwingt das Physische der Inertie.« Heute wird man auch sagen  : Jede Zeit verlangt es nach der eigenen Frau. Auch jede Frau soll sich bereithalten für den Ruf. »Aber der Richtige, wenn es ihn gibt  !« heißt es in »Arabella« von Richard Strauss. Wie trifft man die richtige Auslese  ? Wir hoffen und wir glauben daran, daß der politische Wettbewerb und die Wahlen Entdeckungsverfahren sind. Trotzdem ist die Suche nach dem politischen Nachwuchs eine Hauptaufgabe der Politik. Politiker/innen sollen hinwirken auf das Mitwirken von immer mehr Menschen an politischen Entscheidungen. Das soll zu mehr und besserer Demokratie führen. Politiker/innen müssen sich ersetzbar machen, indem sie auf das Mitwirken möglicher Nachfolger/innen hinwirken. Die Nachwuchspflege führt der Tendenz nach zu mehr Demokratie. Hans Kelsen zitiert in »Wesen und Wert der Demokratie« aus der »Politeia« Platons, wie Bürger der Polis einem Mann von überragendem Format zu be283

Wer soll uns vertreten  ?

gegnen haben  : »Wir würden ihn als ein anbetungswürdiges, wunderbares und liebenswürdiges Wesen verehren  ; doch nachdem wir ihn darauf aufmerksam gemacht hätten, daß es solch einen Mann in unserer Polis nicht gebe, ja, nicht geben dürfte, würden wir ihn, sein Haupt mit Öl salbend und mit Kränzen schmückend – über die Grenze geleiten  !« Vergessen wir nicht  : Mündige Bürger brauchen keine Führer. »Grown-ups do not need leaders«, wie Sir Karl Popper es formuliert hat. Die Schweiz hat dies eidgenossenschaftlich formuliert  : Wir wollen keine Herren  ! Dem füge ich nichts hinzu.

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Demokratie in Österreich (2000)

[…] Der Chefredakteur der deutschen Wochenzeitung »Die Zeit«, Robert Leicht, hat vor einiger Zeit einen Vortrag über »Demokratiereform  – zwischen Resigna­tion und Hoffnung« gehalten. Er neigte zur Resignation. Wer wie ich zur Gruppe der Demokratiereformer gehört, die schon Ende der 60er-Jahre Vorschläge gemacht haben, weiß, dass diese Themen – Partizipations-, Wahlrechts-, Parlaments-, Regierungs-, Strukturreform  – schon damals ­aktuell waren. Mit einem Blick zurück in Hoffnung  : Viele von den damaligen Reformvorschlägen sind verwirklicht worden. Allerdings nicht so, wie man es sich vorgestellt hat. Ein Beispiel  : Ich habe 1968 für einen Bürgeranwalt plädiert. Geworden ist es eine Troika mit von den drei großen Parteien bestellten Volksanwälten. Die Studie »Demokratie und Verfassungsreform« von Christian Schaller zeigt auf, dass es zwar immer wieder Reformdiskussionen gab, aber relativ wenig bis nichts davon verwirklicht wurde. Der Grund  : Keine der an der Verfassungsgesetzgebung beteiligten Parteien – das waren bisher SPÖ und ÖVP – hatte ein echtes Interesse daran. Manche Argumente in den jeweiligen Reformdiskussionen sind gleich geblieben, z. B. jene für bzw. gegen ein mehrheitsförderndes bzw. Mehrheitswahlrecht. Warum trete ich nun für ein Mehrheitswahlrecht ein  ? – Meines Erachtens ist dies die einzige Form eines adäquaten Persönlichkeitswahlrechts. Doch auch darüber kann man diskutieren. Denn Persönlichkeitswahlen sind auch immer großen Illusionen ausgeliefert. In einem »amerikanischen« Wahlkampf, wo nur mehr der Spitzenkandidat zählt, bleiben die übrigen Kandidaten auf der Strecke. Sie werden im System einer mediatisierten Politik nur ausnahmsweise vorkommen. Ebenfalls bin ich immer für eine Reform des Parlaments eingetreten. So spreche ich mich dagegen aus, nur der Mehrheit im Parlament die wichtigsten Kontrollrechte – wie etwa die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses – zu 285

Demokratie in Österreich

überlassen. Im Gegenteil  : Kontrollrechte – ausgenommen das Misstrauensvotum – sollen auch bzw. ausschließlich minderheitsbestimmt werden. Beim nächsten Stichwort »Regierungsreform« fällt mir das Einstimmigkeitsprinzip ein. Was bedeutet diese Regelung  ? – Ich sage es einmal etwas drastisch  : Das bedeutet, dass etwa ein grüner Minister Peter Pilz eine ganze übrige sozialdemokratische Regierung zur Nichtentscheidung zwingt. Das ist mitunter ein Grund dafür, warum wir solche Schwierigkeiten haben, Alternativen zur SPÖ-ÖVP-Koalition zu finden. Die Reformen müssen hier ansetzen. In die Regierung soll das Mehrheitsprinzip. Thema »direkte Demokratie«  : Ich glaube aus langer Erfahrung sagen zu können, dass die Österreicher die direkte Demokratie bisher nicht so angenommen haben, wie sich das manche vorstellen. Unsere Gesellschaft ist eher auf die repräsentative Demokratie ausgerichtet. Von zusätzlichen Möglichkeiten in diesem Bereich sollte man sich deshalb nicht zuviel erwarten. Ich bin überzeugter Parlamentarier und bekenne mich zur repräsentativen Demokratie – mehr als zur direkten. Daher viel Parlamentsreform. Meine Meinung zur Direktwahl der Exekutivorgane habe ich – im Vergleich zu früher, wo ich absolut dagegen war  – revidiert. Warum  ?  – Ich habe gesehen, dass die Direktwahl der Bürgermeister unaufhaltsam ist. Über diese Vorgehensweise besteht ein so großer Konsens, dass die Warnungen vor einem »Minicäsarismus auf lokaler Ebene« beinahe sinnlos sind. Ähnliches gilt für die Direktwahl der Landeshauptmänner. In diesem Zusammenhang ein Wort zum Föderalismus  : Warum soll ein Land, das viel weniger Einwohner als Bayern hat, so viel mehr Landeseinrichtungen als Bayern haben  ? Ist unsere föderalistisch-dezentralisierte Demokratie mit neun Landtagen wirklich besser  ?  – Ich war selbst Landtagspräsident, dennoch bin ich der Meinung, dass Bestrebungen, den Landtag aufzuwerten  – etwa durch die Abschaffung der Proporzregierung wie in Salzburg  – enttäuschend sind. Alle Probleme des Parlamentarismus, nämlich dass die Exekutive wesentlich stärker ist und einen großen Vorsprung an Personal, Kapital, Information und Medienzugängen hat, sind in den Länderparlamenten natürlich noch viel größer. Deshalb kann man durchaus die Frage nach der Direktwahl der Regierungen und die Einsparung der Landtage aufwerfen. Zum Schlagwort Institutionenreform muss man zunächst feststellen, dass unser System im Grunde so aufgebaut ist, dass jeder mit jedem reden bzw. zusammenarbeiten muss. Wenn nun eine Partei die Rolle der Opposition für 286

Demokratie in Österreich

richtig erachtet und eine andere nicht akzeptiert, dann ist das System blockiert und es kommt zu einer Erstarrung. Ich glaube aber nicht daran, dass es zu einer Institutionenreform kommen wird. Ich denke, es bleibt alles so, wie es ist. Die österreichische Formalverfassung entspricht nun einmal der Weimarer Reichsverfassung. Alles, was man gegen die Weimarer Verfassung vorbringen kann, gilt auch für die österreichische Bundesverfassung. Freilich hören das unsere Verfassungsrechtler nicht gerne. Bisher hatte dieser Umstand auch keine so großen Auswirkungen, da es immer der großkoalitionären Lage entsprach. Nun ist diese Großkoalition aber weggefallen und das Parlament ein Trifolium plus grünem Fleck geworden. Das ergibt ein ganz neues Spannungsverhältnis. Alles in allem müsste ein echter Wille zur Veränderung gegeben sein. Darin liegt aber genau das Problem. Zum Schluss möchte ich noch eine kleine Anekdote schildern  : Als ich gerade dabei war, das Buch »Demokratie auf österreichisch oder Die erstarrte Republik« (Wien  : Czernin Verlag 1999) zu schreiben, hat mich ein Kellner in Lackenhof am Ötscher gefragt  : »Was schreiben S’ denn da  ?« Ich habe ihm daraufhin geantwortet  : »Über die Demokratie in Österreich.« Worauf er meinte  : »Haben wir denn eine  ?« Natürlich musste ich sehr lachen, aber andererseits hat es mich auch betroffen gemacht … […] Ich bin durchaus der Auffassung, dass eine Verfassungsreform nicht »nur« eine Institutionenreform sein soll, denn dabei bestünde die große Gefahr von den eigentlichen Problemen abzulenken. Die wirklichen Aufgaben liegen im richtigen Umgang mit den neuen Machtblöcken. Eine Auseinandersetzung mit den Bereichen, die gar nicht verfasst sind, ist wichtiger, als in den verfassten Institutionen da und dort kleine Reformen durchzuführen. Auch die Globalisierung mit ihrer Tragweite bzw. die »EU-isierung« und ihre Auswirkungen auf unsere nationalstaatliche Verfassung werden viel zu wenig diskutiert. […] Ich möchte noch einige Dinge ansprechen. Das eine ist die Partizipation am politischen Prozess und wie man Menschen motivieren kann, sich um Dinge zu kümmern, die nicht ihr unmittelbares Privates sind. Wer dieses Motivierungs- und Mobilisierungspotenzial zu nutzen versteht, ist der Politiker der Zukunft. Derzeit fehlt in der Politik oft das Gefühl dafür und für dementsprechende Reformen. Es fehlt die Reformstimmung. Die Versuchung, Politik in 287

Demokratie in Österreich

kurze Floskeln zu verpacken ist hingegen groß. Es wird wenig an Inhalten und Programmen geboten und so fehlt die intellektuelle Auseinandersetzung der Bürger und Bürgerinnen mit Themen. Man muss nach wie vor Stimmungen mobilisieren können. Oft fehlen aber Diskussionsbereitschaft und Konfliktkultur und somit wichtige Voraussetzungen für politische Partizipation. Auch das Verhältnis Bürger – Abgeordneter ist immer wieder neu zu überdenken. Eines ist auf jeden Fall klar  : Als Politiker muss man die Menschen gern haben.

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Die Macht des Wortes (2002)

In einer Zeit, wo uns die Erfahrungs- und Anschauungsmenge aus allen Bereichen erdrückt, haben Medien die Orientierungsfunktion schlechthin. Trotzdem sind wir oft »overnewsed« und »underinformed«. Auf allen Gebieten lautet die Frage  : »Wie informiere ich mich richtig  ?« Unseren Rechtsstaat schützen Die selbstständige Informationsbeschaffung ist für jeden Lehr- und Lernziel geworden. Das gilt auch für die Politik. Sie ist oft unverständlich und undurchsichtig, vor allem manche politische Akteure und ihre Politik. Ihre Spielregeln kann man lernen, z. B. die Verfassung. Aber sie ist nur ein kleiner Teil. Sie betrifft mehr das Ritual der wiederkehrenden politischen Entscheidungen und Handlungen, so etwa das Verfahren und die Form in Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Das begründet formale Sicherheit, Verhaltenserwartungen und reduziert ein wenig die Komplexität. Aber mehr als in anderen Bereichen kommen in der Politik wechselnde Ziele, veränderte Inhalte, neue Ereignisse und vor allem Zufälle zum Zug. Alles fließt, die Verfassung steht. Die beste Verfassung kann Politik nicht vorausberechnen und vorhersehbar machen, geschweige denn mess- und kontrollierbar. Die beste Verfassung ersetzt auch nicht den Charakter. Aber wie sagt Karl Popper  ? »Wir brauchen in der Politik nicht so sehr gute Menschen als gute Institutionen, welche eine Kontrolle über die Herrscher einräumen.« Gute Institutionen können sogar schlechte Herrscher zu einer Politik bringen, die im Interesse der Beherrschten liegt, oder sie zumindest daran hindern, allzu viel Schaden anzurichten. Wir müssen sie schützen, wenn sie angegriffen werden. Wir haben einen Rechtsstaat, für den wir als Demokraten streiten müssen. Unsere rechtsstaatliche Demokratie und unser demokratischer Rechtsstaat sind werthaft. Sie müssen aber auch wehrhaft sein. Sie sind es durch uns. 289

Die Macht des Wortes

Demokratie beruht auf Vertrauen und Verantwortung. Wir wählen, weil wir jemandem vertrauen. Aber was wissen wir über die, denen wir vertrauen, deshalb wählten und so verantwortlich machen  ? Wir sind auf die Medien verwiesen. Noch mehr sind Politiker auf die Medien angewiesen und brauchen die Vermittlungsleistung auf der Input- und Outputseite. Nur so können sie Vertrauen und Unterstützung für ihr Handeln gewinnen. Die Medien wiederum brauchen die politischen Akteure und ihre Politik. Nur so können sie ihrer Informations-, Meinungsbildungs-, Kritik- und Kontrollfunktion nachkommen. So überschneiden sich Politik und Medien und arbeiten oft in einer Symbiose. Aber sie arbeiten nach unterschiedlichen Regeln.

Hauptziel Präsenz Als Journalist soll ich erkennen und mitteilen, was ist. Ich muss aber auch dabei an meine Adressaten denken und an meine Chefs, die nach Absatz und Quoten schielen. Danach richtet sich das Sammeln, die Auswahl, die Bearbeitung und die Darstellung von Informationen. Als Politiker soll ich wissen, wo den Menschen der Schuh drückt, Probleme wahrnehmen und zu ihrer Lösung beitragen und dabei bedenken, was notwendig, zweckmäßig, möglich ist, und danach handeln und entscheiden. Aber jeder politische Akteur will auch in den Medien an- und durchkommen. Das wurde für viele zum Hauptziel.

Die vierte Macht im Staat Schon im ersten österreichischen Sozialkundebuch für politische Bildung 1969 zitierte ich den Satz  : »Wer die Massenmedien beherrscht, beherrscht die Wählerschaft  ; wer die Wählerschaft beherrscht, beherrscht den politischen Prozess.« Daher versucht Politik immer wieder die Medien zu beeinflussen. »Der Zugang zum Machthaber ist der Zugang zur Macht«, sagt Carl Schmitt. Dieser Zugang ist heute auch der zu den Medien. Die Aufmerksamkeit dieser soll auf Themen gelenkt werden, welche die Politik für wichtig hält. Themen, Schlagwörter, Fahnenwörter werden durch besondere politische Akteure als Communicators transportiert. Jedes Thema soll mit einem geeigneten Bezugsrahmen versehen werden. Für diese Agenda-Setting- und Framing-Arbeit werden Techniken aus der Public-Relations- und Werbebranche eingesetzt. Es gibt formelle und informelle 290

Die Macht des Wortes

Wege, um die Medienberichterstattung im Sinne der Politik zu beeinflussen. Am einfachsten spielt sich das in öffentlich-rechtlichen Rundfunkeinrichtungen ab. Da genügt eine Novelle oder ein neues Gesetz, um Mehrheitsherrschaft wenigstens im Ansatz zu etablieren. Informell agiert Politik über verschiedene Kanäle, z. B. »Hintergrundgespräche«, direkte persönliche Kontakte, durch symbiotische Beziehungen und Verhältnisse. Allerdings darf man sich nicht auf »Off-records«Gespräche verlassen. Auch hier gilt  : Wem kann ich mehr und wem kann ich weniger vertrauen  ? Als Politiker wurde ich oft von Journalistinnen und Journalisten gefragt  : »Hob’n S’ wos  ?« Ich hatte immer etwas, nicht immer war es allerdings das, was ihnen passte und was sie wollten. Aber gut vorberatene und aufbereitete Themen kommen immer an. Es gibt leider das Zeitdilemma in der Politik. Trotzdem wissen Politiker wenigstens über die Medien Bescheid. Bürger müssen da bescheidener sein. Sie können schwer unterscheiden, wo die objektive Information aufhört und die Meinungsmanipulation beginnt.

Die Freiheit der Gesellschaft Meinungsäußerungs-, Presse-, Rundfunk-, Informations- und Medienfreiheit sind Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft. All diese Kommunikationsfreiheiten bedeuten die Freiheit der Gesellschaft. Eine unabhängige Informationsvermittlung unter Vermeidung einseitiger und monopolistischer Beherrschung der Meinungsbildung ist eine Lebensfrage der Demokratie. Die Macht der Medien bedeutet daher die Gefahr gemachter Meinung. Man darf somit tatsächlich nie »alles glauben, was in der Zeitung steht«. Über Außergewöhnliches wird bevorzugt berichtet, Sensation als Information geboten, Ausnahmeerscheinungen werden mit hoher Aktualität präsentiert. Das Normale und Alltägliche ist nur ausnahmsweise interessant. Konflikt rangiert vor Konsens. Als Politiker wird man dagegen oft von Leuten mit der Frage konfrontiert  : »Müsst ihr so viel streiten  ?« Allerdings auch mit der Forderung  : »Lasst euch nicht so viel gefallen  !« Als Wissenschaftler muss ich feststellen  : Manches, was in der Zeitung steht, ist falsch. Und der Rest ist unvollständig. Sehr wohl  : Medien müssen auswählen, weglassen, vereinfachen. Immerhin sind Tausende Informationen jeden Tag zu bearbeiten. Auch Politiker müssen selektieren und vereinfachen. Als einmal ein Bundeskanzler sagte  : »Es ist eben alles sehr kompliziert«, hatte er also recht. Aber Politiker müssen manchmal geradezu »terrible simplificateurs« werden, nicht zuletzt, um in den Medien durchzukommen. 291

Die Macht des Wortes

Wider den Grobianismus Die Praxis von Politik und Medien macht immer wieder alte Probleme bewusst  : so den Umgang mit der Sprache. Beide stehen in der Verantwortlichkeit des Formulierens. Politische Beredsamkeit ist eine besondere Tugend. Es mag manchmal nicht ohne »sound bites« gehen, aber Untergriffe und Verbalradikalismus führen leicht zum Grobianismus. Grobianismus ist besonders in unruhigen Zeiten üblich. Es kommt dann leicht zu einer Politik der Gefühle, in der sich Menschen vom Denken verabschieden  : Von der Gewalt der Worte über Gewalt gegen Sachen kommt es leicht zur Gewalt gegen Menschen. Das uralte »Freund-Feind-Spiel« wird aktuell. Aber Politik in einer freien Gesellschaft ist kein Freund-Feind-Verhältnis, sondern ein Polylog, ein vielstimmiges Gespräch, ein Miteinanderreden, das nie aufhört. Alte lateinische Sprichwörter helfen zur Orientierung  : »Fortiter in re, suaviter in modo«, also  : »Hart in der Sache, milde in der Form«. Über den Wiener Gemeinderatssaal steht der Satz  : »Quidquid agis, prudenter agas et respice finem.«  – »Was immer du tust, tu es klug und bedenke die Folge, die Konsequenz.« Das ist ein Appell an die Verantwortungsethik, welche die Gesinnungsethik ergänzen soll. »Si tacuisses, philosophus mansisses.« – »Wenn du geschwiegen hättest, wärest du ein Philosoph geblieben.« »Et iam dimissum, volat irrevocabile verbum.« – einmal weggeschickt, fliegt unwiderruflich das Wort hin.« Oder wie Bruno Kreisky es formulierte  : »Das gesprochene Wort ist wie eine Kugel aus dem Lauf.« Er ging als Journalistenkanzler in die Geschichte ein. »Ich bin der Meinung«, sagte er oft, und damit gab er sich liberal. Er war der Meinung, dass man so reden soll, dass man verstanden wird. Das war eine der Ursachen, warum er langsam redete. Er wusste, wie viele Menschen auf die Massenmedien angewiesen sind und wie hastig das Wort vorbeifliegt. Deshalb ließ er den Menschen Zeit. Es gibt aber verschiedene Redner. »Es gibt solche, die lassen einen Schwall auf die Leute los und glauben, es reicht, und es gibt auch Leute, denen das gefällt. Ich bin ein langsamer Redner und will haben, dass die Leute mich verstehen. Ich war mir auch stets der Problematik bewusst, die darin besteht, dass man auch etwas Falsches sagen kann«, so der Medienkanzler.

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Die Macht des Wortes

Mediokratie – der fabelhafte Schein Seit langem werden die Medien als vierte Gewalt im Staat bezeichnet. Aber sie gehen weit über den Staat hinaus und betreffen die ganze Gesellschaft. Sie sind in Wirklichkeit die erste Gewalt. Sie sind eine Macht, die allein schon aufgrund der Kommunikationsfreiheit weitgehend außerhalb des Staates steht und anderes und mehr ist. Viele sprechen von einer kopernikanischen Wende der Politik. Die Parteien- und Verbändedemokratie von gestern verwandelte sich zur Mediendemokratie, die »Partitokratie« zur »Mediokratie«. Regeln des Mediensystems wurden zunehmend Regeln der Politik. Es findet ein Rollentausch statt. Während in der Parteien- und Verbändedemokratie die Medien die Politik beobachteten und darüber berichteten, beobachten heute politische Akteure die Medien, um zu lernen, wie sie sich und was sie präsentieren sollen. »Parteien und Medien geraten zu Akklamationskulissen für mediale Inszenierungen der Spitzenakteure. Das Machtdreieck von Gesellschaft, Parteien und Staat wird durch das neue Machtdreieck Spitzenakteure, Medien, Populistische Strategie ersetzt. Während früher die Politik das Mediensystem kolonisierte, wird derzeit Politik durch das Mediensystem kolonisiert.« Diese Diagnose des Politikwissenschaftlers Thomas Meyer mag in manchem überzogen sein. Aber die Tendenzen in die Richtung Mediokratie bestehen. Die Germanistik erklärt uns das Drama als eine mimisch und dialogisch gefärbte Handlung. Setzen wir statt Drama Politik, so haben wir das Theater. Theater, Bühne, Szene, Arena, Zirkus. Das sind Bilder für die Politik. Die ganze Welt ist »Bühne«. »Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.« Wir Österreicher wissen seit der Barockzeit, spätestens seit dem Rokoko  : Theater ist Politik. In der Theatrokratie kommt es auf die Schauspieler an. Meyer analysiert in »Politik als Theater«  : »Die elektronische Bühne erzeugt eine Ästhetisierung von Politik, die sich tendenziell unabhängig davon macht, ob die gestellten Bilder durch politisches Handeln gedeckt sind oder nicht. Ein großer Teil der Energien, Intelligenz und Planungen der Politik wird auf die Erzeugung eines Anscheins politischen Handelns durch die wirkungsvolle Inszenierung visueller Sinneseindrücke und kalkulierter Bilder gerichtet, die an die Stelle von Information, Interpretation und Diskurs treten.« Der Schein bestimmt das Bewusstsein und dann das Sein  ! Politik ist Theater mit ernsten Folgen. Bei uns hat man oft den Eindruck, dass zu viel á la Pawlow gespielt wird. Wenn die Regierung etwas sagt, ist die Opposition dagegen und umgekehrt. »Das ist bei uns so Sitte, chacun à son gout«, heißt es in der »Fle293

Die Macht des Wortes

dermaus«. Aber sind wir nicht wirklich manchmal ein Opperettenstaat  ? Oder überhaupt  : War es je anders  ? Politik als »ludus mundi« ist uralt. Spieltrieb und Machttrieb steigern sich gegenseitig. Manche Techniken der Macht haben sich geändert, aber die Technik, den Schein als Sein zu präsentieren, das »Als ob« und des »Kaisers neue Kleider«, das gehörte immer zur Politik dazu. Politik hat ja, wie Hofmannsthal die rationalen Liberalen erinnerte, mit Magie zu tun. Aber dieses Spiel kann doch nicht alles sein  ! Politik als viel Lärm um nichts für die Medien und das Publikum  ? Klappern, Konfetti, Hetz, Gaudi, Spektakelpolitik mit Spektakelpolizei, das darf doch nicht alles sein  ? Da fehlt doch etwas, da fehlt doch das Wichtigste, das Wesentliche  : die verantwortliche Entscheidung. Es geht um Entscheidungen und Regeln für ein gutes Leben. Bei allen Spielen müssen wir darauf achten, was herauskommt. Wie Dolf Sternberger feststellt  : »Man muss wissen, auf welche Weise die Entscheidungen erreicht und an welcher Stelle sie zuletzt verantwortlich gefällt werden.« Immer muss die verantwortliche Entscheidung mitgedacht werden, die aus alledem hervorgehen soll. Wie wird entschieden, und wer ist für die Entscheidung verantwortlich  ? Und wie kann die Verantwortlichkeit geltend gemacht werden  ? Hier sind wieder die Medien als Wächter gefragt.« Politik, die immer auch so war, wie sie sich der kleine Maxi vorgestellt hat, kann sich auch in der Mediokratie weiterentwickeln  : In der modernen Gesellschaft wird mehr diskutiert denn je  ; viele übernehmen die Rolle des Kindes der Aufklärung, um wie im Märchen von den Kaisers neuen Kleidern zu sagen  : »Aber er hat ja gar nichts an.« Im Strukturwandel der Öffentlichkeit zeichnen sich neue Gesprächs- und Diskussionsforen ab. Die Alternative wäre nach Meyer ein Theaterstaat  : »In ihm verbindet sich die Rückkehr der höfischen Öffentlichkeit, in der sich bloß noch die Ämter und Amtspersonen auf der großen Bühne selber darstellen, mit einer Wiederkehr der Arkanpolitik, also der Geheimpolitik, nun mehr aber nicht mehr in dem Sinn, dass die eigentliche Politik hinter prinzipiell verschlossenen Türen stattfände. Der Durchschnittsbürger erführe von ihr nur nichts Brauchbares auf der Staatsbühne.«

Von der grössten aller Verantwortungen Aber diese Entwicklungen werden wir verhindern. Um wieder mit Popper zu sprechen  : »Die Geschichte endet mit dem heutigen Tag. Wir können aus ihr 294

Die Macht des Wortes

lernen. Die Zukunft ist jedoch nie eine Verlängerung der Vergangenheit, auch keine Extrapolation. Die Zukunft existiert noch nicht, und eben darin liegt unsere große Verantwortung. Dass wir die Zukunft beeinflussen, dass wir alles tun können, um sie zu einer besseren zu machen.«

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Der diskrete Charme einer Minderheitsregierung (2002) Wenn niemand richtig will, wollen vielleicht alle ein bisschen  : Die Handlungsfähigkeit einer Minderheitsregierung ist nicht so gering, so diese die Toleranz der anderen Parteien geniesst

Wolfgang Schüssel hat 1999 die Nationalratswahlen verloren, Anfang 2000 die Regierungsbildung gewonnen. 2002 hat Schüssel die Wahlen gewonnen  ; wird er auch die Regierungsbildung gewinnen  ? Anton Pelinka meint, dass ihm alle drei möglichen Koalitionspartner abhanden kommen könnten. Am Ende könnte nur die Alternative zwischen Neuwahlen im Frühjahr 2003 und der Bildung einer Minderheitsregierung liegen. Es ist merkwürdig, wie viele Schüssel die Bildung einer Minderheitsregierung trotz der diesbezüglichen ablehnenden Haltung des Bundespräsidenten zutrauen. Mag sei, dass der Wunsch gegen alte, eingefahrene Koalitionsmuster wie die von Rot und Schwarz, gegen die gescheiterte Koalition Schwarz-Blau und das mangelnde Vertrauen zu einer Variante Schwarz-Grün Gründe für diese »Minoritätspräferenz« sind. Die Bildung einer Koalitionsregierung ist Schüssel aber sehr wohl zusinnbar. Peter Ulram meint  : »Es wird sich schon jemand finden.« Man wird an die »Arabella« erinnert. »Aber der Richtige, wenn es ihn gibt.« An und für sich durchzieht die Verfassung wie ein roter Faden das Prinzip der Mehrheit. Dafür finden sich viele Belege von der Bundespräsidentenwahl bis zu den Beschlussfassungen der allgemeinen Vertretungskörper. Bei der Bundesregierung ist es anders. Sie muss bei ihrer Bestellung nicht ausdrücklich die Mehrheit des Parlaments hinter sich haben  ; sie darf nur nicht gleich durch ein Misstrauensvotum gestürzt werden. Andererseits gilt für ihre Willensbildung nicht das Mehrheitsprinzip  ; für ihre Beschlüsse muss Einstimmigkeit gegeben sein. Aber sie bedarf des Vertrauens des Bundespräsidenten. Minderheitsregierungen sind Präsidialkabinette. 297

Der diskrete Charme einer Minderheitsregierung

Minderheitsregierung ist kein Rechtsbegriff, sondern ein politischer Begriff. Vereinfacht gesprochen besteht sie aus Repräsentanten einer Partei, die im Parlament nicht über die absolute Mehrheit verfügen. Auch wenn die Regierung ganz oder zum Teil aus parteilosen Persönlichkeiten, etwa parteiungebundenen Fachleuten, gebildet wird, kann man von Minderheitsregierung sprechen. So oder so muss sie das Vertrauen des Bundespräsidenten haben. Er ernennt sie, und er kann den Kanzler oder die ganze Regierung entlassen.

Viele Mehrheiten Da in Österreich kein sogenanntes Vertrauensvotum nach der Bestellung der Regierung notwendig ist, muss sie nur darauf achten, dass sie im Parlament nicht gleich ein Misstrauensvotum erhält. Sie muss also vor allem so agieren, dass es nicht aufgrund eines Misstrauensantrages zu einem solchen Beschluss kommt. Sie muss darüber hinaus für ihre Politik jeweils Mehrheiten suchen. Offenbar traut man Wolfgang Schüssel zu, dass er – wie etwa die Führer der schwedischen Sozialdemokratie – solche Mehrheiten mit Geschick sucht und findet. Er braucht ja in jedem Fall immer nur eine einzige der drei Parteien, um eine Mehrheit zu bilden. Dem erfahrenen Kanzler traut man zu, dass er hier als Klavierspieler die richtigen Töne findet, um die Musik zu machen. Aufgrund der Wirtschaftslage und der Haltung der anderen Parteien ist das wohl beim Budget am schwierigsten. Eine Minderheitsregierung ist eine Alleinregierung. Daher kann sie die einzige sein, die rasch Reformkonzepte herstellt. Ob diese Konzepte auch Konsequenzen in Gesetzen haben, ist eine Frage der Verhandlungen. Aber bei anderen Regierungsformen muss man schon verhandeln, bevor man in die Regierung geht. Insofern kann eine Minderheitsregierung leicht gute Lösungen anbieten. Ist die Existenz einer Minderheitsregierung durch eine Toleranz der anderen Parteien gesichert, ist ihre Funktionsfähigkeit gegeben. Eine etwaige Abstimmungsniederlage im Parlament hat nicht eine Enthebung zur Rechtsfolge. Das wäre nur bei einem Misstrauensvotum der Fall. Die Minderheitsregierung wird wahrscheinlich nicht alt. Sie hat etwas Junges an sich. Allerdings wird man gerade von ihr immer an alte Regierungen erinnert  ; denn sie muss sich der Technik des Einsiedlerkrebses bedienen und zumindest zunächst in die Bundesministerien nach dem Bundesministeriengesetz früherer Zeiten einrücken. Ein neues Ministeriengesetz ist nicht gleich zu 298

Der diskrete Charme einer Minderheitsregierung

erreichen, und wenn es da ist, kann die Minderheitsregierung schon fort oder eine einstweilige Bundesregierung geworden sein. Diese nennt man Caretaker. Caretaker kann aber auch die Minderheitsregierung sein. Aber beide haben dieselben Rechte und Pflichten wie eine definitive Regierung, welche über die absolute Mehrheit im Parlament verfügt. Die Minderheitsregierung kann Vorlagen zu Gesetzen einbringen, Vorschläge zu Akten des Bundespräsidenten erstatten, dem Nationalrat den Voranschlag vorlegen, gegen Gesetzesbeschlüsse der Landtage Einspruch erheben, bestimmte Kategorien von Staatsverträgen abschließen, innerhalb ihrer Wirkungsbereiche aufgrund der Gesetze Verordnungen erlassen, die Überprüfung eines Landesgesetzes auf seine Verfassungsmäßigkeit beim Verfassungsgerichtshof beantragen etc. Im B-VG allein findet man über sechzig Zuständigkeiten der Bundesregierung. Dazu kommen Zuständigkeiten aufgrund anderer Rechtsnormen und die unvorstellbare Zahl von Zuständigkeiten der einzelnen Bundesminister, die im Einzelnen noch niemand gezählt hat. Österreich ist ja eine Ministerrepublik. Die Hegemonie der Regierung in der Außenpolitik würde bestehen bleiben. Dazu kommt ihre »Monopolstellung« im Bereich der EU-Organe. Sie kann also national und international gestalten und steht im Scheinwerferlicht der Medien. Dazu kommen Politiken wie die Staatspersonal-, Auftrags-, Interventions- und Subventionspolitik. Insofern zahlt sich eine Minderheitsregierung im wahrsten Sinne des Wortes aus, ganz abgesehen davon, dass man mehr Ministerposten hat. Hinsichtlich Information, Medien, Expertise, Personal und Kapital ist sie dem Parlament weit überlegen. Parlament aufgewertet Trotzdem ist dieses bei einer Minderheitsregierung in allen seinen Funktionen aufgewertet. Es kommt zur politischen Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung  ; ansonsten sind beide nur Teile einer politischen Maschinerie, die vom selben Motor betrieben werden, nämlich von der Mehrheit. Bei der Minderheitsregierung steht einer homogenen Regierung eine heterogene Opposition gegenüber, welche alle Funktionen des Parlaments gegenüber der Regierung wahrnehmen kann, Gesetzgebung, Kontrolle, Mitwirkung an der Vollziehung usw. Eine Minderheitsregierung muss auch die Gesetze vollziehen, welche die in ihr nicht vertretenen Parteien beschlossen haben. Vielleicht hat nicht zuletzt 299

Der diskrete Charme einer Minderheitsregierung

aus dem Grunde dieser neuen Gewaltenteilung, die für manche die alte Gewaltenteilung der Verfassung ist, die Minderheitsregierung »ihren Charme«.

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Globalisierung und Menschenrechte (2004)

Die Globalisierung ist unser Schicksal. Sie wurde mein besonderes Schicksal. Denn ohne sie hätte ich nicht eine kirgisische Diplomatin geheiratet. Ohne sie wäre ich jetzt auch nicht in der Republik Kirgisistan. In meiner Jugend gab es einen Amerikaner, der sich Weltbürger Nummer eins nannte. Heute sind wir alle Weltbürger, ob wir es wollen oder nicht. Damals suchten wir noch nach Österreich, nach der österreichischen Nation oder nach etwas Österreichischem. Heute finden wir uns in einer Welt wieder. Wir sind eine Weltgesellschaft geworden. Herbert Achternbusch sagte es einmal deutlich  : »Gestern war hier Bayern. Heute ist hier die Welt.« Wir können sagen  : »Gestern war hier das Waldviertel, jetzt ist es auch ein Weltviertel  !«

Globalisierung Globalisierung begann vor Jahrhunderten. Europäische Imperialismen und Kolonialismen haben den Prozess beschleunigt. Aber erst im ausgehenden 20. Jahrhundert wurde das Wort zum Schlagwort. Es hat zurzeit rund 265.000 Eintragungen im Internet. Meist wird es ökonomisch verstanden. Tatsächlich ist der Kapitalismus das moderne Weltsystem, das eine Weltwirtschaft entwickelt und sich über die gesamte Erde ausgedehnt hat (vgl. I. Wallerstein, The Modern World System, New York 1981). Im ausgehenden 20. Jahrhundert hat das kapitalistische Weltsystem sein großes Gegengewicht, den Kommunismus, verloren. Der Kapitalismus hat sich neu strukturiert und modernisiert  : größere Flexibilität des Managements, Dezentralisierung, Vernetzung, Machtzuwachs für das organisierte Kapital, Verlust des Einflusses der Arbeitnehmer und Gewerkschaften, zunehmende Individualisierung und Diversifizierung der Arbeitsbeziehungen, verstärkter globaler Wettbewerb vor dem Hintergrund zunehmender geografischer und kultureller Ausdifferenzierung der Rahmen301

Globalisierung und Menschenrechte

bedingungen von Kapitalakkumulation und Management. So sieht Manuel Castells die Generalüberholung des kapitalistischen Systems. Die Folgen sind  : Die Integration der Finanzmärkte, Aufstieg der asiatischen Pazifikregion zum neuen globalen Zentrum, mühselige Einigung Europas, Entstehen einer nordamerikanischen Regionalwirtschaft, Ausdifferenzierung und Desintegration der Dritten Welt, Transformation Russlands und des früheren sowjetischen Einflussbereiches zu Marktwirtschaften, die Integration der wertvollen Teilbereiche von Volkswirtschaften auf der ganzen Welt in ein System (vgl. M. Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil 1  : Das Informationszeitalter, Opladen 2001). So entsteht eine neue Welt als Gruppierung weltumspannender Märkte und Unternehmen. Weltmarkt ist ein globaler Prozess, an dem wir alle teilnehmen. Wir alle sind betroffen. Es »herrscht« ein Wirtschaftssystem, das nicht mehr oder nur in geringem Ausmaß von den 200 Staaten und ihren politischen Institutionen kontrolliert wird. Volkswirtschaften auf der ganzen Welt sind heute global interdependent. Ja, es herrscht ein Weltwirtschaftssystem, das nicht oder kaum Rechtsnormen unterliegt. Wenn es Rechtsnormen gibt, so stehen sie weitgehend im Dienste dieses Systems. Vor einem Monat wurde am Sitz der Welthandelsorganisation in Genf von den 147 Mitgliedstaaten der WTO das weitere Arbeitsprogramm zur Relance der DOHARunde im Konsens gebilligt. Damit steht ein Verhandlungsrahmen mit Zielen, Leitlinien und Methoden zur weiteren Liberalisierung des multilateralen Welthandelssystems. Außerdem wurde beschlossen, den Termin für die laufende Handelsrunde auf Dezember 2005 zu verschieben. Dem Ideal nach soll dieses System der bestmöglichen Verteilung der Güter und Dienstleistungen dienen. Doch nur ein System, das für alle Güter und Dienstleistungen aller gleich gilt, kann langfristig sicherstellen und gewährleisten, dass Handelsliberalisierung jedermann zum Vorteil gereicht. Die positiven Auswirkungen der Globalisierung lassen auf sich warten. Als Liberaler glaubt man jedoch daran.

Ungleichheit Das Welthandelssystem ist inkonsequent. Den reichen Staaten gelang es immer wieder, bestimmte Bereiche ihrer Wirtschaft unter Heimatschutz zu belassen. Das zeigt, dass einzelne Staaten doch noch einigen Einfluss haben. Gerade auf dem Gebiet der Landwirtschaft ist es den Industriestaaten gelungen, ihre Interessen durchzusetzen und den Prozess der Globalisierung für einige Zeit auf302

Globalisierung und Menschenrechte

zuhalten oder zu verlangsamen. Augenscheinlich profitieren vor allem große Kapitaleigentümer von der Globalisierung, die breite Masse der Kleinen gar nicht oder nur langsam. Die Entwicklungsberichte der UNO zeichnen immer wieder ein düsteres Bild. Von den rund 200 Staaten der Welt sind heute 54 ärmer als 1990. Die Welt ist ein Dorf geworden. Das Dorf ist zweigeteilt. Ein Bild Philipp Harters von der Standford University aus dem Jahr 1999 zeichnet die Welt als 100-Einwohner-Dorf  : 57 Asiaten, 21 Europäer, 8 Afrikaner usw. 80 wohnen in Elendsvierteln 70 können nicht lesen 50 hungern, sind fehl- und unterernährt Einer hat einen PC und Universitätsabschluss In allen Staaten gibt es Gewinner und Verlierer der Globalisierung. Die ungleichmäßige Entwicklung der Welt hat sich beschleunigt. Die Ungleichheit besteht aber nicht nur zwischen dem Norden und dem Süden, sondern auch zwischen den dynamischen Segmenten und Regionen in Gesellschaften an jedem beliebigen Ort der Welt und auch in jenen Orten, die Gefahr laufen, für das System irrelevant zu werden. Wir beobachten zeitgleich nebeneinander das Entfesseln der gewaltigen Produktivkräfte der informellen und biotechnologischen Revolution, daneben aber ungeheures menschliches Elend. Das Massen­ elend innerhalb der globalen Wirtschaft und die Aussichtslosigkeit für junge Menschen in vielen Regionen ist eine Quelle für neue Formen gewaltsamer Auseinandersetzungen. Der Terrorismus im globalen Dorf der wirtschaftlichen Verflechtungen hat zu einer eigenen »Terrorökonomie« geführt. Diese neue Ökonomie ist eines der Nebenprodukte der Globalisierung und ihres Tempos. Dazu die Neue Zürcher Zeitung (Nr. 162/2004, S.  11)  : »Die Globalisierung hat einerseits nichtstaatlichen Organisationen Raum gegeben, die sich für eine Vielzahl liberaler Ideen, für soziale Veränderungen und wirtschaftlichen Fortschritt einsetzen, andererseits hat sie die Vernetzung von Bewegungen wie Al Kaida und eine zunehmende ›Terrorökonomie‹ ermöglicht.« Jede Emanzipation und alle Reformen haben nicht nur die Voraussetzungen für wirtschaftliche Erfolge gebracht, sie haben sich zugleich zu Ressourcen der Ökonomie des Terrors entwickelt.

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Unsicherheit Seit 1945 gab es keinen Weltkrieg mehr, aber über 500 lokale Kriege, Massenmorde, Terror, Gewalt, Unterdrückung, Vertreibung, Flucht, Hunger und Elende. In den goldenen 1990er-Jahren des 20. Jahrhunderts glaubten aber wieder viele an »Humanität durch Rationalität« und an die Überwindung der Bestialität. Das 20. Jahrhundert schien einen schönen Ausklang zu finden, endlich würde Weltfriede durch die Trias von Marktwirtschaft, Freihandel und rechtsstaatlicher Demokratie verwirklicht werden. Die Illusion der Sicherheit brach am 11. September 2001 gerade in den USA, die glaubten, sich auf absehbare Zeit als globale Hypermacht etabliert zu haben, zusammen. Der globale Terrorismus verunsichert seitdem die gesamte Welt und ist durch umgreifende und beschleunigte Veränderung charakterisiert. »Der große Wandel« hat alle Lebensbereiche erfasst. Erwin Laszlo spricht von »Macroshift«. Die Entwicklung der Wissenschaften und der Technik, wirtschaftliche Globalisierung, Umweltzerstörung, die Herausbildung transnationaler Institutionen und Strukturen fördern eine grundlegende Änderung unserer Denk- und Lebensgewohnheiten. Der Kalte Krieg des 20. Jahrhunderts war scheußlich, vermittelte aber Sicherheit. Seit Ende des Kalten Krieges ist die Welt unsicher. Herausforderung ist es heute, die Aufmerksamkeit auf verborgene Krisen zu lenken und die Rechte der vergessenen Opfer zu schützen. Im Amnesty International-Jahresbericht 2002 werden Verletzungen der Menschenrechte in 151 Ländern aufgelistet. Millionen von Menschen seien »durch korrupte und unfähige Justiz-, Polizei und Verwaltungsapparate, durch Unterdrückung der politischen Opposition, durch Diskriminierung und soziales Ungleichgewicht« gefährdet. Der Krieg gegen den Terror hat dazu geführt, dass die Menschenrechte eingeschränkt, das internationale Recht untergraben und Regierungen vor öffentlicher Kontrolle geschützt werden. 2002 wurden in 28 Staaten Menschen hingerichtet, in 61 Ländern zum Tode verurteilt. In 42 Staaten wurden Menschen ohne gesetzliche Grundlage hingerichtet. In 33 Staaten sind Menschen verschwunden. In 106 Ländern sind Menschen durch Sicherheitskräfte, Polizei oder andere Staatsorgane misshandelt worden. In 34 Staaten wurden Menschen allein aufgrund ihrer Meinung, Herkunft, politischen Einstellung oder Religion inhaftiert. In 54 Ländern wurden Menschen ohne Anklage eingesperrt.

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In 31 Ländern wurden nicht nur von staatlicher Seite, sondern auch durch Oppositionsgruppen, Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Geiselnahme oder das Töten von Zivilisten verübt. Jedes Jahr bleibt dieser Bericht eine Herausforderung.

Weg zur Knechtschaft – Weg zur Freiheit Ludwig von Mises hat in seinem Werk »Vom Wert der besseren Ideen« die langfristigen Vorteile der universellen Marktwirtschaft und des Wettbewerbs für alle beschrieben. Aber die Folgen von »gut gemeinten« mehr Freiheiten können wir ebenso wenig voraussehen wir die Folgen von »gut gemeinten« Staatsinterventionen und -subventionen. Friedrich August von Hayek hat diese Alternativen zu Wettbewerb und Marktwirtschaft, nämlich alle Formen von Sozialismus, als »Wege zur Knechtschaft« bezeichnet. Die Konsequenz ist, kurz gesagt, »1984«. Freiheit, Verantwortung und Würde seien nur in einer Marktwirtschaft und Zivilgesellschaft möglich. Der Rechtsstaat müsse das gewährleisten. Der herkömmliche Wohlfahrtsstaat, verbunden mit hoher Steuerlast, führt zur Abhängigkeit vom Staat, nimmt so dem Einzelnen Freiheit und Verantwortung. Damit sei aber auch die Würde jedes Einzelnen geschädigt, ganz abgesehen davon, dass Abhängigkeiten die Moral vermindern. Die Folgen von Privatisierung, Deregulierung, mehr Mobilität, Flexibilität und Autonomie sind andere. Aber auch sie konnte man nicht voraussehen. Mit der Globalisierung und den daraus resultierenden Entwicklungen ist eine neue Individualisierung verbunden. Es folgt die Entbindung aus Ordnungen, Traditionen, Milieus und sozialen Beziehungen, in der Formulierung Ralf Dahrendorfs »mehr Optionen, weniger Ligaturen«. Mit dieser Herauslösung aus den Bindungen von früher wird der Einzelne zwar »freier« und mehr und mehr für sich selbst verantwortlich, verliert dadurch aber die Sicherheit. Gibt es aber keine Sicherheit mehr, wo bleiben dann Würde und Freiheit  ? Kurz und simplifiziert könnte man die Auswirkungen als eine »Brave New World« bezeichnen. Weltethos als Ergänzung der Menschenrechte Wie bei allen Strukturreformen sind auch bei mehr Freiheit Mentalitätsreformen notwendig. Um eine solche Reform im Zuge der Globalisierung bemüht 305

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sich das Projekt Weltethos, das Hans Küng entworfen hat. Ausgehend von den fundamentalen Krisen in der Welt stellt die Erklärung über das Weltethos 1993 die Verantwortung aller für eine bessere Weltordnung an den Anfang. Was die allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen 1948 proklamierte, will die Erklärung vom Ethos her bestätigen und vertiefen. Menschenrechte ohne Moral führen zu Egoismen ohne Zahl. Es geht um den universellen Grundkonsens und um Frieden. Die goldene Regel  : »Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg’ auch keinem andern zu«, oder  : »Was du willst, dass man dir tut, das tue auch den anderen«, ist die Grundlage für vier umfassende, uralte Richtlinien. Dazu gehören die Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor dem Leben, die Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung, die Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit, die Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau. Dieses Weltethos ist keine neue Weltideologie und auch keine Weltreligion jenseits aller Religionen, es ist, kurz gesagt, die Weltmoral der Weltgesellschaft, welche die Menschenrechte ergänzen und ausbalancieren soll. Dafür arbeitet die Stiftung Weltethos und viele, die von dieser Initiative überzeugt sind, so auch die Initiative Weltethos in Österreich. Wie die vielen Tausenden NGO’s für eine bessere Welt sind, ist auch das Projekt Weltethos zukunftsorientiert. Die Globalisierung hat ganz neue Voraussetzungen für das Verhalten der Menschen gebracht. Ökonomisch hat sie die ganze Welt erfasst. Es gibt kaum einen Bereich, der nicht davon betroffen ist. Politik, Verkehr, Transport, Fremdenverkehr, Kommunikation, Wissenschaft und Kunst sind in diesen weltweiten Prozess involviert. Die Weltkultur etwa ist stärker als eine rein europäische. »Profitiert« haben bis jetzt allerdings nur bestimmte Schichten in den Entwicklungsländern. Ansonsten verstärkt die Globalisierung bis dato die vorhandenen Ungleichheiten. Es gibt mehr Diskriminierungen und Privilegierungen als je zuvor. Was sagen die Menschenrechte dazu  ? Auch sie sind Teil der Globalisierung. Seit der Menschrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 ergingen Hunderte von Konventionen und Abkommen, die sie weltweit oder kontinentweise weiterentwickelten. Exemplarisch hervorgehoben seien hier die Weltpakte für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und für bürgerliche und politische Rechte aus dem Jahr 1966 sowie die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten aus dem Jahr 1950 mit Zusatzprotokollen. Der Mensch wurde weltweit vom Objekt zum Subjekt, das war die kopernikanische Wende im Völkerrecht. Die Idee der Staatsmachtbe306

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schränkung und -steuerung durch Menschenrechte hat die Welt verändert. Die Menschenrechtspakte wurden Ansatz zu einem Weltrecht der Menschen in einer Weltgesellschaft. So wurden mit der Emanzipation aus alten Ordnungen die faktische Freiheit und mit den Menschenrechten auch die formelle Freiheit weltweit vergrößert.

Der einzelne Mensch auf der Suche Es stellt sich nun die Frage  : Was hat der Einzelne davon  ? Sein Leben ist ein enttraditionalisiertes, experimentelles, reflexives geworden. Bindungsauflösungen von Familien, Nationen, Staaten verunsichern. Das Leben wird zum Wahlfortsetzungsroman. Da sich der Einzelne immer weniger auf den gesellschaftlichen Rahmen von früher, auf alte Normen und Traditionen stützen kann, wächst die Verantwortung zum eigenen Leben. Durch diese Herausforderung ist er oft überfordert. Denn die Suche nach neuen Strukturen, das Aushandeln von Regeln und ein immer wieder neues Entscheiden bedeuten eine Belastung und einen dauernden Kampf, wenn man sich nicht völlig den neuen Zwängen der Arbeits- und Freizeitindustrie und dem Konsumdenken unterwerfen will. Die Modernisierung bringt mehr Freiheit in Berufs- und Partnerwahl, in Lebensgestaltung und Selbstsein. Diese Verhältnisse erzwingen eine  – oft gar nicht gewünschte – Selbstbestimmung. Freiheit ist schön, aber mühsam. Sie ist vielleicht deshalb so schön, weil sie mühsam ist. Die Menschenrechte sind zwar mehr und mehr geworden, wenden sich aber im Wesentlichen gegen einen Staat, der längst nicht mehr das ist, was er einmal war. Wir können frei wählen, mehr sozialen Aufstieg und Selbstentfaltung können Verzweiflung, Sucht und Kriminalität mit sich bringen. In unseren Breiten steigert sogar beruflicher Aufstieg den Mehrwert an Glück nur geringfügig, er bringt eher mehr Probleme mit sich. Daher wirkt die Motivation durch höheres Einkommen nur insoweit, wie Tätigkeitsfreude nicht in der Arbeit selbst, sondern in der Freizeit gefunden werden kann. In der Informations- und Wissensgesellschaft setzt auch das gesellschaft­liche Management immer mehr auf Freiheit und »intrinsische Motivation«. Aber unter diesen intrinsisch Motivierten sind die Gefahr des Konkurrenzkampfes um jeden Preis und der drohende Verlust der Solidarität hoch. Freiheitsrechte helfen in einer solchen Situation wenig. Und soziale und ökologische Menschenrechte sind im neuen Staat und erst recht darüber hinaus nicht durchsetzbar. 307

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Das Projekt einer Weltmoral setzt sich nicht von selbst durch, es bedarf des Engagements vieler. Die Menschen suchen Glück und Sinn im Leben. Beides kann durch Menschenrechte allein nicht gewährleistet werden. Mit neuen Menschenrechten kann man das Recht auf die eigene Identität und Integrität, auf das Selbstbild, auf die eigene Stimme durchsetzen. Aber die alte Sehnsucht nach dem Glück, nach dem Wahren, Guten und Schönen lässt sich damit nicht erfüllen. Identität wird in einer Zeit der Entstrukturierung und Delegitimierung zur Quelle von Sinn und Glück. Religionen und Sekten haben neue Chancen. In der Praxis treten aber vor allem Expertensysteme an die Stelle der alten Weltanschauung. Sie sind neue Formen der »Einbettung«. Rat und Beratung haben Hochkonjunktur. Das geht von der komplexen Lebensberatung bis hin zur Umgestaltung des Körpers.

Ein Recht auf Heimat Mit der Globalisierung wurden das Regionale und Lokale aufgewertet. Das spricht besonders die Kleinräumigkeit der europäischen Landschaften an, die auch der Grund für die Ausbildung einer kulturellen Vielfalt war  : einer Vielfalt von Sprachen und Dialekten, Anbau- und Wohnformen, Ausdrucksformen in Kleidung und Schmuck, in Essen und Trinken, in Feiern und Festen. Gegliederte Kleinräumigkeit hat unsere Identitäten gebildet. Sie geben uns noch immer die Sicherheit, die wir auf der Suche nach dem sinnvollen Gebrauch der neuen Freiheiten in einer neuen Welt nötig haben. Die »Glokalisierung« hat sich durchgesetzt. Das Weltviertel bleibt Waldviertel. Die Globalisierung führt wieder zur Heimat. »Zu Hause ist’s am schönsten.« In unserer Seele gibt es diesen Winkel, in dem wir Kinder und Künstler sind. Was mit unserer Kindheit und Heimat zusammenhängt, lebt in uns als ein großer Zauber. Das Recht auf Heimat ist ein Menschenrecht, ein Naturrecht, das im Zuge der Globalisierung Sicherheit und Identitäten gewährleisten soll. Das Emigrantenschicksal im 20. Jahrhundert hat Alfred Polgar so umschrieben  : »Die Fremde ist nicht Heimat geworden. Aber die Heimat Fremde.« Die Globalisierung macht die Fremde trotz allem nicht zur Heimat. Sorgen wir dafür, dass die Heimat durch sie nicht Fremde wird. Sorgen wir aber auch dafür, dass sie Heimat für Fremde werden kann.

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Regierungsbildung und B-VG (2004) »If representative politics is what provides the vital connection between the preference of ordinary individuals and the ambitions of politicians, between elections and party competition, and between legislative politics, policy making, and the governance of the country, the the formation of a government is the focal point at which all these things come together in a parliamentary democracy.« M. Laver/K. A. Shepsle, Making and breaking governments. Cabinets and legislatures in parliamentary democracies, Cambridge 1999, S. 4.

Die Regierungsbildung – der wichtigste Vorgang ist wenig geregelt Nationalratswahlen sind wichtig. Aber die Bildung der Bundesregierung ist wichtiger, denn sie ist das wichtigste Organ des Regierungssystems. Ihre Mitglieder haben als Bundesminister und in ihrer Gesamtheit als Bundesregierung unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers die meisten und wichtigsten Zuständigkeiten. Seit dem Beitritt zur EU ist der gouvernementale Grundzug unseres Regierungssystems noch stärker geworden  : Der Bundeskanzler wirkt im Rat der Staats- und Regierungschefs und damit an den Leitlinien der EU mit, er und die übrigen Regierungsmitglieder wirken im Ministerrat an der Gesetzgebung der EU mit. Sie wurden durch den Beitritt »potenzierte Organe«. Der Bundespräsident ging leer aus. Kurz  : Der Bundeskanzler wurde Regierungschef, der Bundespräsident nicht Staatschef. Das Parlament, vor allem der Nationalrat, hat Mitwirkungsrechte, ist aber als Mehrheit politisch mit der Regierung verbunden. Aufgrund des Wahlrechts hat die Wählerschaft auf die Regierungsbildung relativ wenig Einfluss. Sie teilt die Karten für das politische Spiel aus, aber sie spielt nicht mit. Die Frage »Wer mit wem  ?« ist das Spannende, sie ist Sache der Parteiführung. Deshalb legen sie sich vor der Wahl meist nicht fest. Nach dem B-VG ist der Bundespräsident zwar Herr der Regierungsbestellung  : Er ernennt den Bundeskanzler und auf dessen Vorschlag die übrigen Bundesminister. Aber 309

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wenn er das Gesetz des Handelns den Parteien überlässt, kann er rechtlich nur nachvollziehen, was sie politisch entschieden haben. Bezeichnenderweise hat sich in der Öffentlichkeit und in den Medien der Ausdruck Angelobung durchgesetzt, obwohl der relevante Akt die Ernennung ist. Während für die Bestellung des Bundespräsidenten und für die Bildung des Nationalrates das B-VG, das Bundespräsidentenwahlgesetz, die Nationalratswahlordnung und das Geschäftsordnungsgesetz ausführliche Regelungen treffen, ist das bei der Regierungsbildung nicht der Fall. Der Bundespräsident ernennt den Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung. Das ist alles. Das ist die zentrale Bestimmung. Gegenzeichnung, Angelobung, Bestallungsurkunden sind ausführlich geregelt. Sie sind aber politisch von geringer Bedeutung  ; das, was sich politisch vor der Ernennung abspielt, ist rechtlich nicht geregelt. Die Rationalisierung der Macht, von der die Verfassung geprägt ist, ist beim wichtigsten politischen Vorgang wenig gegeben. Die Strukturprinzipien unseres Regierungssystems sind so zusammenzufassen  : Auf ein Proporzwahlsystem ist ein parlamentarisches System aufgebaut und darin ist ein volksgewählter Präsident eingebaut. Diese Prinzipien haben gewisse Bewegungstendenzen. Das Proporzwahlrecht führt meist zu einer Mehrheit von Parteien im Nationalrat, aber selten zur absoluten Mehrheit einer Partei. Koalitionen müssen gebildet werden, um eine solche Mehrheit zu bilden. Ohne eine solche Mehrheit ist das Regierungssystem auf Dauer nicht funktionsfähig. Das parlamentarische System führt in der Regel zur Gewaltenverbindung von Regierung und Parlament. Beide sind Teile einer Maschine, die vom selben Motor betrieben wird, der Mehrheit  ; meist ist nur die Opposition das Gegengewicht zur Regierung. Bei der Regierungsbildung kann dem Bundespräsidenten eine Schlüsselstellung zukommen. Er kann Kanzlermacher, unter Umständen auch Regierungsmacher sein. Da die Verfassung keine Zeitstruktur vorgibt, kann er auch das Zeitmanagement handhaben. Bundespräsident Klestil hat in diesem Zusammenhang die sogenannten Sondierungsgespräche eingeführt. Er ließ sie führen und führte sie, um alle Möglichkeiten auszuloten.1 Aber der Bundespräsident 1 Der Sprachwissenschaftler Oswald Panagl spricht von der »Zauberformel Sondierungsgespräche«. Vom Bundespräsidenten im Herbst 1999 höchstpersönlich in die öffentliche Diskussion geworfen, sei der Neologismus spontan von Politikern aller Couleurs aufgegriffen, von

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kann gegenüber einer entschlossenen Mehrheit das Gesetz des Handelns verlieren oder nie in der Hand gehabt haben. Durch die Entwicklung des Mehrparteiensystems und die Schwächung der früheren Großparteien wurde im Lauf der Zeit der abstrakte Aktionsspielraum des Bundespräsidenten bei der Regierungsbildung größer. Sind die Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat und die Verhältnisse der in ihm vertretenen Parteien zueinander »offen«, so kann das Gesetz des politischen Handelns auf ihn übergehen. Man kann es als demokratische Pflicht der Parteiführer ansehen, die Wählerschaft vor der Nationalratswahl über die angestrebten Koalitionen und die beabsichtigte Regierungspolitik aufzuklären. Denn was hat der Wähler davon, wenn er weiß, dass das Parlament jedesmal eine halbwegs maßstabsgetreue Wiedergabe der politischen Landschaft ist, wenn er aber nicht weiß, wer mit wem die Regierung bilden wird. Die Wähler wollen schon vor der Wahl wissen, wer mit wem wie regieren wird. Andernfalls ist das Proporzwahlrecht eine Fahrt ins Blaue. Die Aussagen der Parteiführer sind aber auch für den Bundespräsidenten wichtige Signale für seine Funktion bei der Regierungsbildung. Falls sich die im Parlament vertretenen Parteien bis zum Wahlgang nicht festlegen, welche Rolle sie nach dem Wahltag bei dem und dem Wahlergebnis zu spielen gedenken, ist die Initiative für die Regierungsbildung und auch ihre weitere Führung dem Bundespräsidenten überlassen. Je weniger sich also Parteiführer hinsichtlich ihrer Regierungsbeteiligung festlegen, desto mehr Gewicht kann ihm zukommen. »Kann«  : denn an einer entschlossenen Mehrheit findet er seine Grenzen. Im Übrigen kann der Bundespräsident auch zum Störfaktor werden, jedenfalls zum Kontroll- und Verzögerungselement bei den Akten, bei denen er mit der Regierung zusammenarbeiten muss. Da alle seine Akte – von Ausnahmen Journalisten der gesamten Medienszene emsig propagiert und nachgebetet worden. Das Neuwort habe sich zum Terminus des Politikjargons verfestigt. Kaum war die Wahl im November 2002 geschlagen und hatten sich die ersten Emotionen gelegt, wurde gleichsam unisono erneut der Ruf nach Sondierungsgesprächen laut. Panagl brachte seinen wortgeschichtlichen Befund auf den Punkt  : »Einen Politiker, der Sondierungsgespräche führt, begleiten drei positive Vorstellungen  : Er avanciert zum verantwortungsbewussten Kapitän, der sein nautisches Handwerk versteht. Er fungiert quasi als erfahrener Arzt, der mit seinem Instrument Wunden auslotet und Organe überprüft. Er mag aber auch als technologischer Experte gelten, der in bislang unerforschte Fernen vorstößt. Eine Fülle von erfreulichen Aspekten, dazu ein hoher Erwartungsdruck, der da auf der Politik lastet und zugleich keine geringe Gefahr birgt. Denn bei inflationärem Gebrauch und ohne erkennbaren Erfolg verkommt auch ein Hochwertvokabel bald zur Leerformel« (O. Panagl, Wortwörtlich – Sprachglossen für die Furche [2003] 2004).

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abgesehen  – nur über Vorschlag und mit Gegenzeichnung der Regierung erfolgen, ist die Zusammenarbeit systemnotwendig. Er ist in der Regel ein unselbstständiges, kooperatives Staatsoberhaupt. Doch ist die Regierung auf ihn angewiesen  ; denn er ernennt sie und kann sie oder den Bundeskanzler entlassen. Das ist allerdings noch nie geschehen. Ausnahmsweise kann und soll der Bundspräsident ein selbstständiges und aktives Staatsoberhaupt sein. Das B-VG stellt ihn durch seine Befugnisse in den Dienst der Funktionsfähigkeit des Regierungssystems. Durch das Proporzwahlrecht, die Einstimmigkeit in der Regierung, das starke Ministersystem und den Bundespräsidenten wird in der obersten Bundesvollziehung eine einheitliche und konsequente Führung erschwert. Gewaltenteilung ist an der Spitze auf die Spitze getrieben. Da die Regierung das wichtigste und mächtigste Staatsorgan ist, macht die Gewaltenteilung Sinn.2

Das vielfache Schweigen der Verfassung In der Regierungsbildung kommt wie in einem Brennpunkt das Regierungssystem zum Ausdruck. Aber zu diesem wichtigen Vorgang des politischen Prozesses sagt die Verfassung wenig. Von der »Bildung der neuen Bundesregierung« ist nur im Zusammenhang mit der einstweiligen Bundesregierung in Art. 71 B-VG die Rede  : »Ist die Bundesregierung aus dem Amt geschieden, hat der Bundespräsident bis zur Bildung der neuen Bundesregierung Mitglieder der scheidenden Bundesregierung mit der Fortführung der Verwaltung und einen von ihnen mit dem Vorsitz in der einstweiligen Bundesregierung zu betrauen. Mit der Fortführung der Verwaltung kann auch ein dem ausgeschiedenen Bundesminister beigegebener Staatssekretär oder ein leitender Beamter des betreffenden Bundesministeriums betraut werden. Diese Bestimmung gilt sinngemäß, wenn einzelne Mitglieder der Bundesregierung ausgeschieden sind. Der mit der Fort2 Dagegen kann man einwenden  : Das Proporzwahlrecht verhindert klare Entscheidung und Verantwortung. Das Wählervolk entscheidet nicht, wer die Regierung bildet und es kann die Regierung nicht abberufen. Sie wird nicht von einer Partei allein gebildet, sondern beruht in der Regel auf Koalitionen. Damit gibt es kein einheitliches Regieren. Regierung setzt immer Koalition und Konsens zwischen Partnern voraus. Damit verlagert sich die Verantwortung für Regierungsbildung und Regierung auf Parteileitungen. Daraus ergeben sich die Plädoyers für ein anderes Wahlrecht.

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führung der Verwaltung Beauftragte trägt die gleiche Verantwortung wie ein Bundesminister (Art. 76 B-VG).« Gemeint ist damit aber nicht der politische Prozess der Regierungsbildung, sondern der rechtliche Akt der Ernennung der nächsten definitiven Regierung. Die Verfassung regelt also nur den Abschluss des Prozesses. »Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt« (Art. 70 Abs. 1, erster Satz B-VG). Das Weitere ist Beiwerk  : »Die Gegenzeichnung erfolgt, wenn es sich um die Ernennung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung handelt, durch den neubestellten Bundeskanzler  ; …« (Art. 70 Abs. 1, dritter Satz B-VG). Durch Vorschlag und Gegenzeichnung ist gewährleistet, dass niemand ohne oder gegen den Willen des Bundeskanzlers Mitglieder der Bundesregierung wird. Nach der Ernennung erfolgt die Angelobung. Der Bundeskanzler kann die übrigen Mitglieder rechtlich erst vorschlagen, wenn er selbst ernannt und angelobt worden ist. – Art. 72 B-VG bestimmt  : »(1) Die Mitglieder der Bundesregierung werden vor Antritt ihres Amtes vom Bundespräsidenten angelobt. Die Beifügung einer religiösen Beteuerung ist zulässig. (2) Die Bestallungsurkunde des Bundeskanzlers, des Vizekanzlers und der übrigen Bundesminister werden vom Bundespräsidenten mit dem Tag der Angelobung ausgefertigt und vom neubestellten Bundeskanzler gegengezeichnet. (3) Diese Bestimmungen sind auch auf die Fälle des Artikels 71 sinngemäß anzuwenden.«

Mit der Ernennung haben die Mitglieder der Bundesregierung das Recht auf das Amt, mit der Angelobung erwerben sie das Amt. Mit der Ausfertigung der Bestallungsurkunden beurkundet der Bundespräsident die erfolgte Amtsübernahme. Politisch ist daher nicht so sehr interessant, was im B-VG geregelt ist, sondern das, was nicht geregelt ist. – Es ergibt sich eine Reihe von Fragen  : Wann findet die Regierungsbildung statt ?  – Die Verfassung schweigt. In der Staatspraxis findet die Regierungsbildung in aller Regel im Anschluss an eine Nationalratswahl statt. Das ist Konvention und nicht Konstitution. Die im Amt befindliche Regierung tritt nach einer Nationalratswahl zurück. Sie müsste aber nicht zurücktreten. Auch der Rücktritt ist Konvention und 313

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nicht Konstitution. Sie wird vom Bundespräsidenten dem B-VG gemäß des Amtes enthoben. Darauf wird sie von ihm zur einstweiligen Bundesregierung ernannt. Die ausgeschiedene Bundesregierung müsste nicht zur einstweiligen Bundesregierung bestellt werden. Der Bundespräsident könnte auch anders vorgehen (Art. 71 B-VG). Auch die erfolgende Ernennung der aus dem Amt geschiedenen Regierung zur einstweiligen ist Konvention, nicht Konstitution. Wer erhält vom Bundespräsidenten einen Regierungsbildungsauftrag ?   – Von einem Regierungsbildungsauftrag ist im B-VG überhaupt nicht die Rede. Ein Auftrag zur Regierungsbildung ist rechtlich auch nicht notwendig. Die Verfassung bestimmt ja nur  : »Der Bundespräsident ernennt den Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung« (Art. 70 Abs. 1 B-VG). In der Regel betraut der Bundespräsident den Chef der mandantsstärksten Partei mit der Regierungsbildung. Aber auch das ist Konvention und nicht Konstitution (meist wird »stimmenstärkste Partei« gesagt und geschrieben  ; es kommt aber auf die Mandate an und nicht auf die Stimmen). Theo Öhlinger (Verfassungsrecht5, Wien 2003, S. 226) stellt fest  : »Die Praxis, dass der Bundespräsident nach einer Neuwahl des Nationalrates eine bestimmte Person (meistens den Kandidaten der stimmenstärksten Partei) mit der Regierungsbildung betraut (›designierter Bundeskanzler‹), entspricht Konventionen eines parlamentarischen Regierungssystems, ist aber rechtlich nicht geboten. Es ist rechtlich zulässig, dass die im Nationalrat vertretenen Parteien von sich aus aktiv werden (so geschehen im Februar 2000).« Wenn sich Parteiführungen mit Mehrheit auf eine Person einigen, bleibt dem Bundespräsidenten in der Praxis kaum etwas anderes übrig, als nachzuvollziehen, was sie entschieden haben. Wie lange darf eine Regierungsbildung dauern ?  – Die Verfassung schweigt. Die Regierungsbildung kann monate-, ja jahrelang dauern. Aus den bisherigen Vorgängen kann man aber eine gewisse Orientierung ableiten. Wer kann Kanzler werden ?  – Diesbezüglich bestimmt die Verfassung nur  : »Zum Bundeskanzler, Vizekanzler oder Bundesminister kann nur ernannt werden, wer zum Nationalrat wählbar ist  ; …« (Art. 70 Abs. 2, erster Halbsatz B-VG). Bis 2000 wurde in der Zweiten Republik konventionsgemäß der Chef 314

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der mandatsstärksten Partei zum Bundeskanzler ernannt. Aber in der Ersten Republik war dies nicht Konvention. Besteht eine Unvereinbarkeit zwischen Mitgliedschaft zum Nationalrat und Regierungsmitgliedschaft ?   – Die Verfassung bestimmt nur, dass die Mitglieder der Bundesregierung nicht dem Nationalrat angehören müssen (Art. 70 Abs. 2, zweiter Halbsatz B-VG). Es hat sich aber die Konvention etabliert, dass zum Regierungsmitglied ernannte Parlamentarier ihr Mandat zurücklegen. Und im Hinblick auf diese Konvention wurde sogar das B-VG novelliert, an diese Konvention schließen nämlich die Bestimmungen des Art. 56 Abs. 2 bis 4 B-VG über das »Mandat auf Zeit« an  : »(2) Hat ein Mitglied der Bundesregierung oder ein Staatssekretär auf sein Mandant als Mitglied des Nationalrates verzichtet, so ist ihm nach dem Ausscheiden aus diesem Amt, in den Fällen des Art. 71 nach der Enthebung von der Betrauung mit der Fortführung der Verwaltung, von der zuständigen Wahlbehörde das Mandat erneut zuzuweisen, wenn der Betreffende nicht gegenüber der Wahlbehörde binnen acht Tagen auf die Wiederausübung des Mandats verzichtet hat. (3) Durch diese erneute Zuweisung endet das Mandat jenes Mitglieds des Nationalrates, welches das Mandat des vorübergehend ausgeschiedenen Mitgliedes innegehabt hat, sofern nicht ein anderes Mitglied des Nationalrates, das später in den Nationalrat eingetreten ist, bei einer Berufung auf sein Mandat desselben Wahlkreises gegenüber der Wahlbehörde die Erklärung abgegeben hat, das Mandat vertretungsweise für das vorübergehend ausgeschiedene Mitglied des Nationalrates ausüben zu wollen. (4) Abs. 2 und 3 gelten auch, wenn ein Mitglied der Bundesregierung oder ein Staatssekretär die Wahl zum Mitglied des Nationalrates nicht angenommen hat.« Das entspricht nicht Konventionen eines parlamentarischen Regierungssystems, sondern denen des österreichischen Parteiensystems. Wie soll die Regierung zusammengesetzt sein ?  – Auch darüber sagt die Verfassung nichts. Sie kann eine Allparteien-, eine Zwei-, eine Einparteien-, eine Präsidial-, eine Minderheits-, eine Experten-, eine Beamtenregierung usw. sein. Wie viele Bundesminister(ien) soll die Regierung haben ?  – Auch über die Zahl der Bundesminister und die Zahl der Staatssekretäre schweigt die Verfassung. Es muss den Bundeskanzler, den Vizekanzler und die sonstigen in 315

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der Bundesverfassung genannten Bundesminister geben, so etwa einen Bundesminister für Finanzen, für Inneres, für Landesverteidigung usw.; aber darüber hinaus bestehen keine Bindungen. Davon unabhängig werden die Zahl der Bundesministerien, ihr Wirkungsbereich und ihre Einrichtung durch Bundesgesetz bestimmt (Art. 77 Abs. 2 B-VG). In der Regel wird jeder Bundesminister mit der Leitung eines Bundesministeriums betraut. Aber das muss nicht so sein. Ein Bundesminister kann ernannt werden, ohne gleichzeitig ein Ressortschef zu sein. – Art 77 Abs. 3 und 4 B-VG bestimmen  : »(3) Mit der Leitung des Bundeskanzleramtes ist der Bundeskanzler, mit der Leitung der anderen Bundesministerien je ein Bundesminister betraut. Der Bundespräsident kann die sachliche Leitung bestimmter, zum Wirkungsbereich des Bundeskanzleramtes gehörender Angelegenheiten, und zwar auch einschließlich der Aufgaben der Personalverwaltung und der Organisation, unbeschadet des Fortbestandes ihrer Zugehörigkeit zum Bundeskanzleramt eigenen Bundesministern übertragen  ; solche Bundesminister haben bezüglich der betreffenden Angelegenheiten die Stellung eines zuständigen Bundesministers. (4) Der Bundeskanzler und die übrigen Bundesminister können ausnahmsweise auch mit der Leitung eines zweiten Bundesministeriums betraut werden.«

Der Vizekanzler als solcher ist zur Vertretung des Bundeskanzlers in dessen gesamtem Wirkungsbereich berufen (Art. 69 Abs. 2, erster Satz B-VG). Er ist als solcher kein Ressortchef, wird aber meistens auch mit der Leitung eines Bundesministeriums betraut. Das wurde geradezu zur Konvention, insbesondere in Koalitionsregierungen. Als Ausnahme und nicht als Regel sieht das B-VG vor, dass der Bundeskanzler und die übrigen Bundesminister mit der Leitung eines zweiten Bundesministeriums betraut werden dürfen. Mit bestimmten Aufgaben des Bundeskanzleramtes kann vorübergehend ein Bundesminister betraut werden, der »Kanzlerminister« genannt wird. Er hat die Leitung dieser Angelegenheiten. Die Übertragung ist an seine Person gebunden. Ohne ihn werden diese Angelegenheiten wieder solche des Bundeskanzleramtes. Wie lange darf eine Regierung im Amt bleiben ?  – Auch darüber schweigt die Verfassung. – Der Nationalrat hat eine Legislaturperiode 316

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von 4 Jahren (seit 2008 von 5 Jahren, AJN), der Bundespräsident hat eine Amtsperiode von 6 Jahren, die Bundesregierung hat keine vorgeschriebene Funktionsperiode. Auch hier ergänzt eine Konvention die Konstitution. Im Anschluss an die Wahl des Nationalrats tritt die bisherige Bundesregierung zurück. Sie wird nach einer weiteren Konvention zur einstweiligen Bundesregierung ernannt usw. Im Anschluss an die Wahl des Bundespräsidenten ist es Konvention, dass die Bundesregierung aus Courtoisie dem Bundespräsidenten den Rücktritt anbietet. Dies ist aber in der Regel nicht ernst gemeint. Ebenso wie die definitive Regierung ist auch für die einstweilige keine Amtsperiode in der Verfassung festgelegt. Da sie dieselben Befugnisse wie die definitive Regierung hat, kann sie rechtlich problemlos monatelang im Amt bleiben. Sie agiert bis zur Bildung, also zur Ernennung der neuen Regierung. Auch hier kann man aus den bisherigen Erfahrungen Orientierungen ableiten. Muss sich die neu ernannte Regierung einem Vertrauensvotum im Parlament stellen ?   – Im Gegensatz zu vielen parlamentarischen Demokratien gibt es nach dem B-VG nicht das Instrument des Vertrauensvotums. In anderen Ländern steht dem Parlament das Recht zu, etwa anlässlich der Regierungserklärung die Regierung ausdrücklich zu bestätigen. Erhält sie kein Vertrauensvotum, muss sie wieder gehen. Der Nationalrat hat kein solches Bestätigungsrecht, sondern nur das schwieriger zu handhabende Misstrauensvotum. – Der dafür maßgebende Art. 74 B-VG lautet  : »(1) Versagt der Nationalrat der Bundesregierung oder einzelnen ihrer Mitglieder durch ausdrückliche Entschließung das Vertrauen, so ist die Bundesregierung oder der betreffende Bundesminister des Amtes zu entheben. (2) Zu einem Beschluss des Nationalrates, mit dem das Vertrauen versagt wird, ist die Anwesenheit der Hälfte der Mitglieder des Nationalrates erforderlich. Doch ist, wenn es die im Bundesgesetz über die Geschäftsordnung des Nationalrates festgesetzte Anzahl der Mitglieder verlangt, die Abstimmung auf den zweitnächsten Werktag zu vertagen. Eine neuerliche Vertagung der Abstimmung kann nur durch Beschluss des Nationalrates erfolgen. (3) Unbeschadet der dem Bundespräsidenten nach Art.  70 Abs.  1 sonst zustehenden Befugnis sind die Bundesregierung oder ihre einzelnen Mitglieder vom Bundespräsidenten in den gesetzlich bestimmten Fällen oder auf ihren Wunsch des Amtes zu entheben.«

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Regierungsbildung und B-VG

Was sagt die Bundesverfassung über die Regierungserklärung ?  – Der Begriff »Regierungserklärung« kommt in der Verfassung nicht vor. Sie schreibt nur vor, dass sich die neu ernannte Regierung dem Nationalrat »vorstellen« muss. – Art. 70 Abs. 3 B-VG lautet  : »(3) Wird vom Bundespräsidenten eine neue Bundesregierung zu einer Zeit bestellt, in welcher der Nationalrat nicht tagt, so hat er den Nationalrat zum Zwecke der Vorstellung der neuen Bundesregierung zu einer außerordentlichen Tagung (Art. 28 Abs. 2) einzuberufen, und zwar so, dass der Nationalrat binnen einer Woche zusammentritt.« Aus Art. 70 Abs. 3 B-VG ist abzuleiten, dass sich die neu ernannte Regierung immer vorstellen muss. Da die Vorstellung nicht dem persönlichen Bekanntmachen, sondern der Bekanntmachung der politischen Zielsetzungen der Regierung dienen soll, erwartet man von ihr, dass sie durch den Bundeskanzler als ihren Vorsitzenden eine Regierungserklärung abgibt. Auch das ist Konvention, nicht Konstitution.

Beredtes Schweigen der Verfassung Manche der offenen Fragen können über rechtliche Spielregeln des B-VG und/ oder aufgrund faktischer Konventionen des parlamentarischen Regierungssystems beantwortet werden. So kann die Abgabe der Regierungserklärung als Rechtspflicht des Bundeskanzlers aus dem parlamentarischen Prinzip des B-VG, aus dem Zweck der Vorstellung der neu ernannten Bundesregierung und aus dem Zusammenhang von Art. 70 Abs. 3 B-VG und Art. 74 B-VG abgeleitet werden (vgl. M. Gottschlich/O. Panagl/M. Welan, Was die Kanzler sagten. Regierungserklärungen der Zweiten Republik 1945–1987, Wien/Köln 1989). So stellt Theo Öhlinger (a.a.O., S. 156) zur Frage, ob der Bundespräsident bei der Ernennung des Bundeskanzlers rechtlich frei ist, Folgendes fest  : »Nach herrschender Lehre ist der Bundespräsident bei der Ernennung des Bundeskanzlers (Art. 70 Abs. 1 B-VG) ›rechtlich völlig frei‹ (Walter/Mayer, Grundriss Bundesverfassungsrecht, Rz. 637). Dies ist jedoch so nicht richtig. Aus dem dem B-VG zugrunde liegenden Prinzip des parlamentarischen Regierungssystems ergibt sich, dass der Bundespräsident bei der Designation einer Person als Bundeskanzler auf die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse Bedacht zu nehmen hat  ; er ›muss das Ziel vor Augen haben, eine Regierung zu bestellen, welche – meist

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Regierungsbildung und B-VG

aufgrund einer Koalition – mit einer parlamentarischen Mehrheit rechnen kann‹ (Koja, JRP 1994, S. 176). Das ist eine – freilich nicht sanktionierte – verfassungsrechtliche Verpflichtung.«

Das entspricht dem Sinn und Zweck des parlamentarischen Regierungssystems und dem Bundespräsidenten im System der österreichischen Bundesverfassung (vgl. M. Welan, Der Bundespräsident im System der österreichischen Bundesverfassung, in  : 75 Jahre Bundesverfassung, Wien 1995, S. 483). Ein Vergleich der jetzigen Regelungen mit den entsprechenden der Verfassung 1934 macht das besonders klar. In dieser Verfassung was das parlamentarische Prinzip weggefallen. Ihr Art. 82 Abs. 1, der mit dem Art. 70 Abs. 1 B-VG gleichlautend ist, hatte daher eine völlig neue Bedeutung gewonnen. Während der Bundespräsident jetzt dadurch beschränkt ist, dass die von ihm ernannte Regierung das Vertrauen des Parlaments haben muss, war sie nach der Verfassung ’34 ausschließlich vom Bundespräsidenten abhängig. Die parlamentarische Verantwortlichkeit war durch die präsidiale Verantwortlichkeit ersetzt worden. Diese Abhängigkeit wurde jedoch durch den Umstand zur Farce, dass der Bundesregierung und nicht dem Bundespräsidenten der gesamte Vollzugsapparat des Bundes zur Verfügung stand (vgl. E. Voegelin, Der autoritäre Staat, Wien 1936, mit einem Geleitwort von G. Winkler, Wien 1997, S. 191, 194). Der rechtsdogmatische Weg verlangt juristische Auslegungsarbeit. Die Erfassung von Konventionen verlangt empirische Ermittlung (M. Welan, Konventionalregeln im österreichischen Verfassungsleben, in  : Der Staatsbürger, F 22/1970). Die Konsequenzen sind unterschiedlich. Konventionen lassen den politischen Akteuren relativ viel Freiheit  ; verfassungsrechtliche Verpflichtungen  – mögen sie auch rechtlich nicht unmittelbar sanktioniert sein  – lassen ihnen keinen Spielraum. Im Hintergrund steht in diesem Fall die politische und rechtliche Verantwortlichkeit. Sie führt zum Parlament, wie es dem parlamentarischen Prinzip auch entspricht.

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Die Legitimationsprinzipien der österreichischen Bundesregierung (2009) Die Verortung der Legitimationsprinzipien in der Bundesverfassung (B-VG) Die zwei im B-VG festgelegten Legitimationsprinzipien sind  : – der in der Verfassung 1920 verankerte Grundsatz parlamentarischen Regierens  ; – der in der Verfassungsnovelle 1929 verankerte Grundsatz präsidentiellen Regierens. Art. 70 Abs. 1 B-VG bestimmt  : »Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt. Zur Entlassung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung ist ein Vorschlag nicht erforderlich  ; die Entlassung einzelner Mitglieder der Bundesregierung erfolgt auf Vorschlag des Bundeskanzlers. Die Gegenzeichnung erfolgt, wenn es sich um die Ernennung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung handelt, durch den neu bestellten Bundeskanzler  ; die Entlassung bedarf keiner Gegenzeichnung.« Die Ernennung des Bundeskanzlers ist die erste Grundlage des präsidentiellen Regierens. Mit Recht hat aber schon Adolf Julius Merkl (Das rechtliche Ergebnis des Verfassungskampfes, JBl. 1930, S. 47 f.) hervorgehoben, dass mehr noch als das unbeschränkte Ernennungsrecht das unbeschränkte Entlassungsrecht den Einfluss des Bundespräsidenten auf die Zusammensetzung der Regierung und auf deren Geschäftsführung stärkt. Das Entlassungsrecht ist die zweite Grundlage präsidentiellen Regierens. Der Bundespräsident ernennt und entlässt den Bundeskanzler, er entlässt die Bundesregierung, ohne an das Parlament direkt gebunden zu sein. Über Vorschlag der Regierung kann er das Parlament auflösen. 321

Die Legitimationsprinzipien der österreichischen Bundesregierung

Art. 74 Abs. 1 B-VG bestimmt  : »Versagt der Nationalrat der Bundesregierung oder einzelnen ihrer Mitglieder durch ausdrückliche Entschließung das Vertrauen, so ist die Bundesregierung oder der betreffende Bundesminister des Amtes zu entheben.« Durch dieses Misstrauensvotum kommt die politische Verantwortlichkeit der Bundesregierung gegenüber dem Nationalrat zum Ausdruck. Das ist die Grundlage des parlamentarischen Regierens. Bis zur Verfassungsnovelle 1929 war die erste Grundlage des parlamentarischen Regierens die Bestellung durch den Nationalrat gewesen. Das Instrument des Vertrauensvotums des Parlaments kennt das B-VG nicht. Die vom Bundespräsidenten ernannte Bundesregierung braucht sich also nicht vom Nationalrat bestätigen zu lassen. Sie darf nur kein Misstrauensvotum erhalten. Im Fehlen dieses Bestätigungsrechts des Nationalrats kann man die starke Stellung des Bundespräsidenten nach der Verfassung sehen. Sie ist an sich durch seine Volkswahl begründet. Sie und die damit verbundene absolute Mehrheit sind einmalig im österreichischen Regierungssystem. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass einem Wort Bruno Kreiskys zufolge Charles de Gaulle im Bundespräsidenten und im semipräsidentiellen System Österreichs ein Vorbild für seine Fünfte Republik und ihre Verfassung sah.

Die Verschleierung der Legitimationsprinzipien der Bundesregierung durch die Realverfassung Die großen Parteien und Verbände bauten nach 1945 über der Rechtsverfassung eine »Realverfassung« auf. Ihre Konventionen und Gewohnheitsregeln bildeten eine Art Superstruktur, ohne dass die Rechtsverfassung aber dadurch verletzt wurde (vgl. M. Welan, Konventionalregeln im österreichischen Verfassungsleben, in  : Der Staatsbürger 1970, 22). Aber sie wurde in verschiedener Weise verschleiert. So wurde im Vorfeld der Regierungsbildung, jeweils im Anschluss an die Wahl des Nationalrates, »… informell ein Konsens gefunden, der es erlaubte, dass der Bundespräsident den Auftrag zur Regierungsbildung an den Kanzlerkandidaten der mandatsstärksten Partei des Nationalrates erteilte. Dieser Kanzlerkandidat wurde dann, nach einem Zeitraum unterschiedlicher Länge der Regierungsbildung, vom Bundespräsidenten zum Bundeskanzler bestellt – und auf dessen Vorschlag bestellte dann der Bundespräsident die übrigen Mitglieder der Bundesregierung« (A. Pelinka/M. Welan, Austria Revisited, 322

Die Legitimationsprinzipien der österreichischen Bundesregierung

Wien 2001, S. 46). So wurde das semipräsidentielle Regierungssystem, das im B-VG grundgelegt ist, in ein parlamentarisches Regierungssystem mit präsidentiellem Einschlag verwandelt. Diese Transformation hatte zur Folge, dass Regierung und Parlamentsmehrheit zu zwei Maschinen wurden, die von einem Motor betrieben werden, der Regierungspartei bzw. den Regierungsparteien. Ein Grundgedanke der Verfassungsnovelle 1929, mehr Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive zu etablieren, wurde so in der Staatspraxis zur Gewaltenverbindung. Dies entspricht nicht dem präsidentiellen, sondern dem parlamentarischen System. »Der alte Dualismus von Regierung einerseits und Parlament andererseits ist für die Regierungspraxis der Zweiten Republik bedeutungslos geworden. Er wurde durch den neuen Dualismus von Parlament und Regierungsmehrheit einerseits und der parlamentarischen Opposition andererseits abgelöst. Für das Parlament bedeutet der Rollenwandel einen Gewinn an Handlungsspielraum  : Denn über die Mehrheitsfraktion wurde das Parlament struktureller Bestandteil der politischen Führungsmannschaft« (St. Bröchler, Regieren mit und ohne Richtlinienkompetenz, in  : E. Holtmann/W. J. Patzelt [Hg.], Führen Regierungen tatsächlich  ? Wiesbaden 2008, S. 108).

Dementsprechend findet die Regierungsbildung im Anschluss an die Nationalratswahl statt. Diese findet in jener geradezu ihren politischen Abschluss. Sie schließt also nicht an die Bundespräsidentenwahl an. So wurde der Nationalrat als Mehrheit nicht der Gegenspieler der Regierung, sondern ihr faktisches Kreations- und Exekutivorgan. Die Mandatsmehrheit im Nationalrat und nicht der Bundespräsident als besonderer Repräsentant einer besonderen Mehrheit macht die Regierung. Die Amtsperiode der Regierung hängt nicht mit der Amtsperiode des Bundespräsidenten zusammen. Die Regierung kommt und geht nicht mit ihm, sondern regelmäßig mit dem Nationalrat. Das Rücktrittsgebot der Regierung nach der Bundespräsidentenwahl gegenüber dem neuen Bundespräsidenten ist nur Courtoisie ohne rechtliche Konsequenz. Daher ist der politische Prozess der Regierungsbildung mit den Verhältnissen im Nationalrat und mit den Verhältnissen zwischen den Parteien verknüpft. Diese, besonders die Mehrheitsverhältnisse, muss der Bundespräsident zur Kenntnis nehmen. Vor seinen wichtigsten Entscheidungen muss er auf die Parlamentsparteien Bedacht nehmen. Aber er ist rechtlich nicht daran gebunden. 323

Die Legitimationsprinzipien der österreichischen Bundesregierung

Der Bundespräsident beauftragt im Anschluss an die N ­ ationalratswahlen den Chef der mandantsstärksten Partei mit der Regierungsbildung. Die personalplebiszitäre Legitimation des siegreichen Kanzlerkandidaten hat zur Folge, dass der Bundespräsident ihn zum Kanzler designiert und später ernennt. Damit erhielten die Nationalratswahlen auch die politische Bedeutung von Kanzlerwahlen. Die vielleicht wichtigste Konvention liegt darin, dass der Bundespräsident einer »Haltung der Zurückhaltung« frönt, mit anderen Worten  : im Rollenverzicht, im Funktionenverzicht, insbesondere im Verzicht auf das Regierungsbildungsrecht. Obwohl formell ein Aktivzentrum des Regierungssystems, wurde er das Passivzentrum.

2000 – von der Realverfassung zum B-VG – von der Konvention zur Konstitution Die Bildung der Bundesregierung zu Beginn des Jahres 2000 zerriss den Schleier der Realverfassung, der sich über die beiden Legitimationsprinzipien gelegt hatte. Bei der Bestellung der Regierung Schüssel/Riess-Passer wurden einige dieser Konventionen nicht eingehalten (M. Welan, Regierungssystem unter Druck  ? In  : A. Pelinka/F. Plasser/W. Meixner [Hg.], Die Zukunft der österreichischen Demokratie, Wien 2000, S.  335). Die Entwicklung lief auf eine Zuspitzung hinaus  : Konnte der direkt vom Volk gewählte Bundespräsident mit seiner großen Legitimation eine Regierung nach seinem besten Wissen und Gewissen bestellen oder nicht  ? Er hatte entsprechend der Konvention der Realverfassung dem Chef der mandatsstärksten Partei Klima den Regierungsauftrag erteilt. Aber Klima hatte keine absolute Mehrheit hinter sich bringen können. Der Bundespräsident musste zur Kenntnis nehmen, dass eine sich ebenfalls auf ein direktdemokratisches Mandat stützende andere und zwar absolute Mehrheit des Nationalrates das Gesetz des Handelns an sich gerissen hatte. Bei der Regierungsbildung des Jahres 2000 wurde deutlich, dass einer der beiden in der Verfassung angelegten Legitimationsgrundsätze der stärkere war. In diesem Konflikt setzte sich die absolute Mehrheit im Parlament unter Haider und Schüssel und damit das Prinzip des parlamentarischen Regierens durch. Es stellte sich heraus, dass in diesem Fall die österreichische Verfassung trotz der Verfassungsnovelle 1929 dem Typus eines parlamentarischen Systems nach der Verfassung 1920 entsprach. 324

Die Legitimationsprinzipien der österreichischen Bundesregierung

Bundespräsident Klestil, und das war erstmalig in der Zweiten Republik, hat dem künftigen Kanzler Schüssel keinen Regierungsbildungsauftrag erteilt. Dieser war ja auch nicht der Chef der mandatsstärksten Partei. Er hatte sich nach der Nationalratswahl als Führer der drittstärksten Partei sogar zur Opposition bekannt. Aber es gelang ihm durch Verhandlungen hinter den Kulissen mit der zweitstärksten Partei eine absolute Parlamentsmehrheit zu formen. Schließlich musste der Bundespräsident dieses Faktum zur Kenntnis nehmen. Er nahm aber auch auf die Ministerliste und das Regierungsprogramm Einfluss. Die Regeln der Konstitution wurden bei der Ernennung der Regierung schließlich eingehalten, Regeln der Konvention aber nicht mehr. In gewisser Weise wurden in der Regierungserklärung 2000 beide Legitimationsprinzipien verwirklicht. Die Lehre, die aus diesem Fall und der damit verbundenen Emanzipation des B-VG von der Realverfassung zu ziehen ist, ist nicht ganz klar. Jedenfalls wurde der politische Prozess durch diese Änderungen noch unberechenbarer, als er aufgrund der Verfassungslage ist. Während früher die Realverfassung mit ihren Konventionen in Rechnung gestellt werden konnte und Sicherheit vermittelte, ist das heute nicht mehr der Fall. Auf die Realverfassung von gestern und ihre Konventionalregeln kann man sich nicht mehr verlassen  : Die normative Kraft des Faktischen hat abgedankt und die faktische Kraft des Normativen tankte auf. Soweit der Bundespräsident von sich aus die präsidiale Komponente nicht weiterentwickelt, bedeutet das für die Parteiführungen noch größere Spielräume. Entfaltet der Bundespräsident aber in Zukunft seine präsidiale Macht, so wird das System noch unberechenbarer, als es ohnedies heute schon ist. Wenn sich Parteiführungen mit absoluter Mehrheit im Parlament auf eine Person als Bundeskanzler einigen, wie das im Fall Schüssel/Riess-Passer geschah, bleibt dem Bundespräsidenten kaum etwas anderes übrig, als rechtlich nachzuvollziehen, was sie politisch entschieden haben. Aber er muss es nicht tun. Er ist rechtlich nicht daran gebunden. Er kann anders entscheiden. Die Bevölkerung ist freilich auf den Grundsatz des präsidialen Regierens nicht vorbereitet. Noch nie hat bisher ein Bundespräsident in der Zweiten Republik, obwohl er über große demokratische Legitimation und Möglichkeiten verfügt, unabhängig von den Parteien von sich aus einen Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung ernannt. Aber die Verhältnisse haben sich grundlegend geändert. Das Verhältniswahlrecht, dem zum Trotz seinerzeit ein Zweiparteiensystem entstanden war, hat zum Mehrparteiensystem geführt. Die Freiheitsrechte haben dazu beigetragen. 325

Die Legitimationsprinzipien der österreichischen Bundesregierung

Auch hier musste die normative Kraft des Faktischen, nämlich die Realverfassung, der faktischen Kraft des Normativen, nämlich dem Verfassungsrecht, weichen. Aus der Parteiengesellschaft von gestern ist eine Zivilgesellschaft entstanden. Aufgrund des Verhältniswahlrechts und der Freiheitsrechte wurden die Großen kleiner und die Kleinen größer und von Zeit zu Zeit kommen neue Parteien hinzu. Das ist die diesen Normen entsprechende Normalität. Der Wert des Verhältniswahlrechts liegt ja im farbigen Abglanz und aktuellen Abbild der Wählerschaft. Wie in einem Verkleinerungsspiegel sehen sich die Anhänger der Parteien im Parlament. Für sie bedeutet die Vertretung eine besondere Gerechtigkeit. Die Wahl vermittelt die politischen Interessen, die sich in den Parteien gefunden haben. Und wir finden sie im Parlament. Die Verhältniswahl ermöglicht Vielfalt und einen politischen Pluralismus. Von Zeit zu Zeit gibt der politische Pluralismus der Gesellschaft und der Demokratie neues Leben, neuen Schwung, neue Energien. Bei diesem lebendigen politischen Pluralismus wird es auch immer schwieriger, Plädoyers für ein Mehrheitswahlrecht zu halten. Denn auf einmal gibt es Wandel, Wechsel, Alternativen. Die Wahl bedeutet zwar nicht die Regierungsbildung, aber sie vermittelt eine Bildung über die österreichische Gesellschaft. Die Wahl ist Aufklärung darüber, wie wir wirklich sind.

In der Regierungsbildung 2000 hat sich der Grundsatz des parlamentarischen Regierens im Wesentlichen durchgesetzt ; kann sich in der Zukunft der Grundsatz des präsidentiellen Regierens durchsetzen ? Demokratie verändert sich, wie es dem gesellschaftlichen Wandel entspricht. Kleinparteien entstehen und machen mobil, insbesondere wenn die Großparteien immobil gemacht haben. Durch neue politische Parteien ist mehr und ein anderer politischer Wettbewerb entstanden. Damit werden gesellschaftliche Kräfte in unterschiedlichen Prozessen freigesetzt, von denen man nicht weiß, was dabei herauskommt. Alte und neue Teile der Zivilgesellschaft nehmen Politik in ihre eigenen Hände. Der Wettbewerb findet auf allen politischen Bühnen statt, in den Parlamenten, aber noch mehr in den Medien und in der Öffentlichkeit. Die politischen Bühnen sind die Märkte des politischen Angebots. Die Nachfrage ist dezentralisiert und individualisiert und nützt die Medien als Informations- und Kommunikationsort. 326

Die Legitimationsprinzipien der österreichischen Bundesregierung

Wie ein Turm außerhalb der Schlacht steht ein Amtsträger mit seiner Macht von all diesen Entwicklungen scheinbar unberührt da. Es ist der Bundespräsident. Er ist als Einziger und als Einzelner unabhängiger Machtträger mit einer großen absoluten Mehrheit ausgestattet. Für manche ist er mit schuld am Scheitern der Regierung Gusenbauer/Molterer. Für manche ist er mit dieser Regierung gescheitert. Für manche ist er gescheiter geworden. Die Erfahrung des Scheiterns der Regierung Gusenbauer/Molterer und die Entwicklung der Parteienlandschaft in die Richtung eines neuen politischen Pluralismus stellen den Bundespräsidenten vor neue politische Herausforderungen. Wie sich die Parteien von sich aus nicht auf eine absolute Mehrheit im Parlament einigen oder er eine solche Koalition nicht will, so bleibt ihm als Ausweg der Gang zum präsidentiellen Legitimationsgrundsatz der Regierung. Er kann diesen Grundsatz anders entwickeln und anders entfalten lassen, als das bisher der Fall war. Bundespräsident Fischer hat bei der Regierungsbildung 2006 nach dem von Klestil eingeführten Prozess des Sondierens und Auslotens so gehandelt, als ob die alten Konventionen noch gelten. So lebte scheinbar die alte Realverfassung mit großer Koalition und Sozialpartnerschaft wieder auf. Sie konnte auch der Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung sicher sein. Heute besteht diese Sicherheit nicht mehr. Durch die Verhältnisse kann der in der Verfassung angelegte Grundsatz des präsidentiellen Regierens sich so stark anbieten, dass der Bundespräsident eine neue Rolle ausüben muss. Es ist eine Rolle, die im B-VG durch die Verfassungsnovelle 1929 angelegt ist. Der Bundespräsident könnte durch die Verhältnisse gezwungen werden, eine Präsidialregierung suchen zu müssen. Diese Möglichkeit wirft ihren Schatten in die Zukunft voraus. Der Bundespräsident könnte in der Zukunft diese neue Regierungsbildung aufgrund des präsidentiellen Legitimationsprinzips ins Kalkül ziehen müssen. Er kann durch seine Mobilisierung in einer neuen Rolle jede Immobilisierung des Systems überwinden. Dazu ist keine Verfassungsreform notwendig. Notwendig ist aber eine Aufklärung der Öffentlichkeit für eine neue Form der Regierungsbildung und des Regierens. Der Bundespräsident kann in die Lage kommen, das Gesetz des Handelns auf die Dauer in die Hand nehmen zu müssen. In der Zukunft könnte die Wahl des Bundespräsidenten sogar zur »Richtungswahl« werden, zur Wahl zwischen zwei Alternativen. Damit gäbe es klare Entscheidungen und Verantwortlichkeiten, verkörpert in den KandidatInnen zur Bundespräsidentschaft. Dazu ist keine Verfassungsreform notwendig, wohl aber eine Mentalitätsreform. Sie ist vielleicht schwieriger als die institutio327

Die Legitimationsprinzipien der österreichischen Bundesregierung

nelle Reform in die Richtung eines Mehrheitswahlrechts. Jedenfalls sollte die seit Jahrzehnten laufende, aber nie gelaufene Diskussion über ein Mehrheitswahlrecht weitergehen. Denn das Mehrheitswahlrecht, gleichgültig ob wir die französische oder die britische Form wählen, kann über die beiden Legitimationsprinzipien der Regierung entscheiden. Heinrich Neisser und Anton Pelinka haben 1971 »Acht Plädoyers für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht in Österreich« gesammelt. Auch mein Plädoyer war darunter. Ich plädierte für ein Mehrheitswahlrecht, um dem Volk in der Wahl die regierungsbildende Funktion zu geben, aber auch den Bundeskanzler zu stärken und den Bundespräsidenten zu schwächen. Nicht eine Richtlinienkompetenz stärkt den Bundeskanzler und damit die Effizienz der Regierung, sondern eine absolute Parlamentsmehrheit. Kreisky hat das mit seiner Version der »Kanzlerdemokratie in Österreich« unter Beweis gestellt (M. Welan, Die Kanzlerdemokratie in Österreich, oben S. 175). Und die Wirklichkeit ist nach Johann Nestroy immer das schönste Zeugnis für die Möglichkeit.

Mehrheitswahlrecht und der Grundsatz des parlamentarischen Regierens Wer ein parlamentarisches Regierungssystem nach britischem Muster will, muss für ein Mehrheitswahlrecht eintreten. Seit Jahrzehnten sehen viele das Elend der österreichischen Bundesverfassung darin, dass sie der Wählerschaft keine Alternative zwischen zwei Regierungsprogrammen gestattet. Mit der Parlamentswahl wird nicht über die zukünftige Regierung entschieden, ja nicht einmal über die zukünftige Koalition. Parteien können vor der Wahl viel versprechen. Doch sie können nach der Wahl nicht alle Versprechen halten. Sie können aber immer auf den bösen Koalitionspartner verweisen. Von Zeit zu Zeit wird regiert. Die übrige Zeit wird verwaltet. Die Verwaltung ist im Großen und Ganzen gut. So sympathisch diese »Demokratie auf Österreichisch« sein mag, sie führt immer wieder in die »erstarrte Republik« (M. Welan, Demokratie auf österreichisch oder die erstarrte Republik, Wien 1999). Vertreter des Mehrheitswahlrechts sehen seinen großen Vorteil darin, dass der Wähler bei der Wahl entscheidet. Er wählt nicht nur eine Partei, sondern gleichzeitig auch die Regierung. Seine Entscheidung hat also regierungsbildende Funktion. Die Regierung wiederum kann ihr Konzept konsequent in die Tat umsetzen. Die Mehrheitswahl schafft klare Berufungs- und Verantwor328

Die Legitimationsprinzipien der österreichischen Bundesregierung

tungsverhältnisse. Außerdem stehen im Fall des Mehrheitswahlrechts die antretenden Personen mehr zur Wahl als nur ihre Partei. Unser Verhältniswahlrecht ist ja ein starres Listenwahlrecht und man kann, abgesehen von den Vorzugsstimmen, nicht über Personen entscheiden. Im Übrigen müsste man ja nicht das britische Wahlrecht übernehmen, sondern könnte sich am französischen orientieren. Nach dem britischen Wahlrecht ist ein Kandidat gewählt, wenn er nur eine Stimme im Wahlkreis mehr als seine Konkurrenten erhalten hat. Nach dem französischen muss er die absolute Stimmenmehrheit erreichen, um als gewählt zu gelten. Bei Stichwahlen können dann die kleinen Parteien als Zünglein an der Waage oder als Mittler auftreten. Das war das Wahlrecht im alten Österreich. In ihm sah man allerdings in der jungen Republik 1918 keine politische Gerechtigkeit, sondern ein »Entweder-oder«, ein »Alles oder nichts«. Daher legten sich die Parteien schon zu Beginn unserer Republik auf ein Verhältniswahlrecht fest, das ein »Sowohl-als-auch« bringen sollte. Freilich darf man sich von einem Mehrheitswahlrecht auch nicht eine bessere Regierung und ein besseres Regieren erwarten. Britische und französische Beispiele bieten Anschauungsmaterial genug. Aber es gibt klare Verhältnisse. Freilich ist das Mehrparteiensystem von heute ein Hindernis, um vom Proporz zum Majorz überzugehen. Als es noch ein Zweiparteiensystem gab – also in den 70er- und frühen 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts – wollten die zwei Parteien von Ausnahmen abgesehen, das Mehrheitswahlrecht nicht, obwohl es die politologische Lösung des Dilemmas gewesen wäre. Seit es ein Mehrparteiensystem gibt, wollen es die mehreren Parteien nicht, was verständlich ist. Aber diesbezüglich kann ein Weg gefunden werden. Klaus Poier (Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht, Wien/Köln/Graz 2001) hat einen aufgezeigt. Auch das französische System könnte über das »Alles oder nichts« hinweghelfen. Danach muss ein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Stimmenmehrheit erreichen – es genügt nicht die relative wie im britischen Wahlrecht. Bei Stichwahlen sind dann die kleinen Parteien Zünglein an der Waage oder Vermittler. Wie schon 1971 bin ich auch für ein Mehrheitswahlrecht, um den Bundeskanzler zu stärken und den Bundespräsidenten zu schwächen. Die personalplebiszitäre Legitimation, welche der siegreiche Parteichef durch die Parlamentswahl erreicht, wird bei einer absoluten Mehrheit verstärkt. Der Bundeskanzler steht dann dem Bundespräsidenten mehr als gleichwertig an Legitimation gegenüber. Mit einer Mehrheit des Kanzlers wird sein Vorschlagsrecht zur 329

Die Legitimationsprinzipien der österreichischen Bundesregierung

Ernennung bzw. Entlassung eines Ministers de facto zum Ernennungs- und Entlassungsrecht. Die starke Stellung der Bundesminister – Österreich ist eine »Ministerrepublik«  – schwindet, da ihre Abhängigkeit vom Kanzler wächst. Das Einstimmigkeitsprinzip in der Bundesregierung wird zum Kanzlerprinzip. Der Bundespräsident wird de facto wie er nach der Verfassung 1920 war und hat de facto bloße Notariats- und Repräsentationsfunktion. Von einer »Regierungsbildungsfunktion« kann dann keine Rede mehr sein (St. Böchler, a.a.O., S.  109). Der tatsächliche Verlust dieser Funktion kommt in der Medienumgangssprache dadurch zum Ausdruck, dass nicht mehr von der Ernennung der Regierung (wie im B-VG nach der Verfassungsnovelle 1929) die Rede ist, sondern von der »Angelobung«. Diese Funktion hatte aber der Bundespräsident schon nach der Verfassung von 1920. Durch ein Mehrheitswahlrecht würde der Bundespräsident dem britischen Monarchen angeglichen. Durch den Rollenverzicht des Bundespräsidenten geschah dies ohnehin schon seit Jahrzehnten.

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Entwicklungsmöglichkeiten des Regierungssystems (2009)

Verfassung ohne Entscheidung ? Eine österreichische Klage lautet seit Jahren  : Das Volk, die Basis, kann bei der Wahl des Nationalrats nicht wirklich entscheiden, wer regieren soll. Und die Spitze, Regierung und Bundespräsident, können auch nicht wirklich entscheiden. Dieses Jammern betrifft nicht ein existenzielles, sondern ein konstitutionelles Problem. Wir haben nämlich, pointiert gesagt, eine Verfassung, die klaren Entscheidungen des Volkes und der Spitze des Staates ausweicht. Der Grund liegt im Proporzwahlrecht und im Zwang zur Koalition. Popper hat zwei Kriterien für eine gut funktionierende Demokratie aufgestellt  : Eine Regierung muss erstens in der Lage sein, ihr Programm möglichst vollständig in die Tat umzusetzen. Und sie muss zweitens ihre Tätigkeit unter dem Damoklesschwert der Abwahl durchführen. Unsere Verfassung funktioniert. Aber unsere Demokratie funktioniert nicht so gut, wie Popper es sich vorstellt. Schon in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts stellte der Vater der österreichischen Politikwissenschaft, Gustav Eduard Kafka (Die gelähmte Regierung, in  : Wort und Wahrheit 1962, S. 601), fest  : »Das Elend der österreichischen Bundesverfassung liegt darin, dass sie der Wähler­ schaft keine klare Alternative zwischen zwei Regierungsprogrammen gestattet. Wir haben nämlich ein Proporzwahlrecht. Und die notwendige Folge eines jeden Proporzwahlrechts ist es, dass mit der Wahl nur der Anhang der Parteien in der Wählerschaft festgestellt, nicht aber über die zukünftige Regierung und die zukünftige Regierungspolitik entschieden wird. Man mag das Proporzwahlsystem verfeinern wie man will, es wird immer zu Koalitionsregierungen zwingen, auf deren Koalitionspakt der Wähler keinen Einfluss hat.«

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Entwicklungsmöglichkeiten des Regierungssystems

Parteien können vor der Wahl viel versprechen. Doch sie können die Versprechungen nach der Wahl nicht alle halten. Sie können aber immer auf den bösen Koalitionspartner verweisen. Von Zeit zu Zeit wird regiert. Die übrige Zeit wird verwaltet. Und die Verwaltung ist im Großen und Ganzen gut. So sympathisch diese »Demokratie auf Österreichisch« sein mag, sie führt immer wieder in die »erstarrte Republik« (M. Welan, Demokratie auf österreichisch oder Die erstarrte Republik, Wien 1999). Das vielgliedrige System an der Staatsspitze – Bundesminister, Bundesregie­ rung, Bundespräsident  – macht das schon an sich schwierige Regieren zur Mühsal. Denn die Regierung ist in der Regel eine Koalition und der Bundespräsident ist eine eigene politische Kraft. So steht eine Vielzahl von Amtsträgern und politischen Kräften an der Spitze der Republik. Wir können also keine energische Regierung haben, weil wir keine einheitliche haben können. Alles ist auf ein überkontrolliertes Versicherungssystem auf Gegenseitigkeit und Kontrolle ausgerichtet. Die Diagnosen wiederholen sich seit Jahrzehnten. Dann folgen mahnende Appelle zur Änderung der Verhaltensweisen, Ermunterungen zur Weiterarbeit, Neustart mit neuen Köpfen, Ämtertrennungen von Regierungs- und Parteispitzen, eine neue Große Koalition zur Abschaffung der alten Großen Koalition, Koalition neu usw.

Die Legitimationsprinzipien der Bundesregierung in der Bundesverfassung (B-VG) Die zwei im B-VG festgelegten Legitimationsprinzipien der Bundesregierung sind  : • erstens der in der Verfassung 1920 verankerte Grundsatz parlamentarischen Regierens  ; • und zweitens der in der Verfassungsnovelle 1929 verankerte Grundsatz präsidentiellen Regierens. Art. 70 Abs. 1 B-VG bestimmt  : »Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt. Zur Entlassung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung ist ein Vorschlag nicht erforderlich, die Entlassung einzelner Mitglieder 332

Entwicklungsmöglichkeiten des Regierungssystems

der Bundesregierung erfolgt auf Vorschlag des Bundeskanzlers. Die Gegenzeichnung erfolgt, wenn es sich um die Ernennung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung handelt, durch den neu bestellten Bundeskanzler  ; die Entlassung bedarf keiner Gegenzeichnung.« Die Ernennung des Bundeskanzlers ist die erste Grundlage des präsidentiellen Regierens. Mit Recht hat aber schon Adolf Julius Merkl (Das rechtliche Ergebnis des Verfassungskampfes, JBl. 1930, S. 47 f.) hervorgehoben, dass mehr noch als das unbeschränkte Ernennungsrecht das unbeschränkte Entlassungsrecht den Einfluss des Bundespräsidenten auf die Zusammensetzung der Regierung und auf deren Geschäftsführung stärkt. Das Entlassungsrecht ist die zweite Grundlage präsidentiellen Regierens. Der Bundespräsident ernennt und entlässt den Bundeskanzler, er entlässt die Bundesregierung, ohne an das Parlament direkt gebunden zu sein. Auf Vorschlag der Regierung kann er das Parlament auflösen. Art. 74 Abs. 1 B-VG bestimmt  : »Versagt der Nationalrat der Bundesregierung oder einzelnen ihrer Mitglieder durch ausdrückliche Entschließung das Vertrauen, so ist die Bundesregierung oder der betreffende Minister des Amtes zu entheben.« Durch dieses Misstrauensvotum kommt die politische Verantwortlichkeit der Bundesregierung gegenüber dem Nationalrat zum Ausdruck. Das ist die Grundlage des parlamentarischen Regierens. Bis zur Verfassungsnovelle 1929 war die erste Grundlage des parlamentarischen Regierens die Bestellung durch den Nationalrat gewesen. Ein Vertrauens­ votum kennt das B-VG nicht. Die Bundesregierung muss sich nach ihrer Bestellung nicht von Nationalrat bestätigen lassen. Entwicklungsmöglichkeiten des Regierungssystems ohne Verfassungsänderung haben sich an diesen Rahmen zu halten. Trotzdem sollen hier auch solche Möglichkeiten behandelt werden, die einer Verfassungsänderung bedürfen. Der Übergang zum Mehrheitswahlrecht gehört dazu.

Mehrheitswahlrecht ? Seit Jahrzehnten wird als besonderer Ausweg aus dem Dilemma das Mehrheitswahlrecht empfohlen. Aber dazu ist eine Reform der Bundesverfassung notwendig und dazu ist der Konsens aller Parteien zweckmäßig. Da es sich um eine grundlegende Änderung des Wahlrechts und damit der Demokratie han333

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delt, könnte man auch die Auffassung vertreten, dass eine Gesamtänderung der Bundesverfassung vorliegt und es einer Volksabstimmung bedarf. Die Stellung des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers würden durch das Mehrheitswahlrecht verändert. Der Bundeskanzler würde gestärkt, der Bundespräsident geschwächt. Jedenfalls wäre eine Befragung des Volkes zweckmäßig. Als es noch ein Zweiparteiensystem gab – also in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts  –, wollten die zwei Parteien  – von Ausnahmen abgesehen – das Mehrheitswahlrecht nicht, obwohl des die Lösung des Dilemmas gewesen wäre. Seitdem es ein Mehrparteiensystem gibt, wollen es die mehreren Parteien nicht, was verständlich ist. Das Wahlsystem ist der archimedische Punkt des Regierungssystems. Kafka hat wie Theodor Eschenburg, Wilhelm Hennis, Dolf Sternberger und Ferdinand Hermens schon früh zu wichtigsten akademischen Fürsprechern eines Mehrheitswahlrechts gehört (als ein Beispiel für viele  : W. Hennis, Große Koalition ohne Ende  ? München 1968). Die Mehrheitswahl schaffe klare Berufungs- und Verantwortungsverhältnisse. Die Wählerschaft könne über die zukünftige Regierung und den Kurs der Politik in der Wahl entscheiden. Der Bundeskanzler könne führen, die Bundesregierung könne regieren und der Bundespräsident könne weiterhin repräsentieren. In der Bundesrepublik Deutschland und auch in Österreich wurde der Kairos der Wahlreform verpasst und verpatzt. Kreisky gewann trotz des Verhältniswahlrechts mehrere Wahlen mit absoluter Mehrheit, und als das nicht mehr möglich war, war die Kleine Koalition mit den Freiheitlichen schon vorbereitet. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wandelte sich die Große Koalition in die kleine. Bei uns setzte sich die Große Koalition schon in den Achtzigerjahren wieder fort, in der Bundesrepublik Deutschland etablierte sie sich wieder, wenn auch ein dickes Buch (M. Lahnstein, Die gefesselte Kanzlerin – wie die Große Koalition sich selbst blockiert, Ffm. 2005) das voraussagte, was wir in Österreich als Systemwissen haben und von 2006 bis 2008 neuerlich erlebten. Heinrich Neisser und Anton Pelinka sammelten 1971 acht »Plädoyers für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht in Österreich«. Norbert Leser bezeichnete darin Kreiskys Einführung eines verfeinerten Proporzwahlrechts zugunsten der FPÖ schon damals als einen Schritt in die falsche Richtung. Seither sind die Plädoyers regelmäßig wiederholt worden. 1999 gab Alfred Payrleitner das Buch »Aufbruch aus der Erstarrung. Neue Wege in die österreichische Politik« heraus, in dem sich wieder eine Reihe von Plädoyers für ein Mehrheitswahlrecht findet. 334

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2001 erschien Klaus Poiers grundlegendes und aufklärendes Werk »Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht«, das nicht zuletzt für parlamentarische Minderheiten ein Mehrheitswahlrecht akzeptabel machen soll. Aber das alles nützte nichts. 2007 kam es zur Bildung einer neuen Initiative unter der Leitung Heinrich Neissers, die ein Mehrheitswahlrecht forderte. Aber die Große Koalition von SPÖ und ÖVP, die sich mit einer großen Verfassungsreform hätte besonders legitimieren können, konnte sich nicht entscheiden, wie sie überhaupt den großen Fragen einer Reform der Bundesverfassung letztlich aus dem Weg ging. Vertreter des Mehrheitswahlrechts sehen einen großen Vorteil darin, dass der Wähler bei der Wahl doppelt entscheidet  : Er wählt nicht nur eine Partei, sondern gleichzeitig auch die Regierung. Seine Entscheidung hat also regierungsbildende Funktion. Die Regierung wiederum kann ihr Konzept konsequent in die Tat umsetzen. Außerdem stehen im falle des Mehrheitswahlrechts die antretenden Personen mehr zur Wahl als nur ihre Partei. Unser Verhältniswahlrecht ist ja ein starres Listenwahlrecht und man kann, abgesehen von den Vorzugsstimmen, nicht über Personen entscheiden. Im Übrigen müßte man ja nicht das britische Wahlrecht übernehmen, sondern könnte sich am französischen orientieren. Nach dem britischen Wahlrecht ist ein Kandidat gewählt, wenn nur eine Stimme im Wahlkreis mehr als seine Konkurrenten erhalten hat. Nach dem französischen muss er die absolute Stimmenmehrheit erreichen, um als gewählt zu gelten. Bei Stichwahlen können dann die kleineren Parteien als Zünglein an der Waage oder als Mittler auftreten. Das war das Wahlrecht im alten Österreich. In ihm sah man allerdings in der jungen Republik 1918 keine politische Gerechtigkeit, sondern ein »Entweder-oder«, ein »Alles oder nichts«. Daher legten sich die Parteien schon zu Beginn unserer Republik auf ein Verhältniswahlrecht fest, das ein »Sowohl-als-auch« bringen sollte. Im Übrigen darf man sich von einem Mehrheitswahlrecht nicht eine bessere Regierung und ein besseres Regieren erwarten. Britische und französische Beispiele bieten gegenteiliges Anschauungsmaterial genug. 2008 kam die neue, nicht mehr so große Koalition von SPÖ und ÖVP ins Regierungsamt. Wieder wird mehr erwartet, als erfüllt werden wird. Die Koalitionsparteien sind wegen ihrer politischen Konkurrenz gleichzeitig Opposition und Kontrolle der Regierung. Wer weniger für rechtliche und mehr für reale Gewaltenteilung ist, mag diese Koalition deshalb sogar mögen. Denn in ihr stehen sich die Parteien so gegenüber wie die japanischen Sumo-Ringer, die Montesquieu in seinem »Geist der Gesetze« als Bild für die Gewaltenteilung 335

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verwendet. Er meinte auch, wenn sie sich blockieren, würden sie, durch die Natur der Sache gezwungen, doch auch zu einer gemeinsamen Arbeit und Entscheidung kommen. Das ist ja auch bei der Regierung Faymann/Pröll der Fall. Denn die »Natur der Sache« ist derzeit stark  : Die Finanz- und Wirtschaftskrise zwingt bisher zur Zusammenarbeit. Aber das muss nicht so bleiben.

Der Bundespräsident als unbewegter Beweger ? Das Verhältniswahlrecht, dem in Österreich zum Trotz seinerzeit ein Zweiparteiensystem entstanden ist, hat im Laufe der Zeit zu einem Mehrparteiensystem geführt und damit zu einer diesem Wahlrecht entsprechenden Normalität. Die Freiheitsrechte haben dazu beigetragen. Die alte normative Kraft des Faktischen musste der neuen faktischen Kraft des Normativen weichen. Die Großen wurden kleiner, die Kleinen größer. Aufgrund des Verhältniswahlrechts und der Freiheitsrechte kommen von Zeit zu Zeit neue Parteien auf und hinzu. Das ist die in diesem System entsprechende Innovation. Der Wert des Verhältniswahlrechts liegt im farbigen Abglanz und aktuellen Abbild der Wählerschaft. Er liegt in den mehreren Wahlmöglichkeiten der Wählerschaft  ; die Wahl vermittelt die mehreren politischen Interessen, die sich in den Parteien gefunden haben und das Parlament repräsentiert sie. Er liegt in der perspektivischen Gerechtigkeit, in der Repräsentativität und im politischen Pluralismus. Wie in einem Spiegel sehen sich die Parteien und ihre Anhänger im Parlament. Die Verhältniswahl ermöglicht Vielfalt. Die Mehrheitswahl ermöglicht diese Vielfalt nur über Umwege. Von Zeit zu Zeit gibt der gesellschaftliche Pluralismus der Demokratie neues Leben, neuen Schwung und neue Energien. Bei diesem lebendigen politischen Pluralismus wird es immer schwieriger, Plädoyers für ein Mehrheitswahlrecht zu halten. Denn es gibt Wandel und Wechsel. Aber gibt es große Entscheidungen und Reformen  ? Gibt es eine große Verantwortung von Wählerschaft, Parteien und politischen Akteuren  ? Geht das Proporzwahlrecht nicht der Verantwortung aus dem Weg und ist es nicht ein Generaltitel für alles Mögliche  ? Wie ein Turm in der Schlacht steht ein Amtsträger von all diesen Entwicklungen scheinbar unberührt da  : der Bundespräsident. Wie ein ruhender Pol ist er der einzige dauernd unabhängige Machtträger. Er ist auch der einzige Machtträger, der mit einer großen absoluten Mehrheit ausgestattet ist. Verges336

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sen wir nicht, dass die Verfassung ein präsidentiell-parlamentarisches System einrichtet. Der Bundespräsident hat unabhängig vom Parlament im Hinblick auf die Regierung weitreichende Befugnisse. Er und nicht das Parlament bestellt die Regierung. Er hat dabei die große »Freiheit«. Die einzige Voraussetzung für einen Bundeskanzler ist, dass er zum Nationalrat wählbar sein muss, nicht aber, dass er zu diesem gewählt ist oder gar Parteiführer ist. Die vom Bundespräsidenten ernannte Regierung muss sich auch nicht einem Vertrauensvotum des Parlaments stellen. Sie darf nur kein Misstrauensvotum erhalten. Der Bundespräsident kann darüber hinaus den Bundeskanzler oder die gesamte Bundesregierung von sich aus und ohne Grund jederzeit entlassen. Damit kann er Druck machen. Vorbild dafür war das »ersatzmonarchische« System der Weimarer Verfassung, wie ja unsere Verfassung nach einem Wort von Bruno Kreisky wiederum das Vorbild für die jetzige französische Verfassung gewesen sein soll. Über Wien hat Paris Weimar übernommen. Allerdings mit anderem Wahlrecht und in anderem Ambiente. Während man in der Ersten Republik an den in der Verfassungsnovelle 1929 verankerten Grundsatz präsidentiellen Regierens glaubte und ihn sogar konkretisierte, hat die Zweite Republik eine besondere Konvention entwickelt  : »Im Vorfeld der Regierungsbildung, jeweils im Anschluss an die Wahl des Nationalrates, wurde informell ein Konsens gefunden, der es erlaubte, dass der Bundespräsident den Auftrag zur Regierungsbildung an den Kanzlerkandidaten der mandatsstärksten Partei des Nationalrates erteilte« (A. Pelinka, in  : ders./M. Welan, Austria Revisited, Wien 2001, S. 46). Nie hat bisher ein Bundespräsident in der Zweiten Republik, obwohl er über große demokratische Legitimation verfügt, unabhängig von den Parteien von sich aus einen Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung ernannt. Klestil wollte es versuchen, aber er scheiterte. Die Regierungsbildung 2000 zeigte, dass die österreichische Verfassung trotz der Verfassungsnovelle 1929 im konkreten Fall dem Typus eines parlamentarischen Systems entsprach. Wie in Frankreich, wo die Realität der »Cohabitation« Ähnliches demonstriert, ist auch für Österreich deutlich geworden  : Wenn Parlament und Regierung nicht konsequent getrennt werden, dann entscheidet die Parlamentsmehrheit darüber, wer regiert. Aber das ist kein Gesetz und es muss nicht so sein. Durch die Verhältnisse kann der in der Verfassung angelegte Grundsatz des präsidentiellen Vertrauens und Regierens so stark werden, dass der Bundespräsi337

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dent eine neue Rolle, nämlich seine ureigenste, ausüben muss. Bundespräsident Fischer hat bei der Regierungsbildung 2006 nach dem von Klestil eingeführten Prozess des Sondierens und Auslotens so gehandelt, als ob die alten Konventionen noch gelten. Die Konventionen lebten auch 2008 wieder auf und damit die alte Realverfassung mit »Großer« Koalition und Sozialpartnerschaft. Aber die Verhältnisse haben sich geändert und sie können sich noch mehr ändern. Scheitert die Regierung Faymann/Pröll wie ihre Vorgängerin Gusenbauer/ Molterer und/oder entwickelt sich die Parteienlandschaft in die Richtung eines neuen oder erweiterten politischen Pluralismus, wird der Bundespräsident bei der nächsten Regierungsbildung vielleicht vor seiner bisher größten politischen Herausforderung stehen. »Fünfparteiensignale« haben wir schon wahrgenommen. Wenns sich die Parteien von sich aus nicht auf eine absolute Mehrheit im Parlament einigen oder der Bundespräsident eine solche Koalition nicht will, so bleibt ihm als Ausweg der Gang zum präsidentiellen Legitimationsgrundsatz. Als einziger mit einer großen absoluten Mehrheit ausgestatteter Machtträger kann und muss er neue Lösungen suchen. Obwohl er dagegen eine Mentalreservation haben könnte, könnte er durch die Verhältnisse gezwungen sein, eine Präsidialregierung suchen zu müssen. Diese Möglichkeit wirft schon jetzt ihre Schatten voraus. Das heißt, die Parteien, die politischen Akteure und der Bundespräsident im Besonderen müssen schon jetzt diese neue Regierungsbildung ins Kalkül ziehen. Er kann durch seine Mobilisierung in einer neuen Rolle die Immobilisierung der alten Regierungsparteien überwinden. Dazu ist keine Verfassungsreform notwendig und auch kein Konsens der Parteien. Wohl aber ist eine Aufklärung der Öffentlichkeit für eine solche Form der Regierungsbildung und des Regierens zweckmäßig. Der Bundespräsident ist freilich nicht Gesetzgeber. Er kann aber in die Lage kommen, das Gesetz des Handelns in die Hand nehmen zu müssen. Er kann Regierungen ernennen und zur Gesetzgebung in seinem Sinn veranlassen. In der Zukunft könnte seine Wahl zur Wahl zwischen zwei Richtungen führen. Damit gäbe es eine klare Alternative, verkörpert in den Kandidaten. Wir haben dann vielleicht als Wählerschaft eine wirkliche Wahlentscheidung. Dazu ist zwar keine Verfassungsreform notwendig, wohl aber eine Mentalitätsreform. Sie ist genauso schwierig wie die institutionelle Reform in die Richtung eines Mehrheitswahlrechts, das im Übrigen auch eine Mentalitätsreform verlangt. Und im Hinblick auf unsere aktuelle politische Landschaft sind beide Therapievorschläge fragwürdig. Aber wir sollten ja in der Demokratie nicht aufhören zu fragen. 338

Entwicklungsmöglichkeiten des Regierungssystems

Ein proporzparlamentarisches Regierungssystem ? Unsere Verfassung verwirklichte sich nicht als präsidentiell-parlamentarisches Regierungssystem, wie es 1929 gedacht war, sondern als parlamentarisches Regierungssystem mit präsidentiellem Einschlag. Das liegt in dem zur Tradition gewordenen Rollenverzicht des Bundespräsidenten begründet, mehr aber noch in der Einstellung der Parteien zu diesem Amt und in ihrem Umgang mit ihm. Das Amt des Bundespräsidenten wurde und wird von ihnen nicht so ernst genommen wie das Amt des Bundeskanzlers. Dieses ist das Ziel aller politischen Akteure, die Spitze werden wollen. Im Übrigen ist auch ein Ministeramt mehr Ziel der Ambitionen als das Amt eines Parlamentariers. Dieses wird mehr als eine Vorstufe zum Regierungsamt als das große Ziel in einer politischen Laufbahn gesehen. Deshalb ist auch die Rolle der Opposition zu wenig anerkannt und angesehen. Lange war sie kaum ausgestattet und gegenüber der Regierung ohnmächtig. Man sprach in mehrdeutigem Sinn von der Unfähigkeit der Opposition. Dieser »gouvernementalen« politischen Kultur entsprach es auch, dass die ÖVP in der langen Zeit der Opposition von 1970 bis 1986 aufgrund des Art. 1 B-VG (»… Ihr Recht geht vom Volk aus«) und des Proporzprinzips der Verfassung die Beteiligung an der Regierung verlangte. Eine Hälfte des Volkes dürfe nicht über die andere herrschen. Sie plädierte für eine »Regierung der Besten«. Ohne sie könne es keine »Regierung der Besten« geben. Den Mandatsverhältnissen hätte die Beteiligung entsprochen – die ÖVP hatte immer um 80 Mandate –, aber die Verhältnisse waren nicht so. Das dritte Lager war noch schwach, wurde aber von Zeit zu Zeit als Mehrheitsbeschaffer geschätzt. Die Weiterentwicklung des Regierungssystems hängt mit der Entwicklung des Parteiensystems zusammen. Entwickelt sich das Mehrparteiensystem ähnlich wie das Parteiensystem der Schweiz, so ergibt sich die Frage, ob wir uns nicht zum Teil dem System der Eidgenossen annähern sollten. Dieses System verlangt Repräsentativität im Parlament und in der Regierung. Daher sind alle politisch relevanten Kräfte in der Regierung eingebunden. Das Regierungssystem baut also konsequent auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf. Die eidgenössische Konkordanzregierung verlangt im Übrigen nicht Einstimmigkeit zur Beschlussfassung, wie das bei der Bundesregierung der Fall ist  ; es gilt das Mehrheitsprinzip. Die Konkordanz setzt auch nicht ideologische Gemeinsamkeiten voraus, wohl aber den Willen zum Kompromiss. Repräsentanten der in der Öffentlichkeit konkurrierenden Parteien müssen in der Re339

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gierung zusammenarbeiten. Sie sollen Staatsinteressen vor die Parteieninteressen stellen. Verschiedene Auffassungen müssen wegen der Notwendigkeit der Entscheidung der Sachprobleme zur Übereinstimmung gebracht werden. Das wird ja auch bei uns von Koalitionsregierungen erwartet. Aber die Schweiz ist anders. So darf man den Zwang zur Zusammenarbeit nicht vergessen, der von der praktizierten direkten Demokratie ausgeht. So darf man nicht vergessen, dass bei uns im Gegensatz zur Schweiz die Parteiführer in der Regierung sitzen. In der Schweiz kann man offenbar als Parteirepräsentant in der Regierung mehr Staatsmann sein als bei uns. In der heutigen Mediengesellschaft und in Zeiten polarisierter Parteipolitik werden freilich innere Widersprüche des Schweizer Systems mehr bewusst als früher. Aber es funktioniert und wird von der Bevölkerung geschätzt. Andererseits könnten auch bei uns, sollten auch bei uns aus Parteiführern in der Regierung Staatsmänner werden. Dazu bedarf es keiner Verfassungsreform, sondern »nur« einer Mentalitätsreform. Es wäre allerdings zweckmäßig, wenn die Parteiführer als solche – ähnlich wie in der Schweiz – nicht in der Regierung, sondern im Parlament säßen. Das wäre auch eine Aufwertung des Parlaments. Auch dazu ist keine Verfassungsreform notwendig, wohl aber eine Reform der politischen Kultur, der politischen Konventionen und der Mentalität. Eine »Zauberformel« wie in der Schweiz könnte freilich nur mit Zustimmung des jeweiligen Bundespräsidenten Konvention werden. Denn er müsste sich ja bei der Ernennung der Regierung daran halten. Diese Selbstbindung des Bundespräsidenten würden manche für verfassungswidrig halten. Aber bestand und besteht nicht eine Selbstbindung  ? Im Übrigen hat der Verfasser schon vor Jahrzehnten ein solches proporzparlamentarisches Regierungsmodell mit Bindung des Bundespräsidenten konzipiert  : Art. 70 B-VG sollte danach lauten  : »Der Bundespräsident ernennt einen Vertreter der mandantsstärksten Partei zum Bundeskanzler, einen Vertreter der zweitstärksten Partei zum Vizekanzler und die übrigen Bundesminister nach Maßgabe der Stärke der im Nationalrat vertretenen Wahlparteien. Bundeskanzler und Vizekanzler sind den beiden stärksten Parteien anzurechnen.« Die großen Siege Kreiskys, die von ihm vorbereitete Kleine Koalition SPÖFPÖ und erst recht die Große Koalition ab 1986 ließen eine Diskussion über solche Konzepte erst gar nicht aufkommen. Auch heute ist es mehr als fraglich, ob sich für eine solche Verfassungsreform eine Mehrheit fände. Aber das proporzparlamentarische Regieren mit oder ohne Verfassungsänderung könnte eine Zukunft haben. 340

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Vorwärts zum Geist der Verfassung 1920 ? In der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 heißt es  : »Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten.« In Kraft gesetzt wurde dann das B-VG in der Fassung 1929. Diese hat aber einen anderen Geist als die Verfassung 1920. Deren parlamentarischer Geist sollte ja durch die Novelle 1929 zum präsidentiell-parlamentarischen werden. Das Verfassungsleben entwickelte sich aber parlamentarisch mit präsidialem Einschlag. Der Weg dazu wurde von den Bundespräsidenten trotz der Volkswahl durch Rollenverzicht in der Staatspraxis beschritten. Man sollte die Volkswahl des Bundespräsidenten nicht abschaffen, man soll dem Volk sein Recht lassen. Aber man könnte die Bestellung der Bundesregierung durch den Bundespräsidenten abschaffen. In den Medien ist bekanntlich dieser Weg schon begangen worden  : Es ist von »Angelobung« durch den Bundespräsidenten die Rede, nicht von der Ernennung (der ORF war immerhin bei der Übertragung der Regierungsbestellung 2008 eine rühmliche Ausnahme). Art. 70 Abs.1 der Verfassung 1920 bestimmte  : »Die Bundesregierung wird vom Nationalrat … gewählt.« Art. 72 regelte die Angelobung durch den Bundespräsidenten, die Ausfertigung der Bestallungsurkunden und ihre Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler wie heute. Mit der Wahl der Bundesregierung durch den Nationalrat würde dieser rechtlich und faktisch aufgewertet. Der Bundespräsident würde zwar rechtlich, aber nicht faktisch abgewertet. Im Übrigen könnte ihm das Entlassungsrecht bleiben. Dem parlamentarischen Legitimationsprinzip der Bundesregierung und praktisch-politischen Notwendigkeiten würde Rechnung getragen. Die Nationalratswahl hätte von vorneherein auch die Bedeutung der Wahl der Regierung, die sie, wenn auch nicht rechtlich, so doch ihrem Ziel nach ohnehin hat. Diese Verfassungsänderung wäre keine Gesamtänderung der Bundesverfassung, weil ja der Bundespräsident nur das Ernennungsrecht verlöre. Die Novelle 1929 wurde auch nicht einer Volksabstimmung unterzogen, obwohl sie im entgegengesetzten Sinn viel mehr Änderungen brachte. Trotzdem wäre eine Volksabstimmung zweckmäßig. Direkte Volkswahl der Bundesregierung Einen originellen Beitrag zur Weiterentwicklung des Regierungssystems lieferte der leider allzu früh verstorbene Innsbrucker Professor Fried Esterbauer. Er trat 341

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für die direkte Volkswahl der Regierung ein. Esterbauer (Demokratiereform, Volkswahl der Regierung und Bundesstaatsreform2, Wien 1988) kritisierte die dem parlamentarischen Regierungssystem entsprechende De-facto-Abhängigkeit des Parlaments von der Regierung. Sie führe zur »Entmündigung des Parlamentariers zugunsten der Parteiführer«, die in der Regierung sitzen. »Die Gewaltenteilung und die Kontrolle zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit sind nur formal vorhanden, überlagert von Machtkonzentration und vom Parteienstaat (Parteidisziplin und Fraktionszwang) … Die Gesetzgebung geht de facto auf die Regierung … über.« Neben der inhaltlichen Umkehr der äußerlich und formell weiterhin vorhandenen Gewaltenteilung liege die zweite Schwäche in unsicheren parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen. Durch ein mögliches Misstrauensvotum würden Regierungskrisen und vorzeitige Neuwahlen riskiert. Durch die direkte Volkswahl der Regierung »wird der im Sinne der Gewaltenteilung richtige Dualismus zwischen dem Parlament mit unabhängiger Gesetzgebungshoheit und Kontrolle einerseits und der Regierung als von parlamentarischer Gesetzgebung abhängiger Exekutive andererseits erreicht, weil Parteidisziplin und Klub- bzw. Fraktionszwang nicht mehr als Rechtfertigung für die Regierungsfähigkeit dienen müssen.« Damit wird die Regierung rasch durch Wahl gebildet und das unabhängig davon gewählte Parlament als Gesetzgeber aufgewertet. Ein Misstrauensvotum gibt es dabei ebenso wenig wie eine Parlamentsauflösung durch die Exekutive. Der entscheidende Punkt bleibt die getrennte Wahl von Parlament und Regierung (Regierungschef als Einzelperson oder Regierung als Team), die Unabhängigkeit voneinander und die Abhängigkeit beider vom Wählervolk. Dem Bundespräsidenten verbliebe hier offensichtlich nur die Angelobung der Regierung. Dieser Reformvorschlag ist wohl utopisch. Aber man soll ihn nicht vergessen, da er Vorstellungen von Demokratie und Gewaltenteilung wiedergibt, die relativ häufig in Diskussionen vertreten werden. Dieses Projekt wäre eine Gesamtänderung der Bundesverfassung und bedürfte einer Volksabstimmung.

Alles bleibt, wie es ist Der österreichischen Tradition und der jetzigen politischen Konstellation entspricht es wahrscheinlich, dass alles rechtlich und tatsächlich so bleibt, wie es ist. Der Verfassungskonvent hat diesbezüglich ja auch nichts Neues geliefert. 342

Entwicklungsmöglichkeiten des Regierungssystems

Aber wenn auch der rechtliche Rahmen gleich bleibt, kann sich die eine oder andere neue Ausprägung des Regierungssystems ergeben. Die Regierung Schüssel/Riess-Passer ist ein markantes Beispiel dafür. Wahlen und Pakte können zu einer neuen Konfiguration der parteipolitischen Lager und Lage führen. Für eine Koalitionsregierung gibt es dann mehr und mehrere Varianten. Ein neuer Bundespräsident muss nicht gerade ein Sarkozy werden, aber er könnte die im B-VG steckenden Möglichkeiten anders verwirklichen, als das bisher geschehen ist. Die Wirklichkeit ist nach Johann Nestroy das schönste Zeugnis für die Möglichkeit. Aber es sind schon Möglichkeiten einer Verfassung Wirklichkeit geworden.

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Nachwort des Herausgebers

In seinem Vorwort zu dem von David F. J. Campbell und Christian Schaller herausgegebenen Buch »Demokratiequalität in Österreich« (Opladen  : Leske + Budrich 2002) spricht Manfried Welan kennzeichnende Worte  : »Geht man davon aus, dass die Demokratie als Menschenrechtsstaat und ihre Ausgestaltung auf ein Ziel ausgerichtet sein sollen, nämlich die Erhaltung und Förderung der Würde des Menschen, so ist sie nichts Fixes und Fertiges, nie ganz gegeben, sondern immer ganz aufgegeben.« Damit hat er nicht nur das von ihm damals eingeleitete Buch in dessen Zielsetzung charakterisiert, er hat damit auch ein persönliches Programm formuliert, das ihn als wissenschaftlichen Schriftsteller und als Politiker ein Leben lang leitet. Für Manfried Welan war und ist es immer eine im politischen und akademischen Alltag realisierte und mitunter gegen Widerstände zu realisierende Gewissheit, dass »das Miteinander-Reden über Demokratiequalität immer mehr zum Polylog (wird), der niemals endet«. Und er wusste deshalb stets, dass »dieses vielstimmige Gespräch selbst ein Zeichen von Qualität sein (kann)«. Für Manfried Welan war und ist, wie es schon 1968 in seinem Beitrag »Mobilisierung der Christen« hieß, Demokratie ein ständiger und beständiger »Umlernprozess«. Die im vorliegenden Band vereinigten Beiträge, die wir aus Anlass des 75. Geburtstages von Manfried Welan zusammengestellt haben, dokumentieren dies in eindrucksvoller Weise. Seit Mitte der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts postuliert Manfried Welan beständig und unbeirrt  : »Geht man davon aus, daß Demokratie nichts Fixes und Fertiges ist, sondern eine permanente Aufgabe mit dem Ziel, die Kontrolle der Herrschenden durch die Beherrschten auszubauen, die Abhängigkeit jener von diesen zu verstärken, politische und soziale Herrschaft abzubauen, so wird man versuchen müssen, neue Mittel und Wege zu finden, um das Volk aus Bevormundungen zu befreien.« Deshalb ist ihm auch die Erinnerung an die demokratischen Kämpfe der Vergangenheit wertvoll und er klagt über den österreichischen Mangel  : »Das kollektive Gedächtnis kennt die 345

Nachwort des Herausgebers

Revolution 1848 nicht. Der Zusammenhang von Revolution und Konstitution wurde nie Tradition«, schrieb er im Jahr 1992. An der Aufgabenstellung, neue Mittel und Wege zu finden, um das Volk aus Bevormundungen zu befreien, hat sich nach Ansicht des Herausgebers bis heute nichts geändert – wiewohl sich der Kontext modifiziert hat, in dem dieses Postulat Geltung beansprucht. Demokratische Gesinnung und demokratische Institutionen haben sich heute zu bewähren in einer offenkundig krisenhaften Welt. Ich nenne summarisch  : • die globale ökologische Krise durch immer weiter fortschreitende Zerstörung der biologischen Überlebensbedingungen  ; • die soziale Krise durch steigende offene und versteckte Arbeitslosigkeit in den Industrieländern, psychische Devastierung in der »entwickelten Welt« und krasse soziale Verelendung großer Teile der Bevölkerung in der »Dritten Welt«  ; • die ökonomische Krise durch Ausweitung der Produktion bei abnehmender Kaufkraft der Massen mit der einhergehenden globalen Krise eines finanzmarktgetriebenen Wirtschaftssystems  ; • die Bildungskrise aufgrund der Verknappung der Bildungsbudgets und der darauf folgenden Austrocknung der geistigen Ressourcen von Individuen und Nationen  ; • die kulturelle Krise des Identitätsverlusts, die zur Folge hat, dass die Chance der Begegnung und Konfrontation von Kulturen mit sehr verschiedenen Traditionen und Inhalten und Lebensauffassungen statt zu Offenheit und Bereicherung zur Anhäufung von Konfliktstoff geführt hat und den weltanschaulichen Fundamentalismus fördert  ; • die Wissenschaftskrise, die u. a. darin besteht, dass unser wissenschaftliches Wissen Grenzen erreicht hat, an denen wir nicht mehr sicher sein können, ob die Anwendung, ja sogar die Weiterentwicklung dieses Wissens zu verantworten ist  ; • die politische Krise, die sich sowohl im Abbau demokratischer Entscheidungsprozesse und in der Verselbstständigung einer schwer zu kontrollierenden Bürokratie ausdrückt  ; die aber auch in zahlreichen blutigen regionalen Konflikten (so hoffnungsvoll sie stellenweise auch in Erscheinung treten mögen – Stichwort »arabischer Frühling«) die Fragilität der internationalen Friedens- und Völkerrechtsordnung erkennen lässt.

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Nachwort des Herausgebers

Wer von Demokratie redet, muss von diesen Krisen sprechen. Wer die demokratische Idee vertritt, der muss Demokratie als ein geeignetes politisches System ausweisen können, mit dem diesen Krisen begegnet werden kann. Diese Welt hat sich gewandelt im letzten halben Jahrhundert. Aber viele der Aufgaben sind gleich geblieben. In der Gedenkschrift für René Marcic aus dem Jahr 1974 heißt es aus Welans Feder  : »Der Prozeß der Demokratisierung im Sinne der Herstellung von Demokratie oder von mehr und besserer Demokratie, im Sinne der Annäherung der sozialen Realität an die Idee der Demokratie, verlangt aber, daß stets aufs Neue nach neuen Formen der Teilnahme und Teilhabe aller Menschen an der sozialen Machtausübung gesucht wird. Ist die Überwindung der Fremdbestimmung und die menschliche Selbstbestimmung nicht das Ziel der Demokratie  ? Ist dieses Ziel nicht ständig anzustreben  ? Soll nicht jede reale Demokratie sich als Mittel zu diesem Ziel begreifen  ?« Und an derselben Stelle heißt es wie zum aktuellen Tagesgebrauch geschrieben  : »Ist die Forderung nach Demokratisierung in einer Zeit der Krise der Demokratie nicht besonders gerechtfertigt  ?« An dieser Stelle ist die Entscheidung zu treffen  : Setzen wir bei der notwendigen Lösung der anstehenden ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben auf immer mehr Expertenwissen und auf immer elitärer werdende Kreise von Entscheidungsträgern oder setzen wir auf die Vernunft und Entscheidungsfähigkeit der demokratischen Völker  ? Es gibt einige unangenehme Wahrheiten, vor denen man nicht die Augen schließen darf. Dazu gehört die Einsicht, dass uns der arbeitsteilige Produktionsprozess die Erfahrung einer aus ihren Teilen rational aufzubauenden Welt unmöglich gemacht hat und dass dieser Prozess die Welt als Gegenstandsbereich zersplittert und ihre Restitution der Irrationalität privater Integration anheimgegeben hat. Die normative Vorstellung von Demokratie – als Gesellschaftsform autonom (und das heißt rational) über ihre Lebensumstände bestimmender Bürger  – ist illusionär geworden und hat oftmals dem pseudo logos des Pluralismus (als dem ideologischen Korrelat des Chaos von einander widersprechenden Interessen) Platz gemacht. Der Spezialisierungsprozess im Bereich der Entfaltung der Produktivkräfte – Quell unseres gesellschaftlichen Reichtums und damit Bedingung der Möglichkeit menschlicher Freiheit  – trägt in sich die Gefahr der Zerstörung jeglicher Freiheit, nämlich die Annullierung möglicher gesellschaftlicher Selbstbestimmung oder Autonomie, als welche Freiheit zu definieren ist. Lässt nicht ein gesellschaftlicher Funktionsmechanismus, der auf arbeitsteilige Zersplitterung beruht, vernünftige Entscheidungen nur noch für partielle Zwecke 347

Nachwort des Herausgebers

auf der Grundlage von spezialisiertem Fachwissen zu  ? Wird Demokratie dann durch eine Expertenoligarchie abgelöst, die sich bürokratisch organisiert und als technokratische Elite etabliert  ? Stünde nicht eine derartige technokratische Elite, die sich an der Definition des Systems als stabiler Innen-außen-Differenz orientiert, nolens volens im Dienste der Erhaltung bestehender Verhältnisse und also im Dienste der herrschenden Klasse  ? Manfried Welan hat wache Augen und offene Ohren. Er weiß darum, dass es (bei aller Bemühung nach wissenschaftlicher Exaktheit und politischer Eindeutigkeit) nicht um das fade Wiederkäuen der immer gleichen Tagesordnungspunkte gehen darf, dass es vielmehr das konkrete Leben selbst ist, das unentwegt der reflektierten politischen Gestaltung bedürftig ist  : »Insbesondere Kindergär­ ten, Schulen, Betriebe, Massenmedien, Universitäten, K ­ rankenanstalten, Strafvollzugsanstalten, Pensionistenheime, Pflegeanstalten, Bürokratien, Alltags­ verhältnisse und -verhalten, auch die Architektur, der Straßenverkehr und Verkehrsanlagen, Zoos, Parkanlagen und Gärten, ja die Landschaft und ihre Gestaltung (können) mehr über die Qualität der Demokratie aussagen als die Gestaltung des Wahlrechts«, wie er im schon erwähnten Vorwort zum Sammelband »Demokratiequalität in Österreich« schrieb. Es ist der uns alle plagende, erregende und mitunter auch befriedigende Alltag, in dem über die Demokratie gesprochen wird. Und Manfried Welan stellt in vielen Variatio­nen mehrfach fest  : »Warum aber Demokratie im Sinne von Kontrolle der Herrscher durch die Beherrschten, das Prinzip der Öffentlichkeit, Verantwortlichkeit und Abhängigkeit der Herrschafts- und Machtträger gegenüber den Herrschaftsund Machtunterworfenen auf die staatliche Herrschaftsordnung im engsten Sinn beschränkt sein soll, ist nicht leicht einzusehen.« Nur dann, wenn die Beherrschten in ihrem täglichen Leben erfahren können, dass es ihre Entscheidungen sind und dass es ihr Mitwirken ist, die ihre Lebenswelt mitbestimmen, dann entwickelt und findet sich bei ihnen auch das Vertrauen in den Prozess demokratischer Entscheidungsfindung, wo er über ihren persönlichen Lebensbereich hinausgeht. Wo man den Beherrschten diese Erfahrung nicht möglich macht, entstehen nur Stammtischgewissheiten und Führersehnsüchte. Wir werden nicht weit fehlen, wenn wir Manfried Welan als jemanden erkennen, in dem die in den späten 60er-Jahren erwachende Demokratiesehnsucht sich stärker erhalten hat als bei vielen, die damals durchaus lautstark, heute aber meist nur noch kleinlaut »mehr Demokratie« postulierten. Manfried Welan prägt eine grundvernünftige, vorurteilsfreie und auf gesellschaftliche und staatliche Realisierung drängende Demokratiefreude. Und wie kaum ein öster348

Nachwort des Herausgebers

reichischer Jurist nach 1945 war und ist ihm bewusst, was er schon 1971 allen (!) Juristen ins Stammbuch schrieb  : »Der Rechtsstaat hat bei uns mehr Tradition als die Demokratie. Über die Demokratie wurde daher bisher bei uns viel weniger reflektiert als über den Rechtsstaat.« Im Jahr 1971 hat Manfried Welan in einem Beitrag zum Wahlrecht geschrieben  : »Der Raum der Verfassung ist meist auch dort tabuisiert, wo er reformbedürftig ist. Die Träger der Institutionen, die elitären Gruppen der politischen Parteien, sind auf diese Weise abgesichert. Verfassung und Demokratie als Angriffs­waffen verwandelten sich zu Garanten des Status quo, wurden aus progressiven Elementen zu konservierenden, zu Reproduktionsmechanismen etablierter Machtverhältnisse. Die Institutionen der politischen Ordnung werden entpolitisiert. Damit werden sie dem Volk entfremdet und stehen nur einem Kreis von Eingeweihten nahe. Und doch  : Wieder protestiert der politische Selbstbewußte, fordert Selbstbestimmung, die Heteronomie provoziert bei den kritisch Denkenden Opposition usw. Der Kampf um die Freiheit und der Kampf um die Macht geht weiter.« Aber 1980 äußerte Welan anlässlich der Diskussion über das Unterrichtsprinzip »Politische Bildung« auch große Skepsis  : »Und die Gegenwart lehrt uns, daß zwar mehr politisches Wissen als früher gegeben ist, aber nicht mehr politische Tugend.« Wie verbessern wir die Demokratie, wie erhöhen wir die politische Tugend  ? Wie auch immer die konkreten Vorschläge aussehen mögen, sie dürfen das Recht nicht als isoliertes Instrument der Gesellschaftsgestaltung betrachten  ; derartige Vorschläge müssen immer von der gesamten sozialen Realität des Landes ausgehen. Manfried Welan hat, anders als die epigonalen Kohorten der »reinen Rechtslehre« in diesem Land, die Rechtswissenschaft stets als Sozialwissenschaft ausgewiesen. Schon 1973 stellte er bei einer kritischen Analyse des österreichischen Parlamentarismus fest  : »In der Tat haftet den Rechtsnormen bei isolierter, d. h. vom Leben losgelöster Betrachtung, etwas Unwirkliches an  ; sie konstituieren im Bewußtsein des Betrachters eine unwirkliche Atmosphäre. Ihre aktuelle Bedeutung ist nur dann erkennbar, wenn man die Realisierung dieser Normen durch die Träger des heutigen politischen Prozesses betrachtet. Der dialektische Prozeß, der sich zwischen sozialer Realität und den jeweils zur Konkretisierung aufgegebenen Normenmaterial aktualisiert, prägt sowohl das Verhalten der beteiligten Personen und Gruppen als auch das Normenmaterial selbst. Der Wortlaut der Normen mag gleich bleiben, veränderte soziale Umweltbedingungen führen zur Änderung der sozialen Funktion der Normen.« Dies nie aus den Augen verloren zu haben wird dem Juristen (!) Manfried Welan 349

Nachwort des Herausgebers

hoch angerechnet werden müssen. Welan ist solcherart zu Einsichten gekommen, die ihn vom Mainstream der österreichischen akademischen Juris­prudenz mitunter entfernt haben. So hat Manfried Welan etwa schon 1981 in einem Beitrag zur politischen Kultur in Österreich mit aller Klarheit erkannt  : »Die Verstaatlichung der Gesellschaft ist so weit fortgeschritten, daß die Grundfreiheiten neue soziale Funktionen erhalten haben. Die Gesellschaft wird immer mehr Staat und dieser wird in seinen verschiedenen Gestalten und Tätigkeiten immer mehr zum Träger von Grundfreiheiten, schließt diese durch alleinige ›Zuständigkeit‹ aus oder beschränkt die Grundfreiheiten.« Nimmt man diese Einsicht ernst (und dazu hätten wir einigen Grund), dann müsste man das gesamte rechtswissenschaftliche Denken über die Grund- und Freiheitsrechte neu ordnen  ; eine Aufgabe, der sich die Rechtswissenschaft in Österreich bis dato (noch) nicht angenommen hat. Welan bringt mit seinen Denkanstößen, seinen Interventionen, Kommentaren und Analysen etwas zum Vorschein, was man auch mit den Worten von Alain Badiou (Bedingungen, übers. v. H. Jatho, Zürich 2011, S. 271) beschreiben kann  : »Die parlamentarischen Staaten des Westens erheben auf keine Wahrheit Anspruch. Philosophisch sind es, wenn man so sagen kann, relativistische und skeptische Staaten, nicht aus Zufall oder aus Ideologie, sondern intrinsisch, weil ihr ›Grund‹ die Rechtsregel ist. Darum präsentieren sich diese Staaten gern als die ›am wenigsten schlechten‹ statt als die besten. ›Am wenigsten schlecht‹ bedeutet in jedem Fall, dass wir uns im Relativen und Schlechten bewegen oder genauer auf dem Gebiet des staatlichen Funktionierens, das anders als die Wahrheit oder das Gute keinen direkten Bezug zu einer affirmativen Norm hat«, oder anders ausgedrückt  : »Der Rechtsstaat hat als interne Gesetzgebung nur das Funktionieren« (ebd., S. 270). Manfried Welan denkt anders und setzt sich davon ab  : Mit Machiavelli (Discorsi III/1) vermutet er wohl, dass jeder Staat kollabiere, wenn er nicht von Zeit zu Zeit auf seine Grundprinzipien zurückgeführt werde. Die hier versammelten Beiträge sind allesamt als Versuch zu lesen, die Republik Österreich auf »ihr Grundprinzip« zurückzuführen. In seinem Kommentar zum Art. 1 B-VG (»Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus«) hielt Manfried Welan deshalb ausdrücklich fest  : »Wird das praktizierte repräsentativ-demokratische System politisch akzeptiert, dann hat der Satz zwar nur geringe politische Bedeutung. Besteht diese Akzeptanz aber nicht, wird er zur Provokation. Der Widerspruch des gesamten Repräsentativsystems zu Art. 1 B-VG wird bewußt, fördert und fordert politisches Konflikt- und Protestpotential. Der Widerspruch erzeugt Wider350

Nachwort des Herausgebers

stand. Im Falle Hainburg wurde dieser ›Widerstand in der rechtsstaatlichen Demokratie‹ praktiziert. – Art. 1 B-VG ist in seiner Gesamtheit ein politisches Symbol. In ihm liegt die Erinnerung an den Kampf um Rechtsstaat, Demokratie und damit auch die Herausforderung, ständig ihre Lage zu reflektieren und ihre Weiterentwicklung zu initiieren.« Manfried Welan hält diese Erinnerung durch sein publizistisches und politisches Schaffen präsent. Es ist hier nicht der Ort, Manfried Welans Demokratie-Schriften einzuordnen in die Liste der historischen Demokratieforderer und -förderer. Mir scheint eine Kontinuität zu bestehen von Samuel Pufendorfs Demokratie-Definition aus dem Jahr 1672  : Identität (nicht Unität  !) von Regierenden und Regierten (iidem sint qui imperant et parent), von Kants Forderung, alle Rechtsgesetze müssten aus der Freiheit derer hervorgehen, die ihnen gehorchen sollen, und von Hegels Bestimmung, dass das organische Prinzip der Staatsverfassung als die Freiheit zu charakterisieren sei, dass das Regierende selbst das Regierte sei – bis hin zu Welans hier versammelten Demokratisierungsforderungen. Denn eines ist gewiss  : Eine nicht-partizipatorische Demokratie ist ein Widerspruch in sich selbst. Die Reduktion des Volkes auf Stimmzettelgeber negiert die Idee der Demokratie. Nicht eine demagogisch formierbare, charismatisch gesteuerte oder gewaltsam oktroyierte Identifikation der Regierenden mit den Regierten, sondern genau umgekehrt  : die Identifikation der Regierenden mit den Regierten verleiht der jedem Staat eigenen Herrschaft von Menschen über Menschen Legitimation. Nicht das Volk ist ein Organ des Staates, sondern der Staat soll ein Organ des Volkes, der Bevölkerung sein, so wie der Abgeordnete nicht seiner Fraktion, sondern seinen Wählern verantwortlich zu sein hat. Telekratie ist keine mögliche Form von Demokratie, und staatsfinanzierte Wahlkampagnen von Parteien drohen die Demokratie auf den Kopf zu stellen, denn auch sie behandeln das Wählervolk als Objekt der Politik. Die Differenzen zwischen Verfassungsrealität und Verfassungsnormativität (von Verfassungsidealitäten ganz zu schweigen) nicht hinzunehmen ist der eigentliche Beruf des Verfassungstheoretikers. Das Aufgabengebiet von Manfried Welan wird in Hinkunft wohl eher größer werden … Aus dem umfangreichen Schrifttum von Manfried Welan liegt hier eine Auswahl vor, die das Spektrum seines Wissens, seines Denkens und seines Schreibens zeigt. Manches davon steht unter der Zuchtrute geschichtlicher Entwicklung und geänderter Umstände – aber es ist zu hoffen, dass Manfried Welan in seiner Einzigartigkeit sichtbar wird. Seine Stelle hat bis dato niemand von den Jüngeren eingenommen. 351

Drucknachweise Die Wiedergabe der Texte erfolgt (von zwei Ausnahmen abgesehen) chronologisch. Soweit dies zweckmäßig schien, wurden die Fußnoten der Originale in den Fließtext eingearbeitet. Offenkundige (Schreib-)Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die große Illusion, in  : Die Furche 38/1964. Freiheit in Österreich – eine Collage, in  : 1984 – Freiheit und Menschenwürde (= Zeitschrift der K.Ö.St.V. Rudolfina Nr. 6), Wien  : K.Ö.St.V. Rudolfina 1983, S. 29–35. Erinnerung an die vergessene Revolution 1848, in  : G. Sperl/M. Steiner (Hg.), 8tung  ! (= Was für Zeiten  : Bd. 10), Graz  : Leykam 2008, S. 101–106. Mobilisierung der Christen, in  : NEUES FORVM 1968, S. 659–660. Demokratische Demokratie-Reform, in  : Der Staatsbürger 18/1969. Demokratie und Demokratisierung, in  : Der Staatsbürger 17/1970. Demokratiereform und Gemeinden, in  : Österreichische Bürgermeister-Zeitung, September 1970, S. 1. Die Lehre von der Gewaltentrennung und das B-VG, in  : Österreichische Juristenzeitung 1970, S. 449–453. Pluralismus und Föderalismus, in  : Föderalismus in Österreich, hrsg. v. E. C. Hellbling/ Th. Mayer-Maly/R. Marcic, Salzburg/München  : Pustet Verlag 1970, S.  205–255 (mit Gertrude Welan). Betrachtungen zum Demokratieverständnis, in  : Der Staatsbürger 18/1971 und 19/1971. Mehrheitswahl – mehr Demokratie, in  : H. Neisser/A. Pelinka (Hg.), Für ein mehrheitsförderndes Walrecht in Österreich. 8 Plädoyers, Wien/München  : Verlag Kurt Wedel 1971, S. 57–77. Gedanken zur Situation des Parlaments heute, in  : Gesellschaft und Politik 4/1973, S. 21– 38. Demokratie im Wandel, in  : Die Wochenpresse 11/1973. Das Janusgesicht der westlichen Demokratie, in  : Der Staatsbürger v. 2. Jänner 1974, S. 1–2. Demokratie und Demokratisierung, in  : Dimensionen des Rechts. Gedächtnisschrift für René Marcic, hrsg. v. M. Fischer/R. Jakob/E. Mock/H. Schreiner, Berlin  : Duncker & Humblot 1974, S. 1191–1212. Die Kanzlerdemokratie in Österreich, in  : Um Parlament und Partei. Festschrift für Alfred Maleta, hrsg. v. A. Khol/R. Prantner/A. Stirnemann, Graz/Wien/Köln  : Böhlau Verlag 1976, S. 169–180. Zur Zukunft der politischen Bildung, in  : AKV Informationen 4/1980, S. 41–47.

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Drucknachweise

Hat sich die politische Kultur Österreichs gewandelt  ? In  : Politische Moral. Beiträge zur politischen Kultur Österreichs, hrsg. v. J. Höchtl/F. Windhager, Wien  : Multiplex Media 1981, S. 79–99. Art. 1 B-VG, in  : Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels. Festschrift für Ludwig Adamovich, hrsg. v. B.-Chr. Funk u.a., Wien/New York  : Springer Verlag 1992, S. 721–732. Der Staatsbürger zwischen Parlamentarismus und Präsidialismus, in  : Salzburger Nachrich­ ten v. 30. Juli 1993, S. 3. Zur Lage des Parlaments, in  : Jahrbuch des Österreichischen Parlaments 1994. Hg. von der Österreichischen Parlamentarischen Gesellschaft, Wien  : Manz 1994, S. 18–23. Präsidialismus oder Parlamentarismus  ? Demokratiepolitische Perspektiven, in  : Die Qualität der österreichischen Demokratie. Versuche einer Annäherung, hrsg. v. D. F. J. Campbell/K. Liebhart/R. Martinsen/Chr. Schaller/A. Schedler, Wien  : Manz 1996, S. 59–83. Wer soll uns vertreten  ? Persönliche Streifzüge durch die Republik der Funktionäre, Sekretäre und Mandarine, in  : Professionsnormen für Politiker, hrsg. v. G. R. BurkertDottolo/B. Moser, Wien  : Politische Akademie der ÖVP 1998, S. 27–45. Demokratie in Österreich (Diskussionsbeiträge), in  : Werkstattblätter 1/00, S. 3–6. Die Macht des Wortes, in  : Der öffentliche Dienst aktuell, April 2002, S. 20–23. Der diskrete Charme einer Minderheitsregierung, in  : Der Standard v. 18. Dezember 2002, S. 31. Globalisierung und Menschenrechte, in  : Club Niederösterreich H. 5/2004, S. 66–72. Regierungsbildung und B-VG, in  : Demokratie und sozialer Rechtsstaat in Europa. Festschrift für Theo Öhlinger, hrsg. v. St. Hammer/A. Somek/M. Stelzer/B. Weichselbaum, Wien  : WUV Universitätsverlag 2004, S. 434–444. Die Legitimationsprinzipien der österreichischen Bundesregierung, in  : Ein Jurist im Spannungsfeld von Wirtschaft, Technik und Recht. Festschrift für Franz Zehetner zum 60. Geburtstag, hrsg. v. M. Haslinger/A. Kanonier/S. Zehetner, Wien/Graz  : NWV Neuer Wissenschaftlicher Verlag 2009, S. 273–280. Entwicklungsmöglichkeiten des Regierungssystems, in  : Demokratie im Umbruch. Perspek­ tiven einer Wahlrechtsreform, hrsg. v. K. Poier, Wien/Köln/Graz  : Böhlau 2009, S. 259–270.

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Personenregister A Achternbusch, Herbert  301 Adamovich, Ludwig  46, 51, 167 Adorno, Theodor W.  218 Agnoli, Johannes  159 Améry, Jean  199, 208 Androsch, Hannes  202 Antoniolli, Walter  51, 282 Aristoteles  8, 278 B Badiou, Alain  350 Bahr, Hermann  215 Barker, Ernest  123 Bauer, Otto  199, 225 Bäumlin, Richard  57 Fn. 37 Benedikt, Hans  163 Beyme, Klaus v.  169 Bismarck, Otto v.  283 Binswanger, Ludwig  70 Bodzenta, Erich  130 Bröchler, Stephan  323, 330 Broda, Christian  159 Brückner, Peter  159 Brüning, Heinrich  254 Brünner, Christian  259, 267 Burckhard, Max  15, 190 Burdeau, Auguste  70 Busek, Erhard  159, 276 C Campbell, David F. J.  345 Candid 239 Castells, Manuel  302 Chirac, Jacques  266 Churchill, Winston  282 Cicero 275 Cincinnatus 283

D Dachs, Herbert  270, 272 Dahrendorf, Ralf  305 Danneberg, Robert  225 Dieser, Roland  219 Doderer, Heimito v.  18 f., 200 Dollfuß, Engelbert  192 Downs, Anthony  103, 167 Draht, Martin  154 Duverger, Maurice  56 Fn. 33, 135, 149 f. E Epikur 275 Ermacora, Felix  42, 76, 110 Eschenburg, Theodor  334 Esterbauer, Fried  266 f., 341 f. F Farkas, Karl  282 Faymann, Werner  336, 338 Ferdinand I., Kaiser  24, 223 Fetscher, Iring  169 Fischer, Heinz  53 Fn. 28, 327 Fraenkel, Ernst  188, 251 f. Franz II. (I.), Kaiser  160 f. Franz Joseph I., Kaiser  24, 25, 162, 250 Fröhlich, Georg  47 Fn. 11, 226, 229 G Gaulle, Charles de  282, 322 Gerlich, Peter  130, 141, 273 Geyerhahn, Siegfried  109 Gorbatschow, Michail  282 Gottschlich, Maximilian  318 Gratz, Leopold  159 Grillparzer, Franz  14, 191, 215 Grün, Anastasius  14 Gusenbauer, Alfred  327, 338

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Personenregister H Habsburg  57, 202, 227 Haider, Jörg  264, 324 Hamilton, Alexander  263 Harters, Philipp  303 Hayek, Friedrich August v.  305 Hegel, Georg Wilhelm  351 Heinrich, Hans-Georg  249 Hennis, Wilhelm  169 f., 334 Hentig, Hartmut v.  159 Hermens, Ferdinand A.  251, 334 Hitler, Adolf  201, 254, 282 Hofmann 202 Hofmannsthal, Hugo v.  218, 294 Holtmann, Everhard  323 Horkheimer, Max  194, 218 Huber, Hans  46 Fn. 7

Kreisky, Bruno  182, 188, 255 f., 292, 322, 334, 340 Kudlich, Hans  24 Küng, Hans  305 Kürnberger, Ferdinand  14, 199 L Lahnstein, Manfred  334 Laver, Michael  309 Lehmbruch, Gerhard  53 Fn. 27, 96, 111, 130, 169 Leibholz, Gerhard  126, 127, 128 Leicht, Robert  285 Leisner, Walter  46 Fn. 6 Lenk, Kurt  121 Lentze, Hans  164 Leopold II., Kaiser  160 Leser, Norbert  259, 263, 334 Lincoln, Abraham  153 Locke, John  102 Loewenstein, Karl  45 Fn. 2, 48 Fn. 16 f., 70, 247 f., 250, 252 f. Lorenz, Konrad  193

J Janus 149 Jatho, H.  350 Jellinek, Georg  175 Joseph II., Kaiser  16, 160 Jouvenal, Bertrand de  182 K Kafka, Gustav E.  57 Fn. 36, 130, 255, 263, 331 Kägi, Walter  46 Fn. 7 Kästner, Erich  20 Kelsen, Hans  7, 10, 40, 47 f., 71, 110, 121, 153, 155, 157, 168, 172, 190, 221, 225 f., 229, 233, 243, 283 Khol, Andreas  267, 269, 282 Kirchheimer, Otto  27 Klaus, Josef  182 Klecatsky, Hans Richard  172, 233 Klestil, Thomas  259, 310, 327 Klima, Viktor  324 Kluxen, Wolfgang  123 Koigen, David  164 Koja, Friedrich  250, 259, 282, 319 Krainer, Josef  266 Krauland, Peter  202

M Machiavelli, Niccolò  276, 350 Maciver, Robert Morrison  157 Macpherson, Crawford Brough   99, 158 Mao 282 Marcic, René  156, 172, 174, 228, 283, 347 Maria Theresia  16, 161, 204 Matz, Utz  126 Mayer, Heinz  318 Mayr, Hans  110, 224 Meixner, Wolfgang  324 Merkl, Adolf  8, 10, 47 Fn. 11, 50, 151, 166, 170, 174, 192, 226, 229 f., 232, 321, 333 Metternich, Clemens v.  14, 283 Meyer, Thomas  293 Mischler, Ernst  109 Molterer, Wilhelm  327, 338 Montesquieu, Charles de  45 f., 52, 54, 276, 335 Morscher, Siegbert  140 Müller, Wolfgang C.  270, 273 f.

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Personenregister Müllner 202 Musil, Robert  199 N Naßmacher, Karl-Heinz  130, 251 Nawiasky, Hans  48 Neisser, Heinrich  54 Fn. 29, 282, 328, 334 f. Nenning, Günther  9, 259 Nestroy, Johann  13, 212, 260, 328, 343 Neumann, Franz  45 Fn. 4 Nixon, Robert  281 O Öhlinger, Theo  259, 314, 318 Olah, Franz  202 P Panagl, Oswald  310 f. Fn. 1 Pangloss 239 Papen, Franz v.  254 Patzelt, Josef  323 Paulus, Apostel  275 Pawlow, Iwan  293 Payrleitner, Alfred  334 Pelinka, Anton  115, 130, 159, 165, 186, 188, 255, 259, 322, 324, 328, 334, 337 Penn, William  276 Perikles 157 Pernthaler, Peter  50 Plasser, Fritz  324 Platon  274, 283 Poier, Klaus  335 Polgar, Alfred  308 Popper, Karl  21, 222, 278, 284, 289, 294, 331 Pröll, Josef  336, 338 Pross, Harry  282 Pufendorf, Samuel  351 Pye, Lloyd  197 R Rausch, M.  154 Reagan, Ronald  282 Renner, Karl  110, 192, 224, 251 Riesman, David  70

Riess-Passer, Gabriele  324 f., 343 Riklin, Alois  276 Ringhofer, Kurt  227 f., 232, 261 Ritschel, Karl Heinz  159 Roosevelt, Franklin D.  282 Rousseau, Jean-Jacques  101, 103, 167, 214 S Schaller, Christian  345 Schambeck, Herbert  172 Schindler, Dietrich  154 Schleicher, Kurt v.  254 Schilcher, Bernd  266 Schmid, Carlo  251 f. Schmitt, Carl  66, 67 f., 153, 290 Schneider, Heinrich  159 f. Schulz, Hans-Joachim  159 Schumpeter, Joseph  103, 150, 154, 167 Schüssel, Wolfgang  297 f., 324 f., 343 Secher, Reynald  77 Seipel, Ignaz  8, 225 Shepsle, Kenneth A.  309 Smend, Rudolf  279 Spanner, Hans  46, 51 Stalin, Josef  282 Stammer, Otto  154 Steffen, Gustav Friedrich  156 Sternberger, Dolf  294, 334 Stourzh, Gerald  226 Strauss, Richard  283 T Tezner, Friedrich  190 Thoma, Rudolf  154 Torberg, Friedrich  211 U Ulbrich, Josef  109 Ulram, Peter  297 V Voegelin, Eric  319 W Wahlen  46 Fn. 5

357

Personenregister Wallerstein, Immanuel  301 Walter, Robert  318 Wandruszka, Adam  163 Weber, Max  154, 276 f. Welan, Gertrude  97 Welan, Manfried  54 Fn. 29 ff., 115, 130, 159, 165, 219, 259, 318 f., 322, 324, 328, 332, 337, 345, 347-351 Werfel, Franz  191 Wilfinger, Gerhard  159 Wilke, Gerda  159 Wilke, Helmut  159

Windischgrätz, Alfred zu  223 Winkler, Günther  48 Fn. 14, 51, 52, 54 Fn. 31, 57 Fn. 36, 259, 319 Winkler, Norbert  219 Winter, Ernst Karl  161 f. Withalm, Hermann  263 Wittmayer, Leo  50 Wyclif, John  160 Z Zulehner, Paul M.  211 Zweig, Stefan  205 f., 209 f.

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 1

korruption und kontrolle. Hg. von CHristian Brünner. 1981. 726 s. mit 8 taB. Br. isBn 3-205-08457-8 (vergriffen)

2

unBeHagen im parteienstaat. Jugend und politik in ÖsterreiCH. von fritz plasser und peter a. ulram. 1982. 208 s., Br. isBn 3-205-08458-6 (vergriffen)

3

landesverfassungsreform. Hg. von reinHard raCk. 1982. 255 s.

4

nation ÖsterreiCH. kulturelles Bewusstsein und gesellsCHaft-

Br. isBn 3-205-08459-4 (vergriffen) liCH-politisCHe prozesse. von ernst BruCkmüller. 2. erweiterte auflage 1996. 472 s., zaHlr. graf. Br. isBn 978-3-205-98000-1 5

krise des fortsCHritts. Hg. von grete klingenstein. 1984. 172 s., Br. isBn 3-205-08461-6 (vergriffen)

6

parteiengesellsCHaft im umBruCH. partizipationsproBleme von grossparteien. von anton kofler. 1985. 132 s., 58 taB. Br.



isBn 3-205-08463-2 (vergriffen)

7

grundreCHtsreform. Hg. von reinHard raCk. 1985. 302 s. Br.



isBn 3-205-08462-4 (vergriffen)

8

aufgaBenplanung. ansätze für rationale verwaltungsreform. von Helmut sCHattovits. 1988. 220 s. Br.

9

isBn 3-205-08464-0 (vergriffen) demokratierituale. zur politisCHen kultur der informationsgesellsCHaft. Hg. von fritz plasser, peter a. ulram und manfried welan. 1985. 291 s., 91 taB. Br. isBn 978-3-205-08467-9

10 politik in ÖsterreiCH. die zweite repuBlik: Bestand und wandel.

Hg. von wolfgang mantl. 1992. Xv, 1084 s. gB.



isBn 978-3-205-05379-8 (vergriffen)

11 fleXiBle arBeitszeiten. eine fiXe idee. von rudolf BretsCHneider, rupert dollinger, JoaCHim lamel und peter a. ulram. 1985. 133 s., 33 taB. Br. isBn 3-205-08469-1 (vergriffen) 12 verfassungspolitik. dokumentation steiermark. von CHristian Brünner, wolfgang mantl, dietmar pauger und reinHard raCk. 1985. 294 s. Br. isBn 3-205-08465-9 (vergriffen)

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com

studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 13 krisen. eine soziologisCHe untersuCHung. von manfred prisCHing. 1986. 730 s., zaHlr. taB. und graf. Br.

isBn 978-3-205-08468-6

14 sCHweiz – ÖsterreiCH. äHnliCHkeiten und kontraste. Hg. von friedriCH koJa und gerald stourzH. 1986. 279 s. Br.

isBn 3-205-08902-2 (vergriffen)

15 was die kanzler sagten. regierungserklärungen der zweiten repuBlik 1945–1987. von maXimilian gottsCHliCH, oswald panagl und manfried welan. 1989. vi, 325 s. Br. isBn 3-205-08900-6

(vergriffen)

16 teCHnikskepsis und neue parteien. politisCHe folgen eines „alternativen“ teCHnikBildes. von eriCH reiter. 1987. 167 s. Br. isBn 3-205-08904-9 (vergriffen) 17 demokratie und wirtsCHaft. Hg. von JosepH marko und armin stolz. 1987. 367 s. Br. isBn 3-205-08905-7 (vergriffen) 18 soCiety, politiCs and Constitutions. western and east european views. von antal adam und Hans g. HeinriCH. 1987. 212 s. Br. isBn 3-205-08907-3 (vergriffen) 19 usa: verfassung und politik. von franCis H. Heller. 1987. 120 s. Br. isBn 3-205-08906-5 (vergriffen) 20 umweltsCHutzreCHt. von BernHard rasCHauer. 2. aufl. 1988. 304 s. Br. isBn 3-205-05143-2 (vergriffen) 21 verfall und fortsCHritt im denken der früHen rÖmisCHen kaiserzeit. studien zum zeitgefüHl und gesCHiCHtsBewusstsein des JaHrHunderts naCH augustus. von karl dietriCH BraCHer. 1987. 348 s. Br. isBn 3-205-08909-X (vergriffen) 22 das ÖsterreiCHisCHe parteiensystem. Hg. von anton pelinka und fritz plasser. 1988. 800 s. Br. isBn 978-3-205-08910-0 (vergriffen) 23 parteien unter stress. zur dynamik der parteiensysteme in ÖsterreiCH, der BundesrepuBlik deutsCHland und den vereinigten staaten. von fritz plasser. 1987. 344 s. Br.

isBn 3-205-08911-1 (vergriffen)

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 24 ideologie und aufklärung. weltansCHauungstHeorie und politik. von kurt salamun. 1988. 142 s. Br. isBn 3-20505126-2

(vergriffen)

25 die neue arCHitektur europas. refleXionen in einer BedroHten welt. Hg. von wolfgang mantl. 1991. 332 s. gB. isBn 978-3-205-05412-2 26 die grosse krise in einem kleinen land. ÖsterreiCHisCHe finanz- und wirtsCHaftspolitik 1929–1938. von dieter stiefel. 1989. X, 428 s. Br. isBn 3-205-05132-7 (vergriffen) 27 das reCHt der massenmedien. ein leHr- und HandBuCH für studium und praXis. von walter Berka. 1989. ii, 356 s. Br.

isBn 3-205-05194-7 (vergriffen)

28 staat und wirtsCHaft. am Beispiel der ÖsterreiCHisCHen forstgesetzgeBung von 1950–1987. von werner plesCHBerger. 1989. 579 s. Br. isBn 3-205-05204-8 (vergriffen) 29 wege zur grundreCHtsdemokratie. studien zur Begriffs- und institutionen-gesCHiCHte des liBeralen verfassungsstaates. von gerald stourzH. 1989. XXii, 427 s. Br. isBn 978-3-205-05218-0 (vergriffen) 30 geist und wissensCHaft im politisCHen aufBruCH mitteleuropas. Beiträge zum ÖsterreiCHisCHen wissensCHaftstag 1990. Hg. von meinrad peterlik und werner waldHäusl. 1991. 268 s. Br.

isBn 978-3-205-05464-1

31 finanzkraft und finanzBedarf von geBietskÖrpersCHaften. analysen und vorsCHläge zum gemeindefinanzausgleiCH in ÖsterreiCH. Hg. von CHristian smekal und engelBert tHeurl. 1990. 307 s. Br. isBn 3-205-05237-4 (vergriffen) 32 regionale ungleiCHHeit. von miCHael steiner. 1990. 258 s. Br. isBn 978-3-205-05281-4 33 BürokratisCHe anarCHie. der niedergang des polnisCHen „realsozialismus“. von august pradetto. 1992. 156 s. Br.

isBn 978-3-205-05421-4

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 34 vor der wende. politisCHes system, gesellsCHaft und politisCHe reformen im ungarn der aCHtziger JaHre.

Hg. von sándor kurtán. aus dem ungar. von aleXander klemm. 1993. 272 s. Br. isBn 978-3-205-05381-1 (vergriffen)

35 Hegemonie und erosion. politisCHe kultur und politisCHer wandel in ÖsterreiCH. von peter a. ulram. 1990. 366 s. Br.

isBn 3-205-05346-X (vergriffen)

36 geHorsame reBellen. Bürokratie und Beamte in ÖsterreiCH 1780–1848. von waltraud Heindl. 1991. 388 s., 12 sw-aBB. gB. isBn 978-3-205-05370-5 37 kultur und politik – politik und kunst. von manfred wagner. 1991. 367 s. Br. isBn 978-3-205-05396-5 38 revolution

und

vÖlkerreCHt.

vÖlkerreCHtsdogmatisCHe

grundlegung der voraussetzungen und des inHalts eines waHlreCHts in Bezug auf vorrevolutionäre vÖlkerreCHtliCHe reCHte und pfliCHten. von miCHael geistlinger. 1991. 554 s. Br. isBn 978-3-205-05414-6 (vergriffen) 39 slowenien – kroatien – serBien. die neuen verfassungen. Hg. von JosepH marko und tomislav BoriC. 1994. 467 s. Br.

isBn 3-205-98283-5 (vergriffen)

40 der Bundespräsident. kein kaiser in der repuBlik. von manfried welan. 1992. 119 s. Br. isBn 978-3-205-05529-7 41 wege zur Besseren finanzkontrolle. von HerBert kraus und walter sCHwaB. 1992. 167 s. Br. isBn 3-205-05530-6 42 BruCHlinie eiserner vorHang. regionalentwiCklung im ÖsterreiCHisCH-ungarisCHen grenzraum. von martin seger und pal Beluszky. 1993. Xii, 304 s., 16 s. farBaBB. gB. isBn 978-3-205-98048-3 43 regierungsdiktatur oder ständeparlament? gesetzgeBung im autoritären ÖsterreiCH. von Helmut woHnout. 1993. 473 s. Br. isBn 978-3-205-05547-1 44 die ÖsterreiCHisCHe Handelspolitik der naCHkriegszeit 1918 Bis 1923. die HandelsvertragsBezieHungen zu den naCHfolgestaaten. von Jürgen nautz. 1994. 601 s. Br.

isBn 978-3-205-98118-3 (vergriffen)

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 45 regimeweCHsel. demokratisierung und politisCHe kultur in ost-mitteleuropa. Hg. von peter gerliCH, fritz plasser und peter a. ulram. 1992. 483 s., zaHlr. taB. u. graf. Br.

isBn 978-3-205-98014-8

46 die wiener JaHrHundertwende. Hg. von Jürgen nautz und riCHard vaHrenkamp. 2. aufl. 1996. 968 s., 32 s. sw-aBB. gB.

isBn 978-3-205-98536-5

47 ausweg eg? innenpolitisCHe motive einer aussenpolitisCHen umorientierung. von anton pelinka, CHristian sCHaller und paul luif. 1994. 309 s. Br. isBn 978-3-205-98051-3 48 die kleine koalition in ÖsterreiCH: spÖ – fpÖ (1983–1986). von anton pelinka. 1993. 129 s. Br. isBn 3-205-98052-2 (vergriffen) 49 management vernetzter umweltforsCHung. wissensCHaftspolitisCHes leHrstüCk waldsterBen. von maX krott. 1994. 325 s. Br. isBn 978-3-205-98129-9 (vergriffen) 50 politikanalysen. untersuCHungen zur pluralistisCHen demokratie. von wolfgang mantl. 2007. 345 s. Br. isBn 978-3-205-98459-7 51 autonomie und integration. reCHtsinstitute des nationalitätenreCHts im funktionalen vergleiCH. von JosepH marko. 1995. 632 s. Br. isBn 978-3-205-98274-6 52 grundzüge fremder privatreCHtssysteme. ein studienBuCH. von williBald posCH. 1995. XXviii, 205 s. Br. isBn 978-3-205-98387-3 53 identität und naCHBarsCHaft. die vielfalt der alpen-adria-länder. Hg. von manfred prisCHing. 1994. 424 s. Br.

isBn 978-3-205-98307-1 (vergriffen)

54 parlamentarisCHe kontrolle. das interpellations-, resolutions- und unter suCHungsreCHt. eine reCHtsdogmatisCHe darstellung mit HistorisCHem aBriss und em pirisCHer analyse.

von andreas nÖdl. 1995. 198 s. Br. isBn 978-3-205-98161-9

55 alfred missong. CHristentum und politik in ÖsterreiCH. ausgewäHlte sCHriften 1924–1950. Hg. von alfred missong Jr. in verBindung mit Cornelia Hoffmann und gerald stourzH. 2006. 476 s. gB. isBn 978-3-205-77385-6

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 56 staat und gesundHeitswesen. analysen HistorisCHer fallBeispiele aus der siCHt der neuen institutionellen Ökonomik.

von engelBert tHeurl. 1996. 302 s. Br. isBn 978-3-205-98461-0

57 eliten in ÖsterreiCH. 1848–1970. von gernot stimmer. 1997. 2 Bde., 1151 s. 38 sw-aBB. gB. isBn 978-3-205-98587-7 58 frankreiCH – ÖsterreiCH. weCHselseitige waHrneHmung und weCHselseitiger einfluss seit 1918. Hg. von friedriCH koJa und otto pfersmann. 1994. 307 s., 19 sw-aBB. Br.

isBn 978-3-205-98295-1

59 faHnenwÖrter der politik. kontinuitäten und BrüCHe. Hg. von oswald panagl. 1998. 351 s. Br. mit su.

isBn 978-3-205-98867-0

60 avantgarde des widerstands. modellfälle militärisCHer aufleHnung in ostmittel- und osteuropa im 19. und 20. JaHrHundert. von riCHard g. plasCHka. 1999. 2 Bde., 1062 s. 32 sw-aBB. gB.

isBn 978-3-205-98390-3

61 Bernard Bolzano. staat, nation und religion als Herausforderung für die pHilosopHie im konteXt von spätaufklärung, früHnationalismus und restauration. Hg. von Helmut rumpler. 2000. 423 s. Br. isBn 978-3-205-99327-8 62 um einHeit und freiHeit. staatsvertrag, neutralität und das ende der ost-west-Besetzung ÖsterreiCHs 1945–1955. von gerald stourzH. 5., durCHgeseHene aufl. 2005. 848 s., 19 sw-aBB. gB. isBn 978-3-205-77333-7 (vergriffen) 63 ÖsterreiCH unter alliierter Besatzung 1945–1955. Hg. von alfred aBlei tinger, siegfried Beer und eduard g. staudinger. 1998. 600 s. isBn 978-3-205-98588-4 64 evaluation im ÖffentliCHen sektor. von evert vedung. 1999. Xviii, 274 s. 47 grafiken u. taBellen. Br. isBn 978-3-205-98448-1 65 liBeralismus. interpretationen und perspektiven. Hg. von emil BriX und wolfgang mantl. 1996. 320 s. gB. isBn 978-3-205-98447-4 (vergriffen)

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 66 HerBert stourzH – gegen den strom. ausgwäHlte sCHriften gegen rassismus, fasCHismus und nationalsozialismus 1924–1938. Hg. von gerald stourzH. 2008. 186 s. Br. isBn 978-3-205-77875-2 67 die universität als organisation. die kunst, eXperten zu managen. von ada pellert. 1999. 346 s. 5 sw-aBB. Br.

isBn 978-3-205-99080-2

68 gemeinden in ÖsterreiCH im spannungsfeld von staatliCHem system und lokaler leBenswelt. Hg. von doris wastl-walter. 2000. 248 s. 18 graf. 17 karten. 71 taB. 1 faltk. Br.

isBn 978-3-205-99212-7

69 noCH einmal diCHtung und politik. vom teXt zum politisCH-sozialen konteXt, und zurüCk. Hg. von oswald panagl und walter weiss. 2000. 462 s. Br. isBn 978-3-205-99289-9 70 politik, staat und reCHt im zeitenBruCH. symposion aus anlass des 60. geBurtstags von wolfgang mantl. Hg. von JosepH marko und klaus poier. 2001. 197 s. 3 sw-aBB. gB.

isBn 978-3-205-99259-2

71 QualitätssiCHerung und reCHensCHaftslegung an universitäten. evaluierung universitärer leistungen aus reCHts- und sozialwissensCHaftliCHer siCHt. von eva patriCia stifter. 2002. 410 s. Br. isBn 978-3-205-99317-9 72 kulturgesCHiCHte des Heiligen rÖmisCHen reiCHes 1648 Bis 1806. verfassung, religion und kultur. von peter Claus Hartmann. 2001. 510 s. zaHlr. sw-aBB. gB. isBn 978-3-205-99308-7 73 minderHeitenfreundliCHes meHrHeitswaHlreCHt. reCHts- und politikwissensCHaftliCHe üBerlegungen zu fragen des waHlreCHts und der waHlsystematik. von klaus poier. 2001. 379 s. 18 taB. 8 graf. Br. isBn 978-3-205-99338-4 74 reCHtsentwiCklung im Bannkreis der europäisCHen integration. von HuBert isak. Br. isBn 3-205-99326-8. in vorBereitung.

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 75 gigatrends. erkundungen der zukunft unserer leBenswelt. Hg. von franz kreuzer, wolfgang mantl und maria sCHaumayer. 2003. Xii + 339 s. 13 sw-aBB. und 2 taB. gB. isBn 978-3-205-98962-2 76 autonomie im Bildungswesen. zur topograpHie eines BildungspolitisCHen sCHlüsselBegriffs. von walter Berka. 2002. 213 s. Br. isBn 978-3-205-99309-4 77 HoCHsCHulzugang in europa. ein ländervergleiCH zwisCHen ÖsterreiCH, deutsCHland, england und der sCHweiz. von elisaBetH HÖdl. 2002. 227 s. Br. isBn 978-3-205-99421-3 (vergriffen) 78 forsCHung und leHre. die idee der universität Bei HumBoldt, Jaspers, sCHelsky und mittelstrass. von Hedwig kopetz. 2002. 137 s. 4 sw-aBB. Br. isBn 978-3-205-99422-0 79 europäisCHe kulturgesCHiCHte: geleBt, gedaCHt,

vermittelt. von manfred wagner. 2009. 922 s. gB.



isBn 978-3-205-77754-0

80 kultur der demokratie. festsCHrift für manfried welan zum 65. geBurtstag. Hg. von CHristian Brünner, wolfgang mantl, alfred J. noll und werner plesCHBerger. 2002. 383 s. zaHlr. taB. und 1 sw-aBB. gB. isBn 978-3-205-77005-3 81 okkupation und revolution in slowenien (1941–1946). eine vÖlkerreCHt li CHe untersuCHung. von dieter Blumenwitz. 2005. 162 s. Br. isBn 978-3-205-77250-7 82 der konvent zur zukunft der europäisCHen union. Hg. von wolfgang mantl, sonJa puntsCHer riekmann und miCHael sCHweitzer. 2005. 185 s. Br. isBn 978-3-205-77127-2 83 art goes law. dialoge zum weCHselspiel zwisCHen kunst und reCHt. Hg. von dietmar pauger. 2005. 269 s. 9 sw-aBB. Br.

isBn 978-3-205-77128-9

84 direkte demokratie. von klaus poier. in vorBereitung 85 HoCHsCHulreCHt – HoCHsCHulmanagement – HoCHsCHulpolitik. symposion aus anlass des 60. geBurtstages von CHristian Brünner. Hg. von gerHard sCHnedl und silvia ulriCH. 2003. 258 s. 7 graf. und 5 taB. gB. isBn 3-205-99468-X

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 86 das zerrissene volk. slowenien 1941–1946. okkupation, kollaBoration, Bürgerkrieg, revolution. von tamara griesser-pečar. 2003. 583 s. gB. isBn 978-3-205-77062-6 87 zur Qualität der BritisCHen und ÖsterreiCHisCHen demokratie. empirisCHe Befunde und anregungen für demokratiereform. von e. roBert a. BeCk und CHristian sCHaller. 2003. XXii + 620 s. zaHlr. taB. Br. isBn 978-3-205-77071-8 88 die ÖsterreiCHisCHe akademie der wissensCHaften. aufgaBen, reCHts stellung, organisation. von Hedwig kopetz. 2006. XX + 457 s. 8 sw-aBB. Br. isBn 978-3-205-77534-8 89 raumfaHrt und reCHt. faszination weltraum. regeln zwisCHen Himmel und erde. Hg. von CHristian Brünner, aleXander souCek und editH walter. 2007. 200 s. 66. farB. aBB. Br.

isBn 978-3-205-77627-7

90 soziokultureller wandel im verfassungsstaat.

pHänomene politisCHer transformation. festsCHrift für wolfgang mantl zum 65. geBurtstag. Hg. von Hedwig kopetz, JosepH marko und klaus poier. 2004. 2 Bde. im sCHuBer. XXiv + 700 s., X + 1000 s. zaHlr. taB., graf. und aBB. gB.



isBn 978-3-205-77211-8

91 nationales weltraumreCHt. national spaCe law. development in europe – CHallenges for small Countries. Hg. von CHristian Brünner und editH walter. 2008. 231 s. zaHlreiCHen aBB. Br. isBn 978-3-205-77760-1 93 karl lueger (1844–1910). CHristliCHsoziale politik als Beruf. von JoHn w. Boyer. aus dem englisCHen üBersetzt von otmar Binder. 2009. 595 s. 19 sw-aBB. gB. isBn 978-3-205-78366-4 94 der ÖsterreiCHisCHe mensCH. kulturgesCHiCHte der eigenart ÖsterreiCHs. von william m. JoHnston. BearBeitet von Josef sCHiffer. 2009. 384 s. gB. isBn 978-3-205-78298-8 95 funktionen des reCHts in der pluralistisCHen wissensgesellsCHaft. festsCHrift für CHristian Brünner zum 65. geBurtstag. Hg. von silvia ulriCH, gerHard sCHnedl und renate pirstnereBner. 2007. XXiv + 696 s. gB. isBn 978-3-205-77513-3

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studien zu politik und verwaltung Her ausgegeBen von CHristian Brünner, wolfgang mantl , manfried wel an 97 demokratie im umBruCH. perspektiven einer waHlreCHtsreform. Hg. von klaus poier. 2009. 329 s. mit zaHlreiCHen taB. Br. isBn 978-3-205-78434-0 98 die freiHeit der politisCHen meinungsäusserung. iHre entwiCklung im ÖsterreiCHisCHen und BritisCHen verfassungsreCHt und iHre staatspHilosopHisCHen wurzeln. von stepHan g. HingHofer-szalkay. 2011. 307 s. 2 taB. und 3 grafiken. Br.

isBn 978-3-205-78622-1

99 der umfang der ÖsterreiCHisCHen gesCHiCHte. ausgewäHlte studien 1990–2010. von gerald stourzH 2011. 344 s. Br.

isBn 978-3-205-78633-7

101 skurrile Begegnungen. mosaike zur ÖsterreiCHisCHen geistesgesCHiCHte. mit einem vorwort von william m. JoHnston. von norBert leser. 2011. 254 s. 2 s/w-aBB. gB. mit su. isBn 978-3-205-78658-0 102 soft law in outer spaCe. tHe funCtion of non-Binding norms in international spaCe law. Hg. von irmgard marBoe. 2012. 407 s. fr anz. Br. isBn 978-3-205-78797-6 103 europaspraCHen. HerausgegeBen von peter CiCHon und miCHael mitterauer. 2011. 166 s. Br. mit su. isBn 978-3-205-78608-5 105 leBenszeugnisse ÖsterreiCHisCHer vizekanzler. das politisCHe system ÖsterreiCHs im europäisCHen vergleiCH. 2012.

isBn 978-3-205-77759-5

106 ÖsterreiCH auf dem weg zur demokratie? aufmerksame

BeoBaCHtungen aus einem HalBen JaHrHundert. 2012. 358 s.



gB. mit su. isBn 978-3-205-78853-9

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